Transzendentale Strukturtheorie: Stadien der Systembildung Paul Tillichs 9783666563645, 9783525563649, 9783647563640

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Transzendentale Strukturtheorie: Stadien der Systembildung Paul Tillichs
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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz

Band 132

Vandenhoeck & Ruprecht

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Stefan Dienstbeck

Transzendentale Strukturtheorie Stadien der Systembildung Paul Tillichs

Vandenhoeck & Ruprecht

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Meinen Eltern, Susanne und Walter Dienstbeck

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56364-9 ISBN 978-3-647-56364-0 (E-Book)

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Inhalt

Vorwort ...................................................................................................

9

Einleitung ................................................................................................ a) Fragehaltung und Textgrundlage der Untersuchung ....................

11 16

b) Biographische Einordnung der behandelten Werke ..................... c) Aufbau der Untersuchung .............................................................

23 31

1. Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips ...............

37

1.1 Wahrheit und Denken als irreduzibles Spannungsverhältnis ..... 1.1.1 Tillichs Relationsbestimmung von Wahrheit und Denken ............................................................ 1.1.2 Exkurs: Die Wurzeln des Tillich’schen Wahrheitsprinzips in der Philosophie Schellings .. 1.1.3 Aporie des Denkens: Problem der Selbstkonstitution ..

39 39 50 59

1.2 Das Absolute als notwendiger Ausgangspunkt der Systemkonzeption .................................................................. 62 1.2.1 Der Ausgang vom Absoluten als der vom Denken selbst geforderte Akt .............................................. 62 1.2.2 Der absolute Standpunkt ............................................... 66 1.2.2.1 Wahrheit und Absolutes................................... 66 1.2.2.2 Ableitung des Gottesbegriffs aus dem Religionsbegriff ........................................... 69 1.2.2.3 Religion, Sittlichkeit und Kultur auf dem absoluten Standpunkt ................................... 73 1.2.3 Der relative Standpunkt ................................................ 83 1.2.3.1 Reflexion und Intuition .................................... 83 1.2.3.2 Konsequenzen der Reflexion auf dem relativen Standpunkt .................................... 86 1.2.4 Der wechselseitige Bezug von absolutem und relativem Standpunkt aufeinander ......................... 93 1.2.5 Der theologische Standpunkt oder: das Paradox .......... 96 1.2.5.1 Der Aufbau des theologischen Prinzips ........... 96 1.2.5.2 Theologisches Materialprinzip: Rechtfertigung ............................................. 106

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Inhalt

1.2.5.3 Theologisches Formalprinzip: Jesus Christus............................................... 1.2.5.4 Das Drängen der beiden Momente des theologischen Prinzips auf eine Lösung im teleologischen Moment........................... 1.3 Materialdogmatische Durchführung des theologischen Prinzips................................................................................... 1.3.1 Die Gotteslehre als Kern- und Ausgangspunkt dogmatischer Überlegung ...................................... 1.3.1.1 Grundlegende Konzeption der gesamten Dogmatik in der Gotteslehre........................ 1.3.1.2 Explikation der dogmatischen Topoi aus abstrakter Perspektive .................................. 1.3.2 Die Christologie als Mitte des Systems ........................ 1.3.2.1 Tillichs Verhältnis zum historischen Jesus in der Thesenreihe von 1911........................ 1.3.2.2 Theologie aus konkreter Perspektive ............... 1.3.2.3 Jesus als der Christus: Konstituens oder ideales Exempel des theologischen Prinzips?....................................................... 1.3.3 Die Pneumatologie als Inbegriff des theologischen Standpunkts............................................................ 1.3.3.1 Die trinitätstheologische Vollendung des Systems ........................................................ 1.3.3.2 Die Pneumatologie als Endpunkt der Entfaltung des theologischen Prinzips.........

110

119 124 129 129 134 156 159 174

201 223 223 225

2. Die sinntheoretische Präzisierung des Systemprinzips....................... 235 2.1 Das Absolute ist ein Götze.......................................................... 238 2.2 Das absolute Paradox .................................................................. 2.2.1 Der Zweifel als Strukturelement menschlichen Selbstvollzugs ........................................................ 2.2.2 Rechtfertigung des Zweiflers durch Rechtfertigung des Zweifels ........................................................... 2.2.3 Radikales Ernstnehmen der Relativität im Glauben ohne Gott: das absolute Paradox............................ 2.3 Unbedingtes und Sinn ................................................................. 2.3.1 Der transzendentale Status von ‚Sinn‘ .......................... 2.3.2 Individuelles Sein als aktualer Sinnvollzug .................. 2.3.3 Die unhintergehbare Polarität von absolutem Sinn und aktualem Sinnvollzug......................................

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248 248 253 279 286 286 291 298

Inhalt

7

2.4 Theologischer Standpunkt und absolutes Paradox ..................... 306 2.4.1 Konsequenzen des Konzepts vom absoluten Paradox für den theologischen Standpunkt des frühen Tillich ..................................................................... 306 2.4.2 Das Alte im Neuen: Das theologische Paradox als Implement des absoluten Paradoxes................. 322 2.5 Zusammenführende Betrachtung ................................................ 336 3. Die ontologische Gestaltung des Systemprinzips ............................... 3.1 Kontinuitätslinien der frühen Theologie Tillichs in seinem Spätwerk................................................................................. 3.1.1 Prinzipielle und systematische Aspekte........................ 3.1.2 Methodische Konsequenzen im Systemaufbau ............ 3.2 Theologie unter der Leitung des Seinsbegriffs ........................... 3.2.1 Das Ontologieverständnis bei Paul Tillich ................... 3.2.2 Ontologie als transzendentale Strukturtheorie .............. 3.2.2.1 Die ontologische Grundstruktur....................... 3.2.2.2 Die ontologischen Elemente ............................ 3.2.3 Gott als das Sein-Selbst................................................. 3.3 Die ontologische Fassung des Systemprinzips im Verhältnis zu ihren früheren Stadien ....................................................... 3.3.1 Ontologie und Wahrheitstheorie ................................... 3.3.2 Ontologie und Sinntheorie ............................................

339 342 342 363 369 369 380 380 387 398 413 413 424

Epilog: Tillichinterpretation im Rahmen einer transzendentalen Strukturtheorie .................................................................................. 435 Hinweise zur Zitation .............................................................................. 467 Literatur................................................................................................... 469 Register.................................................................................................... 479

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Vorwort

Die vorliegende Studie stellt die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift dar, die von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München im Sommersemester 2010 unter identischem Titel als Promotionsschrift angenommen wurde. An erster Stelle und ganz besonders möchte ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Gunther Wenz, danken, der meine Arbeit nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht motiviert, begleitet und gefördert hat, sondern darüber hinaus auch persönlich am Institut für Fundamentaltheologie und Ökumene eine einzigartige, menschliche Atmosphäre zu erschaffen wusste und weiß, in der arbeiten zu dürfen man sich glücklich schätzen kann. Für die Übernahme des Zweitgutachtens sowie das Angebot von die Promotionszeit angenehm begleitenden Oberseminaren danke ich Herrn Prof. Dr. Jan Rohls. Mein Dank gebührt darüber hinaus in besonderer Weise Herrn Prof. Dr. Christian Danz (Wien) für die wissenschaftliche Unterstützung in Rat und Tat sowie für seine Hilfe, auf die ich mich jederzeit verlassen konnte. Ebenso danke ich den Herausgebern der Reihe „Studien zur systematischen und ökumenischen Theologie“ und dem Verlag zur Aufnahme meiner Dissertation in diese Reihe. Der Dr.-Ludwig-Wolde-Stiftung sowie der Hanns-Seidel-Stiftung bin ich für die Förderung meiner Promotion zu Dank verpflichtet. Der EvangelischLutherischen Kirche in Bayern möchte ich meinen Dank aussprechen für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Für die Übernahme der mühevollen Korrekturarbeiten danke ich Frau Monika Börner und meinem Vater, Walter Dienstbeck. Abschließend danke ich meinen Eltern, Susanne und Walter Dienstbeck, die meinen Lebensweg nicht nur gefördert und unterstützt, sondern mich auf ihm stets liebevoll begleitet haben. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. München, im November 2010

Stefan Dienstbeck

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Einleitung

Will man einen Philosophen ehren, so muß man ihn da auffassen, wo er noch nicht zu den Folgen fortgegangen ist, in seinem Grundgedanken; denn in der weiteren Entwicklung kann er gegen seine eigne Absicht irren, und nichts ist leichter als in der Philosophie zu irren, wo jeder falsche Schritt von unendlichen Folgen ist, wo man überhaupt auf einem Wege sich befindet, der von allen Seiten von Abgründen umgeben ist. Der w a h r e Gedanke eines Philosophen ist eben sein Grundgedanke, der von dem er ausgeht.

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung (SW XIII, 60)

Wahrheitssuche und Möglichkeit des Irrtums schließen sich bekanntlich nicht aus. Im Gegenteil sind sie zwei Seiten einer Medaille, insofern nur der irren kann, der sich auch auf den ambivalenten Weg begibt, Wahrheit zu suchen. Nichts gibt von dieser Grunderfahrung wohl besser Zeugnis als die mehrere Jahrtausende umfassende Geschichte der Philosophie. Dabei bedarf es nicht einmal eines Blickes auf die Epochen der Philosophiegeschichte, um der Fallibilität des Denkens ansichtig zu werden. Bereits an Einzelgestalten lässt sich zumeist ein Fortschreiten in der Gedankenbildung erkennen – und man wird hinzusetzen dürfen: es zeichnet einen Denker sogar aus, sofern er den erkannten Irrungen im eigenen Denken Rechnung zu tragen vermag und in einem Neuansatz eben jene früheren Fehler zu vermeiden sucht. Dass jedoch auch eine Neuordnung philosophischer Gedankenbildung selbst nicht ohne Irrtum verbleiben wird, lässt sich an der großen Anzahl von Kritikern ablesen, die jeder bedeutendere philosophische Entwurf als Gefolge nach sich zieht.

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Einleitung

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, dessen ‚Philosophie der Offenbarung‘ das Zitat zu Beginn entnommen ist, stellt selbst ein Beispiel für einen Denker dar, der nicht nur seine philosophischen Wege geändert hat, sondern der auch für all seine Ansätze reichlich Kritiker fand. Besonders der Wechsel von seiner ‚negativen‘ zu einer ‚positiven‘ Philosophie erntete neben Kritik auch strikte Ablehnung und Hohn, wie sich etwa an der Aufnahme seiner Freiheitsschrift aus dem Jahre 1809 zeigen lässt.1 Ob man im Falle Schellings seinen früheren philosophischen Explikationen zuneigt oder eher den späteren, mag jeder für sich selbst entscheiden. Interessant ist jedoch – und darüber streiten sich die Geister in der Causa Schelling –, welcher Art die Entwicklung Schellings ist. So unterscheidet Schelling selbst zwischen dem Grundgedanken eines Philosophen und dem Weg, der seinen Ausgang von eben jenem Grundgedanken nimmt. Fehlen können und werden in bestimmter Hinsicht wohl beide; jedoch weist Schelling dem philosophischen Grundgedanken als dem prinzipiellen Beginnen den weitaus höheren Rang zu, indem er ‚Folgefehler‘, die sich ergeben können, sobald man sich in die Systementfaltung begibt, als ‚Fehltritte‘ von sekundärer Relevanz einstuft. Umso gravierender ist im Gegenzug freilich ein Irrtum, der bereits im Grundgedanken eines Philosophen angelegt ist. Just einen solchen meint Schelling im Anschluss an das obige Zitat bei seinem ehemaligen Zimmergenossen aus dem Tübinger Stift, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, zu erkennen, dessentwegen er die zitierte Grundunterscheidung allererst einführt. Genau betrachtet richtet sich Schellings Kritik jedoch nicht direkt an Hegel, sondern an seine Interpreten und die Fassung seines Ansatzes als reinen Essentialismus. Um diese „Drachensaat des hegelschen Pantheismus“ – so der bekannte Ausspruch des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV. – zu bekämpfen, war Schelling 1840 von München nach Berlin berufen worden, wo er im Jahre 1841 eintraf. Entscheidende Bedeutung kommt mithin dem Punkt zu, von dem ausgehend sich philosophisches Denken entwickelt. Für Schelling kann dieser Grundgedanke jedoch, wie er im Folgenden formuliert, niemals so verfasst sein, „als hätte die Philosophie oder die Vernunft mit dem Seyenden überall nichts zu thun“2; im Gegenteil habe es die Vernunft „vielmehr mit gar nichts anderem als eben dem Seyenden zu thun, aber mit dem Seyenden der Materie, dem Inhalt nach (dieß eben ist das Seyende in seinem An sich), nicht aber hat sie zu zeigen, daß es sey, indem dieß nicht mehr Sache der Vernunft, sondern ————— 1

Vgl. dazu die Einleitung von Thomas Buchheim zu der von ihm herausgegebenen Edition der Freiheitsschrift: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, hg. von Thomas Buchheim, Hamburg 1997, IX–LV, hier: XXXIII–XXXVIII. 2 Schelling, SW XIII, 60.

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Einleitung

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der Erfahrung ist.“3 Schellings Urteil trifft also nicht irgendwelche systematischen Konsequenzen des Hegel’schen Systems, sondern dessen prinzipielles Ansetzen per se. Nicht nur philosophisches, sondern gerade auch theologisches Denken unterliegt der Schelling’schen Scheidung von Ausgangspunkt und Weg der Durchführung. Dabei ist auch hier der Wahrheitsanspruch das interne movens, von dem her jedwede theologische Prinzipgestaltung sich manifestiert. Spätestens seit Kants Kritik an der Metaphysik kann jedoch auch in der Theologie das Abzielen auf Wahrheitsaussagen in dogmatischer Form keine Plausibilität an sich mehr beanspruchen. Damit ist die Basis abendländischen Denkens, mithin die philosophischen antiken Grundlagen, die insbesondere in der mittelalterlichen Theologie das Gerüst der Gedankenbildung darstellten, in Zweifel gezogen. Hat dieser Prozess bereits im Zeitalter der Reformation begonnen, indem hier die mittelalterliche christliche Welt in ihre Differenz aufbricht und somit das bisher Evidente nicht mehr eindeutig ist, so bilden die Kritiken Kants den Höhepunkt dieser Entwicklung für das moderne Bewusstsein. Bisherige Selbstverständlichkeiten zerbrechen vollends. Zu nennen sind dabei in Sonderheit der latente Rückbezug auf verobjektivierte Gottesvorstellungen und – besonders den römischen Katholizismus betreffend – Konzepte natürlicher Theologie. Auf dem Gebiet der protestantischen Theologie schlägt sich die neue Geisteslage v.a. in einer moralischen Interpretation des Christentums nieder. Dies zeigt sich insbesondere einerseits an der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts, die in der Rückbesinnung auf den historischen Jesus den Verlust einer Letztbegründung zu kompensieren sucht. Zum anderen ist der Historismus zu nennen, in dessen Zuge Gestalten wie Ernst Troeltsch oder Wilhelm Dilthey den Absolutheitsanspruch des Christentums in Frage stellen, indem sie auf die Relativität jedweder Systembildung abheben. Neben diesen beiden Hauptrichtungen stellen auch spekulative Wiederbelebungsversuche der Metaphysik gegen Ende des 19. Jahrhunderts und am Beginn des 20. Jahrhunderts die Geisteslage theologischer Reflexion dar. In diesem Kontext beginnt das Denken des jungen Theologen Paul Tillich, der am 20. August 1886 in Starzeddel im Landkreis Guben, im heutigen Polen, geboren wird. Durch den zufälligen Erwerb des Gesamtwerkes Schellings bereits in frühen Jahren als Student kam Tillich mit Schellings Philosophie in Kontakt.4 Dieses erste Treffen des jungen Theologen auf den großen idealistischen Denker blieb für Tillich zeitlebens prägend, so dass es ————— 3

Ebd. (bei Schelling teilweise gesperrt). Vgl. Wilhelm und Marion Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, Bd. I: Leben, Stuttgart/ Frankfurt a.M. 1978, 30. 4

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Einleitung

nicht verwundert, wenn Tillich selbst zu einem Denker stark prinzipieller Provenienz wurde. „Das religiöse Prinzip kann nicht aufhören; denn die Frage nach dem letzten Sinn des Lebens läßt sich nicht zum Schweigen bringen, solange Menschen leben. Religion als Religion kann nicht untergehen, aber eine partikulare Religion kann nur solange am Leben bleiben, wie sie sich selbst als Religion transzendiert. So wird auch das Christentum Träger der religiösen Antwort bleiben, solange es die Kraft hat, seine Partikularität zu durchbrechen.“ (GW V, 98)5 Diese Sätze stammen aus Tillichs Vorträgen an der Columbia Universität im Herbst 1961, die der Fünfundsiebzigjährige unter dem Titel ‚Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen‘6 hielt.7 Selbst diese späten Worte Tillichs machen deutlich, wie er theologisch einen Weg zwischen einer alles relativierenden historischen Betrachtung der Theologiegeschichte und einer neuen ‚Orthodoxie‘ – so das dafür verwendete Schlagwort Tillichs – im Anschluss an Karl Barth zu gehen gedenkt. Dass beide Wege an sich für ihn mit Problemen behaftet sind, erweist sich an dem ‚dritten Weg‘ Tillichs, der einerseits nicht ablässt von einer beständigen Frage nach der Wahrheit auch theologischer Aussagen und andererseits stets um die Vorläufigkeit und Relativität konkreter dogmatischer Festlegung weiß. Dies schlägt sich nieder in der Nichtsubstituierbarkeit von Religion, die Tillich im obigen Zitat behauptet, auf der einen und der Variabilität im Ausdruck von Religion überhaupt auf der anderen Seite. Letztere ist der Vergänglichkeit unterworfen, wohingegen erste als Prinzip von Religion überhaupt nicht untergehen kann – eben nicht substituierbar ist. Trotzdem kommt der systematischen Ausprägungsgestalt von Theologie für Tillich konstitutive Bedeutung zu. Abgesehen von konkreter Verfasstheit – Tillich spricht von ‚konkreter Religion‘ – sind theologische Aussagen rein abstrakt und insuffizient in ihrer Wirkung. Relativität von Systemkonstrukten meint für Tillich deshalb nicht deren Beliebigkeit. Im Gegenteil geht es Tillich gerade nicht um eine Prinziptheologie, sondern eine, die beides – Prinzip und systematische Gestalt – zu verbinden weiß. Dabei ist es gerade Tillich selbst, dessen unterschiedliche Systemfassungen die Problematik einer Gesamtschau und -würdigung seiner theologischen Leistung erschweren. In Anbetracht der Scheidung von Prinzip und Durchführung scheut sich Tillich nämlich keineswegs, Korrekturen an seinem theologischen Konzept vorzunehmen. Gleichzeitig lässt sich jedoch ————— 5 Zur Zitation im Allgemeinen und im Speziellen die Werke Tillichs betreffend siehe die Hinweise zur Zitation auf S. 467f. 6 Paul Tillich, Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, in: GW V: Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart (11964) 2 1978, 51–98. 7 Vgl. Gerhard Wehr, Paul Tillich zur Einführung, Hamburg 1998, 145.

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Einleitung

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eine erstaunliche Konstanz in den Aussagen Tillichs feststellen, die die Frage aufwirft, inwieweit in Tillichs Gesamtwerk tatsächlich von einer Entwicklung im engeren Sinne gesprochen werden kann. Auf den Punkt gebracht stellt sich die Frage, ob Tillichs Systemmodifikationen einem veränderten prinzipiellen Ansatz geschuldet sind oder ob es die jeweilige systematische Ausführung ist, die einer Revision unterzogen wird. Dass Tillich jedenfalls die Notwendigkeit solcher Modifikationen selbst erkannt hat, beweist seine eigene theologische Auseinandersetzung in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, die sich im Briefwechsel mit Emanuel Hirsch beobachten lässt.8 Aber auch gegen Ende seines Lebens bleibt Tillich selbstkritisch, was die Ausformung seines Alterswerks, der dreibändigen ‚Systematische[n] Theologie‘9, betrifft. So stellt er in seinem letzten Vortrag am 11. Oktober 1965 mit dem Titel ‚Die Bedeutung der Religionsgeschichte für den systematischen Theologen‘10 mit Bedauern fest, dass seine Theologie – auch und gerade in ihrer letzten fixierten Form – anders hätte formuliert werden müssen, nachdem er die Erfahrung mit den fernöstlichen Religionen gemacht hatte.11 Auch seine Zusammenarbeit mit Mircea Eliade zwischen 1962 und 1965, als Tillich die erste John-Nuveen-Professur an der Federated Theological Faculty in Chicago innehatte,12 trug zu der Überzeugung bei, eigentlich nochmals auf andere Weise mit der Theologie ansetzen zu müssen, um den neu erfahrenen Kontext angemessen berücksichtigen zu können. Offenheit für die Explikation theologischer Systementfaltung blieb Tillich mithin bis ins Alter erhalten. Zur tatsächlichen Durchführung gelangte eine abermalige Neuansetzung der Theologie bei Tillich dann allerdings nicht mehr. Tillich starb elf Tage nach seinem letzten Vortrag am 22. Oktober 1965. Im Anschluss an die Fragestellung, die durch das Schelling’sche Zitat eingangs aufgeworfen wurde, ist es Anliegen der vorliegenden Studie, die Systembildung bei Paul Tillich in verschiedenen Stadien seines Werkes zu untersuchen. Näherhin gilt es zu eruieren, inwieweit sich das Prinzip Tillich’scher Gedankenbildung im Laufe seines Lebens durchhält oder ob es ————— 8

Vgl. Paul Tillich, Briefwechsel mit Emanuel Hirsch (1917/1918), in: EW VI: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, hg. von Renate Albrecht und René Tautmann, Frankfurt a.M. 1983, 95–136. 9 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. I–III, Berlin/New York 1987 (Bd. I und Bd. II: unveränderter Nachdruck der 8. Aufl., Frankfurt a.M. 1984; Bd. III: unveränderter Nachdruck der 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1984). 10 Paul Tillich, Die Bedeutung der Religionsgeschichte für den systematischen Theologen (1965), in: EW IV: Korrelationen. Die Antworten der Religion auf die Fragen der Zeit, hg. und übersetzt von Ingeborg C. Henel, Stuttgart 1975, 144–156. 11 Vgl. ebd., 154. 12 Vgl. Pauck/Pauck, Tillich, 281.

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Einleitung

bedeutende Veränderungen erfährt. Zum Zweiten und damit eng verbunden schließt sich die Frage an, ob Modifikationen im System bei Tillich auf einen Wechsel prinzipieller Art zurückzuführen sind bzw. wie sich unterschiedliche Systemexplikationen aus einander herleiten. Wie die Fragestellung genauer zu fassen ist und anhand welcher Schriften sie untersucht wird, wird dabei im Teil a) dieser Einleitung zu klären sein. Im Anschluss daran verortet Abschnitt b) die für die Untersuchung zentralen Schriften Tillichs in einem werksbiographischen Kontext, um die systematische Argumentation innerhalb der Arbeit nicht durch exkursartige historische Einbettungen zu unterbrechen. Die Einleitung schließt Teil c) ab, der kurz den Aufbau der Studie erläutert.

a) Fragehaltung und Textgrundlage der Untersuchung Eine genaue Verortung innerhalb der Tillichforschung ist an dieser Stelle nicht intendiert.13 Jedoch muss für die Begründung der Fragehaltung dieser Studie die Tillichforschung allgemein betrachtet werden. Dabei fällt auf, dass zwei Untersuchungstypen vorherrschen: Zuerst gibt es Arbeiten, die sich mit einem thematischen Schwerpunkt beschäftigen, wodurch eine spezifische Perspektive hervortritt. Zu nennen sind etwa Analysen Tillich’scher Theologie hinsichtlich der Schellingrezeption, der Christologie, der Offenbarung, des Gottesbegriffs oder anderer dogmatischer Topoi. Zum anderen stellen bestimmte abgegrenzte Schaffensphasen Tillichs das Leitmotiv für Untersuchungen dar, so dass z.B. das Kulturverständnis Tillichs der zwanziger Jahre oder die früheste Entwicklung Tillichs zu Beginn seines Werkes fokussiert wird. Selbstverständlich treten die beiden genannten Aspekte sehr häufig in Kombination miteinander auf, wie z.B. in der Studie von Georg Neugebauer, die sich der frühen Christologie Tillichs widmet, dabei jedoch dessen Schellingrezeption behandelt und dies in Sonderheit für das Frühwerk expliziert.14 Selten sind hingegen – drittens – abstrakt-prinzipielle Studien, die das Zentrum Tillich’schen Denkens ganz allgemein zu erfassen suchen.15 ————— 13

Die drei tragenden Arbeiten, die eingehend Berücksichtigung finden, werden innerhalb der Untersuchung an entsprechender Stelle kurz vorgestellt. Dabei handelt es sich um die monographischen Abhandlungen von Gunther Wenz, Christian Danz und Georg Neugebauer. 14 Vgl. Georg Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007. 15 Zu nennen sind hierbei in Sonderheit die Arbeiten von Falk Wagner, Gunther Wenz und Christian Danz.

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Einleitung

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Die vorliegende Untersuchung möchte eine Lücke dahingehend schließen, dass sie das prinzipielle Anliegen Tillichs zu eruieren sucht, dies jedoch im Rahmen einer Betrachtung der Systementfaltung vornimmt, die stadientypologisch analysiert wird. Es geht mithin um eine prinzipielle Perspektive, die sich jedoch so versteht, dass sie sich allererst am System äußert. Näherhin ist damit die These verbunden, auf die die gesamte Untersuchung zuläuft, nämlich dass das Prinzip nicht abgesehen von spezifischer Systemfassung, also eben nicht abstrakt, dargestellt werden kann. Dies meint, dass nicht von vornherein ein einheitliches, unverändertes Prinzip angesetzt wird, das dann unabhängig von Stadien der Tillich’schen Systembildung zur Darstellung kommt. Es ist also gerade nicht die Intention, aufgrund einer Analyse des Gesamtwerkes Tillichs ein Prinzip zu identifizieren, das leitendes Agens der Tillich’schen Systembildung an sich ist. Dass dies überhaupt möglich sei, bestreitet schon die angesetzte These dieser Studie und versucht just das zu erweisen, ohne jedoch damit prinzipielle Aussagen generell zu verabschieden. Damit ist allerdings nicht eo ipso ausgesagt, dass das Prinzip Tillichs einer Veränderung oder gar Entwicklung unterworfen sei – vielmehr soll der Fokus auf die innere Kohärenz von Prinzip und Systemausprägung resp. Systemausprägungen gelenkt werden. Besonderes Interesse kommt also den Kontinuitätslinien und Anknüpfungspunkten verschiedener Systemausprägungen zu. Letztere werden in typologisierte Stadien eingeteilt und analysiert. Dabei ist ein exemplarischer Querschnitt durch Tillichs Schriften angesetzt, der weiter unten im Text erläutert wird. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Studie zu Tillichs Theologie gewissermaßen als ‚Bindeglied‘ zwischen deren prinzipiellem Ansatzpunkt und ihrer systematischen Explikation. Vermieden werden soll ein bewusstes oder unbewusstes Ansetzen der Prämisse, dass es in Tillichs Denken ein sich durchhaltendes Prinzip gäbe oder eben nicht. Im Gegenteil muss die Frage in eine andere Richtung hin gestellt werden, nämlich wie sich Prinzip und System zueinander verhalten und wie sich Veränderungen – welcher Art sie auch sein mögen – in dieser Relation niederschlagen. Dabei nimmt diese Untersuchung durchaus selbst eine Position gemäß der ersten beiden genannten Arten in der Tillichforschung ein: Klarer Schwerpunkt, weil gleichzeitig Ausgangsbasis, ist die Theologie des frühen Tillich. Zunächst und in Sonderheit ist damit das theologische Denken Tillichs vor dem ersten Weltkrieg bezeichnet. Im weiteren Sinne zählt dazu aber auch Tillichs Wirken in Deutschland in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Theologie nach dem zweiten Weltkrieg aus der US-amerikanischen Zeit Tillichs findet ebenfalls Beachtung, jedoch von einer Warte aus, die sich vom frühen Tillich herkommend versteht. Die spezifische Thematik, derer sich die Untersuchung annimmt, ist jedoch genau betrachtet die

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Einleitung

Möglichkeit einer Thematisierung von Tillichs Theologie überhaupt. Eben die Grundfrage des Verhältnisses der Systembildung in verschiedenen Stadien macht dies deutlich: Wie verhalten sich Systemausprägung und Prinzip zueinander? Die Frage, was das jeweilige Spezifikum einer Systemausprägung darstellt, muss dieser Grundfrage jedoch notwendig vorausgehen. Die eingehende und sorgfältige Analyse Tillich’scher Systementfaltung ist mithin die Hauptaufgabe der Untersuchung. Die Ergebnisse der Analyse stellen dabei hinwiederum bereits teilweise eine Antwort auf die Grundfrage dar, weil in jeder stadientypischen Systemausprägung konkret beobachtet werden kann, wie Tillich prinzipielle Vorgaben umsetzt, modifiziert und zur Anwendung bringt. Insofern muss unbedingt der Gang bis hinein ins System selbst erfolgen. Dass dabei die Betrachtung immer auf eine Erfassung des Prinzips abhebt, führt die Studie über eine bloße Systemanalyse oder Werksgeschichte hinaus; genau darin wird nämlich ihr systematischer Charakter und Anspruch deutlich, sich nicht in reiner Systemanalyse zu ergehen, sondern dies stets auf einem Hintergrund vorzunehmen, der auf die prinzipielle Verflochtenheit systematischer Ausführungen zielt. Wie stadienhafte Systemausprägung und ihr Prinzip in Zusammenhang stehen, versucht pointiert der Epilog zu klären. Jedoch ist dieser nicht als ‚Summe‘ derart zu verstehen, dass er die Relation von Systemausprägungen und Prinzip systematisch in Gänze zu erfassen vermöchte – dafür bedarf es notwendig der Systemausprägungen selbst.16 Allerdings wird abschließend eine Tillichinterpretation vorgestellt, die sich aus der Systemanalyse speist und Tillichs Theologie insgesamt im Rahmen einer transzendentalen Strukturtheorie expliziert, welche sich genetisch aus dem Blick auf die Systemausprägungen selbst ergibt. Näherhin wird das Anliegen der Theologie Tillichs als ein transzendentales Unterfangen identifiziert. Tillich geht es in den Systemfassungen um die Verhältnisbestimmung von Faktizität kontingenter Erfahrungsdaten und deren Möglichkeitsbedingung. Theologie fungiert damit vorrangig als Theorie, die versucht, Strukturen in Selbst und Welt mit den Konstituenten von Wirklichkeitserfahrung zu kommunizieren. Da dies jedoch nicht in einem einsträngigen Verfahren möglich ist – sofern man nicht in die Denkrichtung einer natürlichen Theologie bzw. einer metaphysischen Hinterwelt verfallen möchte –, entwickelt Tillich ein Schema aus drei Momenten, das die Vermittlung von Erfahrungsdimension und der Bedingung ihrer Möglichkeit ins Werk setzen soll. Diese dem Systemaufbau Tillichs entnommenen prinzipiellen Voraussetzungen bilden die Grundlage für die Interpretation der Theologie Tillichs. ————— 16

Vgl. dazu Teil c) der Einleitung.

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Das Hauptaugenmerk ruht mithin auf dem prinzipiellen Ansatz Tillichs über sein Gesamtwerk hin betrachtet. Allerdings lassen sich ob der Verknüpfung von Prinzip und systematischer Entfaltung beide nicht voneinander abkoppeln. Das Ziel der Untersuchung kann demgemäß nicht eine abstrakte Prinzipskizze sein, weil diese sinnvoll nicht zu leisten ist, sofern man nach der Konstanz des Prinzips fragt. Dieser Umstand erfordert notwendig die Einbeziehung systematischer Entfaltungen in die Untersuchung. Nun versteht sich die Arbeit aber als dezidiert systematisch und nicht werksgeschichtlich arbeitend; dessen unbeschadet ist das Vorgehen allerdings ein werksgeschichtliches, weil anders die systematische Abfolge von Systemausprägungen nicht nachzuvollziehen ist. Griffe man nämlich aus Einzelsystemen jeweils das heraus, was für das eigene Prinzipverständnis als Beleg anführbar wäre, so würde gerade das System als solches nicht ernst genommen, weil es nur partiell zur Begründung prinzipieller Präsupposition diente. Um dies zu vermeiden, lassen sich Analysen der Systemausprägungen als ganze – bzw. nahezu in Vollständigkeit – nicht umgehen. Angesetzt wird dabei mit einer werksgenetischen Interpretation. Klares Zentrum und Ausgangspunkt ist damit das frühe Denken Paul Tillichs. Im Folgenden seien die der Arbeit zugrunde gelegten zentralen Schriften Tillichs angeführt und in ihrer Verwendung begründet. Der Rahmen wird so gesteckt, dass die erste ausgearbeitete Systematik Tillichs, die ‚Systematische Theologie von 1913‘17, die Grenzlinie in Bezug auf den Anfang darstellt. Dabei wird eine umfrangreiche Analyse und Interpretation dieser frühen, erst 199918 edierten Schrift geboten, deren Bearbeitung in einem ähnlichen Umfang bisher nur von Doris Lax vorgenommen wurde.19 Allerdings beschränkt sich die Untersuchung von Lax nahezu ausschließlich auf die Systematik von 1913 und bezieht nur einen Zeitraum von zwei Jahren vor der Entstehung der ersten Systematischen Theologie Tillichs in die Betrachtung mit ein. Einen größeren Rahmen bietet die bereits erwähnte Studie von Georg Neugebauer; jedoch wird die Systematik von 1913 von ihm deutlich kürzer behandelt als bei Lax und konzentriert sich auf Tillichs Christologieverständnis. Damit kann die vor————— 17

Paul Tillich, Systematische Theologie von 1913, in: EW IX: Frühe Werke, hg. von Gert Hummel und Doris Lax, Berlin/New York 1998, 278–434. 18 Vorher waren nur die Thesen zu Tillichs Systematischer Theologie von 1913 bekannt, vgl. Paul Tillich, Systematische Theologie (1913/1914), in: ders., Main Works/Hauptwerke, hg. von Carl Heinz Ratschow, Vol./Bd. 6: Theological Writings/Theologische Schriften, hg. von Gert Hummel, Berlin/New York 1992, 63–81. 19 Vgl. Doris Lax, Rechtfertigung des Denkens. Grundzüge der Genese von Paul Tillichs Denken dargestellt und erläutert an vier frühen Schriften aus den Jahren 1911–1913, Göttingen 2006. Wie auch bei Doris Lax wird der ethische Teil nicht gesondert in dieser Studie behandelt werden.

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liegende Arbeit für sich beanspruchen die ‚Systematische Theologie von 1913‘ erstmals ausführlich zu analysieren, um die Untersuchungsergebnisse für eine Gesamtinterpretation Tillichs fruchtbar zu machen.20 Die starke Fixierung auf das 1913er System bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch frühere Arbeiten Tillichs einbezogen werden; so wird etwa Tillichs Thesenreihe ‚Die christliche Gewißheit und der historische Jesus‘21 von 1911 berücksichtigt – jedoch geht es auch hierbei um Tillichs eigenen theologischen Ansatz, nicht um seine Interpretation anderer Denker. Letzteres trifft noch stark bezüglich der beiden Dissertationen Tillichs zu Schelling zu, weshalb diese nicht zum direkten Gegenstand der Betrachtung werden. Jedoch ist evident, dass auch in diese Arbeiten Tillichs eigene theologische Überzeugungen eingeflossen sind, weshalb an entsprechender Stelle Schriften dieser Art einzubeziehen sind, dann aber nur in ihrer jeweiligen Relevanz und in Teilen. Rechnung getragen wird der Prägung Tillichs durch Schelling deshalb in einem eigenen Exkurs22 und nicht vermittels einer Analyse der Dissertationen Tillichs. Auch die Habilitationsschrift Tillichs zum Supranaturalismusbegriff23 wird nicht als rein selbständige theologische Positionierung in der Weise verstanden, dass sie die systematische Entfaltung prinzipieller Annahmen Tillichs zu klären vermag. Wie die Dissertationen wird sie deshalb nicht in extenso, sondern nur bei explizitem Bedarf Beachtung finden. Die zweite wichtige Werkphase Tillichs beginnt mit dem Ende bzw. kurz vor Ende des ersten Weltkriegs. Zu dieser Zeit lässt sich eine Abnahme des Einflusses Schellings beobachten. Die am Idealismus orientierte, absolutheitstheoretische Ausgangsbasis des Systemansatzes wird durch einen verstärkten Subjektsbezug aufgebrochen. Tillich erkennt im Briefwechsel mit Emanuel Hirsch die Revisionsbedürftigkeit seiner Vorkriegstheologie selbst. Manifest werden die Neuerungen in zwei Schriften aus dem Jahre ————— 20

Eine solche, intensive Auseinandersetzung mit Tillichs System von 1913 stellen als dringendes Forschungsdesiderat auch Gunther Wenz, Non aliud. Das trinitarische Verhältnis Gottes bei Nikolaus von Kues und Paul Tillich im Strukturvergleich, in: Gert Hummel/Doris Lax (Hg.), Trinität und/oder Quaternität – Tillichs Neuerschließung der trinitarischen Problematik. Trinity and/or Quaternity – Tillich’s Reopening of the Trinitarian Problem. Beiträge des IX. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/Main 2002. Proceedings of the IX. International PaulTillich-Symposium Frankfurt/Main 2002 (Tillich-Studien, Bd. 10), Münster 2004, 159–172, hier: 161, und Georg Neugebauer, frühe Christologie, 287, auf. 21 Paul Tillich, Die christliche Gewißheit und der historische Jesus, in: ders., Main Works/Hauptwerke, hg. von Carl Heinz Ratschow, Vol./Bd. 6: Theological Writings/Theologische Schriften, hg. von Gert Hummel, Berlin/New York 1992, 21–37. 22 Vgl. Kap. 1.1.2. 23 Paul Tillich, Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität, dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher, in: EW IX: Frühe Werke, hg. von Gert Hummel und Doris Lax, Berlin/New York 1998, 435–588.

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1919: Der Entwurf ‚Rechtfertigung und Zweifel‘24, der in zwei Versionen vorliegt, stellt den Kernbestand des systematischen Denkens Paul Tillichs nach dem ersten Weltkrieg dar. Dieses zweite Stadium der Systembildung Tillichs ist im Anschluss an jene Schrift als sinntheoretisches zu bezeichnen. Die Konsequenzen dieses Denkens in praktischer Hinsicht führt dann zu einer Kulturtheologie, die ihren ersten und konzisen Ausdruck findet in Tillichs Vortrag ‚Über die Idee einer Theologie der Kultur‘25, der die zweite zentrale Schrift aus dieser Schaffensphase darstellt. Weitere Schriften wie z.B. die ‚Religionsphilosophie‘26 von 1925, ‚Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden‘27 von 1923 oder auch die Dresdner Dogmatikvorlesung28 von 1925 bis 1927 werden berücksichtigt, rücken jedoch nicht in den Fokus der Betrachtung, weil sie nur weiter ausführen, was bereits in den Schriften von 1919 grundgelegt ist. Gerade die letztgenannte Vorlesung aus der Dresdner Zeit bildet insofern eine Grenze, als sie bereits Ansätze des dritten und letzten Stadiums Tillich’scher Systembildung enthält, was sich an dem Eindringen stark ontologischer Begrifflichkeiten zeigt. In dieser Grenzstellung zwischen Sinntheorie und Ontologie wird die Dresdner Dogmatikvorlesung zwar des Öfteren klärend herangezogen, eine Durchsicht im Sinne einer Komplettinterpretation scheint jedoch nicht angeraten – zu unklar gestaltet sich hier noch Tillichs Begriffsbildung. Im letzten Stadium, das als das ontologische bezeichnet wird, ist der Zentraltext durch Tillichs opus magnum, die dreibändige ‚Systematische Theologie‘, vorgegeben. Jedoch erscheint auch hier die Fixierung auf nur einen Text problematisch, so dass gerade für die wichtige Bestimmung des Ontologieverständnisses Tillichs die erst seit 2009 in Edition vorliegende Ontologievorlesung aus dem Jahre 1951 herangezogen wird.29 Diese erhellt das Ontologieverständnis Tillichs zum Teil deutlich besser, als dies die ————— 24

Paul Tillich, Rechtfertigung und Zweifel (1919), in: EW X: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der Deutschen Zeit (1908–1933). Erster Teil, hg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York 1999, 127–230 (1. Version: Manuskript: 128–185; 2. Version: Typoskript: 185– 230). 25 Paul Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: GW IX: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart (11967) 21975, 13– 31. 26 Paul Tillich, Religionsphilosophie, in: GW I: Frühe Hauptwerke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959, 295–364. 27 Paul Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, in: GW I: Frühe Hauptwerke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959, 109–293. 28 Paul Tillich, Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927), hg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Werner Schüßler und Erdmann Sturm (= EW XIV), Berlin/New York 2005. 29 Paul Tillich, Ontologie (1951), in: EW XVI: Berliner Vorlesungen III (1951–1958), hg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Erdmann Sturm, Berlin/New York 2009, 1–168.

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große Systematik vermag, welche jedoch ergänzend hinzugenommen wird. Zahlreiche kleinere Texte und Vorträge Tillichs fließen ein, sofern dadurch ein detaillierteres Bild der Systemausprägung Tillichs gewonnen werden kann. Bei der Auswahl der Textbasis für die Untersuchung wurde primär so verfahren, dass nach der Relevanz der Schriften für Tillichs Systembildung gefragt und dann in einem zweiten Schritt entschieden wurde, welche Texte signifikante Veränderungen und Modifikationen aufweisen. Dabei ergab sich die obige Auswahl, die sich – wie zu erkennen ist – darüber hinaus daran orientiert, die Neugestaltung der Theologie Tillichs jeweils möglichst in ihrer ersten ausgeprägten Gestalt zu erfassen.30 Erklärungsbedürftig ist jedoch die Kategorisierung der Schriften in drei Teile, die als Stadien bezeichnet wurden. Eine exakte Explikation des hier vertretenen Stadiumsverständnisses findet sich im Epilog, weil dort das komplexe Verhältnis von Stadienausprägungen und Prinzip eine eingehende interpretative Erklärung erfährt. Genauso wenig wie der eingangs schon problematisierte Prinzipbegriff ist der des Stadiums zu fassen unter Absehung von seinem Pendant, dem Prinzip. Vorab sei jedoch für die Lektüre bereits festgehalten, dass unter Stadien dezidiert nicht Phasen des Tillich’schen Schaffens verstanden werden. Dem wurde bereits weiter oben widersprochen, indem eine Werksgeschichte nicht Ziel des Vorgehens ist. Positiv gewandt bezeichnet Stadium einen systematischen Aspekt, mit dem eine bestimmte systematische Ausprägungsgestalt des theologischen Prinzips Tillichs bezeichnet wird. Insofern steht jedes Stadium notwendig in Verbindung mit einer werksgeschichtlichen Phase Tillichs, so wie sie für die Textbasis aufgezeigt wurde, fällt jedoch nicht mit ihr zusammen. Dies zeigt sich schon daran, dass verschiedene Systemansätze innerhalb eines Stadiums gefasst werden können. Kurz gesagt: Stadium meint die systematische Funktion und prinzipielle Ausprägungsgestalt bestimmter Textcorpora, die sich in der Regel innerhalb einer Schaffensphase finden lassen, mit denen ein Stadium jedoch nicht automatisch dieselben Grenzen teilt.31 Dieser Zusammenhang ist allerdings kein zwingender, weil sich die Stadien als dezidierte Typologisierungen verstehen, die systematisch gewonnen werden und einem rein systematischen Verwendungszweck dienen. ————— 30

Einzig die späte Systematik fällt aus diesem Raster. Dies ist darin begründet, dass erst sie Tillichs spätes ontologisches Konzept in einem kompletten zusammenhängenden System vorstellt. 31 Auch bei Phasen in der Werksgeschichte wäre zu fragen, inwieweit und inwiefern sie sich überhaupt sinnvoll abgrenzen lassen. Da das Prozedere in dieser Studie jedoch bewusst systematisch konzipiert ist, wird der Stadiumsbegriff auch weniger problematisch als der der Werksphase, weil er nicht auf eine konzise Phaseneinteilung, sondern auf Gestalten der Systemausprägung abhebt, die zunächst unabhängig sind von irgendwelchen Schaffensphasen.

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Da sich Denken jedoch immer in einem konkreten historischen und biographisch geprägten Umfeld vollzieht, seien im folgenden Abschnitt die oben in ihrer Auswahl begründeten zentralen Schriften Tillichs kontextualisiert. Ziel kann dabei nicht eine ‚echte‘ Biographie Tillichs sein, die innerhalb eines Einleitungskapitels gar nicht zu leisten wäre;32 vielmehr geht es darum, den Schriftenbestand in seinen natürlichen Entstehungsrahmen einzuzeichnen und somit die später nur abgesehen von ihrer Entstehung behandelten Texte einer historischen Einbettung zuzuführen. Damit verbunden ist notwendig eine Fokussierung auf bestimmte Abschnitte in Tillichs Biographie, vornehmlich die Jahre bis zur Emigration.

b) Biographische Einordnung der behandelten Werke Der, wie bereits erwähnt, am 20. August 1886 in der damaligen Provinz Brandenburg als Pfarrerssohn geborene Paul Johannes Tillich studiert vom Wintersemester 1904 an Theologie zunächst in Berlin. Bereits für das folgende Sommersemester wechselt er nach Tübingen, wo er sich einer ersten intensiven Schellinglektüre widmet,33 um im Anschluss für vier Semester seine Studien in Halle weiterzuführen. Diese Zeit wird zur wohl prägendsten für Tillich. Er hört seinen theologischen Lehrer Martin Kähler, der ihn v.a. in Bezug auf das Verständnis der Rechtfertigungslehre lebenslang bestimmt.34 Zur zweiten Lehrgestalt wird der Privatdozent Fritz Medicus35, der sich insbesondere mit seinen Schriften über Fichte hervortat und damit maßgeblich dazu beitrug, dem deutschen Idealismus zu einer Renaissance zu verhelfen. Neben diesen beiden Figuren nennt Tillich selbst noch Wilhelm Lütgert als prägenden Einflussfaktor.36 Zum Wintersemester 1907 kehrt Tillich nach Berlin zurück, um sich auf das landeskirchliche Examen ————— 32

Einen Überblick bieten: Pauck/Pauck, Tillich, passim; Schüßler, Paul Tillich, München 1997; Wehr, Paul Tillich, passim; sowie neuerdings Schüßler/Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, insbes. 3–25. 33 Vgl. Pauck/Pauck, Tillich, 32. 34 Zur Bedeutung Kählers für Paul Tillich vgl. Gunther Wenz, Die reformatorische Perspektive: Der Einfluß Martin Kählers auf Tillich, in: ders., Tillich im Kontext. Theologiegeschichtliche Perspektiven (Tillich-Studien, Bd. 2), Münster 2000, 207–228. 35 Zur Bedeutung von Fritz Medicus für Paul Tillich vgl. Friedrich Wilhelm Graf/Alf Christophersen, Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance. Paul Tillich und sein philosophischer Lehrer Fritz Medicus, in: ZNThG 11, 2004, 52–78. Vgl. dazu auch dies. (Hg.), Die Korrespondenz zwischen Fritz Medicus und Paul Tillich, in: ZNThG 11, 2004, 126–147. 36 Vgl. Paul Tillich, Auf der Grenze, in: GW XII: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, Stuttgart 1971, 13–57, hier: 31.

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vorzubereiten, zu dem er sich 1908 meldet und das er mit der Note ‚Recht gut‘ besteht.37 Dem Examen schließt sich eine Tätigkeit als Pfarrverweser in Lichtenrade im Jahr 1909 an. In diese Zeit fällt auch die Bekanntschaft und sich entwickelnde Freundschaft mit Carl Richard Wegener. Nach einem intensiven Schellingstudium, welches ihm ein Stipendium der Stadt Berlin ermöglicht, wird der gerade Vierundzwanzigjährige am 22. August 1910 in Breslau zum Doktor der Philosophie promoviert. Die Arbeit der Dissertation trägt den Titel ‚Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien‘38. Die zweite Arbeit zu Schelling mit dem Titel ‚Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung‘39, seine Lizentiantdissertation, reicht Tillich an der Universität Halle-Wittenberg ein, wo er am 16. Dezember 1911 seine Schlussprüfung ablegt. Damit markiert der Anfang des Jahres 1912 das Ende seiner akademischen Ausbildung, indem er mit der Verleihung des Grades eines Lizentiaten in Halle die Berechtigung erhalten hatte, theologische Vorlesungen zu halten. Zwischen den beiden Dissertationsschriften liegt allerdings ein Werk Tillichs, dessen Bedeutung für sein gesamtes theologisches Leben er in seiner autobiographischen Schrift ‚Auf der Grenze‘ selbst benennt. Die 128 Thesen über ‚Die christliche Gewißheit und der historische Jesus‘ sollten Tillichs christologisches Verständnis bis weit über seine Frühphase hinaus prägen. So schreibt Tillich selbst: „Ein für meine Entwicklung maßgebendes Dokument sind die Thesen, die ich Pfingsten 1911 einer Gruppe befreundeter Theologen vorlegte und in denen ich die Frage stellte und zu beantworten suchte, wie die christliche Lehre zu verstehen wäre, wenn die Nichtexistenz des historischen Jesus historisch wahrscheinlich würde.“ (GW XII, 32) Der Rahmen, innerhalb dessen Tillich seine Thesen vorstellt, ist ein Konvent des Wingolfbundes, der Studentenvereinigung, der Tillich seit Studienzeiten angehörte und verbunden blieb.40 In den Thesen sucht Tillich im Anschluss an Martin Kähler und Wilhelm Lütgert zu erweisen, dass „[n]icht der historische Jesus, sondern das biblische Christusbild […] ————— 37

Vgl. Werner Schüßler, Tillich, 11. Zu finden in: EW IX: Frühe Werke, hg. von Gert Hummel und Doris Lax, Berlin/New York 1998, 154–272. 39 In: GW I: Frühe Hauptwerke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959, 11–108. 40 Vgl. dazu die Rede, die Tillich auf der Wingolfversammlung in Kassel-Wilhelmshöhe 1911 hielt: Die christliche Gewißheit und der historische Jesus. Vortrag auf der Kasseler Pfingstkonferenz 1911, in: EW VI: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, hg. von Renate Albrecht und René Tautmann, Frankfurt a.M. 1983, 50–61. Vgl. zur Thesenreihe auch die Worte von Gert Hummel zur Textgestalt in: MW/HW 6, 21f. 38

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das Fundament des christlichen Glaubens“ (GW XII, 33) bilde. Letzterer dürfe eben nicht dem „sich wandelnde[n] Kunstprodukt historischer Technik“ (GW XII, 32) unterworfen werden. Damit positioniert sich Tillich geprägt durch das Versagen der Leben-Jesu-Forschung und unter dem Einfluss seiner Hallenser Lehrer klar gegen das Jesus-Bild der liberalen Theologie. Ebenfalls in das Jahr 1911 fällt Tillichs Aufnahme seines Lehrvikariats im berlinnahen Nauen, das schließlich nach dem bestandenen zweiten theologischen Examen wohl im Frühjahr 191241 zur Ordination am 18. August desselben Jahres führt. Der Ordination schließt sich bis zum September 1914 – mit einer Unterbrechung im Jahr 1913 – eine Zeit als Hilfsprediger in Berlin-Moabit an. Der Sommer 1912 ist gleichfalls der Beginn einer Unternehmung, die Tillich zusammen mit seinem Freund Richard Wegener vornimmt: Gemeinsam organisieren sie eine Reihe von ‚Vernunft-Abenden‘ im privaten Rahmen, zu denen gebildete, aber der Kirche fernstehende Kreise verschiedenster Couleur geladen werden. Ziel ist eine Apologetik dergestalt, dass die traditionelle christliche Lehre vermittels des Denkens mit einer modernen säkularen Geisteshaltung ausgesöhnt werde.42 Im Jahr 1913 entscheidet Tillich sich endgültig für eine akademische Laufbahn, indem er Verhandlungen mit der Fakultät Halle-Wittenberg aufnimmt und sich mit der geforderten Habilitationsschrift auseinandersetzt. Als Tillich im Sommer seinen Schwager Alfred Fritz, der Pfarrer in Butterfelde (dem heutigen Przyjezierze) südlich von Stettin war, besucht, lernt er Margarethe Wever kennen, mit der er sich im Januar 1914 verlobt und die er am 28. September desselben Jahres nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges heiratet. In dieser spannungsvollen Zeit zwischen der Tätigkeit als Hilfsprediger, dem Bemühen um eine kirchenferne Berliner Klientel, der Entscheidung für die Universität und dem privaten Glück mit Margarethe Wever entsteht wohl die erste Konzeption eines theologischen Systems. Die ‚Systematische Theologie von 1913‘ dürfte zwischen Sommer und Ende des Jahres 1913 verfasst sein.43 Der Systementwurf erstreckt sich von einer Apologetik und ————— 41

Renate Albrecht/Werner Schüßler, Paul Tillich. Sein Leben, Frankfurt a.M. u.a. 1993, 32, datieren das Examen auf den 4. Mai 1912. Pauck/Pauck, Tillich, 47, nennen hingegen den 27. Juli desselben Jahres. Zur Problematik der Datierung vgl. Neugebauer, frühe Christologie, 252 Anm. 442. 42 Vgl. zu den ‚Vernunft-Abenden‘ Pauck/Pauck, Tillich, 49f, Schüßler, Tillich, 12f, und insbesondere Doris Lax, Rechtfertigung, 63–89. 43 Vgl. dazu die Anmerkungen der Herausgeber der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ zu ihrer Textgeschichte in EW IX, 273–277, hier: 276 (zur Entstehungszeit). Eine genaue Genesephase lässt sich nicht eruieren, jedoch scheint die zweite Hälfte des Jahres 1913 sehr wahrscheinlich.

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einer Dogmatik bis hin zu einer theologischen Ethik.44 Die Arbeit ist von Richard Wegener gelesen und mit Anmerkungen versehen worden. Besonders die apologetischen Tendenzen, die sich in dem Versuch äußern, den Gottesbegriff in einem allgemeinen wissenschaftlichen Prinzip zu begründen, atmen den Geist der Vernunft-Abende. Zugleich erweist sich der Einfluss Schellings als tragend, indem die identitätsphilosophischen Ansätze der Thesenreihe von 1911 weitergeführt werden. Auch seine Prägung durch Martin Kähler äußert sich bereits in der Gliederung der Arbeit45 und in ihrem Zentrum, der Rechtfertigungslehre. Tillich scheint diese Schrift jedoch nicht für die Veröffentlichung vorbereitet, geschweige denn eine Publikation des Textes überhaupt geplant zu haben. Die Gründe hierfür sind nicht bekannt.46 Diese Arbeit Tillichs sollte die letzte vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges darstellen, die er nach dem Krieg trotz kleiner verbliebener Lücken nicht fortsetzte. Bereits im Oktober des Jahres 1914 meldet sich Tillich freiwillig als Feldgeistlicher und ist in dieser Funktion bis Mitte 1918 tätig. Die Anfangseuphorie des Kriegsteilnehmers weicht schnell einer kulturpessimistischen, zweifelnden Haltung, die ihren Höhepunkt wohl in der Schlacht von Verdun findet. Im Anschluss an dieses niederschmetternde Ereignis erhält Tillich Urlaub, um seine Habilitation in Halle zu Ende zu führen. Die dortige theologische Fakultät hatte schwere Bedenken erhoben gegen Tillichs Habilitationsschrift mit dem Titel ‚Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität, dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher‘. Die Arbeit sei keineswegs historisch, so wie es der Titel impliziere, sondern vielmehr rein logisch. Außerdem gehe Tillich wie selbstverständlich und unhinterfragt vom Identitätsprinzip aus. Dies teilt Lütgert Tillich bereits im Sommer 1915 mit.47 Trotzdem wird es Tillich in Anbetracht der widrigen Zeitumstände

————— 44

Zu Tillichs 1913er Systematik vgl. einführend Gert Hummel, Das früheste System Paul Tillichs: Die „Systematische Theologie von 1913“, in: NZSTh 35, 1993, 115–132. 45 Vgl. dazu die analoge Gliederung bei Martin Kähler, Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt, 3. Aufl. sorgfältig überarbeitet und durch Anführungen aus der Heiligen Schrift vermehrt, Leipzig 1905 (11883, 21893). 46 Vgl. wiederum die Anmerkungen der Herausgeber in EW IX, 276 sowie die Ausführungen der Herausgeber in der historischen Einleitung zu Tillichs Dresdner Dogmatik-Vorlesung in EW XIV, XXI. 47 Vgl. Wilhelm Lütgert an Paul Tillich: Kritik an der Habilitationsarbeit, in: EW V: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, Tagebuch-Auszüge, Berichte, hg. von Renate Albrecht und Margot Hahl, Stuttgart 1980, 101–103.

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ermöglicht sich in Halle zu habilitieren, wo er am 20. Juli 1916 seine Antrittsvorlesung hält.48 Die Kriegserfahrung prägt den jungen Privatdozenten derart, dass er seine Systemausprägung aus der Zeit vor dem Krieg nicht mehr unverändert beibehalten kann. Dies wird in Tillichs Briefwechsel mit seinem Freund aus Studententagen, Emanuel Hirsch, deutlich. Der Zweifel an seinem früheren idealistisch-metaphysischen Gottesbild ist so stark geworden, dass sich sein Rechtfertigungsverständnis umgestaltet. Eben die Rechtfertigung, die auch den Atheisten betreffen müsse, habe ihn, so Tillich an Hirsch im November 1917, „zu der Paradoxie des ‚Glaubens ohne Gott‘ getrieben.“ (EW VI, 97) Das Leben nach dem Krieg bleibt auch für den Privatmann Tillich aufgewühlt: Aus finanziellen Gründen habilitiert sich Tillich an die Berliner Universität um. 1919 gebiert seine Frau Margarethe ein Kind von seinem Freund Richard Wegener, das jedoch bald stirbt. Erst nach der Geburt des zweiten Kindes – wieder ist Wegener der Vater – willigt Tillich in die Scheidung ein, die im November 1921 ausgesprochen wird. Politisch wendet sich Tillich 1919 dem religiösen Sozialismus zu. Bereits 1919 finden regelmäßige Treffen des ‚Kairos-Kreises‘ statt, dem unter anderem Eduard Heimann, Carl Mennicke, Alexander Rüstow, Arnold Wolfers und Adolf Löwe angehören. Von 1920 bis 1927 gibt dieser Kreis die ‚Blätter für Religiösen Sozialismus‘ heraus.49 In dieser Kombination von Aufbruchsstimmung und gleichzeitiger Erfahrung der Kriegskatastrophe entwickelt Tillich sein Programm einer Kulturtheologie. Ihr zugrunde liegen seine theologisch-religionsphilosophischen Einsichten, die sich erstmals im zitierten Briefwechsel mit Emanuel Hirsch äußern, ihren ausgeprägten Niederschlag jedoch in Tillichs erst postum veröffentlichten Entwürfen ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ aus dem Jahr 1919 finden. Die Typoskriptfassung dürfte Tillich wohl verwendet haben, um als Privatdozent in Berlin vorstellig zu werden und sich um ein Stipendium der Universität zu bemühen.50 Das Konzept eines ‚absoluten Paradoxes‘, wie es sich in ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ findet, stellt die ————— 48

Zu den Umständen des Habilitationsverfahrens Tillichs vgl. Graf/Christophersen, Neukantianismus, 54–59. 49 Zum religiösen Sozialismus und seiner Bedeutung für Paul Tillich vgl. die Beiträge des von Christian Danz, Werner Schüßler und Erdmann Sturm herausgegebenen Sammelbandes ‚Religion und Politik‘ (Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung. International Yearbook for Tillich Research. Annales internationales de recherches sur Tillich, Bd. 4/2008), Wien/Berlin 2009. 50 Vgl. die Einführung des Herausgebers Erdmann Sturm (EW X, 127). Besonders aufschlussreich ist ein unveröffentlichter Brief aus dem Tillich-Archiv in Harvard, der Sturms Vermutung über den Verwendungszweck der Schrift bestätigt (vgl. das Zitat aus dem Brief ebd., 127f). Dass es jedoch nicht dazu gekommen sei, dass Tillich den Entwurf in Berlin vorlegte, stellen Schüßler/ Sturm, Paul Tillich, 9, fest.

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epistemologische und systematische Basis für Tillichs Verständnis der Kultur dar. Das Programm einer Kulturtheologie entwirft Tillich jedoch bereits vor der Fertigstellung von ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ in einem Vortrag vor der Kant-Gesellschaft mit dem Titel ‚Über die Idee einer Theologie der Kultur‘ am 16. April 1919. In Kombination lassen sich diese beiden Schriften als das theologische Programm Tillichs nach dem ersten Weltkrieg verstehen. Bereits 1920 lernt Tillich auf einem Kostümball Hanna Werner kennen, die jedoch – bereits liiert – zunächst Albert Gottschow heiratet, sich aber bald wieder von ihm scheiden lässt. Nach vollzogener Scheidung Hannas heiraten sie und Tillich am 22. März 1924. Was seine akademische Karriere anbelangt, so arbeitet Tillich in den Berliner Jahren daran, seine Berufung voranzutreiben. Das bedeutendste Werk dieser Phase ist ‚Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden‘51 von 1923, das die wissenschaftliche Verortung der Theologie, wie Tillich sie bereits vor dem Krieg unternommen hatte, nun in Modifikation fortsetzt. 1924 wird Tillich tatsächlich berufen, nämlich als Extraordinarius nach Marburg, wo er drei Semester lang lehrt. Sein schon 1919 vorgestelltes theologisches Programm bekräftigt er in Marburg im gleichnamigen Vortrag ‚Rechtfertigung und Zweifel‘52. In Marburg trifft Tillich auf Rudolf Otto, Martin Heidegger und Rudolf Bultmann. Bereits 1925 wechselt er – nach dem gescheiterten Bemühen, einen Ruf nach Berlin zu erhalten – an die Technische Hochschule Dresden, wohin er als Ordinarius für Religionswissenschaft berufen wird. Ab 1927 ist er dann zugleich als ordentlicher Honorarprofessor an der Universität Leipzig tätig. Bereits in seiner Marburger Zeit, in der er erstmals Dogmatik liest, arbeitet Tillich an einem theologischen Gesamtsystem. Die Ausführungen fließen in seine Vorlesungen in Marburg, Dresden und Leipzig ein. Das Vorlesungsskript zur angekündigten Vorlesung ‚Dogmatik I‘ wächst im Laufe des Semesters bereits im Sommer 1925 in Marburg allmählich an,53 entsteht aber zum Großteil in Dresden.54 Tillich verhandelt von 1926 an mit dem Otto Reichl Verlag über eine Veröffentlichung des entstandenen theologischen Systems, jedoch kommt es bis zu Tillichs Emigration nicht zu einer Publikation, die Schrift bleibt unvollendet. Aus dem Fragment lässt sich aber Tillichs Konzept bereits ablesen: Seine Theologie nimmt eine deutlich stärker ontologisch geprägte Gestalt an, bedient ————— 51

In: GW I: Frühe Hauptwerke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959, 109–293. In: GW VIII: Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1970, 85–100. 53 Vgl. die Herausgeber der Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927), Werner Schüßler und Erdmann Sturm, in EW XIV, XXVII. 54 Vgl. ebd., XXVIII. 52

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sich aber weiterhin der kulturtheologischen Ansätze aus der Zeit nach dem Krieg. Erschienen ist hingegen 1925 Tillichs ‚Religionsphilosophie‘55 in Dessoirs ‚Lehrbuch der Philosophie‘. Auch hier verfolgt Tillich seine Ansätze von 1919 weiter. Ebenfalls erscheint 1926 die in Dresden verfasste Schrift ‚Die religiöse Lage der Gegenwart‘56, die für Tillich ein Erfolg wird und das kulturtheologische Programm konkret weiterverfolgt. Nachdem erneute, intensive Versuche, einen Wechsel nach Berlin zu initiieren, fehlschlagen, bleibt Tillich, der Dresden nur als Übergangszeit begreift, nichts anderes übrig, als in die philosophische Fakultät überzuwechseln und 1929 einen Ruf nach Frankfurt am Main anzunehmen. Gegen den Willen der dortigen Fakultät und besonders gegen den seines Vorgängers auf dem Lehrstuhl, Hans Cornelius, wird Tillich Ordinarius für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt. Als Kollege von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, der sich bei Tillich über Kierkegaard habilitiert, entfaltet Tillich eine rege Lehrtätigkeit und liest und lehrt über Philosophiegeschichte, Soziologie, Sozialpädagogik, Hegel, Schelling und den deutschen Idealismus im Allgemeinen. Sein letztes großes Werk in Deutschland, ‚Die Sozialistische Entscheidung‘57 von 193358, wird im Rahmen der nationalsozialistischen Machtergreifung konfisziert und führt zu Tillichs Beurlaubung am 13. April 1933 und schließlich zu seiner Entlassung 1934. In dieser Situation nimmt Tillich das Angebot des Union Theological Seminary in New York an, für ein Jahr eine Gastprofessur wahrzunehmen. Tillich, seine Frau Hanna sowie die siebenjährige Tochter Erdmuthe treffen Anfang November 1933 in New York ein. Zunächst erlernt Tillich die englische Sprache, um an der Columbia University philosophische Vorlesungen halten zu können. Seine Karriere am Union Theological Seminary verläuft langsam aber stetig: Tillich liest über Religionsphilosophie und systematische Theologie und wird schließlich 1940 Professor of Philosophical Theology. Noch in den dreißiger Jahren wird Tillich über die Fakultät hinaus bekannt durch seine Gesprächsoffenheit und kommt in Kontakt mit der Tiefenpsychologie. Während des zweiten Weltkrieges positio————— 55

In: GW I: Frühe Hauptwerke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959, 295–364. In: GW X: Die religiöse Deutung der Gegenwart. Schriften zur Zeitkritik, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1968, 9–93. 57 In: GW II: Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum religiösen Sozialismus, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1962, 219–365. 58 Zur diffusen Situation des Erscheinens von ‚Die sozialistische Entscheidung‘ vgl. Graf, „Old harmony“? Über einige Kontinuitätselemente in ‚Paulus‘ Tillichs Theologie der ‚Allversöhnung‘, in: Hartmut Lehmann/Otto Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2: Leitbegriffe – Deutungsmuster – Paradigmenkämpfe. Erfahrungen und Transformationen im Exil, Göttingen 2004, 375–415, hier: 392f. 56

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niert sich Tillich in Schriften und Rundfunkreden gegen das nationalsozialistische Regime und engagiert sich mit den und für die Emigranten aus Europa. 1948 reist Tillich erstmals wieder nach Deutschland, bleibt jedoch in den USA beheimatet, zumal ihm die theologische Landschaft Deutschlands, die geprägt ist von der Theologie Karl Barths, fremd ist und seine eigenen Ansätze hier nicht unbedingt willkommen sind. 1951 erscheint Tillichs erster Band seiner ‚Systematische[n] Theologie‘ in englischer Sprache, wodurch nach eher essayistischem Wirken von Tillich nun ein Gesamtkonzept seiner Theologie vorgestellt wird. Im selben Jahr hält Tillich in Berlin eine seiner Vorlesungsreihen als Gastdozent über Ontologie59, die das Ontologieverständnis aus dem ersten Band der Systematik näher bestimmt und beschreibt. Die Ontologisierung der Theologie, die sich bereits in seinen Marburger und Dresdner Jahren ankündigte, verstärkt sich und verbindet sich mit Aspekten anderer Bereiche, in Sonderheit der Psychoanalyse. Gerade die Einwirkung letztgenannter Disziplin zeigt sich in der nur ein Jahr nach dem ersten Band der Systematik erscheinenden, populären Schrift ‚Der Mut zum Sein‘60. Tillich befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit in den USA. Im Jahr 1954 unterbreitet die Harvard University Tillich das Angebot, als ‚University Professor‘ in nahezu vollkommener Lehrfreiheit unterrichten zu dürfen. Tillich, dem im nächsten Jahr die Pensionierung am Union in New York bevorstünde, sagt zu und wirkt von 1955 an bis 1962, dem höchstzulässigen Alter für diese Stelle, an der Harvard University. Seine Studien setzt er fort, indem 1957 der zweite Band ‚Systematische Theologie‘ erscheint, der die Christologie beinhaltet, die sowohl seine ontologischen Ansätze als auch seine bereits 1911 vertretene Position bezüglich der christologischen Thematik aufgreift und systematisch umsetzt. Von entscheidender Bedeutung werden die Auslandsreisen Tillichs, die ihn 1956 nach Griechenland, 1960 nach Japan und 1963 nach Israel führen. Die kulturelle und interreligiöse Begegnung beeindruckt und beeinflusst den bereits über Siebzigjährigen. Nach dem Ende der Lehrtätigkeit in Harvard, die nur bis zum fünfundsiebzigsten Lebensjahr gestattet ist, beginnt er seine Tätikeit als erster Nuveen-Professor der Theologie an der Univeristät von Chicago. Besonders die gemeinsam mit Mircea Eliade gehaltenen Seminare weisen Tillich auf die Bedeutung des interreligiösen Dialogs hin, wie es sich bereits während seiner Auslandsreisen, besonders nach Japan, angedeutet ————— 59

Vgl. Ontologie (1951), in: EW XVI: Berliner Vorlesungen III (1951–1958), hg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Erdmann Sturm, Berlin/New York 2009, 1–168. 60 In: GW XI: Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie, Stuttgart 1969, 13–139. Hervorzuheben sind die Bezüge zur Psychoanalyse und zur Existentialphilosophie, die Tillich in dieser Schrift namhaft macht. Vgl. auch Schüßler/Sturm, Paul Tillich, 22.

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hatte. 1963 erscheint der dritte und letzte Band der ‚Systematische[n] Theologie‘ und vollendet das Spätwerk Tillichs. Die Reflexionen über pneumatologische und eschatologische Themenbestände stehen im Zeichen der ersten beiden Bände, greifen aber das bereits in seinem ersten System von 1913 skizzierte Grundprinzip auf. Besonders das Grundthema einer differenzierten Einheit polarer Strukturen in Trennung und Wiedervereinigung hält sich durch. Von den diversen Auszeichnungen und Ehrungen, die Tillich im letzten Abschnitt seines Lebens erhielt, sei nur die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1962 besonders hervorgehoben. Die Popularität des amerikanischen Staatsbürgers Paul Tillich schwappt in gewisser Weise auch in seine alte Heimat herüber. Dazu tragen auch die zahlreichen Gastaufenthalte Tillichs in Deutschland bei. Die theologische Bedeutung, die ihm in Amerika widerfährt, sollte er allerdings erst postum in Deutschland erhalten. Tillich stirbt am 22. Oktober 1965 in Chicago. Seine Asche wird am Pfingstsonntag 1966 im Paul-Tillich-Park in New Harmony (Indiana) beigesetzt.

c) Aufbau der Untersuchung Die bereits in aller Kürze umrissene und immer wieder aufgegriffene Stadieneinteilung, die erst im Epilog ihre abschließende Begründung erfahren kann und wird, bildet das Grundgerüst für den Aufbau der Untersuchung. Dies zeigt sich in der Gliederung der Studie darin, dass sie drei Hauptteile beinhaltet: 1. Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips 2. Die sinntheoretische Präzisierung des Systemprinzips 3. Die ontologische Gestaltung des Systemprinzips. Durchgängiger und als solcher aufgezeigter Untersuchungsgegenstand ist mithin das Prinzip der Theologie Tillichs. Jedoch wird bewusst von einem Systemprinzip gesprochen, was den Ansatzpunkt der Untersuchung erneut hervorhebt: Prinzip und System sind zwar voneinander zu unterscheiden, jedoch nicht voneinander zu trennen, so dass auch prinzipielle Betrachtungen nicht nur nicht abgesehen von ihrer systematischen Entfaltung erfolgen können, sondern dieser im Gegenteil stets notwendig bedürfen. Dies leitet über zur stadienhaften Einzelbetrachtung der Systementfaltung von Tillichs Prinzip, wie sie in den Hauptkapiteln erfolgt. Die erste Explikation ins System erfährt Tillichs theologischer Ansatz im Jahr 1913. Die erstmalige Vorstellung des Systemprinzips in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ wird deshalb als Fundierung bezeichnet. Als wahrheitstheoretisch ist sie zu klassifizieren, weil der Wahrheitsgedanke in

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diesem Zusammenhang Anfangs- und Zielpunkt von Tillichs System darstellt. Da die fundierende Ersteinführung des Prinzips den Rahmen für die Betrachtung des Prinzips, wie es sich in den anderen Systemstadien ausprägt, vorgibt, ist dieser erste Hauptteil der Studie der bei weitem umfangreichste. Hier gilt es die Grundlagen des Systemprinzips Tillichs zunächst festzustellen und präzise zu fassen, um die Ergebnisse dann für die gesamte Untersuchung sinnvoll fruchtbar machen zu können. Vorgegangen wird dabei so, dass zunächst (1.1) die wahrheitstheoretischen Prämissen Tillichs erläutert werden; sodann (1.2) werden diese in ihrer absolutheitstheoretischen Ausprägung für den Aufbau der Systematik Tillichs betrachtet. Es schließt sich zuletzt (1.3) eine Betrachtung materialdogmatischer Art an, die die systematisch-theologischen Konsequenzen von Tillichs prinzipiellem Vorgehen aufweist. Die ‚Systematische Theologie von 1913‘ stellt dabei den entscheidenden Referenztext dar, ist jedoch nicht einziger Gegenstand der Betrachtung. So ist der Bezug Tillichs auf Schelling zwar – begründet durch die Arbeit von Georg Neugebauer – als erwiesen festzuhalten; trotzdem gilt es diesen Faden aufzugreifen und die Rezeption Schelling’schen Gedankenguts durch Tillich auch in ihrer prinzipiellen Form zu betrachten. Dies erfolgt exkursartig am Beispiel der Freiheitsschrift Schellings von 1809 (1.1.2). Umfangreich behandelt werden darüber hinaus Tillichs 1911er Thesen zum historischen Jesus (1.3.2.1). Zusammen mit den christologischen Ausführungen der Systematik von 1913 ergibt sich dadurch ein konzises Bild des Christologiekonzepts Tillichs in diesem ersten Stadium. Da sich die christologischen Grundentscheidungen im Denken Tillichs weitestgehend durchhalten – wie in den Folgeteilen zu erweisen sein wird – und darüber hinaus das Zentrum von Tillichs Prinziprealisierung darstellen, lohnt diese Detailbetrachtung auch für die weiteren Teile der Untersuchung, ja ist für sie de facto unumgänglich. Besonders wird in diesem Zusammenhang auf den zentralen Aporievorwurf von Gunther Wenz an Tillichs Konzept einzugehen sein. Es schließt sich ein Lösungsansatz der problematischen Punkte aus dem Gesamt Tillich’schen Denkens an (vgl. dafür insgesamt 1.3.2). Das zweite Systemstadium des Tillich’schen Prinzips ist als Präzisierung beschrieben. Damit wird die Revisionsbedürftigkeit des ersten Systemstadiums angesprochen, die Tillich selbst im Briefwechsel aus den Jahren 1917/18 mit Emanuel Hirsch feststellt. Virulent wird dabei das Problem prinzipiellen Zweifels an jedweder Setzung, was Tillich veranlasst, die Präzisierung im Rahmen einer Sinntheorie erscheinen zu lassen. Aufzuzeigen ist daher, wie Tillich seine prinzipiellen Annahmen in die neue systematische Konzeption übersetzt. Inwiefern und inwieweit das Systemprinzip selbst von der Perspektivenschärfung Tillichs betroffen ist, gilt es weiterhin zu fragen.

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Prozediert wird dabei dergestalt, dass zunächst (2.1) der neue Problemhorizont anhand der Briefe Tillichs an Hirsch eröffnet wird. Sodann (2.2) wird die zentrale Thematik, nämlich der prinzipielle Zweifel und das Subjekt selbst, von dem er anhebt, näher in den Blick genommen und exakt gefasst. Erst im Anschluss (2.3) wird die Grundverortung Tillichs auf sein Sinnkonzept übertragen und gefragt, weshalb Tillich zu dieser Explikationsform gelangt; den sinntheoretischen Betrachtungen sind mithin subjektsbzw. subjektivitätstheoretische vorgeschaltet. Die Darstellung des zweiten Stadiums endet damit (2.4), dass die sinntheoretisch präzisierte Fassung des Systemprinzips mit dessen Grundlegung aus dem ersten Stadium in Beziehung gesetzt wird. Ein kurzes Zwischenresümee (2.5) mit ersten Ergebnissen schließt sich an. Zentrale Texte stellen in prinzipieller Hinsicht die beiden Entwürfe ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ aus dem Jahr 1919 sowie in systematischer Hinsicht der Vortrag ‚Über die Idee einer Theologie der Kultur‘ aus demselben Jahr dar. Besonders die systematisch ausgearbeitetere Typoskriptfassung der Entwürfe muss für Tillichs prinzipiellen Ansatz einer intensiven Behandlung unterzogen werden. Die kulturtheologischen Ausführungen von Tillichs Vortrag nehmen demgegenüber eine erhellend-explikative Funktion war (2.4.1), wie Tillich seine prinzipiellen Ansätze systematisch ausgeführt wissen möchte. Die sich als zentral erweisende Problematik bildet – entsprechend der Christologie aus dem ersten Stadium – nun die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit subjektiven Glaubensvollzugs. Auch für die umstrittene Antwort Tillichs wird ein Lösungsansatz vorgestellt, der beansprucht, sich aus dem Denken Tillichs selbst entwickeln zu lassen (2.4.2). Verbunden mit der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Glauben und grundlegend dafür ist der für Tillich eminent wichtige Themenkomplex der Rechtfertigung des Zweiflers, der ebenfalls genau beleuchtet wird (2.2.2). Der dritte und letzte Hauptteil der Studie ist mit ‚Die ontologische Gestaltung des Systemprinzips‘ überschrieben. Angesprochen wird damit das stark ontologische Vokabular, in das Tillich die letzte Systemgestalt seines Prinzips kleidet. Gestaltung ist der treffende Terminus, weil Tillich in diesem Stadium sein System nicht im engeren Sinne einer erneuten Präzisierung unterzieht; vielmehr wird prinzipiell Erkanntes in einer erweiterten Seinsperspektive neu expliziert und in größere Zusammenhänge eingeordnet. Dem kommt die Untersuchung insofern entgegen, als zunächst (3.1) anhand begrifflicher Klärungen die Bezugslinien der vorangehenden Systemstadien zum neuen Konzept herausgearbeitet und aufgezeigt werden. In einem zweiten Schritt (3.2) wird dann der Neuansatz in ontologischer Ausprägung im Detail untersucht. Die Betrachtung schließt – wie die beiden

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anderen Hauptteile auch – damit, dass das ontologische Stadium mit den beiden vorhergehenden Stadien in Bezug gesetzt wird (3.3). Von besonders hervorzuhebender Bedeutung ist die Klärung, was für Tillich der Ontologiebegriff überhaupt meint (3.2.1). Dies erfolgt primär anhand der jüngst von Erdmann Sturm edierten Ontologievorlesung Tillichs von 1951. Der Klärung des Ontologiebegriffs entwächst die Analyse der epistemologisch-prinzipiellen Grundeinsichten (3.2.2), so wie sie sich im zweiten und wichtigsten Text dieses Stadiums präsentieren, nämlich der Endgestalt Tillich’scher Theologie, der dreibändigen ‚Systematische[n] Theologie‘. Die vornehmliche Problemanzeige stellt in diesem dritten Stadium der Gottesbegriff dar. Seine Fassung als Sein-Selbst wird dabei besonders eingehend untersucht. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage gestellt, wie der Terminus innerhalb der Systematik Tillichs zu verstehen ist (3.2.3). Die Studie wird beschlossen von einem Epilog, dem insofern ein Eigenrecht zukommt, als er nicht resümierend fungiert; vielmehr operiert er in Teilen metatheoretisch – um dabei überhaupt nach der Möglichkeit zu fragen, eine Metaebene in Bezug auf Tillich einnehmen zu können, und sich somit selbst in Frage zu stellen. Was einleitend nur angerissen wurde, jedoch noch nicht einer zufriedenstellenden Beantwortung zugeführt werden konnte, wird klarzustellen versucht. Gemeint ist damit in Sonderheit der schillernde Stadienbegriff. Deshalb hat eine Betrachtung der Systemstadien gewissermaßen ex post statt, wobei die Einzelbetrachtungen der Hauptteile nochmals aufeinander bezogen werden. Hierbei wird zusätzlich ein Lösungsvorschlag für das Verständnis des problematischen Begriffs vom Sein-Selbst eingebracht, welches in der Analyse des letzten Systemstadiums noch nicht abschließend einer Lösung zugeführt werden konnte. Vorgestellt wird in diesem Zusammenhang der Interpretationsansatz der Theologie Tillichs als einer transzendentalen Strukturtheorie, die momenthaft zu erfolgen hat, wie ebenfalls zu erweisen sein wird. In formaler Hinsicht sei zum Abschluss dieser Einleitung zweierlei bemerkt: Erstens sei für die Zitationsweise sowie für die zum Teil komplexe Zitationsform im Falle der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ auf die Zitationshinweise sowie das Siglen- und Abkürzungsverzeichnis verwiesen. Diese Informationen sind dem Literaturverzeichnis vorangestellt.61 Zum Zweiten ist der Textbestand der Untersuchung teilweise in Kleindruck gesetzt. Dies ist dann der Fall, wenn die Analyse notwendigerweise sehr nahe am Tillich’schen Text erfolgt und die entsprechende Passage darüber hinaus nicht direkter Kernbestand prinzipieller Betrachtung ist. Dem Ken————— 61

Vgl. S. 467f.

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ner der Schriften Tillichs soll mit diesem Zeichensatz eine Lektürehilfe angeboten werden, die es erleichtert, zwischen auf der einen Seite interpretativen bzw. zentralen und auf der anderen Seite primär analytischen Teilen, die für den Fachkundigen von geringerem Interesse sein dürften, zu unterscheiden. Der eingangs zitierten Passage aus Schellings ‚Philosophie der Offenbarung‘ entsprechend möge der geneigte Leser die vorliegende Studie betrachten. Ihrem Selbstverständnis nach weiß sie um die Fallibilität ihrer Folgerungen – und sieht sich trotzdem und gerade deswegen bestärkt in dem Anspruch, die Tillichforschung ein Stück weit auf ihrem Weg voranzubringen.

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1. Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips

Die Kerngedanken des theologischen Prinzips, wie sie für Paul Tillich für die Zeit bis 1917/1918 fundamental in Geltung bleiben,1 skizziert Tillich bereits in den ersten drei Paragraphen der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘. Dieses Dokument stellt gewissermaßen – sieht man von seinen Dissertationen und früheren Schriften ab, die sich noch primär am Denken anderer Geistesgrößen abarbeiten – den Anfang des Systemdenkens Paul Tillichs in eigener Konzeption und Verantwortung dar. Den Ansatzpunkt eben dieser systematischen Konstruktion bildet die Wahrheit, präziser: der Wahrheitsbegriff, von dem ausgehend ein Systemgebäude idealistisch geprägter Provenienz errichtet wird, das – ohne namentliche Nennung des Philosophen – stark von der Position Friedrich Wilhelm Joseph Schellings beeinflusst ist.2 Die idealistische Verortung von Tillichs erster ausgeführter systematischen Theologie lässt sich bereits im ersten Paragraphen der Schrift unschwer an der Absage an jegliche empirische Ansätze sowie an der Orien————— 1

Der Paradigmenwechsel von der wahrheitstheoretischen hin zur sinntheoretischen Fassung lässt sich an Tillichs Briefwechsel mit Emanuel Hirsch (EW VI, 95–136) nachvollziehen; vgl. hierzu auch Kap. 2.1. 2 Vgl. hierzu besonders Georg Neugebauer, frühe Christologie, passim, und Malte Dominik Krüger, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie, Tübingen 2008. Die zitierte Studie zur Theologie Tillichs von Georg Neugebauer aus dem Jahr 2007 beschäftigt sich dezidiert mit dem Frühwerk Paul Tillichs, erweitert die Perspektive jedoch in Grundzügen bis hinein ins Spätwerk. Einen besonderen Fokus setzt Neugebauer dabei auf die christologischen Fragestellungen. Neugebauer geht in seiner Untersuchung in der Weise vor, dass der erste Teil seiner Monographie die Philosophie Schellings ebenfalls aus stark christologischer Sicht behandelt. Der umfangreichere zweite Teil der Untersuchung beschäftigt sich sodann mit der Rezeption Schelling’schen Gedankenguts in Tillichs Dissertationen zu Schelling, den Thesen zum historischen Jesus sowie der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘. Die Theologie Tillichs nach dem ersten Weltkrieg sowie die große Systematik aus US-amerikanischer Zeit werden demgegenüber relativ kurz einer Betrachtung unterzogen. Im Fortschreiten seiner Studie stellt Neugebauer – sicherlich zu Recht – den starken Einfluss Schellings auf Tillichs Theologie fest. Besonders verdienstvoll und erhellend sind dabei die kompakten Schriftanalysen unter christologischem Blickwinkel, die Georg Neugebauer bietet. Gerade die ‚Systematische Theologie von 1913‘ wurde bis dahin noch nicht monographisch in dieser Tragweite abgehandelt. Darüber hinaus gelingt es Neugebauer, einen vertieften Einblick in die historische Verortung der jeweiligen Schriften Tillichs vorzustellen.

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Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips

tierung an einem einzigen, das System bestimmenden Prinzip ablesen: „Will z.B. der Empirist seine Theorie begründen, daß die Erfahrung die ausschließliche Erkenntnisquelle sei, so muß er eine Theorie der Erfahrung aufstellen, die nicht selbst wieder aus der Erfahrung entnommen sein kann, sondern aus einem Prinzip stammt, das alle bestimmte Erfahrung ermöglicht“ (A §1; 279; Hervorhebung S.D.)3. Bezeichnend ist, dass Tillich in ursprünglicher Formulierung anstelle des zitierten Verbs „ermöglicht“ zunächst „vorausgeht“ schreibt.4 Es geht Tillich an dieser Stelle mithin um eine Theorie, die jeglicher menschlich möglicher Erfahrung vorangeht und somit um die eigene Unzulänglichkeit resp. Begrenztheit weiß. Bereits hier deutet sich somit der von Christian Danz5 für die späte, dreibändige ‚Systematische Theologie‘ Tillichs konstatierte transzendentaltheoretische Ansatz der Theologie Tillichs an, der seine frühesten Wurzeln schon hier, im ersten Paragraphen der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, hat. Das wissenschaftliche Denken – und hiermit ist für Tillich das philosophische Denken überhaupt gemeint – kommt nolens volens nicht umhin, sich selbst und das durch sich selbst Erkannte als bereits Ermöglichtes vorzufinden, so dass ein Anheben des Systems von der eigenen, empirischen Position aus als schlechterdings ausgeschlossen, ja als der konsequenten Reflexion der menschlichen Erkenntnismöglichkeit völlig unangemessen erscheinen muss. Mit einem Wort: Für Tillich lotet das Denkvermögen des Menschen noch nicht seine tatsächlichen Grenzen aus, wenn es sich selbst als höchstes Erkenntnisprinzip setzt und somit seine eigene Verfasstheit und Intention hochmütig verfehlt. Zu fragen bleibt nun, wie das Denken sich unter den knapp skizzierten wahrheitstheoretischen Prämissen nach Tillichs Ansicht in der Theorie zu konstituieren, zu formieren und in der Praxis zu explizieren hat. ————— 3 Bei der Zitation der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ wird so verfahren, dass die etwas komplizierte Zitation der Paragraphen nach der im fortlaufenden Text der Edition in EW IX angegebenen Zählung erfolgt, nicht nach dem nachträglichen ‚Inhaltsverzeichnis‘, der ‚Skizze‘ (EW IX, 426–429). Da sich durch die dreifache Gliederung der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ die Paragraphennummern wiederholen, wird zwischen den Paragraphen der Apologetik, der Dogmatik und der Ethik durch ein Voranstellen des Anfangsbuchstabens des entsprechenden Teils der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ vor die Paragraphenzählung unterschieden; etwa „A §10“ für den zehnten Paragraphen der Apologetik oder „D §2“ für den zweiten Paragraphen der Dogmatik. Im Anschluss an die Paragraphenangabe kommt nach einem Semikolon die Zahl der Seite, von der das Zitat stammt, zu stehen. 4 Vgl. EW IX, 279 Anm. 4, wo textkritisch die ursprüngliche Formulierung Tillichs verzeichnet ist. 5 Vgl. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich (TBT 110), Berlin/New York 2000, besonders 282–286.

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Wahrheit und Denken als irreduzibles Spannungsverhältnis

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1.1 Wahrheit und Denken als irreduzibles Spannungsverhältnis 1.1.1 Tillichs Relationsbestimmung von Wahrheit und Denken Mit der Setzung der Wahrheit als Prinzip ist uno eodemque actu sowohl Grundlage als auch Ziel jedweder menschlichen Denkoperation bestimmt: Das Denken hat die Erkenntnis von Wahrheit zum Ziel, was wiederum die Voraussetzung impliziert, dass Wahrheit vom Denken überhaupt erkannt werden kann (vgl. A §1; 278). Das sich durch die Opposition Wahrheit – Denken auftuende Problem einer potentiellen Duplizität des Prinzips vermeidet Tillich durch die Definition des Denkens als etwas bereits aus der Wahrheit Herausgetretenes, das durch den Vollzug seiner selbst im Begriff steht, wieder zur Wahrheit zurückzukehren. Dem Denken bietet sich somit die Möglichkeit, sich entweder außerhalb der Wahrheit stehend als selbständig zu betrachten oder sich als in der Wahrheit stehend in sein originäres Verhältnis zur Wahrheit zu begeben.1 Dieses ambivalente Verhältnis – von Tillich auch „Urverhältnis“ genannt – wird mit dem Prädikat „absolute Identität“, die als „absolute Einheit des absoluten Widerspruchs“ definiert wird, versehen (A §3; 281). Von der Wahrheit aus betrachtet gestaltet sich ihr Verhältnis zum Denken ebenfalls als ein zweifaches: Die Wahrheit als Wahrheit ist zwar, wie es das Tillich’sche Prinzipverständnis fordert, eine einzige, allerdings ist Wahrheit nur als erkannte Wahrheit tatsächlich Wahrheit. Unter Absehung der Wahrheitserkenntnis lässt sich Wahrheit nicht unabhängig von der subjektiven Zugangsweise fassen, da Wahrheit nicht „irgendwo als eine objektive Realität, als ein Seiendes oder das Sein selbst“2 (A §2; 279) zu greifen ist. Ganz im Gegenteil muss unter der Prämisse, dass das „Prinzip der Wahrheit […] die Wahrheit selbst“ (A §2; 279) ist, ausgesagt werden, dass Wahrheit per se und Wahrheitserkenntnis so in Identität stehen, dass ————— 1 Vgl. A §3; 281: „Insofern das Denken die Wahrheit denkt, steht es der Wahrheit gegenüber, insofern es die Wahrheit denkt, ist es eins mit der Wahrheit.“ 2 Dass hier das für Tillichs späte dreibändige ‚Systematische Theologie‘ so bedeutende, für den Gottesbegriff verwendete Schlagwort ‚Sein selbst‘ in negativer Konnotation, ja im Gegensatz zum eigentlichen Systemprinzip der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ erscheint, muss an dieser Stelle zumindest festgehalten werden. Inwiefern und inwieweit es sich dabei tatsächlich um einen Bruch im Denken Tillichs über das Gesamtwerk betrachtet handelt, wird detailliert in Kapitel 3.2.3 diskutiert. Interessant ist, dass für Tillich bereits 1913 nach A §2; 279f Erkenntnistheorie und Seinstheorie immer das Gleiche ist. Dies gilt es für die Spättheologie Tillichs ebenfalls im Blick zu behalten.

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Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips

sie aus der Perspektive der absoluten Wahrheit in eins fallen.3 Was somit für das Denken in zwei zu unterscheidende, beinahe temporär auseinanderfallende Aspekte zu zerlegen ist, bleibt für die Wahrheit ein und dasselbe: Wahrheit ist nicht ohne Wahrheitserkenntnis und Wahrheitserkenntnis ist die einzige Subsistenzform der Wahrheit – wobei diese beiden Formulierungen bereits wieder dem gedanklichen Vollzug entsprechend gebildet sind. Das Denken kann ob seiner raumzeitlichen Verhaftetheit nicht umhin, den absoluten Wahrheitsgedanken in zwei aufeinanderfolgende Momente aufzugliedern. Andernfalls käme es zu der von Tillich bereits abgelehnten Objektivierung der Wahrheit, was wiederum die Wahrheit zu etwas Seiendem und zwar zu etwas abstrakt Seiendem machen würde. Diese Konsequenz ist jedoch nicht vereinbar mit dem immer schon konkret operierenden Denkvermögen, das ob der Subjektivität seines Vollzugs einen abstrakten Wahrheitsbegriff entweder als abzulehnende Projektion des eigenen Denkvollzugs oder als der eigenen Position im wahrsten Sinne des Wortes ‚abstrahierte‘ und somit nicht mehr zugängliche Setzung begreifen muss. Mit anderen Worten: Was für die Position der absoluten Wahrheit notwendig in ungeschiedener Einheit vorstellig werden muss, kann vom Denken aus zwangsläufig nicht anders bewusst gemacht werden als in einer Zweistufigkeit. Fehlerhaft wäre es aber nun, die vom Denken aus konstatierte Zweiheit direkt in das Prinzip selbst einzuzeichnen. Das Denken selbst vollzieht sich in der Form von Setzungen, denen es das Prädikat der Wahrheit zuschreiben möchte. Gerade aber durch das Vornehmen bestimmter Setzungen, also durch die Bestimmung der vorfindlichen Welt, erfasst das Denken zwar Teilaspekte der Wahrheit, aber nicht die Wahrheit, wie sie in ihrer absoluten Form vorstellig zu werden hat, da ja Setzung an sich durch die mit ihr verbundene Dualität von Subjekt und Objekt im Setzungsakt bereits das Moment der Unterschiedenheit in sich trägt und somit mit der von Tillich für die Wahrheit geforderten absoluten Identität nicht vereinbar ist. Den äußersten Distanzpunkt zwischen Wahrheit und Denken stellt die in der Bestimmung einzelner Objekte bereits latent implizite, in der Selbstkonstitution des Denkens jedoch offensichtliche Gegenposition des Denkens gegenüber der Wahrheit dar. Das Denken setzt sich in der Negation alles ihm Äußerlichen selbst als konkret Einzelnes und steht eben dadurch im absoluten Widerspruch zur einenden Wahrheit: „Voraussetzung alles Denkens ist der Widerspruch.“ (A §3; 281) Ohne die bewusste Opposition zur Wahrheit ist Denken als Denken demnach nicht möglich. An dieser Stelle merkt Tillich nachdrücklich an, ————— 3

Vgl. A §3; 281: „Der absolute Wahrheitsgedanke ist die Aufhebung aller Gegensätze.“

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dass eben der Widerspruchscharakter des Denkens nicht dem Prinzip an sich, sondern dem Denken selbst zuzuschreiben ist.4 Das Denken ist mithin – als aus der Wahrheit herausgetretenes – nicht in der Lage, aus eigenem Vermögen in die Identitätsstruktur des Wahrheitsprinzips zurückzukehren, da eben im Moment des Anhebens des Denkens die Differenz zur Wahrheit bereits in Bestand ist. Dadurch, dass überhaupt Denken ist, zerfällt bereits das einende Prinzip in abstrakte Absolutheit und konkrete Einzelheit.5 Dem Denken ist es – wie oben festgestellt – zwar durchaus möglich wahr zu sein; sobald es diese Wahrheit allerdings als von sich ausgehende zu deklarieren sich anschickt und somit aus dem absoluten Wahrheitsgedanken heraustritt, wird das Denken unwahr. Wahr ist das Denken somit nur, sofern es sich als im Vollzug der Wahrheit stehend fasst und sich als Denken bis hin zur Selbstaufgabe in die absolute Wahrheit hinein begibt, was ihm aufgrund der mit sich selbst gegebenen Konkretheit schlechthin unmöglich ist. Die Konsequenz ist, dass das Denken in das Dilemma gerät, sich seines Ausgangsund Zielpunktes, der Wahrheit, zwar bewusst werden zu können, sich aufgrund der schlichten Faktizität des eigenen Vorhandenseins jedoch außer Stande sieht, zu dem ihm eigenen Ursprung bzw. Ziel zurückzukehren. Der absolute Wahrheitsgedanke, dem diese „absolute Identität von Denken und Wahrheit als Prinzip des Denkens“ (These zu A §3; 281) gegenübersteht, muss nun, um Prinzip auch des Denkens bleiben zu können, auch die Gegensätze, die sich aus dem Vollzug des Denkens einstellen, in sich zu integrieren in der Lage sein. Da konsequenterweise das Prinzip nicht ein doppeltes sein kann, muss der absolute Wahrheitsgedanke sowohl die Widersprüchlichkeiten im Denken als auch den fundamentalen, sich durch das Denken selbst ergebenden Widerspruch durch die Integration dieses Widerspruchs in sich selbst aufnehmen. Der Widerspruch – und somit das Denken selbst – muss Teil des Prinzips selbst werden.6 Das Wahrheitsprinzip ist mithin ein Einziges – jedoch in einer derart differenzierten Struktur, dass es genau das zu leisten vermag, was dem Denken schlechterdings unmöglich ist: Das, was in Opposition zur Wahrheit steht, das Denken, kann in den ————— 4

Vgl. A §3; 281: „Von fundamentaler Wichtigkeit ist die Einsicht, daß das Prinzip des Denkens vom Denken, nicht von der Wahrheit gesetzt ist.“ 5 Vgl. A §2; 280: „Der Anfang des Denkens aber ist die Voraussetzung auch des Gegensatzes von abstrakt und konkret.“ 6 Vgl. A §3; 281: „Der absolute Wahrheitsgedanke ist die Aufhebung aller Gegensätze. Zugleich soll er Prinzip aller im Denken enthaltenen Gegensätze sein. Der Grund dazu kann aber nicht in ihm liegen, da es sein Wesen ist, den Gegensatz auszuschließen. Der Grund muß also außer ihm liegen; andrerseits ist nicht möglich, daß außerhalb des absoluten Wahrheitsgedankens ein Prinzip liegt. Der absolute Wahrheitsgedanke enthält also in sich ein Prinzip des Widerspruchs gegen sich; er hat einen absoluten Gegensatz, mit dem er zugleich in absoluter Identität steht. Dieser Gegensatz ist das Denken.“

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Wahrheitsgedanken trotz und in seinem Widerspruch zur absoluten Wahrheit aufgenommen werden, indem das Prinzip sein einendes Moment so weit ausspannt, dass selbst der unüberbrückbare Bruch, der sich durch die Selbstbehauptung des Denkens gegenüber der Wahrheit ergibt, also mithin sogar das, was jenseits der Wahrheit steht, das Unwahre, als unter dem Prinzip stehend vorstellig zu werden hat. Diese stark einende Komponente des Wahrheitsprinzips, die selbst das, was jenseits und wider das Prinzip steht, unter sich zu fassen vermag, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass unbeschadet der absoluten Identität zwischen Wahrheit und Denken ein absoluter Bruch statthat: „Von der Wahrheit zum Denken der Wahrheit gibt es keinen Weg; hier ist ein Abbrechen und ein Neuanfang.“ (A §3; 281) Genau dieses durch das Einende im Wahrheitsprinzip gegebene In-der-Wahrheit-Stehen des Denkens und andererseits das durch die unüberwindliche Distanz des Denkens zur Wahrheit bedingte Völlig-außerhalb-der-Wahrheit-Stehen des Denkens bewirkt den Charakter des Denkens als wahr und unwahr zugleich.7 Das Denken wird somit erst „in seiner Selbstaufhebung“ (A §3; 282) im absoluten Sinne wahr – allerdings ist es dann nicht mehr als Denken zu bezeichnen.8 Das Verhältnis von Wahrheit und Denken bestimmt nun auch das Systemverständnis Tillichs in besonderer Weise. Wie sich Denken und Wahrheit als relativer und absoluter Pol bzw. aus dem Prinzip des Denkens heraus als konkreter und abstrakter Pol verhalten, so ist in gleicher Hinsicht die Verhältnisbestimmung von System und Prinzip angesetzt. Das Prinzip bleibt notwendig abstrakt, wenn es sich nicht in einem konkreten, d.h. nicht-absoluten, aber um diesen Mangel an Absolutheit wissenden und dafür dem Denken zugänglichen System expliziert. Zielpunkt dieses Auseinanderfallens von Prinzip und System unter den Bedingungen der Reflexion ist letztlich die Errettung des Prinzips davor, der Abstraktheit und somit der für das Denken daraus zwangsläufig folgenden Bedeutungslosigkeit anheim ————— 7 Vgl. A §3; 282: „Das Denken ist also zugleich wahr und unwahr“. Paul Tillich verwehrt sich hier explizit und völlig zu Recht gegen eine Verwechslung von Unwahrheit und Irrtum: „diese Unwahrheit des Denkens darf nicht mit dem Irrtum verwechselt werden. Etwas kann wahr im Verhältnis zum Irrtum und zugleich unwahr im Verhältnis zur absoluten Wahrheit sein.“ (Ebd.) 8 Das Denken hat mit sich selbst die Grenze seiner selbst, über die es einerseits nicht hinauskann und die es andererseits als ständig sich selbst vorausgesetzt annehmen muss. Diese doppelte Grenze des Denkens, die sich aus seinem Gegensatz zur Wahrheit ergibt, schließt das Denken sozusagen in sich selbst ein, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, aus eigener Kraft die ‚Begrenzung‘ seiner selbst zu durchbrechen. Möglich wird dies erst in der Selbstüberwindung des Denkens durch die Einheit mit der Wahrheit, wobei es dann, wie Doris Lax, Rechtfertigung, 136, bemerkt, „nicht mehr Denken zu nennen sein“ wird. Wie das Sich-selbst-Vorausgesetztsein des Denkens resp. die Selbstüberwindung des Denkens hin zur Wahrheit sich in epistemologischer Hinsicht im Detail expliziert, wird in den Kapiteln 1.1.3 und 1.2.1 näher ausgeführt.

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zu fallen – kann doch ein rein abstraktes Prinzip dem konkreten Denken nichts Verwertbares mitgeben. Die Differenzierung von Prinzip und System ist wiederum nur eine aus der Notwendigkeit der Reflexion entsprungene und hat aus prinzipieller Sicht nur als reflexives Moment statt, da im Prinzip ja der Gegensatz von abstrakt und konkret keinerlei Bestand hat, sondern beides in Identität steht. Allerdings ist Tillich durch seine Systemdefinition in der Lage, das Prinzip seiner drohenden Abstraktheit zu entreißen, indem eben durch die Einführung der Scheidung zwischen Prinzip und System ein Wechsel zwischen beiden konstituiert wird, der das eigentlich abstrakt-tote Prinzip durch das eigentlich konkret-relative System gewissermaßen ‚belebt‘ und beide aus ihrer intransigenten Position zu befreien vermag, so dass das Zusammenspiel von Prinzip und System von Tillich mit dem Prädikat der ‚Lebendigkeit‘ versehen werden kann:9 „Das Prinzip als lebendiges ist System.“ (These zu A §4; 282) Um nun allerdings tatsächlich lebendig sein zu können, bedarf das Prinzip einer konkreten Form, die dem Denken erschlossen ist. Dies hinwiederum setzt voraus, dass das Denken, eben in seinem Charakter als wahr und unwahr zugleich, Wahrheit nicht im absoluten Sinne aus dem eigenen Vollzug zu gewinnen sucht, sondern entsprechend seiner Möglichkeit mit einer bestimmten, d.h. konkreten Form der Wahrheit operiert.10 Wahrheit im Sinne des reflexiven Vollzugs lässt sich mithin nicht anders explizieren als in bestimmter Form, so dass das Denken „die Wahrheit als eine bestimmte“ (A §5; 283) setzt. Es handelt sich folglich nicht um die absolute Form der Wahrheit, sondern um einen Wahrheitsbegriff, der sich aus dem gleichzeitigen Wahr- und Unwahrsein des Denkens ableitet.11 Gerade in Ansehung der ————— 9

Die Distinktion zwischen Prinzip und System trotz ihres Identitätsverhältnisses erklärt Tillich als Perspektivenphänomen, aus dem erhelle, „daß Prinzip und System nur für die darstellende Reflexion zweierlei sind, in Wahrheit aber das gleiche, einmal abstrakt, das andre Mal konkret aufgefaßt, faktisch dem Gegensatz von abstrakt und konkret enthoben.“ (A §4; 282) Die Faktizität des Enthobenseins über einen Gegensatz gewinnt Tillich – wenn auch nicht an dieser Stelle expressis verbis – aus seiner latenten absolutheitstheoretischen Konzeption, die sich erst an späterer Stelle als im Hintergrund der Wahrheitstheorie stehend entpuppt; vgl. hierzu die Kapitel 1.2.1 und 1.2.2. 10 Tillich beruft sich hierbei explizit auf seine vorangehende Verhältnisbestimmung von Wahrheit und Denken: „Das Denken steht im Gegensatz zur Wahrheit und in Identität mit der Wahrheit; es ist unwahr und wahr zugleich: Das Denken setzt also die Wahrheit als eine bestimmte.“ (A §5; 283) 11 Erhellend ist eine Randbemerkung Tillichs, in der er den eben geschilderten Sachverhalt verdeutlicht und die Setzung der bestimmten Wahrheit durch das Denken mit dem zugleich wahren und unwahren Charakter des Denkens begründet: „Was aber zugleich unwahr und wahr ist, das ist Wahrheit mit einer Negation oder Einschränkung, es ist bestimmte Wahrheit.“ (EW IX, 283 Anm. 18) Bestimmte Wahrheit zeichnet sich also durch das dem Denken eigentümliche negative Moment aus, dass nämlich Wahrheit unter reflexivem Vollzug niemals absolut, sondern immer nur in Form der bestimmten Setzung, der Negation, auftritt.

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bestimmten Wahrheit erscheint das Denken aber als unwahr, weil seine Setzung als relativ erkannt wird, und „so treibt es weiter zu einer anderen Bestimmtheit u.s.f. bis hin zu dem absolut Bestimmten oder Einzelnen.“ (A §5; 283; Hervorhebung S.D.) Sowohl Einzelheit als auch Mannigfaltigkeit sind die Produkte des die Wahrheit als eine bestimmte setzen wollenden Denkens. Je konkreter das Denken im Setzungsakt vorgeht, umso stärker hat die Vereinzelung statt und umso augenfälliger tritt die Relativität eben dieses Einzelnen als in relativer Weise bestimmten hervor. Das als Einzelnes Bestimmte muss somit vom Denken wiederum in die der Wahrheit näher stehende Form der Mannigfaltigkeit überführt werden, um als Einzelnes überhaupt dem eigenen Anspruch auf Wahrheit genügen zu können. Die konträren Forderungen von Wahrheit und Denken führen somit zu einem Chauchieren zwischen der wahrheitsbezogenen Mannigfaltigkeit und der denkbestimmten Einzelheit, die wiederum in die Mannigfaltigkeit zurückmündet. Dieser Prozess, der vom Allgemeineren zum Speziellen und wieder zurück zum Allgemeinen führt, wird von Tillich in seiner Lebendigkeit als Begriff bezeichnet (vgl. A §5; 284). Erst in dieser prozessualen Form vermag der Begriff als „Setzung einer bestimmten Mannigfaltigkeit und ihre Aufhebung in die Einheit“ (A §5; 284) sowohl den Forderungen von Wahrheit sowie auch von Denken zu genügen: Er stellt nicht einen in Kristallinität erstarrten Fixpunkt dar, sondern er bleibt lebendig, indem er sich in den Prozess hineinstellt und sich selbst nur als ‚Durchgangsstation‘12 fasst, die nach kurzer Konkretion über sich hinaustreibt zu neuer Fixierung, ohne jedoch jemals an den Punkt der endgültigen Festgelegtheit zu gelangen. Abzuwehren ist nun einerseits ein konfuses Verständnis des beschriebenen Prozesses, als ob ein ständiges Schwanken von der – idealiter – absoluten Mannigfaltigkeit bis zum – ebenfalls idealiter – nicht teilbaren Einzelnen statthätte. Im Gegenteil ist die prozessuale Bewegung durch die klare Richtung aus der Wahrheit heraus in die Konkretion des Denkens und wieder zurück in die Absolutheit des Wahrheitsgedankens zu fassen.13 ————— 12

Von „Durchgangsstationen“ in Bezug auf Begriffe spricht auch Hummel, System, 121. Tillich selbst nennt den Begriff „lebendige[n] Durchgangspunkt“ (A §5; 284). 13 Eine andere Bewegung kann hier nicht vorstellig werden, da etwa ein aus der umgekehrten Reihenfolge entsprungener Ablauf von der Unwahrheit, die mit der völligen Konkretion bzw. Relativität zusammenfällt, hin zur Wahrheit und wieder zurück zur Konkretion des Denkens einerseits der im wahrsten Sinne des Wortes Undenkbarkeit der Wahrheit durch das Denken und andererseits der Intention des Denkens selbst zuwider laufen würde – beansprucht doch gerade das Denken das Prädikat der Wahrheit für sich und zielt eben darauf, Wahrheit zu erreichen, so dass gewissermaßen die ‚Wahrmachung‘ von etwas Unwahren, die ja als Ziel des umgekehrten Ablaufs zu veranschlagen wäre, dem Prinzip selbst und auch dem Prinzip des Denkens kategorisch widerspricht.

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Gleichfalls abzulehnen ist eine Reduzierung des Begriffs auf einen realiter nie vorhandenen Zustand, der faktisch von der Prozessbewegung verschlungen wird. Diese Annahme würde dem Anspruch des Denkens auf Konkretheit nicht gerecht und den Begriff in re als flüchtiges Moment auflösen. Zwar stellt der Begriff tatsächlich sozusagen nur eine ‚Momentaufnahme‘ des Prozesses dar und bewirkt im Moment seines Vorhandenseins gewissermaßen ein Anhalten des prozessualen Geschehens, bringt jedoch in seinem Vorhandensein einen wahren Blick auf den Prozess zur Geltung, der nur in der perennierenden Fixation zur Unwahrheit pervertiert. In der wahren Verfasstheit ist der Begriff ja als lebendiger vorstellig, der über sich hinaus zum nächsten Begriff treibt, und verfällt somit nie der Gefahr der Festlegung.14 Entscheidendes Merkmal des Begriffs ist somit seine der Denksphäre verhaftete Konkretheit, die allerdings – wie das Denken selbst – nicht ist und nicht sein könnte ohne die sie allererst ermöglichende Wahrheit. Gegenstand der begrifflichen Setzung ist somit notwendigerweise ausschließlich das dem Denken zugängliche Spektrum der intelligiblen Welt. Was dem Denken und somit der begrifflichen Fassung nicht zugänglich ist und sich mithin außerhalb der für das Denken erfassbaren Sphäre befindet, kann niemals Objekt des Denkens werden. Tillich verwehrt sich jedoch dezidiert dagegen, dass, wie er sagt, durch den Gebrauch „unzureichende[r] Denkformen als Maßstab des Denkens überhaupt“ (A §6; 285) potentiell dem Denken zugängliche Bereiche als unbegreiflich abqualifiziert werden.15 Als einzige Denkunmöglichkeit stößt der Begriff auf sich selbst: „Das Unbegreifliche ist der Begriff selbst: Um sich selbst zu begreifen, braucht der Begriff sich selbst; er setzt im Begreifen voraus, was er begreifen will; er dreht sich um sich selbst und kann sich nicht fassen, das ist seine Unbe————— Die hier von Tillich bereits konstruierte Bewegung aus der Wahrheit heraus, durch die Konkretion hindurch und wieder hin zur Wahrheit findet natürlich materialdogmatisch ihren Niederschlag in der Christologie; vgl. hierzu Kap. 1.3.2.2. 14 Ein Verständnis, das die Bedeutung der Konkretheit des Begriffs ernst nimmt, kann den Begriff nicht anders fassen als eine selbst im Prozess mit Bestand bleibende Komponente des absoluten Vollzugs. Andernfalls wäre das Sein des Begriffs als Begriff fraglich und der absolute Prozess, der sich bis in die äußerste Konkretion hinein erstreckt, nur dem Schein nach ein Prozess. 15 Besonders denkt Tillich hier natürlich an das „formal-logische Denken“, das „an den religiösen Vorstellungen scheitert“ (A §5; 285). Die gewählte Denkform entscheidet somit nicht automatisch über das auf ihrer Basis getroffene Urteil über den Wahrheitsgehalt des Denkgegenstandes – einerseits da das Denken an sich zu rein wahren Urteilen nicht fähig ist, andererseits weil es der einem Objekt des Denkens angemessenen Denkform bedarf, um dem entsprechenden Gegenstand der Denkoperation gerecht werden zu können. Nur weil mit einer Form des Denkens scheinbar kein ‚gedanklicher‘ Zugang zum Denkobjekt gefunden werden kann, schließt dies die Möglichkeit des prinzipiellen denkerischen Nachvollzugs dieses Gegenstandes – mit einer anderen Denkform – nicht aus.

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greiflichkeit.“ (A §6; 286) Mit anderen Worten: Der Begriffsbildung ist der Begriff stets etwas Vorgegebenes. Ohne sich selbst ist der Begriff nicht in der Lage zu begreifen. Das Undenkbare tritt also nicht gewissermaßen in einem jenseits der Denksphäre liegenden Bereich auf, sondern ist durch das Denken selbst gegeben. Das Auseinanderfallen von Wahrheit und Denken ist allererst notwendig, damit Denken überhaupt ist und Begreifen möglich wird. Jedoch ist gerade die Selbstbehauptung und die damit einhergehende Gegenübersetzung des Denkens zur Wahrheit dem Denken, das ja gerade erst von diesem Widerspruch gegenüber der Wahrheit anzuheben in der Lage ist, gänzlich unbegreiflich. Damit Begreifen ermöglicht werden kann, bedarf es des unbegreiflichen und immer schon dem Denken vorangehenden Faktums der Selbstkonstitution des Denkens im Gegensatz zur Wahrheit. Gerade das Denken selbst wird dem Denken somit unerklärlich und die Reflexion muss bei dem Urteil stehen bleiben, dass Reflexivität allererst unter ständigem Vorausgesetztsein eines reflexiven Vermögens überhaupt möglich ist. Kurz gesagt: Die Bedingung der Möglichkeit des eigenen Daseins ist dem Denken gänzlich unbegreiflich, da sie immer schon als vorausgesetzte vorstellig wird.16 Wird auf dieser Grundlage in systemkonzeptioneller Hinsicht das System der Wissenschaften als „der Inbegriff aller möglichen Stellungen des Denkens zur Wahrheit“ (A §7; 286) definiert, so lassen sich zwei Grundformen des Verhältnisses zwischen Denken und Wahrheit unterscheiden: „Entweder das Denken setzt sich als bestimmt von der Wahrheit, oder das Denken setzt sich als die Wahrheit bestimmend“ (A §7; 286; Hervorhebungen S.D.). Das Denken tendiert also entweder zu der einen Seite seiner Grenze, indem es sich als beinahe noch in Einheit stehend mit der Wahrheit betrachtet und sich demgemäß als von der Wahrheit geleitet fasst, oder es tendiert zu der anderen Seite seiner Grenze, d.h. es ist im Begriff, zur Wahrheit zurückzukehren und diese somit von der eigenen Position aus zu erreichen.17 Im ersten Fall spricht Tillich von „Natur“, im zweiten von „Geist“ (A §7; ————— 16

„An sich selbst hat das Denken seine Grenze, weil es sich selbst allezeit zur Voraussetzung hat.“ (A §6; 286) Das Denken kommt nicht hinter sich selbst zurück und verharrt und operiert zwangsläufig immer von der Warte des eigenen Daseins aus. Denkvollzug ist nur möglich unter der Prämisse, dass Denken ist. Auch an dieser Stelle zeigt sich schon klar das von Christian Danz, Freiheitsbewußtsein, passim, festgestellte und explizierte transzendentaltheoretische Vorgehen Tillichs, das hier in der frühen Systemkonzeption noch die Selbstkonstitution des Denkens selbst zum Thema und Gegenstand hat. 17 Vgl. Hummel, System, 121f: „Im ersten Fall denkt das Denken den Erscheinungen der Wahrheit nach und richtet sich somit auf Einzelnes, Bestimmtes; im zweiten Fall sucht das Denken die Wahrheit zu fassen und zielt auf ein Ganzes, auf Einheit.“ Hingewiesen sei darauf, dass die Paragraphenzählung sich bei Hummel an der ursprünglichen Zählung Tillichs orientiert, die in EW IX in den Anmerkungen wiedergegeben wird.

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286).18 Die beiden möglichen systematisch-wissenschaftlichen Verhältnisse des Denkens zur Wahrheit sind somit unterschieden einerseits in ihrer Nähe zur Wahrheit, andererseits in ihrem Bewusstheitsgrad über den Gegensatz zwischen Wahrheit und Denken, den das Denken durch sich selbst hervorruft (vgl. A §7; 286f). Der Mensch nimmt in diesem Zusammenhang als gewissermaßen der reinen Instinktivität der tierischen Naturverhaftetheit kraft seines Reflexionsvermögens enthobenes Wesen den „Übergangspunkt von der Natur zum Geist“ (A §8; 287) ein und befindet sich damit in einem „Gleichgewicht beider, wo weder das Denken noch die Wahrheit das Bestimmende ist.“ (A §8; 288) Dieser Zustand des Menschen zeichnet sich in Sonderheit dadurch aus, sich zu den beiden Seiten – Wahrheit und Denken bzw. Natur und Geist – verhalten zu können, und zwar frei verhalten zu können. Sowohl naturhaftes als auch geisthaftes Verhalten, sowohl ein Heraustreten aus der konstituierenden Wahrheit als auch eine Rückkehr in dieselbe, dann aber auch teleologische Wahrheit ist dem Menschen aufgrund seiner Mittelstellung zwischen Natur und Geist möglich. Konstituiert wird die Möglichkeit des rein freien Verhaltens, indem von dem explizierten Wechselverhältnis von Wahrheit und Denken ausgegangen wird: Das Denken setzt – wie gesehen – in seinem Vollzug die Wahrheit immer als eine bestimmte. Gleichzeitig ist diese Setzung allererst durch die absolute Wahrheit, welche im Setzungsakt des Denkens in Konkretion bestimmt wird, ermöglicht, da ohne sie das setzende Denken schlechterdings nicht ist. Dadurch, dass nun das Denken im Setzungsakt einerseits heraustritt aus der Freiheit, um den Bestimmungsvorgang überhaupt durchführen zu können, und andererseits das Denken immer schon seiner konstitutiven Voraussetzung, der Wahrheit, bedarf, um überhaupt handeln zu können, ja, um überhaupt zu sein, wird das Denken als ein einerseits von der Wahrheit freies, selbstkonstitutives und setzendes und anderseits als von der Wahrheit allererst ermöglichtes, bestimmtes vorstellig.19 Im menschlichen Status eines ————— 18

Diese beiden Seiten des Verhältnisses vom Denken zur Wahrheit führen – wie Tillich (vgl. A §7; 287) völlig zu Recht anmerkt – dazu, dass sowohl ein monistisches als auch ein dualistisches Missverständnis dieses Verhältnisses auszuschließen ist. Alles der Gedankenwelt Entsprungene ist dem Charakter des Denkens verhaftet und steht somit in der Einheit des denkerischen Prinzips, was einem Dualismus strikt zuwider läuft. Andererseits kommt das Denken immer nur als ein aus der Wahrheit herausgetretenes und somit den Widerspruch zu ihr in sich tragendes in Betracht. Ein Monismus im Sinne einer abstrakten Absolutsetzung des Denkprinzips ist hiermit gleichfalls abgewehrt, so dass letztlich der Monismus „nur möglich [ist] als unendliche Überwindung des Dualismus, und der Dualismus als lebendiges Prinzip des Monismus.“ (A §7; 287) Beide Ansichten pervertieren in alleiniger Absolutsetzung in Abstraktheit, die ob der Lebendigkeit des Systems als nicht adäquat erscheinen muss. 19 Vgl. A §8; 288: „Das Denken kann die Wahrheit nur bestimmen, wenn es sich erfasst als zugleich bestimmt von der Wahrheit und frei von diesem Bestimmtsein.“

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Bestimmtseins durch die Wahrheit sowie gleichsam eines Bestimmens der Wahrheit stellt sich nicht die Frage nach der Freiheit oder Abhängigkeit des Menschen, da diese Frage bereits auf der Basis reflexiven Vollzugs gestellt wird und somit den Freiheitscharakter, der mit dem Denken als Denken – eben als die Möglichkeit des Sich-Verhaltens zu den eigenen Grenzen – bereits gegeben ist, nur betont, aber nicht in Frage zu stellen vermag.20 Die Kategorie der Notwendigkeit ist für den freien Menschen somit nur als der Natur angehörige Subkategorie explizierbar, da reines Bestimmtsein der Reflexion, die ja von dem Freisein von und für Natur und Geist erst ihren Anfang nimmt, ebenso fern liegt wie die Selbstverabsolutierung. Der freie Mensch stellt mithin das Geistwesen dar, das der reinen Naturhaftigkeit, die in ihrer Unmittelbarkeit und Bestimmtheit dem Widerspruchsprinzip des Denkens zuwider läuft und daher als dem Geist nicht angemessene Form erscheint, enthoben bzw. ihr in reflexivem Vollzug entwachsen ist. An dieser Stelle gibt Tillich – trotz der sonst propagierten ‚Gleichrangigkeit‘ von Natur und Geist – unverrückbar dem Denken im Sinne des Geistes den Vorzug, da dieses allererst die Wahl des Verhaltens zwischen Natur und Geist und somit die Freiheit an sich vollziehen kann, wie er etwa im Schlusssatz von A §8 andeutet: „Für naturgebundenes Denken ist die Freiheit unbegreiflich, für geisterfassendes Denken die Voraussetzung alles Begreifens“ (288). Tillich setzt somit eindeutig ein Primat des Geistes vor der Natur voraus, ohne dass dies einen wirklich begründeten Bestand in seiner sonstigen systematischen Konzeption zu finden vermag.21 Wären nämlich Natur und Geist, wie Tillich glauben macht, nur die beiden Seiten ein und desselben Verhaltens, nämlich der Verhältnisbestimmung des Denkens zur Wahrheit, so müsste der Natur als der noch näher an der Wahrheit befindlichen Position das gleiche Recht innerhalb der systematischen Konzeption zukommen wie dem Denken im Sinne des Geistes, das zwar auch wieder im Begriff steht, zur Wahrheit zurückzukehren, allerdings von einer wahrheitsferneren, da individualisierteren und selbstbestimmten Position aus. Das scheinbare Gleichheitsverhältnis von Natur und Geist endet somit in der Konzeption Tillichs im Freiheitsbegriff, da nur das Den————— 20

Es ist somit überhaupt nicht fraglich, „ob der Mensch Freiheit hat oder nicht, da der Mensch Freiheit ist und alles Fragen-Stellen und -Entscheiden nur möglich ist, weil Freiheit ist“ (A §8; 288). 21 Dieses Problem sieht auch Uwe Carsten Scharf, The Paradoxical Breakthrough of Revelation. Interpreting the Divine-Human Interplay in Paul Tillich’s Work 1913–1964 (TBT 83), Berlin/New York 1999, 30: „Sometimes he [sc. Tillich] only seems to have a yes and sometimes only a no; thus he can see the determinedness by spirit paradoxically as freedom, while the determinedness by nature is simply determinism for him. [...] Here he only has a yes for spirit and a no for nature instead of having a yes and no for both.“

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ken unter der Bestimmung des Geistes in der Lage ist, die Freiheit, die er selbst ist, als solche auch zu erkennen. Geist und Freiheit werden letztlich zu synonymen Begriffen, was auch die Verwendung der Termini von Tillich zeigt, wenn er in der Philosophie des Geistes, die er als „System der Freiheit“ (A §9; 288) bezeichnet, nicht mehr das Verhältnis von Geist und Natur, sondern von Freiheit und Natur in Anschlag bringt.22 Die mit dem Geist zusammenfallende Freiheit zeichnet sich in ihrer immer subjektiven Verfasstheit durch die damit verbundene Setzung alles außerhalb ihrer selbst Liegenden aus. Demnach kann die Freiheit in der Philosophie des Geistes – die im Tillich’schen Sinne als eine Freiheitsphilosophie zu explizieren ist und damit eindeutig auf Schelling’sches Gedankengut in Form dessen Freiheitsschrift zurückgreift – sich entweder zur Natur, sich selbst oder der auch dem Geist unbegreiflichen Ermöglichungsbedingung von Natur und Geist verhalten. Das erste Verhältnis, das eine Bestimmung der Natur durch die Freiheit beinhaltet, bezeichnet Tillich als Kultur, das Selbstverhältnis der Freiheit, also die Setzung der Freiheit als Freiheit selbst, als Sittlichkeit und das Verhältnis zu dem unbegreiflichen Konstitutionsort von Natur und Geist, das eine Aufhebung von Natur und Geist in gleicher Weise zur absoluten Freiheit impliziert, als Religion.23 Die hier von Tillich vorgenommene Definition der Begriffe ‚Kultur‘, ‚Sittlichkeit‘ und ‚Religion‘ zielt, wie schon die These in A §9 deutlich macht, auf eine phänomenologische Explikation der Grundformen der Freiheit, d.h. Tillich vermeidet an dieser Stelle entsprechend seiner Systemkonzeption eine Ableitung der genannten Begriffe aus empirischen resp. historisch zu verortenden Quellen. Die Begriffe sind zunächst, wie er schreibt, „a priori“ (A §9; 290) zu entwickeln, da eine Zuweisung bestimmter historischer Phänomene unter einen der Begriffe bereits schon eine Theorie des entsprechenden Begriffs voraussetzt – eine Theorie, die eben nur systemimmanent und damit apriorisch gewonnen werden kann. Kultur und Sittlichkeit oder Ethik befassen sich dabei gewissermaßen mit den konkreten Vorfindlichkeiten, wohingegen Religion die Problematik des immer schon Voraus————— 22

Die Synonymität von Geist und Freiheit erscheint auch insofern als plausibel, als Tillich selbst in A §10 an zwei Stellen in späterer Korrektur ‚Freiheit‘ durch ‚Geist‘ ersetzen kann; vgl. hierzu den Anmerkungsapparat EW IX, 291 Anm. 40 und Anm. 42 und 293 Anm. 47 und Anm. 48. Auch Doris Lax, Rechtfertigung, 146f (insbes. auch Anm. 261), stellt schließlich eine Synonymität zwischen Geist und Freiheit fest, wodurch das bisherige Schema ‚Wahrheit – Denken – Wahrheit‘ durch die Dreiheit ‚Freiheit – Natur – Geist‘ aufgegriffen wird (vgl. ebd., 147 Anm. 262). 23 Vgl. A §9; 289: „Die Grundformen der Freiheit ergeben sich aus den verschiedenen Stellungen der Freiheit zur Natur. Insofern die Freiheit sich unmittelbar als naturbestimmend setzt, ist sie Kultur, insofern sie sich selbst als Freiheit bestimmt, ist sie Sittlichkeit, insofern sie sich und die Natur aufhebt zur absoluten Wahrheit, die jenseits des Bestimmenden und Bestimmten liegt, ist sie Religion.“

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gesetztseins von Freiheit thematisiert und somit auch für Kultur und Ethik die entscheidenden Prämissen vorgibt, ohne die ein Verfehlen der Wahrheit in beiden Bereichen zur höchsten Gefahr wird und damit das Gesamtkonzept in Frage stellt. Nachdem nun das Verhältnis von Wahrheit und Denken in seinen Grundlagen erörtert und an den Punkt gelangt ist, dass die dem Denken sich stellende Unbegreiflichkeit des Vorhandenseins seiner selbst in der Religionsphilosophie thematisiert wird, gilt es, eben jene sich im Vollzug des Denkens in der Beschäftigung mit sich selbst auftuende Aporie des Denkens, die sich anhand der Selbstbestimmungsproblematik des Denkens zeigt, genauer zu analysieren. Zunächst soll jedoch im Rahmen eines Exkurses das bisherige Konzept Tillichs auf seine Voraussetzung hin, namentlich die Philosophie Schellings, untersucht werden, um einerseits das Bisherige auch geistesgeschichtlich einzuordnen und andererseits durch die dadurch erfolgte nähere Klärung des Wahrheitsprinzips die bestmöglichen Voraussetzungen für die Beschäftigung mit der Religionsphilosophie Paul Tillichs zu schaffen.

1.1.2 Exkurs: Die Wurzeln des Tillich’schen Wahrheitsprinzips in der Philosophie Schellings Die ‚Philosophische[n] Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände‘ von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling erschienen im Jahr 1809 nach dessen drei Jahre zuvor erfolgtem Wechsel von Würzburg nach München. Ziel der Schrift ist es zu erörtern, wie gleichzeitig an der menschlichen Freiheit zum Bösen und am göttlichen Immanenzprinzip pantheistischer Provenienz festgehalten werden könne, ohne einerseits den Ursprung des Bösen in Gott zu verorten oder Freiheit zu einem rein abstrakten Begriff depravieren zu lassen. Für das Verständnis des Aufbaus von Tillichs frühem Prinzip ist diese Schrift insofern von eklatanter Bedeutung,24 als Schelling in der Freiheits————— 24

Eine vollständige Analyse der Schelling’schen Spätphilosophie ist hier weder projiziert, noch könnte sie auch nur ansatzweise exkursartig abgehandelt werden. Vielmehr soll exemplarisch anhand der Freiheitsschrift der weitreichende Bezug Tillichs auf Schelling in prinzipieller Hinsicht skizziert werden. Zu Schellings Spätphilosophie vgl. insbes. Thomas Buchheim, Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Hamburg 1992; Hans Michael Baumgartner/Harald Korten, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, München 1996 (zur Freiheitsschrift insbes. 113–130); vertieft wird der Bezug Tillichs zur Freiheitsschrift Schellings behandelt bei Christian Danz, Das Absolute als Synthesis. Beobachtungen zu Tillichs Rezeption von Schellings Freiheitsschrift, in: Gunther Wenz (Hg.), Das Böse und sein Grund. Zur Rezeptionsgeschichte von Schellings Freiheitsschrift 1809 (Bayerische Akademie der Wissenschaften.

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schrift in prinzipieller Hinsicht anhand einer monistischen Gotteslehre, die in sich ein dualistisches und gleichzeitig hierarchisches Prinzip vereint, die Freiheit des Menschen, die gleichzusetzen ist mit der – zumindest potentiell angelegten – Freiheit zum Bösen, zu explizieren sucht. Schelling ist es dabei darum zu tun, nicht einen rein ideellen Begriff von Freiheit zu entwickeln, sondern einen bewusst lebendigen, mithin realen, bei dem die Freiheit zum Guten wie zum Bösen impliziert ist.25 Die Verbindung von Idealismus und Realismus ist somit des Weiteren die Aufgabe, die sich aus der bereits erwähnten Zusammenführung von pantheistischer Konzeption und der Wirklichkeit der Freiheit ergibt.26 Aus der Grundanlage der Schrift entwickelt sich schon zu Beginn das Problem, dass die Möglichkeit zum Bösen bereits in der absoluten Struktur verankert sein muss, wenn man von einem einheitlichen Prinzip ausgehen möchte, die Freiheit zum Bösen jedoch nicht direkt in Gott eingezeichnet ————— Philosophisch-Historische Klasse. Abhandlungen – Neue Folge, Heft 137), München 2010, 113– 121, und Dienstbeck, Hierarchische Reziprozität. Das Gottesprinzip der Freiheitsschrift Schellings in Paul Tillichs Systematischer Theologie von 1913, in: Gunther Wenz, (Hg.), Das Böse und sein Grund. Zur Rezeptionsgeschichte von Schellings Freiheitsschrift 1809 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Abhandlungen – Neue Folge, Heft 137), München 2010, 123–147. Allgemein zu Schelling und Tillich vgl. Georg Neugebauer, frühe Christologie, passim. Einen Überblick über den Forschungsstand zur Schellingrezeption Tillichs Ende der achtziger Jahre und eine Untersuchung über die Spuren Schellings v.a. in Tillichs später Theologie bietet Peter Steinacker, Die Bedeutung der Philosophie Schellings für die Theologie Paul Tillichs, in: Hermann Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt a.M. 1989, 37–61. Steinackers Schlussthese, dass Tillich in seiner Auseinandersetzung mit Schelling letztlich bei Fichte lande (vgl. ebd., 55), sei allerdings als fraglich dahingestellt. Eine Anfrage an die Fokussierung auf die Schellingrezeption Tillichs stellt Erdmann Sturm, Rez. von: Georg Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin 2007, in: ThRv 105, 2009, 227–230, hier: 230. Kritisch gegenüber Tillichs Verständnis von Schellings Philosophie, insbesondere seiner frühen Philosophie, äußert sich Reinhold Mokrosch, Warum Tillich sich nicht auf Schelling berufen kann, aber dennoch ohne Schelling nicht denkbar ist, in: Christian Danz/Werner Schüßler/ Erdmann Sturm (Hg.), Religion und Politik (Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung. International Yearbook for Tillich Research. Annales internationales de recherches sur Tillich, Bd. 4/2008), Wien/Berlin 2009, 139–147. 25 Vgl. Schelling, SW VII, 352: „Der Idealismus gibt nämlich einerseits nur den allgemeinsten, andererseits den bloß formellen Begriff der Freiheit. Der reale lebendige Begriff aber ist, daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen ist.“ Zitiert wird die Schellingschrift nach der Ausgabe der ‚Sämtlichen[n] Werke‘ (hg. von K.F.A. Schelling, I. Abteilung, Bd. 1–10, II. Abteilung, Bd. 11–14, Stuttgart 1856–1861; zitiert wird nur der jeweilige Band in römischer Ziffer samt der entsprechenden Seitenzahl), wobei der Textbestand der von Thomas Buchheim herausgegebenen Ausgabe entnommen ist, die die Paginierung der Werksausgabe ebenfalls angibt (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, hg. von Thomas Buchheim, Hamburg 1997). 26 Vgl. dazu auch Odo Marquard, Grund und Existenz in Gott (350–364), in: F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, hrg. von Otfried Höffe und Annemarie Pieper (Klassiker Auslegen, Bd. 3), Berlin 1995, 55–59.

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werden kann und darf und somit von Gott unabhängig zu verorten ist.27 Damit diese Prämisse nicht zwangsläufig in einen Dualismus führt, fängt Schelling die Problemstellung in einem Monismus ab, der in sich ein dualistisches Prinzip zu tragen vermag.28 Schelling unterscheidet deswegen auf der einen Seite einen reinen Existenzgrund Gottes und auf der anderen Seite das Wesen Gottes als solches, das existiert: „Da nichts vor oder außer Gott ist, so muß er den Grund seiner Existenz in sich selbst haben. […] Dieser Grund seiner Existenz, den Gott in sich hat, ist nicht Gott absolut betrachtet, d.h. sofern er existiert; denn er ist ja nur der Grund seiner Existenz, Er ist die Natur – in Gott; ein von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen.“29 Es wird mithin der Vollzug Gottes – sein existierendes Wesen – von dem Bedingungsgrund, der einen Vollzug Gottes allererst ermöglicht, geschieden, wobei die Scheidung nicht derart vorstellig zu werden hat, als ob Gott einen Anfang außerhalb seiner selbst hätte – dies würde ja gewissermaßen nur zu einer ‚Verschiebung‘ des Prinzips auf eine höhere Ebene, als sie der Gottesbegriff zu konstituieren vermag, führen –, sondern so, dass der Grund erst durch das Vollzugsgeschehen seine Berechtigung erhält, mithin das Gleichrangige, nicht Primäre darstellt und erst im Verhältnis zum Vollzug das wird, was er ist, und vice versa.30 Grund und Existenz Gottes sind demnach in einem irreduziblen Konstitutionsverhältnis aufeinander angewiesen, indem sie sich allererst gegenseitig ermöglichen, bedingen und konstituieren. Der reziproke Bezug beider Prinzipien in Gott hindert Schelling – trotz der Irreduzibilität des Verhältnisses – nicht daran, ein hierarchisches Verhältnis zwischen den Prinzipien zu konstruieren. Im Vollzug Gottes selbst ist der Grund als Punkt des Anhebens der Vollzugsbewegung als Wille zum Vollzug zu verorten, jedoch als noch nicht verstandesgemäß orientierter ————— 27

Vgl. Schelling, SW VII, 354. Vgl. Schelling, SW VII, 359 Anm. 11: „Es ist dies der einzig rechte Dualismus, nämlich der, welcher zugleich eine Einheit zuläßt.“ 29 Schelling, SW VII, 357f. Odo Marquard, Grund und Existenz, insbes. 55–57, bringt für Schellings Lösungsversuch des Theodizeeproblems mit Hilfe einer Natur in Gott sicherlich zu Recht Schellings frühes Bemühen um die Naturphilosophie in Anschlag. Erst in der Kombination von Idealismus und Realismus wird das Reale als solches – und dies ist immer auch Tillichs Anliegen – ernst genommen: „Also muß der Idealismus durch einen – die Natur ernst nehmenden – Realismus ergänzt werden, wie es zuerst die Naturphilosophie – die früheste eigenständige Philosophie Schellings – getan hat: das – diese Ernstnahme der Natur – ist Schellings Lösungsansatz auch der Theodizeefrage“ (ebd., 56). 30 Vgl. Schelling, SW VII, 358: „Es ist kein Erstes und kein Letztes, weil alles sich gegenseitig voraussetzt, keins das andere und doch nicht ohne das andere ist. Gott hat in sich einen inneren Grund seiner Existenz, der insofern ihm als Existierenden vorangeht: aber ebenso ist Gott wieder das Prius des Grundes, indem der Grund, auch als solcher, nicht sein könnte, wenn Gott nicht actu existierte.“ 28

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Wille – dies würde ja bereits den Vollzug selbst voraussetzen –, sondern als „Sehnsucht und Begierde“31. Der Grund der Existenz Gottes wird somit zum unverständigen, dunklen Ausgangspunkt der verständigen, lichten Vollzugsbewegung, was dazu führt, dass „[a]us diesem Verstandlosen […] im eigentlichen Sinne der Verstand geboren“, ja „dass so das Verstandlose zur Wurzel des Verstandes“32 wird. Die Schärfe der Aussage wird allerdings durch das vorher konstatierte prius des Vollzugs gegenüber dem Grund abgemildert, weshalb Schelling nicht als Verfechter einer Chaostheorie zu gelten hat, sondern gerade umgekehrt das – nicht temporär existent zu fassende – Chaos erst durch das Verständige ermöglicht wird. Andererseits bleibt die Scheidung und Abfolge insofern in Geltung, als alles im göttlichen Grund Gründende, worunter alles zu veranschlagen ist, da außerhalb Gottes nichts ist, sich letztlich nicht einer rein rationalen Entschlüsselung zuführen lässt.33 Indem Gott sich vollzieht, kommt das, was der Wille des Grundes noch in sehnsüchtiger Suche erstrebt, zum Tragen, nämlich die eigene – verständige! – Vorstellung Gottes von sich selbst. Diese Vorstellung als „der in Gott gezeugte Gott selbst“34 ist das Ebenbild Gottes, in dem Gott erstmals verwirklicht ist.35 Das im Vollzug sich konstituierende Ebenbild Gottes, mithin der Verstand, stellt somit das der Gottheit Gottes allererst in Vollständigkeit entsprechende Moment dar, von dem aus Gott absolut betrachtet erst Gott ist.36 Somit hat eine Subordination des Grundes unter den Verstand statt, die allerdings dem irreduziblen Verhältnis keinen Abbruch tut; die wechselseitige Konstitution von Grund und Verstand bleibt trotz der hierarchischen Anordnung in Geltung. Freiheit als Vermögen zum Guten wie zum Bösen nimmt nun ihren Ausgang eben bei dem Grund in Gott, der weder Gott selbst ist noch außerhalb seiner selbst steht.37 Insofern lässt sich Freiheit als ein Phänomen beschrei————— 31

Schelling, SW VII, 359. Schelling, SW VII, 360. 33 Vgl. Schelling, SW VII, 359f: „Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt.“ Auf dieser Basis lässt sich Schelling durchaus als „Theoretiker des Irrationalen“ bezeichnen, wie es Georg Neugebauer, frühe Christologie, 88, tut. 34 Schelling, SW VII, 361. 35 Vgl. Schelling, SW VII, 361. 36 Hervorragend erkannt und ausgeführt ist dieser Prozess bei Georg Neugebauer, frühe Christologie, 89: „Wird Gott in die Perspektive einer absoluten Betrachtung gestellt, so erweist sich darin das Primat des rationalen Prinzips gegenüber dem des irrationalen Grundes. Gott als ‚Er selbst‘ ist Schellings Überzeugung nach causa seiner selbst.“ 37 Vgl. Schelling, SW VII, 359: „Um von Gott geschieden zu sein, müssen sie [sc. die Dinge] in einem von ihm verschiedenen Grunde werden. Da aber doch nichts außer Gott sein kann, so ist dieser Widerspruch nur dadurch aufzulösen, daß die Dinge ihren Grund in dem haben, was in Gott selbst nicht Er selbst ist, d.h. in dem, was Grund seiner Existenz ist.“ 32

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ben, das sich zwar nicht außerhalb Gottes zu stellen vermag und somit im Immanenzprinzip verbleibt, das jedoch als reales Phänomen seinen Ausgangspunkt in dem in Gott außer Gott verorteten Grund nimmt. Das freie Wesen steht somit unter dem doppelten Prinzip des Grundes wie des Verstandes, die in absoluter Sicht in unscheidbarer Konstitutionseinheit stehen.38 In der bereits auf die Lehre von Gott veranschlagten Redeweise vom Grund als dem auf den Verstand gerichteten, jedoch ohne ihn selbst noch diffusen verstandlosen Willen gesprochen bedeutet dies, dass der aus dem Grund stammende Wille als der verstandlos wollende auf sich selbst zurückgeworfen bleibt und somit zum ‚Eigenwillen‘ kat’ exochen wird; gleichzeitig ist der Verstand als das dem Eigenwillen Entgegengesetzte in Anschlag zu bringen, das den ‚Universalwillen‘ als den verstandesgemäßen Willen verkörpert.39 Indem die menschliche Freiheit als Grund ein „relativ auf Gott unabhängiges Prinzip“40, den Eigenwillen, in sich trägt, steht sie außerhalb Gottes, was jedoch schlechterdings unmöglich ist, weshalb sie ob der Verortung des außergöttlichen Grundes in Gott selbst gleichzeitig in Gott steht. Genau dieses Doppelverhältnis bewirkt, dass nicht nur das ‚niedere‘ dunkle Prinzip des Grundes, sondern auch „ein Höheres“ im Menschen, „der Geist“41, aufgeht. Die Seele definiert Schelling als die „lebendige Identität beider Prinzipien“, wodurch sie Geist ist und „Geist ist in Gott“42. Im Menschen bleibt das Identitätsverhältnis von Verstand und Grund bzw. von Universal- und Eigenwille im Gegensatz zu Gott immer ein „zertrennliches“43, was die Freiheit zum Guten wie zum Bösen als Konsequenz zeitigt.

————— 38

Vgl. Schelling, SW VII, 362: „Jedes der auf die angezeigte Art in der Natur entstandenen Wesen hat ein doppeltes Prinzip in sich, das jedoch im Grunde nur Ein und das nämliche ist, von den beiden möglichen Seiten betrachtet.“ (Hervorhebung S.D.) Die Terminologie Schellings in dem durch Hervorhebung gekennzeichneten Schlussteil des Zitats macht bereits die große Nähe Tillichs zu Schelling bis hinein in die Formulierung deutlich. Die Betrachtungsweise ‚von zwei Seiten aus‘ ist bereits bei der Analyse der Begriffe ‚Natur‘ und ‚Geist‘ deutlich geworden und bleibt auch weiterhin entscheidender Bestandteil des Tillich’schen Systems. 39 Vgl. Schelling, SW VII, 363: „Das Prinzip, sofern es aus dem Grunde stammt und dunkel ist, ist der Eigenwille der Kreatur, der aber, sofern er noch nicht zur vollkommenen Einheit mit dem Licht (als Prinzip des Verstandes) erhoben ist (es nicht faßt), bloße Sucht oder Begierde, d.h. blinder Wille ist. Diesem Eigenwillen der Kreatur steht der Verstand als Universalwille entgegen, der jenen gebraucht und als bloßes Werkzeug sich unterordnet.“ Auch hier kommt wieder die schon in der Gotteslehre Schellings konstatierte Subordination des Grundes unter den Verstand zum Tragen. 40 Schelling, SW VII, 363. 41 Schelling, SW VII, 363. 42 Schelling, SW VII, 364. 43 Schelling, SW VII, 364.

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Der menschliche Geist als durch den Grund selbstisch zentrierter und gleichzeitig höherer, aufgrund des Bezugs zum Grund um seine eigentliche, universale Bestimmung wissender oder wenigstens ahnender kann sich nun wiederum zu beiden Seiten seiner selbst verhalten, indem er mehr dem selbstbestimmten Eigenwillen oder dem ihn allererst konstituierenden, aber seine Selbstheit als Selbstheit in Frage stellenden Universalwillen zuneigt. Diese Wahl ist eine grundsätzlich freie, die den Menschen von und für beide Prinzipien, die in Gott geeint sind, frei macht: „Dadurch, daß sie Geist ist, ist also die Selbstheit frei von beiden Prinzipien. Nun ist aber diese oder der Eigenwille nur dadurch Geist, und demnach frei oder über der Natur, daß er wirklich in den Urwillen (das Licht) umgewandelt ist, so daß er zwar (als Eigenwille) im Grunde noch bleibt (weil immer ein Grund sein muß) – so wie im durchsichtigen Körper die zur Identität mit dem Licht erhobene Materie deshalb nicht aufhört Materie (finsteres Prinzip) zu sein – aber bloß als Träger und gleichsam Behälter des höheren Prinzips des Lichts.“44 Eigenwille darf, kann und soll mithin sein – aber nur unter dem Vorzeichen des Universalwillens. Der Schelling’sche Freiheitsbegriff ist also nicht in einfacher Wahlmöglichkeit zwischen Eigen- und Universalwille, sondern als ein wechselseitiges prozessuales Verhältnis zu bestimmen. Durch seine Bestimmtheit und der damit vorhandenen Konkretheit kommt der Eigenwille nicht umhin, sich als Selbstheit zu explizieren, jedoch als eine Selbstheit, die um den Konstitutionsgrund ihrer selbst sowie um ihr rechtes – Tillich würde sagen ‚wahres‘ – Verhältnis zu dem Ermöglichungsgrund45 ihres Vorhandenseins eine ahnende Sehnsucht hat, da der Eigenwille sich nicht als durch sich selbst hervorgebracht weiß. Tatsächlich frei ist der Eigenwille somit ausschließlich, indem er sich in Verhältnis setzt zum Universalwillen, und zwar so, dass er dieses Verhältnis richtig, also als ein hierarchisches Verhältnis, in dem der Eigenwille das subordinierte Prinzip darstellt, entfaltet. Die Frage nach dem unde malum wird somit in der verkehrten Verhältnismäßigkeit von Grund und Vollzug, von Eigen- und Universalwille einer Antwort zugeführt.46 ————— 44

Schelling, SW VII, 364. Unter ‚Ermöglichungsgrund‘ darf nun allerdings nicht fälschlicherweise nur der Grund in Gott angenommen werden, sondern der gesamte göttliche Prozess, der den Grund mit in sich hineinnimmt, ist zu veranschlagen, da andernfalls der Schelling’sche Grund sich selbst zum Grund hätte, was ob des irreduziblen Konstitutionsverhältnisses zwischen göttlichem Grund und göttlichem Vollzug schlechterdings auszuschließen ist, da das Verhältnis ansonsten nicht mehr reziprok wäre und weiterhin nach dem Grund des Grundes zu fragen wäre, wodurch sich die Konstitutionsfrage wiederum auf eine höhere Ebene verschieben würde. 46 Vgl. Schelling, SW VII, 389: „Die allgemeine Möglichkeit des Bösen besteht, wie gezeigt, darin, daß der Mensch seine Selbstheit, anstatt sie zur Basis, zum Organ zu machen, vielmehr zum 45

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Die Ausführungen zu Schellings Freiheitsschrift ließen sich noch weiterführen, allerdings soll dies erst später47 an geeigneter Stelle erfolgen, da es hier zunächst um die augenfälligen Parallelen in der Darstellung Tillichs geht. Zwar wurden in der Analyse von Schellings Freiheitsbegriff bereits ansatzweise Implikationen ausgeführt, die auf die Gotteslehre, die Christologie, die Harmatiologie und auch die Soteriologie betreffende Aspekte abzielen und die in der späteren Analyse des Tillich’schen Systemaufbaus ihre materialdogmatischen Entsprechungen finden werden, allerdings sind diese momentan noch zurückzustellen und es gilt das Augenmerk auf die Parallelen und Unterschiede zwischen Schellings und Tillichs Kernprinzip zu richten. Die größte Übereinstimmung mit Schelling findet sich bei Tillich, wenn man dessen Wahrheitsprinzip mit Schellings Explikation des Gottesbegriffs vergleicht. Auch Tillich geht von einem einzigen Prinzip aus, das in absoluter Betrachtung als absolute Identität vorstellig zu werden hat. Ebenso wie Schelling zeichnet er in das Identitätsprinzip einen Gegensatz ein, das Denken, der im vollkommenen Widerspruch zum Prinzip steht und trotzdem im Prinzip verankert ist, ja ohne den das Prinzip als Prinzip nicht das ist, was es ist. Prinzip wird die Wahrheit allererst durch ihren Bezug auf den denkerischen Vollzug ihrer selbst, so dass auch hier ein irreduzibles Spannungsund Konstitutionsverhältnis zwischen Wahrheit und Denken zu konstatieren ist. Wahrheit und Denken verhalten sich bei Tillich demnach nicht anders als Vollzug Gottes und Grund Gottes bei Schelling. Das Denken ist – gleichsam wie der Grund Gottes – ein zunächst gewissermaßen ‚blindes‘ Phänomen, das sich zwar im Selbstvollzug als um sein telos ahnend weiß, dieses jedoch aus sich selbst nicht hervorzubringen vermag. Setzt Tillich den Wahrheitsgedanken noch deutlicher als Schelling den göttlichen Vollzug sowohl als Ermöglichungsgrund als auch als Zielpunkt des innerhalb seiner Grenzen über sich hinausstrebenden Denkens, so wird, wie oben gezeigt, auch bei Schelling der göttliche Vollzug nicht einfach als zweiter Schritt bestimmt, der vom Grund aus allererst anhebt, sondern der Grund Gottes selbst ist seinerseits wieder nur durch den göttlichen Vollzug ermöglicht, so dass Anspruch auf ein prius keinem der beiden zukommen kann. Bei Schelling wie bei Tillich hat somit innerhalb des einen Prinzips ein dualistisches Verhältnis statt, so dass ein dem Prinzip selbst zuwiderlaufendes Prinzip in das absolute Prinzip integriert wird, wodurch nicht nur alles ————— herrschenden und zum Allwillen zu erheben, dagegen das Geistige in sich zum Mittel zu machen streben kann.“ 47 Vgl. etwa die Kapitel 1.2.1 und 1.3.2.3; der Bezug zu Schelling wird aber auch an anderen Stellen je nach Bedarf hergestellt.

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im absoluten Prinzip zu verorten ist, sondern sogar der absolute Widerspruch letztlich sein Vorhandensein erst durch und im Prinzip selbst als ermöglicht vorfindet, wohingegen andererseits das Prinzip nicht absolut wäre, hätte es nicht seinen Widerspruch selbst in sich. Das Denken stellt in der Konzeption Tillichs mithin den punktuellen Akt im prozessualen Geschehen der Wahrheit dar, der versucht, reflexiv und somit im Festhalten eines Standbildes zu ergründen, was nur im prozessualen Ablauf zu ergründen ist und deshalb dem Reflexionsvermögen qua Reflexionsvermögen schlechterdings nicht zugänglich ist, da es ja gerade das verlangt, was dem reflexiven Denkvollzug unmöglich ist, nämlich sich von der Fixierung zu lösen und die im Bestimmungsakt statthabende Trennung von Subjekt und Objekt in die Dynamik des Prozesses aufzulösen. Solange Denken es selbst bleibt, ist ein reines Identitätsverhältnis nicht vorstellbar, weil Denken sich just durch den Widerspruchscharakter auszeichnet und somit dem subjektiven Standpunkt verpflichtet bleibt. Erst in der Aufhebung des Denkens kann sich vollziehen, was der Wahrheitsprozess in seiner Identitätsform fordert, nämlich nicht Reflexion sondern Intuition.48 Ist die Intuition bereits der Zustand des Übergangs des Denkens in die Wahrheit und schickt sich dazu an, das Denken als unter sich stehend zu begreifen, so zeichnet sich konkretes Denken, wie es realiter auftritt, durch ein fortwährendes Auseinandertreten von Wahrheit und Denken aus, so dass das Denken immer als einerseits an der Wahrheit partizipierend, andererseits ihr opponierend auftritt – in Tillich’scher Formulierung: es ist wahr und unwahr zugleich. Dieses Auseinanderfallen der in der absoluten Wahrheit in Identität geeinten Momente findet bei Schelling in der steten Zertrennlichkeit von höherem und niederem Prinzip im Menschen seine Entsprechung. Der Mensch muss nach Schelling qua Menschsein einen Grund haben, der wiederum außerhalb Gottes liegt, so dass schon mit dem Dasein des Menschen per se die Zertrennlichkeit und die auch immer wieder aufbrechende Trennung beider Prinzipien gegeben ist. Dieser Umstand ist letztlich der Ausgangspunkt für die Möglichkeit des Guten sowie des Bösen in moralisch-ethischer, aber auch – durch den Gottesbezug gegeben ————— 48

Die Bedeutung des Intuitionsgedankens bei Tillich wird bereits anhand eines Blicks auf die nachträgliche Gliederung der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, die sog. ‚Skizze‘ (abgedruckt in EW IX, 426–429), deutlich. Hier überschreibt Tillich den kompletten ersten Teil innerhalb des apologetisch-fundamentaltheologischen Teils mit „I. Der absolute Standpunkt: Intuition“ (EW IX, 426). Der Intuitionsbegriff wird von Tillich als Gegenbegriff zur ‚Reflexion‘ verwendet, die den Kernbegriff des zweiten Teils der Apologie bildet (vgl. EW IX, 426). Wie der Reflexionsbegriff bezüglich des Denkens, so kann auch der Intuitionsbegriff in Bezug auf die Wahrheit synonym verwendet werden, wobei ‚Intuition‘ den einenden, umfassenden Charakter des prozessualen Geschehens noch besser zu versinnbildlichen vermag.

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– in harmatiologischer Hinsicht.49 Auch bei Tillich zeitigt die Wahrheitskonzeption harmatiologische Konsequenzen – dies wird später im materialdogmatischen Teil zu erörtern sein.50 Die weiter oben51 angesprochene Problematik, dass Tillich bei prinzipiellem Gleichrangigkeitsanspruch von Natur und Geist im Endeffekt dem Geist die Priorität einräumt und ihn darüber hinaus letztendlich gleichsetzt mit der Freiheit, lässt sich auf der Ebene seiner Schellingrezeption einer Erklärung zuführen. Sind nach Tillichs prinzipieller Ausrichtung Natur und Geist zwar als generell gleichwertige Größen zu definieren, da beide in bestimmter Nähe und Distanz zur Wahrheit stehen, so muss doch bereits dem Denken im Sinne des Geistes eine höhere Selbstheit zugesprochen werden, da sich das der Natur verbundene Denken noch in stärkerer Identität mit der Wahrheit befindet, allerdings derart, dass es sich seiner selbst noch nicht als völlig bewusst zu klassifizieren ist. Der Geist setzt sich zwar deutlich stärker in Widerspruch zur Wahrheit, kommt so aber dem Anspruch des Denkens, eben Gegenpart der Wahrheit zu sein, vehement nach und ist sich trotz alledem seines eigentlichen Verbundenseins mit der Wahrheit bewusst. Natürliches Denken hat demgemäß zwar als dem Wahrheitsgedanken nicht minder nahe zu gelten als der Geist – jedoch lässt sich der Freiheitsbegriff als der entscheidende, wie er in Schellings und in Tillichs Darstellung konzipiert wird, tatsächlich nur auf den Geist in Anschlag bringen. Erst der Bewusstseinsgrad über die eigene Verfasstheit ermöglicht Freiheit im eigentlichen Sinne. Die Natur erfasst sich durch ihren vergleichsweise geringen Subjektivitätsanteil noch nicht als frei in der Art des Geistes, der um seine Angewiesenheit und seine Zielgerichtetheit auf die Wahrheit weiß und sie – insofern ist das Denken wahr – auch im eigenen Vollzug berücksichtigt. So lässt sich bereits auf der Grundlage der Tillich’schen Argumentation die Präferenz des Geistes gegenüber der Natur rechtfertigen. Auf der Basis einer prinzipientheoretischen Analyse lässt sich allerdings wiederum Schelling als Gewährsmann aufführen: Die dezidierte Subordination des Grundes unter den göttlichen Vollzug, aus der zwangsläufig eine Unterordnung des im Menschen verankerten niederen, dem Grund entsprungenen Prinzips (der Eigenwille) unter das hohe Prinzip (der Universalwille) folgt, zeitigt eine Prävalenz des hohen Prinzips zur Konsequenz, für das das niedere Prinzip ausschließlich zur Trägermasse wird.52 ————— 49

Vgl. etwa Schelling, SW VII, 385f, wo Schelling schöpfungstheologische und harmatiologische Ausführungen verbindet. 50 Vgl. Kap. 1.3.1.2. 51 Vgl. Kap. 1.1.1. 52 Vgl. Schelling, SW VII, 365, wo der Eigenwille „bloß als Träger und gleichsam Behälter“ des Universalwillens veranschlagt wird.

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Derart weit würde Tillich in seiner Systemkonzeption wohl nicht gehen wollen – zu stark ist bei ihm der bleibende Wahrheitsanspruch auch des natürlichen Denkens ausgeprägt. Allerdings schwingt bei Tillich in der teilweisen Abwertung der Natur gegenüber dem Geist immer auch das hierarchische Prinzipiengefüge Schelling’scher Ausarbeitung mit, wenn er auch an keiner Stelle auf eine direkte Abhängigkeit von Schelling verweist oder in der eigenen Konzeption ein hierarchisch aufgebautes Prinzipienkonzept vorstellt. Dass Tillich hier jedoch stillschweigend das Aufbauprinzip Schellings voraussetzt und die Subordination der Natur unter den Geist erst auf dem Hintergrund der Schelling’schen Konzeption in Gänze erklärlich wird, darf als sicher gelten. Selbst in der kleinen Differenz zu Schelling, nämlich der eigentlichen Gleichrangigkeit von Natur und Geist bzw. – in gleicher Weise – von Wahrheits- und Denkprinzip, scheint somit im Detail bei Tillich Schelling’sches Gedankengut durch, das Tillich zwar in leicht modifizierter Form aufnimmt; in der Entfaltung des Systems werden jedoch auch diese minimalen Veränderungen durch den praktischen Gebrauch, der letztendlich nur auf Grundlage der Philosophie Schellings verständlich wird, zumindest teilweise revidiert.

1.1.3 Aporie des Denkens: Problem der Selbstkonstitution Das Denken zeichnet sich als das, was es ist, eben durch seinen Widerspruchscharakter aus. Denken ist nicht Denken, ohne dass es im Gegensatz zur Wahrheit steht. Diese Grunddefinition, die von Tillich, wie gesehen, auch als „Prinzip des Denkens“ (A §3; 281) bezeichnet wird, führt zu der Konsequenz, dass das Denken in jedem Moment seines Vollzugs immer zugleich wahr und unwahr ist – und demnach, so muss hinzugefügt werden, niemals als wahr im absoluten Sinne, also so, wie es der Wahrheitsgedanke an sich fordert, bezeichnet werden kann. Das Denken kann sich an die beiden Grenzen seiner selbst bewegen, indem es sich entweder als beinahe noch in der Wahrheit stehend oder als sich im Begriff befindend, zur Wahrheit zurückzukehren, fasst. Wie nahe auch immer das Denken – entweder regradierend sich in den Naturzustand zurückziehend oder progressiv über sich als Geist hinaustreibend – der Wahrheit zu kommen vermag, als es selbst ist es nicht in der Lage, sich selbst von sich aus loszuwerden, da es ja im Akt der Rückkehr zur Wahrheit gleichgültig in welcher Form immer noch als Denken und somit als Widerspruchsgeist vorhanden ist. Das Den-

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ken bleibt mithin immer in sich gefangen und kann sich selbst nicht entkommen.53 Dadurch, dass das Denken sich im Widerspruch zur Wahrheit stehend erkennt und dieses Phänomen nicht von Seiten des Denkens aus behoben werden kann, fasst sich das Denken selbst als nicht berechtigt, in Tillichs Terminologie gleichsam als unwahr; es kommt somit zur Einsicht der Unangemessenheit, ja Unmöglichkeit des eigenen Vorhandenseins, ohne dagegen intervenieren zu können. Genau genommen ist der Widerspruch durch das Denken nicht nur in die Wahrheit eingezeichnet, sondern er reproduziert sich im Vollzug des Denkens im Denken selbst, indem das Denken nicht nur der Wahrheit, sondern in letzter Konsequenz auch sich selbst widerspricht. Der Widerspruchscharakter ist so tief im Denken verwurzelt, dass es durch seine Ambivalenz, die aus seinem Ursprung in der Wahrheit entsteht, sich selbst widersprüchlich wird. Im Durchschauen der Selbstwidersprüchlichkeit des eigenen Daseins und damit auch der Selbstkonstitution des Denkens durch das Denken wird sich das Denken selbst aporetisch. Es kann sich weder die Form seines Vorhandenseins noch die Entstehung seiner selbst erklären, da unter dem Vorzeichen des Widerspruchs, der beides Mal eine Selbsterfassung unabhängig vom Denken selbst verwehrt, gerade durch die Anwendung des Denkens auf sich selbst alle reflexiven Vollzüge zu Unwahrheit pervertieren. Das Denken scheitert letztlich an seinem Ursprung und seinem Ziel, der Wahrheit, der gerecht zu werden ihm ob seines schlichten Nicht-Wahrheit-Seins, ja Wider-die-Wahrheit-Seins schlechterdings unmöglich ist. Je stärker das Denken auf die Spitze getrieben wird, umso weniger gewinnt es Einsicht in seine tatsächliche Bestimmtheit, es hat mit Tillichs Worten „[a]n sich selbst […] seine Grenze, weil es sich selbst allezeit zur Voraussetzung hat.“ (A §6; 286) Die Bedingung der Ermöglichung der Voraussetzung seiner selbst sind dem Denken jedoch, da nicht in seiner Sphäre liegend, gänzlich unzugänglich, so dass dem Denken nicht nur die Ermöglichungsbedingung seiner Selbstkonstitution, sondern auch das daraus resultierende schiere eigene Dasein zum Rätsel wird. Vermag das Denken innerhalb seines Geltungsbereichs noch in Kultur und Ethik als den durch den Denkvollzug bestimmten Bereichen zu wirken, ————— 53

Seine höchste Zuspitzung erfährt dieses Immer-auf-sich-selbst-Zurückverwiesensein des Denkens im Begriff, der im Vollzug des Begreifens sich selbst benötigt, um begreifen zu können: „Das Unbegreifliche ist der Begriff selbst: Um sich selbst zu begreifen, braucht der Begriff sich selbst; er setzt im Begreifen voraus, was er begreifen will; er dreht sich um sich selbst und kann sich nicht fassen, das ist seine Unbegreiflichkeit.“ (A §6; 286) Indem das Denken bei sich selbst anfängt, setzt es sich im Vollzug seiner selbst in jedem Moment voraus, ohne jedoch das Vorausgesetztsein seiner selbst einer aus eigenem Vermögen entsprungenen erklärlichen Lösung zuführen zu können.

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Wahrheit und Denken als irreduzibles Spannungsverhältnis

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so gerät es bei dem Explikationsversuch des Ursprungs bzw. der Berechtigung eben seines Vollzugs in unauflösliche Aporien. Die Lösung dieser Aporien ist nun dem Menschen qua Existenz als denkendes Geistwesen nicht möglich, allerdings lässt sich nach Tillich die Ursache für das aporetische Verhältnis des Denkens zu sich selbst erklärlich machen und zwar im dritten Bereich der Philosophie des Geistes, der Religionsphilosophie.

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1.2 Das Absolute als notwendiger Ausgangspunkt der Systemkonzeption 1.2.1 Der Ausgang vom Absoluten als der vom Denken selbst geforderte Akt Das Denken ist grundsätzlich mit dem Problem seiner Selbstkonstitution behaftet, welche ihm die Aporie seines eigenen Vorhandenseins aufgibt. Das Vorfinden seiner selbst als gegeben, was in jedem Moment seines Vorhandenseins statthat, ist der stete Stachel im Fleisch des Denkens, wodurch ihm Tätigkeit auf der Basis seiner selbst schlechterdings versagt bleibt, sofern es sich nicht selbst verleugnen möchte. Gegen diesen Abfall von sich selbst kann sich das Denken nur verwahren, indem es in seinem Selbstverhältnis nicht nur auf sich Bezug nimmt, sondern auch außerhalb seiner selbst, mithin dort, wo es im Zuge seines Widerspruchscharakters ansetzt, den Konstitutionsgrund seiner selbst sucht. Ohne einen – zunächst irgendwie gearteten – Konnex zum Wahrheitsgedanken bleibt das Denken seiner eigenen Identität und seinem eigenen Prinzip hinterher, weil es eben im Selbstvollzug unvermeidlich auf seine aporetische Struktur verwiesen, ja auf sie zurückgeworfen wird. Die Verbindung und das Verhältnis zur Wahrheit aus eigenem Vermögen zu ergründen oder gar in Bestand zu setzen, sieht sich das Denken jedoch völlig außerstande. Die Wahrheit ist vom Denken aus im absoluten Sinne nicht erreichbar. Die Verhaftetheit des Denkens in sich selbst stellt das Denken in seiner Selbstbestimmung unter eine doppelte Forderung: Um tatsächlich Denken sein zu können, muss sich das Denken als Denken selbst bestimmen und setzen, so wie es in der Tillich’schen Fassung der Sittlichkeit vorgestellt wird; gleichzeitig und mit gleicher Gewichtung muss das Denken in Überwindung seiner selbst an seinem ständigen Sein von der Wahrheit her festhalten. Tillich geht es mithin nicht um ein reines, im mystischen Sinne des Wortes ‚Aufheben‘ des denkenden Individuums in den absoluten Wahrheitsgedanken – dazu ist das in sich verhaftete Denken gar nicht fähig, da es ja nie im absoluten Sinne wahr ist und somit eine Selbstaufhebung, die allein bei ihm selbst ansetzt, überhaupt nicht in sein Vermögen fällt. Vielmehr wird eine doppelte Konstitution des denkenden Selbst in Anschlag gebracht, indem das Denken sich sehr wohl selbst zu konstituieren hat – wie sollte es sonst im Widerspruch zur Wahrheit stehen – und sich trotzdem just im Moment der Selbstkonstitution als aus der Wahrheit herausgetreten und somit unwahr wissen muss, so dass es der Selbstüberwindung des Denkens qua Reflexivitätsein bedarf, um der Wahrhaftigkeit des eigenen Unterneh-

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Das Absolute als notwendiger Ausgangspunkt der Systemkonzeption

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mens nicht abtrünnig zu werden. Wie nun zwischen Wahrheit und Denken ein irreduzibles Spannungs- und damit gleichsam Konstitutionsverhältnis statthat, so muss diese Spannung auch in der Konstitution des denkenden Individuums erhalten bleiben, so wie dies eben in dem reziproken Bezug zwischen Selbstbestimmung und Selbstüberwindung des Denkens der Fall ist.1 Beide sind für sich genommen nicht in der Lage, das Spezifikum des Denkens zum Ausdruck zu bringen: Die einseitig – Tillich würde sagen: abstrakt – gefasste Selbstbestimmung des Denkens verkennt die Aporien des Denkens, die bloße Selbstüberwindung hebt in letzter Konsequenz das Denken und damit jedwede Individualität als unberechtigt auf. Tillich geht es aber darum, beide Aspekte in ein konsistentes Programm zu integrieren, weshalb erst durch die Aufnahme beider Momente der Konstitution des Denkens in das Prinzip von tatsächlichem Denken und einem Stehen des Denkens in der Wahrheit gesprochen werden kann.2 Da die Selbstüberwindung vom Denken selbst nicht geleistet werden kann, ist ein Ansetzen des Denkens beim Wahrheitsgedanken unabdingbar. Andernfalls fiele das Denken wie bei jedem Versuch von selbst über sich selbst hinauszukommen unweigerlich wiederum auf sich zurück. Für das in den Kategorien von Raum und Zeit operierende Denken wird die Wahrheit somit als etwas ihm selbst Voraus- und Vorhergehendes vorstellig, weil bei jedweder Postposition der Wahrheit hinter das Denken Letztgenanntes seines Begründungszusammenhanges verlustig ginge. Das Denken würde sich bei einem Hintansetzen der Wahrheit de facto nur noch von seiner eigenen Selbstbestimmung her definieren, da der Wahrheitsgedanke als rein sekundär und abgeleitet veranschlagt werden müsste. Mit anderen Worten: ————— 1

Falsch wäre es, auch an dieser Stelle das oben konstatierte Prinzipiengefälle Schelling’scher Provenienz, das Tillich, wie gesehen, weitestgehend stillschweigend übernimmt, einzuzeichnen. War für den Geist gegenüber der Natur noch von einem prius des Wahrheitsprinzips gegenüber dem Denkprinzip auszugehen, so liefe es der Tillich’schen Argumentation zuwider, wenn man hier in analoger Weise die Selbstüberwindung der Selbstkonstitution des Denkens überordnete. Tillich geht es dezidiert darum, beide Aspekte als gleichwertige und gleichrangige Größen aufzustellen. Eine andere Interpretation des Systementwurfs Tillichs wäre fehlgeleitet und liefe an seinem Anliegen vorbei, das konkret vorhandene Denken trotz und in seinem gleichzeitigen Wahr- und Unwahrsein einerseits ernst zu nehmen und andererseits als genau in dieser Daseinsform berechtigt zu klassifizieren. 2 Die im Kierkegaard’schen Sinne dialektische Bestimmung des ‚sowohl als auch‘ resp. das Urteil, dass das eine nicht ohne das jeweils andere sein kann, führt natürlich bereits direkt auf den theologischen Zentralbegriff Tillichs zu: das Paradox. Eine detaillierte Untersuchung des Tillich’schen Paradoxverständnisses bietet Kap. 1.2.5, jedoch soll bereits hier im Zuge des systematischen Nachvollzugs der Architektur von Tillichs Prinzip gewissermaßen auf das telos des Gedankengangs vorverwiesen werden, da auch die verschiedenen Grundelemente im System bei Tillich der Logik des Paradoxgedankens folgen, so wie dies bereits bei dem grundlegenden Verhältnis von Wahrheit und Denken der Fall war.

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Das Denken wird, sofern es die Wahrheit nicht an den Anfang stellt und sich selbst als von der Wahrheit herkommend fasst, unwahr. Unter absolutem Blickwinkel lässt sich selbstverständlich nicht von einem Vorher oder Nachher von Wahrheit oder Denken sprechen – für das Denken bleibt eine zeitliche Verortung ob seines raumzeitlichen Bezugs jedoch die einzige Vorstellungsmöglichkeit.3 Die Voranstellung der Wahrheit führt für das Denken zur Definition der Wahrheit als das Absolute. Dadurch, dass sich das Denken zwar als selbstbestimmt, aber doch als relativ selbstbestimmt, nämlich in Relation zur Wahrheit, fasst, wird der zur Selbstkonstitution notwendige Pol zum Gegenpol und somit für das relative Denken zum Absoluten. Absolut wird die Wahrheit deshalb, weil sie nicht nur das Woher, sondern gleichfalls das Wohin des Denkens darstellt und daher das im Vollzug des Denkens immer schon Vorausgesetzte und immer Vorauszusetzende wird. Absolut betrachtet ist die Wahrheit relationslos oder genauer gesagt: birgt sämtliche Relation in sich, so dass eine Relation zu etwas außerhalb ihrer selbst nur als innerhalb ihrer selbst befindlich vorstellig werden kann. Das Denken ist wider die Wahrheit, aber nur im Modus des In-der-Wahrheit-Seins. Hier kommt nun wieder die bei Schelling festgestellte und für die Argumentation Tillichs ebenfalls zu veranschlagende Priorität der Wahrheit gegenüber dem Denken zum Tragen. Die Absolutheit der Wahrheit leitet sich von ihrem alles übergreifenden Charakter her, der selbst seinen größten Gegensatz, das Denken, in sich zu begreifen vermag. Die Relativität des Denkens hinwiederum hat seine Begründung in der Bezüglichkeit des Denkens auf die Wahrheit im Akt der eigenen Selbstkonstitution.4 Für das Denken muss die ————— 3 In extenso getrieben ließe sich auch aus konkreter Perspektive formuliert freilich nicht mehr von einer Prävalenz der Wahrheit gegenüber dem Denken sprechen, vielmehr ist eine Gleichzeitigkeit zu veranschlagen, da ja Wahrheit und Denken in ihrem irreduziblen Bezug des jeweils anderen Parts ihrer selbst bedürfen, um das zu sein, was sie sind. Allerdings birgt die Rede von der Gleichzeitigkeit beider Phänomene das nicht zu unterschätzende Problem, dass dann von einem zwar gleichzeitigen, jedoch voneinander unabhängigen Konstitutionsverhältnis des Denkens, einmal seiner selbst und einmal aus der Wahrheit, ausgegangen werden könnte. Dadurch, dass die Wahrheit – rein temporär – an die erste Stelle gesetzt wird, wird diesem Missverständnis und einer reinen Selbstkonstitution des Denkens aus sich selbst heraus entgegengetreten. In rein logischer Abfolge widerspräche auch eine Hintansetzung der Wahrheit dem Widerspruchscharakter des Denkens, das zeitlich betrachtet allererst ein Gegenüber braucht, zu dem es in Opposition treten kann. 4 Des Weiteren ließe sich nicht nur der Punkt des Anhebens, sondern auch die Zielrichtung des Denkens als für die Relativität des Denkens bestimmend benennen. Auch in teleologischer Ausrichtung vermag das Denken nicht sich selbst an das Ende seines reflexiven Vollzuges zu setzen, sondern bedarf wiederum der Wahrheit als Inhalt seines Ausgerichtetseins. Wie bereits bei dem Verhältnis von Natur und Geist festgestellt, stößt das Denken immer an eine gewissermaßen doppelte Grenze seiner selbst, die jedoch als Grenze immer dieselbe ist: die Wahrheit, nur von zwei Perspektiven aus betrachtet.

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Wahrheit somit als absolut definiert werden, da außer ihr nichts ist – nicht einmal das Denken, das allererst durch sein Sein in der Wahrheit realiter wird und vorhanden ist. Durch einen Blick zurück auf Schelling lässt sich die Aporie, die das Denken bei Tillich durch und mit seinem eigenen Dasein aufgibt,5 auf der Ebene des Prinzipienverhältnisses erklären: Durch eine falsche Anordnung des primären Prinzips – Vollzug/Universalwille bei Schelling, Wahrheit/ Absolutes bei Tillich – als sekundäres hinter dem eigentlich sekundären Prinzip – Grund/Eigenwille bei Schelling, Denken/Relatives bei Tillich – findet eine Umkehrung des eigentlichen Prinzipiengefälles statt, die durch die Selbstüberhebung des eigentlich sekundären Prinzips entsteht. Dadurch, dass sich das sekundär-relative Prinzip absolut setzt, anstelle sich in Selbstüberwindung dem Primärprinzip unterzuordnen, gelangt das Denken – bzw. der Eigenwille bei Schelling – in die Aporie, sich selbst in Hinsicht auf Entstehung, Vollzug und Zielpunkt nicht mehr erklären zu können. Die aporetische Situation des Denkens wäre bei Schelling demnach schlicht auf eine verkehrte Hierarchie der Prinzipien zurückzuführen. Im Falle der Tillich’schen Argumentation lässt sich diese Erklärung der Aporie des Denkens durchaus auch sinnvoll in das Gesamtsystem einzeichnen, allerdings bleibt doch fraglich, ob dieses Verständnis in Reinform dem Anliegen Tillichs entsprechen könnte. Sicherlich spielt die implizit vorhandene, von Schelling übernommene Prinzipienhierarchie auch bei Tillich eine wichtige Rolle, jedoch neigt Tillich, so wie auch bei der Konzeption von Selbstbestimmung und Selbstüberwindung des Denkens, nicht zu einem hierarchischen, sondern vielmehr eher paritätischen Denken, das das Denkprinzip ernst nehmen und nicht einfach als eine Subkategorie des Wahrheitsprinzips – so sehr abhängig ersteres von letzterem auch ist – verorten möchte, so dass eine Lösung der Aporie im Sinne Schellings dem Paradoxgedanken Tillichs insofern zuwider läuft, als es ja gerade nicht Ziel des Paradoxes ist, Lösungen auf dem Boden eines klaren Prioritätsurteils zu fällen. Vielmehr scheint der Ansatz Tillichs an dieser Stelle vom idealistischen Gedankengebäude in der Weise etwas Abstand zu nehmen, dass er in eine eher paritätisch-dialektische denn in eine das Paradox sprengende Richtung tendiert. Festzuhalten bleibt, dass das Denken sich selbst nur gerecht wird, wenn es sich in den Prozess der Wahrheit hineinstellt und sich als in der Einheit aller Gegensätze stehender Widerspruch fasst. Dies ist dem Denken aller————— 5 In Anlehnung an Tillichs spätere Nomenklatur lässt sich aussagen, dass das Denken somit in gleicher Weise die Aporie seiner selbst ist, wie später der Mensch selbst die Frage nach sich selbst ist (vgl. ST I, 76). Auf diese Grundeinsicht Tillich’schen Denkens sei bereits an dieser frühen Stelle hingewiesen.

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dings nur und allererst möglich, wenn es nicht nur sich, sondern auch seine Selbstbestimmung als von der Wahrheit her kommend und seinen Widerspruchsgeist als erst durch das, dem er widerspricht, konstituiert fasst. Kurz gesagt: Das Denken kommt als es selbst nicht umhin, von der als Absolutes definierten Wahrheit seinen Ausgang zu nehmen – andernfalls wird es unwahr.

1.2.2 Der absolute Standpunkt 1.2.2.1 Wahrheit und Absolutes Absolut ist die Wahrheit bzw. das Absolute für das Denken ausschließlich, sobald das Denken im Begriff steht, sich in den Prozess der Wahrheitsbewegung zu integrieren, mithin von der Reflexion in den Stand der Intuition überzugehen. Da dies im Zustand des Denkens als Denken jedoch nie in Vollständigkeit der Fall sein kann, depraviert das Absolute für das denkende Bewusstsein zu etwas nicht mehr konkret Zugänglichem und wird folglich abstrakt, d.h. es wird als absolut erkannt, kann jedoch als – aus der Perspektive der Reflexion – rein Unkonkretes das konkret operierende Denken nicht wirklich betreffen, so dass es als dem Denken im wahrsten Sinne des Wortes ‚abs-trahiertes‘ Fremdes vorstellig wird.6 Unter diesem Aspekt ist das Denken in seinem Selbstbestimmungscharakter betrachtet worden, wodurch die absolute Wahrheit zum entrückten Pol wird, von dem sich das selbstbestimmte Denken zwar abhängig weiß, das jedoch zu fern erscheint, als dass der durch das Sein des Denkens abgebrochene Wahrheitsvollzug als absolutes Ganzes begriffen werden könnte. Vielmehr führt die Abstraktheit des Absoluten zu einer Definition des Absoluten als das, was das Denken selbst ist: Freiheit bzw. Geist.7 Erst durch die Definition der absoluten Wahrheit als Freiheit durch das freie, geistige Denken kann die Wahrheit als etwas begriffen werden, was dem Denken in seinem Widerspruchscharakter gegenüberstehen kann. Dies ist notwendig, da dem sich ————— 6

Vgl. A §10; 291: „Die Freiheit steht in Gegensatz zur absoluten Wahrheit und bejaht diesen Gegensatz in jedem Moment ihrer Selbstbejahung; dadurch wird die Wahrheit für sie ein Anderes, ein ihr Gegenüberstehendes.“ (Hervorhebungen S.D.) 7 Dass die beiden Begriffe von Tillich synonym verwendet werden können, wurde bereits oben vermerkt. Indem Tillich in dem Abschnitt, in welchem er vom Verhältnis des Denkens zum Absoluten handelt, durch eine später eingefügte Randbemerkung „statt Freiheit Geist“ (EW IX, 291 Anm. 42) und durch eine spätere Ersetzung des Freiheitsbegriffs durch den Geistbegriff, bei der allerdings bezeichnenderweise keine Streichung, sondern nur eine Einklammerung des Freiheitsbegriffs erfolgt (vgl. EW IX, 291 Anm. 40), diese Auswechselbarkeit der Begriffe wiederholt, wird die synonyme Verwendung von Geist und Freiheit noch unterstrichen und kann im Folgenden auch vorausgesetzt werden.

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selbst als Freiheit fassenden Denken „nichts anderes schlechthin gegenüberstehen [kann] als wiederum die Freiheit; alles andere steht unter ihr und ist insofern in ihr, ein Moment ihres Wesens.“ (A §10; 291) Das Denken fasst sich eben durch die Bestimmung der absoluten Wahrheit bzw. des Absoluten als Freiheit ebenfalls als frei und leitet somit das eigene Freisein aus der Setzung des Absoluten als des Freien ab. In gleicher Weise erkennt sich nun das freie Denken als abhängig von dem als Freiheit definierten Absoluten, da andernfalls die eigene Freiheit – eben als ein freies Verhalten zum eigenen Konstitutionsgrund, der Wahrheit – notwendigerweise in Unfreiheit bzw. in Unwahrheit umschlagen müsste, weil der Ermöglichungsgrund der eigenen Freiheit immer schon die absolute Freiheit voraussetzt, ohne die das Denken keinen Anspruch auf Freiheit bzw. Wahrheit erheben könnte. Im gleichen Moment, in welchem sich das Denken als Freiheit selbst bestimmt, erkennt es, dass dieser eigene Freiheitsvollzug allererst durch die absolute Freiheit ermöglicht wird, so dass das Denken sich als zugleich frei und abhängig von der Wahrheit wahrnehmen muss, um im eigentlichen Sinne frei zu sein.8 Würde sich das Denken als rein frei vom Absoluten fassen, so würde es ob des Wahrheitscharakters des Absoluten schlicht unwahr und somit zwar Denken, aber nicht freies Denken sein, da Freiheit außerhalb der absoluten Freiheit nicht möglich ist – genau in diesen Bereich, nicht nur jenseits der Wahrheit, sondern sogar in Widerspruch zu ihr, begibt sich das unwahre Denken, indem es sein eigenes Wesen des Widerspruchs verabsolutiert und sich selbst außerhalb des Absoluten verortet.9 Ohne das Moment der Selbstüberwindung und somit der Einsicht in die eigene Unwahrheit kann das Denken jedoch schlechterdings nicht frei sein, weil es andernfalls aus dem Identitätsprinzip heraustritt. Vielmehr bedarf es des unablässigen Kreislaufs der Wahrheit, in dessen Ablauf das Denken sich einreihen muss, um sich selbst als frei zu verwirklichen.10 ————— 8

Die Kombination von Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstsein sieht Tillich nach seiner Interpretation bereits bei Schleiermacher angelegt, den er gegen eine einseitige Fehlinterpretation Hegel’scher Provenienz verteidigt: „Die Schleiermachersche Definition, daß ‚Religion Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit‘ sei, hat Hegel zu der Kritik veranlaßt, daß auch Tiere schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl haben. Dies ist zweifellos unberechtigt, da Schleiermacher ein wesentlich anderes Abhängigkeitsbewußtsein meint; aber eben dieser Unterschied kann letztlich in nichts andrem bestehen, als daß es ein Abhängigkeitsbewußtsein aufgrund eines Freiheitsbewußtseins ist.“ (A §10; 291) 9 Selbstüberwindung und Selbstbestimmung sind somit für das freie Denken im Sinne des Geistes Voraussetzung für das eigene Sein: „[E]s ist dem Geist wesentlich, das Absolute als Geist zu bestimmen; nur so kann er sich ihm gegenüber zugleich behaupten und aufheben.“ (A §10; 293) 10 Tillich beschreibt dieses Phänomen in A §10; 291 folgendermaßen: „Zugleich [sc. zur Bestimmung der absoluten Wahrheit als Freiheit durch das Denken] aber steht die Freiheit in absoluter Identität mit der Wahrheit, es ist also unwahr für sie, sich der Wahrheit gegenüber zu behaupten,

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Kann Tillich die Begriffe Freiheit und Geist für das Denken identisch verwenden, so ist dasselbe für die Begriffe Wahrheit, Absolutes und Freiheit zu veranschlagen. Die drei letztgenannten Begriffe stehen allesamt für das eine Moment im Identitätsprinzip Tillichs, welches die Grundlage für das andere Moment, den Widerpart des Denkens, bildet. Jedoch ist das Verhältnis des zweiten zum ersten Moment logischerweise immer ein zwiegespaltenes, da ja das erste Moment primär den Identitätscharakter, das zweite Moment primär den Differenzcharakter innerhalb der Identität widerspiegelt.11 Gegenüber der Wahrheit nimmt das Denken die Form von Unwahrheit (Differenz) oder Wahrheit (Identität) an. Gegenüber dem Absoluten erweist sich das Denken einerseits als rein relativ, wenn es sich selbst in Opposition zum Absoluten stellt – das Absolute wird dadurch zum Abstrakten – und gerade dadurch nicht sein kann ohne das Absolute, andererseits als am Absoluten Anteil habend, ja ihm angehörig, sofern das Denken sein Kommen vom Absoluten und seine Gerichtetheit auf das Absolute erkennt und dem eigenen Verabsolutierungsanspruch durch Selbstüberwindung entgegenwirkt. Im Hinblick auf die Freiheit kann das Denken entweder unfrei werden, indem es das eigene Freisein nicht mehr von der absoluten Form der Freiheit als abhängig erkennt und somit der solipsistischen Verkehrung anheim fallend die Freiheit auf sich selbst und aus sich selbst heraus zu gründen versucht. Oder das Denken ist ein freies, das nicht in unvermittelter Unmittelbarkeit die eigene Freiheit zu firmieren versucht, sondern um ihre Vermitteltheit und Abhängigkeit weiß und sich demnach nicht widersetzt, sich erst im Verhältnis zur absoluten Freiheit als frei zu fassen. In systemkonzeptioneller Hinsicht führt dies zu der grundlegenden epistemologischen Konsequenz, dass die beiden Pole des Prinzips als zweierlei zu bestimmen sind, nämlich als absolut und konkret. Dabei ist zu beachten, dass das absolute Prinzipmoment immer den Identitätscharakter, mithin die monistische Fassung verkörpert, das konkrete Moment hinwiederum immer die Position des Differenten und Dualistischen einnimmt. Was das absolute Moment als ungebrochen in Identität stehend fasst, spiegelt sich in seiner Differenz im konkreten Moment wider, jedoch so, dass innerhalb der Form der Konkretion die absoluten Pole der Differenz nur die abstrakten, niemals ————— vielmehr ist sie in der Selbstaufhebung der Wahrheit gegenüber erst frei.“ Das Denken in der Form des Geistes bzw. der Freiheit, wie Tillich an dieser Stelle formuliert, gewinnt seine Freiheit also allererst durch sein Sein in der Identität mit der Wahrheit, der es abtrünnig und somit unwahr wird, sofern es sich als nur frei von ihr bestimmt. 11 Die Distinktion in ein erstes und ein zweites Moment des Identitätsprinzips soll jedoch nicht eine Priorität Schelling’scher Provenienz evozieren, vielmehr geht es Tillich um einen reziproken Konstitutionsprozess.

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konkret realisierbaren Eckpunkte darstellen und ob dem auch die sich konkret ausspannende Differenzhaftigkeit des Differenten immer unter der absolut einenden Identität zu stehen kommt. Bildeten Wahrheit und Denken im Prinzip Tillichs ein irreduzibles Spannungsverhältnis, das ein reziprokes Konstitutionsgebilde darstellt, so lässt sich dieselbe Nomenklatur auch für abstrakt und konkret in Anschlag bringen. Beide Momente stehen sich in unüberbrückbarer Spannung gegenüber und sind doch gleichzeitig in Identität vereint. Die Identität nimmt durch ihre Integration des mit dem Denken gegebenen Differenzprinzips in sich die Verschiedenheit per se nicht nur in sich auf, sondern setzt die Differenzhaftigkeit so mit der Identität in ein Identitätsverhältnis, dass sie sowohl Identität als auch Differenz in Identität zu bergen, ja zur Identität von Identität und Differenz zu werden vermag. Die Notwendigkeit, das Denken als einen Pol des Prinzips zu veranschlagen, ergibt sich bereits aus der schieren Faktizität seines Vorhandenseins. Inwiefern und inwieweit auch die Wahrheit als absolutes Moment des Prinzips der Konkretheit des Denkens, deren Ursprungs- und Zielpunkt sie ja ist, bedarf, um tatsächlich absolut zu sein, klärt sich v.a. an der Konzeption des Gottesbegriffs bei Tillich.

1.2.2.2 Ableitung des Gottesbegriffs aus dem Religionsbegriff Religion setzt sich für Tillich als das Verhältnis des konkreten Denkens gegenüber der absoluten Wahrheit immer aus einem Freiheits- und einem Abhängigkeitsbewusstsein von Seiten des Denkens zusammen. Die Religionsphilosophie stellt dabei den Systemteil dar, in dem „die absolute Wahrheit vom Denken als Gott bestimmt wird, d.h. als das Absolute vom Standpunkt des Geistes.“ (These zu A §10; 290) Wird in diesem Zuge das Abhängigkeitsmoment des Denkens von der göttlichen Wahrheit bzw. der absoluten Wahrheit überbetont, so zeitigt dies ein pantheistisches Gottesverständnis zur Folge; wird hinwiederum dem Abhängigkeitsmoment zu große Bedeutung eingeräumt, so tendiert der Gottesbegriff zwangsläufig in eine deistische Richtung (vgl. A §10; 291). Sowohl Pantheismus als auch Deismus sind jedoch die jeweils abstrakten Pole, innerhalb derer sich das religiöse Bewusstsein bewegen kann. Beiden wohnt somit – wie es für das Denken an sich charakteristisch ist – ein Wahrheitsmoment inne, das jedoch im gleichen Zuge mit einer gleichgewichtigen Unwahrheitsbestimmung korreliert, da jede Stellung des Denkens dem Absoluten gegenüber als zugleich wahr und unwahr eingestuft werden muss. Egal wie das Denken seinen Bezug zum Absoluten bestimmt, ein Verhältnis ihm gegenüber ist mit dem eigenen Vorhandensein gegeben und bedarf somit eines Verhaltens – auch im Modus des Nichtverhaltens. Das Ableitungsverhältnis verläuft somit vom Absoluten zur Religion hin, ja Religion ist nicht nur nicht ohne

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ein Verhältnis zum Absoluten, sondern sie ist nichts anderes als eben jenes Verhältnis. Da im religiösen Verhältnis mit dem Denken in Form des freien Geistes faktisch durch das schlichte Vorhandensein desselben ein konkretes Moment gegeben ist, das ob seines Wahrheitscharakters, der bei aller Unwahrheit trotzdem in jedem Moment statthat, sich wahrhaftig und zu Recht zu behaupten vermag, ist dieses konkrete Moment in das einende absolute Moment mit einzuzeichnen. Eben das Enthaltensein des konkreten Moments im absoluten wehrt dem abstrakten Missverständnis des Absoluten, dem das Denken jederzeit anheim zu fallen droht. Gott hat demnach immer auch als der persönliche vorstellig zu werden, da das konkrete Moment des absoluten Prinzips eine echte Verhältnishaftigkeit seiner Konkretheit wegen nur im Modus der persönlichen Beziehung aufzubauen in der Lage ist. Gleichzeitig hat Gott immer als das vom Geist definierte Absolute zu gelten, so dass der Begriff des persönlichen Gottes zugleich eine absolute und eine persönliche Bestimmtheit impliziert. Die Absolutheit am Gottesbegriff ist für die Gottheit Gottes insofern konstitutiv, als erst durch sie ein Missverständnis des Verhältnisses zu Gott „als ein zufälliges oder als ein partielles“ (A §10; 292) vermieden werden kann. Gott darf nicht zufälliges Objekt des denkenden Bewusstseins werden, wie er es nach Tillich in er Orthodoxie zu werden in Gefahr steht, noch darf er als bloßes Objekt des Denkens erscheinen, weil eben dann nicht mehr von der Absolutheit Gottes gesprochen werden kann. Beiden Aspekten steht der Absolutheitsbegriff entgegen, da mit ihm einerseits die Notwendigkeit der Beziehung konstituiert ist: ein religiöses Verhältnis ist nur dann ein wirklich religiöses, d.h. es verhält sich nicht zu einem Objekt unter anderen, die in die Sphäre der Reflexion fallen, wenn es vom Ermöglichungsgrund des Verhältnisses selbst konstituiert ist, mithin vom Absoluten, von Gott. Andererseits vermeidet das Absolutheitsmoment ein Missverstehen Gottes als eines relativen Objekts, ja als eines Objekts überhaupt, indem in der Absolutheit Gottes seine Objektivierbarkeit faktisch nicht mehr durchführbar ist, da Subjekt und Objekt des Verhältnisses in ein und demselben absoluten Prinzip gründen und absolut betrachtet mithin nicht in Differenz zueinander stehen.12 Der Ausgang vom Absoluten bei der Konstruktion des Gottesbegriffs ist somit unabdingbar notwendig, da nur so sichergestellt ist, „daß alles Denken des Geistes, d.h. der Geist selbst sei————— 12

Vgl. A §10; 292: „[E]s ist für die Freiheit aber gleichgültig, mit welchem Objekt sie in Beziehung tritt, es sei denn, daß sie ein in ihrem Wesen begründetes Verhältnis zu einem Objekt hat, das dann aber nicht mehr reines Objekt für sie bleibt, sondern ein Moment ihrer Subjektivität wird.“ (Hervorhebung S.D.)

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nem Wesen nach in einem notwendigen Verhältnis zu Gott steht.“ (A §10; 293) Gleichzeitig zur Absolutheitsbestimmung bedarf der Gottesbegriff einer Persönlichkeitsbestimmung. Die reine Absolutsetzung Gottes pervertiert andernfalls in intransigente Abstraktheit, der jeglicher konkreter Bezug abhanden gekommen ist und nicht mehr vom denkenden Geist aus als etwas in seiner Sphäre Liegendes rezipiert werden kann. Um die Persönlichkeitskomponente in den Gottesbegriff zu integrieren ist es unabdingbar, Gott als das zu bestimmen, was die äußerste Grenze dessen ist, innerhalb derer sich der Geist selbst zu fassen vermag: nämlich als Geist resp. Freiheit. Jede Bestimmung, die das Absolute als etwas anderes als Geist bzw. Freiheit definiert, führt zwangsläufig zu der Konsequenz, dass der Geist eine dem derart bestimmten Absoluten gegenüber überlegene Position einnehmen würde, so dass der Geist „größer als ihr [sic!] Gott“ (A §10; 293; Konjekturanmerkung in der Edition) wäre, was schlechterdings unmöglich ist und allenfalls zu einem mystischen, jedoch nicht mehr religiösen Gottesverhältnis führen würde. Bei der Bestimmung Gottes als des schlechthin persönlichen Gottes liegen somit einerseits eine Fassung des Persönlichkeitsbegriffs als für den Geist zu hoch – und somit zur Abstraktheit führend – und andererseits als zu niedrig – und somit den Gottesbegriff dem individuellen Geist subsumierend – im Widerstreit. Beide Varianten sind aufzulösen in der Bestimmung Gottes als das, was der individuelle Geist selbst ist: Geist und Freiheit – allerdings im absoluten, nicht relativen Sinne. Falsch verstanden wäre der Begriff des persönlichen Gottes, würden ihm – im Rahmen der Feuerbach’schen Kritik – menschliche Attribute (Geist, Freiheit) zugesprochen bzw. diese auf das Gottesbild hin projiziert. Die religiöse Denkbewegung, die Gott – wohlgemerkt in sekundärer Folge, da die Absolutheit Gottes die Voraussetzung der persönlichen Bestimmung ist – als den persönlichen bestimmt, schöpft ihren Wahrheitsanspruch ausschließlich aus der relativen Wahrheit auch des religiösen Denkens. Letztgenanntes – sowie Religion überhaupt – hat allerdings als durch das Absolute allererst ermöglicht vorstellig zu werden, so dass Religion nur dadurch ist, dass Gott seinerseits in der Setzung des Denkens Religion ermöglicht. Unter diesem Aspekt ist die Bestimmung Gottes als Geist und Freiheit keine durch das Denken hervorgerufene und in dessen Selbstbehauptung entsprungene Setzung, sondern Gott als das Absolute selbst wendet die Kategorie von Geist und Freiheit auf sich selbst an,13 jedoch immer unter der Prämisse, dass diese Selbstattribuierung für das Denken gesetzt ist. Gott ————— 13

Vgl. A §10; 293: „Das Absolute bestimmt sich im absoluten Prozesse selbst als Freiheit und Geist; es wendet diesen Begriff selbst auf sich an, indem es die Religion schafft.“

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Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips

selbst bedarf in seiner Absolutheit keiner konkreten Bestimmung im Sinne des Denkens; als der persönliche Gott wird er für das Denken allerdings der konkrete, auch wenn diese Bestimmung „nur gültig ist für die Sphäre der Freiheit und des Geistes, wenn auch für diese notwendig.“ (A §10; 293) Religion ist als Verhältnis des Konkreten zum Absoluten in seiner Möglichkeit bedingt durch das Absolute, weil dem Konkreten als Konkretem der Zugang zum Absoluten schlechterdings nicht möglich ist. Bleibt Religion also ein Phänomen des in der Form von Konkretion operierenden Denkens, weil Religion eben eine der drei Funktionen des Geistes neben Kultur und Sittlichkeit ist, so bedarf es ihrer aus absoluter Perspektive betrachtet nicht, ja im Identitätsprinzip des Absoluten wird Religion samt der mit ihr notwendigen Gegebenheit von absolut und konkret in Identität aufgenommen, jedoch nicht derart, dass die Differenzhaftigkeit von absolut und konkret verlustig ginge, sondern vielmehr als Identität von Identität und Differenz. Als Phänomen des Denkens bleibt Religion aber immer dem Charakter der Ambivalenz anheim gegeben, so dass sie immer als wahr und unwahr zugleich vorstellig zu werden hat, was sich im Auseinanderklaffen bei der Bestimmung Gottes als absoluter und persönlicher bemerkbar macht. Nach Tillich ist dieser Argumentation zufolge deshalb im Vollzug der Denkbewegung der Religionsbegriff auf der Grundlage des Begriffs vom Absoluten zu gewinnen, da ja Religion letztlich das Verhältnis zwischen Absolutem und Konkretem verkörpert, und aus dem Religionsbegriff wiederum ist der Gottesbegriff abzuleiten.14 Eine andere Reihenfolge zu vollziehen ist dem denkenden Subjekt nicht möglich, da bei einem Voranstellen des Gottesbegriffs vor den Religionsbegriff oder vor das Absolute Gott von außen in die Sphäre des Denkens zu integrieren versucht würde, was zwangsläufig die Konsequenz hätte, dass Gott zu einem abstrakten werden würde. Die Stoßrichtung verläuft somit vom Absoluten über die Religion hin zu Gott.15 Etwaige Versuche, Gott mittels eines Beweisverfahrens zu begründen, müssen ob dieser Konzeption zwangsläufig fehlführen und können bestenfalls – so räumt es Tillich für den ontologischen Gottesbeweis ein – zu einer „Selbstbesinnung des Denkens“ (A §11; 295) beitragen ————— 14

Vgl. A §11; 296: „Das Problem, ob der Gottesbegriff oder der Religionsbegriff Grundlage der Beweisführung werden soll, ist damit in dem Sinne entschieden, daß der Begriff des Absoluten Grundlage des Religionsbegriffes, der Religionsbegriff Grundlage des Gottesbegriffs werden muß.“ 15 Nur so ist es auch verständlich, wie Tillich in späterer Konzeption zu einem ‚Glauben ohne Gott‘ (vgl. EW VI, 97) kommen kann; hier werden gewissermaßen die ersten Schritte noch vollzogen, eine Definition des Absoluten als Gott in der Religion erfolgt allerdings nicht mehr. Genau genommen tritt ab 1917 bei Tillich der Religionsbegriff an die erste Stelle der Kette, womit ein stärker subjektiv geprägter Religionsbegriff in Verwendung kommt. Die Ursachen und Konsequenzen dieser Entwicklung bei Tillich versucht Kap. 2 (hier insbes. 2.1 und 2.2) nachzuzeichnen.

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und somit das grundsätzliche religiöse Verhältnis zwischen Wahrheit und Denken erhellen – zu einem Beweis Gottes können sie, wie Tillich im Anschluss an die Kant’sche Kritik anführt, niemals gelangen.

1.2.2.3 Religion, Sittlichkeit und Kultur auf dem absoluten Standpunkt In der Philosophie des Geistes sind neben der Religion auch die beiden weiteren Formen des Geistes, Kultur und Sittlichkeit, näher zu bestimmen sowie das Verhältnis der drei Geistfunktionen zueinander zu untersuchen. Notwendig für das System ist diese Klärung aus absoluter Sicht deshalb, weil Religion als Bezug des Konkreten zum Absoluten immer mit der konkreten Seite des Verhältnisses zu tun hat, die – wie sich zeigen wird – jederzeit durch Kultur und Sittlichkeit in Auseinandersetzung mit dem Konkreten steht. Tillich bestimmt die Kultur als den „Inbegriff aller auf das Gegebene gerichteten Geistesfunktionen“ (These zu A §12; 296). Sobald der Geist es mit dem Konkreten zu tun hat, tritt er automatisch in die Sphäre der Kultur ein und wirkt als Geist innerhalb des konkret Vorfindlichen.16 In der Sittlichkeit als gewissermaßen dem proprium der Geisttätigkeit bestimmt sich der Geist als Geist und Freiheit selbst und wirkt in, mit und durch diese Selbstbestimmung in die Kultur aktiv hinein. Indem der Geist in der sittlichen Selbstbestimmung sich durch Setzung vom anderen Konkreten absetzt, bestimmt er dieses mit und setzt so nicht einfach Kultur aus sich heraus, sondern wirkt durch die freie Setzung normativ auf die kulturelle Sphäre. Die Sittlichkeit ist für Tillich somit „nicht eine Funktion des Geistes neben andern, sondern das Prinzip alles kulturellen Handelns als Handeln betrachtet, nämlich der Ausdruck für die Normativität dieses Handelns.“ (These zu A §12; 296) Dadurch, dass die Sittlichkeit genuin die Selbstbestimmung des Geistes als er selbst zum Gegenstand hat,17 gehört sie nicht selbst der Kultur an, sondern steht eben als deren Prinzip über der Kultur und konstituiert sie in normativer Setzung allererst als Tätigkeit. Ihren Niederschlag findet die Normierung der Kultur durch die Sittlichkeit

————— 16

Zu bemerken ist, dass es sich hierbei ausschließlich um das Wirken des Geistes handelt – Denken im Sinne der Natur, das ja auch immer mit dem Gegebenen operiert, ist hier nicht mit eingeschlossen. Geist setzt im Gegensatz zur Natur, wie bereits konstatiert, immer schon eine Selbstbestimmung voraus, die sich in der Sittlichkeit expliziert. 17 Vgl. hierzu die beiden Definitionen Tillichs in A §12; 298: „Sittlichkeit ist die Selbstbestimmung des Geistes als Geist.“ und: „Sittlichkeit ist das tätige Bewußtsein der Freiheit um sich selbst.“

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in der Festlegung von Kulturwerten.18 Durch die Doppelbewegung – einerseits der Selbstbestimmung des Geistes, andererseits der prinzipiellen Normierung, d.h. faktisch der Konstituierung der Kultur qua Kulturtätigkeit – gerät die Sittlichkeit in das Dilemma, sich sowohl in der Selbstbehauptung des Geistes frei zu machen von allem Konkreten als auch sich in der Normsetzung für die Kultur an das Konkrete zu binden, ja den eigenen Selbstvollzug mit der Setzung des Konkreten nach außen zu verbinden. Die Sittlichkeit wird gleichzeitig in der Selbstbestimmung frei von allem Konkreten und in ihrem Kulturwirken unfrei. In seiner sittlichen Freimachung vom vorfindlichen Konkreten und der damit verbundenen Erkenntnis des Konkreten als des Relativen wird der Geist zur Autonomie, die sich von der Heteronomie der Kulturgegenstände befreit hat (vgl. A §12; 299). Im Wissen um die eigene Relativität gegenüber dem Absoluten wiederum nimmt sich der Geist als an das Relative gebunden war und wird des heteronomen Aspekts im eigenen Vollzug ansichtig. Diese „Dialektik des Sittlichen“ treibt nun hin auf die „Religion“ (A §12; 299), indem der Geist seine Bindung an das Relative im eigenen Konstitutionsvollzug erfasst und sich selbst erst als in Aufhebung zum Absoluten vom Relativen befreit erkennt.19 Die Religion ihrerseits steht der Kultur in doppelter Weise gegenüber: Wird von dem religiösen Freiheitsbewusstsein ausgegangen, so wird dem Konkreten sein Vorhandensein nicht nur zugestanden, sondern es kommt zu aktiver Kulturschöpfung – die Religion setzt aus sich religiöse Kultur heraus. Das mit der Religion gleichsam verbundene Abhängigkeitsbewusstsein führt hingegen zu einer Negation des Konkreten als des Relativen und bringt so die Relativität alles Kulturhandelns in Ansicht.20 Im ersten Fall ————— 18

Dadurch wird es nach Tillich hinfällig von einem „Gegensatz von normativer und deskriptiver Ethik“ (A §12; 299) zu sprechen, weil Ethik in ihrer Funktion ausschließlich normativ verfährt und nicht selbst – wie es durch die Deskription der Fall wäre – Teil der Kultur ist. Die Aufgabe der Ethik hat demnach nur mit den Kulturträgern per se zu tun und spaltet sich deshalb in individueller und kollektiver Hinsicht nur in eine Behandlung der „Persönlichkeits- und Gemeinschaftskultur“ (ebd.) auf, die die Eingliederung des Einzelnen in das Kollektiv thematisiert. 19 Vgl. A §12; 299: „Durch das sittliche Bewußtsein gewinnt der Geist diejenige Freiheit, die es ihm möglich macht, in Freiheit zurückzukehren zum Absoluten. Er hat sich losgelöst von der Bindung an das Relative; er hat nur sich selbst und seine reine Autonomie; aber der Geist selbst ist dem Absoluten gegenüber relativ; und insofern er sich selbst bestimmt, ist er wiederum an Relatives gebunden, freilich an dasjenige Relative, in dem die Relativität sich selbst erfasst und dadurch überwunden hat, aber doch nur dann überwunden, wenn sie sich hingibt an das Absolute, d.h. wenn sie religiös wird. So treibt die Dialektik des Sittlichen zur Religion.“ 20 Dass die beiden Positionen der Religion gegenüber der Wahrheit von dem religiös bedingten Miteinander von Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstsein herrühren, wird von Tillich in A §12 nicht expressis verbis formuliert. Die Fassung der These in der Abschrift der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ nimmt allerdings deutlich auf diesen Umstand bezug: „Die Religion aber bewirkt einerseits – insofern sie als Freiheitsbewußtsein Gott wie einem bestimmten Gegebenen gegenübersteht – eine eigentümliche religiöse Kultur, andererseits – insofern sie als Abhängig-

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spricht Tillich von der Religion als Prinzip, im zweiten als Wirkung bzw. Kultursphäre (vgl. A §12; 297–299). In prinzipieller Hinsicht ist die Religion absolut bzw. vom Konkreten aus betrachtet abstrakt, frei von jeglicher Relativität und ist „etwas gewissermaßen Punktuelles, jeder Aktualität und Breite Enthobenes, absolute Innerlichkeit“ (A §12; 297), wodurch sie als der kulturellen Sphäre enthobene reine Potentialität vorstellig wird. Eben jenes potentielle Vermögen aktualisiert die Religion in ihrer in der Kultur sich explizierenden Breitenwirkung, so dass die Religion religiöse Kultur schafft. In der Religion fallen somit einerseits eine stete Bejahung kultureller Schöpfung durch die Religion in ihrer Breitenwirkung und andererseits eine ständige Negation eben jener kulturellen Setzungen aufgrund der Relativität derselben durch die Religion als Prinzip zusammen. Analog dem Wahrheitsvollzug in der Setzung von Begriffen ‚hangelt‘ sich die Religion gewissermaßen von einer Kulturschöpfung und -negation zur nächsten, ohne jeweils auf eine bestimmte Fixierung festgelegt zu bleiben oder andererseits die einzelnen Kulturschöpfungen so zu negieren, dass ihr Existenzanspruch aufgehoben würde.21 Durch die spezifisch religiös geprägte Kulturwirkung kann es nun prima facie zu Konflikten mit den Kulturschöpfungen der Sittlichkeit kommen; allerdings handelt es sich hierbei um „Scheinkonflikte“ (A §12; 297), da Religion und Sittlichkeit keine sozusagen konkurrierenden Geistfunktionen darstellen, sondern im Gegenteil die Religion in prinzipieller Hinsicht nicht nur die Kultur, sondern auch die Sittlichkeit unter sich zu fassen vermag. Treibt die Sittlichkeit in letzter Konsequenz zur Religion hin, so setzt die Religion als Aktualität aus sich immer mit der Kultur im Verbund auf diese Kulturform gerichtete Sittlichkeit heraus, die nur dann in Differenz steht zu anderen Formen der Sittlichkeit, wenn sich diese nicht als religiöse, mithin in ihrem Abhängigkeitscharakter, zu fassen vermögen. Die Sittlichkeit ist somit Prinzip der kulturellen Normierung und die Religion ihrerseits Prinzip ihrer selbst und Prinzip der Sittlichkeit, so dass die Religion sowohl Kultur als auch Sittlichkeit hervorbringt, die nur aus einem falschen Religionsverständnis – einem, das nicht zwischen den beiden Positionen der Religion gegenüber der Freiheit als Prinzip und Wirkung unterscheidet – und aus einem Verständnis der Sittlichkeit als unvermittelter Unmittelbarkeit heraus in Konflikt mit anderen Sittlichkeitsformen geraten können. Religion ————— keitsbewußtsein alles Gegebene Gott gegenüber aufhebt – ein Bewußtsein über den negativen Charakter alles Handelns dem Absoluten gegenüber.“ (EW IX, 296 Anm. 57) 21 Vgl. A §12; 297f: „Da […] die Religion gerade die Loslösung der Freiheit von allem bedeutet, was Kultur ist, so reagiert das religiöse Prinzip gegen die religiöse Funktion und befreit sich immer wieder davon, um für jeden neu gewonnenen Freiheitsstand einen neuen Kulturausdruck zu schaffen.“

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ist daher als Prinzip „immer zugleich die sittliche Bejahung der Kultur und die religiöse Verneinung der Kultur, d.h. die Anschauung der Kultur als gesetzt im Absoluten und zurückkehrend zu dem Absoluten. […] Daraus ergibt sich unmittelbar, daß auch die Religion keine Kulturfunktion neben andern ist, sondern das tiefste Prinzip aller Kultur, und daß sie kein Prinzip neben dem sittlichen Prinzip ist, sondern das sich selbst und das sittliche umfassende übergeordnete Prinzip des Geisteslebens.“ (A §12; 300) Alles Gegebene wird in der Religion firmiert und gleichzeitig vor Gott negiert. Dieser Vollzug, der in letzter Konsequenz zu einer Aufhebung der in sich gespaltenen Religion und somit auch der Sittlichkeit sowie der Kultur in die Einheit der absoluten Religion führt, verläuft allerdings – wiederum analog der Begriffssetzung im Vollzug der Wahrheit – über und durch die Form der Konkretion, die in Gestalt der Religionsgeschichte ansichtig wird, die sich gleichsam über verschiedene Kulturprägungen durch das religiöse Prinzip erstreckt. Religion ist nicht erst und allein in ihrem absoluten Vollzug sie selbst, sondern sie bedarf – wie die Wahrheit des Denkens – auch ihrer Transformation von Potentialität in Aktualität, um nicht als abstrakte jenseits der Konkretion, sondern realiter ihre Wirksamkeit zeitigen zu können. Für die Reflexion zerfällt dieser in sich eine, aus reflexiver Warte zwar geteilte, aber in seiner Differenz gleichzeitig in Identität stehende Vorgang des religiösen Vollzugs allerdings in zwei Momente, die in dem Auftreten von konkreter – aktueller – und absoluter – potentieller und aktualisierter – Religion ansichtig werden. Religion kann darum, weil sie das Verhältnis von absolut und konkret für beide Seiten des Verhältnisses darstellt, nicht in vom Konkreten aus betrachtet intransigent abstrakter Absolutheit verharren, sondern muss um ihres Verhältnischarakters willen eine konkrete Form annehmen, was ihr nicht anders möglich ist als in einem Eingehen in die Kultur und die die Kultur allererst ermöglichende Sittlichkeit. Jedwede Behauptung der Religion als eine allein im Zustand der Absolutheit existierende ist abzulehnen, da Religion sich nicht in reiner Potentialität erschöpft, sondern ihre Potentialität erst in der Aktualisierung eben ihrer Potentialität tatsächlich potentiell wird. Ohne Aktualisierung bleibt die Potentialität eine abstrakte Größe ohne wirkliche Bedeutung für das Absolute wie für das Konkrete. Mit anderen Worten: Der Tillich’sche Begriff der Lebendigkeit, der gerade das Absolute als Vollzugsbewegung auszeichnet, bedarf einer prozesshaften Bewegung und nicht starrer Abstraktheit.22 Diese Bewegung vollzieht sich kraft ihres Gegründetseins im Verhältnis von absolut und konkret nicht nur im Absoluten selbst, sondern erstreckt sich auf und durch das Konkrete, ohne jedoch ————— 22

Deshalb ist für Tillich Gott auch nicht als actus purus zu fassen.

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das Konkrete als solches dabei als bloßes Mittel des eigenen Vollzugs zu erfassen, da das Konkrete sonst nur zu einer notwendigen Materie des Absoluten degenerieren würde. Der Durchgang des Absoluten durch das Konkrete zu sich selbst zurück konstituiert allererst das Verhältnis zwischen absolut und konkret, das in der Religion zur Anschauung kommt, so dass – wie bereits gesehen – das Konkrete zum irreduziblen Bestandteil des Absoluten wird, so wie umgekehrt das Konkrete des Absoluten notwendig bedarf, um es selbst zu sein. In re, d.h. für das Konkrete, vollzieht sich das Konkrete an der Religion, ihre Wirkung oder Funktion, in Form der Religionsgeschichte, in der das religiöse Prinzip, also die absolute Seite der Religion, in die Kultur selbst eingeht und in ihr eine bestimmte, konkrete Form annimmt. Doch: „Nicht das religiöse Prinzip entwickelt sich; es ist der konstante Faktor der Religionsgeschichte, aber seine Erfassung durch die Freiheit“ (A §13; 301). Religion als Prinzip bleibt mithin absolut und erfährt im Durchgang durch die Religionsgeschichte keine Veränderung; die konkrete Form der Religion verändert sich hingegen mit jeder ihrer Fassungen innerhalb der Religionsgeschichte, so dass das religiöse Prinzip in unveränderter Form in entsprechender, je veränderter Erscheinungsvariante jeweils für die entsprechende Kulturphase expliziert wird.23 Eben dieses Eingehen der Religion als Prinzip in eine bestimmte Kulturform erfolgt immer durch eine bestimmte theistische Fixierung, d.h. im Rahmen einer konkreten Religion. Verbunden mit der Fixierung in religiöser Hinsicht ist immer eine bestimmte Fassung sowohl des Religionsbegriffs als auch damit verbunden des Gottesbegriffs.24 Dies bedeutet, dass das Verhältnis von absolut und konkret insofern eine Bestimmung erfährt, als Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstsein in eine bestimmte, fixe Konstellation treten, so dass das religiöse Verhältnis eine seiner potentiellen Bestimmungen aktualisiert. In der konkreten Religion tritt mithin das religiöse Prinzip gewissermaßen unter das Prinzip des Denkens und somit aus dem absoluten Wahrheitsprozess heraus, wodurch das Prinzip nicht mehr als Prinzip in absoluter Form vorstellig zu werden hat, sondern als die Funktion des Prinzips im Konkreten. Durch die Fixierung bestimmter Kulturformen in der konkreten Religion wird notwendig auch eine Fixierung des Gottesbegriffs und damit auch des Kultes bzw. all dessen, was mit der göttlichen Sphäre zu tun hat, vorgenommen. Dies führt zu der Bestimmung konkreter Handlungen, Verhaltensweisen, ja Personen als heilig. Tillich bringt den Begriff des Heiligen in Anschlag für alles, was „Gott zugehörig, von Gott angeeignet oder Gott dargeboten“ (A §13; 301) ist. Heiligkeit setzt somit eine be-

————— 23

Diese Konstellation repliziert sich beim späten Tillich in der Verhältnisbestimmung von Botschaft und Situation bzw. der Frage danach, wie das Kerygma christlichen Glaubens zu bestimmen ist; vgl. hierzu Kap. 3.1.2. 24 Vgl. A §13; 301: „In ihr [sc. der konkreten Religion] nimmt der Religions- wie der Gottesbegriff eine bestimmte Fassung an, eine bestimmte Art des Verhältnisses von Freiheits- und Abhängigkeitsbewußtsein, von absolutem und persönlichem Moment im Gottesbegriff.“

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stimmte Sphäre ein, die mit dem konkreten Gottesbegriff einer bestimmten Religion korreliert25 und die trotz aller Relativität in sich ein Prinzip gegen die Relativität, nämlich Gott, trägt. Das absolute Moment in der konkreten Religion, mithin ihr Prinzipcharakter, der in allen Konkretisierungsformen erhalten bleibt, beugt alles Relative – auch sich selbst! – unter den Gottesbegriff und macht es als Relatives ansichtig. In der Sphäre der Reflexion ist das Absolute als Absolutes nur in konkreter Fassung zugänglich, so dass es als in der Konkretion, also im Relativen, als Absolutes vorstellig zu werden hat – mit Tillichs Worten: als Heiliges, das unbeschadet seiner Relativität absolut gesetzt und damit der Relativitätssphäre enthoben ist.26 Das Annehmen des Heiligen in einer bestimmten konkreten Fassung bezeichnet Tillich als Glauben. Letztgenannter definiert sich somit nicht durch eine konkrete Denkform, sondern stellt als religiöse Funktion immer die Anwendung aller Geistesfunktionen auf das religiöse Objekt dar.27 Glaube und konkrete Religion sind deshalb abhängig von ihrer kulturellen Verwirklichung, oder positiv gewendet: das religiöse Prinzip ist so frei von jeglicher Relativität, dass es sogar die Unfreiheit der kulturell fixierten konkreten Religion zur Explikation ihrer selbst verwenden kann. In Reinheit wird die Prinzipialität der Religion im Idealreich vorstellig. Die konkrete Religion wurde als in der Aktualisierung der prinzipiellen Potentialitäten sich vollziehend erklärt. Die Aktualisierung aller Potentialität treibt hin zur Konstruktion eines Idealreichs, d.h. dem Inbegriff des absoluten Standpunkts, in dem alle Potentialitäten aktualisiert und alle Aktualisierungen potentiell sind. Der Weg zum

————— 25

Vgl. A §13; 302, wo Tillich das Auftreten des Heiligen in seinen diversen Verwirklichungen auflistet: „Heilig kann alles sein, was für die Beziehung zur Gottheit von Bedeutung werden kann: Heilige Gegenstände, Orte und Zeiten, an denen die Gegenwart der Gottheit erlebt werden kann, heilige Handlungen (Sakramente), in denen die Beziehung zur Gottheit zur Darstellung kommt oder hergestellt wird, heilige Gedanken, in denen die Gottheit erkannt wird (Dogmen), heilige Worte und Schriften, in denen sie sich offenbart hat (Offenbarung), heilige Gesetze, in denen die rechtlichen oder sittlichen Forderungen ihre religiöse Weihe erhalten (Gebote), heilige Menschen, die die Beziehung von Gott zu Mensch (Propheten) oder von Mensch zu Gott (Priester) vermitteln oder sich ganz Gott geweiht haben (Heilige), vor allem aber der bestimmte Heilige vieler Religionen, der alle diese Funktionen in sich vereinigt.“ 26 Dass auf der Basis Tillich’scher Argumentation das Heilige „gegen das Sittliche indifferent“ (A §13; 302) sein muss, verwundert genauso wenig wie das letztliche Zusammenfallen von Sittlichkeit und Religion, da ja Religion – auch bzw. gerade die konkrete – nicht umhinkommt, auf die Kultur in Art und Weise der Sittlichkeit einzuwirken. Sittlichkeit und Heiligkeit sind demnach austauschbare Begriffe, da Heiligkeit immer eine Kombination von Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstsein impliziert, die sich just in der Sittlichkeit expliziert. Der hamartiologische Zug, den Tillich in A §13 einzeichnet, erklärt sich aus einem Sündenverständnis, das Sündhaftigkeit als ein Sein wider Gott definiert und somit erst im rechten religiösen Verhältnis, also einem impliziten Prinzip der Selbstüberwindung, ein Freisein von der Sünde zu veranschlagen vermag. Detailliert wird die Sündenthematik in Kap. 1.3.1.2 behandelt. 27 Vgl. A §13; 302f: „Die Bejahung des Heiligen in einer bestimmten Form ist der Glaube. Der Glaube ist also die religiöse Funktion, angewandt auf eine konkrete Religion. […] Glaube ist darum […] nicht eine bestimmte Art oder Methode des Denkens, keine bestimmte Form des Fühlens oder Wollens, sondern er ist die Anwendung aller dieser Funktionen auf das religiöse Objekt“.

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Idealreich verläuft über den geschichtlichen Weg als dem Idealexempel für die äußerste Konkretisierung des Relativen, weil ja gerade hier die vollkommen relativen Kulturzustände einerseits geschaffen werden und andererseits in Ansicht kommen. Überblickbar wird der historisch sich vollziehende Ablauf allererst vom Endpunkt der Geschichte aus, also in dem Moment, in dem von Geschichte im eigentlichen Sinne nicht mehr gesprochen werden kann, da sie faktisch an ihr Ende gekommen ist. Die Konkretheit als Konkretheit, d.h. in ihrer Einzelheit und der damit zusammenhängenden Relativität, findet zusammen mit dem Geschichtsprozess, in dem sich eben die völlige Konkretisierung und Vereinzelung vollzieht, als ihrem höchsten Ausdruckspunkt ihr Ende und führt zum Idealreich – jedoch nicht in einem kontinuierlich weiterverlaufenden relativen Prozess, da dies dem Idealreich, das sich mithin durch seinen absoluten Status auszeichnet, widersprechen muss. Ein Geschichtsbegriff im eigentlichen Sinne wird also erst am und mit dem Ende der Geschichte, mithin im Idealreich möglich. Das Ende des Geschichtsprozesses ist die Voraussetzung für seine Wahrnehmung als solcher.28

Der bei Tillich zum absoluten Standpunkt synonyme Begriff der Intuition setzt demnach ein Stehen über dem gesamten absoluten Prozess als notwendig voraus, um vom Idealreich sprechen zu können. Wie zwischen Denken und Wahrheit einerseits eine Differenzbestimmung und andererseits ein Identitätsverhältnis auszusagen ist, so steht gleichfalls der historische Prozess mit dem absoluten in einem Doppelverhältnis: Zwar setzt sich der historische Prozess gerade als die Konkretisierung und somit der Inbegriff des Entgegenstehens gegenüber dem Absoluten mit dem Absoluten in eine unüberbrückbare Differenzbeziehung; vom absoluten Prozess aus betrachtet ist der historische Ablauf allerdings als um der Absolutheit des Absoluten notwendiger, ja als ihm zugehöriger Prozess veranschlagt, der nicht nur nicht wider sondern sogar innerhalb der absoluten Bewegung abläuft und daher in vollkommener Identität mit ihr steht.29 Findet durch den Konkretisierungsvorgang im Geschichtsablauf eine „Begriffsbewegung“ statt, „die von dem Unbestimmten zum Bestimmten führt“ (A §14; 303), so setzt der absolute Prozess am Ende der Geschichte eine umgekehrte Bewegung in Kraft, „die das Bestimmte zurückführt zum Unbestimmten“ ————— 28

Vgl. A §14; 303: „[N]ur wer am Ende der Geschichte steht, hat eine vollendete Geschichtsphilosophie, weil nun in ihm die Geschichte ganz offenbar geworden und darüber über sich hinaus gekommen ist. Geschichtsbegriff und Ende der Geschichte sind also prinzipiell identisch“. 29 Die Notwendigkeit des Geschichtsablaufs für den absoluten Prozess darf jedoch nicht als äußerer Zwang und somit als konsequente Auflösung des Absoluten als Absolutes – da es ja dann ob seiner Bedingtheit nicht mehr absolut zu nennen wäre – missinterpretiert werden, weil – wie schon das Denken innerhalb des Wahrheitsprinzips – auch der historische Prozess nicht als außerhalb oder parallel zum absoluten Prozess ablaufend vorstellig zu werden hat. Vielmehr handelt es sich analog der Schelling’schen Verhältnisbestimmung von Grund und Vollzug Gottes um einen einzigen innerhalb des Prinzips ablaufenden Vorgang, der sich nur für das ihn nachvollziehende Reflexionsvermögen in zwei einander gegensätzlichen Bewegungen expliziert.

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(ebd.). Jedoch ist die Umkehrung des Ablaufs nicht als schlichte Rückführung des Bestimmten in den Ausgangspunkt zu veranschlagen, sondern vielmehr als Weiterführung des Bestimmten in den eigentlichen Zielpunkt, das Unbestimmte, das sich jedoch als durch die Bestimmung hindurchgegangenes Unbestimmtes vom ursprünglichen Unbestimmten unterscheidet. Zwar suggeriert die temporäre Beschreibung des Prozesses einen tatsächlich zeitlichen Ablauf des Geschehens, der jedoch allenfalls als Moment des absoluten Vollzugs, der über jeglicher Zeitlichkeit stehend zu begreifen ist, bezeichnet werden kann. Das Unbestimmte als Ausgangspunkt und das Unbestimmte als Zielpunkt des Bestimmten koinzidieren letztlich im absoluten Prozess. Für den Religionsprozess bedeutet der Übergang zum Idealreich eine Rückführung der konkreten Religion in die absolute – jedoch auch hier wieder in gleicher Weise wie bei der Überführung des Bestimmten in das Unbestimmte nicht in Form der Aufhebung der konkreten Religion als solcher. Im Idealreich wird das „absolut religiöse Verhältnis zu Gott“ (A §14; 304) eingenommen, indem die Selbstbestimmung des Geistes als solche nicht mehr Selbstbestimmung zu nennen ist, da im Stehen innerhalb des absoluten Prozesses letztlich Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstsein sich in ihr originäres, identisches Verhältnis begeben, so dass auch hier die Devise gilt, dass auf dem absoluten Standpunkt jede Möglichkeit zur Notwendigkeit wird, so dass das Bewusstsein um Freiheit und Abhängigkeit im Stehen innerhalb des absoluten Prozesses ein und dasselbe ist. Dies folgt daraus, dass das Verhältnis von absolut und konkret im Idealreich in die Absolutheit – in differenzierter Identität – aufgehoben wird, was ein Verständnis der Religion, die dieses Verhältnis zum Inhalt hat, in rein prinzipieller Hinsicht ermöglicht. Kurz gesagt: Die Religion geht auf dem absoluten Standpunkt von ihrer konkreten Fassung in die absolute über, jedoch nicht so, dass die konkrete Religion egalisiert würde, sondern derart, dass die konkret gefasste Religion in der absoluten Fassung enthalten vorstellig zu werden hat. Für das Verhältnis von heilig und unheilig zeitigt der Übergang in das Idealreich die Konsequenz, dass von Unheiligkeit ebenso wenig gesprochen werden kann wie von Unwahrheit und Unfreiheit. Das Heilige findet sich immer schon im absoluten Prozess stehend vor und tritt nicht in konkretisierter Form aus ihm heraus, so dass sich der absolute Standpunkt dadurch auszeichnet, „ohne Autorität und Dogma, ohne Priester und Sakrament, ohne Prophet und Offenbarung“ (A §14; 304) zu sein, da eine Vermittlung von absolut und konkret hier schlechterdings hinfällig geworden

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ist.30 Die Objektfixierung der konkreten Religion fällt auf dem absoluten Standpunkt dahin.

Das alle Gegensätze aufhebende System kann Tillich letztendlich als „absolute Mystik“ (These zu A §15; 305) bezeichnen. Die Mystik steht gewissermaßen über dem sich unter dem Prinzip in Reinheit vollziehenden absoluten System und bringt – im Gegensatz zum Prinzip allein – nicht die Voraussetzungen des Systems bzw. seine Explikation und Konstruktion, sondern vielmehr seine Vollendung in Ansicht.31 Prinzip und Mystik sind in einem räumlichen Bild gesprochen gewissermaßen als die rahmenden Eckpfeiler zu bezeichnen, zwischen denen sich das System ausspannt und erstreckt. Prinzip und Mystik bilden zusammengenommen den Ausgangsund Zielpunkt für das System, jedoch so, dass beide letztlich aufgrund ihrer Absolutheit geeint sind im absoluten Standpunkt und nur den durch das zwischen ihnen befindliche System entstehenden Hiat von Voraussetzung und Vollendung versinnbildlichen. Setzt das Prinzip alles aus sich selbst heraus und ermöglicht allererst den systematischen Vollzug, so begreift die Mystik diesen Vollzug unter sich und führt ihn zurück in die prinzipielle Einheit. Die Mystik ist mithin der einende Faktor, der in Einheit führt, was sich in Zweiheit aus dem Prinzip heraus entwickelt hat. Für das System bedeutet dies, dass die Mystik immer über den einzelnen Bestandteilen des Systems steht, präziser: sie übersteigt und eint. Betreffs des Geistes führt dies dazu, dass die Mystik seinen höchsten Entwicklungsstand, die Geschichte,32 überragt und andererseits zur Voraussetzung hat, so dass die Mystik letztlich weder geschichtlich, noch ungeschichtlich, sondern „übergeschichtlich“ (A §15; 305) ist. Gleiches gilt für die Natur, zu der die Mystik in ihrem einenden Charakter zwar eher neigt, die sie aber ob ihres Bezugs zur Geschichte als Voraussetzung ihrer selbst nicht in Festlegung annehmen kann, wodurch die Mystik auch hier wieder jenseits aller Natur steht und als supranatural zu klassifizieren ist.33 Ihr Über- bzw. Sup————— 30

Demnach ist „[i]n der Vollendung […] alle Kultur religiös, alle Kunst Kultus, alle Wissenschaft Dogma, Staat und Kirche eins und die ethische Stellung zur Wirklichkeit ist vollkommen eingegangen in die religiöse, ist Frömmigkeit schlechthin.“ (A §12; 300) Alles, was in seiner Konkretheit noch in seine beiden Pole zerfällt, ist auf dem absoluten Standpunkt bestimmt durch das religiöse Prinzip und deshalb trotz der Differenz in Identität stehend. 31 Vgl. A §15; 306: „Die Mystik ist das Erleben des Prinzips, wenn es erfüllt ist mit der unendlichen Fülle des Systems.“ 32 Das Geschichtliche als die höchste Entwicklungsstufe des Geistes bleibt im Denken Tillichs bis in sein Spätwerk hinein erhalten. Ersichtlich wird dies in Sonderheit anhand der Geist- und Eschatologiefassung, die sein System im dritten Band der späten ‚Systematische[n] Theologie‘ erhält. 33 Vgl. A §15; 305: „[D]ie Mystik kehrt nur zur Natur zurück, sie ist darum nicht Naturalismus; denn sie kann ihre Voraussetzung, von der sie herkommt, die Geschichte, nie verleugnen; sie ist nicht natural, sondern supranatural, in gleicher Weise übernatürlich, wie übergeschichtlich.“

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rasein bezüglich Natur und Geschichte resp. Geist führt dazu, dass die Mystik frei von und „frei für beide“ (A §15; 305; Hervorhebung S.D.) ist,34 ja die Mystik ist sogar absolut frei, also auch über die für die Freiheit unter relativen Kategorien zu veranschlagende Selbstbestimmung erhaben. Dies bewirkt, dass die Mystik ihr Verhältnis zur Freiheit ebenso wie zu Natur und Geschichte zu bestimmen vermag: „Sie ist übersittlich“ (A §15; 306).35 Die Mystik schließt mithin als allumfassende alle anderen Momente – Geschichte, Natur, Kultur, Sittlichkeit – in und unter sich ein, steht somit über allen Einzelmomenten ihrer selbst und ist vollendet. Hat die Mystik eine Position am Ende jeglicher Prozesse inne, ohne jedoch die einzelnen Teilprozesse ihrer selbst zu verneinen, sondern sie unter sich zu integrieren, so ist die Religion ihr noch aktiver, d.h. im Prozess befindlicher Teil,36 der sich mit allen Momenten, über denen die Mystik steht, in Auseinandersetzung befindet und derer sie zur ‚Selbstkonstitution‘ bedarf. In Sonderheit der enge Bezug der Religion zur Sittlichkeit, nämlich „daß in der Religion die Freiheit zugleich sich selbst behauptet, unterscheidet die Religion von der Mystik“ (A §15; 306). Mit anderen Worten setzt die Religion – besonders eben in der Selbstbehauptung der Freiheit – noch die Trennung der Einzelmomente der Mystik voraus, weshalb Tillich von der Mystik sagen kann, sie finde „in der Religion sich selbst, aber als werdende, ringende, nicht als vollendete.“ (A §15; 306) Die Religion befindet sich fortwährend im Zustand des Aufhebens der Einzelkomponenten in das Absolute, jedoch so, dass dieser Vorgang immer als im Prozess befindlich, nie in Vollendung zu denken ist. Religion und Mystik betrachten sozusagen dasselbe ‚Geschehen‘ aus zwei Perspektiven: die Religion von ‚unten‘, zwar absolut, weil in Aufhebung befindlich, aber nie vollendet, die Mystik von ‚oben‘, ‚absolut ————— 34

Vgl. A §15; 305f: „Und sie [sc. die Mystik] stellt sich hinein in den Prozeß der Kultur, aber nicht wie die Freiheit schöpferisch, die Natur zur Freiheit erhebend, sondern anschauend, miterlebend, und doch immer zugleich darüberstehend, nie gebunden an einen Gegenstand, ein Kunstwerk, ein System, einen Staat; daher sie oft gleichgültig erscheint gegen alle Kultur, während doch nur das Teilnehmen an aller Kultur sie hindert, sich einem ganz hinzugeben.“ 35 Mystik ist mithin in der Lage, zwar teilzunehmen und teilzuhaben an den sittlichen Akten und trotzdem oberhalb der Sittlichkeit angesiedelt zu sein und ihr selbst somit nicht zu unterliegen; vgl. A §15; 306: „Und darum ist das sittliche Handeln als Handeln, als geistiger Akt Gegenstand der Mystik, wie jeder andere Akt, sie betrachtet ihn ästhetisch, miterlebend, verstehend, wissenschaftlich, aber nicht sittlich, nicht sich selbst im Miterleben dem positiven oder negativen Urteil unterstellend.“ 36 Insofern impliziert Religion immer auch, wie Christian Danz formuliert, ein „Gegenstandsbewusstsein“ (Christian Danz, Glaube und Autonomie. Zur Deutung der Rechtfertigungslehre bei Karl Holl und Paul Tillich, in: ders./Werner Schüßler/Erdmann Sturm [Hg.], Wie viel Vernunft braucht der Glaube? [Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung. International Yearbook for Tillich Research. Annales internationales de recherches sur Tillich, Bd. 1/2005], Wien 2005, 159–174, hier: 172).

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Das Absolute als notwendiger Ausgangspunkt der Systemkonzeption

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absolut‘, weil Inbegriff der Aufhebung aller Gegensätze, und somit vollendet. Die Religion betont also den dynamischen, die Mystik den statischen Aspekt. Ohne dass Tillich es explizit nennt, lässt sich die Mystik folglich gewissermaßen als die ‚vollendete Religion am Ende des Geschichtsprozesses‘ bezeichnen.37

1.2.3 Der relative Standpunkt 1.2.3.1 Reflexion und Intuition Tillich bestimmt das Absolute als den schlechthinnigen und einzig möglichen Ausgangspunkt der Systemkonzeption. Somit geht der absolute Standpunkt dem relativen immer mit Notwendigkeit voraus,38 da nur unter diesen Umständen der relative Standpunkt als Widerspruch zum absoluten Standpunkt erklärlich wird. Allezeit setzt der relative Standpunkt den absoluten voraus, um überhaupt einen Part, zu dem er in Widerspruch stehen kann, zu haben. Als relativer Standpunkt ist er zugleich immer auch der Standpunkt der Reflexion, die in höchstem Maße Relativität als Relativität, nämlich als konkret Einzelnes, repräsentiert.39 Auch an dieser Stelle zeigen sich wieder die Parallelen zum Beziehungsverhältnis von Wahrheit und Denken: Ebenso wie das Denken gegenüber der Wahrheit ist der relative Standpunkt in seinem Vorhanden- und So-Sein allererst erklärlich durch den ihn konstituierenden absoluten Standpunkt. Das, wogegen der Widerspruchscharakter des relativen Standpunkts sich richtet, setzt stets eine Basis voraus, von der anhebend sich Opposition überhaupt erst bilden kann. Der Standpunkt der Relativität oder Reflexion ist somit ohne sein Herausgesetztwerden aus dem absoluten Standpunkt, dem er trotz seiner eigentlichen Integration in den absoluten Standpunkt ————— 37

Ableiten lässt sich diese Definition aufgrund der Gleichsetzung der Mystik mit dem absoluten System bei Tillich; vgl. A §15; 306: „Das absolute System selbst ist absolute Mystik oder das Bewußtsein des Denkens in allem Bestimmten und über allem Bestimmten, eins zu sein mit der absoluten Wahrheit.“ Eben dies bezeichnet nichts anderes als die Vollendung der Religion, indem sowohl ihr prinzipieller absoluter als auch ihr wirkender konkreter Pol im Absoluten als geeint vorstellig werden, mithin die Identität von Identität und Differenz darstellen. 38 An dieser Stelle lässt sich wiederum das implizit bei Tillich vorhandene, von Schelling übernommene Prinzipiengefälle beobachten. Tillich spricht zwar auch beim Verhältnis von absolutem und relativem Standpunkt nicht von einer ausdrücklichen Prävalenz des absoluten Standpunkts, allerdings gesteht er ihm vermittels seines beständigen Insistierens auf der Notwendigkeit, die Systemkonzeption vom Absoluten her vorzunehmen – was schon aufgrund der Aporien, die sich das Denken selbst aufgibt, gefordert ist (vgl. insbes. Kap. 1.1.3 und 1.2.1) –, indirekt in systemkonzeptioneller Hinsicht immer den Vorrang zu. 39 Dies wird schon in der These zu A §16 deutlich: „Dem absoluten Standpunkt steht gegenüber der Standpunkt der Relativität oder Reflexion“ (307).

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kraft seiner Charakterisierung als Widerspruch gegenübersteht, gar nicht möglich. Anders formuliert nimmt der relative Standpunkt immer schon einen Platz innerhalb des absoluten Standpunkts ein und verkörpert damit ein Moment desselben, wodurch die Relativität einerseits in jedem Moment einen Teil des absoluten Standpunktes darstellt, andererseits sich aber immer auch als gegen den absoluten Standpunkt gerichtet fasst. Im Vorhandensein des Relativitätsstandpunkts fallen somit in Analogie zum Verhältnis vom Denken zur Wahrheit seine Berechtigung – qua seines Herkommens vom absoluten Standpunkt – und sein Charakter als Fremdkörper im absoluten Standpunkt – aufgrund seines Herausgetretenseins aus dem absoluten Vollzug – zusammen und werden gleichsam getragen vom absoluten Standpunkt.40 Der Widerspruch des Reflexionsstandpunkts expliziert sich im Auseinanderfallen der im absoluten Standpunkt geeinten Teile, die in differenzierter Spannung zueinander stehen. Am grundlegendsten und zugespitztesten kommt dies in der Trennung von Wahrheit und Denken bzw. absolutem und relativem Standpunkt selbst zum Ausdruck. Alle sonstige Einzelheit tritt unter der Perspektive der Reflexion immer in Differenz zum einenden Absoluten, so dass schlechterdings eine Trennung statthat zwischen dem Bereich des Denkens, das alle ihm zugängliche Einzelheit und Konkretheit umfasst, und dem absoluten Vollzug, der sich idealiter in der Intuition äußert, die entsprechend der absoluten Mystik alles unter sich hat und somit ohne bestimmte Fixierung an allen Bestandteilen des absoluten Systems teilhat, ohne der mit der reflexiven Fixierung gegebenen Relativität der Einzelentitäten anheim zu fallen. Kann die Intuition die in Identität geeinten differenten Pole noch durch ihren Absolutheitscharakter, mithin dem Freisein von und für beide Pole, als absolute Einheit nachvollziehen, so kommt das immer objektivierende Denken nicht umhin, die in prozessualer Form ablaufende Begriffskette durch Fixierung zu durchbrechen und die Einzelobjekte in Differenz zum absolut ablaufenden Prozess zu fassen. Dies zeitigt zur Konsequenz, dass jedweder Anspruch auf Absolutheit für das Denken automatisch in kristalline Abstraktheit umschlägt, weil sich das Denken nur in der Festlegung auf eine Subjekt-Objekt-Struktur, nicht aber kraft ————— 40

Vgl. A §16; 307: „Insofern das absolute System das einzelne, das Relative setzt […], bejaht es den Standpunkt der Relativität und gibt ihm eine Existenz im System. Insofern es alles Relative aufhebt in die absolute Einheit, verneint es den Standpunkt der Relativität und gibt ihm keine Existenz im System. Der Standpunkt der Relativität ist also zugleich im System und gegen das System; er ist nur möglich aufgrund dessen, dem er widerspricht; er hat also zum absoluten System genau das gleiche Verhältnis, das das Denken zur Wahrheit hat, das dialektische, und ist nur die vollendete Verwirklichung dieses Verhältnisses“.

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eines prozessualen Ablaufs zu vollziehen vermag.41 Da somit alle auf dem absoluten Standpunkt im absoluten Prozess geeinten und aufgehobenen Pole für das den relativen Standpunkt bestimmende Denken zu abstrakten Fixierungen erstarren, kann Tillich den relativen Standpunkt auch als den „Standpunkt der abstrakten Reflexion“ (A §16; 307; Hervorhebung S.D.) bezeichnen. Der Standpunkt der Relativität erstreckt sich entsprechend seiner Definition als Standpunkt der Reflexion über alles hin, was in den Bereich des Denkens fällt oder ihm untergeordnet ist. Was die subreflexiven Entitäten anbetrifft,42 so sind sie zwar in ihrem Selbstverständnis – sofern ihnen ein solches zugerechnet werden kann – als Individuen zu klassifizieren, werden sich aber mangels eines Reflexionsvermögens ihrer Individualität und Konkretheit nicht derart inne, wie dies dem sich kat’ exochen durch Reflexivität auszeichnenden Menschen zuzusprechen ist.43 Nur hier – und speziell in Form des Geistes bzw. der Freiheit – ist die Vereinzelung so auf dem höchsten Punkt angelangt, dass sie sich einerseits als Einzelheit erkennt und sich darüber hinaus in eben dieser Einzelheit fraglich wird – mit anderen Worten: das Reflexionsvermögen wendet seine eigenen Denkoperationen auf sich selbst an, ohne sich dabei im Rahmen seiner Möglichkeiten einer Antwort zuführen zu können. Die Bestimmung des relativen Standpunkts als des in die Sphäre der Reflexion fallenden, ja sie repräsentierend und gegenüber dem absoluten Standpunkt in Widerspruch explizierend, schlägt sich auf die verschiedenen Geistesfunktionen nieder. Dieses Verhältnis von Reflexion gegenüber allen

————— 41

Genau genommen schlägt sich die Objektivierung alles Vorfindlichen durch das Denken in gleicher Weise auf das denkende Subjekt selbst nieder, so dass – wie in der Selbstbestimmung – durch die Setzung der Außenwelt gleichsam das denkende Ich mitbestimmt wird. Denken kann in seinem individuellen Charakter nicht anders als innerhalb der Subjekt-Objekt-Struktur zu verfahren; sie ist dem Denken mit seinem eigenen Vorhandensein vorgegeben, wie ja auch das Denken sich in seiner Selbstbestimmung als reines Objekt seiner selbst zu behandeln versucht und sich deshalb unausweichlich in Aporien verstrickt, weil ein Zugang im Rahmen einer prozessualen Erfassung außerhalb seiner Möglichkeiten steht. Tillich formuliert hierzu in A §16; 307: „Es ist der Standpunkt des Denkens, das sich nicht hineinstellt in den lebendigen Fluß der Begriffe, sondern bei einem bestimmten Begriff, einem einzelnen, stehen bleibt und von ihm aus und nur in Beziehung auf ihn denkt. Es ist die abstrakte Subjektivität eines einzelnen Denkens, das alles andere als bloßes Objekt setzt, von dem aus nur ein Reflex ins Subjekt fällt“. 42 Tillich dürfte hier tatsächlich alles in der sinnlich wahrnehmbaren Welt Vorgegebene, mithin gleichfalls Organisches wie Anorganisches, einschließen, wie es etwa auch in seiner späten Konzeption in ST III, 28–32 der Fall ist. 43 Vgl. A §16; 307: „Für jedes einzelne, das im absoluten System aufgehoben ist in die Einheit, gibt es diesen Standpunkt [sc. den der abstrakten Reflexion]; vollendet verwirklicht ist er aber nur auf dem Boden der Freiheit, im Menschen, weil dort die Einzelheit vollendet ist“.

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Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips

auf dem absoluten Standpunkt geeinten Teilen gilt es im Folgenden einer näheren Analyse zuzuführen.

1.2.3.2 Konsequenzen der Reflexion auf dem relativen Standpunkt Die Anwendung der Denkfunktion auf die im absoluten Standpunkt in Identität stehenden Bereiche des Systems führen erstens (1) zum methodischen Problem des Systemansatzes auf Grundlage eines deduktiven oder induktiven Verfahrens, zweitens (2) im Bereich der Natur zum Problem des physischen und psychischen Bestimmtseins durch die konkret vorfindlichen Kategorien, drittens (3) im Hinblick auf den Geist zur problematisch werdenden Selbstbestimmung als Freiheit, die sich in dem Dilemma von Determinismus und Indeterminismus äußert, und viertens (4) zum Auseinanderfallen und damit zur Auflösung der drei Geistesfunktionen, die sich in Kultur, Sittlichkeit und Religion explizieren. Als fünfter Punkt (5) lässt sich gewissermaßen als Summe der vier erstgenannten Konsequenzen, die mit dem Denken einhergehen, das Auseinanderbrechen der Mystik als dem Inbegriff des absoluten Vollzugs veranschlagen. (1) Der relative Standpunkt ist bestimmt durch das Reflexionsvermögen und die mit ihm verbundene Subjekt-Objekt-Struktur. Aufgrund dessen ist der Gegensatz von absolut und konkret eine automatische Folge des relativen Standpunkts. Da sich in methodischer Hinsicht die Intuition gerade dadurch auszeichnet, über der Fixierung auf ein Subjekt-Objekt-Schema zu stehen und alle ablaufenden Begriffsbewegungen in ihrem Fluss zu betrachten, so wird ihr absolutes Vorgehen mit dem Auseinandertreten von absolut und konkret auf dem Reflexionsstandpunkt eo ipso verunmöglicht – die absolute Methode ist vom Denken schlechterdings nicht durchführbar.44 Dem Denken bietet sich nur die Möglichkeit, in seiner Systemkonzeption entweder beim Absoluten oder beim Konkreten anzusetzen; die einende Perspektive, die absolut und konkret in ihrem genuinen Wechselverhältnis betrachtet, ist ja als Möglichkeit ausgeschlossen. Dies führt zu der Alternative eines deduktiven oder induktiven Vorgehens. Beide Verfahrensweisen stellen jedoch nur die aus der Absolutheit herausgetretenen und somit abstrakten Pole des eigentlich einen und einenden Systems dar, so dass sowohl Induktion wie auch Deduktion ihrem eigentlich Ziel, der Wahrheitserkenntnis, nicht gerecht werden, ja ihm ob ihres Ansatzes auf dem relativen Stand-

————— 44

Vgl. A §17; 308: „In demselben Augenblick, wo der Gegensatz von abstrakt und konkret hervortritt, ist die absolute Methode zerstört.“

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punkt gar nicht gerecht werden können.45 Ist die Wahrheit mithin auf der Grundlage reflexiver Methodik nicht erreichbar, so führt eben dies zu einem Zweifel an der Wahrheit selbst, weil sie als telos jedweden reflexiven Bemühens nicht nur nicht erreicht wird, sondern als Ziel überhaupt fraglich wird. Die Konsequenz ist „prinzipieller Zweifel oder die Skepsis“ (A §17; 309), wodurch sich aber im Verweis auf das Wahrheitsprinzip das Denken selbst zweifelhaft wird, da es notwendig in letzter Konsequenz den Zweifel als Wahrheit setzen muss.46 (2) In der relativen Sphäre bleibt das denkende Subjekt immer gebunden an die ihm immer schon vorgegebenen apriorischen Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität. Tillich rezipiert hier die von Kant bestimmten Formen des äußeren und inneren Sinnes und expliziert sie in dessen Sinne als räumliches Nebeneinander bzw. zeitliches Nacheinander und den Zusammenhang der Entitäten untereinander. Alle Kategorien wirken als solche auf jedwede existierende Einzelheit ein. Dies wird selbst auf dem absoluten Standpunkt nicht geleugnet, allerdings werden die Kategorien in ihrem Rang nur als untergeordnet unter den alles umfassenden absoluten Prozess vorstellig, so dass sich ihre direkte Wirkung auf die Einzelentitäten relativiert. Die Relativität, die den Kategorien mithin zukommt, wird nun auf der Grundlage des relativen Standpunkts verabsolutiert, indem in der Selbstbestimmung des Subjekts als solchem die Kategorien in Anschlag gebracht ————— 45

Dass die Deduktion im Gegensatz zur Induktion tendenziell die ‚richtigere‘ bzw. aus Tillichs Sicht ‚wahrere‘ Methode darstellt, ergibt sich aus ihrem Ansetzen beim Absoluten; jedoch zeigt sich als Mangel des deduktiven Vorgehens, dass es seinen Ausgang zwar vom Absoluten zu nehmen versucht, dies allerdings auf der Basis der Reflexion vollzieht und somit dem unüberbrückbaren Bruch zwischen absolut und konkret anheim fällt, der auf der Grundlage eines reflexiven Bemühens überwunden werden soll, was als Möglichkeit schlechterdings ausgeschlossen ist. Darüber hinaus möchte die Deduktion sozusagen ‚nur‘ beim Absoluten ansetzen und verfehlt damit aus absoluter Sicht wiederum das eigentliche Anliegen des Absoluten, das auf dem absoluten Standpunkt eben ausschließlich in seinem originären Verhältnis zum Konkreten betrachtet werden kann, so dass die Fixierung auf einen der beiden Konstituenten des absoluten Standpunkts nie zum Ziel der Wahrheitserkenntnis gelangen kann. Tillich erörtert das Misslingen der Deduktion anhand des Scheiterns der idealistischen Versuche, in Sonderheit Hegels, ein absolutes System zu entwerfen. In der Absolutsetzung eines bestimmten Systems wird das Absolute immer nur in abstrakter Weise berücksichtigt, d.h. der Wahrheitsanspruch und die Systemnotwendigkeit des gesamten relativen Standpunkts wird schlicht negiert oder ausgeblendet, so dass eine Verkürzung des tatsächlichen absoluten Systems um die komplette Sphäre der Reflexion statthat (vgl. A §17; 309). Was die Induktion, also das Ansetzen beim Konkreten, betrifft, so steht sie ob der Notwendigkeit, die Systemkonzeption immer beim Absoluten zu beginnen, jenseits jeglicher Möglichkeit, die Wahrheit zu erreichen. Allerdings ist der Induktion zuzugestehen, dass sie konsequent auf dem Boden des relativen Standpunkts verfährt und somit dem Denken als Denken gerechter wird, als dies die Deduktion vermag. 46 Vgl. A §17; 309: „Aber wieder zeigt sich in dieser letzten Konsequenz des Reflexionsstandpunktes [sc. im prinzipiellen Zweifel bzw. der Skepsis] seine Dialektik, daß er nicht sein kann, ohne die Wahrheit. Der prinzipielle Skeptiker setzt den Zweifel als Wahrheit“.

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werden zum Vollzug und zur Konstitution der Einzelheit als Einzelheit. Es lässt sich gewissermaßen von einer Verwendung der Kategorien als Mittel zur Selbstkonstitution sprechen, die allerdings zur Folge hat, dass die Mittel selbst zur unverzichtbaren Voraussetzung des Selbst werden und somit nicht mehr relativ, sondern in absoluter Setzung schlechterdings unabdingbar sind, mithin verabsolutiert werden.47 Just dadurch kommt das so sich bestimmt habende Individuum nicht umhin, den Kategorien in ihrem Absolutheitscharakter zu unterliegen und den damit verbundenen Konsequenzen ausgesetzt zu sein. Das dem Einzelnen gegenüberstehende raumzeitlich Andere, mit dem es in Kausalität verbunden ist, wird somit für das Einzelne zum „Leiden“ und „Tod“ (A §18; 310). Das Absolute wird vom Einzelnen nun nicht mehr als die einende Identität erlebt, sondern bewirkt in der als solcher wahrgenommenen eigenen Partikularisierung samt der mit ihr einhergehenden physischen Bedrohung durch das Andere eine Vernichtung des Einzelnen durch das übermächtig gewordene Absolute, das eigentlich die Bedingung der Möglichkeit der Einzelheit ist und in sich trägt. Was eigentlich existenzspendender Grund ist, wird von der in sich eingeschlossenen Einzelheit als vernichtende Bedrohung wahrgenommen. Eine höhere Einsicht in das eigene Wesen ist dem Denken in geistiger Hinsicht auf dem Reflexionsstandpunkt nach Tillich nicht möglich, der den Kulminationspunkt dieser Entwicklung im „Pessimismus“ (A §18; 310) bei Schopenhauer und im Buddhismus erblickt, da der Pessimismus „ihn [sc. den relativen Standpunkt] durchschaut“ (A §18; 310) hat. Der seiner Einzelheit und damit seiner eigenen Relativität inne werdende subjektive Geist kann nicht weiterkommen als zur völligen Selbstnegierung. Der Geist erkennt sich als schon in seiner Selbstbehauptung unfrei und ob dem strictissime zu negieren, ist jedoch nicht in der Lage, von sich selbst loszukommen, weil hierfür Freiheit die notwendige Voraussetzung darstellt, als derer ermangelnd der Geist sich ja jederzeit erkannt hat und erkennt. Als zu jeder Zeit unfreier möchte der Geist von sich loskommen, vermag dies aber ob genau derselben Unfreiheit in keinem Moment. Bis zu diesem Punkt kann der Pessi————— 47

Vgl. A §18; 309f: „Auch im absoluten System haben diese Formen [sc. von Raum, Zeit und Kausalität] ihren Platz, aber als untergeordnete, aufgehobene durch die höheren Kategorien des Organischen und Geistigen. Das ist das Eigentümliche des Reflexionsstandpunktes, daß er diese Formen, in denen das einzelne als einzelnes seine Selbstbehauptung hat, verabsolutiert; dadurch gewinnen diese Formen eine Macht über das einzelne, die ihnen an und für sich nicht zukommt und in der sich das tiefe Unrecht dieses ganzen Standpunktes offenbart.“ Höher sind die von Tillich angeführten Kategorien „des Organischen und Geistigen“ insofern, als hierbei an den in einem Fluss, mithin organisch, ablaufenden absoluten Prozess zu denken ist, der als geistig zu bestimmen ist, da es ja gerade den Geist bzw. die Freiheit in absoluter Form auszeichnet, sich in den absoluten Prozess hineinzustellen und nicht ihm gegenüber zu stehen, wie dies beim selbstbestimmten Einzelnen der Fall ist.

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mismus vordringen, ohne jedoch seine Situation einer Lösung zuführen zu können – zu sehr ist die Einzelheit in seine eigenen Bedingungen und Bedingtheiten verstrickt. Sie ist schlechterdings handlungsunfähig, da sie als die völlig unfreie zu bestimmen ist.48 (3) Freiheit als solche wird – und hier ist der dritte Punkt der obigen Aufzählung erreicht – auf dem relativen Standpunkt immer zu einer abstrakten Größe, weil das verobjektivierende Denken sich nur in der Setzung der Dinge, nicht im Hineinstellen in ihren Fluss verwirklicht und daher die ebenfalls nur im Prozess als solche ansichtige Freiheit abstrakt den Einzelbegriffen gegenüberstellt. Freiheit ist auf dem Standpunkt der Relativität bestenfalls in Form einer bestimmten Freiheit, d.h. in der Festlegung einer Einzelausprägung der Freiheit innerhalb des freiheitlichen Prozesses, zu haben. Als solche ist sie allerdings nicht mehr Freiheit und ihre einzige tatsächliche Form, die absolute, muss dem Denken zwangsläufig als abstrakt erscheinen. Der Hiat zwischen absoluter Freiheit auf der einen und relativer, faktisch unfreier Freiheitssetzung auf der anderen Seite führt entweder zur Feststellung, eines deterministischen Festgelegtseins der Einzelerscheinungen durch die absolute Freiheit oder – bei Betonung des Selbstbestimmungsmomentes gegenüber des Selbstaufhebungsmomentes in der Selbstkonstitution des Denkens – zur indeterministischen Beliebigkeit, die allerdings letztlich den Freiheitsbegriff als solchen aufhebt. Widerspricht der Indeterminismus in abstracto dem freiheitlichen Grundprinzip, so beachtet der Determinismus nicht, dass Freiheit sich nie fixieren lässt und deshalb immer ein „Hinauskommen über jede Umittelbarkeit“ (A §19; 311) ist,49 weshalb der Determinismus als Fixierung der Freiheit auf alles Vorfindliche sowohl dem Lebendigkeitscharakter des absoluten Systems als auch der Definition der Freiheit als differenzierte Einheit von Selbstbestimmung und Selbstaufhebung strikt zuwider läuft. (4) Für den kulturellen Bereich bedeutet dies, dass die sachliche Kultur Zweck und nicht nur Mittel der Freiheit wird, wodurch die Freiheit selbst zum Mittel der Kultur verkommt. Die objektive Kultur verfällt in Form des Staates als eine dem Begriff analoge Einheit von Mannigfaltigkeit ebenfalls der Subjektivität des Reflexionsstandpunktes und wird absolutistisch. Im Bereich der subjektiven Kultur wird die Kunst entweder eine „abstraktidealistische“ (A §19; 312), wenn – wie oben geschildert – die Freiheit zu etwas Abstraktem wird, oder eine „ideelos oder skeptisch-realistische“ (A ————— 48

Vgl. A §18; 310: „Auf dem Standpunkt der Reflexion aber hat die Freiheit sich selbst verloren.“ Diese Denkstruktur Tillichs lässt sich auch in seinem späteren sinntheoretischen Konzept identifizieren. Zum differenzierten Zusammenhang von absolutem Sinn und konkretem Sinnvollzug vgl. Kap. 2.3.

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§19; 312), wenn sich die Freiheit an ein bestimmtes Kulturobjekt bindet und somit ihren Absolutheitsbezug verliert. Wie schon für die Induktion und den Determinismus dargestellt, gilt auch für den Realismus die größere Nähe zum relativen Standpunkt, wobei auch der Idealismus eine Erscheinungsform des relativen Standpunktes ist und keinesfalls mit dem absoluten Standpunkt identifiziert werden darf.50 Die Kunst kann somit bestenfalls – wie das Denken zum Pessimismus – zur „ästhetischen Dekadence“ (A §19; 312) vordringen. Gleichsam wie die Kultur zerfällt auch die Sittlichkeit auf dem relativen Standpunkt, indem Sittlichkeit entweder in prinzipieller Hinsicht oder als konkrete Realisierungsform anhand einer Einzelbegebenheit auftritt und sich somit in „abstrakt-gesetzliche und individualistische Ethik“ (A §20; 312) aufspaltet.51 Die erste, auch als „pharisäische Form“ (A §20; 312) bezeichnet, veranschlagt die absoluten sittlichen Kategorien als gültig, vergisst aber – entsprechend dem idealistischen System beim Streit um Determinismus und Indeterminismus – auf die konkreten Bezüge einzugehen, wohingegen die zweite Form als „libertinistische[.] oder heidnische[.]“ (A §20; 312) sich von ihrer Fixierung und Fixiertheit auf das Konkrete nicht zu lösen vermag und so dem absoluten Anspruch nicht gerecht werden kann. Beide abstrakten Pole des Sittlichen depravieren letztlich zu einem sittlichen Relativismus, der nicht dem eigentlichen Begriff von Sittlichkeit – mithin dem damit verbundenen Begriff der lebendigen Freiheit – entspricht. Beide Sittlichkeitsformen, die der relative Standpunkt hervorbringen kann, sind letztlich unsittliche Surrogate der eigentlichen Sittlichkeit. ————— 50

Jedoch lässt sich auch hier anwenden, was bereits früher angemerkt wurde: Die Äquivalente, die ihren Ausgangspunkt beim Absoluten nehmen, d.h. Deduktion, Determinismus und Idealismus, können bei Tillich trotz dem, dass sie ausschließlich auf dem Standpunkt der Relativität in Trennung von ihrem entsprechenden Gegenpol auftreten, eher Anspruch darauf erheben, dem absoluten System näher zu stehen, eben weil sie ihren Ausgang vom Absoluten her nehmen – wenn dieses Absolute auch abstrakt als vom Konkreten losgelöst missinterpretiert ist. 51 Interessant ist, dass Tillich bei der Erörterung des Zerfalls der Sittlichkeit in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ den Standpunkt der Reflexion sogar in hamartiologischer Hinsicht als den „Standpunkt der Sündhaftigkeit“ (A §20; 312) bezeichnen kann. Dass dies unter theologischem Aspekt betrachtet für das Tillich’sche System seine Richtigkeit hat, ist unbestritten; allerdings bleibt verwunderlich, warum Tillich noch im religionsphilosophischen Teil seines Systems dezidiert materialdogmatische Kategorien verwendet, die er ansonsten bewusst vermeidet. Besonders irritierend ist die Verwendung des Sündenbegriffs in diesem Kontext, weil Tillich nicht ein prius des Evangeliums vor der Gesetzeslehre veranschlagt, wie dies Karl Barth vollzieht, um das Evangelium von Jesus Christus zur Bedingung der Möglichkeit der Sündenerkenntnis zu machen; vielmehr lässt sich bei Tillich weder direkt von einer Prävalenz von Evangelium noch von Gesetz sprechen, was anhand des Christusgeschehens noch näher erörtert wird; vgl. dazu Kap. 1.3.2.1 und 1.3.2.2. Zur Einsicht in die Sünde – zumindest, vorsichtig formuliert, in komplettem Umfang – ist der Mensch nach Tillich auf dem relativen Standpunkt nicht in der Lage. Hier ist der höchste Punkt mit dem Pessimismus Schopenhauer’scher Provenienz erreicht.

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Mit dem Zerfall der Sittlichkeit ist direkt die Aufhebung der Religion auf dem Reflexionsstandpunkt verbunden. Die Sittlichkeit bildet insofern die Voraussetzung der Religion, als die im Rahmen der Sittlichkeit sich selbst als Freiheit bestimmende Freiheit allererst notwendigerweise vorhanden sein muss, um sich als selbstbestimmte wiederum aufheben zu können zum Absoluten, mithin nach seiner in der Sittlichkeit erfolgten Selbstbestimmung als Freiheitsbewusstsein sich selbst als erst in Verbindung mit dem Abhängigkeitsbewusstsein vom Absoluten als im rechten Verhältnis stehend zu erkennen. Mit dem Wegfall der Selbstbestimmung im sittlichen Vollzug ist gleichzeitig die Aufhebung im Rahmen des Abhängigkeitsbewusstseins nicht möglich, da echte selbstbestimmte Freiheit, die sich erheben könnte, gar nicht vorhanden ist.52 Da Religion so, wie sie im absoluten System vorstellig zu werden hat, unter Reflexionsbedingungen somit nicht ist und nicht sein kann, zerfällt auch die Religion in ihre beiden abstrakten Teile, einerseits die auf eine bestimmte Kultursphäre fixierte, andererseits die abstrakt-mystische religiöse Form. Durch die Fixierung auf eine bestimmte Kultursphäre tritt die Religion gewissermaßen in Konkurrenz mit anderen kulturellen Ausprägungen, so dass sie nicht mehr Prinzip der Kultur, sondern nur eine Form der Kultur unter anderen wird und somit – wie jede Kultur – der relativen Hinfälligkeit und Auflösung preisgegeben ist. (5) Das zweite Moment der Religion unter relativen Bedingungen, die abstrakte Mystik, stellt nun – oben als fünfter Punkt angeführt – eine eigene Variante bezüglich der Auswirkungen der Reflexion auf das absolute Prinzip dar, weil sie sich ihrerseits wiederum zu zwei abstrakten Polen aufzuspalten vermag.53 Zum Ersten kann eine „rein ideelle, abstrakte Mystik“ (A §20; 313) entstehen, die ihr proprium in der reinen Negation hat, allerdings nicht in konkreter Form, wie dies bei der absoluten Mystik der Fall ist, so dass sie sich nicht zum Absoluten, sondern ins rein Leere erhebt, was jedoch zu einem ständigen Zurückfallen auf die Reflexion führt, da die Konkretion im abstrakten Leeren keinen Anhaltspunkt ihrer Betätigung finden kann. Letztlich entspricht diese abstrakte Variante der Mystik dem Zustand des Pessimismus, der sich über sich erheben will, allerdings bei diesem ————— 52

Vgl. A §20; 313: „Die Zerstörung des Sittlichen bedeutet nun zugleich die Aufhebung des religiösen Prinzips; denn Voraussetzung desselben ist die Freiheit, die sich selbst in der Ethik als Freiheit bestimmt hat und sich nun in Freiheit zugleich behauptet und aufhebt vor dem Absoluten. Da nun diese Voraussetzung nicht mehr zutrifft, so zerfällt die Religion in ihre beiden Momente, deren jedes, abstrakt durchgeführt, die Religion aufhebt.“ 53 Diese Aufteilung lässt sich insofern auch am Textbestand der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ belegen, als Tillich bei A §20 im Rahmen einer Randbemerkung (vgl. EX IX, 314 Anm. 99) eine Aufspaltung des Paragraphen nahelegt, was auch durch den Eintrag Wegeners (vgl. EW IX, 313 Anm. 94) unterstützt wird, der sich an der Gliederung der Skizze orientiert, die einen eigenen Paragraphen mit dem Titel „Die Katastrophe der Mystik“ (EW IX, 426) aufführt.

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Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips

Versuch ob des Nichts in das er aufsteigen möchte, weil er immer von sich aus ansetzt und so niemals das Absolute erreichen kann, ständig wieder auf sich zurückgeworfen wird und in seiner Sphäre eingeschlossen bleibt. Bedingt ist dies durch den Gegensatzcharakter, der ob ihres Ausgangs vom Relativen auch der abstrakten Mystik anhaftet und sie von der absoluten Mystik kategorisch unterscheidet, da Letztgenannte jedem Gegensatz schlechterdings fernsteht und Gegensätze allenfalls als unter ihr stehende mit ihr in Verbindung zu bringen sind.54 Zum Zweiten ist als Konsequenz des Auseinanderfallens der Mystik die Entstehung des „systematische[n] Atheismus“, der als „bewußte Negation des Religiösen“ (A §20; 314) auftritt, möglich. Die Negation von Religion überhaupt ist die konsequente Fortsetzung, sofern vom Relativen der Ausgang genommen wird, da eine Stellung, die allein beim Konkreten anzuheben sich anschickt, gar nicht anders kann, als zur Leugnung der Möglichkeit eines religiösen Verhältnisses zum Absoluten zu gelangen, da das Absolute vom Relativen aus ja schlechterdings unerreichbar ist. Dieses Verfahren ist, wie Tillich formuliert, als „a priori atheistisch“55 zu klassifizieren und macht gewissermaßen mit dem Reflexionsstandpunkt als solchem nur bis zur letzten Konsequenz ernst. Ohne den Anfang beim Absoluten zu nehmen, führt kein Weg zu ihm, so dass die atheistische Ferne, in die das Denken bei einem Verharren auf dem relativen Standpunkt rückt, nur eine logische Konsequenz des relativen Standpunkts selbst ist. Der Reflexionsstandpunkt muss als ganzer negiert und aufgehoben werden zum Absoluten oder er erreicht das Absolute niemals. Der Schlusspunkt des relativen Standpunkts ist deshalb, „entweder Gott oder sich selbst [zu] verlieren.“ (A §20; 314) Da der Verlust Gottes allerdings – in Anbetracht der absoluten Zusammenhänge und der aporetischen Situation des auf sich selbst zurückgeworfenen Konkreten – mit dem Verlust des eigenen Selbst einhergeht, ist ein konsequent atheistischer Standpunkt nur unter der Hinnahme der Aporie in der Selbstbestimmung des Selbst und mithin mit allem, was damit ableitend zu tun hat, zu haben. Der Selbstverlust führt in der absoluten Konsequenz zu einer Selbstgewin————— 54

Vgl. A §20; 313: „Der leidenschaftliche Kampf, den die Reflexionsphilosophie allezeit gegen diese Art von Mystik [sc. die abstrakte] geführt hat, erklärt sich demnach aus der rein negativen Stellung dieser Mystik zur Reflexion, durch die [sie] sich freilich selbst als ein Produkt des Reflexionsstandpunktes charakterisiert, denn die wahre Mystik hat überhaupt keinen Gegensatz.“ (Zweite Konjektur im Text der Edition) 55 „Es ist von außerordentlicher Wichtigkeit einzusehen, daß es eine Stellung des Bewußtseins gibt, die notwendig zum Atheismus führt, weil sie a priori atheistisch ist; das Absolute steht entweder am Anfang oder es ist überhaupt nicht zu erreichen; vom Standpunkt des Relativen aus oder der Reflexion bleibt das Absolute notwendig in unendlicher Ferne, d.h. es ist in keinem Momente da.“ (A §20; 314)

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nung in der Aufhebung zum Absoluten, sofern sich das Selbst in den absoluten Prozess hineinstellt.56

1.2.4 Der wechselseitige Bezug von absolutem und relativem Standpunkt aufeinander Absoluter und relativer Standpunkt stehen zueinander in einem irreduziblen, reziproken Bezug: Der relative Standpunkt ist nicht und kann überhaupt nicht sein ohne den absoluten Standpunkt, dem er ja wesentlich widerspricht und den er daher allererst voraussetzt, um selbst zu sein. In gleicher Weise ist der relative Standpunkt aus dem absoluten herausgesetzt und teleologisch auf ihn hingeordnet, d.h. der relative Standpunkt trägt in sich sowohl Ursprung als auch Ziel, einerseits vom absoluten Standpunkt herzukommen und andererseits das Streben, sich selbst in ihm zu verwirklichen. Das Wechselverhältnis zwischen relativem und absolutem Standpunkt äußert sich von der absoluten Seite in der Art, dass der absolute Standpunkt den relativen Standpunkt zwar aus seinem Absolutsein heraus ermöglicht und einsetzt und mithin des relativen Standpunkts per se nicht bedürfte, da das Absolute an sich in reiner Aseität nicht eines Anderen bedarf; allerdings zeichnet sich der absolute Vollzug wesentlich durch Lebendigkeit und nicht durch reinen, d.h. bloßen und somit ohne Gegensatz unbestimmten, ja irrealen, Vollzug aus und möchte sich deswegen auch als Lebendigkeit explizieren. Das gewissermaßen als Streben des Absoluten nach lebendigem Vollzug bezeichenbare Phänomen hat jedoch nicht als ein Zwang oder eine innere Logik – und damit wieder Notwendigkeit – im Absoluten, von der das Absolute – in welcher Art auch immer – abhängig wäre, vorstellig zu werden. Vielmehr ist jedwedes Notwendigkeitsmoment von diesem Vorgang strictissime abzuwehren, ja das Absolute ist als es selbst in sich als völlig absolut zu kennzeichnen und somit jeglicher äußerer Bedingtheit zu entheben. Andernfalls pervertierte das absolute System seinerseits zu einem abhängigen Moment des relativen Standpunkts und würde ob dem selbst als relativ zu klassifizieren sein, was letztlich einer Unterordnung des absoluten Standpunkts unter den relativen gleichkäme. Dennoch, d.h. unbeschadet der Absolutheit und darob der Aseität des absoluten Standpunkts, ist zwischen absolutem und relativem Standpunkt ein reziprokes Konstitutionsverhältnis zu veranschlagen, weil das Absolute als Absolutes selbst sich lebendig ————— 56

Vgl. A §20; 314: „Für die Entscheidung dieser Alternative [sc. Gott oder sich selbst zu verlieren] kommt die Einsicht in Betracht: Gott verlieren heißt auch sich selbst verlieren, Gott gewinnen heißt auch sich selbst in anderer Form wieder gewinnen.“

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vollziehen möchte und daher den relativen Standpunkt als sein eigenes Gegenüber aus sich heraussetzt, mit dem allerdings nicht eine irgendwie geartete Scheinhaftigkeit des Daseins, sondern im Gegenteil tatsächliche Realität und Existenz zu verbinden ist, weil sich ansonsten auch der Widerspruchscharakter des relativen Standpunkts als bloßer Schein entlarven würde und das Absolute somit nicht mehr als Lebendigkeit, sondern wiederum als actus purus vorstellig zu werden hätte. Das Absolute enthält in sich als Absolutes immer schon das Konkrete, d.h. den absoluten Widerspruch gegen sich selbst, jedoch dergestalt, dass es als aus dem Absoluten herausgesetztes immer als eine freiwillige Vollzugstat des Absoluten selbst ansichtig wird, von dem das Absolute schlechterdings nicht abhängig ist.57 Mit anderen Worten: Trotz und unbeschadet der Absolutheit des absoluten Standpunkts lässt sich zwischen absolutem und relativem Standpunkt ein Verhältnis konstituieren, das durch Reziprozität und Irreduzibilität gekennzeichnet ist und zwar deshalb, weil beide Standpunkte einander derart ernst nehmen, dass ihr jeweiliges Vorhandensein sich gegenseitig konstituiert, ohne jedoch dabei voneinander abhängig oder bedingt zu sein.58 Das Doppelprinzip, wie es sich bei Wahrheit und Denken erstmals bei Tillich angelegt findet, reproduziert sich mithin in analoger Weise im Vor————— 57

Das mit dieser Grundkonzeption in Tillichs Systemdenken inbegriffene Ausgerichtetsein auf materialdogmatische Fragestellungen, in Sonderheit die Gotteslehre, ist augenfällig. Die weitreichenden Konsequenzen für den Umgang mit dogmatischen Topoi sind bereits hier in Linien vorgezeichnet und werden sich – wie sich insbesondere in Kap. 1.3.1.1 zeigen wird – auch grundlegend an diesen religionsphilosophischen Prämissen orientieren. Allerdings sei doch darauf verwiesen, dass Tillich seine fundamentaltheologischen Grundlegungen als rein philosophische Argumentationsgänge verstanden wissen möchte, damit seine bereits weiter oben explizierte Ableitung des Gottesbegriffs aus dem Religionsbegriff und dessen Herkunft wiederum von dem Begriff des Absoluten auch wirklich in Geltung sein kann. 58 Das prius des Absoluten vor dem Relativen, wie es in der Schelling’schen Konzeption festgeschrieben ist, reproduziert sich bei Tillich gewissermaßen in der Absolutheit des absoluten Standpunkts, der in reiner Aseität nicht des relativen Standpunkts bedarf. Allerdings würde allein diese Aussage – dass das Absolute des Konkreten nicht bedarf – zu kurz greifen, weil zwar ein eindeutiges Konstitutionsgefälle zwischen absolutem und konkretem Standpunkt statthat, da ja der absolute Standpunkt den konkreten aus sich heraussetzt, allerdings sozusagen – ohne hier echte zeitliche Bezüge in Anschlag bringen zu wollen – ‚nach‘ dem Heraussetzen und dem Vorhandensein beider Standpunkte sich beide gegenseitig zur Explikation ihrer selbst bedürfen. Man könnte auch mit aller Vorsicht formulieren, dass das Angewiesensein des absoluten Standpunkts auf den relativen ein allererst durch das Absolute selbst eingesetztes Bezugsverhältnis ist, so dass sich das Absolute aus reiner Freiwilligkeit heraus durch die Herausstellung des Konkreten in Verhältnis zu jenem setzt. Immer zu beachten ist dabei, dass das Relative als solches sich nicht in seinem Widerspruchsgeist erschöpft, sondern teleologisch stets auf die Rückkehr in den absoluten Standpunkt ausgerichtet ist, so dass das Woher des relativen Standpunkts, das im absoluten Prinzip vorstellig wird, und sein Wohin, das sich in der absoluten Mystik expliziert, in absoluter Form das Relative umspannen und somit zwar dem Relativen seine Berechtigung einräumen, es allerdings niemals als vollkommene Bedingung des eigenen Seins ermächtigen.

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handensein beider Standpunkte: Der relative Standpunkt ist im absoluten zu verorten und richtet sich immer auf den absoluten Standpunkt; in dieser Hinsicht ist der relative Standpunkt wahr. Andererseits ist der relative Standpunkt immer gegen den absoluten Standpunkt, versucht, sich dem Absoluten gegenüberzusetzen; dergestalt ist der relative Standpunkt unwahr. Wie also das Denken immer zugleich wahr und unwahr ist, so ist das gleichsam auch der relative Standpunkt oder anders, dem Standpunktverhältnis entsprechend ausgedrückt: einerseits ist der relative Standpunkt absolut, nämlich, wenn er sich im absoluten Standpunkt stehend begreift, andererseits ist er nicht-absolut, also relativ, sofern er sich als Widerspruch zum Absoluten und beziehungslos zu ihm zu verorten sucht. Analog der Verhältnisbestimmung von Wahrheit und Denken, die letztlich trotz und gerade wegen der Duplizität des Prinzips von der Einheit des Prinzips – nur in zwei Momenten – ausgeht, stehen auch die beiden Standpunkte letztlich unter dem absoluten Standpunkt. Der absolute Standpunkt fasst sich somit einerseits, indem er im Gegensatz zum relativen Standpunkt steht, als Moment des Prinzips, und stellt andererseits das Prinzip an sich vor, d.h. er nimmt eine Doppelfunktion innerhalb des Prinzips ein und ordnet sich als Moment sich selbst als Prinzip unter. Angewandt auf den Grundsatz Tillich’schen Systemdenkens verwirklicht sich das Prinzip somit tatsächlich als Identität (absoluter Standpunkt) von Identität (absoluter und relativer Standpunkt unter dem absoluten Standpunkt geeint) und Differenz (absoluter und relativer Standpunkt unter der Perspektive des relativen Standpunkts). Entsprechend dem Verhältnis von Wahrheit und Denken und der Schelling’schen Feststellung von Grund und Vollzug ist auch bei den Standpunkten kein Part ohne das jeweilige Pendant seiner selbst; trotzdem und unbeschadet der Reziprozität nimmt letztlich jedoch ein Part gleichzeitig die Stellung des übergeordneten Prinzips ein: bei Schelling der Vollzug bzw. der Universalwille, bei Tillich die Wahrheit resp. der absolute Standpunkt. Mit einem Wort: Was Wahrheit und Denken für das Denken sind, stellen die beiden Standpunkte für das Konkrete und somit für das immer schon gegebene religiöse Verhältnis dar. Für den absoluten Standpunkt besteht die Lösung der Spannung, die sich durch das Problem des Doppelprinzips ergibt, in der Intuition, die beide Prinzipien in ihrem wahren oder absoluten Verhältnis sieht, so dass die Doppelheit als in der Einheit von Einheit und Doppelheit getragen ansichtig wird, wodurch zwar die Spannung zwischen Einheit und Doppelheit erhalten bleibt, sich jedoch nicht als Problem in prinzipieller Hinsicht expliziert. Der relative Standpunkt sieht sich jedoch auf die Problemkonstellation zweier Prinzipien zurückgeworfen, weil die Konkretion, mithin die subjektive Einzelheit, nicht umhinkann, sich selbst als Subjekt zu konstituieren, da sie sich immer schon oder präziser: beim Versuch ihrer Selbstbestimmung

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als gegeben vorfindet. Denken qua Denken ist genuin bestimmt durch die Subjektivität des denkenden Subjekts und ist somit schlechterdings außerstande, das zu werden, was für die Perspektive des absoluten Standpunkts notwendig ist: Intuition. Um sich selbiger zu nähern muss das Subjekt seine Existenz als Subjekt aufgeben, was auf der einen Seite vom Subjekt selbst gar nicht vollzogen werden kann, da es außerhalb seines Vermögens steht;59 andererseits wäre das Subjekt nach dem Aufheben seiner selbst kein Subjekt mehr, was der Aufhebung, ja der Auflösung des gesamten Reflexionsstandpunkts gleichkäme und somit wiederum als wider das System – deren konstitutiver Bestandteil der Reflexionsstandpunkt ja ist – und somit außerhalb des Systems einzuordnen wäre. Kurz gesagt: Das Denken kann nicht in Intuition überführt werden, weshalb der Gegensatz von Wahrheit und Denken für es eine unüberbrückbare Duplizität bleibt, was wiederum das Auseinanderfallen des Systems in einen absoluten – dann für das Denken rein abstrakten – und einen relativen Standpunkt als Konsequenz zeitigt. Das Denken hat somit immer mit den beiden Standpunkten zu tun, von denen es den einen als wahr und den anderen – den eigenen – als wahr und unwahr zugleich erkennt. Wie mit diesem Dilemma des Denkens umzugehen ist, beschäftigt den von Tillich so genannten theologischen Standpunkt, das Paradox.

1.2.5 Der theologische Standpunkt oder: das Paradox 1.2.5.1 Der Aufbau des theologischen Prinzips Die bisherige Einzelanalyse von absolutem und relativem Standpunkt sowie die Betrachtung ihres wechselseitigen Verhältnisses hat drei Hauptergebnisse hervorgebracht: Erstens die Verankerung des Reflexionsstandpunktes im absoluten Standpunkt, zweitens die dadurch und durch das Wesen des absoluten Standpunktes bedingte Bejahung und Verneinung des relativen Standpunkts und dessen Dialektik durch den absoluten, wodurch das absolute System für den Reflexionsstandpunkt einerseits zum tragenden Grund und andererseits zur zerstörenden Kraft wird, und drittens die vollkommene Unfähigkeit des Reflexionsstandpunkts mittels eigener Anstrengung sich selbst zu erheben bzw. aufzulösen zum absoluten Standpunkt. Entscheidend ist dabei, dass der relative Standpunkt in seiner Dialektik immer zugleich im und gegen den absoluten Standpunkt ist, d.h. ihn voraussetzt und ihn ————— 59

Vgl. dazu die Thesen Tillichs zum philosophischen Pessimismus, der immer in sich gefangen bleibt und somit trotz der Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit nicht von ihr loskommt; vgl. Kap. 1.2.3.2.

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doch in Selbstbehauptung zu negieren, ja seiner reflexiven Dialektik zu unterwerfen versucht. Daraus resultiert, dass der relative Standpunkt sich als stets in Firmierung und Negation durch den absoluten Standpunkt stehend wahrnimmt und dieser für ihn somit einerseits als dem eigenen Dilemma enthobener und mithin heilsamer Rettungsgrund und andererseits als den relativen Standpunkt schlechterdings der Vernichtung in Form völliger Auflösung anheim gebender ins Blickfeld kommt. Das Verhältnis des relativen zum absoluten Standpunkt bleibt deshalb ein fortwährend ambivalentes. In anderer Weise ist für den absoluten Standpunkt das Nebeneinander seiner selbst und des relativen Standpunkts immer gewissermaßen die ‚Zerreißprobe‘ des gesamten absoluten Systems insofern, als der absolute Standpunkt in einem ständigen Wechsel einen Teil seiner selbst, den relativen Standpunkt, als außer seiner selbst stehend vollständig verneinen und andererseits als Teil seiner selbst und mithin in ihm seiend komplett bejahen muss. Dieser perennierende Prozess von Negation und Affirmation spannt das gesamte absolute System bis an die Grenzen seiner Absolutheit hin aus, indem es sich in einem ständigen Integrations- und Konstitutionsprozess allezeit neu gründen, ja in irreduzibler Spannung erhalten muss. Die Synthetisierungsleistung des absoluten Systems erstreckt sich somit – analog dem Durchgang von absolutem Prinzip über den Standpunkt der Relativität hin in die absolute Mystik – in einer fortwährenden Abfolge von Negation des relativen Standpunkts, die im Moment des Negierens des Relativen als des völlig Un-Absoluten bereits die Bejahung des Relativen als Negiertes und somit in den absoluten Prozess Reintegriertes fordert, und Bejahung, die im Moment ihrer Verwirklichung sofort ob der Annahme des Relativen als das, was es ist, wieder in Negation umschlägt.60 Aufgefangen ist dieser Prozess auf dem absoluten Standpunkt – wie bereits gesehen – durch die Unterordnung des Aus- und Widereinanders von absolutem und relativem Standpunkt unter die Intuition des absoluten Standpunkts. Der relative Standpunkt hingegen bleibt in seiner eigenen Dialektik eingeschlossen, aus der er sich nicht zu befreien vermag. Der einzig mögliche Ausweg aus dem reflexiven Dilemma ist somit nicht vom Standpunkt der Relativität selbst, sondern ausschließlich und schlechterdings vom Absoluten selbst aus gegeben. Das Relative kann nur bis zur Erkenntnis der eigenen Relativität und damit der eigenen völligen Unmöglichkeit einer Selbsterlösung gelangen und sich sein Hingeordnetsein auf ————— 60

Auch hier ist die zur Explikation herangezogene zeitliche Dimension selbstverständlich wieder als reines Instrumentarium der Versinnbildlichung zu verstehen, da absolute Prozesse den Dimensionen von Raum und Zeit enthoben sind und sie im Gegenteil unter sich schließen.

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die Integration ins Absolute ahnend erschließen. Wie nun aber der absolute Prozess in Form von Verneinung und Bejahung des relativen Standpunkts ohne jeglichen Einfluss des Reflexionsstandpunkts abläuft, so ist das konkrete Relative für seinen eigenen Ausweg auf das Absolute angewiesen. Diese Befreiung des Konkreten aus seiner Relativität ist hinwiederum unter den Bedingungen des absoluten Systems nicht anders in Anschlag zu bringen als in der Herablassung des Absoluten zum Relativen und dessen Herausführung durch das Absolute zum Absoluten. Dies hat jedoch so vorstellig zu werden, dass das Absolute unbeschadet seiner Absolutheit sich zum Konkreten unbeschadet dessen Konkretheit und Relativität begibt. Von dieser Verbindung von absolut und konkret, mithin dem vollständigen Eingang der absoluten Sphäre in die Bestimmtheit der konkreten Sphäre, ohne dabei des jeweiligen Wesens verlustig zu gehen, ist jedoch in Tillichs Terminologie nicht anders zu sprechen als vom „Paradox“ (Thesenüberschrift zu A §22; 314). Nach Tillich ist dieses Phänomen als paradox zu bezeichnen, weil es „dem gewöhnlichen Erkennen, der Meinung des natürlichen Denkens widerspricht und etwas Übernatürliches, etwas, das ‚höher ist denn alle Vernunft‘, enthält.“ (A §22; 315) Kurz formuliert ist das Paradox in letzter und extremster Zuspitzung „die Identität des Absoluten mit einem bestimmten Relativen“ (A §22; 315).61 Das Paradox ist notwendig, um der teleologischen Bestimmung des relativen Standpunkts gerecht zu werden, d.h. um einerseits das Bestimmtsein und andererseits die realiter sich vollziehende Rückführung des Reflexionsstandpunkts zum absoluten Standpunkt durchführen zu können. Beide Standpunkte konstituieren Tillich zufolge das Paradox zwar nicht, setzen es in ihrer beidseitigen Zuordnung aufeinander aber als Forderung.62 Da die ————— 61

Dass Tillich mit diesem übernatürlichen Phänomen sofort „die Menschwerdung Gottes“ (A §22; 315) identifiziert, zeigt bereits an, dass die Grenze zwischen Religionsphilosophie und Theologie schon an dieser Stelle des Paradoxes von Tillich nicht mehr zugunsten der den fundamentaltheologischen Teil bestimmenden Religionsphilosophie aufrecht erhalten werden kann und – zumindest partiell – die auf dem Boden des Paradoxes operierende Theologie übernimmt, die ihrerseits, wie sich später zeigen wird, auf der konkreten Religion fußt und sich eben nur in konkreter Form, mithin in bestimmter kultureller Ausprägung, durchführen lässt. 62 Vgl. A §22; 315: „[D]och ist es der Zweck dieser ganzen Apologetik, zu zeigen, daß das Paradox in diesem Sinne [sc. als Identität des Absoluten mit einem bestimmten Relativen], wenn auch weder von der Intuition (Vernunft) noch von der Reflexion (Verstand) gesetzt, so doch von beiden gefordert und für beide gesetzt ist.“ Die prima facie ob der Absolutheit des Absoluten verwirrend anmutende Kennzeichnung des Paradoxes als auch für das Absolute notwendig, lässt sich – auch wenn Tillich dies nicht expressis verbis vollzieht – innerhalb der Tillich’schen Systemkonzeption durchaus einer Erklärung zuführen (in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ wird die Frage nach der Notwendigkeit des Paradoxes auch in einer Randbemerkung gestellt; vgl. EW IX, 315 Anm. 103: „Die Notwendigkeit des Paradox?“): Absoluter wie relativer Standpunkt sind analog dem Verhältnis von Wahrheit und Denken als ein irreduzibles Spannungs- und Konstitutionsver-

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Religion das Verhältnis von absolut und konkret thematisiert und in ihr gerade das Dilemma der Reflexion zwischen Selbstbewusstsein auf der einen und Abhängigkeitsbewusstsein auf der anderen Seite erst eigentlich zum Tragen kommt, ist die Religion der Ort des Paradoxes schlechthin;63 just in der Geistesfunktion Religion ist die Teleologie des relativen Standpunkts angelegt und der Geist wird sich dieser seiner Zielgerichtetheit in praxi im religiösen Verhältnis bewusst. Inneres Ziel des zwischen Selbstbehauptung und versuchter Selbstaufhebung chauchierenden Denkens ist letztlich die Rückkehr zur Intuition; allerdings muss die Selbstaufhebung als beständiges Konkretes, d.h. als Relativität, die ihres Relativseins nicht verlustig geht, vorstellig werden und dabei vom Absoluten initiiert werden. Der Weg, auf dem sich die teleologische Ausrichtung des relativen Standpunkts zu verwirklichen vermag, kann entsprechend den beiden Formen der Religion – der absoluten und der konkreten –, wie sie auf dem relativen Standpunkt erscheinen, eingeschlagen werden. Allerdings wird die Herablassung des Absoluten in das Konkrete um der Rückkehr des Konkreten zum Absoluten willen vollzogen, so dass die absolute Form der Religion auf dem Boden der Reflexion – und von diesem aus operiert der relative Standpunkt ja wesensmäßig – zwangsläufig in Abstraktheit erstarrt und deswegen nicht als mögliche Vollzugsvariante des Paradoxes in Frage kommt.64 Einzig die konkrete Religion entspricht den Bedingungen des relativen Standpunkts derart, dass das Paradox sich im Relativen in Form der konkreten Religion als dem Konkreten zugänglich verwirklichen kann ————— hältnis zu bezeichnen (vgl. auch Neugebauer, frühe Christologie, 264); in gleicher Weise wie sich die beiden Pole zueinander verhalten stehen sie nun ihrerseits wiederum in Verhältnis zu ihrem dritten, sie vermittelnden Part. Das eigentlich Unsynthetisierbares synthetisierende Paradox steht dem Verhältnis von relativem Standpunkt und absolutem Standpunkt genauso gegenüber, wie es die Relate dieses Verhältnisses innerhalb des Verhältnisses tun. Die Notwendigkeit des Paradoxes für absoluten wie relativen Standpunkt lässt sich somit aus der Irreduzibilität der Relation von absolutem und relativem Standpunkt dem Paradox gegenüber ableiten, das für sein Dasein seinerseits wieder die beiden Standpunkte benötigt, ja ohne diese beiden gar nicht als Synthesemoment der beiden Pole in Erscheinung treten könnte. Notwendigkeit bezeichnet in diesem Fall mithin nicht eine Abhängigkeit des absoluten oder relativen Standpunkts vom Paradox, sondern betont nur die Irreduzibilität der Verhältniskonstellation zwischen den drei Größen. 63 Vgl. A §22; 315: „Die Sphäre des Paradox ist die Religion; denn die Religion ist die Rückkehr der Freiheit zur Wahrheit, des Relativen zum Absoluten ohne Aufhebung der Freiheit und Relativität.“ 64 Da die konkrete Religion immer in Verbindung mit der konkreten Kultur steht, könnte man meinen, die absolute Religion sei die optimale Wirksphäre des Paradoxes, allerdings ist es „gerade das Wesen des Reflexionsstandpunktes, einen dialektischen Begriff der absoluten Religion nicht zu kennen; und darin liegt der ganze Konflikt, daß die Reflexion sich jeder Absolutheit systematischer Art entgegenstellt. Auf dem Standpunkt der Reflexion also, der ja nicht aufgegeben werden soll, ist der Begriff der absoluten Religion nicht verwendbar, er ist für sie etwas rein Abstraktes, Problematisches“ (A §22; 316).

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und das Konkrete allererst so zu erreichen vermag. Um jedoch einem Anheimfallen der konkreten Religion an die Reflexionsdialektik zu wehren, ist als entscheidender Punkt hinzuzufügen, dass es schlechterdings eines „Prinzips der Selbstüberwindung“ innerhalb der konkreten Religion bedarf, d.h. des Bewusstseins der konkreten Religion eben um die ihr eignende Konkretheit und Relativität, das sich in der Relativierung ihrer selbst und darin äußert, dass sich die konkrete Religion als das fasst, was sie ist, nämlich der Weg hin zum Absoluten und nicht das Absolute selbst: „Es muß der Ort des Paradox also eine konkrete Religion sein, die aber der Dialektik der Reflexion nicht preisgegeben ist, weil sie ohne sich aufzugeben über sich selbst hinausführen kann, in sich selbst ein Prinzip der Selbstüberwindung hat.“65 (A §22; 316) Konkrete Religion erweist sich mithin als konkret im positiven Sinne, wenn sie nicht zum Selbstzweck wird, sondern sich – im Angesicht der Intuition des absoluten Systems – in den Dienst des Absoluten stellt, im Verhältnis zu dem sie sich als relativ erkennt und ob dem auf das Nicht-Relative, das Absolute, als dem eigentlichen Zielpunkt des religiösen Verhältnisses verweist. Mit anderen Worten lässt sich sagen, dass es das Anliegen des Paradoxes bzw. des theologischen Standpunkts ist, dezidiert auf der Basis des relativen Standpunkts, d.h. unter Annahme und Einschluss all seiner Voraussetzungen, Bedingungen und Beschränktheiten gegenüber dem absoluten Standpunkt, zu operieren, um unter relativen, also reflexiven Bedingungen über den Standpunkt der Relativität hinauszuführen zum absoluten Standpunkt. Dabei ist jedoch immer mitzubedenken, dass diese Erhebungsbewegung des relativen Standpunkts, die den Standpunkt als ganzen und so, wie er wesensmäßig ist, über sich hinaushebt, allererst vom Absoluten seinen Ausgang nimmt und somit der Prozess selbst wiederum nicht der reflexiven Dialektik anheim fallen darf, sondern als schlechterdings paradoxer von der konkreten Religion aufgenommen werden muss, was sich im Prinzip der Selbstüberwindung äußert.66 Die Bedingungen für ————— 65

Das Prinzip der Selbstüberwindung wird in Tillichs später Theologie im Begriff der SelbstTranszendierung wieder aufgenommen und weitergeführt; vgl. dazu Falk Wagner, Christus und Weltverantwortung als Thema der Pneumatologie Paul Tillichs, in: Hans-Dieter Klein/Joachim Reikerstorfer (Hg.), Philosophia perennis. Erich Heintel zum 80. Geburtstag. Teil 2, Frankfurt a.M. u.a. 1993, 235–252, hier: 248. 66 Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle die aporetisch anmutende Konzeption Tillichs, die einerseits von einer weitestgehenden Passivität des Konkreten ausgeht, zumindest, was die Initiation des Erhebungsvollzugs des Konkreten betrifft, da diese ja ausschließlich und notwendig dem Absoluten zugesprochen wird, und andererseits eine Form sucht, die es dem Konkreten ermöglicht, das absolute Anliegen auch unter den Bedingungen der Reflexion zu erfassen. Problematisch wird dieser Paradoxbegriff dadurch, dass Tillich an keiner Stelle erwähnt, wie es nun eigentlich zu einer Erkenntnis des Paradoxes kommen soll: Kommt die Erkenntnis des Paradoxes durch das Ansichtigwerden seiner konkreten Form? – Wohl kaum, sonst müsste das Paradox bzw. die Botschaft von ihm automatisch zur Annahme des paradoxalen Anliegens führen. Außerdem wäre

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die Integration des Paradoxes in den Reflexionsstandpunkt, ohne dabei das Paradox selbst der Reflexion zu unterwerfen, sind innerhalb der konkreten Religion im Bereich des Heiligen verortet. Hier findet die Absolutsetzung relativer Begebenheiten statt, die im Glauben erfasst werden67 – allerdings immer unter der Voraussetzung eines Prinzips der Selbstüberwindung innerhalb der konkreten Religion, die die Absolutsetzung etwas Relativen zwar als absolut anerkennt, sie jedoch als relative Absolutsetzung weiß. Das Prinzip der Selbstüberwindung nimmt im System Tillichs genau betrachtet die Funktion ein, innerhalb der Konzeption des Paradoxes ein bisher durch die starke Betonung ausdrücklich aller Geistesfunktionen vermiedenes, nun aber in Form der Religion wieder potentiell drohendes sacrificium intellectus abzuwehren. Reflexion, Sittlichkeit und Religion wurden von Tillich als die drei Geistesfunktionen definiert,68 die ihrerseits in der aufgeführten Reihenfolge voneinander abhängen, so dass letztlich die Religion die – wahre – Konstitutionsbasis für Sittlichkeit und Reflexion darstellt.69 In der konkreten Religion wird durch die Vorstellung des Para————— der Reflexion an sich nicht genüge getan, da somit jedes supranaturale Ereignis resp. eine beliebige Form der Offenbarung von außen zur Erkenntnis des Paradoxes führen könnte. Dies kann jedoch keinesfalls Tillichs Absicht sein, weil er ja gerade im Gegenteil einen Supranaturalismus abzuwehren und der menschlichen Reflexion entgegenzukommen sucht, wie auch das Prinzip der Selbstüberwindung zu zeigen versucht. Oder ist die Kenntnis des Paradoxes bzw. präziser und vorsichtiger ausgedrückt: eine Ahnung vom Paradox allererst notwendig, um es in seiner konkreten Form überhaupt wahr- und annehmen zu können? Dies würde allerdings bedeuten, dass der nach Erkenntnis Fragende letztlich bereits das zu Erkennende erkannt haben muss, um die Erkenntnis erkennen zu können. Das Wissen um das Paradox wäre demnach der Verwirklichung des Paradoxes vorgeschaltet, was die Konkretheit des Paradoxes hinwiederum nur zu einem Appendix des eigentlichen Paradoxgeschehens, das im geistigen Vollzug zu verorten wäre, abklassifizieren würde. Letzteres ist ob der eklatanten Bedeutung gerade der konkreten Form des Paradoxes in Tillichs System schlechterdings abzulehnen, so dass die Frage nach der Möglichkeit der tatsächlichen Rezipierbarkeit des Paradoxes von Tillich unbeantwortet bleibt. Zwar müsste die obige Argumentation von Tillich mit dem Hinweis der Irreduzibilität zwischen Erkennendem und zu Erkennendem und durch die Rückführung des Versuchs, das paradoxale Geschehen reflexiv nachvollziehen zu wollen, auf eine dem Paradox unangemessene reflexive Dialektik abgewiesen werden – trotz allem bleibt ein Gefühl der Unbegründetheit zurück. Näher und ausführlicher soll das Problem, das sich zugespitzt materialdogmatisch in der Christologie repliziert, eben dort erörtert werden; vgl. Kap. 1.3.2.3. 67 Vgl. A §22; 315: „Die konkrete Religion enthält darum notwendig eine bestimmte Sphäre, in der Relatives absolut gesetzt ist, die Sphäre des Heiligen oder Sakramentalen; dies aber ist der Ort des Paradox.“ 68 Vgl. Kap. 1.1.1. 69 Genau betrachtet ist die Abhängigkeit der Reflexion von der Selbstkonstitution in der Sittlichkeit, welche wiederum in wahrhafter Gestalt von der Religion abhängt, eine gegenläufige Bewegung: Zwar fundiert die Religion allererst Sittlichkeit und die aus der Subjektivität sittlicher Selbstverortung entspringende Reflexion, allerdings hat die Bewegung von der Basis der Reflexion aus auch in umgekehrter Richtung vorstellig zu werden. Dann wird zwar freilich nicht von der Reflexion als der Bedingungsmöglichkeit von Sittlichkeit und Religion auszugehen sein, Sittlich-

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doxes nun die Anwendung rein reflexiver Methoden zum Problem insofern, als durch reine Reflexionsbemühung das Paradox dem menschlichen Geist schlicht nicht zugänglich ist. Ein wichtiger Bewegpunkt für Tillich ist, das Paradox aber eben nicht diesen reflexiv-dialektischen Versuchen auszusetzen, weshalb er – auch systemimmanent völlig zu Recht – das Paradox in der Sphäre des Religiösen ansiedelt. Das reine Reflexionsvermögen stellt somit für die Erfassung des Paradoxes nicht die geeignete Geistesfunktion dar70 und steht gewissermaßen außerhalb seiner eigentlichen Funktionszugehörigkeit, wenn es das Paradox trotzdem in absolutem Sinne zu erreichen versuchte. An dieser Stelle übernimmt letztlich der – als Geistesfunktion verstandene – Glaube, der sich ausschließlich in Form konkreter Religion, d.h. in der Setzung einer konkreten Sphäre als absolut, zu explizieren vermag, die geistige Leitung. Für die Reflexion droht an dieser Stelle nun sozusagen eine ‚Entmachtung‘ dergestalt, dass sie einerseits der religiösen Geistesfunktion, konkret dem Glauben, untergeordnet wird und andererseits dem vom Glauben als wahr Erkannten strictissime widersprechen muss. Dass es an dieser Stelle nun nicht zu einem sacrificium intellectus in Tillichs System kommt, ist zum einen dadurch bedingt, dass Tillich den intellectus nicht als bloßes Reflexionsvermögen fasst, sondern ihn in der Gesamtheit aller drei Geistesfunktionen, von denen das Denken eben nur eine ist, in Gänze verwirklicht sieht; zum anderen ist es gerade das Prinzip der Selbstüberwindung in der konkreten Religion, das in der Setzung von etwas Relativem als absolut, so wie es der Glaube in der Sphäre des Heiligen vollzieht, dem Anliegen der Reflexion, das sich in dem Widerstreiten gegen eine Verabsolutierung eines relativen Sachverhalts, ja ob der Dialektik des Denkens gegen eine Verabsolutierung jeglicher Couleur äußert, entgegenkommt und es ernst nimmt. Dadurch gelingt es Tillich, dem Denken gerechter zu werden als es selbst es vermag: Es wird nämlich durch das Prinzip der Selbstüberwindung in seinem rational-dialektischen Charakter ernst ————— keit und Religion kommen jedoch als die Instanzen wahrhafter Selbstheit in den Blick, so dass sie zwar immer noch indirekte Bedingungen der Reflexion darstellen, aus reflexivem Nachvollzug heraus aber gewissermaßen die Steigerung der eigenen Position in die Wahrheit des eigenen Selbst repräsentieren. Anders formuliert: Reflexion ist nie wahrhaft ohne Religion und Sittlichkeit; aus der Perspektive der – zugleich wahren wie unwahren – Reflexion ist die Reihe Reflexion – Sittlichkeit – Religion jedoch nicht anders entwickelbar als in Form einer Klimax – wobei hinzuzufügen ist, dass trotz des Bildes einer aufsteigenden Reihe niemals – auch nicht unter reflexiven Bedingungen – von einer tatsächlichen ‚Reihe‘ auszugehen ist; dem wehrt der völlige Bruch zwischen Reflexion und Intuition. 70 Dieses notwendig zu konstatierende Faktum der Verschiedenheit der Denkmodi und die mit ihnen gegebene mögliche falsche Anwendung hat Tillich – wie schon erörtert – bereits zu Beginn seiner ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, näherhin in A §6, zur unabdingbaren Prämisse wahrhaftigen Denkens erklärt.

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genommen und gleichzeitig durch die konkrete Religion als wesensgemäßer Widerspruch klassifiziert und somit erst wirklich als Denken, wie es genuin vorstellig zu werden hat, erkannt und anerkannt. Aporieverdächtig und problematisch erweist sich allerdings die grundlegende Veranschlagung des menschlichen Intellekts als in den drei von Tillich aufgeführten Geistesfunktionen subsistierend, so wie es Tillich zur Prämisse seiner Erörterung des Paradoxes, ja seiner Religionsphilosophie überhaupt macht.71 Analog der Spaltung von reflexiver und religiöser Geistesfunktion auf dem relativen Standpunkt triften Wissen und Glaube auseinander und bilden realiter die tiefste Kluft innerhalb des menschlichen Geistes auf dem Reflexionsstandpunkt. Diesem Hiat wirkt der theologische Standpunkt in seiner paradoxen Gestalt entgegen, weil der „Standpunkt der Theologie […] die Einheit von Glauben und Wissen, Konkretem und Abstraktem in der Synthesis des Paradox“ (A §22; 317) ist. Vorstellig zu werden hat diese Syntheseleistung des theologischen Standpunkts in Form zweier Momente des theologischen Prinzips, die sich aus der Stellung einerseits des Wissens, andererseits des Glaubens gegenüber dem Paradox ergeben: Durch den reflexiven Nachvollzug des Paradoxes auf der Basis wissenden Denkens wird das Prinzip in seiner Prinzipialität, d.h. vollständigen Absolutheit, ansichtig zu machen versucht, jedoch gelingt dies auf der Grundlage des relativen Standpunkts ob dessen Relativität nicht, sondern das, was als Absolutes erreicht werden sollte, wird aus der Sicht des Konkreten zum Abstrakten resp. aus der Sicht des Konkreten als des Relativen zur es bestimmenden Notwendigkeit. Anders gesagt: „das theologische Prinzip wird ein allgemeines.“ (A §23; 317) Der Glaube hinwiederum expliziert sich in Form der konkreten Religion und bedarf daher der Fixierung auf das Relative. Deshalb wird in der Erfassung des Prinzips durch den Glauben dessen konkreter Gehalt, mithin das Prinzip als Prinzipat, Fokus der Betrachtung, so dass das theologische Prinzip „ein besonderes“ (A §23; 317), bestimmtes ————— 71

Aus theologischer Sicht ist – allgemein gesprochen – die Annahme einer Transzendenzoffenheit des Menschen durchaus eine legitime Vorgehensweise. Für das von Tillich in seinen fundamentaltheologischen Erörterungen jedoch bemühte philosophische Verfahren bleibt zumindest fraglich, ob eine derartige Konzeption des menschlichen Intellekts – selbst wenn man von einer Reduzierung auf das Reflexionsvermögen als eine dem menschlichen Geist nicht gerecht werdende Definition ausgeht – konsensfähig oder überhaupt zustimmungsfähig zu nennen ist. Allerdings ist dabei immer auch zu beachten, dass es Tillich seinerseits nicht auf die Verabsolutierung seines Ansatzes ankommt, sondern er ein Modell vorschlägt, das die Aporien, denen das menschliche Denkpotential nolens volens verfällt, einer prinzipiellen Verortung zuführt. Insofern bietet sein System zwar sowohl theologischen Ansätzen – durch das dezidiert philosophische Vorgehen – als auch rein philosophischen Konzeptionen – durch die Veranschlagung dreier Geistesfunktionen, von denen eine die Religion darstellt – Kritik- und Ablehnungsmaterial, versucht aber in positiver Hinsicht einen Brückenschlag, der von beiden Seiten aus in Reinheit – zumindest nicht für einen allgemeinen Konsens – in dieser Form nicht ohne Weiteres durchführbar ist.

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wird.72 Die Momentbestimmung des theologischen Prinzips ändert jedoch nichts an der Grundbeschaffenheit des Prinzips, das immer als „die Einheit des Absoluten mit einem bestimmten Relativen“ (A §23; 317) zu betrachten ist und nur in der Perspektive der beiden einander widerstreitenden Geistesfunktionen Denken und Glaube eine jeweils eigene Fassung annimmt. Größte Bedeutung kommt hier dem Tillich’schen Momentverständnis zu, dem zufolge ein Moment immer „etwas Dynamisches, Qualitatives, kein Teil neben andern, sondern das Ganze unter einer Bestimmtheit“ (A §23; 318; Hervorhebung S.D.) ist, weshalb beim allgemeinen bzw. abstrakten und dem konkreten Moment des theologischen Prinzips zwar immer – entsprechend der Dialektik des Denkens – nur ein Aspekt des gesamten theologischen Prinzips in Sonderheit hervorgehoben wird, das Prinzip allerdings als solches sich nicht gewissermaßen in Teile zerlegen lässt, so dass bildlich gesprochen durch die Maske des Moments immer das Prinzip in Vollständigkeit blickt. Davon zu sprechen, dass die beiden Momente des theologischen Prinzips in Addition als Summe das Prinzip erst als Prinzip vorstellig machen würden, verfehlt also das Anliegen der Momenterfassung des theologischen Prinzips, das sich eben weder auf ein einzelnes Moment seiner selbst reduzieren lässt, noch aller Momente bedarf um in Gänze es selbst zu sein. Verständlich wird die Momentdefinition, wenn sie – entsprechend der absoluten Bewegung – als dynamischer Ablauf gefasst wird, in dem die Momente nur das Ansichtigwerden des Prinzips an einem bestimmten Punkt des Prozesses verkörpern, das Prinzip als solches aber in jedem Moment seines prozessualen Ablaufs es selbst ist. Tillich kann im Falle eines ————— 72

Die Problematik, die sich – wie eben dargestellt – in der Möglichkeit des sacrificium intellectus in Tillichs System äußert, wird durch ein zweimomentiges Konzept, dessen einer Pol das Wissen ist, welches in synonymer Form für die Reflexivität überhaupt fungiert, zunächst nur scheinbar aufgelöst. Zwar kommt dem Wissen in Tillichs Systematik durchaus zu, den – für Tillich so wichtigen – allgemeinen Pol des theologischen Prinzips zu repräsentieren, allerdings vermag dieser das immer nur in Form der Abstraktheit. Der Glaube steht nun seinerseits auch nur in beschränkter Weise der konkreten Zugangsmöglichkeit zum Paradox offen, da selbiger ohne das absolute Moment gleichfalls unwahr zu werden droht, was jedoch bei strenger Anwendung des Prinzips der Selbstüberwindung niemals als tatsächlich geschehend vorstellig werden kann, so dass der Glaube in Kombination mit der Selbstüberwindung allein betrachtet gewissermaßen dem Prinzip Tillichs deutlich näher steht als die sich in Abstraktheit verlierende Reflexion. Zwar muss Glaube auch immer denkender Glaube und analog Denken immer glaubendes Denken sein, um tatsächlich dem Prinzip entsprechen zu können, jedoch ist das Prinzip der Selbstüberwindung – bei aller Bemühung Tillichs um eine Gleichrangigkeit zwischen Wissen und Glauben – doch immer ein Zugeständnis an die Reflexion, den Glauben als sie durchaus nicht vernichtend wahrnehmen und annehmen zu können. Auch hier lässt sich in Schelling’schem Duktus von einer gewissen Überordnung der religiösen Geistesfunktion über die reflexive sprechen, wenn auch mit allem, dem System gegenüber gebotenen Respekt, weil die Irreduzibilität zwischen Wissen und Glaube dadurch in keiner Weise beschädigt werden soll und darf.

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prozessualen Momentbegriffs von einer „lebendige[n] Synthese“ (A §23; 318) sprechen. Wie nun die beiden Momente des theologischen Prinzips in Form des Paradoxes zueinander stehen, so ist jedoch das Paradox, mithin der theologische Standpunkt, dadurch gekennzeichnet, dass er das Prinzip der Selbstüberwindung in sich trägt und somit auf eine letztliche Auflösung des Paradoxes im absoluten Standpunkt zielt. Als Grenzbegriff bildet deshalb das theologische Prinzip – gleichfalls notwendig wie das Paradox – ein drittes, absolutes Moment aus, das selbst mit den beiden ersten Momenten kein neues paradoxes Verhältnis bildet, sondern im Gegenteil die Überwindung des Paradoxes in der Synthesis der sich widersprechenden ersten beiden Momente darstellt.73 Allerdings würde mit dem Hinfälligwerden des Paradoxes durch die vollzogene Aufhebung seiner Voraussetzung auch das theologische Prinzip seiner Begründung verlustig gehen, so dass „die Aufhebung nicht als vollendete, sondern als geschehende zu fassen ist.“74 (A §23; 317) Das dritte Moment zeichnet sich somit wesensmäßig gewissermaßen noch stärker als in Prozesshaftigkeit befindlich aus, als es der Momentbegriff sowieso impliziert, indem das dritte Moment nicht mehr auf den Begriff gebracht werden kann, sondern ausschließlich als im Vollzug des Im-Begriff-der-Aufhebung-Stehens vorstellig werden kann und somit selbst nicht mehr Fixpunkt, sondern nur noch äußerster Grenzbegriff des Prozesses wird. Das dritte, absolute Moment des theologischen Prinzips steht somit auf einer Stufe mit der absoluten Mystik, die ebenfalls nicht mehr eine bestimmte Ausprägung der Religion – weder in prinzipieller noch in konkreter Form – ist, sondern immer durch ihren ‚supra‘-Charakter als zwar an allen ihren Teilmomenten partizipierend, jedoch niemals sich auf ein Moment fixierend vorgestellt wird. Im Unterschied zur absoluten Mystik ist das dritte Moment des theologischen Prinzips allerdings ein auf dem theologischen Standpunkt unter Relativitätsbedingungen operierendes, wodurch es eben nicht wie die Mystik auf dem absoluten Standpunkt als vollendet, sondern immer nur im Vollzug auf die Vollendung hin befindlich ————— 73

Vgl. A §23; 317: „Infolgedessen [sc. der Synthesis von allgemeinem und besonderem Moment] enthält das theologische Prinzip notwendigerweise noch ein drittes Momenten [sic!], in welchem der Gegensatz der beiden anderen aufgehoben ist.“ 74 Dies unterstreicht auch Christian Danz, der vom dritten Moment aussagt, es könne nur als „regulativer Grenzgedanke gedacht werden und nicht als eine innergeschichtliche Möglichkeit.“ (Danz, Geschichtliche Offenbarung. Die Trinitätslehre als Inbegriff des Theologieverständnisses Paul Tillichs, in: Gert Hummel/Doris Lax [Hg.], Trinität und/oder Quaternität – Tillichs Neuerschließung der trinitarischen Problematik. Trinity and/or Quaternity – Tillich’s Reopening of the Trinitarian Problem. Beiträge des IX. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/Main 2002. Proceedings of the IX. International Paul-Tillich-Symposium Frankfurt/Main 2002 [TillichStudien, Bd. 10], Münster 2004, 173–187, hier: 178)

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charakterisiert werden kann und somit sozusagen das Analogon der absoluten Mystik auf dem theologischen Standpunkt darstellt.

1.2.5.2 Theologisches Materialprinzip: Rechtfertigung Absolutes und relatives Moment bilden innerhalb des theologischen Prinzips analog der Verhältnisbestimmung von Wahrheit und Denken ein irreduzibles Spannungsverhältnis. Dieses expliziert sich nun im reziproken Verweis eines theologischen Material- und eines theologischen Formalprinzips aufeinander. Sowohl Material- als auch Formalprinzip bringen das sich auf dem theologischen Standpunkt vollziehende Verhältnis von absolutem und relativem Moment in seiner Ausprägung zur Ansicht. Mit anderen Worten: Was für die Konstruierung des theologischen Prinzips die beiden Momente darstellen, sind die beiden Prinzipien für die tatsächliche Realisierung des theologischen Standpunkts auf der Basis des Reflexionsstandpunkts. Wie auch sonst setzt Tillich in seiner systematischen Konstruktion mit dem absoluten Teil ein, um ihm erst darauf den konkreten folgen zu lassen, und bleibt damit konsequent seinem Grundsatz treu, vom Absoluten her zu beginnen. Den absoluten Part des theologischen Prinzips übernimmt das sich als Rechtfertigung explizierende theologische Materialprinzip.75 Der ————— 75

Vgl. A §24; 318: „Das theologische Prinzip als allgemeines ist Rechtfertigung.“ Das Ansetzen von der Rechtfertigung her dürfte Tillich von seinem Hallenser Lehrer Martin Kähler übernommen haben. Vgl. dazu: Gunther Wenz, Die reformatorische Perspektive, passim, und Lax, „Vom Denken selbst wollen wir uns zeigen lassen, was es kann ... Den Mut zur Wahrheit wollen wir wiedergewinnen“. Grundzüge der Genese von Paul Tillichs Denken dargestellt und erläutert an vier frühen Schriften aus den Jahren 1911–1913, Diss. München 2005, 30–32. Die Rechtfertigungsthematik nimmt sowohl bei Tillich als auch bei Kähler in seinem diesbezüglich entscheidenden Werk ‚Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt‘ (Leipzig 1883 [21893, 31905]) eine Zentralstelle ein, jedoch lassen sich signifikante Unterschiede in Bezug auf Herleitung und Funktion dieses theologischen Elementartopos erkennen: Kähler gliedert sein System in drei Hauptabschnitte mit den Überschriften ‚Christliche Apologetik‘, ‚Evangelische Dogmatik‘ und ‚Theologische Ethik‘. Den die Gliederung betreffenden Dreischritt vollzieht auch Tillich, indem er sein System ebenfalls in einen apologetischen, einen dogmatischen und einen ethischen Teil zerfallen lässt. Was die inhaltliche Füllung und v.a. das methodisch-epistemologische Vorgehen betrifft, zeigen sich jedoch eklatante Differenzen. So ist bei Tillich etwa der apologetische Part eindeutig als philosophische Abhandlung konzipiert und liefert den Begründungs- und Herleitungszusammenhang für die weiteren Erörterungen in der Dogmatik und der Ethik, die aus dem ersten Teil hervorgehen. Der Rechtfertigungsbegriff spielt in Tillichs dogmatischem Teil eine entscheidende Rolle, ja stellt sozusagen das intimum der theologischen Konzeption dar – und zwar insofern, als „der Begriff der Rechtfertigung letztlich nur die theologische Terminologie für das Tillichsche theologische Prinzip ist, das seinerseits eine Art Spezialfall des wissenschaftlichen Prinzips überhaupt darstellt.“ (Lax, Denken, 31) Tillich rückt also – neben dem Kreuz als dem konkreten Moment – die Rechtfertigung in den Mittelpunkt seiner dogmatischen Erörterungen, gewinnt sie jedoch erst über und aus den (philoso-

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relative Standpunkt ist bekanntlich nie ohne den absoluten, da er in ihm seinen Platz hat und, sofern er nicht vom absoluten Standpunkt sein Dasein gewinnt, vom absoluten Standpunkt aufgrund der Relativität des relativen Standpunkts notwendig der Vernichtung innerhalb des absoluten Systems anheim gegeben ist. In dieser Situation ist der relative Standpunkt immer als wahr und zugleich unwahr gekennzeichnet, woraus sich die „Not der Reflexion“ (A §24; 318) ergibt, ohne Angenommensein durch den absoluten Standpunkt immer der eigenen Daseinsberechtigung ob der eigenen Relativität verlustig zu gehen. Der Reflexionsstandpunkt ist seiner immer nur relativen, niemals absoluten Wahrheit wegen jederzeit schlechterdings angewiesen auf ein Rechtfertigungsurteil seitens des absoluten Standpunkts. Problematisch ist für den Standpunkt der Relativität, dass er für das Urteil des absoluten Standpunkts immer als teilweise annehmbar und teilweise unannehmbar erscheint, weil er zwar auch mit den Kategorien von Wahrheit und Unwahrheit je nach seinem Stehen zur Wahrheit zu operieren vermag, es sich bedingt durch die stete Verquickung von Wahrheit und Unwahrheit auf dem relativen Standpunkt aber immer nur um relative Urteile bezüglich der Wahrheit handeln kann. Als absolut wahr zu bezeichnen ist ausschließlich der absolute Standpunkt, wohingegen der relative immer als nur relativ wahr mit einem gleichfalls relativen Anteil an Unwahrheit zu charakterisieren ist. Der absolute Part zeichnet sich somit nur durch absolute Urteile aus, weshalb der Relativitätsstandpunkt nicht einfach ob seines teilweisen Wahrseins angenommen bzw. seines teilweisen Unwahrseins wegen verworfen werden kann. Beide Urteile laufen der Wahrhaftigkeit der absoluten Wahrheit strikt zuwider, da um der Wahrhaftigkeit willen weder relative Wahrheitsmomente noch relative Unwahrheitsmomente ignoriert werden können76 – ansonsten ließe sich die absolute Wahrheit auf relative Kategorien ein und ginge dadurch sowohl ihrer Wahrhaftigkeit und damit verbunden auch ihrer Absolutheit verlustig. ————— phisch-)apologetischen Prolegomena. Kähler hingegen setzt den Begriff der Rechtfertigung allererst voraus (vgl. ebd.). Konzeptionell strebt Tillich somit eine Ausweitung des klassischen Rechtfertigungsbegriffs an, indem er ihn von der „traditionellen Terminologie“ löst und „zur regulativen Idee des Gesamtsystems erklärt“ (Wenz, Die reformatorische Perspektive, 219). 76 Interessant ist diese Grundinterpretation des Rechtfertigungsgeschehens durch Tillich auf religionsphilosophischer Basis. Zwar führt er die Gedanken materialdogmatisch nicht weiter aus, allerdings ermöglicht gerade diese Fassung der Rechtfertigung, dass eine Annahme des Sünders durch Gott ob der Gottheit Gottes nicht auf Teilwerken seitens des sündigen Subjekts aufgebaut werden kann, sondern das Rechtfertigungsgeschehen zumindest zunächst und in systematischer Konzeption von der Rechtfertigung der Sündhaftigkeit per se, also mithin des Zustandes aller Sünder, anheben muss, um der Gottheit Gottes gerecht werden zu können, ohne dass diese sich in der sündenbehafteten Welt partikularisiert. Das Sündenverständnis der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ bedürfte allerdings einer eigenen wissenschaftlichen Untersuchung und kann hier nur als Forschungsdesiderat angerissen werden.

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Aus absoluter Sicht ist somit ausschließlich eine komplette Annahme oder Verwerfung des Standpunkts der Relativität und somit der Relativität als solcher im Rahmen des Möglichen. Mit anderen Worten: Es muss ein absolutes, kein relatives Urteil gefällt werden. Vorstellig zu werden hat das absolute Rechtfertigungsurteil allerdings als ein doppeltes. Entsprechend dem Verhältnis von absolutem und relativem Moment im theologischen Prinzip setzt die vollständige Negation der gesamten Sphäre der Relativität das Relative als vollständig Nicht-Relatives wieder zurück in den Fluss des absoluten Prozesses. Deshalb hat gleichzeitig und gleichberechtigt eine Bejahung der Relativität als solcher statt. Allerdings ist darauf zu verweisen, dass sowohl das absolute Verneinungs- als auch Bejahungsurteil in keiner Weise als von der relativen Wahrheit bzw. Unwahrheit des relativen Standpunkts abhängig vorstellig zu werden hat, weil in diesem Fall wiederum nur Urteile auf der Basis relativer Zustände und keine tatsächlich absoluten Urteile getroffen würden.77 Tillich expliziert die Unabhängigkeit und somit echte Absolutheit des absoluten Urteils anhand des Prädestinationsgedankens, indem dieser mit der Annahme einzelner konkreter Individuen gewissermaßen anhand des Herausgreifens bestimmter Einzelner die Dialektik des Reflexionsstands auf die Spitze treibt und ad absurdum führt: Stellt die Negation oder Affirmation des gesamten Standpunkts noch einen für die Reflexion zwar abstrakten, aber dennoch in prinzipieller Hinsicht logisch nachvollziehbaren Vorgang dar, so ist die Auswahl Einzelner mit der reflexiven Dialektik insofern nicht mehr vereinbar, als für das Denkvermögen automatisch die Frage nach dem Inhalt und den Gründen der Erwählung sich anschließt, also die Frage, wer warum ausgewählt wird. Entscheidend sind jedoch nicht die relativen Evaluationskategorien, die auf die Prädestination angewandt werden, sondern das ‚Dass‘ der prädestinierten Auswahl lässt vielmehr im Gegenteil die Freiheit des absoluten Urteils ansichtig werden, eben in, mit und durch die absolut freie Wahl, die letztlich gerade nicht mittels rationalen Nachvollzugs auf Gründe oder gar strukturelle Valenzbegriffe zurückgeführt werden kann.78 Das Konkrete, Relative wird in und trotz seiner Konkretheit und Relativität nach Fällen eines absoluten Urteils vom Absoluten angenommen, was bedeutet, dass kraft der Prädestination und der mit ihr einhergehenden vom Konkreten nicht nachvoll————— 77

Tillich bezeichnet die Unabhängigkeit von den relativen Kategorien, mit der das absolute Urteil getroffen wird, als „doppelte Paradoxie des Rechtfertigungsgedankens“, die sich darin expliziert, „daß das negative Urteil absolut ist, ungeachtet des relativ Positiven, was sich findet, und daß das positive Urteil absolut ist, ungeachtet des relativ Negativen, was sich findet.“ (A §24; 319) 78 „Vgl. A §24; 319: „Der kraftvollste Ausdruck für die Absolutheit dieser Kategorien ist der Prädestinationsgedanke; er besagt in seiner religiösen Fassung […], daß die Rechtfertigung durch nichts bedingt ist.“

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ziehbaren, aber nicht anders als völlig frei vorstellig werdenden Wahl die Rechtfertigung vollkommen unabhängig von jeglichen relativen Kategorien schlechterdings bedingungslos ist.79 Diese Konzeption der Rechtfertigungslehre, die Tillich mit einer zwar durchaus theologisch motivierten, aber gleichsam philosophisch aufgeladenen Fassung des Prädestinationsbegriffs aufs Engste verknüpft, führt nun zu einer Anwendung dessen, was in Bezug auf konkret einzelne Entitäten zutrifft, auf den Gesamtzustand der Relativität in prinzipieller Hinsicht. Was für konkrete Einzelausprägungen des relativen Standpunkts – und somit für den relativen Standpunkt als ganzen in höchster Form, weil ja die Relativität in der Betrachtung eines Einzelvertreters dieses Standpunkts nicht mehr steigerbar ist – gilt, hat folglich auch prinzipiell für den gesamten Reflexionsstandpunkt als solchen zu gelten.80 Die Rechtfertigung erstreckt sich mithin auf die komplette Relativitätssphäre und vollzieht, was sich bereits paradigmatisch anhand der Einzelkonkretionen angekündigt hat: die Aufhebung und in der Aufhebung die An- und Aufnahme des relativen Standpunkts in den absoluten kraft der Rechtfertigung der Relativität als solcher. Dies ist gleichbedeutend mit Tillichs Definition des theologi————— 79

Es steht zwar außer Frage, dass Tillich in der Verwendung des Prädestinationsbegriffs die Grenzen einer rein religionsphilosophischen Erörterung, so wie es sein Anliegen ist, zu überschreiten und den theologischen Bereich zu betreten droht; allerdings liegt der Reiz seiner Prädestinationskonzeption gerade darin, dass er einen primär materialdogmatisch verwendeten Begriff insofern in seine philosophischen Prämissen einzugliedern versteht, als die Annahme einer konkreten Rechtfertigung, d.h. der Rechtfertigung des konkreten Einzelnen als solches die zwingende Form ist, in der die Rechtfertigung des Konkreten durch das Absolute nach Tillichs Systematik vollzogen werden muss, da das Konkrete nur dann realiter als Konkretes gerechtfertigt wird, wenn es als einzelnes Konkretes gerechtfertigt wird. Das bloße Postulat einer Rechtfertigung des relativen Standpunkts als solchen ist der Konkretheit des Standpunkts unangemessen und berücksichtigt nicht die spezifischen relativen Kategorien, die zwar um der Absolutheit des Absoluten willen abgelehnt, aber um der tatsächlichen Rechtfertigung des Konkreten als Konkretes bejaht werden müssen. Dass das teilweise stark theologisch geprägte Vokabular, das Tillich in seinen Ausführung in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ verwendet, nicht unbedingt ideal geeignet ist, seine Konzeption auch philosophisch akzeptabel zu machen, hindert nicht daran, dass die Verbindung von Rechtfertigung und Prädestination auch auf der Ebene seiner religionsphilosophischen Kategorien von absolut und konkret hervorragend systemimmanent interpretiert werden kann, wie dies im Vorhergehenden versucht wurde. 80 Der Schluss von der Rechtfertigung eines Einzelnen bzw. Einzelner auf die Rechtfertigung des relativen Standpunkts als eines ganzen darf nicht als Überstieg von nominaler Forderung in die Realitätsebene missinterpretiert werden. Es ist vielmehr umgekehrt zu veranschlagen, dass erst die Einzelrechtfertigung die Standpunktrechtfertigung ermöglicht, da nur in der Rechtfertigung des Einzelnen der relative Standpunkt wesensmäßig ernst genommen wird. Nirgends sonst ist der Relativitätsstandpunkt so originär er selbst wie in der partikularisierten Form des konkret Einzelnen. Die Rechtfertigung des ganzen Reflexionsstandpunkts ist mithin nicht einfach eine Übertragung der Rechtfertigung einer konkreten Einzelheit auf das Ganze, sondern in anderer Reihenfolge eher eine Abfolge ad minorem, weil der relative Standpunkt als ganzer eben weniger relativ ist als das einzelne Relative.

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schen Materialprinzips als der „Bestimmung, auf alle Seiten des Reflexionsstandpunktes ungeachtet seiner Relativität die absoluten Kategorien in Anwendung zu bringen. (Das theologische Materialprinzip.)“ (A §24; 320) Absolute Verneinung und absolute Bejahung der Einzelheit qua Einzelheit koinzidieren mithin im Rechtfertigungsbegriff, der nichts anderes meint als die sich zum Vollzug der Synthesis hinbewegende Integration des relativen Standpunkts in seiner Relativität in den absoluten Standpunkt. Dieser Vorgang lässt sich vom selbstbewussten Geist nun allerdings nur in Form der Abstraktheit des Paradoxes erfassen, so dass es stets gleichzeitig einer genuin konkreten Fassung des theologischen Prinzips bedarf, damit der Paradoxbegriff auch tatsächlich die Lösung der Differenz zwischen absolut und konkret auf dem theologischen Standpunkt zu vermitteln vermag. Dies ist jedoch Aufgabe des theologischen Formalprinzips, das in der Person Jesu Christi ansichtig wird.

1.2.5.3 Theologisches Formalprinzip: Jesus Christus Der theologische Standpunkt operiert – wie bereits festgestellt – als der Ort des Paradoxes dezidiert unter den Bedingungen der Relativität und steht somit fortwährend unter der Anwendung relativer Kategorien auf ihn. Wesensmerkmal des Reflexionsstandpunkts ist die Konkretheit, durch die bedingt die Rechtfertigung als rein irreal-abstrakte Größe für die Sphäre der Relativität in Erscheinung tritt, d.h. die Rechtfertigung ist als abstrakte für das Relative schlechterdings unzugänglich. Es bedarf mithin notwendigerweise des konkreten Moments des theologischen Prinzips, damit das Relative allererst an der abstrakten Form des Paradoxes, wie es in Gestalt der Rechtfertigung ansichtig wird, realiter, d.h. im wahrsten Sinne des Wortes: konkret, partizipieren kann. Mit anderen Worten: Das Paradox als solches muss konkret werden, um vom Konkreten – dem Subjekt des theologischen Standpunkts – rezipiert werden zu können. Mit Tillichs Worten stellt sich genau an dieser Stelle „das theologische[.] Zentralproblem: Hier oder nirgends wird der Charakter der Synthese zwischen absolutem und relativem Standpunkt deutlich.“ (A §25; 321) In der Konkretwerdung des Paradoxes liegt die Möglichkeit der Aufnahme des Paradoxes seitens der Relativität begründet, so dass nur hier der Synthesischarakter des paradoxalen Geschehens erfasst und für die Relativität selbst fruchtbar gemacht werden kann. Definitorisch bestimmt war das Paradox darin, dass das Absolute konkret wird, d.h. sich unbeschadet seiner Absolutheit in die Sphäre des Relativen unbeschadet dessen Relativität begibt, was nach Tillich als schlechterdings paradox zu charakterisieren ist. Eine für das Relative akzeptable Form kann das so zu veranschlagende Paradox allerdings nur annehmen, indem es sich konkret ereignet, was für den subjektiven Geist tatsächlich nur in seiner

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höchsten Form, d.h. historisch, vorstellbar und möglich ist.81 Erst in dem Zustand, in welchem das Konkrete auch verfasst ist, nämlich als vollständig partikularisiertes Individuum, mithin im punktuellen Sich-Ereignen, kann das Paradox konkret werden. Die Konkretwerdung des Paradoxes kann sich wahrhaft konkret nun allerdings nur in einer tatsächlich historisch verortbaren Begebenheit vollziehen, was wiederum eine bestimmte Kultursphäre und damit verbunden – da es ja um das Verhältnis von absolut und konkret geht – die Betrachtung einer konkreten Religion voraussetzt. Tillich kommt damit innerhalb seines eigenen Systems nicht umhin, auch hier im Rahmen der religionsphilosophischen Erörterung von einer konkret religiösen Basis auszugehen und deshalb den „Inhalt des konkreten Momentes des theologischen Prinzips“ als „[d]as Urteil, daß in Jesus von Nazareth das Absolute sich herabgelassen hat zum Relativen und das Relative zurück[ge]kehrt ist zum Absoluten“ (These zu A §25; 320f; zweite Konjektur im Text der Edition) zu bestimmen.82 Das Historisch- resp. Konkretwerden des Paradoxes zeitigt nun aber zur Folge, dass es zwangsläufig nicht nur in die Sphäre des Relativen eingeht, sondern auch vollständig dessen Kategorien, die in der Dialektik der Reflexion ihre höchste Ausprägung finden, verfällt. Daraus – also in der Anwendung der Reflexion auf das Paradox – ergibt sich ein doppeltes Problem in der Rezeption des Paradoxes auf relativem Boden: Erstens kann das Paradox vollständig vom Denken analysiert und dadurch den relativen Kategorien unterworfen werden, was allerdings notwendig eine Zerstörung des Paradoxes als solches bewirkt, da sich das Paradox ja gerade dadurch auszeichnet, die Synthesis von absolut und konkret zu sein, welche durch reflexive Dialektik zwangsläufig in ein abstraktes Differenzverhältnis umschlagen muss, das dem Anliegen der auf dem absoluten Standpunkt ————— 81

Die Lösung, die Karl Heim vorschlägt, wird von Tillich allerdings komplett verworfen. Eine genaue Diskussion der These Heims nimmt Tillich 1919 in seinem Entwurf ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ vor, weshalb für die Kritik Tillichs am Konzept Heims auf Kap. 2.2.2 verwiesen sei, wo eben jene Auseinandersetzung betrachtet wird. Ihre Wurzeln hat sie aber bereits im Jahre 1913. 82 Es darf für Tillich – zumal für sein frühes Schaffen im Jahre 1913 – davon ausgegangen werden, dass die Wahl des Christentums als der konkreten Religion, anhand derer das theologische Prinzip in seinem konkreten Moment expliziert wird, keine zufällige und beliebig austauschbare ist. Allein seine starke Konzentration auf das Kreuzesgeschehen (siehe weiter unten im Text) und die faktisch bei ihm vorliegende reziproke und irreduzible Beziehung von theologischem Prinzip und seinem konkreten Moment, der Menschwerdung des Christus Jesus, verhindern an dieser Stelle eine außerchristliche Positionierung Tillichs; vgl. hierzu Kap. 1.3.2. Allerdings muss nach Tillichs Konzeption in prinzipieller Hinsicht der theologische Standpunkt als offen gegenüber diverser religiöser Konkretisierung betrachtet werden, deren einzige, aber dafür zwingende Voraussetzung ist, dass sie das theologische Prinzip erfüllen, d.h. sich unbedingt an beiden Momenten des theologischen Prinzips ausrichten und somit das Paradox in konkreter Form immer im Verbund mit dem Prinzip der Selbstüberwindung in Ansicht bringen.

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gegebenen intuitiven Erfassung des absoluten Prozesses strictissime zuwider läuft.83 Die zweite Problematik eröffnet sich, sobald „man versucht, das Glaubensurteil von dem geschichtlichen völlig unabhängig zu machen“ (A §25; 321), weil in diesem Falle Glaube auf der einen und Reflexion auf der anderen Seite vollständig auseinandertreten und in ihrem eigentlichen Bezug, nämlich die Synthese beider Momente zu sein, voneinander gelöst werden. Dieser Versuch führt zwangsläufig zu einer dogmatischen Setzung des Glaubensereignisses als eines realen, dem seine Historizität ob seines Realseins einfach zuzusprechen ist, obwohl von einer sozusagen ‚echten‘ Historizität gar nicht die Rede sein kann, weil sich die Anwendung reflexivhistorischer Kategorien auf das Glaubensereignis aufgrund dessen schlichten Gesetztseins durch den Glauben verbietet.84 Glaube und Reflexion werden mithin beide nicht ernst genommen, indem das reflexive Nachvollziehen erst nach der Setzung durch den Glauben einsetzen darf und somit auf ‚un-reflektierter‘ Basis zu operieren genötigt ist; gleichfalls verliert der Glaube seinerseits im Endeffekt zusammen mit der Historizität seine konkrete Basis und droht, weil er ja trotz alledem auf dem theologischen Standpunkt auf reflexive Kategorien angewiesen bleibt, sich in der Fraglichkeit seiner selbst, die durch den Setzungsakt des Glaubensurteils als unhistorisch initiiert ist, immer weiter in Aporien zu verstricken und sich aufzulösen. Der Fehler beider Vorgehensweisen – der induktiven wie der deduktiven – beruht auf ihrem Ausgang bei der Reflexion, die bekanntermaßen immer nur innerhalb ihrer eigenen Sphäre verbleiben und auf sie zurückgeworfen werden kann und somit das Paradox in rein reflexivem Nachvollzug stets in seine beiden Bestandteile zerreißt, wodurch das Paradox in seinem parado————— 83

Nach Tillich entspricht diese Vorgehensweise der „induktiven […] Methode“, die ihren Kulminationspunkt erreicht „durch die historisch-kritische Betrachtung der neutestamentlichen Geschichte. Sie bedeutete die rückhaltlose Anwendung der Reflexion auf die konkrete christliche Voraussetzung und dementsprechend ihre radikale Zersetzung; die Versuche, diese Voraussetzung dennoch mit geschichtlichen Mitteln aufrechtzuerhalten, müssen als Rückzugsgefechte teils einer historisch uninteressierten Orthodoxie, teils eines religiös oberflächlichen Liberalismus gelten und haben nur gezeigt, daß es auf dem Wege historischer Reflexion keine Gewißheit gibt.“ (A §25; 321) Die historisch-kritische Methode als Inbegriff des rationalen Vorgehens „für das moderne Bewußtsein“ (ebd.) ist somit berechtigt in ihrem Anliegen als rein historisch-intellektuelles Unternehmen, kann jedoch nicht beanspruchen, durch ihre Weise theologische Argumente für das religiöse Bewusstsein hervorzubringen, weil hierfür nur die paradoxale und nicht die rein reflexive Darstellung, wie sie in der historischen Methode vorstellig wird, angemessen ist. 84 Zu fragen bleibt, inwieweit Tillich diesem seinem negativen Urteil über die „deduktive[.] Methode“ (A §25; 321) selbst zu verfallen droht, wenn man sich seine eigenen Aussagen zur Frage nach der Historizität des Christusereignisses genauer ansieht; vgl. hierzu Tillichs Äußerung in seinen ‚Die christliche Gewißheit und der historische Jesus‘ betitelten Thesen von 1911 (MW/HW 6, 21–37), die in Kap. 1.3.2.1 einer Analyse unterzogen werden.

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xen Charakter zerstört wird. Zeichnet sich das Paradox dadurch aus, die Synthesis zwischen absolutem und konkretem Moment zu sein, so darf die einende Funktion des Paradoxes auch in seinem konkreten Part in keiner Weise in Frage gestellt werden, weil andernfalls – wie es durch das Vorgehen der Reflexion geschieht – das reziproke Aufeinanderangewiesensein der Pole des theologischen Prinzips auf die Bedeutung nur eines Pols reduziert wird. Dies führt in konkreter Sicht dazu, dass die konkrete Umsetzung des Paradoxes entweder irreal – im Falle der deduktiven Ableitung – oder willkürlich – im Falle des induktiven Vorgehens – wird. Beidesmal ist das Paradox nicht mehr paradox, weil es nur in einer Variante seiner selbst ansichtig wird, die allerdings ohne den jeweiligen Widerpart nie als wahrhaft paradox vorstellig werden kann.85 Verwirklichbar ist die Synthesisnotwendigkeit des Paradoxes auch in seiner konkreten Form auf der Basis der Reflexion wiederum ausschließlich durch das Prinzip der Selbstüberwindung. Nur so kann das konkrete Paradox wahrhaft konkret, also für das Konkrete, Relative zugänglich, sein und trotzdem nicht der Reflexionsdialektik verfallen, indem es als konkretisierte Form gerade nicht den Anspruch auf Absolutheit in exakt dieser Form erhebt, sondern sich in Selbstüberwindung unter das Absolute beugt, wodurch es nicht zu dem der Reflexion zuwider seienden und gar nicht mehr rezipierbaren Vorgang der Absolutsetzung von etwas Relativem kommt, sondern das konkrete Paradox in, mit und durch das Prinzip der Selbstüberwindung dem eigenen Anspruch auf Selbstverabsolutierung wehrt. „Hier wird deutlich, was die Forderung zu bedeuten hatte: eine konkrete Religion, die in sich selbst ein Prinzip der Selbstüberwindung hat.“ (A §25; 322) Wäre die Selbstbescheidung des konkreten Paradoxes durch die Einsicht in die eigene Relativität verbunden mit dem Sich-Stellen in den absoluten Prozess, mithin die Selbstüberwindung, die Tillich konkret deshalb dann damit bezeichnen kann, „daß auch das christologische Urteil unter dem Rechtfertigungsge————— 85

Tillich fasst dieses Phänomen folgendermaßen zusammen: „Wie das abstrakte Moment des konkreten bedurfte, um nicht irreal zu bleiben, so bedarf das konkrete des abstrakten, um nicht Willkür zu werden.“ (A §25; 322) Zwar stellt Tillich hier die Gefahren von Irrealität und Willkür als die jeweiligen Grenzbegriffe von absolutem und relativem Moment vor, aber diese Bewegung zwischen den Polen lässt sich auch innerhalb der Pole selbst in Anschlag bringen, so wie dies im Text für das konkrete Paradox zu zeigen versucht wurde. Das Paradox in seiner konkreten Ausprägung wird eben dann missverstanden und gerade nicht als das, was es ist, nämlich die Synthesis von absolutem und konkretem Moment, erkannt, mithin als Paradox verkannt, wenn die im Konkreten widerstreitenden Pole von Glaube und Wissen, die ihrerseits wiederum für die konkrete und allgemeine Geistesfunktion stehen, das Paradox jeweils für sich beanspruchen wollen, was im Falle des konkretisierenden Glaubens eben zur willkürlichen Setzung und im Falle des verallgemeinernden Wissens bzw. Denkens zur Entrückung des Paradoxes aus der konkreten Ebene in die Abstraktheit und somit in die Irrealität des Paradoxes führt.

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danken steht“ (A §25; 322), nicht gegeben, so zeitigte dies eine Fixierung sämtlicher mit dem christologischen Urteil verbundener Begebenheiten zur Folge, d.h. das, was als Breite der Religion in ihrem funktionalen Verständnis zu klassifizieren war, würde als dem Absoluten Zurechenbares vorstellig werden, was zu einer unüberbrückbaren Differenz von Glaube und Denken und somit zur Unmöglichkeit des reflexiven Glaubensnachvollzugs führen würde. Auch hier fungiert das Prinzip der Selbstüberwindung als Vermeidungsmoment eines sacrificium intellectus und macht dadurch bildlich gesprochen den Glauben für die Reflexion ‚salonfähig‘. Die Konkretheit der Herablassung des Absoluten in das Relative wird für Tillich in christlicher Perspektive am deutlichsten im Kreuz Jesu Christi ersichtlich, in dem das Prinzip der Selbstüberwindung im konkreten Moment des theologischen Prinzips grundgelegt und einmalig exemplifiziert ist.86 In der Einwilligung in das Geschehen am Kreuz wird die Selbstüberwindung des Christus Jesus insofern konkret vollzogen, als gerade durch diesen Akt der Hingabe der eigenen Person und somit der Konkretheit des eigenen Selbst die Möglichkeit der Absolutsetzung des – als nur relativ zu betrachtenden – konkreten Seins Jesu Christi eigenmächtig nicht wahrgenommen wird. Korrespondierend zur Verweigerung der eigenen Absolutsetzung findet in positiver Hinsicht die Einwilligung in die aufhebende Bewegung vom Relativen zum Absoluten statt, wodurch gleichsam der Anspruch des Relativen gänzlich negiert wird, ohne jedoch das Relative als solches der Negation anheim fallen zu lassen, weil das Konkrete zwar als wahrhaft Relatives erkannt wird, im Prozess der Aufhebung des Konkreten hin zum Absoluten aber das Relative qua Relativität in den absoluten Prozess reintegriert wird, so dass das Relative nur als solches, d.h. als Nicht-Absolutes, in Erscheinung tritt, in seiner Relativität aber bewahrt bleibt. Das Kreuzesgeschehen stellt mithin den Kulminationspunkt im absoluten Prozess dar, an dem gewissermaßen eine Umkehrung der Bewegung vom Absoluten zum Konkreten jetzt vom Konkreten zum Absoluten statthat, die ausschließlich ermöglicht ist durch das Prinzip der Selbstüberwindung im Relativen selbst, so dass nun das Paradox als tatsächlich konkret verwirklicht vorstellig zu werden hat und die Bewegung sich anschickt, auf das dritte, teleologische Moment des theologischen Moments zuzutreiben. Im Christus Jesus und in Sonderheit in seinem Kreuz ist somit sowohl die vollständige Negierung wie auch Bejahung eines einzelnen Konkreten vollzogen, wodurch die Annahme – mit anderen Worten: die ————— 86

Vgl. A §26; 325: „Er [sc. Jesus] ist also zugleich der maßgebende Verkünder und einzigartige Verwirklicher des theologischen Prinzips.“

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Rechtfertigung – des Konkreten als solches allererst ermöglicht ist.87 Kurz gesagt: In Jesus Christus kommt somit das theologische Prinzip in vollkommener Entfaltung in Erfüllung, weil hier das geschieht, was das theologische Prinzip ausmacht: Die beiden Momente des theologischen Prinzips werden in seinem Kreuz in Verbindung vorstellig, wodurch auch das dritte Moment, das Kommen des Hinfälligwerdens der Voraussetzungen des theologischen Prinzips, realisiert wird, allerdings in der Form, in der das dritte, absolute Prinzip überhaupt erst realisiert werden kann, nämlich im Vollzug, nicht im Gewordensein. ————— 87

Vgl. A §25; 322: „[D]as Kreuz bedeutet ja die Aufhebung des Reflexionsstandpunktes auch für den Christus. Es bedeutet, daß sich der Christus über sich selbst und seine Individualität, seine Bestimmtheit und seine Kultursphäre hinaushebt, indem er in das Kreuz einwilligt. Eben dadurch vollzieht er im Konkreten, was das Wesen des theologischen Prinzips ist, die Selbsthinauslegung des Konkreten zum Absoluten. Am Kreuz stirbt alles Konkrete, das sich verabsolutieren will, auch die Konkretheit des Erlösers. Ans Kreuz geheftet ist das Urteil, das unter das Joch des Konkreten beugt.“ Die Tillich’sche Nomenklatur ist an dieser Stelle – besonders beim Terminus ‚Selbsthinauslegung‘ – nicht als eine Selbsterlösung des Relativen misszuinterpretieren. Vielmehr soll der Charakter des Einwilligens durchschlagen, der eine Erlösung des Konkreten aus seiner eigenen Aporie nur durch das Stellen in den absoluten Prozess ermöglicht, was eben nur in der Selbstüberwindung, d.h. in Negation und Affirmation der eigenen Relativität, als Möglichkeit aufleuchtet. Vollzogen wird das Geschehen immer nur als im absoluten Prozess stehend, so dass die vermeintliche Eigenaktivität des Relativen sich auf das Wahrnehmen der Notwendigkeit der Selbstüberwindung und somit auf ein Sich-integrieren-Lassen in den absoluten Prozess reduziert. In Bezug auf Tillichs starke Konzentration auf das Kreuz, muss der Kritik von Doris Lax, Rechtfertigung, 229f – die sie allerdings selbst später (ebd., 270) leicht revidiert – zumindest teilweise zugestimmt werden, nämlich insofern, als auch das Kreuz nur einen Aspekt in der Dynamik der Realisierung des theologischen Prinzips enthält. Neben der Negation alles Relativen am Kreuz muss mit dem Auferstehungsgedanken und -glauben die ebenso notwendige Bejahung des Relativen zum Ausdruck kommen. Zwar sind in jedem Moment des theologischen Prinzips die anderen beiden Momente mitgesetzt, so dass das Kreuz nur als ein ‚Exempel‘ verstanden werden kann, jedoch bleibt unverständlich, warum Tillich hier die Auferstehung als ebenfalls im Neuen Testament veranschlagtes Geschichtsfaktum vollständig unerwähnt lässt. Auch wäre durch die Einführung der Auferstehung ein mögliches Missverstehen des Kreuzesgeschehens als Selbsterlösung des Relativen vermeidbar gewesen. Beachtet man allerdings D §13, so wird Tillichs Aussparen der Auferstehungsthematik an dieser Stelle erklärlicher: Wie auch das dritte Moment dem theologischen Prinzip als Prinzip nichts Neues hinzufügt, sondern nur die Einheit der beiden ersten Momente in Aufhebung befindlich vorstellig werden lässt, so stellt die Auferstehung bzw. Erhöhung Jesu Christi für Tillich nur die „Konsequenz des Kreuzes“ (D §13; 361) dar, d.h. mit der Auferstehung ist auch ausgesprochen, dass sich die Voraussetzung der Auferstehung, also das Kreuz, in Aufhebung bzw. Auflösung befindet. Für den Standpunkt der Relativität bleibt jedoch das konkrete Moment der entscheidende Maßstab – ermöglicht es doch überhaupt erst die Aufnahme des Paradoxes in den Reflexionsstandpunkt. Die Funktionsgleichheit von Kreuz und Auferstehung betont auch Scharf, Breakthrough, 46: „The cross stresses God’s oneness with Jesus’ misery and the resurrection stresses Jesus’ oneness with God’s glory. Both express one and the same paradox: divinity in humanity and humanity in divinity.“

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Als Anstoß für die Reflexion bleibt allerdings die vollständige Historizität von Jesus Christus und besonders die seines Kreuzes erhalten. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass nicht ein beliebiger Mensch das Kreuz erleidet, sondern dass es just dieser eine einzelne Jesus von Nazareth ist.88 Dass es sich dabei um den Versuch einer Verbindung eines historischen Urteils mit einem Glaubensurteil handelt ist das Problem der Reflexion, das sich in Analogie innerhalb des theologischen Prinzips in der Antinomie von absolut-abstraktem (Rechtfertigung) und konkret-realem Moment (Christologie) widerspiegelt. Wenn auch die beiden Pendants als Material- und Formalprinzip eingeführt wurden, so muss doch festgehalten werden, dass es, eben weil sich beide Prinzipien wiederum wechselseitig bestimmen und nicht in abstrakter Isoliertheit betrachtet werden dürfen, für das Tillich’sche System geeigneter wäre, an dieser Stelle nicht von Prinzipien, sondern entsprechend von einem Material- und einem Formalmoment zu sprechen. So wird deutlich, dass die Prinzipien keine Alternativlösungen oder gar Verschiedenartigkeit im Inhalt darstellen,89 sondern letztlich dem Momentbegriff gemäß so aufeinander angewiesen sind und sich wechselseitig bestimmen, dass es sich sowohl bei Material- als auch Formalmoment nur um dasselbe, allerdings in zwei unterschiedlichen Fassungen handelt.90 In dieser Momentdefiniton, die Tillich selbst allerdings nicht vollzieht, erhellt auch Tillichs Forderung, dass die Christologie jederzeit durch die Rechtfertigung zu rechtfertigen ist und vice versa (vgl. A §25; 323). Der theologische Standpunkt verlangt in seinem paradoxen Wesen beides: die abstrakte Rechtfertigung und den konkreten Glauben – allerdings in Synthesis trotz der Unsynthetisierbarkeit der beiden Pole betrachtet. Dies führt letztlich hin zum dritten Moment des theologischen Prinzips, in dem die Synthesis des Differenten in Aufhebung begriffen ist. ————— 88

Vgl. A §25; 322: „Dennoch bleibt die Problematik des Konkreten bestehen, denn nicht daß irgendeiner, sondern daß dieser Jesus von Nazareth stirbt, ist ja das Entscheidende. Und das setzt eben ein historisches Urteil voraus.“ (Hervorhebung S.D.) 89 Das Formalprinzip könnte etwa als bloße mit dem Inhalt des Materialprinzips zu füllende Hülle vorstellig werden. 90 So kann Tillich analog zum Materialprinzip formulieren: „Für die theologische Methode ergibt sich aus diesem Moment des theologischen Prinzips die Bestimmung, alle Seiten des Reflexionsstandpunktes mit dem christologischen Urteil in konkrete Beziehung zu setzen. (Das theologische Formalprinzip.)“ (A §25; 323) War in materialer Hinsicht die Anwendung absoluter Kategorien auf das Relative notwendig, so setzt sich nun umgekehrt das Relative immer in konkrete Relation zur Historie Jesu Christi, so dass im Kreuz Christi selbst beide Momente sich treffen. Georg Neugebauer weist die faktische Verfasstheit des Tillich’schen Material- und Formalprinzips in Form der Momenthaftigkeit schon in Tillichs 1911er Thesen zum historischen Jesus auf (vgl. Neugebauer, frühe Christologie, 219 und 226). Neugebauer zufolge ist diese Struktur der Systematik von 1913 demnach schon in den früheren Thesen präfiguriert. Zu den Thesen von 1911 vgl. ausführlich Kap. 1.3.2.1.

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Beim konkreten Moment des theologischen Prinzips bleibt ob dessen Konkretheit immer die Verbindung zu einer bestimmten Kultursphäre, mithin zur damit gegebenen Historizität bestehen, die im historischen Urteil über das Geschehen am Kreuz Christi gipfelt. Somit bedarf die systematische Entfaltung des theologischen Prinzips immer auch einer Wechselbeziehung zu den sie mitkonstituierenden historischen Begebenheiten. In wissenschaftlich-enzyklopädischer Hinsicht spiegelt sich dies im Verhältnis von systematischer und historischer Theologie wider.91 Unter letzterer subsumiert Tillich sowohl die bibelwissenschaftlichen Fächer, näherhin die altund neutestamentliche Wissenschaft, als auch die Kirchengeschichte (vgl. die These zu A §26; 323). Die historische Theologie ihrerseits bedarf in gleichem Maße der systematischen Theologie wie umgekehrt – entsprechend der Definition des Momentbegriffs, der auch hier wieder auf die beiden Pole von historischer und systematischer Theologie anwendbar ist –, weil die historische Theologie zwar in methodischer Hinsicht nicht geschieden ist – und auch nicht sein darf – von der allgemeinen Geschichtswissenschaft profaner Provenienz, sich in prinzipieller Hinsicht von jener allerdings nicht im Sinne einer Fächertrennung unterscheidet, aber dezidiert als auf dem theologischen Standpunkt, also unter dem theologischen Prinzip stehend operiert und somit nie der reinen Reflexion anheim fällt, sondern sich immer im Wechselverhältnis zum Objekt ihrer Untersuchung befindlich versteht, insofern dieses Objekt immer auch Prinzip ihres eigenen Vorgehens ist.92 Systematische wie historische Theologie befinden sich somit in einem wechselseitigen Korrekturverhältnis, wodurch sich die systematische Darstellung des theologischen Prinzips in Reinheit immer von der historischen Analyse ihren Ursprung nehmend und das historische Vorgehen sich jederzeit von dem systematisch dargelegten theologischen Prinzip bestimmt weiß. Eine abstrakte Konzentration auf ein Moment muss ————— 91

Vgl. A §26; 323f: „Da die Konkretheit des theologischen Prinzips in seiner Verknüpfung mit der Geschichte besteht, so ist die systematische Theologie nicht möglich ohne die historische, deren Aufgabe es ist, Art und Weise dieser Verknüpfung herauszustellen und zu rechtfertigen. Die historische Theologie ist also Voraussetzung der systematischen.“ 92 Vgl. dazu Tillichs Aussagen, der die historische Theologie somit nicht als Sonderwissenschaft, sondern als eine Wissenschaft sehen möchte, die sich als integraler Bestandteil des Reflexionsstandpunkts derart, wie dieses Verhältnis eben aus Sicht des Paradoxes vorstellig wird, versteht; „denn die historische Theologie ist nicht ein Teil des Systems der Geschichtswissenschaften, sondern es [sic!] ist Geschichtswissenschaft unter Voraussetzung und Leitung des theologischen Prinzips. Das ist nicht so gemeint, als hätte die theologische Historie eine eigentümliche Methode. […] Aber die theologische Historie setzt das Urteil über ihr Objekt voraus, daß dieser Geschichtsverlauf die konkrete Realisierung des theologischen Prinzips sei.“ (A §26; 324; Konjektur in der Edition) Damit vertritt Tillich bereits hier ein Fachverständnis von theologischer und profaner Wissenschaft, das er ausführlich dann 1923 in seiner Schrift ‚Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden‘ (GW I, 109–293) behandelt.

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somit immer als unterhalb des Niveaus des theologischen Standpunkts stehend bezeichnet werden. Aus diesem stetigen Aufeinanderangewiesensein ergibt sich folgerichtig die „Unendlichkeit der historischen Theologie“ (A §26; 324), die im fortwährenden Austausch mit der – im Kern konstant bleibenden – systematischen Theologie sich immer neu zu bestimmen hat.93 Die historische Theologie ihrerseits expliziert sich analog den Momenten des theologischen Prinzips in einem abstrakten (Altes Testament), konkreten (Neues Testament) und einem absoluten Moment (Kirchengeschichte) (vgl. A §26; 324f). Im Gegensatz zur alt- und neutestamentlichen Wissenschaft vermag die Kirchengeschichte als drittes Moment dem Prinzip als solches nichts Neues hinzuzufügen, sondern sie bringt das konkrete Verhältnis von Glaubens- und Geschichtsurteil nur für die entsprechenden Kultursphären in Ansicht. Abhängig ist dieses Urteil Tillichs davon, dass auch die historischen Gegenstände nur insofern Autorität beanspruchen können, als sie das theologische Prinzip als solches, d.h. immer in Verbund mit dem Prinzip der Selbstüberwindung, in Darstellung bringen. Die biblischen Texte können deshalb durchaus direkt normativ wirken, allerdings eben nur unter der Voraussetzung, dass sie in Überwindung der eigenen relativen Darstellungsform das theologische Prinzip als solches präsentieren. Es findet sich somit eine Stufung dergestalt, dass das theologische Prinzip per se unmittelbar zu wirken vermag, die biblischen Schriften nur mittelbar,94 eben als Darstellung des Prinzips, und die Kirchengeschichte ausschließlich in relativem Verhältnis, da sie bestenfalls für jede Kulturform die entsprechende Ausprägung des theologischen Prinzips – die als solche ja eine relative ist – darstellt.95 Die Eigenposition des systematischen Theologen ist ————— 93

Als Bezugspunkt ist hierbei wiederum Tillichs spätere Konzeption von Botschaft bzw. Kerygma und Situation zu nennen; vgl. Kap. 3.1.2. 94 Man könnte sagen, dass Tillich hier in gut lutherischer Tradition gewissermaßen eine ‚Mitte der Schrift‘ veranschlagt, die durch das theologische Prinzip markiert ist. Insofern ist Hans Schwarz zu widersprechen, wenn er meint Tillich spreche von „certainly a or even the biblical Christ“ und sogar zu erkennen glaubt, dass „Martin Kähler’s claim to accept the total biblical Christ instead of looking for the historical Jesus looms in the background of Tillich’s argument.“ (Hans Schwarz, Who is Jesus the Christ?, in: Peter Haigis/Gert Hummel/Doris Lax [Hg.], Christus Jesus – Mitte der Geschichte!? Beiträge des X. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/Main 2004. Christus Jesus – the Center of History!? Proceedings of the X. International Paul-TillichSymposium Frankfurt/Main 2004 [Tillich-Studien, Bd. 13], Berlin 2007, 3–10, hier: 9) Den Bezug zu einem luthernahen Schriftverständnis in Tillichs Systematik von 1913 stellt hingegen in ähnlicher Weise auch Gert Hummel, Tillich’s 1913 „Systematische Theologie“ and his 1925 Dogmatik: A Comparison, in: Jean Richard/André Gounelle/Robert P. Scharlemann (Hg.), Études sur la Dogmatique (1925) de Paul Tillich. Textes présentés lors d’un colloque tenu à l’Université Laval en août 1994, Québec 1997, 361–381, 372, her. 95 Vgl. A §27; 326: „Unmittelbar autoritativ für die christliche Erkenntnis ist allein die Darstellung des Prinzips in seiner Reinheit, eine abgeleitete Autorität kommt dagegen auch den klassischen Grundlagen, Antithesen und Synthesen zu, die es in der alttestamentlichen und neutestamentlichen

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einzuordnen in die Kategorie der Kirchengeschichte, insofern das Individuelle am systematischen Ansatz eines Einzeltheologen sich immer im Konnex mit der entsprechenden Epoche und dadurch mit der im Verbund mit der Zeit stehenden Kultur befindet. Nach der Tillich’schen Konzeption ist somit nicht das Einzelsystem an sich vom Theologen entworfen, sondern – sofern es sich um ein Theologieverständnis handelt, das die Prämissen Tillichs teilt – das theologische Prinzip ist gewissermaßen nur in eine der dem Theologen eigentümlichen Kulturepoche entsprechende Form gekleidet.96

1.2.5.4 Das Drängen der beiden Momente des theologischen Prinzips auf eine Lösung im teleologischen Moment Bereits der absolute Standpunkt selbst gliederte sich in die drei Momente von Wahrheit, Denken und absoluter Mystik, wobei Letztgenannte wiederum mit dem Begriff der Wahrheit zu versehen ist, allerdings in ihrer vollendeten Form, die den Gegensatz der beiden ersten Momente nur noch als in der Identität von Identität und Differenz aufgehoben in sich fasst. Das dritte Moment innerhalb des absoluten Standpunkts ist somit einerseits ‚nur‘ als Synthesisfunktion in Bezug auf die beiden ersten Momente charakterisiert, kann aber andererseits das Anliegen des Standpunkts selbst in präzisester Fassung zur Geltung bringen. Ihren tatsächlichen Platz im absoluten Standpunkt erhalten Wahrheit und Denken allererst von der Endperspektive der absoluten Mystik her, die gewissermaßen das Verhältnis von Wahrheit und Denken, das zwar durch die beiden Relate bereits konstituiert ist, von den Relaten per se aus allerdings ob ihres Polcharakters nicht in Ansicht ge————— Geschichte eingegangen ist. […] Für die Kirchengeschichte gilt, daß sie in keinem Moment unmittelbar autoritative Geltung hat.“ (Hervorhebungen S.D.) 96 Vgl. A §27; 326: „Vielfach wird auch das Bewußtsein des Dogmatikers als Quelle des dogmatischen Urteils betrachtet; dies beruht jedoch auf einer Verwechslung von Voraussetzung und Ursache.“ Originalität im systematischen Entwurf kann nach Tillich mithin einem System nur insofern zugesprochen werden, als es in besonders treffender Weise das – von Tillich später so bezeichnete – ‚Kerygma‘, d.h. das immerfort gleichbleibende theologische Prinzip, für die jeweiligen gegenwärtigen Kulturzustände zu explizieren vermag. Es geht an dieser Stelle nicht darum, „wie vom Einzelbewußtsein aus die Gewißheit des theologischen Standpunkts zu erreichen ist“, weil dies „gehört in die theologische Ethik“ (A §27; 327), sondern Tillich möchte mit der Verortung des theologischen Einzelentwurfs im Rahmen eines kirchengeschichtlichen Kontexts nur die Begründung des theologischen Standpunkts im absoluten und somit allgemein-philosophischen Standpunkt firmieren, wodurch Theologie an sich immer als ein der konkreten Sphäre zugehöriges Unterfangen klassifiziert wird, das seinen Kern und Inhalt jedoch aus dem allgemeiner Reflexion erschließbaren Urteil philosophischer Provenienz bezieht. Theologie und Philosophie sind bereits in diesem frühesten System Tillichs somit – analog dem Verhältnis von absolutem und relativem Standpunkt – in Irreduzibilität miteinander verbunden und aufeinander angewiesen.

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Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips

bracht werden kann, erst als Verhältnis und in seiner Bestimmung vorstellig macht. Damit wird deutlich, was Tillich meint, wenn er davon spricht, dass das dritte Moment dem System nichts Neues hinzufüge. Das System als solches ist bereits mit den Polen von absolut und konkret in Bestand gesetzt und erhält durch das dritte Moment, wie es in der absoluten Mystik ansichtig wird, sozusagen nur eine ‚Außenperspektive‘, die das Funktionieren des Systems in prinzipieller Hinsicht von der Ebene des Absoluten, d.h. aus der genuinen Perspektive des absoluten Standpunkts, als Ganzes darstellt. Gleichermaßen ist nun auch die Konzeption des dritten Moments auf dem theologischen Standpunkt zu veranschlagen:97 Das irreduzible Verhältnis von absolutem – aus relativer Sicht dann abstraktem – und konkretem Moment des theologischen Prinzips wird deutlich im dritten Moment des theologischen Prinzips, das Tillich als das „absolute“98 oder „eschatologische“ (A §29; 327) Moment des theologischen Prinzips bezeichnen kann. Wesensmäßig bestimmt ist auch dieses dritte Moment wiederum in seiner Synthesisfunktion, indem die Anliegen der beiden ersten Momente, also der Relate innerhalb des theologischen Prinzips, trotz und in ihrer Differenz in Einheit vorstellig gemacht werden, allerdings – und hier zeigt sich der wesensmäßige Unterschied zum absoluten Standpunkt – nicht als bereits in Identität vereinte, sondern als im Begriff befindlich, in die Einheit von Einheit und Differenz überführt zu werden. Der Distinktionspunkt zum absoluten Standpunkt leitet sich ab von dem Boden, auf dem der theologische Standpunkt operiert, welcher der des relativen Standpunktes ist. Somit sind – entsprechend der reflexiven Dialektik – die Gegensätze, wie sie in der Sphäre des Konkreten aufbrechen, notwendig vorhanden und nicht, wie dies absolut vorstellig zu werden hat, in Einheit aufgehoben. Demgemäß findet sich der theologische Standpunkt, gleichsam wie die Religion im absoluten System, stets mit der Reflexion ringend vor und immer nur darin begriffen, sie zu überwinden. Wäre die Reflexion überwunden, so käme ————— 97

Dass der Reflexionsstandpunkt als gewissermaßen drittes Standpunktglied zwischen absolutem und theologischem Standpunkt nicht die Gliederung in eine Momententrias kennt, rührt von seinem relativen Charakter her. In der reinen Selbstbezüglichkeit der Reflexion weiß das reflexive Subjekt zwar um die eigene Relativität und somit die Notwendigkeit eines außerhalb seiner selbst liegenden Bezugspunkts, kann aber daraus vermittels eigener Anstrengung nicht heraustreten und verbleibt somit in der Form des Pessimismus auf sich selbst verhaftet. Obwohl die Reflexion somit wesensmäßig als Widerspruch zu bestimmen ist, so wenig kann sie selbst Bezug nehmen auf das, wogegen sie widerspricht, so dass von echter Polarität und somit Momenthaftigkeit im Rahmen des relativen Standpunkts nicht gesprochen werden kann. 98 Tillich fasst das dritte Moment als das absolute, weil er das erste Moment als das abstrakte bezeichnet hatte. Allerdings ist der Absolutheitsbegriff durchaus auf das erste wie das dritte Moment des Prinzips anwendbar, nur fällt das erste Moment für die Reflexion, deren sich der theologische Standpunkt als Operationsorgan immer bedient, stets der Abstraktheit anheim, so dass nach Tillich das erste Moment als das abstrakte zu benennen ist.

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Das Absolute als notwendiger Ausgangspunkt der Systemkonzeption

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dies einem Dahinfallen der Voraussetzungen des theologischen Standpunkts gleich und würde die Zerstörung des Standpunkts selbst als Konsequenz zeitigen, was um des Relativen und seiner Erhebung zum Absoluten willen nicht geschehen darf. Der theologische Standpunkt fasst sich somit in seinem dritten Moment, das deshalb auch als das teleologische bezeichnet werden könnte, als schlechterdings an den Grenzen seiner selbst befindlich und dadurch eben im Begriff – aber auch nur im Begriff! –, zum Absoluten zurückzukehren.99 Kurz gesagt: Das Paradox bewegt sich auf den Punkt zu, an dem es selbst hinfällig wird, nämlich den absoluten Standpunkt, und führt somit die Bewegung des Relativen zurück zum Absoluten, die ihren Ausgang im Kreuzesgeschehen nahm, an den äußersten vom theologischen Standpunkt wahrnehmbaren Punkt. An diesem Kulminationspunkt findet sozusagen ein Umschlagen statt, wie es bereits den Charakter der Religion bzw. der Rechtfertigung per se auszeichnete: Im Moment des Aufgehobenwerdens bewegt sich die Reflexion im Rahmen des Paradoxes hin zur Rückkehr ins Absolute, bleibt jedoch, solange sie Reflexion ist, immer auf die Ausdrucksform des Paradoxes angewiesen. Erst in der Aufhebung der Reflexion selbst, also gewissermaßen beim Eintreten des tatsächlich erfolgten Vollzugs des Aufgehobenwerdens des Paradoxes, mithin nach allem, was in seiner Erkenntnisweise auf das Paradox angewiesen ist – und somit für die Reflexion immer abstrakte Spekulation bleiben muss –, ist von einer tatsächlichen Verwirklichung des absoluten Standpunkts zu sprechen.100 Das dritte Moment des theologischen Prinzips bildet somit schlechterdings die Schaltstelle zwischen noch theologischem und anbrechendem absoluten Standpunkt. Hier und nur hier ist die Reflexion im Begriff, ihrem letztengültigen telos zugeführt zu werden, aufgenommen zu werden in das Absolute und dort als konkretes Moment zu fungieren.101 ————— 99

Tillich fasst das Anliegen des dritten Moments des theologischen Standpunkts am präzisesten in der These zu A §29; 327 zusammen: „Der Gegensatz von abstraktem und konkretem Moment des theologischen Prinzips ist aufgehoben im absoluten. Insofern jedoch der theologische Standpunkt dem absoluten gegenübersteht, ist das absolute Moment nicht als realisiert gesetzt, sondern als im Begriff realisiert zu werden; es ist das Moment der Selbstaufhebung des theologischen Standpunkts und seiner Rückkehr zum absoluten.“ 100 Vgl. A §29; 327f: „Es [sc. das absolute Moment des theologischen Prinzips] ist der klare Ausdruck für die Doppelstellung der Religion, Bejahung zugleich und Aufhebung der Freiheit zu sein, und für die Stellung des theologischen Prinzips, auf dem Boden der Reflexion Aufhebung der Reflexion, Rückkehr zum Absoluten zu sein.“ 101 Theologisch gesprochen finden an dieser Stelle die Erlösung des sündhaften Standpunkts aus seiner Sündhaftigkeit und seine Überführung in die göttliche Heiligkeit statt. Dies soll jedoch speziell im materialdogmatischen Teil (vgl. insbes. Kap. 1.3.3) verhandelt werden. Hingewiesen sei nur auf die bereits als problematisch festgestellte Konzentration Tillichs allein auf das Kreuz. Da dieses nach Tillichs systematischer Konzeption das entscheidende Moment des theologischen Prinzips einnimmt, weil ja genau hier der Scheitelpunkt im Rahmen der Bewegung vom Absoluten

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Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips

Der Prozess des Im-Begriff-Stehens des Aufgehobenwerdens des Paradoxes lässt sich hinwiederum von den beiden, den theologischen Standpunkt konstituierenden Momenten aus betrachten:102 Aus abstrakter Sicht findet eine Anwendung des Rechtfertigungsurteils auf sämtliche Formen der Konkretion in kosmischer Hinsicht und damit eine völlige Konkret-, d.h. Wirklichwerdung absoluter Kategorien statt. Jegliche Konkretheit wird mit anderen Worten durch die Konkretheit des Absoluten vernichtet, so dass die alles bestimmende Wirklichkeit nicht mehr durch den Kontrast von absolut und konkret gekennzeichnet, sondern als tatsächlich real gewordener absoluter Standpunkt vorstellig wird, in dem die der Reflexionsdialektik geschuldeten Differenzpole nur noch als verschiedene, aber in Einheit stehende Momente ihren Platz haben.103 In konkreter Hinsicht ist unter dem dritten Moment des theologischen Urteils die universale Ausweitung der Bedeutung dessen zu verstehen, was Tillich in der Konzeption seines theologischen Formalprinzips veranschaulicht. Alles Konkrete steht mit dem in Bezug, was dem Konkreten allererst seine Daseinsberechtigung verleiht und eodem actu seine vollkommene Hinfälligkeit präsentiert: dem konkret gewordenen Absoluten, Jesus Christus. Demnach ist die „Parusie Christi“ (A§29; 328) der bildliche Inbegriff für die Betrachtung des dritten Moments aus der Perspektive des zweiten, konkreten Moments des theologischen ————— in das Konkrete und wieder zurück zum Absoluten deutlich wird und seine äußerste Zuspitzung erreicht, ist in ihm – wie in jedem Moment – in gleicher Weise die Aussagekraft des dritten Moments mitenthalten, ja sie muss – wie die des ersten Moments auch – mitveranschlagt werden, um das zweite Moment nicht unterbestimmt sein zu lassen, was dazu führt, dass im Kreuz nicht nur das Rechtfertigungsurteil, sondern auch die Erlösungsaussage dem Standpunkt der Relativität zugesprochen wird. Insofern kann daher bei Tillich von einem Ineinsfallen von Kreuz und Auferstehung gesprochen werden, als der Aussagegehalt beider in prinzipieller Hinsicht jedem der Momente des theologischen Prinzips innewohnt und somit eine Trennung von Kreuz und Auferstehung sowie zwischen allen Bezügen innerhalb des Prinzips nicht nur unstatthaft, sondern schlechterdings unwahr, weil das Wesen des Prinzips verfehlend, wäre. Unter diesem Blickwinkel lässt sich auch die Rede von einer Koinzidenz von Schöpfung und Fall (vgl. Wagner, Absolute Positivität. Das Grundthema der Theologie Paul Tillichs, in: NZSTh 15, 1973, 172–191, hier: 187, und Danz, Freiheitsbewußtsein, 193–197) plausibilisieren. Ansonsten wäre diese Figur für Tillichs Denken zwar problematisch, sofern damit eine abstrakte, aber reale Ansetzung zweier Stände gemeint wäre; versteht man das Ineinsfallen von Schöpfung und Fall jedoch von Tillichs Momentverständnis her, so ist die Problematik ausgeräumt. 102 Beide Anschauungsformen kann Tillich theologisch unter der „Botschaft, ‚Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‘“ (A §29; 327) fassen und damit das gemeinsame Anliegen beider Sichtweisen deutlich machen. 103 Vgl. A §29; 328: „[W]ird es [sc. das absolute Moment] von dem abstrakten Moment des theologischen Prinzips her verstanden, so bedeutet es seine völlige Konkretisierung, d.h. die konkrete Durchsetzung der absoluten Kategorien des Rechtfertigungsurteils; und zwar entsprechend der Universalität der Rechtfertigung die universale, kosmische Durchführung des Rechtfertigungsurteils: Das absolute System ist wirklich geworden.“ (Hervorhebungen S.D.) Dies entspricht somit der absoluten Durchsetzung des Tillich’schen theologischen Materialprinzips.

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Das Absolute als notwendiger Ausgangspunkt der Systemkonzeption

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Prinzips.104 Trotz der verschiedenen Zugangsweisen ist klar: „Beides ist das gleiche und bedeutet die Aufnahme des Paradox in das Absolute.“ (A §29; 328) Was sich vom Konkreten aus betrachtet als ein Vernichtungs- bzw. Erlösungsgeschehen darstellt, ist in absoluter Hinsicht innerhalb der Systematik Tillichs nur das Wahrwerden der Wahrheit, d.h. die Realitätwerdung dessen, was im Denken nur in abstrakter und ambivalenter Weise antizipiert und ausschließlich in Form des Paradoxes im Glauben nachvollzogen werden konnte. Für das Konkrete als Konkretes ist und bleibt die Überführung des theologischen in den absoluten Standpunkt allerdings ein Grenzbegriff, den eben das absolute Moment des theologischen Prinzips in seiner Fassung als ‚noch nicht‘ des sich im Begriff des Vollzugs Befindlichen in Ansicht zu bringen sucht.

————— 104

Vgl. A §29; 328: „Wird vom konkreten Moment des theologischen Prinzips ausgegangen, so bedeutet das absolute Moment die Parusie Christi, d.h. die Vereinigung des Kosmos zu einer konkreten lebendigen Einheit, dem absoluten System, dessen Zentrum er ist.“

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Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips

1.3 Materialdogmatische Durchführung des theologischen Prinzips Das bisher dargestellte theologische Prinzip Tillichs, wie es sich im Ineinander von absolut-abstraktem und konkret-relativem Standpunkt auf dem theologischen Standpunkt expliziert, fasst Tillich dezidiert als eine religionsphilosophische Konzeption, d.h. es handelt sich hierbei nicht um Materialdogmatik, sondern gewissermaßen um fundamentaltheologische Prolegomena.1 Tillich stellt somit mit seinem theologischen Prinzip nicht primär eine theologische als vielmehr eine philosophische Systemkonzeption vor, die auch durch die Notwendigkeit christologischer Implikationen innerhalb des zweiten, konkreten Moments des theologischen Prinzips im Rahmen des theologischen Standpunkts von Tillich nicht in Frage gestellt wird. Es handelt sich – wie bereits ausgeführt – dabei nur um die notwendige Konkretisierung, die das zweite Moment auf der Basis einer konkreten Religion erfahren muss, nicht jedoch um einen echt theologischen Argumentationsgang, da die Art der Konkretisierung als prinzipiell nicht auf eine bestimmte konkrete Religion determiniert gedacht ist. Genau Letzteres ist nun allerdings das wesensmäßige Anliegen der Dogmatik im engeren, theologischen Sinne. Hierbei handelt es sich um die Anwendung des theologischen Prinzips auf eine bestimmte konkrete Religion. Der Beliebigkeitsfaktor der Religionsphilosophie fällt somit in der Dogmatik dahin, weil hier die Fixierung auf eine einzelne Religionsausprägung grundlegend gefordert ist. Dies erklärt sich bereits aus Tillichs Begriff des Heiligen, wo die Absolutsetzung von etwas Relativem im Rahmen einer konkreten Religion ihr relatives Recht erhält, sofern diese Absolutsetzung fortwährend im Verbund bleibt mit dem Prinzip der Selbstüberwindung der konkreten Einzelausprägung der Religion. Kurz gesagt: Theologie im dogmatischen Sinne ist für Tillich die Explikation der religionsphilosophischen Prämissen im Konkreten. Dies impliziert wiederum – und geht konform mit der systematischen Ausrichtung Tillichs –, dass jede theologische Aussage grundgelegt ist in der Religionsphilosophie, d.h. dass Theologie per se nicht verständlich ist und sein kann ohne ihren religionsphilosophischen Nach————— 1 In der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ ist die klare Trennung zwischen fundamentaltheologischer Grundlegung und dogmatischer Ausführung am deutlichsten im sekundär hinzugefügten Inhaltsverzeichnis, der ‚Skizze‘, zu erkennen; dort ist der erste Teil mit „Die Begründung des theologischen Prinzips in dem wissenschaftlichen Prinzip überhaupt (Fundamentaltheologie)“ (EW IX, 426; in der Edition in Kapitälchen) und der zweite Teil mit „Die Entfaltung des theologischen Prinzips zu einem System religiöser Erkenntnis (Dogmatik)“ (EW IX, 427; in der Edition in Kapitälchen) überschrieben.

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Materialdogmatische Durchführung des theologischen Prinzips

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vollzug. Dieser Umstand trägt dem genuinen Anliegen Tillichs Rechnung, unter keinen Umständen das dem Menschen gegebene Reflexionsvermögen auf dem Altar des Glaubens opfern zu wollen, so dass er so weit geht, nicht nur das Denken nicht vom Glauben abhängig zu machen, sondern im Gegenteil just die Reflexion – mithin in Form der Religionsphilosophie, also durchaus unter Einschluss des Glaubens – zur Grundlage, jedoch, nota bene, nicht zum Ausgangspunkt jedweder theologischen Überlegung zu machen. Dadurch bleibt nicht nur das Denken als originäre, nicht zu übergehende anthropologische Konstante stets der Maßstab, an dem sich Religionsphilosophie auszurichten hat insofern, als sie den Menschen als denkendes Wesen betreffen möchte, sondern auch der Glaube als weitere Funktion des Geistes trägt konstitutiv und notwendig zum Menschsein des Menschen dadurch bei, dass er die Relativität, in die die sich ihrer selbst innewerdende Reflexion aufgrund der aporetischen Verfasstheit ihres eigenen Beginnens gerät, in Beziehung setzt zu einem Konstitutions- und Zielpunkt jenseits rein reflexiver Bestimmungen, wodurch Menschsein in positiv-produktiver Hinsicht allererst ermöglicht wird. Wirksam werden, d.h. realiter ins Dasein treten, kann diese religionsphilosophische Konzeption allerdings bedingt durch die Konkretheit und damit die konkrete Gebundenheit des reflexiven Subjekts immer nur durch die konkrete Ausprägung in Form einer bestimmten Religion, so dass zwar Theologie letztlich von der (Religions-) Philosophie herkommt, gleichzeitig aber den philosophischen Grundlegungen die Notwendigkeit innewohnt, sich konkret in Form der Theologie zu explizieren.2 ————— 2

Eine Präponderanz der Philosophie gegenüber der Theologie oder der Theologie gegenüber der Philosophie lässt sich somit in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ nicht erkennen (so auch Lax, Rechtfertigung, 123f). Die von Werner Schüßler (vgl. Schüßler, „Als protestantischer Theologe in philosophischem Material.“ Tillich, Frankfurt und die Philosophie, in: ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs [Tillich-Studien, Bd. 1], Münster 22004, 187–199, hier: 198f; vgl. auch ders., On Paul Tillich’s „Umwendung“ of Metaphysics in the Dogmatik of 1925, in: Jean Richard/André Gounelle/Robert P. Scharlemann [Hg.], Études sur la Dogmatique [1925] de Paul Tillich. Textes présentés lors d’un colloque tenu à l’Université Laval en août 1994, Québec 1997, 119–130) und Heinz Zahrnt (Zahrnt, Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, München/Zürich 81988, 356f) primär für das Spätwerk Tillichs festgestellte letztliche Vorherrschaft der Theologie über die Philosophie kann so für das früheste System Tillichs nicht in Anspruch genommen werden. Zwar zeigt sich klar, dass Tillich eine Theologie und keine Philosophie schreibt; von einer Vormachtstellung der Theologie in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ zu sprechen scheint aber ob der unterschiedlichen Funktionen, die Philosophie und Theologie im System beanspruchen, und ob der Bedeutung der Philosophie bei der Konstituierung des theologischen Prinzips problematisch zu sein (vgl. auch Jean-Paul Gabus, The Tillichian Doctrine of Trinity in the 1913 Systematic Theology in the Light of the Contradiction between God’s Almighty Love and Man’s Sinfulness. A Critical Evaluation, in: Gert Hummel/Doris Lax [Hg.], Trinität und/oder Quaternität – Tillichs Neuerschließung der trinitarischen Problematik. Trinity and/or Quaternity – Tillich’s Reopening of

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Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips

Bereits letztgenannter Punkt lässt die Funktion der materialen Dogmatik als systematischer Teil des Gesamtkonzepts – und somit auch die Notwendigkeit und Bedeutung ihrer Behandlung im Rahmen einer Untersuchung über den prinzipiellen Ansatz Tillichs – erahnen. Philosophie und Theologie sind analog dem Verhältnis von absolutem und konkretem Standpunkt derart miteinander verzahnt, dass ein Wegfall der theologischen Ausführungen gleichsam dem System als ganzem nicht gerecht zu werden vermag. Philosophie als das zwar absolute, jedoch dadurch immer auch abstrakte Unterfangen und Theologie als konkrete und damit stets auch relative Explikation des philosophischen Anliegens3 bilden gemeinsam ein reziprokes Irreduzibilitätsverhältnis.4 Theologie ist somit nicht ohne die Philosophie, deren abstrakten Prämissen sie sich jedoch in Form des Heiligen widersetzt und denen sie doch durch das Prinzip der Selbstüberwindung verpflichtet bleibt; Philosophie ihrerseits bedarf zur Explikation ihrer selbst und somit zum eigentlich Realsein, mithin zu Überführung von reinem, abstraktem Postulat in die konkret menschliche Lebenswelt, notwendig der Religion. Was sich innerhalb des theologischen Prinzips in Gestalt von Material- und Formalprinzip äußerte, repliziert sich nun im Verhältnis von Philosophie und Theologie. Dabei ist jedoch auch hier wiederum der Momentbegriff in materialer und formaler Hinsicht in Anschlag zu bringen, so dass nicht einfach Philosophie als eigentlicher Inhalt und Theologie als die bloße Vermittlungsform missinterpretiert werden darf. Zu beachten ist stets, dass beide Momente – als welche Philosophie und Theologie in ihrem Verhältnisbezug zu begreifen sind – allezeit das Gesamtanliegen zur Geltung bringen – nur unter jeweils anderem Gesichtspunkt, im Falle von Philosophie ————— the Trinitarian Problem. Beiträge des IX. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/Main 2002. Proceedings of the IX. International Paul-Tillich-Symposium Frankfurt/Main 2002 [TillichStudien, Bd. 10], Münster 2004, 57–71, hier: 58: „Theology finds ist presuppositions in a philosophical theory of knowledge and in the philosophy of religion.“) – Dass Tillich in letzter Konsequenz die Philosophie in den Dienst der Theologie stellt und somit diese von jener profitiert, wie Schüßler, protestantischer Theologe, 198 (vgl. auch ders., Umwendung, 126), behauptet, trifft eher den Kern, auch wenn hier wiederum eingewandt werden muss, dass der Ausgangspunkt des Systems, das Absolute, ein Indienstnehmen weder von Seiten der Philosophie noch von Seiten der Theologie zulässt, weil beide ‚nur‘ Funktionen des Reflexionsstandpunktes sind. 3 Die Relation von Theologie und Philosophie, wie sie Tillich in seiner späten dreibändigen Systematik vornehmen wird, beginnt sich bereits an dieser Stelle abzuzeichnen. Für das durchaus komplexe, sich nicht in der Form von Frage und Anwort erschöpfende Verhältnis beider Disziplinen im Spätwerk Tillichs sei auf die Ausführungen in Kap. 3.1.2 verwiesen. 4 Als drittes Moment wäre in der Anlage des Gesamtsystems der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ noch die Ethik gewissermaßen als das Praktischwerden dieses Verhältnisses von Philosophie und Theologie zu nennen. Jedoch fügt auch dieses dritte Moment dem System als solchen nichts Neues hinzu, so dass die Verhältnisrelate Philosophie und Theologie die eigentlichen Konstituenten des Gesamtsystem Tillichs bilden.

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Materialdogmatische Durchführung des theologischen Prinzips

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und Theologie eben in absoluter und konkreter Fassung. Jede andere Bestimmung der Beziehung der Philosophie zur Theologie und der Theologie zur Philosophie liefe der Irreduzibilität der Relate innerhalb des Verhältnisses strictissime zuwider. Die Theologie, mithin die Dogmatik in materialer Hinsicht, ist somit in systemkonzeptioneller Hinsicht unaufgebbarer, ja konstituierender Bestandteil und bedarf deshalb einer eingehenden Analyse, um das Gesamtsystem Tillichs angemessen zur Darstellung bringen zu können. Das Verhältnis von Theologie bzw. theologischem Standpunkt und Philosophie bzw. absolutem Standpunkt ist jedoch noch komplexer bestimmt, als es die bisherigen Ausführungen anzeigen. Die Philosophie, wie sie Tillich konzipiert, beschreibt ihrerseits den theologischen Standpunkt als drittes Moment innerhalb ihres absoluten Systems und fasst somit Theologie dezidiert als integralen Bestandteil ihrer selbst. Gleichzeitig ist die philosophische Gedankenbildung im Rahmen des Gesamtsystems nun wiederum als Gegenpol zur Dogmatik anzusetzen, so dass in weiterer bzw. eher differenter Perspektive die Philosophie immer auch nur ein Moment innerhalb des Gesamtsystems darstellt, so wie es letztlich die Ethik als dritter Systembestandteil in Ansicht bringt. Die Synthesis absolut differenter Pole erstreckt sich somit als Konstante über das gesamte System Tillichs, wobei allerdings die jeweiligen Momente je nach Perspektive ihre Position innerhalb des Systems ändern können, was nicht mit mangelhafter systematischer Präzision verwechselt werden darf, sondern systemintern nur das komplexe Ineinandergreifen und Auseinanderhervorgehen der verschiedenen Systemkreise vorstellig macht. Entscheidend ist und bleibt die Momententrias von abstrakt, konkret und absolut, die in allen Subsystemen des Gesamtsystems im Kleinen wie im Großen in Anwendung tritt, das System immer ob der Irreduzibilität der differenten Pole als ein in Spannung befindliches kennzeichnet und damit einerseits dem Anheimfallen an einen einzelnen Pol des Systems wie auch andererseits der Konzeption einer ‚Philosophie der Mitte‘ wehrt. Tatsächlich erfasst ist das System nur als gespanntes, das im Oszillieren zwischen den verschiedenen Polen, wie es gerade im dritten Moment ansichtig wird, seinen Bestand hat und seine Lebendigkeit gewinnt. Letztere ist maßgeblich gewährleistet durch das Prinzip der Selbstüberwindung, das trotz der differenten Pole immer letztlich ein Identitätstelos aufrecht zu erhalten imstande ist, wodurch das durch Spannungsverhältnisse konstituierte System nie durch die auftretenden Spannungen zwischen den Polen zerrissen zu werden droht und gleichzeitig die prinzipielle Einheit des Systems gewahrt bleibt. Nach der erfolgten Verortung und Funktionsbestimmung des dogmatischen Teils im Gesamtsystem ist nun noch ein Überblick über den Aufbau des im engeren Sinne theologischen Abschnitts zu geben. Die materiale

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Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips

Dogmatik in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘5 gliedert sich – wie nicht anders zu erwarten – in drei Teile, die der Gotteslehre, der Christologie und der Pneumatologie zugeordnet werden können und somit eine trinitarische Einteilung vorgeben.6 Entsprechend den drei Momenten des theologischen Prinzips übernimmt dabei die Gotteslehre primär den abstrakten, die Christologie den konkreten und die Pneumatologie den absoluten Part. Interessant und gleichzeitig konsequent ist, dass die Christologie bei genauer Betrachtung nur die bereits zum zweiten Moment des theologischen Prinzips getroffenen Aussagen wiederholt und bestenfalls präzisiert. Die beiden anderen Teile explizieren sich nun gegenläufig zum fundamentaltheologischen Teil bewusst theologisch, d.h. immer in Bezug auf die konkrete, christliche Religion, und greifen dabei die fundamentaltheologischen Grundsätze in konkret-relativer Form auf. Wie dies im Einzelnen vorstellig zu werden hat, wird die Einzelanalyse der dogmatischen Topoi zeigen.

————— 5

Auf Tillichs frühestem System soll auch im dogmatischen Teil der Fokus liegen. Allerdings werden darüber hinaus die Thesenreihe zum historischen Jesus von 1911 und weitere relevante Aussagen des frühen Tillich herangezogen. Den Rahmen soll jedoch wiederum als einziges komplett ausgeführtes System der frühen Jahre die ‚Systematische Theologie von 1913‘ bilden. 6 Vgl. hierzu auch die Dreigliederung des dogmatischen Teils in der ‚Skizze‘: „I. Der Hervorgang der Welt aus Gott bis zum vollendeten Widerspruch (Gott der Vater)“, „II. Das Eingehen Gottes in die Welt des Widerspruchs (Gott der Sohn)“ und „III. Die Rückkehr der Welt zu Gott bis zu der vollendeten Einheit (Gott der Geist)“ (EW IX, 427f). Der trinitarische Aufbau lehnt sich selbstverständlich an die Dreimomentigkeit des fundamentaltheologischen Teils an bzw. stellt sich an dieser Stelle die Frage, inwieweit und inwiefern tatsächlich der trinitarische Aufbau von der Momententrias geprägt ist oder ob nicht umgekehrt die fundamentaltheologische Konstruktion selbst ihr eigentliches Grundschema erst von der Trinität zu gewinnen vermag. Zwar ist ob der Momenthaftigkeit des Prinzips, der ja – wie festgestellt – auch Theologie und Philosophie unterliegen, systemintern nicht eigentlich die Frage nach einem prius eines der beiden Gliederungsschemata zu stellen, weil in Tillich’scher Konzeption beide als irreduzible Reziprokmomente zu verstehen sind, die jeweils nur ein und dasselbe aus verschiedener Perspektive in Ansicht bringen. Trotzdem muss sich Tillichs System die Frage gefallen lassen, ob nicht das theologische Anliegen Mutter des Gedankens bei der Konzeption der Dreigliedrigkeit war. Gerade aus einer systemexternen Perspektive heraus ist diese Frage nicht nur berechtigt, sondern notwendig zu stellen. Das Problem, ob nun das Prinzip selbst oder letztlich seine konkrete Ausprägung den eigentlichen Anlass der Systemkonzeption bzw. der Systemerfassung darstellt, reproduziert sich in zugespitzter Fassung in der Christologie, so dass dieser höchst wichtige Punkt, der über Stehen und Fallen des Gesamtsystems Tillichs entscheidet, in der Erörterung des christologischen Teils verhandelt wird; vgl. hierzu Kap. 1.3.2. Vgl. dazu lediglich feststellend Gert Hummel, Tillich’s 1913 „Systematische Theologie“, 363: „Hence the thoughts on trinity in the middle part, the ‚Dogmatik‘, are epistemologically founded in the ‚Apologetik‘ and find their practical application in the ‚Ethik‘.“ Allerdings gilt auch, dass „theological knowledge owes itself to general epistemology, i.e., it is not a theory of knowledge sui generis“ (ebd., 364).

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Materialdogmatische Durchführung des theologischen Prinzips

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1.3.1 Die Gotteslehre als Kern- und Ausgangspunkt dogmatischer Überlegung 1.3.1.1 Grundlegende Konzeption der gesamten Dogmatik in der Gotteslehre Die Aufgabe der Dogmatik wird von Tillich als Anwendung des Paradoxes auf den Gottesbegriff definiert.7 Mit dieser Definition wird auf die Vermittlung des absoluten Standpunkts – der es mit einem abstrakten Gottesbegriff bzw. mit ‚Vernunftreligion‘ zu tun hat – und des relativen Standpunkts – der einen konkreten Gottesbegriff bzw. konkrete Religion expliziert – abgehoben. Dogmatisch zu arbeiten heißt demnach, das konkrete religiöse Bewusstsein mit dessen absoluten Voraussetzungen vermittels des Paradoxes zur Darstellung zu bringen. Hierbei stellt die Basis notwendigerweise der in der Apologetik gewonnene Paradoxbegriff dar, der nun seinerseits auf den ebenfalls den religionsphilosophischen Ausführungen entnommenen Gottesbegriff angewendet wird.8 In der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ lässt sich die Gotteslehre im engeren Sinne, die die Paragraphen 1–8 des dogmatischen Teils umfasst, in zwei ungleiche Teile aufspalten: Einerseits erfolgt eine Wesensbestimmung Gottes, die sich primär in der Trinität expliziert (D §1; vgl. hierzu dieses Kapitel), andererseits werden auf Grundlage dieser Wesensdefinition anhand der daraus abgeleiteten Eigenschaften Gottes die verschiedenen, gewissermaßen nicht der Gotteslehre im weitesten Sinne angehörenden dogmatischen Topoi, also auch Christologie und Pneumatologie inkludierend, expliziert (D §§2–8; vgl. hierfür Kap. 1.3.1.2). Stellt die Konzeption Tillichs so betrachtet noch keinen als originell zu bezeichnenden Entwurf dar, so ändert sich dieser Eindruck, wenn die Anlage und Stellung der Gotteslehre im engeren Sinne als abstrakter Teil innerhalb des theologischen Prinzips veranschlagt wird. So fügen Christologie und Pneumatologie der Gesamtbetrachtung ihrerseits je eine eigene Perspektive hinzu, was sich eben in konkreter und absolut-eschatologischer Durchführung der dogmatischen Themenbestände äußert. Die trinitarische Gestaltung ist mithin die Grundgliederung der Dogmatik als ganzer,9 so dass das trinitarisch verfasste Wesen Gottes insofern entscheidend ist für die Konzeption der kompletten ————— 7

Vgl. D §1; 329: „Sie [sc. die dogmatische Arbeit] hat das Paradox anzuwenden auf den Gottesbegriff.“ 8 Vgl. D §1; 328: „Die Dogmatik setzt den Gottesbegriff der Religionsphilosophie voraus“. 9 Dies lässt sich auch noch an der fünffachen Gliederung der späten ‚Systematische[n] Theologie‘ erkennen, deren drei Mittelteile dezidiert trinitarisch herausgearbeitet sind. Auch hier wird den jeweiligen Hypostasen der Trinität ein eigenes Themengebiet zur Behandlung zugeteilt (Sein – Gott, Existenz – Christus, Leben – Geist).

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Dogmatik, die bei Tillich damit genau genommen im Wesentlichen ausgeführte Trinitätslehre ist,10 als innerhalb der Dogmatik die unterschiedlichen dogmatischen Topoi in jedem Teil erneut behandelt werden – nur jeweils, entsprechend der trinitarischen Hypostase, aus unterschiedlicher Perspektive.11 Die Gotteslehre wirft somit im konkreten Teil des Tillich’schen Gesamtkonzepts einen abstrakten Blick auf sämtliche Topoi und expliziert sie eben aus der abstrakt-absoluten Warte heraus. Das in Subsysteme aufgeteilte Konzept Tillichs wendet die Dreigliedrigkeit mithin auch dergestalt innerhalb der einzelnen Systembestandteile an, dass die Momenthaftigkeit auch im kleinen Rahmen die prägende Signatur Tillich’schen Systemdenkens darstellt. Die Gotteslehre versucht nun innerhalb dieses Rahmens die göttliche Einheit von Gott, Selbst und Welt absolut, d.h. auf dem Boden der Relativität des theologischen Standpunkts zwangsläufig abstrakt, just in concreto in Ansicht zu bringen. Kurz gesagt: Die Tillich’sche Gotteslehre ist nichts anderes als Dogmatik aus abstrakt-absoluter Perspektive. Ausgangspunkt der Überlegungen Tillichs ist dabei die Lebendigkeit Gottes,12 wie sie in der Trinität ihren Ausdruck findet. Aus den fundamentaltheologischen Analysen ist das Auseinanderfallen von absolutem und konkretem Standpunkt klar geworden; die Folge für den Gottesbegriff war demgemäß ein Hiat zwischen der Absolutheit Gottes und seiner persönlichen Bestimmtheit, mithin seiner Konkretheit in Jesus Christus. Dieses Auseinanderbrechen der in Gott geeinten Pole seiner selbst, durch deren Spannung er als der – trinitarisch – lebendige zu bezeichnen ist, muss nun in konkreter Hinsicht, d.h. theologisch, mittels des Paradoxes als eine reali————— 10

So auch Gunther Wenz, Theologie ohne Jesus? Anmerkungen zu Paul Tillich, in: KuD 26, 1980, 128–139, hier: 132: „Gott ist für Tillich wesentlich und immer dreieiniger Gott.“ Anders hingegen Hans Schwarz, Bible and Tradition in Tillich’s Concept of the Trinity, in: Gert Hummel/Doris Lax (Hg.), Trinität und/oder Quaternität – Tillichs Neuerschließung der trinitarischen Problematik. Trinity and/or Quaternity – Tillich’s Reopening of the Trinitarian Problem. Beiträge des IX. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/Main 2002. Proceedings of the IX. International Paul-Tillich-Symposium Frankfurt/Main 2002 (Tillich-Studien, Bd. 10), Münster 2004, 253– 259, der in Tillichs Trinitätslehre eher Assoziationen zu Schleiermachers Trinitätsverständnis zu erblicken glaubt. 11 Vgl. D §1; 330: „Da die sachgemäße Gliederung der Dogmatik gegeben ist durch die verschiedenen Momente des Gottesbegriffs, so ist es notwendig, die Trinität an den Anfang des dogmatischen Systems zu stellen; da aber aus diesem Grunde auch jeder Hauptteil des Systems eine direkte Beziehung zur Trinität hat, so ist über dieselbe auch im Mittelpunkt (Christologie) und am Ende des Systems zu verhandeln. In allen drei Fällen aber steht sie unter einem anderen Gesichtspunkt; und gerade das macht das System zu einem lebendigen Organismus, daß nicht über feste Dogmen in abstracto abgehandelt wird, sondern das dogmatische Urteil genetisch aus all seinen Beziehungen hervorwächst.“ (erste Hervorhebung S.D.) 12 Vgl. die Paragraphenüberschrift zu D §1; 328: „Der lebendige Gott (Dreieinigkeit)“.

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ter in Gott bestehende, spannungsvolle Einheit vorstellig gemacht werden.13 Mittels dieser Konstruktion des Gottesbegriffs als einer paradoxen Synthese von Absolutheit und Konkretheit ist für Tillich der klassisch aristotelische Begriff Gottes als eines actus purus strikt abzulehnen, der nach Tillich’scher Systematik bestenfalls die Absolutheit Gottes in Ansicht zu bringen vermag, mangels eines echten Lebens in Gott allerdings weder als Begriff noch als Wesensbeschreibung Gottes haltbar erscheint.14 Die Feststellung einer „‚Natur‘ in Gott“, wie dies bei Boehme, Oettinger, Baader und Schelling15 der Fall sei (D §1; 331), kommt dem Anliegen Tillichs, einen lebendigen Gott vorstellig zu machen, der sich weder in Abstraktheit noch in Konkretheit erschöpft, passender entgegen. Jedoch ist für Tillich auch das abstrakt-philosophische Gotteskonstrukt Schelling’scher Provenienz insofern als unzureichend zu kritisieren, als es in seiner Anwendung – wie die gesamte idealistische Philosophie – nicht in praxi zum Tragen kommt, sondern auf einer absoluten Systemvorstellung stehen bleibt, in reiner Identitätsphilosophie verharrt und damit dem genuinen Anliegen eines lebendigdynamischen Gottesbegriffs, eben nicht actus purus, sondern vielmehr die alles umfassende Wirklichkeit vorstellig zu machen, nicht gerecht wird. Dafür bedarf es nach Tillich schlechterdings des völlig konkreten Gottes, mithin des Eingehens des Absoluten in das Konkrete und damit verbunden der vollständigen Konkretwerdung des Absoluten. Absolutheit und Konkretheit müssen mithin beide in Gänze realisiert sein, was ohne Wesensverletzung sowohl absoluter als auch konkreter Kategorien allererst im Paradox als verwirklicht in den Blick kommt. Mit einem Wort: Gott muss die Einheit von Einheit und Differenz sein.16 ————— 13

Vgl. D §1; 329: „Indessen ist auf dem Reflexionsstandpunkt der Gegensatz von bestimmtem und abstraktem Gottesbegriff analog dem Gegensatze von konkreter Religion und Vernunftreligion hervorgetreten. Hier hat die dogmatische Arbeit anzusetzen. Sie hat zu zeigen, daß dieser Gegensatz auf dem theologischen Standpunkt durch das Paradox überwunden ist.“ 14 Neben der Fassung Gottes als actus purus wird in gleicher Weise auch eine Bezeichnung als ens realissimum abgelehnt, weil sich nach der Entdeckung der Lebendigkeit Gottes „[s]eit Jakob Boehme und Oettinger, Baader und Schelling“ die Theologie „nicht mehr mit dem alten Begriff des Aristoteles begnügen [darf], daß Gott actus purus ist, oder mit der scholastischen Formel vom ens realissimum.“ (D §1; 331) 15 Vgl. hierzu Kap. 1.1.2. 16 Dass die Einheit letztlich das dominierende Moment im Gottesbegriff darstellt, ergibt sich schon aus den religionsphilosophischen Aussagen Tillichs. Jedoch bleiben die beiden in Einheit vereinigten Momente jeweils wesensmäßig das, was sie sind, trotz und in ihrer letztlichen Einheit: „In Gott ist ein Moment der Einheit und ein Moment des Unterschiedes oder der Vielheit; die Einheit aber ist das Umfassende, die Tiefe der Gottheit (= das Absolute), aus der die Vielheit geboren wird.“ (D §1; 331) Das Hervorgehen der Vielheit aus der Einheit korrespondiert mit der völligen Konkretwerdung des Absoluten, die wiederum Bedingung der Möglichkeit eines Identitätsverhältnisses von Identität und Differenz ist: „Gott muß einzelner, bestimmter, ganz konkreter werden können, unbeschadet seiner Absolutheit. Er muß ein lebendiger Gott sein, gleich fern von abstrakter Abso-

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Die innertrinitarische Spannung in Gott, die mit dem konkreten Pendant zu Gottes Absolutheit in Jesus Christus gegeben ist, ist damit als die Wesensbestimmung Gottes zu bezeichnen. Gott ist qua Gottsein der schlechthin lebendige Gott. Absolut gefasst lassen sich bei Gott seine Eigenschaften nicht von seinem Wesen trennen; tatsächlich von Eigenschaften sprechen lässt sich erst unter reflexiven Bedingungen, also mithin in theologischem Kontext, da – analog dem Momentbegriff in Bezug auf den prozessualen Vollzug des absoluten Systems – die Eigenschaften Gottes immer nur sein Wesen, also sein Leben bzw. seine Lebendigkeit, in bestimmter reflexiver Fixation festhalten und erfassen.17 Die Eigenschaftenlehre und die Bestimmung der Eigenschaften Gottes kann somit wiederum nur innerhalb polarer Spannungen erfolgen, wobei die jeweiligen Pole abermals nicht in alleiniger Abstraktheit, sondern nur in irreduziblem reziprokem Rückbezug auf den eigenen Widerpart das Wesen Gottes wahrheitsgemäß vorzustellen vermögen. Was absolut betrachtet als Wesen Gottes keiner weiteren Erklärung bedarf, muss unter den Bedingungen reflexiven Nachvollzugs stets in polarer Spannung expliziert werden, um das Wesen göttlichen Lebens nicht in abstrakter Intransigenz oder konkreter Bestimmtheit erstarren zu lassen. Die Polarität von absolut und konkret zeitigt in Bezug auf das Wesen Gottes, seine Lebendigkeit, unter reflexiven Bedingungen ein Auseinanderdriften vom absoluten Pol der Allmacht und dem konkreten Pol der Liebe zur Folge. Allmacht kann Tilllich als das göttliche Vermögen interpretieren, „daß er der unendlichen Fülle des Unterschiedes, die er in sich setzt, in Ewigkeit mächtig bleibt“ (D §1; 332). Als Inbegriff der Absolutheit Gottes ist es Hauptanliegen der Allmacht, die fortwährende und stete einende Kraft göttlichen Lebens in Ansicht zu bringen und zwar dergestalt, dass die identitätsstiftende Macht Gottes als eine solche vorstellig wird, die sowohl der Setzung des Differenten in sich selbst als auch der perennierenden Integration alles aus sich herausgesetzten Differenten fähig ist. Allmacht ist daher immer eine absolute Funktion – absolut allerdings ausschließlich im Gegensatzverhältnis zum Konkreten gefasst. Absolutheit meint an dieser Stelle nicht eine unmittelbare und gegensatzlose Identitätsposition – diese tritt allenfalls, jedoch ebenfalls nicht in starrer Identität im dritten Moment in Erscheinung –, sondern eine Absolutheit, die ihre Absolutheitsfunktion allererst in Relation, nämlich zu ihrem Widerpart, dem Konkreten und als ————— lutheit wie von starrer Bestimmtheit und doch beide vereinigen, das Absolute wie das Bestimmte. Er muß die Spannung in sich tragen von verschiedenen Momenten, die doch eins sind in seiner Lebendigkeit, er muß ein Verschiedener sein und doch der Eine.“ (D §1; 329) 17 Vgl. D §1; 332: „[H]ier [sc. in der göttlichen Einheit von Einheit und Differenz] liegt die Wurzel alles dessen, was man Eigenschaften Gottes nennt und was nichts ist als die Auffassung dieser Lebendigkeit Gottes von verschiedenen Seiten der Reflexion“ (Hervorhebungen S.D.).

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solchem dem vom Absoluten Differenten, gewinnt. Konkret betrachtet äußert sich die Absolutheit Gottes dem ihm gegenüberstehenden Einzelnen gegenüber als in das göttliche Leben integrierende bzw. präziser: integrieren wollende Kraft und somit als Liebe. Das originär Differente ist im göttlichen Leben allerdings der in ihm selbst gesetzte, für seine Lebendigkeit notwendige, da konstitutive Unterschied zwischen sich als absolutem und sich als konkretem Gott, dogmatisch gesprochen: die in der Zeugung des Gottessohnes entstehende Beziehung in Gott selbst.18 Zur Betrachtung kommen hier somit rein immanent göttliche Prozesse, die eine weitere Betrachtung des göttlich Differenten in der Schöpfung allererst ermöglichen. Die Heraussetzung des konkreten Gottes aus dem absoluten Gott, d.h. das Sich-selbst-Differentwerden Gottes, ist die Bedingung der Möglichkeit göttlicher Liebe, die im Anderen Gottes ein Objekt der Liebe vorfinden kann und somit in der Trennung von liebendem Subjekt und geliebtem Objekt die Kraft der einheitsstiftenden Rückkehr des Objekts zum Subjekt in Liebe initiiert. Damit ist der allmächtige Gott in seiner Liebe konkret und der liebende Gott bleibt stets der allmächtige. Im Leben Gottes stellt die Polarität von Allmacht und Liebe ein Irreduzibilitätsverhältnis dar, wodurch Liebe immer erst durch die allmächtige Heraussetzung des geliebten Objekts aus der göttlichen Abstraktheit und Allmacht stets nur im Verbund und mit dem telos der liebenden Einheit vorstellig werden kann. Zusammengenommen bilden beide – Allmacht wie Liebe – für die Reflexion in unüberbrückbarer Spannung und im Widerstand sich befindlichen Pole auf Grundlage paradoxer Betrachtung eine Einheit im Leben Gottes. Für die Theologie aber, die es stets mit reflexiven Zuständen zu tun hat, bleibt der Gegensatz von Allmacht und Liebe ein das Gesamt dogmatischer Überlegung bestimmendes Verhältnisgepräge, das sich in den verschiedenen Teilen der Dogmatik je nach Thematik in spezifischer Fassung reproduziert.19 Entsprechend dem theologischen Prinzip bringt auch in der Verhältnispolarität der beiden Relate Allmacht und Liebe das dritte Moment, das sich dogmatisch als Pneumatologie expliziert, kein neues Element in das Verhältnisgefüge mit ein, sondern macht vielmehr die irreduzible Spannung der beiden ersten Momente als in Aufhebung in eine Einheitskonstellation von Allmacht und Liebe befindlich vorstellig, die sowohl das einheitsstiftende Moment wie auch die in wechselseitiger Spannung verfassten Pole unter sich zu bergen vermag. Wie die beiden ersten Momente in ihrem Reziprokbezug notwendig des jeweils anderen bedürfen, so bedarf wiede————— 18

Vgl. D§1; 332: „[D]as ist die Quelle seiner Liebe, daß er sein Anderes, ‚den konkreten Gott‘, aus sich hervorgehen läßt in der Kraft der ewigen Liebe.“ 19 Vgl. hierzu das Folgekapitel 1.3.1.2.

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rum das dritte Moment des Verhältnisses der ersten beiden Momente, um zu sein, was es ist, nämlich das in Anschauungbringen des Verhältnisses, wie es sich in teleologisch-absoluter Weise zu realisieren anschickt.20

1.3.1.2 Explikation der dogmatischen Topoi aus abstrakter Perspektive Wird das lebendige Wesen Gottes unter Reflexionskategorien als Poldualität von Allmacht und Liebe ansichtig, so sind diese Pole unter schöpfungstheologischen Gesichtspunkten als schlechterdings frei zu bestimmen. Sowohl Schöpfung im Sinne der creatio originans, die sich in der Setzung der Welt samt ihrer Strukturen als solche und somit einzelne expliziert,21 als auch als creatio continua im Rahmen der Providenzlehre22 hat immer als ————— 20

Tillich bestreitet an dieser Stelle die Selbständigkeit des dritten Moments: „Es handelt sich bei dem Verständnis der Lebendigkeit Gottes um zwei Momente, die Einheit und den Unterschied, nicht um drei; es ist der Spekulation noch nie gelungen, ein selbständiges drittes Moment zu erkennen.“ (D §1; 332) Diese Feststellung seitens Tillich verwundert insofern, als das dritte Moment dem Prinzip zwar tatsächlich keine neue Größe hinzufügt – das Vorstelligwerden der anhebenden Synthesis der beiden ersten Momente zeichnet Tillich ansonsten allerdings gerade als einen der wichtigsten Systembestandteile, weil ja genau hier die Realisierung des tatsächlichen Verhältnisses von Identität und Differenz in absolut-teleologischer und nicht absolut-abstrakter Weise unmittelbar bevorsteht. Die Absolutheit des Absoluten verwirklicht sich just im Hineinnehmen sowohl des absoluten als auch des konkreten Parts, die zwar ihrerseits immer auch gewissermaßen pars pro toto das Gesamtprinzip repräsentieren, jedoch nicht die Identität von Identität und Differenz derart in Ansicht zu bringen vermögen, wie das beim dritten Moment der Fall ist. Dem dritten Moment ist zwar durchaus, wie es Tillich hier vornimmt, Selbständigkeit in unmittelbarer Bedeutung versagt, weil es eben kein novum in das bestehende Momentensystem einzeichnet. Allerdings ist es ja gerade Kennzeichen des Momentbegriffs, nicht abstrakt-reflexive Fixationen, sondern sozusagen Ausschnitte aus dem absoluten Prozess, mithin bestimmte ‚Stellen‘ innerhalb dieses Prozesses aufzuzeigen, so dass sie der objektivierenden Reflexion zugänglich werden können. Ziel ist und bleibt allerdings der Gesamtprozess, der in jedem Moment seiner selbst – und in größter und auch paradoxester Fassung im dritten Moment – sich in Gänze zeigt, nur jeweils unter einer bestimmten Perspektive. Dass Tillich an dieser Stelle mit der Konzeption einer Abhängigkeit des dritten Moments von den ersten beiden auf eine, das filioque unterstützende dogmatische Position Bezug nimmt (vgl. D §1; 332: „Der Geist geht aus vom Vater und Sohn“ und die späte Einfügung Tillichs in EW IX, 332, Anm. 151: „(der Geist spricht nicht von sich etc.)“), ist deutlich zu erkennen und lässt sich auch innerhalb seines Systems, wie eben gezeigt, durchaus begründen. In prinzipieller Hinsicht jedoch – und das Prinzip bleibt auch und gerade im konkret-dogmatischen Teil prägendes Signum – darf die Momenthaftigkeit des dritten Moments nicht im Rahmen dogmatischer Explikation in Frage gestellt werden, so wie Tillich das hier zu tun in Verdacht gerät – auch wenn seine dogmatische Durchführung die tatsächliche Dreimomentigkeit stützt. Auch angewandt auf die Lebendigkeit Gottes lässt diese sich nicht auf einen reinen Momentendual reduzieren, weil ansonsten ein, wie oben ausgeführt, bedeutendes Moment unterschlagen wird, das die Lebendigkeit Gottes zwar in anderer Weise wie die ersten beiden Momente, jedoch nicht in unbedeutenderer Weise für die Reflexion mitkonstituiert. 21 Vgl. hierzu D §§2–3. 22 Hierfür ist D §4 von Bedeutung, so dass die schöpfungstheologischen Implikationen in Tillichs frühestem System innerhalb der Paragraphen 2–4 des dogmatischen Teils verhandelt werden.

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eine in freier Allmacht und freier Liebe zu geschehende vorstellig zu werden, insofern die Setzung des Einzelnen als Einzelnes samt der Instandsetzung der kategorialen Bestimmtheiten der Einzelheit als Heraussetzung aus der göttlichen Einheit, mithin als wider die göttliche Einheit und in der göttlichen Einheit Bestand habende, zu definieren ist, so dass der impetus schöpferischer Tätigkeit immer aus dem freien göttlichen Leben heraus als freier, d.h. nicht notwendiger Vollzug bestimmt werden muss. Schöpfung als solche ist, um der Gottheit Gottes keinen Abbruch zu tun, stets eine schlechterdings freie Tat. Als solche kommt sie im Rahmen reflexiven Nachvollzugs teils unter der Präponderanz des Allmachts-, teils des Liebesaspekts zu stehen. (1) Allmacht kommt mit Blick auf die Schöpfungslehre im engeren Sinne zunächst als doppelter Vollzug in Betracht: Einerseits ist der allmächtige Schöpfungsakt als die schiere Setzung des Einzelnen als Einzelnes zu betrachten, d.h. hier wird primär der Aspekt der Passivität des Einzelnen im Rahmen des schöpferischen Gesetztwerdens in Anschlag gebracht. Andererseits äußert sich die Allmacht Gottes gewissermaßen resultativ in der fortwährenden Rückbindung des Geschaffenen, mithin der Schöpfung im Ganzen wie im Einzelnen, an den Schöpfergott, von dem her das Geschaffene allererst sein Sein überhaupt und sein So-Sein im Speziellen erhalten hat und – schon mit Blick auf die creatio continua – erhält. Im ersten Fall, der Setzung des Einzelnen, spricht Tillich von Gott als „Schöpfer“, im zweiten Fall, der Rückbindung des Einzelnen an Gott, wird der Begriff „Herr“ angewandt.23 Der Allmachtsbegriff, den Tillich hier vorschlägt, ist somit bereits in sich schon derart in Polarität strukturiert, dass sogar innerhalb des Allmachtsbegriffs selbst sich die Polarität von Liebe und Allmacht widerspiegelt, ja dass aus ihm diese Polaritätsstruktur bereits abgeleitet werden kann: Innerhalb der Allmacht nimmt das reine Gesetztsein des Geschaffenen mit den starken Implikationen der Freiwilligkeit und NichtNotwendigkeit dieser Tat die Kennzeichnung der in freier Liebe erfolgten Schöpfung an, wie es vom Geschöpf selbst aus wahrgenommen werden kann, wenn es sich selbst als gewissermaßen gerade erst als im Schöpfungsakt gesetzt erkennt und noch nicht des potentiell angelegten Negativums der damit verbundenen, notwendigen Rückgebundenheit an den als Schöpfer erfahrenen Gott inne ist, ja diese Notwendigkeitsimplikation noch nicht einmal ahnend zu antizipieren vermag.24 Der Allmachtsbegriff be————— 23

Vgl. die These zu D §2; 333: „Der Inbegriff alles einzelnen als einzelnes ist die Welt. Insofern Gott das einzelne im Unterschiede von sich setzt, ist er der allmächtige Schöpfer, insofern das einzelne schlechthin gebunden bleibt an Gott, ist er der allmächtige Herr.“ 24 Dass die Notwendigkeit der Rückbindung an den Schöpfergott nicht automatisch, sondern erst – dogmatisch gesprochen – unter infralapsarischen Bedingungen als tatsächlicher Zwang erfahren

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kommt in anderer Weise allerdings durch die Erfahrung des Rückgebundenseins, sofern es als Einschränkung vom sich seiner selbst bewussten, sich selbst konstituieren wollenden Einzelnen wahrgenommen wird, immer auch die Färbung des Bestimmtseins und wird daher vom Einzelgeschöpf als tatsächliche Allmacht Gottes erfahren, der zu entgehen der Schöpfung als solcher schlechterdings unmöglich ist.25 Unübersehbar nimmt Tillich hier Bezug auf seine philosophisch getroffene Scheidung von Natur und Geist, welche gleichfalls wie die Erfassung von Liebe und Allmacht innerhalb der allmächtig geschehenden Schöpfung jeweils einen Aspekt des Geschehens erfassen – nur einmal aus einer Anfangs- und einmal aus einer Endperspektive heraus. Im ersten Fall – Natur oder Liebe – ist die Bindung zu Wahrheit bzw. Schöpfer noch als so eng zu veranschlagen, dass das Individuum noch als primär innerhalb des Wahrheitsvollzugs bzw. des Geschehens des Gesetztwerdens im Schöpfungsakt zu stehen kommt und das Differenzverhältnis noch nicht in vollem Maße erkannt wird. Geist oder Allmacht bzw. Gott als Herr sind hingegen durch das Bewusstsein des Selbst um sich selbst gekennzeichnet und demgemäß in und unter dem Bewusstsein von Differenz darum bemüht, in den Gottesvollzug reintegriert zu werden oder präziser: sich reintegrieren zu lassen. ————— werden kann, gilt es hier mit Nachdruck anzumerken. Jede andere Bestimmung käme einer rein schicksalhaften, jedoch keinesfalls selbstverschuldeten Sündhaftigkeit des Einzelsubjekts gleich, welche schon aufgrund des Automatismus und der damit verbundenen dann bereits in Sündhaftigkeit erschaffenen Schöpfung abgewehrt werden muss. Als prinzipielle Möglichkeit ist die Erkenntnis der Rückbindung des Einzelgeschöpfs an den Schöpfer hier jedoch bereits – wenn auch, wie ausgeführt, nicht als Negativerkenntnis! – angelegt, auch wenn Tillich solch weitreichende Konsequenzen selbst nicht erwähnt, schon gar nicht in Bezug auf mögliche harmatiologische Fragestellungen. 25 Auch hier gilt es anzumerken, dass der zweite Allmachtsaspekt, der gewissermaßen Allmacht als Übermacht seitens Gottes gegenüber dem geschaffenen Einzelnen vorstellig macht, nicht – wie auch der Liebesaspekt innerhalb des Allmachtsbegriffs – ein Verständnis der Allmacht zur Folge haben darf, welches einseitig die Allmacht Gottes als negativen Aspekt im Geschaffensein der Schöpfung ansichtig macht. Vielmehr ist auch hier der Allmachtsaspekt nur als Betrachtungspunkt der sich als geschaffene innegewordenen Schöpfung zu verstehen, so dass die Rückbindung des Einzelnen an den Schöpfergott, der jetzt auch als das eigene Sein und Dasein nach wie vor bestimmende Herr wahrgenommen wird, auch hier bar jeglicher Zwangesimplikationen sein muss und somit auch supralapsarisch interpretiert werden kann. Auch in theologischer Perspektive, d.h. dezidiert infralapsarisch, ist der Aspekt des Zwanges als solcher aufgehoben, da das Stehen des Konkreten innerhalb des absoluten Prozesses vom theologischen Standpunkt immer als paradoxes Geschehen gezeichnet wird, so dass ein völliges Stehen außerhalb Gottes von Seiten des Geschaffenen schlechterdings ausgeschlossen ist. Tillich verdeutlicht diesen Sachverhalt in dem am Rand der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ sekundär hinzugefügten Begriff des „Panentheismus“ (EW IX, 333 Anm. 154), der genau dieses Herkommen alles Geschaffenen von Gott und damit auch das Stehen im Bezugsverhältnis zu Gott expliziert und in der späteren Theologie Tillichs nochmals von Bedeutung ist (vgl. ST III, 474–477).

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In Bezug auf das Liebesmoment innerhalb des Allmachtsbegriffs ist von entscheidender Bedeutung die Vorstellung der Schöpfung im Sohn Gottes. Dies bedeutet in Tillichs Systematik, dass die Unterschiedsetzung in Gott, die innertrinitarisch in der Zeugung des Sohnes versinnbildlicht wird, selbst Ursprungsdatum der Heraussetzung der Schöpfung aus dem so bereits Einheit und Differenz in sich vereinenden Gott ist. Ohne die Struktur des Ineinanders von Identität und Differenz innerhalb Gottes selbst ist die Setzung der völligen Differenz außerhalb Gottes, die nur insofern gleichzeitig innerhalb Gottes geschieht, als Gott selbst im Paradox der Identität von Identität und Differenz das Unsynthetisierbare unter und in sich vereinigt, schlechterdings ausgeschlossen. Insofern lässt sich aussagen, dass das Signum für die Differenzhaftigkeit innerhalb Gottes, nämlich der Sohn Gottes, allererst die conditio sine qua non göttlichen Schöpferhandelns darstellt und die Schöpfung dadurch als eine im Sohn erfolgte und erfolgende vorstellig wird.26 Der Allmachtsaspekt der Allmacht wird hingegen dogmatisch präzisiert in der Differenzhaftigkeit von Schöpfer und Schöpfung, die sich dergestalt äußert, dass selbst die Kategorien, denen Geschaffenes ausgesetzt ist, nicht in Anwendung gebracht werden können auf den Schöpfer, sondern ihrerseits selbst wiederum geschaffen sind und somit in Gänze dem Schöpfergott gegenüber bzw. unter ihm stehen. Konkret sind die Kategorien von Raum, Zeit, Ursache und Wirkung zu nennen, unter welchen als geschaffene die Geschöpfe stehen, jedoch nicht Gott,27 der sich seinerseits mit Hinblick auf die Eigenschaftenlehre daher als allgegenwärtig, ewig und – in Ergänzung zu Tillich – auch als in Aseität vorgestellt werden muss, was sich aus dem reflexiven Nachvollzug der Allmacht Gottes im Konkreten ————— 26

Vgl. D §2; 334: „In die Tiefe des Schöpfungsgedankens führt allein die biblisch-kirchliche Aussage, daß die Welt durch den Sohn resp. in dem Sohn geschaffen ist. In dem Sohn als Moment des Unterschiedes, der Vielheit und Einzelheit in Gott ist die Welt gesetzt; er trägt die Welt, durch ihn und für ihn gibt Gott der Welt Bestand.“ Wichtig ist die strikte Trennung, die Tillich zwischen Sohn Gottes und geschaffener Welt vornimmt: Die Einzelheit als solche wird zwar ansichtig bereits im Rahmen der immanenten Trinität, allerdings ist diese Immanenz immer eine tatsächliche, d.h. unter der bergenden Einheit getroffene Differenz. Der Schöpfungsakt unterscheidet sich von der innertrinitarischen Zeugung des Sohnes in dieser Hinsicht in Sonderheit unter dem Gesichtspunkt des Außerhalbsetzens der Schöpfung und der damit verbundenen Differenzhaftigkeit der Schöpfung gegenüber Gott als solchem, welche erst in erneuter göttlicher Syntheseleistung – theologisch ansichtig im Paradox – überwunden werden kann. Vgl. D §2; 334: „Nur muß man sich davor hüten, in abstrakt idealistischer Weise Welt und Sohn Gottes gleichzusetzen. Denn Welt ist das einzelne als einzelnes, Sohn Gottes der Unterschied in der Einheit des göttlichen Lebens.“ 27 Vgl. D §2; 333: „Mit dem Einzelstandpunkt sind auch die Formen und Kategorien gegeben, die das einzelne konstituieren: insbesondere Raum, Zeit, Ursache und Wirkung. Die Dinge der Welt sind in Raum und Zeit beschlossen und stehen im durchgängigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Das macht ihren Charakter als Ding, als Weltwesen aus und ist nicht von ihnen abzulösen. Infolgedessen ist es allein richtig zu sagen, die Zeit ist mit der Welt geschaffen: Sie ist die die Welt konstituierende Form.“

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ergibt.28 Zusammenfassend kann Tillich schließlich aussagen, dass „Allmacht heißt: aller Dinge, alles Seienden mächtig. Allmacht heißt: Von ihm, durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.“ (D §2; 334) Dieses Resümee bezieht sich nun gleichsam auf den Liebes- wie den Allmachtsaspekt innerhalb des Allmachtsbegriffs, weil durch die beiden Momente nur das Herkommen bzw. Rückgebundensein alles Geschaffenen verdeutlicht wird, was sich wiederum im gleichzeitigen Schöpfer- und Herrsein Gottes expliziert. (2) Betrachtet man in Sonderheit die Liebe Gottes im Schöpfungsakt, so ist diese – wie auch die Allmacht – als frei zu bestimmen, jedoch dergestalt, dass die Liebe Gottes sich eben darin als frei erweist, dass sie den Menschen als das seiner selbst bewusste und damit des paradoxen eigenen Zustands, gleichzeitig von Gott frei und an ihn gebunden zu sein,29 inneseiende Geschöpf als frei erschafft, damit der Mensch diese Freiheit zur freien Rückkehr in die göttliche (Schöpfer-)Liebe gebraucht. Genau genommen findet eine Übertragung des innergöttlichen Liebesprozesses auf das GottMensch-Verhältnis statt, wobei die Absolutheit göttlichen Liebens erhalten bleibt, was wiederum zur Folge zeitigt, dass die Liebe Gottes im Akt der Schöpfung des Menschen und in der nachfolgenden Erhaltung desselben nicht nur frei ist – wie auch die Zeugung des Sohnes –, sondern auch eine derartige Liebe ist, die „ihr Ziel verfehlen“ (D §3; 335) kann. Innerhalb dieses Horizonts, der Analogsetzung des göttlichen und göttlich-menschlichen Liebesverhältnisses, lässt sich auch von der Gottebenbildlichkeit des Menschen sprechen: Der Mensch ist allererst Mensch als Ebenbild Gottes, d.h. als potentielles und echtes Objekt der Liebe Gottes. ‚Liebenswürdig‘ ist der Mensch daher nicht aufgrund seines eigenen Seins, sondern immer ————— 28

Vgl. D §2; 334: „Auf die einzelnen Reflexionskategorien angewandt ergeben sich folgende Begriffe. Allgegenwart: Während die Dinge im Raum gesetzt sind, ist der Raum in Gott gesetzt. Ewigkeit: Während die Dinge in der Zeit gesetzt sind, ist die Zeit in Gott gesetzt. Gott hat ein Verhältnis zu den Dingen, das nicht durch Raum und Zeit bedingt ist, weil Raum und Zeit durch ihn bedingt sind.“ 29 Auch hier ist wiederum die in Tillichs philosophischen Überlegungen festgehaltene Doppelstruktur des Denkens bzw. konkreten Einzelwesens, immer zugleich frei und unfrei, d.h. frei geschaffen und gleichzeitig an Gott gebunden zu sein, in Anwendung zu bringen. War der Mensch in rein philosophisch-absoluter Sicht als frei zu bestimmen – was allerdings schon sein Eingebundensein in den absoluten Prozess inkludiert –, so ergab die reflexive Analyse mit ihrem Scheitelpunkt des Pessimismus die völlige Unfreiheit des Menschen; beide Aspekte sind schließlich in der Formulierung des Paradoxes vereint, indem der absolute Zustand angenommen wird, allerdings von konkreter, relativer Warte aus, so dass das Freisein des Menschen aus der Betrachtung des Zustandes der Unfreiheit immer nur als ein paradoxes Geschehen erfasst werden kann. Vgl. D §3; 335: „Die theologische Anthropologie ist die Übertragung des Paradox auf den Menschen. Während es Aussage der philosophischen Anthropologie ist, daß Mensch und Freiheit identische Begriffe sind, während die Reflexion Mensch und Unfreiheit gleichsetzen muß, zeigt die Dogmatik die Freiheit in der Unfreiheit.“

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schon durch sein von Gott in freier Liebe und das bedeutet: als geliebtes Geschöpf Erschaffensein.30 Was Tillich in seinen Ausführungen zur Liebe zwischen Gott-Vater und Sohn in einer Randbemerkung anführt, nämlich dass eine „Einschränkung der Allmacht [sc. durch die Liebe] besser“ (EW IX, 335 Anm. 159) sei, lässt sich mit systematischer Konsequenz auch auf die göttliche Liebe gegenüber dem Menschen festhalten: In der Erschaffung des Menschen ist der Liebesaspekt derart stark und äußert sich eben in der Schöpfung eines dezidiert freien Menschen, dass die wesensmäßige Präponderanz der Liebe innerhalb des göttlichen Lebens auszustrahlen vermag auf das, was völlig außerhalb Gottes, ja sogar wider ihn steht: der freie Mensch. Ließ sich unter der geistigen Leitung Schelling’schen Gedankenguts bei Tillich eine latente Vorrangstellung der Wahrheit bzw. des Einheitsaspekts innerhalb seines systematischen Konzepts feststellen, wobei nochmals festgehalten werden muss, dass ungeachtet der Prävalenz eines Moments die Irreduzibilität und Reziprozität der Momentenkonstellation unberührt und unbeschadet erhalten bleibt, so ist es auch hier wiederum das – als gleichfalls einender Aspekt vorstellig werdende – Moment der Liebe, welches in schöpfungstheologischem Kontext prinzipiell das stärkere Gewicht trägt, ohne dass dies in systematischer Hinsicht eine Entwertung des Allmachtsmoments bedeuten oder gar die Wechselseitigkeit von Allmacht und Liebe aufheben würde. Allmacht und Liebe explizieren sich vielmehr in einer polaren Struktur, die eine gegenseitige Bestimmung von Allmacht und Liebe als jeweils frei aus sich heraussetzt. Das Allmachtsmoment wird falsch und verkommt zu Willkür, sofern es losgelöst wird von der göttlichen Liebe, in der alles Schöpferhandeln – insbesondere die Schöpfung des Menschen – in Freiheit erfolgt. In gleicher Weise ist die göttliche Liebe unter Absehung des Allmachtsgedankens nicht mehr Liebe im absoluten, freien Sinne, welche sich bewusst auf ein bestimmtes, frei erwähltes Objekt richtet, sondern depraviert zur abstrakten Fassung ihrer selbst, die letztlich in ein sentimentales Missverstehen echt göttlichen Liebens, das immer ein unter der Prämisse der Allmacht erfolgendes schöpferisches Lieben ist, münden muss.31 Insgesamt erscheint das Verhältnis von Allmacht und Liebe ————— 30

Vgl. D §3; 336: „Der Mensch wird dadurch Mensch, daß er Ebenbild Gottes wird. Das ist der normative Begriff des Menschen, ein Wesen zu sein, das Gott lieben kann.“ Mit diesem Gefälle von der Liebe Gottes hin zum geliebten Objekt Mensch ist nach Tillich dem Feuerbach’schen Projektionsvorwurf gewehrt, da auch hier wiederum konsequent von Gott her das Menschenbild entworfen wird – und nicht umgekehrt. Anthropologie ist in theologischer Hinsicht immer ein Ergebnis der Gotteslehre, so dass die Erörterung wahren Menschseins immer erst nach der Bestimmung wahren Gottseins erfolgen kann. 31 Vgl. D §3; 336: „Für die Gotteserkenntnis ergibt sich aus dem Gesagten, daß es falsch ist, den Satz: Gott ist die Liebe, in abstraktem, unbestimmtem Sinne zu gebrauchen. Gott ist Liebe, insofern er den Sohn hat, und Gott ist Liebe, insofern er den Menschen schafft; ohne diese Bestim-

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– ohne dass Tillich dies expressis verbis äußert – als ein weiteres momentartig aufgebautes Spannungsverhältnis zweier Gegensatzpole, die sich gegenseitig konstituieren und bestimmen, was wiederum in der Irreduzibilität und Reziprozität der Momentenkonstellation seinen Ausdruck findet. Aus der absoluten Perspektive des göttlichen Lebens heraus stellt jedoch auch diese Momenthaftigkeit wiederum nur eine Konzession an das reflexive Denken dar, insofern auch Allmacht und Liebe jeweils eine bestimmte Perspektive, d.h. eine objektivierende Fixation, auf das prozessual zu bestimmende Leben Gottes werfen und somit immer nur einen Aspekt der Lebendigkeit Gottes in Ansicht bringen, hinter dem jedoch das Ganze göttlichen Lebens hervorzuschimmern vermag. (3) Vollendet unter systematischem Blickwinkel ist die Momenthaftigkeit göttlichen Lebens allererst unter der Hinzunahme eines dritten Moments, das sich in diesem Fall in der eschatologischen Perspektive des Schöpfungsvorgangs, der Vorsehung, expliziert und die beiden ersten Momente nochmals als in Freiheit geschehend fasst. Gemäß seiner Verfasstheit als freies und zugleich unfreies Wesen, wie er religionsphilosophisch vorgestellt wurde, steht es dem Menschen im wahrsten Sinne des Wortes frei, die „suchende Liebe“ Gottes „verschmähen, sich selbst behaupten zu können.“ (D §4; 337) Kraft seiner schöpfungsmäßig ihm zukommenden und aus der göttlichen freien Liebe zugesprochenen Freiheit ist es die Ambivalenz der menschlichen Wesenhaftigkeit, sich just dem widersetzen zu können, wodurch er allererst ist.32 Dieses Doppelverhältnis des Menschen zu Gott, einerseits die göttliche Liebe anzunehmen, andererseits ihr zu wehren, zeitigt Konsequenzen gegenüber der menschlichen Position in Bezug auf ————— mung ist der Satz inhaltlos und irreführend (z.B. sentimental).“ Auch an dieser Stelle kann Tillich wieder die göttliche Liebe zum Sohn und zum Menschen in Hinblick auf die Freiheit, in der diese Liebe erfolgt, gleichsetzen. 32 Dass sich hier die menschliche Grundverfasstheit, wie sie bereits im fundamentaltheologischen Teil der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ konzipiert wurde, nun im dogmatisch gefassten und somit konkreten Gott-Mensch-Verhältnis repliziert, braucht nicht eigens erörtert zu werden, sondern dürfte mit Hinweis auf Kap. 1.2.2.1 evident sein. In gleicher Weise sind wiederum gedankliche Anleihen bei der Konzeption der menschlichen Verfasstheit in der Freiheitsschrift Schellings zu beobachten. Bei der dortigen Fragestellung nach dem Ursprung des Bösen wird die Möglichkeit des Bösen in einer – der Konzeption Tillichs entsprechenden – Anlage eines Doppelprinzips im Menschen erkannt; vgl. insbesondere Schelling, SW VII, 364–373. Es gilt jedoch darauf hinzuweisen, dass die Tillich’sche Fassung des als Freiheit erschaffenen Menschen nicht als gewissermaßen semipelagianische Position zu werten ist, weil die von Tillich im Rahmen der Gotteslehre verhandelte Schöpfungslehre immer aus supralapsarischer Perspektive heraus agiert und den Menschen in seinem originären Geschaffensein abbildet. Die Freiheit, sich in das entsprechende Verhältnis zu Gott setzen zu können, ist mithin keine Wahlmöglichkeit, die die gegenteilige Option miteinschließt, sondern vielmehr Freiheit, die – wie schon fundamentaltheologisch erörtert – immer in untrennbarer Einheit mit der Notwendigkeit steht, welche erst in postlapsarischer Verfasstheit als dem Freiheitsmoment widrig wahrgenommen wird.

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das göttliche Leben: Das Leben Gottes erscheint für den Menschen, der die Liebe Gottes in Freiheit annimt, als solches, d.h. als eine in allmächtiger Liebe und somit als in Freiheit und nicht Willkür vor sich gehende Lebendigkeit. Wird jedoch die Liebe nicht angenommen, so schlägt die Wahrnehmung des göttlichen Lebens durch den Menschen um in ein Allmachtsempfinden, welches die eigene Position als unfrei erkennen lässt. Die göttliche Liebe kann vom Menschen somit zwar vermittels seines Geschaffenseins als freies Wesen verfehlt werden – in umgekehrter Fassung ist die Verfehlung des telos göttlichen Liebens, „die Verwirklichung des Reiches Gottes“ (These zu D §4; 336) bzw. „das Reich der Liebe“ (D §4; 337), jedoch durch die Allmächtigkeit göttlichen Vorsehungshandelns insofern ausgeschlossen, als der Mensch nur dann als freier vorstellig werden kann, wenn er in völliger Freiheit die Liebe Gottes anzunehmen vermag und somit im wahren Verhältnis zu sich und dem Grund seiner selbst steht. Die Verkehrung dieses Verhältnisses wiederum muss eine Kehre in das Gegenteil der völligen Unfreiheit und dadurch das Geraten unter die göttliche Allmacht zur Konsequenz zeitigen, da der Mensch allenfalls in seinem genuin ihm zuerschaffenen Zustand der Freiheit als frei gelten kann und andernfalls analog allem Nicht-Geistigen in ein reines Abhängigkeitsverhältnis zu Gott tritt,33 das nicht anders als durch die vollkommene Auswirkung der Allmacht erfahren werden kann. Kurz gefasst: Der Mensch ist nur solange als frei zu bezeichnen, als er sich in Einheit mit dem Ziel göttlicher Liebe befindet; jedweder andere Zustand ist den Konsequenzen der Allmacht unterworfen.34 Das dritte Moment, das Tillich auch als die „allmächtige Liebe Gottes (Vorsehung)“ (Paragraphenüberschrift zu D §4; 336) bezeichnet, ohne hier die Momententrias tatsächlich anzusprechen, bringt somit Liebe und Allmacht Gottes derart in Synthesis zusammen, dass mit Blick auf das telos göttlichen Lebens die beiden Momente von Allmacht und Liebe sich in der Einheit des verwirklichten Lebens Gottes aufzuheben anschicken, ohne dass die tatsächliche Durchsetzung dieses Endzustandes schon als proleptisch vollzogen vorstellig wird.35 Die Aufhebung der Gegensätze von Allmacht ————— 33

Die Gleichstellung mit allem Naturhaften hat allerdings tatsächlich nur als in Analogie geschehend vorstellig zu werden, da der Mensch auch im Zustand der Unfreiheit noch als Geistwesen zu gelten hat, jedoch dergestalt, dass er, was das Hinwirken auf die Erfüllung des göttlichen Liebestelos anbetrifft, dem Allmachtsaspekt unterworfen ist. 34 Vgl. D §4; 337: „[D]ie Freiheit bleibt nur Freiheit, hat nur ein Recht, sich zu erheben über die Allmacht, solange sie mit dem Ziel der Allmacht, der ewigen Einheit in Gott, eins bleibt. […] Entweder ist die Freiheit eins mit Gott, so ist sie auch eins mit der Allmacht und ihrem Plan; oder sie steht gegen Gott, so wird sie der Allmacht unterworfen.“ 35 Die allenfalls fragmentarische Form dieser Prolepse verdichtet sich im Tillich’schen Begriff vom Kairos; vgl. dazu auch Alf Christophersen, Kairos. Protestantische Zweideutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008.

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und Liebe in das sich im Reich der Liebe verwirklichende göttliche Leben bleibt allerdings nichtsdestoweniger im dritten Moment intendiert und als stete Forderung gesetzt. Es bleibt somit noch zu fragen, inwiefern und inwieweit bei der Ablehnung der göttlichen Liebe von einem tatsächlich freien Akt des Menschen gesprochen werden kann. Innerhalb des Tillich’schen Systems ist diese Frage dahingehend zu beantworten, dass der Mensch ausschließlich im Stehen im absoluten Vollzug, d.h. dogmatisch gesprochen in seinem Sein in der Liebe Gottes, als wahrhaft frei zu kennzeichnen ist. Jedwedes Stehen außerhalb dieses Prozesses der göttlichen Liebesbewegung ist schon per se als unfrei zu klassifizieren, weil es in den Sog allmächtiger Kategorien zu geraten droht, die den unfreien Menschen dem überantworten, von dem er seine Freiheit beziehen möchte, nämlich sich selbst, und ihn somit den dem Standpunkt der Relativität eignenden relativen Kategorien anheim geben. Konkret bedeutet dies gewissermaßen einen Rückfall des sich in der Sphäre des Geistigen selbst bestimmt habenden Subjekts auf einen vor-geistigen Zustand, da das eigentlich in der Selbstbestimmung des Selbst intendierte Ziel, nämlich die Erkenntnis der nur vermittelten Unmittelbarkeit des Individuums und damit verbunden das Sich-selbst-Verortenlassen vom Bezugspunkt des eigenen Konstituiertseins, verfehlt wurde und das Subjekt als reines Einzelwesen auf die Basis schierer Relativität zurückgeworfen wird. Die Frage nach der Anrechenbarkeit dieses verfehlten Unternehmens und damit die Frage nach der Sündhaftigkeit des Menschen bzw. nach den Bedingungen der Möglichkeit, die eigene Sündhaftigkeit als Schuld zu erkennen, leiten unmittelbar über zur harmatiologischen Darstellung, die ihrerseits konkretisiert, was die Schöpfungslehre in abstracto entworfen hat. (4) Entsprechend seiner theologischen Bestimmung des Menschen als Freiheit in der Unfreiheit definiert Tillich Sünde als „die Selbstbehauptung des Einzelwesens als Einzelwesen und die Ablehnung der Gemeinschaft der göttlichen Liebe.“ (These zu D §5; 337) In der philosophischen Nomenklatur Tillichs handelt es sich demzufolge um eine Selbstbehauptung ohne gleichzeitige Anwendung des Prinzips der Selbstüberwindung.36 Das Einzelwesen als solches versucht sich – ungeachtet der damit verbundenen und entstehenden Aporien – selbst qua Einzelheit zu bestimmen, schließt im Rahmen dieser Selbstkonstitution ein Vermitteltsein der eigenen Unmittelbarkeit aus und gründet sich somit schlechterdings und ausschließlich auf ————— 36

Zu Recht auf die Abhängigkeit Tillichs von Schelling in diesem Punkt verweist Jean-Paul Gabus, Trinity, 63: „Tillich also takes over from Schelling the idea that sin is not as such the will to selfhood or the self-affirmation of the individual as individual, but man’s will to establish his selfhood without God, independent from Him and His love.“

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sich selbst, ist Selbstbehauptung ohne Selbstüberwindung. Der Zustand des sündigen Subjekts erweist sich somit als die Verselbständigung des immer in göttliche Rückbezüglichkeit zu stellenden Selbst, das also die eigene Freiheit nicht zu ihrer eigentlichen Bestimmung, nämlich der Selbstkonstitution in, mit und unter göttlicher Vermitteltheit, sondern just zu ihrem Widerpart gebraucht. Innerhalb der sündigen Verfasstheit hat daher eine Gleichzeitigkeit von der dem Individuum zugesprochenen Freiheit, der Selbstbehauptung, und von der unlauteren Durchführung derselben, nämlich ohne Berücksichtigung des Prinzips der Selbstüberwindung, statt.37 Insofern hat das Einzelwesen als solches, ja gerade als solches, nicht als sündig zu gelten, da im Gegenteil mit der vollkommenen Einzelnerwerdung des Selbst die Rückkehr desselbigen zu Grund und Ursprung seiner selbst, mithin der Konstitutionsbasis des eigenen Selbstseins, nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr im Wesen des Einzelselbst – aufgrund seiner vermittelten Unmittelbarkeit – angelegt ist. Mit anderen Worten: Der Zustand der Einzelheit des Selbst ist nicht als sündig zu klassifizieren.38 Die Sünde kommt allererst bei Abwehr des in der eigenen Selbstkonstitution in Form der Freiheit angelegten Ausgerichtetseins und stetigen Bezogenseins auf die – nach und in der Selbstkonstitution erfolgten völligen Einzelwerdung angelegten – Rückkehr in die Einheit göttlichen Lebens in Anbetracht.39 Erst wenn es gewissermaßen zu einer Verfehlung des im freien Menschen eigentlich angelegten Schöpfungstelos kommt, kann angemessen von Sünde gesprochen werden. Es wäre somit falsch, die Verfasstheit des menschlichen Einzelwesens schon ob dieser Verfasstheit als sündig zu ————— 37

Vgl. D §5; 338: „Die positive Seite enthält die Selbstbehauptung des einzelnen als einzelnes, die negative Seite das Sich-Entziehen der Einheit des göttlichen Lebens.“ 38 Das So-Sein des Selbst, d.h. sein Sein als zentrierte Einzelheit, ist also nicht per se sündig und an sich auch nicht direkter Ursprung der Sünde. Die oben aufgeworfene Frage nach potentiellen semipelagianischen Tendenzen in der Tillich’schen Bestimmung des Menschen als Freiheit in der Unfreiheit ist somit negativ zu beantworten und der Ansatz Tillichs von einer Freiheitskonzeption pelagianischer Provenienz freizusprechen. – Trotz allem ist eine gewisse Sympathie Tillichs für Pelagius nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn er in Fragen der Erbsündenlehre die augustinische Fassung zwar als die kirchenpolitisch siegreiche, jedoch die pelagianische nicht als damit verabschiedet beurteilen möchte, sondern das Anliegen des Pelagius – die Schuldfähigkeit und schließlich auch die tatsächliche Schuld des Menschen an seiner Sündhaftigkeit stark zu machen – als zumindest berücksichtigenswert erachtet, weil selbst die Kirche, sich „an Augustin angeschlossen [hat], doch nie ohne Konzessionen an Pelagius zu machen.“ (D §6; 340) Wie auch sonst sind die strikten Gegensatzpaare – wie sie in diesem Fall die Haltungen von Augustin und Pelagius abbilden – in ihrer abstrakten Isoliertheit nicht Tillichs Position, die sich eher aus einer synthetischen Betrachtung des berechtigten – aber abstrakten – Anliegens der Einzelpole speist. 39 Vgl. D §5; 338: „Nicht, daß ein Einzelwesen ist, ist Sünde; das einzelne bis zur völligen Bestimmtheit bis zum absoluten Einzelwesen, dem menschlichen Individuum, ist von Gott gesetzt, aber mit der Bestimmung, zu Gott zurückzukehren; und daß es sich dieser Bestimmung widersetzt, ist die Sünde.“

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bezeichnen, weil sie dies gerade nicht ist, ja nicht sein kann aufgrund ihres So-Gesetztseins durch Gott. Dieses fatale Geschick sucht Tillich vom Wesen des Menschen fernzuhalten, ja von Sünde kann immer nur im Zusammenhang mit einer Deklination vom originären, im Ausgerichtetsein auf das telos jeglichen Schöpfungshandelns befindlichen, mithin schöpfungskonformen und -förmigen Zustand des Menschen gesprochen werden. Sünde ist somit niemals eine schicksalhafte, sondern immer im Selbstvollzug bzw. im Selbst- und Gottesbezug entstehende Begebenheit. Die Frage nach dem Woher der Sünde ist damit allerdings noch nicht beantwortet und lässt sich Tillichs Ausführungen zufolge auch nicht im Zuge der Betrachtung menschlicher Selbstkonstitution bzw. menschlichen Selbstvollzugs eruieren – im Gegenteil lässt sich die Frage nach dem Ursprung der Sünde konsequenterweise schlicht keiner Antwort zuführen. So sehr die Sünde empirisches Faktum ist, so wenig besteht die Möglichkeit ihrer Her- oder gar Ableitung, weil dies dem Wesen der Sünde insofern schlechterdings widerspricht, als diese Widerspruch, d.h. Verkehrung des eigentlichen Verhältnisses, ist, weshalb gerade eine Erklärung der Sünde bzw. ihre Erklärbarkeit einer Aufhebung gleichkäme.40 Sünde als solche entbehrt somit ihres Entstehungsprozesses bzw. es können weder Voraussetzungen noch ‚Anlagen‘ für sie identifiziert werden:41 Entweder ist Sünde oder sie ist nicht – niemals aber wird sie. Dieses Fazit führt Tillich zur Akzeptanz des Begriffs des „transzendenten Sündenfalls“ (D §5; 338), den er so definiert wissen möchte, dass postlapsarische Begebenheiten immer schon – wie die Bezeichnung aussagt – dezidiert nach dem Sündenfall zu verorten sind, d.h. der Sündenfall geht allem, was unter den Bereich der Sünde fällt, „logisch und prinzipiell voraus“ (D §5; 338), so dass die Sünde somit zur Bedingung der Möglichkeit der Explikation der realiter existie————— 40

Vgl. D §5; 338: „Die Frage nach dem Ursprung der Sünde hat den Geist von jeher beschäftigt, ohne daß ein gültiges Resultat erreicht wäre; dies ist in der Sache selbst begründet. Denn wäre es möglich, die Sünde zu deduzieren, so wäre sie damit aufgehoben. Die Sünde ist ihrem Wesen nach der Widerspruch, das sich der Ableitung Entziehende.“ Analog der Begriffskonzeption bei Tillich, der zufolge der Begriff das Unbegreifliche ist, weshalb der Begriff seiner selbst bedarf, um sich explizieren zu können (vgl. A §6), ist gewissermaßen die Sünde dasselbe in negativo: Sünde ist immer nur in der Faktizität ihres Widerspruchs; erklärbar wird sie dadurch allerdings keineswegs, weil Sünde nicht anders explizierbar ist als durch die Verkehrung der Ursprungsverhältnisse, ja der Verkehrtheit in sich selbst. Ist der Begriff das Unbegreifliche, so die Sünde das Unerklärliche, das schlicht Faktische. 41 Dies käme letztlich entweder der Annahme einer korrupten Schöpfung oder der tatsächlich freien Wahlmöglichkeit des Menschen in Bezug auf die Sünde gleich, was beides abgelehnt werden muss. Tillich wird dem gerecht, indem er die Verfasstheit menschlicher Individualität nicht als Ursache des Auftretens der Sünde fasst, sondern die Sünde nur anhand des menschlichen Wesens zu explizieren sucht, wie dies in der Bestimmung der ohne Selbstüberwindung ablaufenden Selbstbestimmung als sündhaft statthat.

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renden Vorfindlichkeit wird.42 Von Bedeutung ist dies für die Theologie insofern, als sie immer auf dem Boden des Reflexionsstandpunkts, der ob seiner Beschränktheit auf den reflexiven Vollzug als der Standpunkt der ————— 42

Treffender als vom ‚transzendenten Sündenfall‘ zu sprechen wäre die Rede von der Sünde in ihrer transzendentalen Bedeutung (vgl. auch Neugebauer, frühe Christologie, 259 und 277f), wobei die Sünde in ihrer Transzendentalität in diesem Fall jedoch nicht als die Konstitutionsbedingung menschlicher Konkretheit, sondern als die Bedingung der Möglichkeit der Explikation menschlichen Seins unter den Bedingungen der Relativität zu verstehen wäre. Zu diesem Ergebnis kommt man auch, wenn man die These 76 in Tillichs Thesenreihe ‚Die christliche Gewißheit und der historische Jesus‘ von 1911 näher betrachtet, wo es heißt: „Der einheitliche göttliche Akt, durch welchen er die bis zur sündlichen Selbstbehauptung sich steigernden Individuen setzt, d. h. den Widerspruch in sich selbst realisiert, und durch Selbstopferung in den Individuen überwindet, ist überzeitlich. Er geht logisch und dynamisch allen einzelnen Akten voran.“ (MW/HW 6, 29 = EW VI, 40; Hervorhebung S.D.) Hieraus wird eindeutig klar, dass Tillich die sündhafte Verfasstheit des Menschen nicht eodem actu durch dessen Setzung als Individualität mitgesetzt wissen will. Im Gegenteil ist vielmehr die Bestimmung und Erschaffung des Menschen als individuelles Wesen dezidiert als im Schöpfungswillen verankert zu betrachten; die sündhafte Verkehrung des menschlichen Wesens hebt zwar nun ihrerseits von der Individualitätsbasis des Menschen an und diese ist somit gewissermaßen conditio sine qua non des Sündenfalls – jedoch ist sie deshalb weder Ursache bzw. Grund noch Auslöser des Sündenfalls. Von Transzendenz in Hinblick auf die wesensmäßige schöpfungskonforme Bestimmung des Menschen als Individuum ist somit ohne jegliche Abstriche zu sprechen, da allererst durch die gottimmanente Distinktion das menschliche individuelle Sein überhaupt sein kann. Betreffs des Sündenfalls lässt sich der Transzendenzbegriff allerdings – wie oben ausgeführt – allenfalls insofern anbringen, als die Explikation des menschlichen Wesens immer erst postlapsarisch erfolgen kann, was unter relativen Bedingungen immer schon die Zeitlichkeit einschließt, so dass der Sündenfall insofern überzeitlich-transzendent ist, als von ihm immer nur unter dem Aspekt der Zeitlichkeit gesprochen werden kann, was sein unerklärliches Auftreten mit den Bedingungen menschlichen Seins überhaupt zusammenfallen lässt. Von einer „Koinzidenz von Schöpfung und Fall“ lässt sich – wie Falk Wagner, Absolute Positivität, 187, und ders., Christus, 239, dies vornimmt – also nur dann unmissverständlich bei Tillich sprechen, wenn Sündenfall und Schöpfungsgeschehen darin als gleich gewichtet anzusetzen sind, dass beide keine rekonstruierbaren status menschlicher Verfasstheit darstellen. Insofern ist der Koinzidenzbegriff unproblematisch und wird von Tillich später auch selbst eingebracht (vgl. ST I, 295). Meint er jedoch ein zeitlich zu denkendes Zusammenfallen beider in einer transzeitlichen Sphäre, so muss dies Tillich’schen Denkens gemäß abgelehnt werden, weil ansonsten Existenz an sich als Sünde zu klassifizieren wäre, was in Tillichs Fall schlechterdings abzulehnen ist (vgl. Danz, Freiheitsbewußtsein, 199). Dies scheint jedoch Falk Wagner anzunehmen, der sich vollziehende Freiheit im Menschen mit dem bei Tillich für die Sünde fungierenden Begriff der „Entfremdung vom göttlichen Seins- und Sinngrund“ (Wagner, Christus, 240) gleichsetzt und damit indirekt Existenz als sündhaftes Phänomen erscheinen lässt. Angemerkt sei hier lediglich, dass diese Deutung der Tillich’schen Theologie insofern problematisch ist, als sie nur eine Seite zur Ansicht bringt, indem ausschließlich auf die Gleichsetzung von Existenz und Sünde rekurriert wird, „ursprüngliche Schöpfungsgegebenheiten“ jedoch nach Wagner bei Tillich nicht zur „Grundlage der menschlichen und christlichen Weltverantwortung“ erklärt werden können (ebd., 241). Dies ist nur dann richtig, wenn von sündhafter Verfasstheit des Menschen und seiner Schöpfungskonformität gleichsam die Rede ist und dezidiert beide als nicht rekonstruierbare Standpunkte ausgewiesen werden. Existenz ist immer einerseits sündhaft und andererseits schöpfungskonform zugleich, was ja den Begriff des Dämonischen bei Tillich allererst ausmacht. Wagners Interpretation ist mithin um die gleichzeitige Einbringung des Schöpfungsaspekts zu erweitern, damit sie nicht das Polaritätsdenken Tillichs verlässt und einseitig wird.

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Sündhaftigkeit schlechthin bezeichnet ist, agiert und daher nicht umhinkommt, die Sünde als Gegebenheit, d.h. als stete Voraussetzung menschlichen Selbstvollzugs, ohne die Möglichkeit der Deduktion ihres Auftretens zu begreifen. Kurz gesagt: Theologie bzw. der theologische Standpunkt operiert immer unter postlapsarischen Bedingungen. Die Sünde ist in prinzipieller Hinsicht konstitutiver Bestandteil des theologischen Standpunkts, weil andernfalls der allenfalls abstrakt oder fragmentarisch zu erfassende Zustand der Intuition, also des Stehens im absoluten Prozess, eintreten müsste. Was die Einzelsünde bzw. dann die Einzelsünden anbetrifft, so sind sie – wie schon die Möglichkeit des Plurals und die damit sich anzeigende Relativität bzw. Nicht-Absolutheit der Einzelsünde kenntlich machen – de facto ‚nur‘ Einzelrealisierungen der prinzipiell sündigen Verhaftetheit des gesamten Reflexionsstandpunkts.43 Ist der Standpunkt der Reflexion per se als der Standpunkt der Sündhaftigkeit, also dezidiert postlapsarisch zu explizieren, so stellt sich die Frage nach dem Verhältnis Gottes zur Sünde. Entsprechend der Reflexionsdialektik zerfällt in abstracto der göttliche Bezug auf die Sünde in eine Doppelstruktur: Insofern die Sünde bzw. die Sündhaftigkeit des Menschen Gott zuwiderläuft, ist alles, was in den Bereich der Sünde fällt, als widergöttlich zu negieren. Andererseits ist allerdings alles, auch die in Sünde verfassten Menschen, ja der gesamte Standpunkt der Sündhaftigkeit letztlich in der göttlichen Allmacht beschlossen, durch Gott selbst gesetzt und somit ein im göttlichen Leben integraler Bestandteil, weshalb selbst das Widergöttliche als das in letzter Konsequenz doch in Gott Geborgene unbedingt zu bejahen ————— 43

Vgl. D §5; 338: „Für diesen ganzen Standpunkt [sc. den theologischen] ist der Sündenfall transzendent, er geht ihm logisch und prinzipiell voraus, wenn auch die Realisierung dieses überzeitlichen Aktes das innerzeitliche Geschehen, die individuelle Sünde ist.“ Inwieweit es allerdings statthaft ist, vom Sündenfall als einem ‚überzeitlichen Akt‘ zu sprechen, soll hier nur als dogmatisches Grundproblem angerissen werden. Soll der Sündenfall bei Tillich zwar als conditio sine qua non menschlichen Lebens, jedoch nicht als schicksalhafte Fügung konzipiert sein, so stellt sich die Frage, warum Tillich den Sündenfall als überzeitlich ansetzt, wobei doch die Schöpfung als solche – und dies inkludiert auch die Bedingungen, unter denen sich die geschaffene Welt befindet, wozu auch die Zeit zu rechnen ist – trotz und in ihrem Geschaffensein noch nicht ursprünglich als sündhaft zu bezeichnen ist. Die Ansetzung des Sündenfalls als ein überzeitliches Geschehen hinwiederum droht die sonst ausgewogene Tillich’sche Konzeption in einen fatalistischen Sog zu ziehen, in dem allein das Geschaffensein der Schöpfung unausweichlich die Sündhaftigkeit mit sich bringt. Dies kann in Anbetracht der sonstigen Ausführungen Tillichs allerdings nicht Ziel und Absicht seiner Erörterung sein, so dass zwar der Reflexionsstandpunkt als solcher schon als der Standpunkt der Sündhaftigkeit zu bezeichnen, aber nicht die Überzeitlichkeit des Falls derart in Anschlag zu bringen sein wird, dass dies eine inevitable Voraussetzung der Verfasstheit der Schöpfung als Schöpfung darstellt – vielmehr ist der überzeitliche Aspekt im Sündenfall – sofern er nicht gänzlich zu verabschieden ist – bestenfalls derart in Anwendung zu bringen, dass die prinzipielle Sündhaftigkeit des gesamten Standpunkts im Rahmen der Erbsündenlehre in Anschauung gebracht wird.

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ist. Es hat mithin ein Zugleich von Verneinung und Bejahung statt, so dass auch dieser Zustand – in Analogie zur Konzeption des Verhältnisses von Wahrheit und Denken – als Ausprägung des Paradoxes zu bezeichnen ist. Dabei bringt die Bezeichnung von Verneinung und Bejahung wiederum nur die abstrakten Pole des Gott-Sünder-Verhältnisses in Ansicht, was insofern zu kurz greift, als das göttliche Verhältnis zur Sünde schlechthin sich nicht in den Einzelpolen von Verneinung und Bejahung in Abstraktheit erschöpft, sondern erst die Explikation dieser Poldualität in Form des Systems, d.h. in konkreter Fassung, die Paradoxalität der Gott-Sünde-Beziehung darstellt. Mit anderen Worten: Nicht eine abstrakte Einzelbetrachtung der Sündenthematik wird dem Verhältnis Gottes zur Sünde gerecht, sondern erst der Gesamtbezug göttlichen Handelns auf die Problematik von Sünde und Reflexion, mithin das in Systemform sich explizierende Prinzip, vermag die Spannung zwischen Gott und Sünde einer Lösung zuzuführen, indem die Spannung von Seiten Gottes im Rahmen der ständigen Integrationsleistung auch und gerade des Widergöttlichen in die Einheit von Einheit und Differenz überwunden wird.44 Die Paradoxalität von gleichzeitiger Bejahung und Verneinung der Sünde und somit des Standpunkts der Sündhaftigkeit wird konkret ansichtig in den göttlichen Eigenschaften von Heiligkeit und Zorn. Diese stellen gewissermaßen das konkrete Pendant zu den das göttliche Leben konstituierenden Eigenschaften Allmacht und Liebe dar und exponieren das Doppelverhältnis Gottes zu seinem konkreten Part. Die Heiligkeit macht dabei vornehmlich die Doppelstruktur von Bejahung und Verneinung deutlich, was sie zur „heiligen Liebe“ (D §5; 339) macht, die nicht im Gegensatz zur allmächtigen Liebe zu verstehen ist, sondern eben Allmacht und Liebe in konkreter Ausprägung und Auswirkung auf das sündige Subjekt, nämlich als dessen gleichsame Affirmation und Negation, beinhaltet – jedoch als abstraktes Moment innerhalb des konkreten Pols. Insofern bleibt das paradoxe Ineinander von Verneinung und Bejahung innerhalb der Heiligkeit Gottes zwar ein konkreter Bezug auf die Sündhaftigkeit des Reflexionsstandpunkts, kann jedoch ob seiner Abstraktheit vom sündigen Subjekt noch nicht in seiner direkten Konsequenz wahrgenommen werden, so dass die Heiligkeit Gottes in concreto in Konflikt mit der Liebe Gottes zu gera————— 44

Vgl. D §5; 339: „Die wirkliche Lösung bringt die Einsicht in das Paradox, daß Gott das der Einheit sich widersetzende Wesen dennoch aufgenommen hat in die Einheit seines Wesens, daß Gott die Sünde zugleich verneint und bejaht. Das bedeutet aber: Das Verhältnis Gottes zur Sünde ist unbegreiflich, wenn es abstrakt, ohne Beziehung auf das ganze dogmatische System begriffen werden soll; das Verhältnis Gottes zur Sünde ist der Inhalt sämtlicher theologischer Aussagen und nur in ihnen zu verstehen. Gott hat kein abstraktes, sondern ein konkretes Verhältnis zur Sünde, nämlich daß er sie überwindet.“

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ten droht, was insofern strictissime abzulehnen ist, als auch die Heiligkeit ja gerade Bestandteil der Liebe Gottes ist, die ja letztlich den umfassenderen Pol als die Allmacht darstellt, so dass die Heiligkeit die – abstrakt gefasste – Synthesis von Allmacht und Liebe, die wiederum als Liebe zu bestimmen ist, am konkreten Pol abstrakt vorstellt: Die Synthesis-Liebe als rein abstrakte Form erhält somit auf dem konkreten Pol ihr abstraktes Pendant in der Heiligkeit Gottes.45 In reiner Konkretion gefasst ist hingegen der Zorn Gottes, der die Negation der Sünde in konkreter Fassung vorstellt. Der Zorn Gottes richtet sich auf den gesamten Standpunkt der Sündhaftigkeit, weil dieser in prinzipieller Hinsicht wie auch im speziellen Fall der Einzelsünde46 dem negativen Moment der Liebe Gottes, mithin der Verneinung anheim fallen muss. Etwas verwirrend mutet es an, wenn Tillich den Zorn Gottes als „das negative Moment der heiligen Liebe“ (These zu D §6; 340) identisch bestimmt mit dem Heiligkeitsaspekt der Liebe;47 erklärbar wird dies allerdings, wenn man Heiligkeit und Zorn in das oben aus den Ausführungen Tillichs deduzierte Systemschema eingliedert und dann Heiligkeit und Zorn in beiden Fällen als negatives Moment innerhalb der Liebe bestimmen kann – nur eben einmal als abstraktes und einmal als konkretes Moment. In seiner Konkretheit ist der Zorn Gottes die Antwort auf den „abstrakten Schuldbegriff[.]“ (D §6; 341), der sich insofern als abstrakt präsentiert, als Schuld im Rahmen der Unerklärlichkeit des Sündenbegriffs vom sündigen Einzelsubjekt immer in der Doppelform von Freiheit und Notwendigkeit bzw. Un————— 45

Vgl. D §5; 339: „[D]urch das Merkmal der Heiligkeit bekommt die allmächtige Liebe ein negatives Moment; und das ist der Sinn des Heiligkeitsbegriffs auf Gott angewandt. Auch die Heiligkeit ist keine abstrakte Eigenschaft, sondern der Ausdruck für ein reales Verhalten Gottes, nämlich das zugleich negative und positive Verhalten zum Sünder: Es gibt keine Heiligkeit Gottes abgesehen von seiner heiligen Liebe.“ Heiligkeit ist für Tillich somit das ‚negative Moment‘ innerhalb des liebenden Handelns Gottes in konkreter Form – abstrakt war dies ja die Allmacht Gottes. Tillich spricht zwar nicht expressis verbis von den oben ausgeführten systemkonzeptionellen Analysen, allerdings dürfte die Verortung des Heiligkeitsaspekts als des abstrakten Moments in der konkreten Explikation der abstrakten Poldualität Allmacht und Liebe in systematischer Hinsicht schwerlich zu bestreiten sein. Tillich baut auch seine materialdogmatischen Passagen konsequent an dem Dreischritt abstrakt – konkret – absolut auf, so dass die Gotteslehre als der absolut-abstrakte Part sich wiederum in drei Teile gliedert, von denen eben die Harmatiologie den konkreten Anteil übernimmt, sich aber auch in eine dreimomentige Struktur aufspaltet. Dabei übernimmt eben die Heiligkeit Gottes den abstrakten Part. 46 Diese Doppelung ergibt sich daraus, dass – im Rahmen der Erbsündenthematik – nach Tillich „alles, was eingeschlossen ist in die Reflexions-Kategorien, objektiv beschlossen ist unter die Sündhaftigkeit als Zustand“, woraus sich als Konsequenz ergibt, dass „dieser Zustand realisiert wird durch jeden Akt der gottwidrigen Selbstbehauptung“ (D §6; 340f), was bezüglich des Menschen die Sünde ist. 47 Vgl. Anm. 45 auf dieser Seite.

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schuld und Schuld erfasst werden muss.48 Erst innerhalb des Gesamtsystems kann der abstrakte Widerstreit von einer scheinbaren Unschuld und der durch notwendige Begebenheiten aufgezwängten Schuld einer Lösung zugeführt werden, indem Sünde und die Erlösung von ihr nicht mehr in der strengen Alternative von schicksalhafter Verfallenheit oder freier Wahl expliziert werden, sondern sowohl Sünde als auch Freiheit und Notwendigkeit in ihren jeweiligen im Fluss befindlichen – in Tillichs Vokabular: lebendigen – Bezügen aufeinander vorstellig werden und nicht mehr auf eine bestimmte Fixierung limitiert sind. Erfassbar ist dies in Konkretheit wieder ausschließlich im Paradox: „Er hat alles beschlossen unter die Sünde, auf daß er sich aller erbarme. Die Lösung auch dieses Problems ist das Paradox.“ (D §6; 341) In re gestaltet sich die Umsetzung des Paradoxes im Sinne der Reflexionsdialektik in Form einer Struktur, wie sie in klassischlutherischer Fassung in der Abfolge von Gesetz und Evangelium thematisiert wird: Der Zorn Gottes als das konkrete Moment der Negation innerhalb der Liebe Gottes hat schlechterdings die Vernichtung des sündigen und somit absolut widergöttlichen Standpunkts zum Gegenstand. Gleichzeitig ist – gewissermaßen durch die Negation des eigenen Selbst durch den vernichtenden Zorn Gottes und die damit verbundene Offenbarung der NichtUnvermitteltheit des Selbst – die Liebe Gottes immer tragender Grund des göttlichen Zorns und nicht vice versa, so dass die Rückkehr, ja das eigentlich Immer-schon-Sein in der Liebe Gottes, das durch die Sünde allererst aufgekündigt wurde, intendierter Endpunkt der Bewegung durch den von der Liebe getragenen Zorn und die Liebe selbst ist. Unter dieser Verlaufsstruktur kann dem Zorn Gottes samt aller seiner negativen Konsequenz für das sündige Objekt des Zorns, das letztlich der Vernichtung anheim fallen muss, ein Sinn insofern abgerungen werden, als der göttliche Zorn sich nicht nur nicht in der völligen Negation des Gottwidrigen erschöpft, sondern durch seine Liebesförmigkeit vielmehr wesensmäßig ausgerichtet ist auf die Offenbarung der sündhaften Struktur des Einzelselbst, das durch diese Offenbarung zur Reintegration in die göttliche Liebe geführt werden ————— 48

Tillich interpretiert die Erbsündenlehre auf der Basis der paradoxen Gleichzeitigkeit von Freiheit und Notwendigkeit sowie Unschuld und Schuld: „Das Problem der Erbsündenlehre liegt in dem Doppelverhältnis von Notwendigkeit und Freiheit des einzelnen im Verhältnis zur Sünde und dementsprechend in dem Doppelurteil der Unschuld und Schuld.“ (D §6; 340) Abgeleitet ist diese Verhältnisbestimmung offensichtlich aus der Unerklärlichkeit der Herkunft der Sünde, die die Allgemeinheit der Sünde als Notwendigkeit erscheinen lässt. Auch hier ist wiederum in Tillich’scher Diktion der Verweis auf das Gesamt des theologischen Systems zu geben, dass nämlich Notwendigkeit und Freiheit immer nur als in reflexiver Fixation einander widerstreitende Pole vorstellig werden, in der Perspektive des Gesamtsystems aber als abstrakte Pole entlarvt werden, deren genuines Anliegen in ihrer Einzelbetrachtung nicht vorgestellt werden kann.

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soll.49 Sünde ist mithin trotz ihrer völligen Gottwidrigkeit von Gott selbst in der Heiligkeit getragen – wie gleichwohl sie negiert werden muss und negiert wird –, um das letztliche Ziel göttlicher Liebe, die Reintegration des Sünders in die Liebe trotz des Zorns, mittels der Offenbarung des Sünders als Sünder50 zu verwirklichen – und zwar nicht nur abstrakt, sondern auch konkret. So wenig Tillich eine Spannung zwischen Heiligkeit resp. Zorn Gottes und seiner Liebe konstruieren möchte, so sehr ist das negative, die Sünde vollständig negierende Moment in der göttlichen Liebe doch eine Polarität in der Liebe Gottes selbst. Dies wurde bereits auch in Bezug auf die Allmacht festgestellt und bedarf daher nicht der abermaligen Erörterung; allerdings mündet auch diese Polaritätsstruktur zwischen gewissermaßen ‚heiligem Zorn‘ und der Liebe in ihrer Synthesisgestalt wiederum in ein drittes, die beiden Momente in Synthese vorstellig machendes Moment, das Tillich als Theodizee bezeichnet.51 Nach der Konzeption von Heiligkeit und Zorn Gottes trifft die Verneinung den Einzelnen um dessen letztlicher Bejahung willen;52 dies bedeutet in abstrakter Explikation die ständige Überwindung ————— 49

Vgl. D §6; 341f: „Für die Dogmatik ist dieses ganze System der Negation nur möglich, insofern es getragen wird von der göttlichen Liebe. Leiden, Tod, Sündenknechtschaft und Gottesferne haben keinen andern Zweck, als die Gebundenheit des gottwidrigen Wesens an Gott zu offenbaren. Gottesferne, von Gott bejaht um der Offenbarung Gottes willen: Das ist die Tiefe des theologischen Standpunktes.“ Genau betrachtet fehlt in Tillichs Ausführungen natürlich das in der klassischen Lehre von Gesetz und Evangelium angelegte Moment der frohen Botschaft von Jesus Christus. Allerdings behandelt die Gotteslehre, wie festgestellt, die dogmatischen Topoi in abstrakter Schilderung, wodurch die Evangeliumsbotschaft hier noch in der abstrakten Form der Rechtfertigung – nichts anderes sagt die in Liebe angebotene Reintegration des Sünders trotz des über ihn verhängten und berechtigten Zorns Gottes aus – formuliert ist, materialiter jedoch bereits alles enthält, was später nur konkret, d.h. für das sündige Subjekt tatsächlich zugänglich, im Kreuz Christi ansichtig wird. 50 Offenbarung meint hier also nicht im eigentlichen Sinn die göttliche Offenbarung an sich, sondern eher das Offenbarwerden der sündhaften Verfasstheit des Selbst und der damit verbundenen Erkenntnis der Sünde als Schuld, welche zwar im Ziel der Reintegration in die göttliche Liebe überwunden wird, an dieser Stelle jedoch nur abstraktes Postulat und nicht konkrete Verwirklichung ist. 51 Zum Theodizeebegriff in Tillichs Werk vgl. Jörg Eickhoff, Theodizee. Die theologische Antwort Paul Tillichs im Kontext der philosophischen Fragestellung, Frankfurt a.M. u.a. 1997. 52 Nach Tillich hat somit jede Theodizee, die nicht fehlgehen, d.h. sich aporetisch in den abstrakten Formen von Dualismus und Monismus verlieren, will, „das Recht Gottes anzuerkennen, das unbedingte Recht, uns keinen Schrecken, keine Vernichtung zu ersparen.“ (EW X, 112) Anzusetzen ist demnach gerade nicht mit dem gnadenhaften Handeln Gottes, sondern vielmehr mit dem das Relative vernichtenden Aspekt der Heiligkeit Gottes, die vom Relativen unbedingt anerkannt werden muss: „Gott hat Recht, bedingungslos, und jede Theodicee ist Unrecht, das ist der erste Satz der Theodicee.“ (EW X, 112) Dass Gott nun tatsächlich teilnimmt an dieser Betroffenheit des Relativen ist erst das in der Theodizee sekundär zu Erörternde. Vgl. insgesamt zum Theodizeeverständnis Tillichs die wohl aus dem Jahre 1916 stammenden Skizzen Tillichs zum Theodizee-

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des Zornaspekts innerhalb der Liebe Gottes, die somit – konkret gefasst in der Aufnahme des Sünders in die Einheit der Liebe – um ständige Integrationsleistung des der Integration Widerstrebenden bemüht ist. Das zu Integrierende seinerseits ist allerdings nicht ohne das, was Initiator der Integration ist, so dass selbst das Nicht-Integrierte letztlich Bestandteil der Integrationsinstanz ist, obwohl es sich gegen die Integration in ständiger Selbstbehauptung sträubt. Ist somit in letzter Konsequenz das, was in und durch seine Sündhaftigkeit schlechterdings außerhalb Gottes steht, durch sein Herausgesetztsein aus Gott, mithin sein Herkommen von Gott, immer schon integraler Bestandteil des göttlichen Lebens, so trifft der göttliche Zorn nicht nur das in Sünden Verneinte, sondern auch die Basis, die das Verneinte trotz, in und mit der Sünde trägt: also Gott selbst. Somit bleibt die Negation alles Sündhaften, Widergöttlichen niemals etwas, was außerhalb Gottes läge. Gottes Zorn trifft letztlich Gott selbst und führt somit zum höchsten Punkt der Teilnahme Gottes am durch den göttlichen Zorn herbeigeführten Leid des Widergöttlichen.53 Das dritte Moment neben Liebe und Heiligkeit bzw. Zorn kommt hiermit dadurch in Ansicht, dass im Mitleiden Gottes – das nicht als theopaschitische Tendenz, sondern als ein NichtÄußerlichbleiben des leidenden Widergöttlichen in Bezug auf Gott zu verstehen ist54 – beide, Liebe wie ihr negatives Moment, sich in dahingehender Aufhebung befinden, dass die Reintegration des sündhaften Widergöttlichen in die Liebe Gottes als im Begriff des Vollzugs vorstellig werden muss. Entsprechend des teleologischen Charakters des dritten Moments wird auch in der Theodizee niemals ein tatsächliches Vollzogensein, sondern nur ein Sich-im-Vollzug-Befinden in Anschlag gebracht, wodurch alle Momente erhalten bleiben und die Zielrichtung des in momenthafter Perspektivität wahrgenommenen Prozesses allererst deutlich wird, so dass Tillich auch bezüglich des dritten Moments wiederum vom Paradox selbst sprechen kann: „Das Paradox ist die Theodizee.“ (D §6; 342) (5) Neben den bereits behandelten primär schöpfungstheologischen und harmatiologischen Erörterungen nimmt der abschließende dritte Teil der ————— begriff, die vom Editor Erdmann Sturm mit ‚Theodicee‘ überschrieben wurden und in zwei Versionen vorliegen in: EW X, 101–113. Die beiden angeführten Zitate stammen aus eben jener Schrift. 53 Vgl. D §6; 342: „Der Zorn Gottes gegen das gottwidrige einzelne trifft Gott selbst, insofern das einzelne, Konkrete, Moment seines Wesens ist. Er will in Liebe verbunden sein mit dem Einzelwesen, aber er muß es um der Liebe willen verneinen, von sich fernhalten, sich selbst seiner Gemeinschaft berauben. Gott sehnt sich nach der Gemeinschaft mit seiner Welt, nach der Einheit mit seinem Konkreten; und soweit diese Sehnsucht unerfüllt bleibt, ist es Wahrheit, wenn gesagt wird: Gott selbst nimmt teil am Leiden der Welt.“ 54 Der theopaschitischen Anklage verwehrt sich Tillich dezidiert: „Freilich steht er darüber [sc. Gott über dem Leiden der Welt]: in Ewigkeit triumphiert die göttliche Einheit und Seligkeit; aber insofern die Zeit in Gott gesetzt ist, hat er teil an dem Leiden der Zeit“ (D §6; 342).

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Gotteslehre in Sonderheit eschatologische Fragestellungen in den Blick. Dies entspricht der teleologischen Ausrichtung des dritten Moments in der Tillich’schen Prinzipkonstruktion, führt konsequent die in der Schöpfung in abstrakter Absolutheit und in der Harmatiologie in relativer Konkretheit gezeichneten Linien zusammen und richtet die Perspektive auf das in der Schöpfung intendierte, durch den Sündenfall verfehlte und jetzt unter eschatologischem Blickwinkel zu erreichende Ziel göttlichen Handelns mit dem Menschen aus. Dabei wird auch der eschatologische Teil wiederum in zwei Momente unterteilt, dessen eines die Gerechtigkeit Gottes ist, die in konkreter Hinsicht das gerichtliche Endhandeln Gottes thematisiert und somit das konkrete Wirken der heiligen Liebe in relativer Konsequenz, also bezüglich des Einzelmenschen, beinhaltet; den zweiten Part übernimmt in absoluter Weise die Gnade Gottes, welche letztlich ein absolutes Urteil fällt und damit im Rahmen der Rechtfertigungslehre primär nicht das Richten des einzelnen Konkreten, sondern dessen Gerechtmachung, aufgrund derer allererst der Richtspruch im Rahmen der Gerechtigkeit getroffen werden kann, intendiert, wodurch bereits die erneute Schlagrichtung deutlich wird, nämlich dass hier zum wiederholten Male das Verhältnis von Wahrheit und Denken derart ansichtig wird, dass Gnade letztlich die Voraussetzung der Gerechtigkeit ist und andererseits die Gerechtigkeit trotz ihres relativen Urteils integraler Bestandteil göttlichen Gnadenhandelns bleibt.55 Im Detail betrachtet meint die Gerechtigkeit Gottes die Anwendung beider Aspekte der heiligen Liebe Gottes, also sowohl ihr Verneinungs- als auch ihr Bejahungsmoment, in der Geschichte der Menschheit56, was durch die Abhängigkeit des Urteils von den Bedingungen historischer Existenz immer nur in relativer Form

————— 55

Die durchgängige prinzipielle Grundausrichtung, die das komplette System und somit auch die Dogmatik bestimmt und durchdringt, wie dies auch für die vorhergehenden Teile der Gotteslehre zu zeigen versucht wurde, wird nun hier von Tillich explizit angesprochen: „Die Zweiheit von Gerechtigkeit und Gnade entspricht dem Doppelverhältnis von Denken und Wahrheit, von absolutem und relativem Standpunkt, insbesondere aber von Religion und Kultur“ (D §8; 346). Durch diese Bemerkung ist das obige Unternehmen, auch die Schöpfungs- und Sündenlehre in das System Tillichs entsprechend der Momentausprägung einzuordnen, weitergehend gerechtfertigt und bestätigt die aus den Aussagen Tillichs latent ableitbaren Prämissen. 56 Der Kollektivbegriff der Menschheit ist entscheidend, insofern er im Umgang mit der Sünde zwar eine Abstraktsetzung derselben durch Selbstintegration in eine Gemeinschaft und damit eine Relativierung des Einzelselbst vornimmt, gleichzeitig aber dadurch die Bedingung der Möglichkeit der Sünde – gewissermaßen durch Selbsterlösung im Kollektiv – ermöglicht; vgl. D §7; 343: „Im Begriff der Menschheit liegt schon unmittelbar das sündenüberwindende Moment; denn Menschheit ist Überwindung des Einzelmenschen, ist Organismus und damit Verneinung der abstrakten Selbstheit. Zugleich aber ist es auch die Verwirklichung der Sündhaftigkeit, insofern das Widerstreben gegen die Organisation und Einheit der Sünde die unendliche Möglichkeit ihrer Betätigung gibt.“ Hier klingt bereits die in den späteren Schriften, wie etwa ‚Der Mut zum Sein‘, so wichtige Distinktion zwischen Einzelnem und Kollektiv an (vgl. z.B. GW XI, 70–116).

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geschehen kann. Es handelt sich mithin um ein konkretes Urteil aus der Gerechtigkeit Gottes, das insofern konkret und damit relativ ist, als es jeden einzelnen je nach seiner Stellung zur göttlichen Liebe beurteilt – d.h. die relative Verfasstheit des Menschen als zugleich wahr und unwahr bzw. als zugleich stehend in der göttlichen Liebe und ihr andererseits wehrend ist konstituierende Grundlage für das Urteil der Rechtsprechung, welche immer im Duktus der Reflexionsdialektik ein Doppelurteil über das Einzelsubjekt trifft. In Richtung auf ein absolutes Urteil hin wirkt die relative Fassung der Gerechtigkeit, insofern nicht ein vergleichendes Urteil gefällt wird, sondern ausschließlich eine Veranschlagung des individuellen Gott-Mensch-Verhältnisses statthat, weil nur die Teilhabe an bzw. das Sein in der göttlichen Liebe Beurteilungsgrundlage und gleichzeitig Ziel des Gerechtigkeitsurteils darstellt.57 Das Doppelurteil der göttlichen Gerechtigkeit entspricht der gleichzeitigen Wahrheit und Unwahrheit des Einzelselbst dergestalt, dass das Urteil eben sowohl die völlige Negation des Einzelnen, als auch seine vollständige Affirmation beinhaltet und somit aufgrund relativer Verfasstheiten absolute Urteile hervorbringt, die ob der relativen Grundlage zwangsläufig ambivalent, ja widersprüchlich ausfallen müssen.58 Insofern das Urteil der Relativität unterliegt, lässt sich von der tatsächlich geschichtlichen Wirkung der Gerechtigkeit Gottes sprechen, was ihre Konkretheit zur Folge hat. Jedwede sich dieser Relativität widersetzen wollenden Tendenzen – Tillich nennt hier wie schon in seinen fundamentaltheologischen Ausführungen den Pharisäismus und die Mystik – verfehlen zwangsläufig ihr Ziel, weil sie ob ihrer relativen Verfasstheit dem dadurch bedingten Urteil in seiner doppelten Gestalt nicht entgehen können.59 All die relativen Verfasstheiten, wie sie im Doppelurteil der Gerechtigkeit Gottes enthalten sind, drängen jedoch in ihrer Relativität und dem damit einhergehenden Schwebezustand, den das notwendig uneindeutige Gerechtigkeitsurteil zur Konsequenz zeitigt, auf eine absolute Entscheidung. Diese fällt unter dem Vorzeichen der Gnade Gottes.

————— 57

Vgl. D §7; 344: „Es ist falsch, den Begriff der Gerechtigkeit dem einzelnen gegenüber im Vergleich mit andern anzuwenden. Dies ist ein Ausfluß des Reflexionsstandpunktes, der eine bestimmte Quantität von Gütern für den einzelnen beansprucht. Der einzelne hat aber keinen andern Anspruch, als Moment der Einheit des göttlichen Lebens zu sein“. 58 Vgl. D §7; 345: „Insofern das Einzelne Objekt dieser [sc. der göttlichen] Liebe ist, hat es ewige Bedeutung, ist es in der Einheit vor Gott. Insofern es von dem negativen Moment der göttlichen Liebe getroffen wird, steht es Gott entgegen, ist es von ihm verurteilt und zur Nichtigkeit verdammt.“ 59 Sowohl ein pharisäischer, wie auch ein mystischer Versuch, sich der Doppelung des Urteils zu entziehen, wobei die pharisäische Variante aufgrund von relativer Positivität ein „absolut positives Urteil zu erreichen“ sucht, der Mystiker sich hingegen „den absoluten Kategorien überhaupt“ (D §7; 345) entziehen möchte, muss aufgrund der Doppelstruktur der Einzelheit, gleichzeitig frei und unfrei zu sein, als nicht realisierbarer Grenzbegriff verstanden werden. Gleiches gilt für die Sünde wider den Geist, die ein bewusstes Festhalten an der als solche erkannten Verkehrtheit der Sünde meint (vgl. D §7; 343), weil völlige Sündenerkenntnis, d.h. die vollständige Erfassung der Sünde in ihrer Tiefe, im Rahmen der relativen Reflexionsbedingungen als schlechterdings ausgeschlossen beurteilt werden muss.

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Wies die Gerechtigkeit dem Einzelnen zu, was ihm aufgrund seines Verhältnisses zur Liebe Gottes in relativer Hinsicht zukam,60 so stellt die Gnade als zweiter Pol im Spannungsverhältnis einerseits den reziproken, absoluten Widerpart zur Gerechtigkeit dar und ist gleichzeitig die Bedingung der Möglichkeit der göttlichen Gerechtigkeit. Bemessungsgrundlage im Rahmen der Gerechtigkeit Gottes ist das Stehen des Individuums zur einenden göttlichen Liebe, woraus folgt, dass je stärker das Stehen in der Intuition des absoluten Prozesses vom Einzelnen als Einzelnes – in der bewussten Einzelheit des Einzelnen und dem Wissen um das eigene Momentsein im übergreifenden Prozess liegt der kategorische Unterschied zum mystischen Selbsterlösungsversuch – vollzogen ist, auch der Rechtsanspruch in relativer Weise um so höher ist. Idealiter müsste demnach das Einzelsubjekt bis an die Grenzen seines sündenbehafteten Selbstseins gehen, ja im letzten Schritt diese überschreiten, um in der vollendeten Selbstüberwindung seinen berechtigten Platz im einenden göttlichen Leben einzunehmen. Tillich fasst dies folgendermaßen zusammen: „Was Gott aber fordert, ist das gleiche Verhalten zur Sünde wie er: Bejahung des Positiven, Verneinung des Negativen, Bejahung der Einheit, Verneinung der Selbstheit, d.h. aber Gerechtigkeit.“ (D §7; 346) An diesem Punkt nun kommt die Gnade Gottes als implizite Voraussetzung seiner Gerechtigkeit zum Tragen, indem sie aufhört, in relativen Begriffen zu rechnen, und nicht mehr den Einzelnen betrachtet, sondern in absoluter Hinsicht durch ein absolutes Urteil den Standpunkt der Relativität, der als solcher gleichzusetzen ist mit dem Standpunkt der Gerechtigkeit, aufhebt, dadurch negiert, um ihn aufgrund der völligen Negation auch wieder völlig bejahen zu können – nun allerdings absolut, nicht relativ. Hier schlagen die in den philosophischen Prämissen Tillichs festgesetzten prinzipiellen Grundüberlegungen durch, wie sich an der augenfälligen Analogie zum Verhältnis von Wahrheit und Denken erkennen lässt. Für die Gerechtigkeit bedeutet diese Konstellation, dass dem Einzelnen, relativ Gerechten und gleichzeitig relativ Ungerechten, allererst das gegeben wird, aufgrund dessen er schließlich im Rahmen der Gerechtigkeit sein Urteil empfängt. Dieses Wechselgeschehen zwischen Gnade und Gerechtigkeit, das sich – wie bei Wahrheit und Denken – wiederum durch Reziprozität und Irreduzibilität trotz der Prävalenz der Gnade auszeichnet, lässt sich aber nicht anders beschreiben als mit dem höchsten Begriff, den der absolute Standpunkt auszubilden vermag: Rechtfertigung.61 Gerechtigkeit ist somit schlechterdings unverständlich und missverständlich in ihrem rein relativen Bezug, der auch nicht zu einem absoluten Urteil zu führen vermag, sondern ausschließlich im Horizont der Rechtfertigung, d.h. der Gerechtmachung des sündigen Einzelnen durch die Gnade Gottes, die dem Menschen in gleichzeitig erfolgender absoluter Negation und absoluter Affirmation vermittels der dominierenden einenden

————— 60

Vgl. D §7; 346: „Gerechtigkeit in seiner [sic!] unmittelbaren Bedeutung war definiert als das tätige Urteil Gottes, das den Rechtsanspruch des einzelnen zur Durchführung bringt.“ 61 Lässt sich Gerechtigkeit definieren dadurch, dass Gott „gibt, was er fordert“, weil das „Recht des einzelnen […] abhängig [ist] von seinem Besitz und sein Besitz … von Gott“, so ist Gerechtigkeit nicht anders verstehbar als in ihrer ständigen Rückbezüglichkeit auf die göttliche Gnade, so dass schon im Rahmen der Rechtfertigung ausgesagt werden muss: „Gott ist gerecht, indem er gerecht macht. Der Kern der Gerechtigkeit ist Gnade.“ (D §7; 346; Hervorhebung S.D.)

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Funktion des göttlichen Lebens den Rechtsanspruch trotz aller der Einheit widerstrebenden Momente in der Einzelheit zuzusprechen mächtig ist. Das absolute Urteil ist somit gefällt und kann aufgrund der hinwegfallenden Ambivalenz, der alles Relative unterliegt, sogar das sich dem Urteil Entziehende miteinschließen in die göttliche Einheit. Gerechtigkeit und Gnade Gottes bringen somit ein und dasselbe nur einmal in relativer und einmal in absoluter Perspektive in Ansicht, nämlich die endzeitlichen Auswirkungen der heiligen Liebe gegenüber dem sündigen Subjekt. Da im Rahmen relativer Bedingungen die Gerechtigkeit ihre Anwendung fand in Bezug auf die Geschichte der Menschheit,62 kann in absoluter Hinsicht nicht mehr von den relativen Kategorien ausgegangen werden, sondern die gnadenhafte Rechtfertigung des Einzelstandpunkts erfolgt kraft der „Offenbarungsgeschichte“, die als „Geschichte des theologischen Prinzip als solches“ zu bezeichnen ist (D §7; 347). Dergestalt, d.h. mit Blick auf das theologische Prinzip als solches, ist der Geschichtsbegriff bezüglich der Offenbarung jedoch als Grenzbegriff zu verstehen, da hier – entsprechend dem dritten Moment des theologischen Prinzips – die Voraussetzungen des Prinzips per se im Begriff sind wegzufallen, so dass der mit dem Signum der Zeitlichkeit versehene Geschichtsbegriff allenfalls als aufgehobenes – d.h. bewahrtes, nicht zerstörtes – Moment der Einzelheit samt ihren Bedingungen in der anhebenden Absolutheit, in die das Prinzip einzugehen sich anschickt, vorstellig wird. Vor dem Vollzogensein dieses Verabsolutierungsprozesses bleiben Menschheitsgeschichte und Offenbarungsgeschichte in einem „fortwährenden Kampf[..]“ (D §7; 347) begriffen, der die Irreduzibilität und Reziprozität des abstrakten und konkreten Pols trotz der letztlichen Prävalenz der absoluten Perspektive in der Identität von Identität und Differenz zum Ausdruck bringt, die dogmatisch in dem Vorausgesetztsein der Offenbarungsgeschichte für die Menschheitsgeschichte ansichtig wird.63

In dieser paradoxen Synthesis von Menschheits- und Offenbarungsgeschichte erlangt das Rechtfertigungsverständnis in der Gotteslehre seinen ————— 62

Die Menschheitsgeschichte gelangt per se allerdings – wie gesehen – noch nicht zur wahren Einsicht in die Sündhaftigkeit ihrer selbst und die damit verbundene Rechtfertigung: „Durch die Geschichte der Menschheit ist Gott und die heilige Liebe noch nicht offenbar geworden. Sie ist Mischung von Offenbarung und Verhüllung Gottes und wirkt darum als Verhüllung.“ (D §7; 347) In dieser Abwehr einer theologia naturalis durch Tillich wird auch die nur begrenzte Einsichtsmöglichkeit in die Sünde durch die konkret in Zorn und Heiligkeit Gottes erfolgende Theodizee unterstrichen und gleichzeitig der oben (vgl. S. 150 Anm. 49) konstatierte, analog einer GesetzEvangelium-Struktur sich vollziehende Aufbau bekräftigt. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Tillich mit dem Begriff der Verhüllung auch weitere Assoziationen zu genuin lutherischen Theologumena, wie etwa dem deus absconditus, anklingen lässt. 63 Dass die Offenbarungsgeschichte Voraussetzung der Menschheitsgeschichte ist, äußert Tillich dezidiert: „Es ist nicht so, daß das theologische Prinzip nicht gewirkt hätte in der Menschheitsgeschichte. Vielmehr nur weil der Standpunkt der Gerechtigkeit getragen ist von der Gnade, hat er Bestand; und darum ist objektiv in all seinen Momenten die Gnade wirksam. Die ganze Menschheit ist erfüllt von ihr; ohne sie gäbe es keine Menschheit […]; es ist die Langmut Gottes, die die Menschheit und den Standpunkt der Gerechtigkeit fort und fort trägt durch die Gabe seiner Gnade“ (D §7; 347).

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Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips

höchsten Ausdruck und fordert nun die konkrete Umsetzung seiner selbst. Für die Gotteslehre bleibt jedoch abschließend festzuhalten, dass sie in ihrer Abstraktheit zu der tiefsten Einsicht in abstrakt-absoluter Sicht, nämlich dem Rechtfertigungsgedanken, vorzudringen vermag, wie dies auch schon in rein abstrakter Perspektive – die Gotteslehre beinhaltet nach Tillich ja nur im Rahmen der Dogmatik den abstrakten Part innerhalb eines an sich konkreten Bezugshorizonts – in der Konstruktion des absoluten Systems vorstellig wurde. Ziel der Rechtfertigung bleibt ihr Wirklichwerden, d.h. die Realisierung der Gnade in einer für den Standpunkt der Relativität akzeptablen Form und dadurch die Überwindung des Standpunkts der Gerechtigkeit trotz seines Fortbestehens durch die Gnade in prinzipieller und konkreter Hinsicht; dies wird expliziert im konkreten Teil der Dogmatik, der Christologie.

1.3.2 Die Christologie als Mitte des Systems Sowohl die Positionierung der Christologie innerhalb des dogmatischen Abschnitts der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ als auch ihre inhaltlichen Implikationen charakterisieren sie als Inbegriff des konkreten Momentes des theologischen Prinzips. Bereits bei der Konstruktion des theologischen Prinzips – also noch in der Apologetik – bedient sich Tillich notwendigerweise des Christus Jesus als Gegenstand des konkreten Momentes.64 Zwar finden die jeweiligen Momente der Apologetik immer ihre jeweilige Entsprechung in der Dogmatik, jedoch stellt die Christologie unter diesem Aspekt betrachtet einen Sonderfall dar: War das absolute Moment des theologischen Prinzips im apologetischen Abschnitt noch als Rechtfertigung bestimmt, so tritt im dogmatischen die erste Person der Trinität, v.a. in ihrer Funktion als Schöpfergott,65 als Inbegriff des absoluten Momentes auf, wie dies oben durch die Explikation des Lebens Gottes in Sonderheit im Rahmen schöpfungstheologischer Implikationen ansichtig wurde, nämlich dass das göttliche Leben schlechthin bestimmt ist in seinem Schöpfersein, indem in der Heraussetzung des schlechterdings von Gott ————— 64

Vgl. die These zu A §25; 320f: „Das Urteil, daß in Jesus von Nazareth das Absolute sich herabgelassen hat zum Relativen und das Relative zurück[ge]kehrt ist zum Absoluten, ist der Inhalt des konkreten Momentes des theologischen Prinzips.“ (Konjektur in der Edition) 65 Dies soll weder in der hier vorgenommenen Darstellung des Tillich’schen Gedankens noch in Tillichs System selbst als eine Aufhebung des Grundsatzes opera trinitatis ad extra sunt indivisa sein, sondern vielmehr als der besondere Zuspruch der Absolutheit an den (trinitarischen) Schöpfergott verstanden werden. Vgl. auch Hummel, Tillich’s 1913 „Systematische Theologie“, 367– 369.

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Unterschiedenen im Akt der Schöpfung Gott allererst als der lebendige sich offenbart. Selbstverständlich entsprechen sich die beiden Bestimmungen des ersten Momentes des theologischen Prinzips nahezu vollständig, indem sie beide den einenden Aspekt, der im theologischen Prinzip überhaupt und im Speziellen in dessen absolutem Moment angelegt ist, betonen – jedoch kann hier von Tillich in Bezug auf die Nomenklatur immerhin noch eine Unterscheidung zwischen Apologetik und Dogmatik getroffen werden. So ist der Gott der Schöpfung und der ‚Ursprungseinheit‘ zugleich der rechtfertigende Gott, weil er das Relative in sich setzt, und das Vorhandensein der Welt überhaupt nur durch ihr Gerechtfertigtsein statthat, so dass das Kommen der Welt von dem sie rechtfertigenden Absoluten implizite Existenzvoraussetzung der Relativität als solcher ist.66 Auch was das dritte Moment des theologischen Prinzips betrifft, findet sich eine leichte Distinktion in den Formulierungen Tillichs: Die Apologetik betont den aufhebenden Aspekt des theologischen Prinzips, welches allzeit im Begriff ist, sich zu realisieren. Vom absoluten Standpunkt aus betrachtet steht am Ende dieses Prozesses der Zustand der absoluten Mystik, in der die Voraussetzungen des theologischen Prinzips und mit diesen das Prinzip selbst als aufgehoben zu denken ist, weil in diesem Endzustand alle als vorher im Prozess der Verwirklichung befindlich vorstellig zu werdende Dynamik zwar immer noch Dynamik bleibt, jedoch eine, die sich in ständiger Einheit trotz ihres in sich getragenen Gegensatzes befindet. Dogmatisch wird der Prozess hin zur teleologischen Einheit mit Gott in Form der dritten Person der Trinität als Geist bezeichnet.67 Auch hier findet sich ein ‚Endzustand‘ der wiederum im Begriff der Trinität zusammengefasst wird.68 In Bezug auf das zweite, konkrete Moment des theologischen Prinzips bleibt Tillich allerdings gebunden an die Person Jesu Christi. Zwar beinhaltet die Thematik in der Apologetik ausschließlich den historischen Aspekt und behandelt das Verhältnis von Glaube und Geschichte, zentral bleibt die Historizität Jesu aber auch in der Dogmatik, was sich schon daran erkennen lässt, dass bereits der erste christologische Paragraph69 die Grundproblematik des Paradoxes Jesus Christus am Konnex der Offenbarung Gottes in ————— 66

Charakteristisch für die enge Verknüpfung von Apologetik und Dogmatik ist auch die Überschrift zur Gotteslehre in der ‚Skizze‘: „Der Hervorgang der Welt aus Gott bis zum vollendeten Widerspruch (Gott der Vater)“ (EW IX, 427). In dieser Formulierung trifft exakt zusammen, was eben ausgeführt wurde: Rechtfertigung und Gott in seiner Form der (lebendigen) Absolutheit sind letztlich ein und dasselbe, nur einmal aus fundamentaltheologischer, einmal aus dogmatischer Sicht betrachtet. 67 Die Überschrift in der ‚Skizze‘ hierzu lautet: „Die Rückkehr der Welt zu Gott bis zu der vollendeten Einheit (Gott der Geist)“ (EW IX, 428). 68 Vgl. hierzu auch Kap. 1.3.3. 69 Vgl. die Paragraphenüberschrift zu D §9; 348: „Die Einheit Gottes und des historischen Jesus“.

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Jesus Christus mit der Geschichte, innerhalb derer die Offenbarung stattfindet, festmacht. Das Absolute bzw. Gott bleibt für die Sphäre des Geschichtlichen notwendig abstrakt, solange es sich nicht in eben diese Sphäre begibt, um für das Geschichtliche relevant werden zu können. Geschichtlichkeit schließt aber zwangsläufig die Verbindung mit der Relativität bestimmter raumzeitlicher Begebenheiten mit ein, so dass das Absolute trotz und in seiner Absolutheit ein Relatives werden muss. Anders gesagt: Offenbarung des Absoluten kann nur dann Offenbarung für das Relative werden, wenn die Offenbarung auf dem Boden des Relativen stattfindet. Genau das ist mit dem Begriff der Konkretheit und dem konkreten Moment des theologischen Prinzips gemeint. Da nun der Mensch in der Apologetik als freies Geistwesen, d.h. als am Ende des Naturprozesses stehend, aufgezeigt wurde, kann sich die Konkretheit in der Offenbarung für den Menschen nur in der Menschwerdung Gottes äußern. Jedwede andere Form der Inkarnation – wobei hier zu fragen wäre, ob dann überhaupt noch von ‚Inkarnation‘ gesprochen werden könnte – ist somit von vornherein ausgeschlossen.70 Die „Mensch-(einzelner)-Werdung“ (D §9; 349) Gottes ist somit schlechthin die Bedingung der Möglichkeit wahrer Offenbarung. Dieser einzelne Mensch muss aber im Fluss der Menschheitsgeschichte zu stehen kommen, um tatsächlich Einzelner und nicht nur gewissermaßen abstrakt Einzelner zu sein. Somit wird verständlich, weshalb Tillich nicht umhinkommt, sich der Person Jesu Christi sowohl in der Apologetik als auch in der Dogmatik zu bedienen, weil jedwede Abstraktion bzw. Transzendierung vom Christus und jedwede Absehung von dessen Geschichtlichkeit zum Verlustiggehen seiner Konkretheit führt. Zwischen Apologetik und Dogmatik findet sich mithin in Bezug auf die drei Momente des theologischen Prinzips und die drei Personen der Trinität eine weitgehende Entsprechung, um nicht zu sagen: Deckungsgleichheit. Besonders zugespitzt ist das Verhältnis von Apologetik und Dogmatik im Christus Jesus bzw. dem zweiten Moment des theologischen Prinzips, weil sich hier in der zentralen Fragestellung bezüglich des Verhältnisses von Glaube und Geschichte keine wirkliche Differenz mehr ausmachen lässt. An diesem Punkt berühren sich fundamentaltheologische Fragestellung und dogmatische Explikation aufs Engste, ja sie fallen praktisch zusammen. So formuliert Tillich auch in A §25: „Wir stehen an diesem Punkte vor dem theologischen Zentralproblem: Hier oder nirgends wird der Charakter der ————— 70

Eine potentielle Inkarnation, die sich ‚unterhalb‘ des Menschen ereignen würde, müsste für diesen als nicht seiner ihm eignenden Position ‚überhalb‘ des reinen Verhaftetseins in der Natur als ihn nicht wirklich angehend betrachtet werden – ebenso wie eine Inkarnation ‚überhalb‘ des Menschen für ihn zwangsläufig abstrakt werden müsste.

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Synthese zwischen absolutem und relativem Standpunkt deutlich.“ (321) Dementsprechend ist die Grundproblematik der Christologie, nämlich das paradoxe Zugleich von absolut und konkret in der konkreten Person Jesu Christi, das unter den Bedingungen reflexiver Dialektik auf dem theologischen Standpunkt notwendig in den Widerspruch von absoluter Offenbarung und Geschichtlichkeit umschlagen muss, zu Beginn der Christologie zu explizieren, um im Anschluss daran die christologischen Einzelaussagen in das Gesamtsystem Tillichs einordnen zu können. Zur Klärung des Problems zwischen Historizität Jesu von Nazareth und der Offenbarung des Absoluten in ihm wird zunächst en bloc das einschlägige Dokument Tillich’scher Gedankenbildung aus dieser frühen Schaffensphase zu diesem Thema, die 128 Thesen mit dem Titel ‚Die christliche Gewißheit und der historische Jesus‘ aus dem Jahre 1911, einer Detailanalyse unterzogen.

1.3.2.1 Tillichs Verhältnis zum historischen Jesus in der Thesenreihe von 1911 Neben der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ stellen die 128 Thesen ‚Die christliche Gewißheit und der historische Jesus‘ aus dem Jahr 1911 das wohl konziseste und wichtigste Dokument Tillichs über seine Auffassung zur Bedeutung des sog. historischen Jesus dar.71 Da hier im Rahmen einer Thesenaufstellung der Argumentationsduktus klarer gezeichnet ist und allein ob seines Umfangs alle anderen Äußerungen Tillichs zur Thematik ————— 71

Die Bedeutung der Thesenreihe für sein gesamtes Denken betont Tillich selbst in seiner autobiographischen Schrift ‚Auf der Grenze‘ (in: GW XII: 13–57), wenn er schreibt: „Ein für meine Entwicklung maßgebendes Dokument sind die Thesen, die ich Pfingsten 1911 einer Gruppe befreundeter Theologen vorlegte und in denen ich die Frage stellte und zu beantworten suchte, wie die christliche Lehre zu verstehen wäre, wenn die Nichtexistenz des historischen Jesus historisch wahrscheinlich würde“ (ebd., 32). Auch Gunther Wenz betont – unter Verweis auf die zitierte Tillichstelle – die bleibende Bedeutung der Konzeption der Thesen über den historischen Jesus für Tillich bis hinein in dessen Spätwerk: „Die Beurteilung der uns hier interessierenden historischen Thematik jedenfalls hat Tillich […] auch nach seinem Bruch mit dem transzendentalen Idealismus und der damit gegebenen Anerkennung des Begegnungscharakters und des tatsächlichen Vorausgesetztseins der Offenbarung grundsätzlich nicht revidiert und offensichtlich von der Idealismusfrage unabhängig erachtet. Sie hält sich durch zumindest bis zum Jahr 1933, letztlich aber […] bis in seine spätesten Werke.“ (Wenz, Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs [Münchener Monographien zur historischen und systematischen Theologie, Bd. 3], München 1979, 191) Umso mehr verwundert es, dass die Thesen Tillichs von 1911 in der Forschung kaum Beachtung erfahren haben (vgl. Neugebauer, frühe Christologie, 192 Anm. 214). Vgl. aber jetzt die Ausführungen von Georg Neugebauer, frühe Christologie, 192–227. Einen Beleg für die anhaltende Bedeutung der Thesen für Tillichs Denken liefert die Dresdner Dogmatikvorlesung Tillichs aus den Jahren 1925–1927. Hier reformuliert Tillich seine christologischen Grundsätze von 1911 nicht nur, sondern er orientiert sich sogar an dem noch näher zu beschreibenden Argumentationsgang seiner 128 Thesen (vgl. EW XIV, 325–332).

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bei weitem übertrifft, lohnt es, eine Analyse der 128 Thesen der allgemeinen Untersuchung der Christologie voranzustellen. In systematisch-systemkonzeptioneller Hinsicht ist die herausragende Wichtigkeit der Fragestellung um die Historizität und Prinzipialität des Christusgeschehens evident: Der theologische Standpunkt und somit Theologie als solche hat es mit nichts anderem zu tun als mit der Erfassung, Darstellung und jeweiligen zeitspezifischen Explikation des theologischen Prinzips. Allererst zugänglich wird das Prinzip für den relativen Standpunkt in der konkreten Fassung des Prinzips, welche abstrakt zu umschreiben ist als das Eingehen des Absoluten in das Konkrete, womit das Paradox als solches bezeichnet ist. Wie dies jedoch konkret vorstellig zu werden hat, ist zugespitzt erkennbar in dem völlig konkreten Moment des theologischen Prinzips unter christlicher Ausprägung, nämlich in Jesus Christus. Dessen gewissermaßen doppelte Verfasstheit, nämlich konkreter, bestimmter Mensch, dieser eine Jesus von Nazareth und gleichzeitig das Absolute im Konkreten zu sein – wie es in der alten Kirche innerhalb der Zweinaturenlehre behandelt wurde72 –, ist somit auch in prinzipieller Hinsicht der Kulminationspunkt, weshalb die Verhältnismäßigkeit von Historizität und Absolutheit innerhalb der Christologie als die genuine Ausformulierung des Paradoxes schlechthin eine eigene, ausführliche Analyse benötigt und verdient, um dem systematischen Anliegen Tillichs gerecht werden zu können. Nach Tillich muss zunächst zwischen dem „Glaubenssatz ‚Jesus ist der Christus‘“ und „dem historischen Urteil: ‚Jesus, der Christus, ist (hat existiert)‘“ (T 1)73 unterschieden werden. Dabei bedeutet der zweite Satz den Zuspruch von historischer Wahrheit für die Gleichung ‚Jesus = der Christus‘ (vgl. T 2) – diesen historischen Wahrheitsgehalt gilt es Tillich zufolge in der Thesenreihe zu überprüfen. Dabei ergeben sich zwei methodische Verfahrensweisen, indem einmal von der „Vorstellung Jesus“, die „den wesentlichen Gehalt des evangelischen Jesusbildes“ (T 4) enthält, und einmal von der „Vorstellung Christus“, die „alle Formen des Glaubens an Christus, die ihn auf Seiten Gottes stellen oder in absoluten Kategorien von

————— 72

Diesen Analogbefund teilt auch Tillich selbst in seiner 125. These. Zitiert werden die 128 Thesen nach MW/HW 6, 22–34 und nicht nach der Ausgabe der EW (EW VI, 31–46), weil der Text der erstgenannten Ausgabe einen umfangreicheren Apparat zu den verschiedenen Lesarten bietet und somit dem Leser einen differenzierteren Einblick in die nicht immer klare Überlieferung der Thesenreihe ermöglicht. Nach den Zitaten kommt die Stellenangabe in Form der Thesennummer nach einem „T“ in Klammern zu stehen. Somit ist es möglich, mit den beiden maßgeblichen Editionen der Thesen zu arbeiten. Die Stellen aus der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ werden wie gehabt ohne weitere Vermerke unter direkter Angabe des Paragraphen und der Seitenzahl zitiert.

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ihm reden“74 (T 3) in sich schließt, ausgegangen wird. Dabei stellt erstere den „historischen“, zweite den „dogmatischen Beweis“ (T 8) dar. Beide Verfahren werden nun zuerst im Rahmen einer ‚empirischen Kritik‘ (T 9– 80)75, dann in Form einer ‚systematischen Kritik‘ (T 81–128)76 angewandt. Der historische Beweis im Rahmen der empirischen Kritik (T 9–28) ist für Tillich mit den sich ihm zu seiner Zeit vor Augen tretenden wissenschaftlichen Methoden nicht zu führen:77 Weder die „Schulen unter Herrschaft des Immanenzprinzips“ (T 9), namentlich die literarkritische (vgl. T 10f) und die religionsgeschichtliche Schule (vgl. T 12f), noch die „supranaturalistischen Forscher“ (T 14; vgl. T 14–17) sind in der Lage evidente Ergebnisse zum historischen Jesus vorzulegen, da die beiden Erstgenannten aus den ihnen bekannten Quellen keine Gewissheit über den historischen Jesus ableiten können und Letztgenannte das Verfahren der historischen Kritik zwar nicht prinzipiell ablehnen, es aber „nur in geringem Maße und in keinem grundlegenden Punkte an[wenden]“ (T 15) und somit dem modernen historischen Bewusstsein nicht gerecht werden können. Grund für die Unzulänglichkeit der historischen Rekonstruktion sind einerseits die Fehlerquellen, die die „äußerlichen Daten“ (T 19) betreffen, nämlich zum Ersten die „psychologischen und physiologischen Beobachtungsfehler der ersten Berichterstatter“ (T 19) und zum Zweiten die „Unsicherheit des Schlusses von historischen Überresten auf die sie verursachenden Daten“ (T 19). Andererseits geht „der unvergleichlich größte Teil der Vergangenheit“ (T 20) unter und – der für Tillich eigentlich entscheidende Grund – „die Subjektivität bei der Beurteilung und der Schluß von der Wirkung auf die Ursache bei der Feststellung des kausal Wirksamen“ (T 20) ist der wichtigs————— 74

Bereits die Rede von den ‚absoluten Kategorien‘ weist an dieser Stelle auf die Frage nach der Prinzipialität des Christusprinzips hin. Der durch das ‚evangelische Jesusbild‘ umschriebene Gegensatz eines rein historisch verorteten Zugangs zum Glauben steht dem insofern diametral gegenüber, als zu fragen ist, welcher der beiden Pole – Prinzipialität oder Historizität – die entscheidende Prägekraft für den konkreten Zugang zum Paradox haben soll. Vgl. dazu auch die Erörterung weiter unten in diesem Abschnitt und Kap. 1.3.2.2 sowie 1.3.2.3. 75 Vgl. Gunther Wenz, Subjekt, 193: „Zunächst geht Tillich daran, die tatsächlich vorherrschende Ungewißheit über den historischen Jesus zu konstatieren, wie sie seiner Meinung nach in der theologischen Situation des Jahres 1911 – wenn auch nicht im Blick auf das Daß seiner Existenz, so doch auf das Was – empirisch gegeben ist.“ 76 Gunther Wenz, Subjekt, 198, charakterisiert diesen Teil sicherlich zu Recht als den „eigentlich systematischen Teil der Thesenreihe [...], in welchem Tillich die ‚prinzipielle Notwendigkeit‘ der Ungewißheit über den historischen Jesus nachzuweisen sucht (81), um damit – wie er bemerkt – der empirischen Kritik des ersten Teils ihre ‚Zufälligkeit‘ (81) zu nehmen.“ 77 Damit knüpft Tillich an die Kritik seines Lehrers Martin Kähler sowie an die Albert Schweitzers an der Leben-Jesu-Forschung an; vgl. Martin Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, Leipzig 1892, und Albert Schweitzer, Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 6. Aufl. (1. Aufl.: Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben Jesu Forschung, 1906) (= Ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 3, München o.J.).

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te Kritikpunkt an der Möglichkeit der Rekonstruktion einer historischen Persönlichkeit. Da sich nach Tillich in Sonderheit in Bezug auf die „Anschauung einer historischen Persönlichkeit“ (T 21) das „Gesetz der Wechselwirkung zwischen Angeschautem und Anschauendem“ (T 21) verwirklicht insofern, als das „Anschauungsbild [...] das unauflösbare Resultat dieser Wechselwirkung“ (T 21) ist, kann es im Zuge der historischen Anschauung nur zu einer Darstellung „des Vernünftigen im Zufälligen“ (T 24) kommen. Begründet ist der gesamte Zusammenhang „in der Tatsache der Individualität, welche nicht zuläßt, daß eine Individualität sich schlechterdings identisch mit der anderen setzt.“ (T 22) Das Zufällige in der historischen Anschauung ist zwar „unentbehrlich“ als „Mittel der Anschauung“ (T 26), aber immer nur „mittelbar Gegenstand der Anschauung“, denn: „das schlechthin Individuelle, jeder Allgemeingültigkeit Entbehrende kann nie Gegenstand der Anschauung werden“ (T 26). So kann Tillich zu dem Schluss kommen, dass es „wissenschaftliche[r] Tatbestand“ sei, „daß auf historischem Wege eine Gewißheit über den historischen Jesus nicht zu erreichen ist“ (T 28).78 Der dogmatische Beweis der empirischen Kritik (T 29–80) erweist sich nach Tillichs Analyse als ebenso ins Leere gehend wie der historische: Entweder wird, wenn man vom Christusbegriff ausgeht, von der Person oder vom Werk Christi aus der Beweis geführt. Der Schluss aus der Person Christi lässt sich insofern weiter differenzieren, als er „entweder aus dem Bild des historischen oder aus den Wirkungen des erhöhten Christus“ (T 35) erfolgt. Da der dogmatische Beweis aber in all seinen Formen „vom Wesen des Christus und seinen Wirkungen auf seine Wirklichkeit“ (T 29) schließt, muss er „die a priori mangelhafte Form eines Schlusses von der Wirkung auf die Ursache“ (T 35) haben.79 Typischer Vertreter des Schlusses von der Person Christi auf der Grundlage des historischen Christus ist für Tillich Wilhelm Herrmann,80 der „aus der Glauben schaffenden Kraft des evangelischen Jesusbildes auf seine wesentliche Realität schließt“ (T 37). Problematisch aus Tillichs Sicht ist an dieser Position v.a., dass „das religiös Wirksame [...] hier immer das evan————— 78

Zur Gefahr, in die Tillichs Darstellung zu geraten droht, vgl. Wenz, Subjekt, 194f. Andere Beweisformen, die nicht vom Christusbegriff ausgehen – genannt werden die „Autorität der Schrift“ und das „Walten des Heiligen Geistes“ (T 32) –, sind nach Tillich als „Cirkelschlüsse“ (T 31) abzulehnen. 80 Zu Recht betont Georg Neugebauer, frühe Christologie, 198–208, dass es gerade Wilhelm Herrmann sei, gegen den sich Tillichs Christologiekonzept richte. Nach Neugebauer lässt sich Tillichs Thesenreihe gerade „als Kritik an einem doppelten Geschichtsbegriff verstehen.“ (Ebd., 205) Dem ist zweifelsfrei zuzustimmen, wie sich auch später noch zeigen wird. Auch dass die Kritik Tillichs Herrmann nicht wirklich zu treffen vermag, sondern auf ein falsches Verständnis Herrmanns durch Tillich hinauslaufe, stellt Neugebauer fest (vgl. ebd., 207). 79

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gelische Jesusbild [bleibt], und zwar auch in der Fülle derjenigen Züge, wie Herrmann ausdrücklich bemerkt, die historisch zweifelhaft sind.“ (T 47; Hervorhebung S.D.) Daraus ergibt sich aber: „Nicht die menschliche Wirklichkeit, sondern die göttliche Wahrheit in den anschaulichen Formen eines konkreten Menschenlebens auf der Höhe der religiösen Menschheitsentwicklung ist das Wirksame des evangelischen Jesusbildes.“ (T 48) Weitere Erkenntnis kann der Herrmann’sche Schluss nicht zu Tage bringen – „so weit aber hat er sein Recht und seinen Wert.“ (T 48) Der Schluss aus der Wirkung des erhöhten Christus führt zum Standpunkt der Christusmystik.81 Dieser „führt insofern über den [...] ‚Schluß aus der Wirkung des evangelischen Jesusbildes‘ hinaus, weil er aus dessen Aporetik die radikale Konsequenz zieht und die ‚verloren gegangene historische Wirklichkeit ... durch eine übergeschichtlich-göttliche‘ (50) ersetzt.“82 Da es bei der Christusmystik um „das dialektische Verhältnis von Absolutem und Individuellem, abstraktem Gottesbegriff und konkreter Gottesanschauung“ (T 51) geht, ergibt sich, „daß es sich hier nirgends um historische Probleme, sondern allein um innerlich-religiöse Notwendigkeiten handelt“ (T 58).83 Der Fokus der Christusmystik liegt vielmehr darauf, „die Identität des Erhöhten mit dem Subjekt der evangelischen Geschichte bis in die individuellsten Züge“ (T 61) auszusagen, so dass daraus folgt: „Die gereinigte Christusmystik, welche sich ebenso frei von einem nur abstrakten Gott, wie einem nur individuellen Christus zu halten hat, läßt also keinen gewissen Schluß auf den historischen Jesus zu“ (T 65). Dies trifft insofern zu, als eben „das dialektische Verhältnis von Abstraktion und Konkretion in der Gottesanschauung“ (T 60) nur dann „eine historische Realität“ verlangt, „wenn ein abstrakter Gottesbegriff vorausgesetzt ist.“ (T 63) Das In- und Miteinander von Abstraktheit und Konkretheit innerhalb Gottes selbst lässt den Versuch, Gottes konkretes Moment in der Historisierbarkeit Jesu von Nazareth zu fixieren – so wie es die Christusmystik vornimmt –, aus Tillichs Perspektive mithin zu einem unstatthaften, das Paradox als solches sprengenden Unterfangen depravieren, so dass der Frage nach der Historizität Jesu kein konstitutives Element für die Konkretheit Gottes zukommt. Bei der letzten Spielart des dogmatischen Beweises, dem Schluss aus dem Werk Christi, handelt es sich nicht um „die Wirkung des Werkes Christi auf die Menschen“, sondern „auf Gott.“ (T 67) Aufgrund der Absolutheit Gottes ist sie zu fassen als eine ————— 81

Hierbei dürfte Tillich nach Gunther Wenz, Subjekt, 196 „nicht zuletzt die Position Kählers im Auge haben.“ 82 Ebd., 197. 83 Insofern entspricht der Befund dem bisher als Prinzip in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ und somit der gesamten frühesten Theologie Tillichs herausgearbeiteten Systemdenken Tillichs.

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„Wirkung Gottes durch Christus auf sich selbst, d. h. als Selbstbestimmung Gottes.“ (T 68) Definitorisch handelt es sich bei dem Werk Christi um die Versöhnungstat Gottes, „durch welche er die Sünden vergibt, d. h. um die Einigung des Zornes mit der Liebe“ (T 69).84 Jedoch ist diese Tat nicht auf die „äußere Geschichte“ (T 73) zu beziehen, sondern „der Rechtfertigungswille Gottes“ ist mithin „überzeitlich“ zu denken (T 73), da er sich darin realisiert, dass „er die bis zur sündlichen Selbstbehauptung sich steigernden Individuen setzt, d. h. den Widerspruch in sich selbst realisiert, und durch Selbstopferung in den Individuen überwindet“ (T 76). Mit Gunther Wenz ist hier zu konstatieren: „Das Attribut ‚überzeitlich‘ meint dabei nicht, daß sich der göttliche Akt anderweitig realisiert als im zeitlichen Akt der Selbstverneinung des individuellen Sünders (75), hebt aber auf dessen nie zu unmittelbarer Identität depravierendes, logisches und dynamisches Vorausgesetztsein ab, oder anders gesagt: auf das Vermitteltsein des zeitlichen Aktes der Negation der solipsistischen Negativität.“85 – Anschaubar wird dieser Sachverhalt im Kreuz Christi, jedoch wohlgemerkt in transhistori————— 84

Das Werk Christi drückt somit konsequenterweise konkret nichts anderes aus, als was abstrakt in reiner Absolutheit konzipiert die in gerechter Gnade erfolgte Rechtfertigung des Menschen durch Gott – und dadurch die hier angesprochene Einigung des göttlichen Zorns mit Gottes Liebe – vorstellig macht. 85 Wenz, Subjekt, 198. Als Anfrage an die für die Explikation des Gedankengangs bei Tillich zutreffende Darstellung bleibt jedoch, ob die von ihm genannte „Selbstverneinung des individuellen Sünders“ tatsächlich als Selbstverneinung verstanden werden muss bzw. überhaupt darf, d.h. ob die Verneinung als von Gott her statthabende nicht vielmehr ein das Selbst treffender, von ihm aber nicht in Selbstheit übernehmbarer, sondern allenfalls im paradoxen Geschehen von gleichzeitiger Negation und Affirmation annehmbarer Akt zu begreifen ist, so dass dem, was Wenz als „Negation der solipsistischen Negativität“ bezeichnet, eher das Attribut der Selbstüberwindung – die jedoch gleichfalls als eine nur vermittelte zu verstehen ist – denn das der tatsächlichen Selbstnegation zuzusprechen ist. Dass dies von Gunther Wenz auch so erfasst ist und von Tillich so verstanden sein will, steht außer Zweifel. Die Frage ist, ob hier von Wenz nicht schon implizit die unvermittelte Unmittelbarkeit des Selbst, zu der seiner Ansicht nach das Tillich’sche System neigt, veranschlagt wird, um auch die Negation individueller Selbstheit als der Autonomie des Einzelselbst zuschreibbar zu konzipieren. Zu demselben Urteil über die Tillichinterpretation bei Gunther Wenz, einerseits die Theologie Tillichs in prinzipieller Hinsicht genau zu analysieren, andererseits das Vermitteltsein der Unmittelbarkeit als bei Tillich nur postuliert, aber faktisch nicht vorhanden zu konstatieren, gelangt generell auch Christian Danz; vgl. unter anderem Danz, Freiheitsbewußtsein, 6: „Die von Gunther Wenz 1979 vorgelegte Untersuchung Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs stellt die bisher gründlichste und umfassendste systematische Rekonstruktion der Theologie Tillichs dar. Auch Wenz sieht in dem Problem der Konstitution der individuellen Subjektivität ein bestimmendes Motiv von Tillichs Denken […] Allerdings kommt Wenz in seiner Untersuchung zu dem Urteil, daß Tillich die Lösung dieses Grundproblems nicht gelungen sei. In Tillichs Durchführung seiner Theologie komme es vielmehr zu einem Selbstwiderspruch, da sie die vermittelte Subjektivität in eine unmittelbare überführe.“ (Zweite Hervorhebung S.D.) Eine Detailauseinandersetzung mit der Wenz’schen Interpretation sowie mit der ihm folgenden Fraktion der Tillichinterpreten soll jedoch erst im Anschluss an die Erörterung über den historischen Jesus bzw. die gesamte Christologie bei Tillich erfolgen.

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scher Form, so dass „der religiös vertiefte Stellvertretungsgedanke“ einen „Schluß auf den historischen Jesus [...] in keiner Richtung hin“ (T 78) zulässt. Der von der Vorstellung Jesus ausgehende Teil86 der systematischen Kritik (T 81–101) kommt, um von der „Zufälligkeit“ (T 81) der empirischen Kritik zur „prinzipiellen Notwendigkeit“ (T 81) zu gelangen, um eine „Aufstellung des erkenntnistheoretischen Prinzips“ (T 82) nicht umhin. Wie auch in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ (vgl. A §1) lässt sich dieses postulierte Prinzip nur „aus dem Wahrheitsgedanken selbst“ (T 83) gewinnen. Für den Erkenntnisakt folgt aus dieser Setzung zwangsläufig die „Identität von Subjekt und Objekt“ (T 84) im Akt des Erkennens selbst.87 Also kann nur Gegenstand des Erkennens für das Einzelne werden, was „in die Synthesis des Bewußtseins aufgenommen ist“, d.h. was „die Gewißheit des Satzes Ich bin Ich hat.“ (T 88) Nur in Identität mit dem „Wesen“ (T 90) ist das Einzelne erkennbar – nicht als aus der Identität mit dem Wesen herausgetretenes. Für die Geschichte bedeutet dies, dass es nur „der in den einzelnen Fakten realisierte geistige Gehalt“ (T 91) ist, durch welchen ein Stehen der Einzeldinge und -vorgänge in der Identität des Wesens allererst statthaben kann und durch welchen ihnen überhaupt die Möglichkeit anwest, Gewissheit hervorbringen zu können. Aus dieser epistemologischen Grundlegung ergeben sich für Tillich drei Möglichkeiten des Verhältnisses zur Geschichte, die alle von ihrer Stellung zum Wesen und dessen Widerspruch abgeleitet sind: Die rationalistische Haltung betont das Wesen so stark, dass es zu einer „völlige[n] Negation des Individuellen in der Geschichte“ (T 93) kommt – eine, wie Tillich formuliert, „letztlich sich aufhebende Stellung.“ (T 93) Die historische Position88 hingegen setzt den Fokus ————— 86

Von Tillich in der Überschrift zu diesem Abschnitt als „Die erkenntnistheoretische These“ (MW/HW 6, 29) bezeichnet. 87 Damit ist der Wahrheitsgedanke mit Wenz, Subjekt, 199 Anm. 11, und Neugebauer, frühe Christologie, 209f, in Fichte’scher Tradition zu verstehen. Wahrheitsbejahung und Selbstsetzung stehen daher in einem unhintergehbaren Zusammenhang, so dass – wie Neugebauer, frühe Christologie, 209 Anm. 288, es vornimmt – die Annahme von Anton Bernet-Strahm abzulehnen ist, nämlich dass es sich um eine willkürliche Entscheidung für oder gegen die Wahrheit handle (vgl. Bernet-Strahm, Die Vermittlung des Christlichen. Eine theologiegeschichtliche Untersuchung zu Paul Tillichs Anfängen des Theologisierens und seiner christologischen Auseinandersetzung mit den philosophischen Einsichten des Deutschen Idealismus. Mit Erstpublikationen dreier früher Werke des jungen Paul Tillich, Bern/Frankfurt a.M. 1982, 145). 88 Tillich bezeichnet sie auch als „Historismus“ (T 95). Nach Folkart Wittekind dürfte Tillich bei dieser Geschichtsauffassung an Ernst Troeltsch gedacht haben; vgl. Wittekind, ‚Sinndeutung der Geschichte‘. Zur Entwicklung und Bedeutung von Tillichs Geschichtsphilosophie, in: Christian Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs (Tillich-Studien, Bd. 9), Wien 2004, 135–172, hier: 140.

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ausschließlich auf das Individuelle, so dass es zu einer völligen „Ablehnung des Allgemeinen“ (T 95) kommt – „eine ebenfalls sich aufhebende Stellung“ (T 95), weil hier das Wahrheitsprinzip als solches nicht mehr den Ausgangspunkt des Prozedierens bildet.89 Einzig die Geschichtsphilosophie begreift die Geschichte „als fortlaufenden Kampf des Wesens mit dem Widerspruch“90 (T 97) und wird der Dialektik von Allgemeinem und Individuellem im Geschichtsverlauf mit der Bildung „geschichtsphilosophische[r] Kategorien“ (T 97) gerecht, welche eben aufgrund ihrer Historizität schlechterdings konkret und damit als „unter ganz individuellen Umständen realisiert“ (T 98) zu verstehen sind. Die daraus folgende zweite Aufgabe der geschichtsphilosophischen Arbeit, die „historische Lokalisation“ (T 98), kann allerdings niemals zu echter Gewissheit führen;91 ihr kommt somit nur die unterstützende Funktion zu, die geschichtsphilosophische Kategorienbildung mit „Wahrscheinlichkeitssätzen“ (T 101) zu stärken: „Historische Kategorien können ihre Wahrheit behalten, auch wenn ihre ursprüngliche Lokalisierung sich als falsch erweist.“ (T 100) Von der epistemologischen Basis aus führt Tillich die „dogmatische These“92 (T 102–128), den zweiten Teil der systematischen Kritik, an. Demnach kann das Prinzip der Gewissheit nur die „Identität des Selbstbewußtseins“ (T 102), also die Autonomie, sein. Diese Haltung impliziert notwendig die vollständige Ablehnung jedweder Formen von Heteronomie, wie sie auch „bestimmte Orte der Geistesgeschichte, etwa Papst, Bibel, historischer Jesus“93 (T 104) als potentielle Quelle für Wahrheitsaneignung ————— 89

Dass Tillich auch an dieser Stelle dem Rationalismus deutlich stärker zugeneigt ist als dem historischen Standpunkt, wie dies ebenso auch schon im Rahmen der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ v.a. in der Frage nach der Methodik (Induktion oder Deduktion) der Fall war, ist unübersehbar. 90 De facto formuliert Tillich hier bereits sein Verständnis einer Geschichtsphilosophie, wie er es auch zwei Jahre später in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ vertreten wird: Der Kampf zwischen dem Wesen und dem Widerspruch findet seine Entsprechung in den diametralen Spannungspolen von Absolutheit und Konkretheit, die sich geschichtsphilosophisch in dem – auch in dem System von 1913 so bezeichneten (vgl. D §8; 347) – perennierenden ‚Kampf‘ von Offenbarungs- und Menschheitsgeschichte niederschlägt. 91 „Gewißheit ergibt allein die historische Kategorienbildung, die Lokalisierung ist abhängig von der Unsicherheit der historischen Forschung“ (T 100). Hier wird das später ausführlich zu behandelnde Thema schon aktuell, wie nach Tillichs Vorstellung die historische Kategorienbildung als wesensmäßig historische ohne die Lokalisierung in der Geschichte ihre Gewissheit als genuin historische beanspruchen will. Mit anderen Worten: Wie kann und soll eine historisch veranschlagte Kategorie wirksam sein, wenn sie ihrer Historizität beraubt wird? 92 Abschnittüberschrift; MW/HW 6, 31. 93 Die anachrone Reihung der ‚Heteronomiequellen‘ durch Tillich ist insofern bezeichnend, als er die Konsequenz der Anerkennung des historischen Jesus als Quelle für die Glaubensgewissheit an die Spitze stellt. Die direkte Linie von der Akzeptanz des historischen Jesus hin zum Papst betont Tillich auch nochmals in T 117, nach der „die Aufrichtung des Glaubens an den historischen Jesus

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repräsentieren. Die allein auf das Individuum bezogene Autonomie ist aber noch nicht tatsächliche, da immer noch naturhafte und somit im Widerspruch zum Identitätsprinzip stehende (vgl. T 106). ‚Echte‘ Autonomie lässt sich deshalb nur aus der „faktische[n] Autorität“ (T 105) gewinnen, d.h. in Gemeinschaft und Geschichte muss sich die „selbstisch gewordene Individualität durch Synthesis zur Identität“ (T 105) zurückführen lassen. Wenn Tillich in diesem Zusammenhang Autonomie im wahren Sinne des Wortes als „das Gleichgewicht von Autonomie und Gemeinschaft“ bezeichnet, so erhellt vollends, dass – wie eben angedeutet – ein ausschließlich auf das autonome Selbst zurückgeführter Autonomiebegriff dem Aussagegehalt des Tillich’schen Autonomieverständnisses nicht gerecht wird.94 Vielmehr ist die Autonomie in den Thesen von 1911 so umschrieben und gefasst, wie es die später, erstmals in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ auftauchenden Begriffe der ‚Theonomie‘, die auch im späten Denken Tillichs noch von herausragender Bedeutung in systemkonzeptioneller Sicht bleibt, und der ‚Christonomie‘ vorstellig machen.95 Autonomie depraviert deshalb nicht zur solipsistischen Vereinzelung des Selbst in seiner nur selbstbezüglichen Selbstkonstituierung, sondern ist nie anders zu haben als in der Rückbezüglichkeit autonomer Selbstheit auf die transzendentalen Möglichkeitsbedingungen der Existenz von Selbstheit überhaupt. Diese so gefasste Autonomie muss Tillich zufolge sowohl Material- als auch Formalprinzip darstellen, da ein zweifaches Prinzip „der Identität und damit der Autonomie widersprechen würde“ (T 109).96 Der Autonomie als Materialprinzip ————— mit unvermeidlicher Konsequenz zum Papst zurückführt.“ – Kritisch bleibt hier Tillich gegenüber anzumerken, dass die Forschung um den historischen Jesus ja gerade in ihren Anfängen ein protestantisches Phänomen ist, womit das Papsttum als ‚Gefahrenquelle‘ – nicht allerdings der Biblizismus! – automatisch ausscheidet. 94 Diese Intention Tillichs unterstreicht auch Wenz, Subjekt, 201: „[A]ber ebenso ausdrücklich betont Tillich die Notwendigkeit von ‚faktische(r) Autorität, d.h. (die Notwendigkeit von) Gemeinschaft und … Geschichte‘ (105) zur Konstitution wahrhafter Autonomie. Ohne diese faktische Autorität von Gemeinschaft und Geschichte depraviere Autonomie zu selbstischem Individualismus.“ 95 Der Begriff der Theonomie tritt gegen die Angabe von John Clayton in seiner Einführung zum zweiten Band der Main Works Tillichs (vgl. Clayton, Einführung in Paul Tillichs Schriften zur Religionsphilosophie, in: Paul Tillich, Main Works/Hauptwerke, hg. von Carl Heinz Ratschow, Vol./Bd. 2: Writings in Philosophy of Religion/Religionsphilosophische Schriften, hg. von John Clayton, Berlin/New York 1987, 29–51, hier: 49; vgl. auch Clayton, Art. Tillich, Paul, in: TRE 33, 2002, 553–565, hier: 556) bereits in der Systematik von 1913 auf, wo die Theonomie als richtig verstandene Autonomie und die Christonomie als richtig verstandene Heteronomie expliziert werden; vgl. E §8; 393f. Vgl. zu Claytons Irrtum auch Neugebauer, frühe Christologie, 255 Anm. 459. 96 Hier zeigt sich wiederum in besonders deutlicher Weise der Ausgang der gesamten Systematik Tillichs von einem Einzelprinzip, dem Wahrheitsgedanken, wie er sich auch in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ findet.

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eignet nun, „das Verhältnis von absolutem und individuellem Geist“ zu bestimmen als „ein Verhältnis der Identität, sofern und soweit die Aktualität des Individuums eine Aktualität Gottes im Individuum ist“ (T 110). Eine geschichtliche Offenbarungsquelle ist von der Autonomie somit abzulehnen, weil ansonsten „ein doppelter Glaube“ entsteht und „der autonome wird abhängig vom heteronomen, statt daß die Offenbarung Gottes nur insoweit für den Glauben Bedeutung gewinnt, als sie den Gläubigen mit Gott direkt in Gemeinschaft bringt.“ (T 113) Deswegen kommt Tillich zu dem Schluss: „Der Satz von der notwendigen Ungewißheit über den historischen Jesus ist die letzte Konsequenz der Rechtfertigungslehre, insofern er von dem Gesetz des doppelten Glaubens, des an den historischen Jesus und des an den in Christus angeschauten Gott, befreit.“ (T 116) Nach Tillich würde also ein doppeltes Ausgangsprinzip – die Autonomie des Selbst und die Heteronomie in Form des historischen Jesus – eine doppelte Form des Glaubens zeitigen, weshalb er die eine ‚Glaubensquelle‘, den historischen Jesus, nicht nur für unnötig erklärt,97 sondern ihn sogar für notwendig unnötig halten muss, um am Identitätsprinzip und dessen Glaubensgewissheit verleihender Konsequenz festhalten zu können.98 Jedoch, so wird man hinzufügen müssen, bedeutet die Verabschiedung des historischen Jesus, ja die notwendige Ungewissheit über ihn, nicht eine Streichung des Christus Jesus aus dem Kontext dogmatischer Erörterung. Im Gegenteil ist und bleibt Jesus Christus konstitutiver Bestandteil dogmatischer Überlegung, ja Materialdogmatik ist schlechterdings nicht denkbar ohne den Christus Jesus, auch und gerade in seiner historischen Gestalt. Die Ausscheidung des historischen Jesus von Nazareth meint mithin nicht eine Negation historisch sich vollziehender göttlicher Offenbarung – dies ist ob der notwendigen Konkretheit der Offenbarung, die ja in Form des Paradoxes das Eingehen des Absoluten in das Konkrete ist, schlechterdings ausgeschlossen; vielmehr geht es Tillich um die in der Schlussthese konstatierte Befreiung der „Dogmatik von der Ungewißheit heteronomer, physischer Kategorien“ und ihrer ————— 97

Dies ergibt sich für Tillich schon aus den dem Zufälligen verhafteten Ergebnissen der historischen Forschung. 98 Die Ablehnung des historischen Jesus steht bei Tillich auch in enger Verbindung mit seiner – ein mit aller Vorsicht zu nennender Begriff – so genannten ‚Theismuskritik‘, wie sie sich bereits hier und in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ abzeichnet, aber auch noch deutlich in seinen späteren Werken zu erkennen ist. Anzuführen wäre hier etwa ‚Der Mut zum Sein‘ (in: GW XI, 13–139), wo mit dem Schlagwort ‚Gott über Gott‘, der hinter allem – in seiner Form notwendigen – Theismus hervorleuchtet, die Absolutheit Gottes, die sich nicht in relativen Kategorien einfangen lässt, betont wird. In Bezug auf den historischen Jesus müsste demnach in Anlehnung an die Begrifflichkeit des späteren Tillich vom ‚Christus über Christus‘ gesprochen werden, der gewissermaßen hinter dem historisch unrelevanten Jesus von Nazareth zu stehen käme – ohne jedoch die Notwendigkeit des irdischen Jesus zu negieren.

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Gründung „auf die Selbstgewißheit des autonomen, weil geschichtlichen Geistes.“ (T 128) Indem Tillich hier zum wiederholten Male den autonomen Geist als einen auf Geschichte bezogenen definiert, bleibt auch das Ursprungsanliegen, nämlich die Bedeutsamkeit und Bedeutung der historischen Kategorien für das autonome – bzw. wie festgestellt dadurch theonome – Selbst zu konstatieren, bestehen. Ausschließlich ausgeschieden wird die von Tillich so bezeichnete ‚historische Lokalisation‘, die die historischen Kategorien mit einem bestimmten Geschichtsdatum verbindet, da nur so die Gewissheit über die im theonomen Selbst erfassbare Wahrheit in der historischen Kategorienbildung erhalten bleiben kann.99 Nach der Skizzierung des Tillich’schen Gedankenganges in den 128 Thesen soll nun vor der weiteren Betrachtung der frühen Christologie Tillichs eine Kritik der von Tillich aufgestellten Thesen erfolgen. Maßgeblich hierfür ist nach wie vor die Kritik von Gunther Wenz100, die im Folgenden kurz skizziert wird: Bereits bei dem historischen Beweis der empirischen Kritik findet sich der in der erkenntnistheoretischen These der systematischen Kritik dann explizierte Grundsatz, dass echte Erkenntnis nur im Rahmen des Identitätsprinzips möglich sei, d.h. dass eben nur gewusst werden kann, „was die Gewißheit des Satzes Ich bin Ich hat“ (T 88). Das schlechthin Singuläre, Individuelle im Geschichtsprozess ist demgemäß dem einzelnen, von ihm unterschiedenen Subjekt nicht zugänglich, weil ansonsten eine Identitätssetzung zweier nicht identischer Individualitäten statthaben müsste: „Das Singuläre [...] verbietet eben aufgrund seiner Einzigkeit und Besonderheit wesensmäßig seine Beschreibung durch begriffliche Merkmale – individuum est ineffabile!“101 Ist dieser Summe der Tillich’schen Darstellung in diesem Abschnitt jedoch zuzustimmen, so wird das Individuelle eben ob seiner absoluten Individualität, also seiner „unmittelbare[n] Differenzhaftigkeit und Irrationalität“102, letztendlich „das schlechthinnige Nichts“103. Dieser Standpunkt führe aber in letzter Konse————— 99

Natürlich kann und muss an dieser Stelle gefragt werden, wie die Historizität einer als historisch deklarierten Wahrheit erhalten bleiben soll, wenn ihr ihre historische Bestimmtheit genommen wird. Diese Frage bleibt auch weiterhin für die spätere Erörterung aufgehoben; vgl. Kap. 1.3.2.3. 100 Vgl. v.a. Wenz, Subjekt, 199–207, und Wenz, Theologie ohne Jesus?, passim. Ähnlich kritisch wie Wenz in Bezug auf die Thematik des historischen Jesus bei Tillich äußern sich John Clayton, Is Jesus Necessary for Christology?: An Antinomy in Tillich’s Theological Method, in: Stephen W. Sykes/John Clayton (ed.), Christ, Faith and History, Oxford 1972, 147–163, und Ulrich H. J. Körtner, Historischer Jesus – geschichtlicher Christus. Zum Ansatz einer rezeptions-ästhetischen Christologie, in: Klaas Huizing/Ulrich H. J. Körtner/Peter Müller, Lesen und Leben. drei Essays zur Grundlegung einer Lesetheologie, Bielefeld 1997, 99–135. 101 Wenz, Subjekt, 194. 102 Ebd., 195. 103 Ebd.

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quenz zu einer „‚Allmacht der Analogie‘“104, durch die die Geschichtswissenschaft, mithin die Wissenschaft überhaupt, ihres Gegenstandes verlustig ginge, da „das Individuelle als das Unwirkliche zu verabschieden“105 wäre und es dann zu einer „Präponderanz, ja Exklusivität des Typischen und Allgemeinen in der gesamten Wissenschaft“106 käme. Gunther Wenz postuliert deswegen an dieser Stelle, die Differenzhaftigkeit des Individuellen und das Allgemeine „in ihrer Bezogenheit“107 aufeinander zu verstehen, weil „einzig der perennierende Dialog [...] die Unaussprechlichkeit des Singulären ernst“108 nehme. Der eben vorgenommene Befund repliziert sich gewissermaßen in abgewandelter Form in der erkenntnistheoretischen These und zwar dergestalt, dass der mit dem Identitätsprinzip gegebene Erkenntnisvorgang zwar richtigerweise die „Identität von Subjekt und Objekt im Erkenntnisakt“ (T 84) vollziehen will, jedoch in der Gefahr steht, sich im Zuge der Erkenntnisbewegung durch die Annahme der Identität von Subjekt und Objekt des Erkennens im bereits vollzogenen Akt der Welteinverleibung zu erschöpfen und somit die Wirklichkeit der Natur als bereits vor dem Erkenntnisakt erkannte zu setzen – „esse est percipi“109. Würde der Erkenntnisakt aber demzufolge nicht einen dynamischen Prozess der Wechselwirkung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem zu erkennenden Objekt darstellen, sondern den Akt als bereits vollzogen in Anschauung bringen, so erstarrt der eigentlich prozessual ablaufende Erkenntnisvorgang schlechterdings zu Intransigenz. Gunther Wenz weist darauf hin, dass das Primat des Erkanntseins vor dem eigentlichen Erkennen „unter den Bedingungen der Endlichkeit als ideologisch zu charakterisieren ist“110 und für das erkennende Subjekt die Folge zeitigt, dass es sich „in abstrakter Autonomie“111 verliert. Die gleiche Aporetik findet sich in potenzierter Form für die Geschichtserkenntnis, wenn es nur der „geistige Gehalt“ (T 91) ist, der ein in Identitätstehen des Individuums mit der Geschichte ermöglicht und somit unter Absehung des Singulären zum Stehen kommt, weil die Erkenntnis dem zu Erkennenden vorangeht und somit eigentliches Erkennen nicht

————— 104

Ebd. Ebd. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Ebd. 109 So die resümierende, sich an das Dictum George Berkeleys anschließende Darstellung der Gefahr des Tillich’schen Denkens an dieser Stelle bei Wenz, Subjekt, 200. 110 Ebd. 111 Ebd. 105

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mehr statthaben kann.112 Aber Tillich strebt nicht nach dieser abstrakten Form der Autonomie, in die sein Denken zu verfallen jedoch gefährdet ist,113 sondern – wie T 105 deutlich macht – nach einer „faktische[n] Autorität“ (T 105), wodurch Autonomie erst durch Gemeinschaft und Geschichte konstituiert wird. Das Hauptproblem der Tillich’schen Haltung in der Thesenreihe ‚Die christliche Gewißheit und der historische Jesus‘ wurde nun bereits angerissen; besonders deutlich tritt es jedoch in T 100 hervor: „Gewißheit ergibt allein die historische Kategorienbildung, die Lokalisierung ist abhängig von der Unsicherheit der historischen Forschung. Historische Kategorien können ihre Wahrheit behalten, auch wenn ihre ursprüngliche Lokalisierung sich als falsch erweist.“ Hiermit ist nämlich ausgesagt, dass der Wahrheitsgehalt des Christentums nicht abhängig ist von etwaiger historischer Verortung, sondern auch ohne diese – oder präziser und richtiger gesagt: ohne die bestenfalls der Wahrscheinlichkeit nahekommenden Aussagen, die die historische Forschung hervorzubringen vermag – in ihrer Gesamtheit und Geltungsfülle erfassbar ist. Der historische Jesus und die sich mit ihm befassende historische Wissenschaft schafft mithin keine vollkommene, ja nicht einmal approximative Gewissheit für das glaubende Subjekt, sondern hat als Stütze des christlichen Wahrheitsgehaltes höchstens „akzidentelle[.] Bedeutung“114. Gewissheit über den Wahrheitscharakter des Christentums kann somit allein die „Verfassung der christlichen Gemeinschaft“115 gewähren. Demzufolge öffnet sich die Differenz zwischen „einem Christusprinzip und der historischen Person Jesu“116, woraus vermittelt über das letztliche Primat des Prinzips über seine eigene historische Verortung, ja Fundierung nach Wenz „[d]ie Gewißheit der abstrakten Kategorienbildung […] zur Stagnation des Wissensvollzuges [depraviert]“ und in Bezug auf das Einzelselbst eine „unmittelbare, statische Identität“117 zur Folge zeitigt118 – was ————— 112 Von Bedeutung für die ‚Systematische Theologie von 1913‘ ist dieser Befund, da auch hier im Rahmen des absoluten Standpunkts – also in einem deutlich als nicht real existent charakterisierten Zustand – das Stehen am ‚Ende‘ der Naturentwicklung bzw. der Geschichte Grundvoraussetzung für die Einnahme eben des absoluten Standpunkts ist. 113 Auf die sich häufenden Versuche Tillichs, eine Kristallinität zugunsten eines dynamischen Prozesses in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ zu vermeiden, ist wiederholt verwiesen worden. 114 Wenz, Subjekt, 202. 115 Ebd., 202f. Gunther Wenz erwähnt auch die durchaus nicht ‚unprominente‘ Reihe von Theologen, die denselben Ansatzpunkt für den Wahrheitsgehalt des Christentums wählen: Melanchthon, Schleiermacher, Kähler und Bultmann (vgl. ebd., 203). 116 Ebd., 203. 117 Ebd. 118 Georg Neugebauer betont zu Recht, dass Tillich Kategoriebildung und historische Lokalisation dezidiert im Erkenntnisakt verstanden wissen will (vgl. Neugebauer, frühe Christologie, 210).

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beides aber, so betont Gunther Wenz mehrfach, nicht die Absicht Tillichs ist, jedoch aus seiner Konzeption konsequenterweise entgegen Tillichs eigenem Anliegen abgeleitet sei. Die weiteren Konsequenzen – in Sonderheit für die Glaubensgewissheit –, die mit der von Wenz skizzierten Problematik untrennbar verbunden sind, sowie die Interpretation Tillichs durch Gunther Wenz sollen jedoch erst im Anschluss an die komplette Analyse und Darstellung der christologischen Aussagen Tillichs diskutiert werden, weil allererst der Komplettbestand der Tillich’schen Aussagen zum Thema betrachtet werden muss, um sinnvoll in die abschließende Fragestellung um das Christologiekonzept Tillichs eintreten zu können. Bereits an dieser Stelle sei jedoch schon die grundlegende Fragestellung angesprochen, die auch die weitere Auseinandersetzung mit Tillich und seinen Interpreten prägen wird. Fraglich ist und ————— Tillich gehe es mithin um „die Synthese von einzelnen Formen und geistigem Gehalt“, wobei nur letzterer für die Wahrheitsfrage des Historischen entscheidend sei (vgl. ebd., 211). Die Form trete in den Rahmen des Relevanten erst in seiner geistigen Erfassung. Diese Gedankenfigur ist sicherlich für Tillichs Ausführungen zutreffend; allerdings scheint es bedenklich, wenn Neugebauer meint, die Kritik von Wenz damit abwehren zu können, dass er dessen eigene theologische Position für seine Kritik verantwortlich macht: Wenz lehne die Zentralstellung des Identitätsprinzips Tillichs ab, weshalb er Tillichs Konzept nicht akzeptieren könne, weil er eine Verabschiedung göttlicher Offenbarung per se befürchte (vgl. ebd., 210 Anm. 289). Mit dieser Argumentation wird Neugebauer der Kritik von Wenz an Tillich jedoch nicht gerecht (vgl. dazu auch die Verteidigung des Tillich’schen Identitätsprinzips durch Wenz gegenüber Oswald Bayer [Wenz, Tillichs letztes Blatt: Über Kant, Hamann und Oswald Bayers Kritik an der Tillichschen Ontotheologie, in: Gert Hummel/Doris Lax (Hg.), Being Versus Word in Paul Tillich’s Theology?/Sein versus Wort in Paul Tillichs Theologie? Proceedings of the VII. International Paul-Tillich-Symposium held in Frankfurt/Main 1998/Beiträge des VII. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt/Main 1998 (TBT 101), Berlin/New York 1999, 49–72]). Zwar ist die Tragweite der Wenz’schen Kritik zu überdenken, ihr Aufweis von aporetischen Tendenzen in Tillichs Gedankenbildung darf allerdings nicht unbedacht verabschiedet werden. Dabei gerät Neugebauer nämlich in dieselbe Gefahr, der anheim zu fallen er Wenz vorwirft: Durch die eigene theologische Positionierung, die der Tillichs in seinem identitätsphilosophischen Ansatz zuneigt, übergeht Neugebauer just den neuralgischen Punkt der Wenz’schen Kritik. Zwar bemerkt Neugebauer selbst, dass Tillich „sogar soweit zu behaupten“ gehe (Neugebauer, frühe Christologie, 214), dass die historische Kategoriebildung ihren Wahrheitsgehalt behalten könne auch im dem Falle, dass die historische Kategoriebildung falsifiziert werde (vgl. T 100). Neugebauer kommt deshalb zu der These, dass bei Tillich „Gewissheit […] nur das Allgemeine, nicht aber das kontingente geschichtliche Datum“ habe (Neugebauer, frühe Christologie, 214). Damit unterläuft Neugebauer aber die Prämisse, die er selbst für Tillich feststellt, nämlich dass nur in der Synthese von allgemeinem Geist und einzelner Form Historisches historisch sei (vgl. ebd., 211) – dies bleibt auch dann unbeschadet, wenn das Faktum erst in seiner geistigen, d.h. allgemeinen, Erfassung Bedeutung zu gewinnen vermag. Es gänzlich auszuscheiden, wie Neugebauer es tut, kommt letztlich dem gleich, was Wenz Tillich vorwirft, nämlich einer „Leugung des Kontingenten in der Geschichte“ (Wenz, Subjekt, 200). Dass dies nun wiederum für Tillich nicht einfach in Anschlag gebracht werden kann – darin ist Neugebauer uneingeschränkt zuzustimmen –, wird in Kap. 1.3.2.3 näher zu betrachten sein. Einfach zu verabschieden ist die Kritik von Wenz und mithin die gesamte Problematik jedoch nicht. Darin greift Neugebauers Darstellung zu kurz.

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bleibt nämlich, ob der Ansatz Tillichs im Rahmen des Wenz’schen Argumentationsduktus interpretiert werden kann oder muss;119 d.h. es gilt zu eru————— 119

An dieser Frage lässt sich wohl die gesamte Tillichforschung für die meisten strittigen Punkte festmachen. Paradigmatisch werden an entsprechender Stelle v.a. die Positionen von Gunther Wenz und Christian Danz behandelt werden. Diese beiden wohl profiliertesten und gründlichsten Tillichinterpreten erzielen im Hinblick auf die Analyse des Tillich’schen Prinzips zwar ähnliche Grundergebnisse, unterscheiden sich jedoch fundamental in der Frage nach der Statthaftigkeit, wie die theologischen Gedanken bei Tillich durchgeführt werden. Vergleichend seien an dieser Stelle deshalb kurz die monographischen Tillich-Interpretationen von Gunther Wenz und Christian Danz skizziert: Die Arbeit von Gunther Wenz mit dem Titel ‚Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs‘ wurde im Jahr 1979 veröffentlicht. Die Grundthese von Wenz ist, dass Tillich versuche über Schelling hinauszugehen und die Selbstkonstitution des Selbst als in ihrer Unmittelbarkeit vermittelte aufzuzeigen. Gerade Letzteres sei zwar, so Wenz, nach Tillich Schellings Anliegen gewesen, diesem aber nicht überzeugend gelungen, da er noch zu sehr aus einem idealistischen Gedankenkreis heraus argumentiere. Dies zeichnet Wenz anhand der Dissertationen Tillichs zu Schelling nach. Doch auch Tillich scheitert Wenz zufolge an der Aufgabe, die Tillich selbst bei Schelling misslungen sieht: Letztlich werde bei Tillich – wie eben schon im Text angesprochen – die certitudo fidei in ihre selbstbezügliche Fassung einer securitas überführt. Tillich gelange also nur zu einer solipsistischen Form des Glaubens, die just der Kritik erliegen müsse, die Tillich selbst an Schelling gerichtet vorbringe. Wenz’ zentraler Vorwurf an die Theologie Tillichs liegt damit in dem einen Hauptpunkt, dass der Glaubensvollzug selbst letzten Endes in Intransigenz erstarre. Dies sei die Folge dessen, dass der Glaube versuche, sich selbst zu vermitteln, was Tillich zwar zu vermeiden suche, aber nicht überzeugend durchzuführen vermöge. Der Weg zu diesem aporetischen Kulminationspunkt ist bei Wenz anhand verschiedener Aspekte in Tillichs Theologie benannt: Wissenschaftslehre, Symbollehre, Imago- und Analogielehre sowie in Sonderheit und eminent die Christologie sind es, die nach Wenz auf Tillichs kristallinen Glaubensbegriff zulaufen. Am deutlichsten zeige sich dies im letzten Punkt, den christologischen Ausführungen Tillichs. Hier operiere Tillich mit einem Christusprinzip, mit dessen Hilfe sich Tillich vom historischen Jesus bzw. überhaupt von einer Rückfrage nach ihm suspendiere. In der späten Theologie Tillichs aus den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts sei – über die christologische Problematik hinaus – v.a. die unsymbolische Einbringung des Gottesbegriffs als Sein-Selbst ein unstatthafter Überstieg Tillichs. Dies zeige sich im Besonderen an der Symbollehre Tillichs. Wenz bietet Lösungen, insbesondere die Christologie betreffend an, indem er auf die christologische Konzeption Wolfhart Pannenbergs rekurriert. Kraft dieser sei das an sich zu lobende Unterfangen, das Tillich intendiere, durchführbar. Grundlage für die Analysen der Tillich’schen Theologie stellen bei Wenz v.a. die frühen Schriften Tillichs, in Sonderheit die 1979 noch nicht in Edition zugänglichen 128 Thesen Tillichs zur christlichen Gewissheit und zum historischen Jesus dar. Die späte Systementfaltung der dreibändigen ‚Systematische[n] Theologie‘ Tillichs wird von Wenz separat behandelt, die vorangegangene Theologie Tillichs in eins gefasst und als Entwicklung von den Schelling-Dissertationen beginnend skizziert. Die ‚Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich‘ betitelte Untersuchung von Christian Danz aus dem Jahr 2000 nimmt im Gegensatz zum Wenz’schen Ansatz die Aufteilung von Tillichs später dreibändiger Systematik zur Grundlage für das eigene Vorgehen. Nichtsdestoweniger bezieht Danz die frühen Schriften Tillichs zu den jeweiligen Themengebieten gewissermaßen en passant mit ein und legt mithin einen als synchron zu bezeichnenden Aufriss der Tillich’schen Gesamttheologie vor. Die zentrale Thematik bei Tillich stellt – wie schon der Titel impliziert – für Danz die Konstitution individueller Freiheit dar. Damit fasst Danz das eigentliche Thema der Theologie Tillichs in Übereinstimmung mit Gunther Wenz auf – mit dem Unterschied, dass Danz

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ieren, inwiefern und inwieweit das Prinzipdenken Tillichs aporetisch verfasst ist bzw. ob Tillichs Systematik zwangsläufig entgegen ihrem eigenen Anliegen in die Intransigenz unvermittelter Unmittelbarkeit führt. Im Bewusstsein dieser Fragestellung wird im Folgenden das christologische Konzept Tillichs aus der Frühphase seines Denkens analysiert.

1.3.2.2 Theologie aus konkreter Perspektive In der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ wird die Christologie in drei Momente zerlegt, wobei zuerst (1) die Herrlichkeit Jesu Christi, zum Zweiten (2) seine Niedrigkeit und zuletzt (3) die Erhöhung des Sohnes Gottes betrachtet werden.120 Unverkennbar lassen sich auch diese christologischen Hauptteile dem gewohnten Dreischritt von abstrakt, konkret und absolut zuordnen, durch den das Gesamtsystem Tillichs gegliedert ist. Verkörpert die Herrlichkeit das absolut-abstrakte Moment, so verbindet sich damit entsprechend der Aufgabe der Christologie, „das Wesen und die Erscheinungsformen des konkreten Momentes im theologischen Prinzip zur Erkenntnis zu bringen“ (D §9; 349; Hervorhebung S.D.), die Darstellung der absoluten Kategorien in Wort und Werk Jesu Christi, wie sie im evangelischen Jesusbild konkret begegnen.121 Die Lehre von Wort und Werk Christi ————— die Durchführung bei Tillich als gelungen beurteilt. Nach Danz laufen die theologischen und religionsphilosophischen Überlegungen Tillichs letztlich zu auf eine Geschichtsphilosophie, innerhalb derer sich das reflexive Selbst in seinen Konstitutionsbedingungen selbst durchsichtig werde. Danz nimmt für die Begründung dieser These keine Phasen- oder Stadieneinteilung im Denken Tillichs vor – zumindest keine, die für seine Untersuchung von bedeutender Relevanz wäre. Leitender Gedanke von Danz ist von Tillichs Schellingrezeption ausgehend eine Kombination sinntheoretischer Implikationen bei Tillich mit dem – späten – pneumatologischen Ansatz. Den eminenten Einfluss des späten Schelling auf die Systemexplikation Tillichs betont Danz zusammen mit Wenz. Wie auch Schelling nehme Tillich eine Verbindung von transzendentalphilosophischer Theorie und Geschichtsphilosophie vor, wobei erstere sich in letzterer realisiere und damit erst im eigentlichen Sinne tatsächlich sei. Diese beiden Linien finden nun nach Danz ihren Koinzidenzpunkt im menschlichen Selbst. Dieses sei der eigentliche und einzige Punkt geschichtsphilosophischer Realisierung, die in der – nach Danz bei Tillich gelungenen – freien Selbstkonstitution des Selbst als stets in Freiheit sich gegebenes kulminiere. Die aporetischen Punkte, die Wenz noch erkennt, werden bei Danz in seinem System der Theologie Tillichs so integriert, dass sie in ihrer Problematik für Danz gelöst sind und mithin nicht mehr virulent erscheinen. 120 Diese Aufteilung der Christologie belegt auch die ‚Skizze‘; vgl. EW IX, 427f, wo die Herrlichkeit Christi mit der Offenbarung, die Niedrigkeit mit der Versöhnung und die Erhöhung mit der Wiedergeburt korreliert wird und somit auch die Christologie – analog der Gotteslehre – unter dem Gesichtspunkt spezieller dogmatischer Topoi abgehandelt wird. 121 Dieses Vorgehen ergibt sich konsequenterweise aus der in der Apologetik bei Tillich konstatierten ausschließlichen mittelbaren Autorität der biblischen Schriften (vgl. Kap. 1.2.5.3), die somit gewissermaßen von einer ‚Mitte der Schrift‘ her verstanden werden müssen. Ihre Wahrheit kann die Schrift somit nur behalten bzw. erweisen, indem sie sich an dem – paradoxerweise in ihr dargestellten – Prinzip orientiert. Dieses faktische Primat des Prinzips vor seiner Konkretisierung

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umfasst bei Tillich somit den abstrakten Part innerhalb des konkreten Teils der Dogmatik, der Christologie. Die vollständige Verwirklichung der Konkretheit findet sich kat’ exochen im Kreuz Chirsti, der völligen Erniedrigung des Gottessohnes. Hier und nirgendwo sonst in Tillichs gesamtem System ist die Konkretheit auf ihre höchste Spitze getrieben, weil just im Kreuz Christi das Paradox seine größte Spannung in der Gottverlassenheit des Sohnes Gottes erreicht, der ob seiner Verzweiflung an Gott die Konkretheit bis an ihre äußersten Grenzen hin zu erfahren vermag. Die Erhöhung Jesu Christi, die die Auferstehung vorstellig macht, stellt schließlich das dritte, die ersten beiden Momente der Christologie in Einheit vereinende und damit absolute Moment dar, durch welches weder das absolutabstrakte noch das konkrete Moment aufgelöst, aber als Momente in ihrer Momenthaftigkeit vollständig ansichtig werden, indem Absolutheit und Konkretheit in Gott – in Sonderheit im Sohn Gottes – in Einheit geborgen und bewahrt sind. Der Ausführung der dreimomentigen Christologie schickt Tillich noch grundsätzliche Bemerkungen voraus, die die Frage nach dem historischen Jesus als für die dogmatische Fragestellung nicht relevant, da fundamentaltheologisch geklärt bestimmen.122 Was also die Thesen über den historischen Jesus und die Ausführungen Tillichs im apologetischen Teil der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ zu Tage gefördert haben, wird als gültige Basis angesehen, aufgrund derer nun die Christologie zu betrachten ist. Die Christologie ist demnach – entsprechend der Systemanlage Tillichs – ebenfalls prinzipiell zu explizieren. Dementsprechend wird die Grundbewegung der Christologie auf der Folie der in der Gotteslehre behandelten Schöpfungstheologie, die ihrerseits wiederum das Prinzip in abstrakter Absolutheit vorstellt, initiiert und entfaltet: Entscheidend ist dabei die Doppelfrage, die die Christologie aufgibt, nämlich „wie kommt Gott zu Jesus“ und „wie kommt Jesus zu Gott“ (D §9; 349), welche sich eben nur auf der Grundlage des Verhältnisses Gottes zum Einzelnen und vice versa erklären lässt. Erfasst ist dieses Verhältnis wiederum genuin in der Schöpfungs————— lässt auf der Grundlage der oben aufgeworfenen und noch zu diskutierenden Frage nach der Statthaftigkeit, die Theologie – so wie Tillich es vornimmt – von einem Prinzip her zu exponieren, die Interpretation von Gunther Wenz als zutreffend erscheinen bzw. bestätigt zumindest dessen problematischen Befund zu Tillichs Systemkonzeption. 122 Vgl. D §9; 348f: „Es ist nicht Aufgabe der Dogmatik, in die historische Diskussion einzutreten; ihre Stellung zum historischen Jesus ist allein bestimmt durch das Urteil der Apologetik, daß in Jesus Christus das theologische Prinzip konkret geworden ist.“ Die Rückfrage nach dem historischen Jesus stellt sich somit für Tillich gar nicht, da er ja dessen notwendige Unbedeutendheit für bestätigt hält, so dass zwar „historisches Material zur Veranschaulichung notwendig ist“ (D §9; 349), eine genaue Bestimmung dieses Materials für Tillich jedoch schlechterdings auszuscheiden ist.

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theologie, weil hier durch die Schöpfung im Sohn die reine Bejahung des Geschaffenen und in der Rückkehr der Schöpfung gleichfalls im Sohn die die völlige Verneinung des Geschaffenen inkludierende Bejahung vorstellig zu werden hat. Wie die gesamte Tillich’sche Dogmatik erweist sich somit auch der Konnex von Schöpfung und Erlösung als trinitarisch, präziser: innertrinitarisch verfasst. Was in der Schöpfung noch abstrakt als bloße, unmittelbare Bejahung vorstellig wurde, findet in der Erlösungslehre der Christologie seine konkrete Entsprechung in dem paradoxen Ineinander von Bejahung und Verneinung.123 Beide Vollzüge sind somit das Sich-nachaußen-Wenden der immanenten Trinität einerseits in der Schöpfung, andererseits in der das Paradox konstituierenden Form der Menschwerdung Christi. Die immanent trinitarischen Prozesse sind somit immer die Transzendentalursache für das Wirken der ökonomischen Trinität, die allerdings erst in vollendeter Form, d.h. nicht wie die – nota bene – ebenfalls im Sohn erfolgte Offenbarungsgeschichte in vorläufiger und vorbereitender Funktion, in der Menschwerdung der göttlichen Hypostase, die ihrerseits den Unterschied in Gott selbst in jedem Moment bewerkstelligt, in Erscheinung tritt.124 Mit anderen Worten: Im ewigen Zeugungsprozess des Sohnes wird neben Gott dem Vater Gott der Sohn als der „Andere[.] Gottes“ (vgl. D §9; 349) und somit als Gegenüber zum zeugenden Vater gesetzt, so dass im Anderen Gottes die absolute Einheit der Differenz ermöglicht wird. Hierdurch hat eine unmittelbare Bejahung der Einzelheit durch Gott statt, weil sich das Einzelne in ständiger Einheit mit Gott befindet.125 An dieser Stelle wird auch nochmals der feine, aber fundamentale Unterschied deutlich, den Tillich zwischen der gewissermaßen ‚schöpfungskonformen‘ Selbstbehauptung des Einzelwesens und der sündhaften bzw. gottentfremdeten Selbstbehauptung gezeichnet wissen möchte: Da die Gottentfremdung ein der Schöpfung erst sekundär hinzukommender Aspekt ist, ————— 123 Ohne die explizite Nennung der schöpfungstheologischen Zusammenhänge formuliert Tillich in D §9; 349: „Zwei Grundstellungen Gottes zum einzelnen sind es, von denen gehandelt ist: die unmittelbare Bejahung des einzelnen als Moment des göttlichen Lebens und die mittelbare, eine Verneinung einschließende und aufhebende Bejahung des einzelnen als Moment der gottentfremdeten, zu Gott zurückkehrenden Welt.“ 124 Bei der Behandlung der Pneumatologie (vgl. Kap. 1.3.3) wird sich auch das dritte, eschatologische Moment, mithin die Vollendung bzw. Heiligung als Wirken des Geistes, insofern als im Sohn Gottes erfolgend erweisen, als bereits relativ früh innerhalb der Christologie von Tillich ausgesagt werden kann, dass an Jesus Christus „das Prinzip der Rückkehr zu Gott, der heilige Geist, gebunden [ist], in ihm und durch ihn kommt er in die Welt“ (D §9; 352). Jedes Wirken Gottes auf die Schöpfung, sei es im Akt der Schöpfung selbst, in ihrer Erlösung oder Vollendung, ist somit immer ein nach außen gehender Reflex der innertrinitarischen Prozesse, die ihre ökonomische Vermittlung im konkreten Gottessohn finden. 125 „Gott [kann] das einzelne als Moment seines Lebens nur bejahen [...], weil es seine Einheit findet in dem ewigen Gottes-Sohn, dem Anderen Gottes“ (D §9; 349).

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präsentiert sich die eine Verneinung einschließende Bejahung alles Geschaffenen überhaupt erst als erforderlich, weil sozusagen im Urstand die in absoluter Form erfolgende Bejahung ohne Negation des dann eben nicht von Gott Entfremdeten, sondern in intuitiver Einheit mit ihm Stehenden schlechterdings ausreichend ist, da die Einheit der Schöpfung mit Gott trotz der Differenzhaftigkeit eine im Sohn geborgene ist. Erst der Sündenfall führt zu der Konsequenz, dass die zur eigenen Absolutheit übersteigerten und damit von Gott entfremdeten, weil nicht mehr mit Gott in intuitiver Einheit stehenden, Einzelentitäten nicht nur in Differenz, sondern in schlechthinniger Gegenposition zu Gott selbst zu stehen kommen, so dass das Tragen der Spannung in Gott allererst durch das Eingehen Gottes selbst in den Stand der Gottesferne ermöglicht wird, was nicht anders geschehen kann als in der „Mensch-(einzelner-)Werdung“ (D §9; 349) des Sohnes Gottes. Gott als die alle Einzelheit umfassende und in sich bergende Einheit, wie er auf dem absoluten Standpunkt erscheint, ist für den theologischen Standpunkt ob der Gottesferne des relativen Standpunktes nicht ausreichend, sondern muss nicht nur die Einzelheit in sich tragen, sondern auch konkret Einzelner werden, d.h. die Entfremdung zu sich selbst aushalten, um die absolute Verneinung des relativen Standpunktes aufgrund dessen Relativität unter der absoluten Bejahung des relativen Standpunktes aufzuheben. Genau genommen ist dieses „Mysterium der Christologie“, nämlich die Einzelnerwerdung des Gottessohnes, zwar für absoluten und theologischen Standpunkt distinkt zu erfassen, weil einmal der Fokus auf die Allgemeinheit der sich selbstbehauptenden Einzelerscheinung, einmal auf die Besonderheit des selbstbestimmten Einzelwesens gerichtet wird;126 allerdings handelt es sich beides Mal um dasselbe, nämlich die Erwirkung der letztlichen Einheit mit Gott durch den Sohn Gottes, da er „die konkrete Einheit des Mannigfaltigen“ (D §9; 350) ist, sowohl für das in Einheit mit Gott stehende Einzelwesen als auch für das sich in sündhafter Selbstverabsolutierung selbst setzen wollende Einzelwesen.127 Kurz gesagt: Jesus Christus als inkarnierter Sohn Gottes ist die Identität von Identität und Differenz in concreto. ————— 126 Vgl. D §9; 350: „Wie für das göttliche Leben die Einheit des einzelnen eine allgemeine ist, dementsprechend, daß das einzelne sich nicht als einzelnes behauptet, so ist für das gottentfremdete Leben die Einheit des einzelnen eine besondere, dementsprechend, daß das einzelne sich behauptet.“ Die Betonung des Einheitsaspekts bleibt somit für die absolute wie für die theologische Perspektive das eigentliche Anliegen, auch wenn sich die Explikation bzw. Darstellung des Aspekts auf den verschiedenen Standpunkten zwangsläufig different erweist. 127 Vgl. D §9; 350: „Es ist das Gleiche, einmal vom absoluten, das zweite Mal vom theologischen, aus der Reflexion gewordenen Standpunkt. Also nicht zwei Substanzen in Kombination, nicht eine Substanz in zwei Erscheinungen, sondern der gleiche dialektische Grundsatz für zwei verschiedene Standpunkte, real gesprochen, die gleiche Tat Gottes für zwei verschiedene Weltformen.“

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Offenbarungstheologisch höchst relevant ist nun nicht nur die Einzelnerwerdung des Sohnes Gottes, sondern die Einzelnerwerdung als ein bestimmter Einzelner, d.h. nicht das Eingehen in die Partikuliertheit relativer Entitäten in prinzipieller, sondern in ganz konkreter Form, mithin dass der Gottessohn dieser einzelne Jesus von Nazareth wird. Dies ist nach Tillich in der Offenbarungsgeschichte angelegt dergestalt, dass die Geschichte der Offenbarung die Aufnahme der „vollkommene[n] Offenbarung“ vorbereitet, allerdings so, dass das in der Offenbarungsgeschichte angelegte telos gleichzeitig und immer schon als Voraussetzung eben dieser Offenbarungsgeschichte vorstellig zu werden hat. Der Christus Jesus ist somit nicht einfach aus dem Prozess der Offenbarungsgeschichte herausgesetzte Folge, sondern Erfüllung dessen, auf was die Offenbarungsgeschichte als Vorbereitungsprozess vorausweist und was sie anbahnt – aus sich heraus den Christus hervorzubringen ist sie schlechterdings außerstande: „Dennoch bleibt ein Sprung von dem höchsten Punkt der Offenbarungsgeschichte bis zum Christus, der Sprung vom Abstrakten ins Konkrete.“ (D §9; 351; Hervorhebungen S.D.) Der Begriff ‚Sprung‘ versinnbildlicht die kategorische Trennung und Differenz, die zwischen dem, worauf die Offenbarungsgeschichte abzielt, und ihrem tatsächlichen Ziel statthat. Vielmehr ist die Offenbarungsgeschichte nicht ohne ihren Initiator, den Christus Jesus, weshalb Urheber und Ziel letztendlich koinzidieren. Kurz gesagt: Jesus als der Christus ist konstituierender Grund der Offenbarungsgeschichte, die überhaupt erst durch den Sohn Gottes als Prozess in Gang kommt. Insofern ist er als ‚Mitte der Geschichte‘ zu bezeichnen, weil er analog der Einheit von Einheit und Differenz, wobei das Differente stets von der Einheit ermöglicht und getragen ist, das, was er erfüllt, allererst ermöglicht. In diesem Sinne kann Tillich somit das Christusereignis als „Natur- oder Geschichtswunder[.] im technischen Sinn“ (D §9; 351) ablehnen, da ja der Christus nicht ‚wundersames Produkt‘ innerhalb des Prozesses der Offenbarungsgeschichte ist, „sondern umgekehrt, in Christus ist Natur- und Menschheitsentwicklung beschlossen: Um seinetwillen trägt Gott die Welt der Sünde. Er ist ihr Grund, nicht ihre Folge.“ (D §9; 351)128 Jesus Christus ist mithin ————— 128 Vgl. hierzu Hummel, System, 124f: „Die Theologie hat diese Geschichte [sc. die offenbare Geschichte Gottes selbst] nicht aufzulösen – etwa durch Spekulationen über ein Natur- oder Geschichtswunder [...] –, sondern zu bewähren, indem es [sic!] die Christologie in der Gotteslehre begründet und nicht als deren Folge bezeichnet und so dem Paradox zu entwinden sucht.“ – Die oben im Text zitierte Passage aus Tillichs ‚Systematische[r] Theologie von 1913‘ ist insofern zu problematisieren, als Tillich das Verhältnis zwischen Gott und Welt in Analogie zu dem Verhältnis von Geist und Natur verstanden wissen möchte, so dass „[d]er Geist […] sich aus seiner Naturgrundlage [entwickelt], aber dies ist kein Wunder im technischen Sinn, denn die Natur ist ja Setzung des Geistes.“ (D §9; 351) Die Natur ist nun zwar sicherlich insofern Setzung des Geistes, als der Geist als ein sich selbst bestimmender durch Negation der Natur sich als er selbst zu setzen

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die Vollendung der Entwicklung die durch ihn allererst Bestand hat, ja die in ihm geschaffen und durch ihn getragen ist, d.h. das telos selbst ist die Bedingung der Möglichkeit des Seins alles Unerlösten. Die umgekehrte Bewegung von Jesus zu Gott hin gestaltet sich als weniger komplexe, weil hier schlicht die „Anwendung absoluter Kategorien auf ein Einzelwesen“ (D §9; 352) statthaben muss. Oder mit anderen Worten: Dasselbe Verhältnis zur Sünde, welches Gott einnimmt, muss auch vom relativen Individuum eingenommen werden, d.h. die Selbstbehauptung des Selbst darf keine sündhaft verfasste, sondern muss eine in Intuition mit dem göttlichen Leben stehende sein, so dass Jesus Christus als „der Gerechtfertigte und der Erwählte schlechthin“ ( D §9; 352) in der völligen Konkretheit und Relativität vorstellig zu werden hat. In Jesus Christus kommt mithin das Prinzip der Selbstüberwindung zur völligen Erfüllung, was die doppelte Struktur des Christus anzeigt, einerseits im Status des Gerechtfertigten herrlich und andererseits im Prinzip der Selbstüberwindung durch die Aufhebung der eigenen Relativität erniedrigt zu sein.129 Es geht zugespitzt um die „Erhebung über den ganzen Zustand der Sündhaftigkeit und die Überwindung dieses Zustandes“ (D §9; 352), die eben dadurch erfolgt, dass die Anwendung absoluter Kategorien auf Jesus Christus in und trotz dessen Relativität möglich ist. In Jesus Christus ist das abstrakte Moment des theologischen Prinzips konkret geworden, d.h. in ihm treffen Material- und Formalprinzip in Vereinigung aufeinander.130 In der Bewegung von Jesus zu ————— sucht und somit die Natur als solche bestimmt; allerdings hat dies nicht in Abstraktheit und in solipsistischer Selbstbezüglichkeit, sondern unter der fortwährenden Herrschaft des Prinzips der Selbstüberwindung, mithin der Erkenntnis der eigenen Relativität vorstellig zu werden – andernfalls müsste sich die Natursetzung in Welteinverleibung erschöpfen, so wie es die Kritik von Gunther Wenz, Subjekt, 200, an die Konzeption Tillichs heranträgt. 129 Vgl. D §9; 352: „[A]ber er ist dies alles [sc. Gerechtfertigter und Erwählter] als Einzelwesen; es ist in ihm nicht unmittelbar gesetzt, sondern so, daß er sich als Einzelwesen aufhebt. Begründet das erste seine Herrlichkeit, so folgt aus dem zweiten seine Niedrigkeit, in beiden ist er das, was er ist, das konkrete Paradox.“ (Hervorhebung S.D.) Hingewiesen sei hier nochmals auf die Betonung der Vermitteltheit des eigenen Selbst auch beim Christus als inkarniertes Einzelwesen. Die Selbstüberwindung als solche ist somit immer nur als eine ebenfalls vermittelte und nicht aufgrund der menschlichen Eigeninitiative anhebende zu klassifizieren, wodurch die von Gunther Wenz bei Tillich zwar als ungewollt festgestellten, aber als faktisch vorhanden und aporetisch kritisierten Tendenzen Tillichs in Bezug auf die Konstituierung des Selbst in unvermittelter Unmittelbarkeit zwar nicht entkräftet sind – fraglich muss allerdings bleiben, ob ein theologischer Denker, der selbst in den in intuitiver Einheit mit Gott stehenden Christus das Moment der Vermitteltheit in der Konstituierung als Einzelselbst einzeichnet, aufgrund seines sonstigen Prinzipverständnisses und dem problematischen Umgang mit der historischen Gestalt Jesus von Nazareth generaliter, d.h. in Bezug auf sein sonstiges systematisches Prozedieren, dem Aporieverdacht ausgesetzt werden darf. 130 Hier wird also im Begriff der Erfüllung vorstellig gemacht, was schon in A §2 angesprochen wurde: Auf dem absoluten Standpunkt ist das Materialprinzip nicht vom Formalprinzip zu schei-

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Gott wird deshalb die Erhebung des Zustandes der Relativität zum Absoluten möglich, weil das abstrakte Materialprinzip in Jesus Christus das formale ‚Gegenstück‘ seiner selbst zur konkreten Realisierung findet. Durch den Christus ist somit – wie bereits angesprochen – der Rückkehr des Relativen zum Absoluten stattgegeben, was auch zur Verbindung mit dem heiligen Geist führt, der „in ihm und durch ihn“ (D §9; 352) in die Welt kommt.131 (1) Stellt der Christus Jesus das Paradox in konkreter Fassung und damit gleichsam auch in Reinform dar, so ist es notwendige Voraussetzung, dass nicht nur die absoluten Kategorien auf ihn Anwendung finden und finden können, sondern dass darüber hinaus der Christus in der Konkretheit die absoluten Kategorien als auf ihn angewandt vorstellt. Dieses, die Herrlichkeit Jesu Christi begründende Moment ist der schlechterdings absolute Aspekt an der Person Jesu Christi und manifestiert sich nach Tillich in „Wort und Werk“ (Paragraphenüberschrift zu D §10; 353) des irdischen, oder eher: evangelischen Jesus von Nazareth. Sowohl seine Rede als auch sein Tun erweisen Jesus als den Christus, indem sich in beidem „seine Einheit mit Gott, seine gottmenschliche Herrlichkeit“ (D §10; 353) offenbart. Somit finden die absoluten Kategorien den Christus Jesus nicht nur als ihr Ziel, an dem sie angewandt werden, sondern die Person des evangelischen Jesus tritt geradezu als vermittelnde Größe auf, die die göttliche Absolutheitsforderung an die Welt der Relativität heranträgt und sie mit ihr konfrontiert. Der Christus Jesus ist somit nicht einfach menschliches Paradebeispiel in Hinblick auf sein Gottesverhältnis,132 sondern erfährt seine Göttlichkeit – Tillich spricht allerdings nur von ‚Herrlichkeit‘ – just dadurch, dass er die absoluten und somit schlechterdings göttlichen Kategorien seinerseits in Anwendung bringt und dadurch in einer für den Menschen qua Menschsein nicht mehr selbst nachahmbaren Weise handelt.133

————— den. In der Person des Christus Jesus ist gerade diese Distinktion als im Begriff des Aufgehobenwerdens gesetzt. 131 Mit Jean-Paul Gabus ist damit auszusagen: „Christology, not Trinity is the starting point of Tillich’s Theology.” (Gabus, Trinity, 58) Dies trifft insofern zu, als jedwede trinitarischen Erörterungen notwendig abstrakt bleiben, sofern sie nicht rückgebunden sind an den sie vermittelnden konkreten Christus. 132 Dieses Urteil lässt sich mit der tatsächlichen Herrlichkeit Jesu Christi, die ihn über ein bloßes Menschsein hinaushebt, nicht vereinbaren, so dass Paul Tillich an dieser Stelle ganz eindeutig in Kontinuität mit der klassischen Zweinaturenlehre interpretiert werden kann. Dass er eigene Akzente in seiner Christologie setzt, die die altkirchliche Lehre für die Gegenwart formulieren möchte, tut dem keinen Abbruch. 133 Insofern und insoweit grenzt sich im Folgenden dann auch der Tillich’sche Begriff vom Reich Gottes bzw. – um den Ritschl’schen Begriff zu verwenden – der Arbeit an ihm von dem der liberalen Theologie ab und belegt die Eigenständigkeit der Theologie Tillichs im Unterschied zu seinen liberaltheologischen Wurzeln: Zwar führt das Sein, Wirken und Handeln Jesu zu ethischen Konsequenzen – nämlich solchen, die sich folgerichtig aus den anthropologischen Bedingungen auf dem theologischen Standpunkt in prinzipieller Hinsicht ergeben –, allerdings ist eine ‚Nachfolge‘ Jesu, wie sie sich in der liberalen Theologie findet, kraft der unendlichen qualitativen Differenz zwischen der Person Jesu und den Menschen schlechterdings ausgeschlossen. Die Immanenz der Person Jesu in der liberalen Theologie bzw. der Ausschluss des Sohnes aus dem

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Am deutlichsten kommt dieser absolute Anspruch in der Rede Jesu zum tragen. Jedoch lässt sich auch das absolute Moment innerhalb der Christologie Tillichs wiederum in die Trias von abstrakt, konkret und absolut untergliedern. Dabei übernimmt den die absoluten Kategorien in Abstraktheit präsentierenden Part die Predigt Jesu, in der die absoluten göttlichen Forderungen in ihrer Gleichzeitigkeit von völliger Negation wie völliger Bejahung zum Ausdruck kommen und die paradoxe Wirkung der Predigt Jesu manifest wird, nämlich einerseits Unbedingtheit und Notwendigkeit zu beanspruchen und andererseits von der Relativität als solcher nicht erfüllbar zu sein.134 Paradigmatisch kommen die Absolutheitsaussagen in negativer Fassung in „den Paradoxien der Bergpredigt“ und positiv gewendet „im Vaternamen, der Gott gegeben wird“ (D §10; 353), zum Ausdruck. Entscheidend dabei ist, dass es sich eben nicht um relative Forderungen bzw. Zusagen handelt, die auch relativ Anwendung finden könnten, sondern im Gegenteil ist es „nicht möglich, die Verkündigung Jesu zu verstehen, wenn sie etwas anderes sein soll als Ausdruck des religiösen Prinzips in seiner Absolutheit und Reinheit.“ (D §10; 353; Hervorhebung S.D.) Tillich betont somit nachdrücklich die Notwendigkeit, in theologischer Hinsicht die biblischen Aussagen vom Prinzip her zu verstehen und nicht umgekehrt. Daraus folgt, dass sowohl prinzipiell, wie auch im biblischen Bild jedwede Form der Vermittlung bzw. jeder Versuch der Relativierung der absoluten Aussagen strictissime abzulehnen ist, weil sonst eine reflexive Auflösung des Paradoxes statthätte, die zu punktuellen und somit zwangsläufig nur relativen Syntheseleistungen führen müsste, letztlich aber das Ziel verfehlen würde, die „absolute Herausarbeitung der religiösen Thesis“ (D §10; 354) zu bewerkstelligen. Ihren konkreten Rückbezug bewahrt die absolute Predigt Jesu in seinem „messianischen Selbstbewußstsein“ (D §10; 354), welches die Basis für den unmittelbaren Gottesbezug darstellt, insofern nicht die Erfüllung der absolut-abstrakten Predigt des Gottessohnes, sondern das individuelle Verhältnis des Einzelnen zu Jesus Christus selbst das intimum des Gott-Mensch-Verhältnisses ausmacht. Konkretheit gewinnt das Bewusstsein Jesu um die eigene göttliche Herrlichkeit somit dadurch, dass eben jenes Bewusstsein die Bedingung der Möglichkeit echt persönlicher Teilhabe am Absoluten in der Sphäre des Konkreten darstellt, weil die Person Jesu als schlechthin konkrete nicht zu Abstraktheit depravieren kann, sondern – trotz der

————— Evangelium in Entwürfen Harnack’scher Provenienz findet durch Tillichs Betonung der Göttlichkeit Jesu durch seine Herrlichkeit also gewissermaßen eine Brechung, die den Ansatz Tillichs vom liberalen Ansatz weg in die Nähe der dialektischen Theologie rückt, so dass das Konzept Tillichs tatsächlich zwischen den Alternativen liberal oder dialektisch zum Stehen kommt. 134 In genauer Analyse des Ansatzes von Tillich muss sogar von einer notwendigen Unerfüllbarkeit der absoluten Forderungen gesprochen werden, da andernfalls eine Form der – wenn auch von Gott initiierten – Selbstrechtfertigung und somit -erlösung vorstellbar wird. Wie schon in der fundamentaltheologischen Erörterung Tillichs wiederholt festgestellt, ist es aber gerade das Signum der Relativität, sich nicht über die eigene relative Verfasstheit erheben zu können, sondern nur in göttlicher Vermittlung, d.h. in Bejahung unter Einschluss der Verneinung, überhaupt sein und schließlich gerechtfertigt sein zu können. Der gerechtfertigte Mensch ist allezeit ein von Gott gerechtfertigter, dem in klassisch christlicher Lehre niemals die Autorität über das Rechtfertigungsurteil zukommt; die Rechtfertigung ist stets eine Tat Gottes extra nos.

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Abstraktheit in ihrem absoluten Anspruch – für das Relative immer höchst real bleibt und eben dadurch ihre Potentialität des direkten Gottesverhältnisses kraft des vermittelnden konkreten Paradoxes entfaltet.135 Die Absolutheit Jesu und somit seine Göttlichkeit – nichts anderes kann und darf der uneingeschränkte Absolutheitsbegriff in Bezug auf Jesus bei Tillich meinen – bleibt auch nach seinem Eingehen in die Sphäre des Relativen garantiert durch die Kombination der Messianität mit dem Kreuz bzw. dessen Prolepse in den Leidensankündigungen, wodurch die Absolutheit Jesu nicht etwa zerstört, sondern allererst bestätigt wird, weil seine Relativität, die er durch sein Menschsein ganz konkret und faktisch ist, nicht dem Herrlichkeitsanspruch hintangeordnet wird, sondern im Gegenteil als zweiter Spannungspol das irreduzible Gegenüber bildet, wodurch die absoluten Forderungen insofern erfüllt werden, als sich der Christus Jesus trotz und in seiner Herrlichkeit als relativer Mensch unter sie beugt im Akt seiner Einwilligung ins Kreuz. Das Prinzip der Selbstüberwindung ist mithin durch Hinzunahme und Annahme der eigenen Relativität von Jesus Christus nicht nur exemplarisch, sondern prinzipiell erfüllt. Dadurch wird sowohl seine Absolutheit wahrlich absolut als auch das Kreuz zu dem was es ist, nämlich dem vollendeten Ausdruck der Konkretheit des Sohnes Gottes. Das dritte, eschatologische Moment im irdischen Sein Jesu ist nach Tillich erfüllt in seiner Verkündigung vom Reich Gottes. Dabei wird das Im-Begriff-Stehen des Aufgehobenwerdens der Absolutheit wie der Konkretheit des inkarnierten Gottessohnes in die Einheit Gottes deutlich; so werden die absoluten Forderungen und Zusagen Jesu mit seiner gleichzeitigen völligen Relativität dergestalt aufgehoben, dass beides erhalten bleibt, aber in Synthesis in die Verwirklichung des absoluten Reiches aufgenommen wird. Was das Werk Jesu Christi anbetrifft, so fügt es dem System nichts Neues hinzu, sondern verwirklicht nur in Analogie, was in der Wortverkündigung Jesu bereits ausgesagt ist, nämlich dass die absoluten Kategorien, die Jesus auch in actu – etwa durch die Bedingungen bei der Jüngerberufung – in Anschlag bringt, keiner Vermittlung oder wie auch immer gearteten kulturellen Synthese zugänglich sind. In

————— 135

Der von Tillich hervorgehobene Menschensohntitel, den Jesus kraft seines messianischen Selbstbewusstseins auf sich anwendet (vgl. D §10; 354), ist systematisch betrachtet nicht konstitutiv, sondern nur als Herrlichkeitstitel paradigmatisch als besonderes Zeichen der Herrlichkeit Jesu zu werten. Von konstitutiver Bedeutung ist das Selbstbewusstsein Jesu selbst, welches das Gottesverhältnis der Menschen direkt mit ihrem Verhältnis Jesus gegenüber verbindet: „Er weiß sich als der Sohn Gottes, dem Gott alles übergeben hat, der allein Gott wahrhaft kennt und der nur von Gott wahrhaft erkannt wird; er stellt sich niemals auf gleiche Stufe mit den anderen, sondern läßt von der Stellung zu ihm das Heil der Menschen abhängig sein.“ (D §10; 354; Hervorhebung S.D.) Inwieweit das messianische Selbstbewusstsein Jesu allerdings tatsächlich als biblisches Faktum herangezogen werden darf, um systematisch den Konnex von Gottes- und Christusverhältnis herzustellen, muss ob der starken und isolierten Nähe zur johanneischen Theologie, auf der die Aussagen Tillichs an diesem Punkt aufbauen, als fraglich konstatiert werden. Es bleibt offen, weshalb Tillich hier nicht – wie es seinem Ansatz durchaus entgegenkäme – stärker von der altkirchlichen Zweinaturenlehre und weniger vom biblischen und somit vom exegetischen Urteil abhängigen Befund das Verhältnis zu Christus zu exponieren versucht.

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systematischer Hinsicht interessant ist indes eine späte Randbemerkung Tillichs zu dem gesamten das Werk und Wort Jesu betreffenden Paragraphen: „Dieser § gibt der neutestamentlichen Arbeit ihre Aufgabe unendlich“136. Dadurch belegt Tillich nochmals selbst sein Konzept einer Mitte der Schrift, dass nämlich die biblischen Schriften durchaus mittelbare Autorität haben, insofern sie das theologische Prinzip in Ansicht bringen. Im Gegensatz zu anderen Auffassungen der exegetischen Wissenschaft spricht sich Tillich hier also für eine weniger historische als vielmehr systematische Funktion der Exegese aus, die zwar durchaus historisch arbeitet, dies allerdings immer in Hinblick auf das Prinzip tut, um dessentwillen überhaupt Theologie betrieben wird. Tillich bleibt dadurch also dem methodischen Grundsatz treu, den er bereits fundamentaltheologisch in A §27 entworfen hatte.137

(2) War das Wirken Jesu in Wort und Tat bei Tillich primär durch den Aspekt der abstrakten Absolutheit konnotiert, so expliziert sich die Konkretheit des Christus Jesus in Sonderheit in seinem Leiden und Sterben am Kreuz, mithin in seiner völligen Niedrigkeit. In der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ behandelt Tillich das Kreuz Christi unter zweierlei Gesichtspunkten: Einmal fragt er nach dem Inhalt des Kreuzesgeschehens, den er als die konkrete Verwirklichung des Paradoxes und damit als das Paradox schlechthin fasst, und macht damit den innersten Kern der Christologie namhaft; andererseits sucht Tillich den Bezug des Kreuzesgeschehens zu dem, weswegen es überhaupt statthat, also dem Standpunkt der Relativität oder Sündhaftigkeit, zu eruieren und diskutiert damit die Frage nach der Möglichkeit der Vermittlung des Kreuzesgeschehens für das Relative, Konkrete oder anders gesagt: nach der Attribuierbarkeit der im Kreuz Christi sich vollziehenden Erlösung auf das Erlösungsbedürftige. In beiden Fällen – in der Frage nach dem Was und dem Wie des Kreuzes Christi – wird somit die soteriologische Funktion des Kreuzesgeschehens der höchste Explikationspunkt der Christologie überhaupt, ja Tillichs Christologie ist genau betrachtet primär Soteriologie, was sich systematisch konsequent aus der Insuffizienz des auf sich selbst zurückgeworfenen und aus sich selbst ohnmächtigen Relativitätsstandpunkts, der daher wesensmäßig auf eine außer seiner selbst stattfindende Erlösungstat angewiesen ist, ergibt und dogmatisch bestätigt und weitergeführt wird durch den unmittelbaren Übergang von der Christologie zur Pneumatologie.138 Systemfunktional stellt das ————— 136

EW IX, 355 Anm. 226. Vgl. hierzu Kap. 1.2.5.3. 138 Die primär soteriologische Funktion der Christologie zeigt auch die ‚Skizze‘ an, die die Paragraphen D §11 und 12 unter der Überschrift „b) Die Niedrigkeit Jesu Christi (Versöhnung)“ (EW IX, 427) zusammenfasst. Die enge Verknüpfung zwischen Christologie und Pneumatologie, die durch Tillich vorgenommen wird, ist auch belegt durch die Wiederholung der Versöhnungsthematik – jetzt dezidiert als Soteriologie bezeichnet – im ersten Unterkapitel der Geistlehre (vgl. EW IX, 428: „a) Die Rückkehr der Menschheit zu Gott (Soteriologie)“, was nur prima facie verwun137

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Kreuz Christi den höchstmöglichen Konkretionspunkt dar, indem es den konkreten Part innerhalb des konkreten Moments (Christologie) der Dogmatik, die ihrerseits wiederum konkretes Moment des Gesamtsystems ist, repräsentiert. Just im Kreuz des Christus Jesus erfährt die Dynamik, die von der abstrakten Absolutheit über die völlige Konkretheit zurück in die synthetisch-vollendete Absolutheit führt, ihre konkreteste Ausprägung, ist Scheitelpunkt der Gesamtbewegung, an dem sozusagen eine Umkehrung der Bewegungsrichtung statthat. In der Christologie hat die Dynamik des Prozesses die engste Berührungsstelle mit dem Standpunkt der Relativität erreicht, so dass hier und nur hier einerseits die Frage nach der Versöhnung des Relativen mit dem Absoluten gestellt werden kann und andererseits einzig an diesem Punkt die Frage nach der Vermittlung der absoluten Dynamik mit dem Standpunkt der Relativität Legitimität erhält, weil es allererst der völligen Konkretwerdung des Paradoxes, d.h. des tatsächlichen Eingehens des Absoluten in das Relative, bedarf, damit das Relative als solches des Absoluten als solches – das meint: nicht als Abstraktes – in Form des Paradoxes gewahr werden kann. Konkret bedeutet dies, dass das Ja und das Nein Gottes über den Standpunkt der Relativität im Kreuz Christi ihre absolute Bedeutung erhalten und somit bar jeglicher Relativitätspartikel in unverminderter Absolutheit Anwendung finden auf alles Relative in und trotz dessen Relativität.139 Dogmatisch gesprochen kommen die in der Liebe Gottes vereinten Momente der Gnade und des Zorns in Absolutheit zur Vollendung. Daher kann Tillich das Kreuz zwar als Erniedrigungsmoment benennen, insofern den irdischen Jesus als Teil des Standpunkts der Relativität und Sündhaftigkeit der Zorn Gottes treffen muss und im Kreuz in höchster Ausprägung trifft; gleichzeitig beinhaltet das Sterben Jesu am Kreuz aber auch die Herrlichkeit Christi, indem eben in seinem Kreuzestod sich das Prinzip der Selbstüberwindung ————— dert, weil nach Tillichs Systematikverständnis Christologie und Pneumatologie im Prinzip nichts anderes sind, sondern nur das Prinzip – einmal aus konkreter, einmal aus absoluter Perspektive betrachtet. Dass beide Aspekte auf demselben Hintergrund und Zielpunkt der Soteriologie verhandelt werden, überrascht aus systeminterner Sicht dann nicht mehr, ja ist ob des Fokus, der im ersten, abstrakten Part auf die Rechtfertigungsproblematik gerichtet war, sogar verständlich und folgerichtig. Mit anderen Worten: Christologie und Pneumatologie haben im System Tillichs zwar – entsprechend ihrer Momenthaftigkeit im Rahmen des theologischen Prinzips – verschiedene Funktionen inne, bewegen sich jedoch inhaltlich logischerweise auf derselben Ebene, indem sie das Paradox thematisieren, welches unter konkretem Gesichtspunkt als Versöhnungstat Gottes, unter teleologischem Geschichtspunkt eben als errettende Tat in Ansicht kommt. Was sich konkret in der Versöhnung ereignet, vollendet sich in der Soteriologie – und ist, so ließe sich im Sinne Tillichs ergänzen, prinzipiell immer die gleiche Tat Gottes. 139 Vgl. These zu D §11; 355: „Das Kreuz Christi ist das vollendete Nein und das vollendete Ja zum Standpunkt der Sündhaftigkeit“.

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erfüllt, wodurch die Absolutheit des Christus Jesus ihre Erfüllung erhält.140 In klassische Terminologie gefasst knüpft Tillich hier theologia crucis und theologia gloriae im Kreuz aneinander und zwar dergestalt, dass die theologia crucis Bedingung der Möglichkeit einer theologia gloriae überhaupt ist und umgekehrt die theologia crucis unterbestimmt bleibt, wenn ihr nicht das Herrlichkeitselement der theologia gloriae zugedacht wird. Theologie der Herrlichkeit und des Kreuzes treten mithin in ein durch Irreduzibilität und Reziprozität gekennzeichnetes Spannungs- und Konstitutionsverhältnis, welches die Anliegen der beiden theologischen Perspektiven erst im Bezug aufeinander als wahrhaft zum Ausdruck gebracht vorstellig macht. Analog dem Verhältnis von Wahrheit und Denken, dessen dogmatisch-konkrete Explikation im Kreuzesgeschehen statthat, findet sich ungeachtet der Irreduzibilität und Reziprozität des innerprinzipiellen Verhältnisses ein Hierarchiegefälle, das sich in der Dogmatik so gestaltet, dass der Kreuzestheologie das Primat vor der Herrlichkeitstheologie zukommt, weil ohne das Kreuz, d.h. das Konkretwerden des Paradoxes, die dem Paradox eigene Zielwirkung, die abstrakt als Rechtfertigung, konkret als Versöhnung zu bezeichnen ist, schlechterdings nicht realisierbar ist.141 Mit anderen Worten: Der am Kreuz Leidende und Sterbende muss zwar der herrliche Christus sein, aber dass der Christus am Kreuz leidet und stirbt, ist das Entscheidende am Kreuzesgeschehen. Damit findet gewissermaßen eine Umkehrung der Hierarchierelation im Verhältnis zur philosophischen Erörterung statt. War der Wahrheitsbegriff bzw. in Anlehnung an Schelling Gott in seiner Absolutheit als die Einheit alles Mannigfaltigen letztlich das – unter Beibehaltung der reziprok-irreduziblen Konstitutionsbestimmung – dem Denken bzw. der Einzelheit übergeordnete Moment, so erscheint in der Christologie die konkrete Ausprägung des am Kreuz leidenden und sterbenden Jesus Christus als Primärelement gegenüber der Herrlichkeit des irdischen Gottessohnes. Für das Gesamtsystem bedeutet dies, dass der abstrakt-absolute Part unter der Herrschaft des Allgemeinprinzips, das konkrete Moment jedoch primär von der Perspektive der Singularität eines konkreten Menschen her verhandelt wird. Das Zentrum der Tillich’schen Perspektivität verschiebt sich mithin im Rahmen des Gesamtsystems bei der Behandlung ————— 140 Vgl. D §11; 355: „Das Leiden und Sterben Jesu ist auch eine Offenbarung seiner Herrlichkeit, insofern darin sein in Einheit mit Gott begründetes Handeln offenbar wird.“ 141 Vgl. D §11; 356: „Darum ist es berechtigt, daß die Theologie immer eine Theologie des Kreuzes sein will, wenn es auch falsch wäre, die Betrachtung des Kreuzes loszulösen von der übrigen Christologie; denn nur, daß der Christus stirbt, macht das Kreuz zu dem, was es ist, der höchsten Tat der heiligen Liebe Gottes.“ (Hervorhebung S.D.) Tillich spricht auch an dieser Stelle nicht dezidiert von einem Primat der theologia crucis, allerdings liegt der Akzent der Theologie doch eindeutig auf der Betrachtung des Kreuzes.

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der Einzelteile jeweils zum dominierenden Aspekt hin, so dass die Christologie – und in zugespitzter Form ihr konkretestes Moment, das Kreuz Christi – im Rahmen der Dogmatik die Perspektive schlechthin darstellt. Es ist somit unstatthaft, die Theologie Tillichs als eine rein von der Absolutheit Gottes bzw. von der Abstraktheit philosophischer Vorklärungen anhebende charakterisieren zu wollen, weil Tillichs System sich durchaus so flexibel erweist, dass es – in Erfüllung der Bedeutung des Momentbegriffs – den Einzelteilen des Systems immer aus dem ihnen adäquaten Blickwinkel gerecht zu werden vermag.142 Was den Inhalt des Kreuzesgeschehens anbelangt, so bleibt dieser seinerseits nun wiederum als abstrakter Pol innerhalb des völlig Konkreten stehen, weil er nach Tillich ausgedrückt ist in der absoluten Aussage des Rechtfertigungsgedankens, dass über alles Relative ein absolutes Nein und ein absolutes Ja gesprochen ist. Diese Absolutheit durch Wirken, Sein und Sterben des Christus Jesus führt in harmatiologischer Konsequenz zu einer Zuspitzung des Sündenbegriffs dergestalt, dass im äußersten Punkt der Niedrigkeit des Christus die absoluten Kategorien die höchste Steigerung in ihrem Ausdruck erfahren, indem der sündhafte Zustand nicht nur in diametrales Gegenüber zum absoluten Anspruch tritt und der Standpunkt der Sündhaftigkeit die absoluten Kategorien nicht anzunehmen vermag, sondern das inkarnierte Paradox sogar von dem, den es erlöst, verstoßen und den relativen Kategorien in ihrer kompletten Abgründigkeit unterworfen wird. In der Konfrontation des Relativitätsstandpunkts mit seiner Erlösung, nämlich dem in seine Sphäre eingegangenen Absoluten, hat mithin eine ————— 142

Die Brennpunktverschiebung innerhalb des Systems Tillichs je nach Thematik wurde in der bisherigen Forschung noch nicht so explizit benannt. Zu fragen bleibt allerdings, inwieweit Tillich seinem implizit erhobenen Anspruch auf Multiperspektivität tatsächlich gerecht wird. Einschränkend auf die völlig konkrete Betrachtung des Christusgeschehens, als der Mitte der Dogmatik überhaupt, wirkt das Faktum, dass auch das Kreuz in seinem Geschehen immer schon – und dies dürfte vom Textbestand bei Tillich nicht widerlegbar sein – von einer österlichen Warte aus Betrachtung findet. Der am Kreuz sterbende Jesus ist eben der Christus, als der er sich in österlichem Kontext bzw. bei Tillich auch aus dem Prinzip der Theologie heraus erweist, so dass von einer zumindest indirekten Voraussetzung des absoluten Moments, der Herrlichkeit Christi, für das konkrete Moment, das Kreuz, bei Tillich gesprochen werden muss. Unbeschadet dieser dem Prinzip Tillichs innewohnenden Struktur ist und bleibt die Perspektive eine dezidiert konkrete, die das Gewicht der Erörterung mit allem Nachdruck auf das ‚Dass‘ des am Kreuz leidenden und sterbenden Christus legt und die Bestimmung, es sei der Christus, der dort leidet und stirbt, zwar als notwendiges Implikat in sich trägt – dies verlangt schon die Irreduzibilität und das wechselseitige Konstitutionsgepräge der beiden Momente –, jedoch nicht zum Bestimmungspunkt der Christologie macht. Am Prinzip des Gesamtsystems werden hier somit keinerlei Veränderungen vorgenommen; die Darstellung des Gesamtprinzips erfährt jedoch als unter dem konkreten Moment verhandelte eine – so wird sich sagen lassen – notwendige Modifikation, die auch eine Hierarchieverschiebung in Betreff auf die Prävalenz der einzelnen Momente erfährt und erfahren muss.

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Vertiefung der Sünde in größtmöglicher Ausprägung statt. Das Relative ist nicht einmal beim Ansichtigwerden des für den eigenen Standpunkt rezipierbaren Paradoxes in seiner konkreten Gestalt imstande, die von dorther angebotene Rettung anzunehmen, ja widerstrebt ihr gemäß der eigenen Natur darüber hinaus noch. Dies zeitigt letztlich und notwendig ein völliges, absolutes Nein über den Standpunkt der Sündhaftigkeit, der sich im Ausstoßen des Paradoxes aus der eigenen Sphäre in seine höchste Potenzierungsform begibt, zur Folge.143 Ansichtig wird die Tiefe der Sündhaftigkeit des Relativitätsstandpunkts in höchster Zuspitzung in der gesteigertsten Form der Niedrigkeit Christi, nämlich seiner Verzweiflung und Gottverlassenheit am Kreuz. Just der Christus Jesus, d.h. derjenige, welcher zwar paradoxerweise zu einem „Glied des gottwidrigen Sünden-Zustandes“ (D §11; 355) geworden ist, wesensmäßig jedoch auch im Zustand der partikularisierten Relativität der Sohn Gottes ist, der in Einheit mit Gott steht, erfährt von den Vertretern des Relativitätsstandpunkts Abgründigeres als das, was der Standpunkt der Relativität erleiden kann: die völlige Verzweiflung an Gott und dadurch die absolute Gottverlassenheit. In diesem Punkt, an dem gewissermaßen Gott im Sohn selbst die Gottverlassenheit, d.h. die Verlassenheit von sich selbst erfährt, ist der Paradoxbegriff Tillichs bis an seine Grenzen hin ausgedehnt und erreicht erst tatsächlich seine volle Paradoxalität. Größer kann das Auseinanderklaffen zwischen der göttlich-absoluten Einheit und der relativkonkreten Einzelheit nicht vorstellig gemacht werden als in der Gottverlassenheit des Sohnes Gottes selbst. An dieser Stelle, der Verzweiflung Christi am Kreuz, hat mithin die größtmögliche Differenz zwischen dem Standpunkt der Relativität und der Absolutheit Gottes statt, weil eben erst durch die vollkommene Erniedrigung des Absoluten bis zur äußersten Grenze dessen, was überhaupt noch innerhalb der Kategorien der Relativität gefasst werden kann, der Standpunkt der Relativität zu dem wird und als das erkannt wird, was er wesensmäßig ist: Standpunkt der Sündhaftigkeit. Insofern kann Tillich auch aussagen, dass am Kreuz „die Sünde theologisch, d.h. durch das Paradox begriffen, Gott erkannt und der Standpunkt der Sündhaftigkeit prinzipiell aufgehoben“144 ist (D §11; 356). Die Erkenntnis ————— 143

Vgl. D §11; 356: „Das Nein der heiligen Liebe gegen den Zustand der Sündhaftigkeit verwirklicht sich in dem Leiden und Sterben des einzelnen, der Auflösung des Geisteslebens bis hin zur völligen Gottentfremdung und der Bestrafung der Sünde mit tieferer Sünde. Alle diese Momente werden am Kreuz sichtbar: die vollendete Sündhaftigkeit und Zerrüttung der Menschheit, die die absoluten Kategorien der Botschaft und Wirksamkeit Jesu nicht ertragen konnte und ihn ausstieß, um ihre Relativität zu retten“. 144 Die von Tillich angesprochene Erkenntnis Gottes, die letztlich mit der Erkenntnis der Sünde als solcher koinzidiert, ist nicht als die Möglichkeit des Relativen, sich zum Standpunkt des Absoluten

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der Sünde kommt ihrer Aufhebung gleich dergestalt, dass die Sünde als das schlechthin Unerklärliche145 sich wesensmäßig der Erklärung entzieht, weshalb erst im letztgültigen, das völlige Nein inkludierenden Ja Gottes zum Standpunkt der Relativität die Sünde als die unstatthafte, ja widergöttliche Form der Selbstbehauptung der konkreten Einzelheit erkannt ist, was faktisch nicht zur Beseitigung der Relativität als solcher, aber zur Rechtfertigung des Relativen auch in seiner sündigen Verfasstheit führt. Das, was dem Christus am Kreuz widerfährt, die völlige Relativierung – oder mit anderen Worten: Beziehungslosigkeit zu Gott – trotz der eigenen Absolutheit, ist die höchste Form des Nein, das über den Stand der Sündhaftigkeit gesprochen werden kann.146 Gleichzeitig bewirkt das völlige Nein – entsprechend dem Prinzipverständnis Tillichs – stets auch das völlige Ja Gottes zum völlig Verneinten. Dass dies prinzipiell statthat, wurde von Tillich bereits fundamentaltheologisch erörtert und sei hier nur nochmals in Erinnerung gerufen.147 Durch die Zuspitzung des Nein zu seiner höchsten Potenz gelangt nun allerdings auch das Ja Gottes zu seiner Vollendung, weil das höchste Nein zwar über den Gottverlassenen, ja den an Gott nicht nur Zweifelnden, sondern Verzweifelten ergeht, dieses Individuum allerdings der Sohn Gottes, mithin Gott selbst ist. Das, was im Nein Gottes völlig verworfen wird, ist konstitutiver Bestandteil Gottes selbst, der somit schlechterdings nicht ausscheidbar aus der Gottheit Gottes ist, so dass das Nein über den Gottessohn immer nur möglich und denkbar ist als ein vom und im völligen Ja Gottes geborgenes. Dies meint nicht, dass das Nein Gottes ein in Relativität erfolgtes resp. ein ob der ‚Sicherung‘ durch das Getragensein vom Ja nicht ernstzunehmendes sei, sondern verdeutlicht auch hier wiederum das Irreduzibilitäts- und Reziprozitätsgefüge der Momente innerhalb des Prinzips, die zwar im Kreuz Christi ihre größtmögliche Differenzhaftigkeit erfahren, da hier das konkrete Moment tatsächlich und nicht nur abstrakt konkret ist, letztlich aber als Momente aufgehoben sind im absoluten Prinzip. Ja und Nein, die in vollendeter Absolutheit über den Christus am Kreuz ergehen, sind mithin in paradoxer Weise in concreto in völliger Gleichzeitigkeit und Gleichberech————— aufzuschwingen misszuverstehen. Vielmehr betont Tillich die Notwendigkeit, dass das Geheimnis um die Gottheit Gottes erhalten bleiben muss: „Aber obgleich dies der tiefste Blick in die Tiefe der Gottheit ist, so darf es doch nie den Charakter des heiligsten, zartesten Geheimnisses verlieren, das nur von ferne geahnt wird; und darum hat die Kirche sich auch mit bewunderungswürdigem Takt gehütet, dies höchste Paradox dadurch gewöhnlich zu machen, daß es in die offizielle kirchliche Sprache aufgenommen wird.“ (D §11; 357) 145 Vgl. Kap. 1.3.1.2 Abschnitt (4). 146 Vgl. D §11; 356: „Ein tieferes absoluteres Nein zu dem Zustand der Sündhaftigkeit als das Kreuz und die Verzweiflung des Sohnes Gottes ist nicht möglich.“ 147 Vgl. Kap. 1.3.1.2.

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tigtheit geeint. Konkret vorstellig wird dies, indem „sich das Prinzip der Theodizee [vollendet]“ (D §11; 356), weil Gott selbst das von ihm ausgesprochene Nein auf sich nimmt und somit seinen auf alle Relativität als sündhafte gerichteten Zorn selbst trägt. Durch diese Selbstattribuierung des negierenden Elements seitens Gottes gegenüber der aus ihm herausgesetzten Relativität, d.h. die Anwendung des Neins der heiligen Liebe auf Gott selbst, ist das bedingungslose Ja Gottes zum Negierten allererst in vollendet-absoluter Form möglich, was bedeutet, dass nicht mehr ein abstraktes Getragensein der unter dem Zorn Gottes stehenden sündhaften Relativität, sondern eine im Paradox konkret erfolgte Rechtfertigung statthat dergestalt, wie sie das abstrakte Prinzip vorstellt – nur diesmal konkret, also für den Standpunkt der Relativität ansichtig im Kreuz Christi.148 Der inhaltliche Aspekt des Kreuzesgeschehens ist – wie dargestellt – primär an den Ergebnissen der philosophischen Analysen Tillichs orientiert bzw. stellt als das im Prinzip Prinzipiierte die Rechtfertigungslehre als das Kriterium schlechthin in den Mittelpunkt. Dadurch bleibt die inhaltliche Anschauung des Kreuzes Christi bei aller Konkretheit des Kreuzesgeschehens trotzdem eine notwendig abstrakte, weil sie ihre Explikation in Hinblick auf das Absolute bzw. dogmatisch gesprochen: auf die innertrinitarischen Momente vornimmt, so dass das im Kreuz ansichtige Rechtfertigungsgeschehen weitestgehend ein außerhalb des Relativen sich vollziehendes, primär von Gott her statthabendes Unterfangen vorstellt. Die sich stellende Frage ist somit die der Möglichkeit der Selbstattribuierung des im Kreuz geschehenden Erlösungshandelns Gottes für den Menschen, also die Frage nach der letzten und notwendigen Konkretheit des Kreuzes. Der adäquate Terminus für die Übertragung des im Kreuz Christi erfolgten Versöhnungshandelns ist nach Tillich der der Stellvertretung.149 Die Bedingung der Möglichkeit der Selbstattribuierung des Heilsgeschehens ist Tillich zufolge dreifacher Natur: Erstens darf die Gottheit Gottes – was für Tillich ————— 148

Vgl. D §11; 356: „Eben darum aber ist derselbe Vorgang [sc. der der völligen Verneinung] das höchste, rettende Ja, das Gott für den Zustand der Sündhaftigkeit hat. Denn hier vollendet sich das Prinzip der Theodizee: Gott nimmt ganz teil am Leiden und Sterben und der Gottverlassenheit der Menschheit. Er nimmt das Nein der heiligen Liebe auf sich selbst: Das ist das absolute Ja.“ Auch wenn Tillich an dieser Stelle den Rechtfertigungsgedanken nicht expressis verbis erwähnt, so ist dieser ob des Umstands, dass mit der Gleichzeitigkeit von Ja und Nein sein genuiner Inhalt zum Ausdruck kommt, trotzdem auch für den konkret dogmatischen Teil der Christologie in Anschlag zu bringen. Tillich setzt hier das, was er fundamentaltheologisch erörtert hat, voraus, wie es auch die Verwendung des Theodizeegedankens zeigt, der ebenfalls keine weitere Explikation erfährt, da diese bereits an früherer Stelle von Tillich vorgenommen wurde. 149 Vgl. die These zu D §12; 357: „Von den verschiedenen Begriffen, in denen dieser Vorgang [sc. der der Versöhnung] begreiflich gemacht wird, ist der wichtigste der der Stellvertretung Christi für die Menschheit.“

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seine Absolutheit bedeutet – im Kreuzesgeschehen nicht verletzt werden, d.h. es sind jegliche mechanistische Vorstellungen, die Gott vom Kreuz abhängig machen, so dass er für das Erlösungshandeln an es gebunden ist, abzulehnen.150 Zum Zweiten darf die Absolutheit Gottes jedoch im Kreuzesgeschehen nicht dergestalt Anwendung finden, dass – worin die rein inhaltliche Schilderung dessen, was sich am Kreuz ereignet, zu fallen droht – sie als rein abstrakte vorstellig wird, weil dadurch das originäre telos des Erlösungsgeschehens verfehlt würde, indem die Erlösung das Relative, für das sie bestimmt ist, nicht erreichen würde. Der dritte unstatthafte Punkt ist gegeben durch die Überbetonung der Relativität des Objekts der Erlösung; sobald hier Unmittelbarkeit herrschen würde, käme es zu einer Replizierung der Sünde, weil das Einzelsubjekt ja allererst in vermittelter Unmittelbarkeit wahrhaft es selbst ist, so dass auch die Attribuierung des Heilsgeschehens immer nur vermittelt erfolgen kann, ansonsten wird die Rechtfertigungstat Gottes nach Tillichs Nomenklatur ‚unsittlich‘.151 Aus der Systemkonzeption Tillichs heraus betrachtet wird auch hier wiederum das Einheits- und Differenzverhältnis von Absolutheit und Konkretheit thematisiert, indem einerseits einem Zuviel an Absolutheit, andererseits einem Zuviel an Konkretheit gewehrt wird, weil beide Perspektiven in abstrakter Isoliertheit das Verhältnis der beiden Relate verfälschen würden; gleichsam ist wiederum das Hierarchieverhältnis von absolut und konkret klar zugunsten des Absoluten bestimmt, wenn die Gottheit Gottes die unantastbare Konstante auch im Versöhnungsgeschehen darstellt, was insofern konsequent ist, als es eben die Absolutheit Gottes ist, die Einheit von Absolutheit und Konkretheit trotz und in ihrer Differenz garantiert, so dass das Moment der Absolutheit sowohl Moment als auch Ausdruck des Gesamtprinzips ist. Tillich gelingt es somit auch hier, sein theologisches Grundprinzip durchzuhalten. Den Heilsmechanismus und die damit verbundene Einschränkung der Freiheit Gottes versucht Tillich mit seiner Definition von Stellvertretung als „nichts andres als das Eingehen Gottes in die Welt, die unter seinem Zorn steht“ (D §12; 358 und ähnlich 359) abzuwehren. Indem Gott seinen eigenen Zorn über sich kommen lässt und ihn trägt, was sich darin äußert, dass ————— 150 Paradigmatisch wird von Tillich diese Gefahr an der Konzeption Anselms von Canterbury aufgezeigt; vgl. D §12; 358. 151 Vgl. D §12; 358: „Die Stellvertretung darf nicht unmittelbar auf den einzelnen bezogen werden, dann wird sie unsittlich; sie darf nicht lediglich objektiv gefaßt werden, dann wird sie unwirksam; und sie darf nicht mechanisch und Gottes Freiheit einschränkend gefaßt werden, dann wird sie unwahr.“ Die Reihenfolge der Bedingungen für die Möglichkeit der Stellvertretung wird schon von Wegener in einer Randbemerkung kritisiert (vgl. EW IX, 358 Anm. 238) und lässt sich – wie oben erfolgt – logisch auch aus dem Prinzip Tillichs heraus besser in umgekehrter Reihenfolge explizieren.

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er dem Standpunkt der Sündhaftigkeit gleich wird, erweist sich seine Versöhnungstat nicht als auf den Kreuzesmechanismus determiniert, sondern als eine „freie Tat der heiligen Liebe“ (D §12; 358) Gottes. Die Sündenvergebung und das Kreuzesgeschehen sind keine voneinander zu trennenden Akte, sondern koinzidieren in der Liebestat Gottes, die somit nicht erst durch das Kreuz ermöglicht wird, sondern mit diesem identisch ist: „der Akt des Kreuzes und der Sündenvergebung ist der gleiche Akt: das Eingehen Gottes in den Stand der Sündhaftigkeit.“ (D §12; 358) Eben dieses „Eingehen Gottes“ in die Relativität oder die Sündhaftigkeit ist es auch, was die Vermittlung der Versöhnung Gottes mit den Menschen für den Einzelnen bewirkt. Durch „die konkrete Erfüllung des Paradoxes der Rechtfertigung“ (D §12; 359) in der Person, im Handeln, der Lehre und im Kreuzestod Jesu Christi wird ermöglicht, was unter den Bedingungen der Relativität bzw. der Sündhaftigkeit schlechterdings unmöglich ist: „Gemeinschaft mit Gott trotz der Sündhaftigkeit“ (D §12; 359; Hervorhebung S.D.). Es geht im Kreuzesgeschehen aus konkreter Perspektive mithin nicht um die rein inhaltliche Anschauung dessen, was im Versöhnungshandeln Gottes prinzipiell bzw. inhaltlich statthat, sondern im Versöhnungsgeschehen selbst, in dem eben Kreuz und Sündenvergebung in eins fallen, hat eine derartige Unmittelbarkeit statt, dass – wie es der Gemeinschaftsbegriff ausdrücken möchte – sie nicht mehr rein inhaltlich gefasst werden kann. Der versöhnende Gott gibt direkt Anteil an der den Relativitätsstandpunkt erlösenden Einheit des göttlichen Lebens.152 Dass auch diese Unmittelbarkeit letztlich eine über die Form des Paradoxes vermittelte ist, fügt der Direktheit des Kreuzesgeschehens keinen Schaden zu, weil die Erlösungskraft der Teilhabe am göttlichen Leben für das nach wie vor der Relativität Verhaftete auf keine andere Weise anschaubar werden kann als im Paradox des Kreuzes. Der einzelne Mensch ist in die Gemeinschaft mit Gott insofern mit hineingenommen, als das negative wie auch das positive Urteil Gottes über den Standpunkt der Sündhaftigkeit als ganzen gesprochen ist.153 Ebenso wenig, ————— 152

Die unmittelbare Wirkung, die das Kreuz Christi durch die Aufnahme des Einzelmenschen in die Gemeinschaft mit Gott hervorruft, wird auch durch eine später hinzugefügte Randbemerkung Tillichs bestätigt: „Das Kreuz wirkt unmittelbar, der Rechtfertigungsgedanke mittelbar, dort von Gefühl zu Intellekt, hier von Intellekt zu Gefühl.“ (EW IX, 361 Anm. 245) 153 Insofern mit dem Standpunkt der Sündhaftigkeit auch der Standpunkt der Relativität und somit die Relativität als solche von Gott gerechtfertigt ist, kann Tillich die Versöhnung nicht auf den Menschen bzw. allgemein gesprochen: das sündhafte Objekt als solches begrenzt sein lassen, sondern sie in kosmischer Dimension erweitern: „Das Kreuz Christi ist der Ausdruck einer kosmischen Tatsache, eine absolute Gottestat, deren Folgen für das ganze Weltgeschehen bestimmend sind. Die grundlegende Beziehung aber hat es auf die Sphäre der subjektiven Sündhaftigkeit, die Menschheit, in der ja auch die Sünde in ihrem innersten Wesen zur Verwirklichung kommt.“ (D

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wie der Einzelne als Einzelner, d.h. im Gegenüber zu Gott, außerhalb der Sündhaftigkeit stehen kann, ist er von der allgemeinen Aufnahme in die Gemeinschaft mit Gott ausgenommen. Die Versöhnung hat somit in zweierlei Form statt: Einerseits ist der einzelne Mensch durch die prinzipielle Rechtfertigung des ganzen Standes mit Gott versöhnt, weil er als dem Stand der Sündhaftigkeit zugehörig in der Akzeptanz und Aufnahme des kompletten Standes durch Gottes Eingehen in eben diesen Stand mit aufgenommen ist in die Gemeinschaft mit Gott. Andererseits stellt Jesus Christus das konkrete Moment des theologischen Prinzips dar, d.h. er ist ein bestimmter, einzelner Mensch und betrifft in seiner konkreten Einzelheit und dem damit verbundenen Geschick jedwede andere Einzelheit als gleichwertiges Gegenüber mit. „Auch an ihn, der selbst ein einzelner geworden ist, sind alle einzelnen gebunden; was Gott an ihm tut, tut er an allen“ (D §12; 359). Jedoch, so ist zu ergänzen, hat auch das stellvertretend erfolgende Versöhnungsgeschehen für den Einzelmenschen nur Geltung, insofern die bedingungslos angebotene Gemeinschaft mit Gott in ihrer paradoxen Struktur als solche angenommen wird.154 Akzeptanz der konkreten Form dessen, was im Paradox inhaltlich prinzipiell vorstellig wird, ist somit schlechterdings die Bedingung der Möglichkeit, vom Paradox her das versöhnende Heilshandeln Gottes überhaupt empfangen zu können.155 Tillich bedient sich hier offensichtlich eines mit dem Paradoxbegriff156 schon an sich verbundenen Gedankenguts Kierkegaard’scher Provenienz, wenn er das vom Paradox ausgehende und mit ihm verbundene – um mit dem Vokabular Kierkegaards zu sprechen – „Ärgernis“157 bzw. dessen Annahme als Notwendig————— §12; 357; Hervorhebung S.D.) Das Spätwerk Tillichs verdeutlicht die Übertragung, ja Entsprechung von subjektiv sündhafter und objektiver Relativität dahingehend, dass es die der individuellen Subjektivität anwesende Sündhaftigkeit als mit der Subjektivität bereits im Anorganischen prinzipiell angelegt expliziert. Vgl. dazu ST III, 21–133. 154 Vgl. D §12; 359: „Weil Gott im Kreuze Christi in Zeit und Raum gezeigt hat, daß er den Stand der Sündhaftigkeit mit Leiden, Sterben und Gottverlassenheit zugleich verneint und für sich selbst als Leiden trägt, weil so die Sünde begriffen und damit prinzipiell überwunden ist, kann der einzelne die Gewißheit haben, daß auch er als Glied dieses Standes der Sündhaftigkeit getragen und gerettet wird von Gott, insofern er das göttliche Nein, das im Kreuze über den Standpunkt der Sündhaftigkeit ergangen ist, auch für sich gültig sein läßt.“ (Hervorhebungen S.D.) 155 So auch Falk Wagner, Christus, 243. 156 Der Paradoxbegriff bei Tillich leitet sich nach Hermann Fischer, Die Christologie als Mitte des Systems, in: ders. (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt a.M. 1989, 207–229, hier: 213, von Kierkegaard her. 157 Vgl. etwa Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, übersetzt, mit Einleitung und Kommentar hg. von Hans Rochol, Hamburg 1995, insbes. 83–88, wo Kierkegaard das Paradox als ‚Möglichkeit zur Sünde‘ bestimmt – wenn auch im Gegensatz zu Tillich hier weniger die menschliche Hybris Gott gegenüber als vielmehr der Zweifel am Interesse und dem Bezug zum Menschen von Seiten Gottes, also letztlich die sich zum Menschen herablassende Absolutheit Gottes als eine anstößige, unter den Ärgernisbegriff subsumiert wird. Vgl. zu Tillich und Kierkegaard: Joachim

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keit für die Teilhabe an der Versöhnung erklärt. Indirekt ließe sich – vorausgesetzt man sieht in der Tillich’schen Fassung des Paradoxbegriffs tatsächlich eine, wenn auch modifizierte, Adaption des Begriffs, wie er bei Kierkegaard Verwendung findet – somit das Prinzip der Selbstüberwindung, das ja letztlich das von Seiten der reinen Relativität auftretende Anstößige am Paradoxbegriff darstellt, auch auf dieses, an Kierkegaard angelehnte Paradoxverständnis zurückführen. Freilich gewinnt die Bedingung der Annahme dessen, was im Paradox konkret wird, bei Tillich bei weitem nicht die Bedeutung, wie das im Paradoxverständnis Kierkegaards der Fall ist; allerdings lebt der Ärgernisaspekt bei Tillich fort im Prinzip der Selbstüberwindung, das seinerseits nun jedoch von entscheidender, konstitutiver Bedeutung ist für das theologische Prinzip und somit für das Paradox selbst: ohne Selbstüberwindung, die ja letztlich nichts anderes meinen will als die Anerkenntnis der Vermitteltheit der eigenen Unmittelbarkeit, ist das Paradox als solches nicht fassbar, weil eben die intuitive Perspektive, d.h. das Sich-Stellen in die immer schon vermittelte Unmittelbarkeit des eigenen Selbst, mithin der theologische Standpunkt, unabdingbare Voraussetzung ist für die Erkenntnis des Paradoxes. Der Ansatz Tillichs, die Notwendigkeit der Akzeptanz des im Kreuz stattfindenden Geschehens in Anschlag zu bringen, führt allerdings zu einer notwendigen weiteren Problematisierung des Vorgehens Tillichs. Ist nämlich die Erfassung des Paradoxes letztlich abhängig von dessen Annahme, d.h. mit der Übernahme des theologischen Standpunkts, so wäre das Paradox als solches insofern als defizitär zu charakterisieren, als es nicht in der Lage wäre, die Versöhnung des Menschen mit Gott konkret zu initiieren; eine abstrakte Vermittlung könnte dem Kreuz selbstverständlich zugesprochen werden, allerdings ist dies nicht genuines Anliegen des Kreuzesgeschehens. Es gilt mithin an das Tillich’sche Konzept der theologia crucis die Frage heranzutragen, die bisher nicht befriedigend von Tillich beantwortet werden konnte: Wie kann das Kreuzesgeschehen ganz real, d.h. konkret, für den einzelnen sündhaften, der Relativität verhafteten Menschen in Wirkung treten, ja, wie kann es überhaupt zu einer Erkenntnis des Parado————— Ringleben, Paul Tillich als Denker des Seins – zwischen Hegel und Kierkegaard. Eine philosophische Perspektive, in: Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm (Hg.), Wie viel Vernunft braucht der Glaube? (Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung. International Yearbook for Tillich Research. Annales internationales de recherches sur Tillich, Bd. 1/2005), Wien 2005, 101–118. Ringleben stellt ebenfalls eine „völlige Umdeutung“ (ebd., 112) der Begrifflichkeiten Kierkegaards bei Tillich fest, auch wenn er dabei auf den Ärgernis-Begriff nicht eingeht (für die nach Ringleben relevanten Begriffe vgl. ebd., 111 und dazu Anm. 104). Vgl. auch Christophersen, Kairos, 69, und Neugebauer, frühe Christologie, 264 Anm. 496, der dezidiert die Lektüre von ‚Die Krankheit zum Tode‘ bei Tillich voraussetzt.

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xes als solchem durch das Kreuz Christi kommen? Tillich möchte dieses Problem über die Vernetzung von immanenter und ökonomischer Trinität lösen, die er in zweifacher Weise exponiert: Einerseits ist es die schlechthinnige, mit dem Menschsein Jesu Christi gegebene gleiche Ausgangsbasis, die bewirkt, dass der Mensch nicht nur in prinzipieller Hinsicht, sondern ganz konkret gerechtfertigt ist. Das Einzelselbst als konkretes Individuum ist allererst durch sein Herausgesetztsein aus der Absolutheit Gottes, welches seinerseits wiederum geborgen ist in der immanent-göttlichen Differenz von Gott in seiner Absolutheit und Gott in seiner Konkretheit oder Gott als Vater und Sohn. In diesem über den Sohn Gottes vermittelten direkten Gottesbezug des Menschen kann Tillich das im Kreuzesgeschehen statthabende und den konkreten Christus Jesus betreffende Versöhnungsbzw. im Endeffekt Rechtfertigungsgeschehen als nicht nur über den konkreten Gottessohn, sondern über den Menschen als Menschen qua seiner Gesetztheit als solcher im Gottessohn ergangenes aussagen:158 „was Gott an ihm tut, tut er an allen.“ (D §12; 359) Des Weiteren kann die Stellvertretung Jesu für die Menschheit bzw. jeden einzelnen Vertreter von ihr erst dadurch tatsächlich stattfinden, dass das Rechtfertigungsurteil auch über die Menschheit berechtigte Anwendung finden kann. Dies ist nach Tillich garantiert, indem der Menschheit das Urteil in synthetischer Hinsicht zugesprochen wird, weil es in absoluter Sicht erhoben wird und daher relative Kriterien keine Rolle spielen, Christus als der die absoluten Kategorien trotz und in der Konkretheit Erfüllende aber in analytischer Weise gerechtfertigt ist.159 Mutet dieser zweite Punkt etwas zu juristisch für die sonstige ————— 158

Vgl. D §12; 359: „Zugleich muß zur Vollendung des Stellvertretungsgedankens daran erinnert werden, daß ja das einzelne als einzelnes gesetzt ist in dem konkreten Moment Gottes, dem Sohn; daß darum, was den Sohn trifft, jeden einzelnen angeht und mittrifft. Auch an ihn, der selbst ein einzelner geworden ist, sind alle einzelnen gebunden“. 159 Vgl. D §12; 360: „Es wird der Menschheit eine Gerechtigkeit zugesprochen, die sie nicht hat, das Urteil Gottes ist synthetisch, nicht analytisch, es richtet sich nach dem, was Gott der Menschheit anrechnet, nicht nach dem, was er an ihr findet. Und dennoch ist das Urteil nicht ungerecht; denn in Christus findet ja Gott das, was er der Menschheit zuspricht: Auf ihn gesehen ist das Rechtfertigungsurteil analytisch.“ Ergänzend angeführt sei nur, dass es fraglich ist, ob Tillich dieses bedrohlich zu einem mechanischen Verständnis neigenden Erklärungsmusters überhaupt bedarf – zumal er ja selbst alles „Rechnerische, Quantitative“ (D §12; 358) aus der Stellvertretungslehre ausgeklammert wissen möchte. Eigentlich ist in Tillichs System die Frage nach der Gerechtigkeit des Rechtfertigungsurteils bereits in der konkreten Verwirklichung des Paradoxes in Jesus Christus positiv beantwortet, so dass die Übertragbarkeit auf die Einzelmenschen durch den engen Zusammenhang vom Verhältnis Gottes zu Christus und Gottes zu den Menschen nur eine folgerichtige ist, die ob der vermittelten Daseinsform des Konkreten keiner weiteren Begründung zugeführt werden müsste. Was im Konzept Tillichs deutlich stärker unterbelichtet ist, nämlich die Möglichkeit der Übertragung des in Bezug auf Christus erfolgten Rechtfertigungsurteils auf das konkrete Einzelne, wird dadurch eher in noch höherem Maße abstrahiert, als zu einer konkreten Bestimmung gebracht.

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Argumentationsstruktur Tillichs an, so hebt die Erklärung der Rechtfertigung des Einzelnen durch sein stetes Ver- und Rückgebundensein an das konkrete Moment Gottes, wie es in Jesus von Nazareth ansichtig wird, konsequent vom Prinzip Tillich’scher Theologie an. Zwischen dem konkreten Kreuzesgeschehen und seiner inhaltlich-abstrakten Bestimmung besteht wiederum ein derartiges Wechselverhältnis, dass sich beide Pole gegenseitig bestimmen, wodurch die Vermittlung der im Kreuz Christi erfolgten Rechtfertigung, mithin die Stellvertretung für den gesamten Standpunkt der Sündhaftigkeit in konkreter, wenn auch paradox-konkreter Form vorstellig zu werden hat. Auf den Punkt gebracht: Der Mensch ist überhaupt erst vermittels seines Gesetztseins durch den Sohn Gottes, weshalb der Gottesbezug des konkreten bzw. inkarnierten Gottessohnes in so enge Analogie mit dem Gottesbezug des einzelnen Menschen zu setzen ist, dass die völlige Konkretheit des Christus eine Stellvertretung für die gesamte Menschheit zu bewerkstelligen vermag. Der Christus ist das Paradox in Reinheit – allerdings in völlig konkreter Form. Dadurch ist er dem Einzelmenschen näher als dieser sich selbst und vermag daher das Rechtfertigungsurteil Gottes stellvertretend für den konkreten Einzelnen zu übernehmen. Letztlich treibt diese Analyse des Tillich’schen Stellvertretungsverständnisses wiederum auf die grundsätzliche Frage zu, die sich bereits herausgestellt hat, nämlich wie sich das theologische Prinzip zu seinem konkreten Moment, dem Christus Jesus, verhält. Diese Frage wird ausführlich im nächsten Kapitel zu diskutieren sein. (3) Nach der Absolutheit von Jesu Rede und Werk sowie der Konkretheit des Kreuzesgeschehens ist das dritte, absolute Moment der Christologie bestimmt als Erhöhung des gekreuzigten Gottessohnes. Konkret thematisiert Tillich hier die Auferstehung Jesu Christi als – wie es dem dritten Moment des Prinzips anwest – dem Prinzip nichts Neues Hinzufügendes, jedoch die beiden vorangehenden Momente der Abstraktheit und Konkretheit in die Synthesis Überführendes.160 Da im Kreuz Christi sowohl Absolutheit als auch Konkretheit – nicht nur in innerchristologischer Dimension – bzw. Herrlichkeit und Niedrigkeit ihr weitestes Trennungsmoment erreichen, gleichzeitig aber in der einen konkreten Person Jesu von Nazareth vereinigt sind, ist die Auferstehung schlechterdings nichts anderes als „die Konsequenz des Kreuzes“ (D §13; 361), d.h. die völlige Differenzhaftigkeit des Differenten, die gleichzeitig in völliger konkreter Einheit im Kreuz Christi ansichtig wird, wird verabsolutiert, was bedeutet, dass sie als Synthesis des Differenten in die Vollendung überführt wird. Waren im ————— 160 Vgl. D §13; 361: „Die Erhöhung bringt kein neues Moment in die Bedeutung des Christus für die Rettung vom Standpunkt der Sündhaftigkeit.“

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Kreuz bereits alle Momente in Vollständigkeit ansichtig, so kommt es der absoluten Perspektive der Auferstehung Jesu Christi zu, diese Momente als aufgehobene oder besser: als im Begriff des Aufgehobenwerdens befindliche zu klassifizieren und somit das Paradox als solches bis zur Selbstauflösung an seine Grenze zu führen.161 Mit anderen Worten: Was im Kreuz Christi in größtmöglicher Differenz – die trotz ihrer Differenzhaftigkeit als in Einheit geborgene vorstellig zu werden hat – zum Tragen kommt, mutiert in der Auferstehung Christi zu einem – allerdings konstitutiven – Moment des Gesamtprinzips; dabei werden die Aspekte von Absolutheit und Konkretheit von ihrer höchsten Gespanntheit im Kreuz trotz und in ihrer Gespanntheit als geeinte in die absolute Synthesis aufgenommen, was letztlich zu einem Dahinfallen des Spannungsmomentes als solchem führt, weil die Einzelpole im absoluten System auch in ihrer Differenzhaftigkeit nicht mehr voneinander geschieden werden können. Die Spannung ist im absoluten Sinne nicht aufgelöst, aber in Einheit aufgehoben. Für den Einzelmenschen bedeutet dieser absolute Vollzug der Erhöhung Christi nach Tillich die Wiedergeburt, weil im Erhöhungsgeschehen faktisch zur Anwendung kommt, was prinzipiell bereits die durch das Kreuz Christi statthabende Versöhnung initiierte:162 Die Sündhaftigkeit und ihre ————— 161

Vgl. D §13; 361: „[I]nsofern bedeutet die Erhöhung die Aufhebung der absoluten Paradoxie, wie das dritte Moment des theologischen Prinzips die Aufhebung der theologischen Paradoxie überhaupt enthält.“ 162 Somit ist Georg Neugebauer zwar zuzustimmen in seinem Urteil, das Kreuz stelle „für Tillich das Zentralsymbol der christlichen Religion dar – das aber keineswegs allein als Repräsentant des Versöhnungsgedankens, sondern als prinzipielle Veranschaulichung des Paradoxes.“ (Neugebauer, frühe Christologie, 288) Allerdings greift diese Bestimmung zu kurz, wenn mit ihr nur repräsentative oder prinzipielle Assoziationen verbunden werden. Gerade die Auferstehung Christi als Konsequenz des Kreuzesgeschehens sowie Wirken und Rede Jesu weisen innerhalb der Systematik Tillichs auf deren konstitutive Funktion hin. Eine Suspendierung von ihnen – sowie Neugebauer sie in seiner Konzentration allein auf die Passion Christi vornimmt (vgl. ebd., 281) – führt mithin zu einem verzerrten Bild. Neugebauer hat Recht damit, dass just das Kreuz der Ort ist, „an welchem der prinzipielle Standpunkt der Rechtfertigung und der geschichtliche der Christologie konvergieren“ (ebd., 282). Auch dass es Tillich im Kreuzesgeschehen nicht um ein rein religiössoteriologisches Geschehen, sondern um eine kosmische Dimension geht (vgl. ebd., 283), ist mit Nachdruck zu unterstreichen. Wird jedoch der Aspekt unterbetont, dass Tillich vehement darauf hinweist, der Christus sei eben dieser Jesus von Nazareth, der eine konkrete Mensch, dann wird das verkannt, was Tillich im Paradoxbegriff aussagen möchte. Sicherlich ist Tillichs Geschichtsverständnis ein spezifisches (vgl. Kap. 1.3.2.1 und 1.3.2.3) – damit ist jedoch nicht gleichzeitig ausgesagt, dass sein Paradoxverständnis ausschließlich ein allgemeines sein will. Dies meint Neugebauer aber annehmen zu können, wenn er das Kreuz Christi als Explikation des Paradoxbegriffs dem theologischen Prinzip enthoben glaubt (vgl. Neugebauer, frühe Christologie, 281). Dieses Ansetzen ist schon deshalb nicht möglich, weil Paradox und theologisches Prinzip für Tillich ein und dasselbe sind. Des Weiteren ist das Paradox theologische Methode nicht nur im Leiden Christi, sondern in allen dogmatischen Topoi. Wechselndes Element ist ausschließlich der Betrachtungsmodus, mithin das jeweilige Moment. Dabei stellt das Kreuz Christi die Konkretisie-

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höchste Konsequenz, der Tod des Einzelwesens, ist überwunden durch die Aufnahme des Relativen und damit des durch seine Relativität und durch den heiligen Zorn Gottes über das sündhafte Relative dem Tod Anheimgegebenen in die Absolutheit Gottes.163 Das Relative als solches ist trotz und in seiner Sündhaftigkeit kraft der Auferstehung und der mit ihr einhergehenden Erhöhung des völlig konkret gewordenen Absoluten reintegriert in die einende Absolutheit des Absoluten dergestalt, dass das Relative als solches, d.h. als sündhaftes, weil in schlechthinniger Differenz und Abkehr zu Gott stehendes, integrativer Bestandteil der Absolutheit oder – dogmatisch gesprochen – der Gottheit Gottes wird. Tillich fasst dieses Geschehen knapp und bildhaft in folgendem Satz zusammen: „Gott trägt die Züge Jesu von Nazareth, das ist die ungeheure religiöse Paradoxie, die dem trinitarischen Gedanken zugrunde liegt.“ (D §14; 365) Damit sind der Kern und der Zielpunkt von Tillichs christologischem Konzept erreicht. Einerseits bewahrt Tillich somit das genuine Anliegen der Zweinaturenlehre, indem er sowohl die völlige Gottheit Jesu als auch das vollkommene Menschsein des Gottessohnes auszusagen vermag; andererseits markiert Tillichs Explikation des Christusereignisses insofern seine über das altkirchliche Urteil hinausgehende Originalität, als das theologische Prinzip sich in einer Verknüpfung immanenter wie ökonomischer Trinität bis hinein in die differenziertesten Einzelverästelungen des dogmatischen Teils durchzieht und die Christologie in ihrer Vollendungsform der Auferstehung letztlich das Kreuzesgeschehen als die Tat Gottes kennzeichnet, in der es gelingt, die aufs Äußerste entzweiten Pole von absolut und konkret gerade in ihrer extremen Differenzhaftigkeit als in der absoluten Synthesis aneinander rückgebunden auch für das Konkrete im Paradox vorstellig zu machen, so dass im Rahmen der Christologie die Paradoxie gewissermaßen in gegenläufiger Bewegung eine doppelte ist: Das Absolute ist unbeschadet seiner Absolutheit eingegangen in das Konkrete und das Konkrete wird unbeschadet seiner Relativität aufgenommen in das Absolute. Was das Kreuz als in Aufhebung befind————— rung prinzipieller Verfasstheit schlechthin dar, so dass eben hier das Prinzip für die Reflexion seine – paradoxale – Möglichkeitsbedingung für Rezeption findet (vgl. auch ebd., 282). Konkretheit meint dabei aber echte, historische Bestimmtheit. Andernfalls wird der Paradoxbegriff Tillichs unterbestimmt und um seine eigentliche Pointe – die Neugebauer ja durchaus erkennt – gebracht; vgl. auch S. 171f Anm. 118. 163 Vgl. D §13; 361f: „Und daraus folgt, daß, wie das Kreuz die Versöhnung bringt, d.h. die prinzipielle Aufhebung des Gegensatzes von Gott und Mensch, so die Erhöhung die Wiedergeburt bringt, d.h. die faktische Überwindung des Zustandes der Sündhaftigkeit. Dies ist aber darin begründet, daß Christus auch die faktischen Konsequenzen dieses Standpunktes, deren vollendeter Ausdruck der Tod ist, überwunden hat. Wer darum mit Christus stirbt, d.h. den Stand der Sündhaftigkeit für sich prinzipiell verneint, der wird mit Christus auferstehen, d.h. die Konsequenz dieses Standes, dessen letzte Folge der Tod ist, überwinden.“

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lich vorstellt, nämlich die Relativtät als solche, zeigt die Erhöhung Jesu Christi als praktisch, d.h. wirkkräftig, vollzogen an, ohne dass damit freilich die Relativität an sich aufgehoben wäre – dies bleibt letzte Forderung des Paradoxes, wie sie sich – wie noch zu zeigen sein wird – in der durch die Wiedergeburt hervorgebrachten Hoffnung realisiert. Die Selbstüberwindung des Paradoxes ist de facto realisiert, ihre Vollendung steht jedoch als eschatologische Hoffnung noch aus. Die Art der Auferstehung, also die Vorstellung, wie diese sich vollzieht, ist nach Tillich vollkommen irrelevant,164 weil eben nur das, was im Kreuz geschieht, als in Vollendung gefasst bzw. – im Hinblick auf den konkret Einzelnen – zur Vollendung bestimmt angenommen werden muss – andernfalls kommt die Ablehnung der Auferstehung notwendigerweise einer Ablehnung auch des Kreuzesgeschehens gleich, weil dessen konkrete Faktizität verkannt wäre.165 Dies bedeutet umgekehrt, dass die Auferstehung Christi, obwohl sie nichts Neues in die Lehre vom Christus einführt, nicht ein beliebiges, additives Element der Christologie darstellt, sondern als konstitutiv notwendiger Bestandteil des Prinzips zu bestimmen ist, der seine Bedeutung aus der – allerdings entscheidenden – Kombination der beiden Elemente der ersten Momente gewinnt: Erst die Identifikation des Erniedrigten mit dem Erhöhten lässt die Christologie zu ihrem telos gelangen, indem die im Kreuz Christi geeinten Spannungspole ihre Erfüllung darin finden, dass sie nicht nur in der Konkretheit in Einheit vorgestellt werden, sondern diese Einheit unter Einschluss des Konkreten nun ihrerseits wiederum aufgenommen wird in die letzte Absolutheit. Dies und nichts anderes möchte die Auferstehung besagen: Die Rückführung der Einheit des Absoluten und Konkreten in die umfassende Einheit. Die Konsequenz daraus ist schließlich die Wiedergeburt des Einzelnen als Folge der Versöhnung mit Gott, weil das Geborgensein des Einzelnen in der Einheit Gottes das zur Vollendung führt, was in der Versöhnung mit Gott bereits angelegt war, nämlich Gemeinschaft mit Gott unter Negation der Relativität, die eben dadurch absolut bejaht ist.166

————— 164

Diese – analog zu Tillichs Position zum historischen Jesus – beinahe schon notwendige Irrelevanz der Form der Auferstehung repliziert jedoch nicht die Problematik zur Historizität Jesu, weil es – im Gegensatz zu Christi Wirken und Kreuz – hier um die rein absolute Perspektive geht, die zwar letztlich auch mit der konkreten Gestalt Jesu von Nazareth zu tun hat, jedoch nur dergestalt, dass das, was über den irdisch Konkreten zu sagen ist, nun auch in Bezug auf den erhöhten Konkreten in Anschlag zu bringen ist. Der direkten Problemstellung einer Historisierbarkeit entzieht sich die Auferstehung Christi bei Tillich mithin zu Recht durch ihre Perspektivität. 165 Vgl. D §13; 362: „Dagegen ist es vollständig gleichgültig, in welcher Form diese Erhöhung vorgestellt wird. […] Was das theologische Prinzip allein fordert, ist die Anerkennung, daß das Kreuz die wirkliche Erlösung der Welt zur Folge hat, d.h. daß Christus nicht nur prinzipiell, sondern auch tatsächlich den Standpunkt der Sündhaftigkeit überwunden hat, daß er als der einzelne, der zugleich der ewige Sohn Gottes ist, zurückgekehrt ist zu Gott, und darum die Kraft hat, die Welt nach sich zu ziehen.“ 166 Vgl. D §13; 362: „Wie die Auferstehung die notwendige Konsequenz des Kreuzes Christi ist, so ist die Erhebung aus dem Zustande der Sündhaftigkeit die notwendige Konsequenz der Versöhnung mit Gott“.

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Konkret sichtbar und fruchtbar wird die Wiedergeburt als Realisierung absoluter Bedingungen im Zustand der Relativität167 nach Tillich in der Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung, die wiederum die Aspekte von abstrakt, konkret und absolut versinnbildlichend absolut in eins fallen, konkret aber – weil der Zustand der Relativität de facto fortdauert – distinkt sind. Das erste ‚Produkt‘ der Wiedergeburt ist der Glaube. Da es sich um eine „Schaffung des Glaubens, collatio virium credendi, wie die alte Dogmatik sagte“ (D §13; 363), handelt, ist jede Eigentätigkeit des Menschen an der Bewirkung des Glaubens – sei sie nun vollkommen eigenständig oder synergistisch mit Gott gedacht – schlechthin abzulehnen, da die Wiedergeburt als Konsequenz des versöhnenden gnadenvollen Handelns Gottes in Jesus Christus einzig und allein Gottes Tat ist.168 Nach den Maßstäben des Reflexionsstandpunktes steht der Glaube zwar dem Wissen kontradiktorisch gegenüber, der theologische Standpunkt ermöglicht jedoch trotz der im Rahmen der Relativität immer wieder aufbrechenden Unterschiedenheit von Glaube und Wissen eine Einheit beider durch die Bejahung des Paradoxes. Glaube wird dadurch „die von Gott gewirkte Rezeptivität gegenüber dem göttlichen Urteil, das trotz aller Relativität – auch des Glaubens – den Glaubenden (fiducia) absolut spricht.“ (D §13; 363) Mit anderen Worten bewirkt der von Gott geschaffene Glaube im Glaubenden die Möglichkeit zur Annahme des Paradoxes, welches wiederum die Anwendung absoluter Kategorien unter den Bedingungen der Relativität trotz der Relativität und deren ungebrochenen Vorhandenseins allererst ermöglicht. Für das Gesamtsystem bedeutet dies, dass auch der theologische Standpunkt, mithin das Paradox als solches, schlechterdings abhängig von der göttlichen Vermittlung gegenüber dem Einzelnen ist. Eine Interpretation von Tillichs Theologie, die diesen Aspekt nicht beachtet, greift also insofern zu kurz, als selbst die Erkenntnis des Paradoxes in concreto, d.h. die Annahme des Kreuzesgeschehens, niemals vom Einzelsubjekt initiiert werden kann, weil die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis allererst durch die Gabe des Glaubens, die schlechterdings außerhalb menschlicher Möglichkeit liegt, erfüllt ist.169 War der Glaube das mit relativen Kategorien als abstrakt zu beurteilende Moment der Wiedergeburt, so stellt die Liebe dessen konkretes Pendant dar. In Form der Liebe ist die Wiedergeburt „die konkrete Verbindung mit Christus, in die der Wiedergeborene versetzt wird, und die daraus folgende Vereinigung mit allem, was in Christus vereinigt ist, insbesondere den gleichfalls Wiedergeborenen. Das ist die Liebe, die mit dem Glauben unmittelbar eins ist.“ (D §13; 363) Von besonderer

————— 167 Eben dies, nämlich das Eintreten absoluter Bestimmungen in die Sphäre relativer Kategorien, wird in der späten Theologie Tillichs unter dem Stichwort der ‚transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens‘ wieder aufgegriffen, weil dieser Begriff nichts anderes aussagen möchte, als das dritte Moment des theologischen Prinzips: Was eigentlich nicht statthaben kann, die Prolepse der Vollendung im Zustand der Sündhaftigkeit und Relativität, tritt fragmentarisch in den – historischen, wie persönlichen – Kairoi ein. 168 Der Standpunkt der Relativität bzw. Sündhaftigkeit ist ja nicht in der Lage, sich selbst über seine eigene Relativität zu erheben, so dass die Glaubensgabe ausschließlich von Gott her zu denken ist. 169 Dieser Aspekt ist auch für das folgende Kapitel von nicht unerheblicher Bedeutung.

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Bedeutung ist der letzte hier zitierte Satz: Glaube und Liebe sind auf dem theologischen Standpunkt, dessen Hauptcharakteristikum ja das Sich-im-Begriff-der-Auflösung-Befinden seiner eigenen, relativen Voraussetzungen und somit der Aufhebung seiner selbst ist, nicht mehr voneinander zu trennen. Eben deshalb sind Glaube und Liebe unmittelbar eins, weil sie zwei ‚Funktionen‘ ein und derselben Tat Gottes repräsentieren. Der Glaube ist einerseits ‚Aufnahmeorgan‘ für das Paradox und dessen abstrakte Umsetzung. Die Liebe stellt den konkreten, praktischen Teil dar, der sich im Tun in der Welt äußert.170 Eine Kontroverse zwischen Glaube und Liebe ist mithin nur unter relativen Bedingungen, in denen „Sittlichkeit und Religion auseinanderfallen“ (D §13; 364) vorstellbar. Die Auseinandersetzung von römisch-katholischer und protestantischer Seite bezüglich des Verhältnisses von Glaube und Werken gehört daher nach Tillich ausschließlich dem Reflexionsstandpunkt an. Entscheidend ist somit die in der Wiedergeburt göttlich gewirkte Einheit von Glaube und Liebe, die durch das faktische Eingehen des Wiedergeborenen in das Reich Gottes ermöglicht wird. Da sich der Einzelne jedoch ungeachtet der Wiedergeburt nach wie vor unter relativen Bedingungen befindet, bedarf es des dritten Moments, der Hoffnung. Diese ermöglicht als letzte Gabe der Wiedergeburt einerseits die Erhebung über den Gegensatz von Gottes absolutem Urteil und dem eigenen Verhaftetsein und -bleiben in der Relativität und andererseits die Gewissheit, dass die durch die Wiedergeburt geschenkte prinzipielle Einheit in Ewigkeit vollendet wird. „In dieser Dreiheit von Glaube, Liebe und Hoffnung wird die Tat Gottes wirksam für die Menschheit; diese Dreiheit ist Religion oder Christentum im Sinne des theologischen Prinzips“ (D §13; 364).171 Durch das dritte Moment der Christologie ist bereits die Überleitung zur Pneumatologie erfolgt, weil in Tillichs Konzept die Erhöhung Christi und die Lehre vom Geist inhaltlich – entsprechend der Momenthaftigkeit beider Lehren – letztlich nahezu das Gleiche aussagen, nur einmal aus konkreter, einmal aus absoluter Perspektive. Bevor allerdings die Pneumatologie noch die dogmatischen Erörterungen abschließt, sei eine Diskussion der für die Theologie Tillichs besonders in seiner frühen, aber durchaus auch in seinen späten Phasen relevanten Grundproblematik, die bereits mehrfach im christologischen Teil angerissen wurde und auf die im Endeffekt

————— 170 Vgl. D §13; 364: „Der Glaube ist kein intellektuelles Werk, sondern die Tat Gottes, die in eine neue Sphäre versetzt, in der die Liebe Lebensfunktion ist, das Reich Gottes“. 171 Glaube, Liebe und Hoffnung sind nach Doris Lax, Rechtfertigung, 272, „als Momente der Wiedergeburt das anthropologische Spiegelbild der Auferstehung“; dies heißt „zugleich, dass die Wiedergeburt aufs Engste an die Offenbarungstrinität gebunden ist, wobei die Erhöhung/ Auferstehung Christi grundsätzlich am Übergang vom zweiten zum dritten Aspekt der trinitätstheologischen Erwägungen zu stehen zu kommen hat, weil sie Ausdruck des eschatologischen Moments im konkreten ist.“ Wie sie im Weiteren ausführt, hat das Moment der Hoffnung in der Wiedergeburt nicht nur eine Bedeutung als Inbegriff des erhofften Endzustandes, sondern muss als antizipatorisches Geschehen im Hier und Jetzt ansichtig werden: „Alle Eschatologie ist darum das antizipatorische Schauen der Aufhebung, nicht aber Vernichtung des Relativen zum Absoluten, wie es das dritte Moment des Prinzips begrifflich zu umschreiben sucht.“ (Ebd., 274)

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alle problematischen Stellen im Konzept Tillichs zuführen, vor- bzw. der christologischen Erörterung nachgeschaltet.

1.3.2.3 Jesus als der Christus: Konstituens oder ideales Exempel des theologischen Prinzips? Mit der in der Kapitelüberschrift aufgeworfenen Frage ist die Untersuchung des Tillich’schen Prinzips an einem Punkt angelangt, an welchem sich die grundsätzliche Frage nach dem Gelingen bzw. dem Durchhalten des von Tillich aufgestellten Prinzips in seiner Theologie stellt. Die Forschungsliteratur zum prinzipiellen Ansatz geht in ihrer Gesamtheit weitestgehend davon aus – und diese Interpretation wird auch hier vertreten –, dass es Ziel der Tillich’schen Prinzipanlage ist, die von Tillich bei Schelling erkannte aber aus Tillichs Sicht von Schelling unbefriedigend gelöste Frage nach der prinzipiellen Statuierung der Vermitteltheit des Selbstbewusstseins, mithin, „daß es im Denken Tillichs einzig und allein um die Thematisierung produktiven Tätigseins vermittelter Subjektivität geht“172, einer positiven Lösung zuzuführen, die nicht anders zu denken ist, als in dem Aufweis des tatsächlichen Vermitteltseins der Subjektivität, die nicht letztlich in Intransigenz erstarrt.173 Als die profundeste und detailgenaueste Untersuchung und Kritik in diesem Bereich ist nach wie vor die Analyse des Tillich’schen Prinzips in der Schrift ‚Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs‘ von Gunther Wenz maßgeblich, weshalb an dieser Stelle die Wenz’sche Darstellung des Systems Tillichs kurz in ihren zentralen Aussagen rekapituliert werden soll. Nach Wenz findet Tillich seine eigene Grundfrage nach der Vermitteltheit der subjektiven Unmittelbarkeit174 bereits in seinen Dissertationsschrif————— 172

Wenz, Subjekt, 207. Stärker am Freiheitsbegriff orientiert ist Christian Danz, Freiheitsbewußtsein, passim. Allerdings erweist sich eben das Produktivsein des in seiner Tätigkeit vermittelten Subjekts eben als Freiheit schlechthin, ja lässt sich nicht anders explizieren, da gerade Freiheit die Möglichkeitsbedingung für echte Produktivität von Seiten des Subjekts darstellt. Wenz und Danz gehen somit von derselben Grundanlage des Tillich’schen Prinzips aus, wobei Danz sich nur terminologisch stärker am Schelling’schen Vokabular orientiert. Ebenfalls anhand der Kategorien von Freiheit und Produktivität interpretiert Falk Wagner die Theologie Tillichs; vgl. Wagner, Absolute Positivität, passim, und ders., Christus, 237: „Das Denken Tillichs konzentriert sich seiner Themenvielfalt zum Trotz durchgehend auf eine Theorie der menschlich-endlichen Freiheit.“ 173 Vgl. Wenz, Subjekt, 91: „Um die Anleitung zu einem Verständnis der Subjektivität als vermittelter Selbstsetzung und damit um die Thematisierung der Subjektivität in ihrer produktiven, nicht bloß reproduktiven Selbsttätigkeit geht es Tillich ebenso wie Schelling.“ 174 In dieser Form ist das Grundanliegen von Schellings Freiheitslehre nach Gunther Wenz – sicher zu Recht – folgendermaßen zu fassen: „Der individuelle Geist, der sein Wesen in der Unmittelbarkeit seiner selbst und nicht in der Erhebung zum absoluten Geist sucht, verkennt, daß

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ten zu Schelling vor, ohne dabei eine befriedigende Lösung von Schelling zu erfahren, da dessen Ansatz ungewollt, aber zwangsläufig wiederum letztlich in eine unvermittelte Unmittelbarkeit mündet, was sich daraus erklären lässt, dass Schelling die Position des autonomen Subjekts auch in seiner Spätphilosophie nicht im notwendigen Maße und somit niemals tatsächlich, sondern bestenfalls scheinbar aufgibt.175 Hauptkritikpunkt Tillichs an Schelling ist somit, dass bei Schelling letztendlich eine Verabsolutierung der autonomen Subjektivität statthat, die nicht nur dem Schein nach, sondern tatsächlich als letztes Prinzip der Systementfaltung fungiert, weshalb just das eintritt, was der Intention Schellings – die von Tillich als berechtigtes Anliegen aufgenommen wird – strictissime zuwider läuft, nämlich dass das Ziel der Vermitteltheit von Unmittelbarkeit eingeholt wird von einer Unmittelbarkeit, die die intendierte Identität von Identität und Differenz, die gerade die Differenzhaftigkeit des Differenten nicht ausklammert und von der Identität verschlungen sein lässt, in Intransigenz überführt, und somit die beabsichtigte Dynamik des Gesamtsystems am Synthesispunkt, der subjektiven Autonomie, erstarren lässt. Ist somit das Unternehmen Schellings aus Tillichs Sicht ein berechtigtes, so bleibt es in der Durchführung mangelhaft und fällt hinter sein eigentliches Anliegen zurück.176

————— er sich in seiner Faktizität nicht begründen kann, vielmehr beim Versuch das eigene Daß in die Unmittelbarkeit seiner selbst einzuholen, sich in sein Gegenteil, nämlich in ungeistige Selbstheit verkehrt. Damit ist die Subjektivität als zu ihrer unmittelbaren Selbstsetzung unfähig erkannt.“ (Ebd., 66f) 175 Vgl. dazu die beiden Dissertationsschriften Tillichs, einmal die Schrift ‚Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien‘ von 1910 (EW IX, 154–272) sowie die Lizentiaten-Dissertation ‚Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung‘ von 1912 (GW I, 11–108). Die entsprechende Darstellung der Schellingbearbeitung seitens Tillichs bei Gunther Wenz findet sich in Wenz, Subjekt, 58– 110. 176 Vgl. Wenz, Subjekt, 84: „Wir können also Tillichs Schellingkritik auf den Nenner bringen: Würdigung der Intention, Polemik gegen deren Durchführung. Sachlich spitzt sich die Kritik zu in dem Vorwurf, der Idealismus bleibe unüberwunden, die Autonomie werde verabsolutiert.“ Bereits hier lässt sich erkennen, dass Tillich in seiner späteren eigenen Systemkonzeption, wie sie in Sonderheit in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ vorliegt, zwar durchaus an das idealistische Gedankengebäude anknüpft, in der Durchführung des Systems jedoch eine notwendige Distanz zum idealistischen Konzept erkennt, weshalb von einer ungebrochen idealistischen Phase Tillichs bis hin zur Zeit des ersten Weltkriegs wohl nicht in der Stringenz gesprochen werden darf, wie das in der Tillichforschung teilweise praktiziert wurde und wird. Ist die Phaseneinteilung des Tillich’schen Denkens eine an sich schon höchst problematische, so scheint es umso fraglicher den frühen Tillich im Idealismus zu verorten, da das Grundproblem des Idealismus Tillich bis hinein in sein Spätwerk prägt, von der Durchführung idealistischer Anliegen aber bereits hier zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Tillich insofern Abstand genommen wird, als die idealistischen Systeme als in ihrer Durchführung ihrem Anliegen inadäquat entlarvt sind.

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Auf Grundlage dieses Problemhorizonts ist die Tillich’sche Theologie darum bemüht, dem Standpunkt einer unmittelbaren Autonomie177 zu entkommen, was nicht anders zu haben ist als in der religiösen Rückbindung der Autonomie, die jedoch derart zu gestalten ist, dass Religion letztlich kein Exklusivmoment gegenüber dem Allgemeinen von Subjekt und Welt darstellt, weil just die Exklusivität ansonsten in eine allein durch das Subjekt selbst vermittelte umzuschlagen droht, was schließlich wieder auf eine Selbstvermittlung der Subjektivität hinausliefe. Wenz expliziert das systematische Beginnen Tillichs als metalogische Methode, die sich „durchweg als Betrachtung der coincidentia oppositorum […] als – paradox ausgedrückt – ‚transzendentale Erfahrung‘“178 vollziehe. Dadurch sei der Methodenansatz Tillichs gekennzeichnet als Synthesis und damit – entsprechend dem Tillich’schen Denken – als gleichzeitige Negation und Affirmation zweier Elemente, nämlich des Logismus und des Alogismus, die in ihrer Einzelbetrachtung „als Abstraktionen“179 zu klassifizieren seien und eben nur in wechselseitigem Bezug aufeinander in Geltung stehen können. Damit setze Tillich mit einer „Methode der doppelten Negation“180 ein, die letztlich ein Reziprokverhältnis in Anschauung bringe, das ob der ihm innewohnenden Irreduzibilität Abstand nimmt von der Reduzierung des Prinzips auf einen einzelnen Bezugspunkt. Letzteres war noch im Falle Schellings Anstoß der Kritik, weil „[d]ie Schellingsche Subjektivität […] auch in dem Versuch, ihre unmittelbare Selbstidentität zu überwinden, sich selbst verhaftet [bleibt], da sie meint, sich selbst aus eigenem Antrieb ‚verlassen‘ zu können“181. Entgegen dem bei Schelling vorstellig werdenden Selbstbezug ————— 177

Dass Tillich auch Schelling einem solchen Standpunkt zuordnet, wird deutlich, wenn er die idealistische Philosophie als solche im den relativen Standpunkt behandelnden Teil der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ thematisiert und dem Idealismus letztlich ein Verbleiben bei der Reflexion attestiert, das notwendig zu einem Versuch der Selbsterlösung gelangen muss, diesem aber ob der falschen Methode für das eigentliche Anliegen nie gerecht werden kann: „Es ist dies [sc. die Zurückdrängung der Deduktion als Methode] eine Reaktion gegen die idealistische Periode, die ihre Systembildung unmittelbar mit dem absoluten System gleichsetzte, und dementsprechend die deduktive Methode, die sie anwandte, ohne weiteres für die absolute Methode erklärte. Es war der Grundmangel dieses Idealismus, aus dem auch seine geschichtliche Katastrophe zu erklären ist, daß er den Standpunkt der Reflexion für etwas ausschließlich Überwundenes, im absoluten System Aufgehobenes erklärte, anstatt das dialektische Verhältnis zu durchschauen, in dem der Reflexionsstandpunkt dauernd zu dem absoluten Standpunkt sich befindet, nämlich in ihm aufgehoben zu sein und ihm entgegenzustehen.“ (A §17; 308f) Dass Tillich hier – trotz der deutlichen, an seine Hegelkritik erinnernden Darstellung des Idealismus (vgl. hierzu Wenz, Subjekt, 92–95) und der anschließenden expliziten Nennung Hegels – den Idealismus als solchen kritisiert, dürfte evident sein. 178 Wenz, Subjekt, 112. 179 Ebd., 114. 180 Ebd. 181 Ebd., 115.

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der Autonomie, die von sich aus „die Bewegung ihrer Selbsttranszendierung unmittelbar selbst initiieren zu können“182 glaube, komme es Tillich immer auf eine unüberholbare Vorrangigkeit konkreter Offenbarung an, damit das stete Vermitteltsein autonomer Subjektivität keinen selbstbezüglichen Reflex enthalte, sondern immer schon auf das Zuvorkommen der „konkrete[n] Erscheinung göttlicher Wirklichkeit“183 angewiesen sei, was den Rückfall der dann vermittelten Autonomie in einen unvermittelten Habitus ausschließe. Unter Rekurs auf den Schelling’schen Prinzipbegriff fasst Wenz zusammen: „An Offenbarung also hat die Subjektivität ihr principium, wobei wir mit Schelling Prinzip derart verstehen wollen: ‚Princip … ist das, was nicht etwa nur im Anfang Princip ist und dann aufhört es zu seyn, sondern was überall und immer, was im Anfang, Mittel und End’ gleicherweise Prinzip ist.‘“184 Dies und nichts anders möchte nun der für Tillich zentrale Begriff der Theonomie aussagen, der zu reiner, unvermittelter Autonomie und zu die Autonomie echter Subjektivität aufhebender Heteronomie gleichermaßen in Distanz steht, indem er als Synthesisbegriff die beiden Pole von Autonomie und Heteronomie als abstrahierte Setzungen begreift, die eine falsche Alternative aufwerfen und dadurch den Blick auf die notwendige wechselseitige Bezüglichkeit beider Pole innerhalb der Polarität verstellt. Echte, d.h. nicht unmittelbare, sondern vermittelte Autonomie bedarf mithin immer eines Elements, das nicht ihrer selbst entspringt, sondern schlechterdings außerhalb der Autonomie zum Stehen kommt – was sich für Tillich im Begriff der Offenbarung widerspiegelt. Wie bereits in der Analyse der zentralen Aussagen in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ eruiert, erweisen sich Freiheit und Notwendigkeit bzw. Freiheit und Abhängigkeit des Subjekts nicht als sich ausschließende Möglichkeiten, sondern vielmehr als gleichnotwendige Konstitutionselemente sich als vermittelte wissender Subjektivität: „Die selbsttätige Subjektivität hat sich nach Tillich nicht selbsttätig dazu gemacht, selbsttätiges Subjekt zu sein! Sie ist schlechterdings nicht durch sich selbst vermittelt und in diesem Sinne schlechthinnig abhängig. Ihre Freiheit aber ist real nur in dieser Abhängigkeit; versucht sich das Subjekt davon zu emanzipieren, verliert es mit dieser Abhängigkeit sich selbst als produktive Selbsttätigkeit ————— 182

Ebd., 116. Ebd. 184 Ebd. Mit dem von Wenz durchweg in höchster Präzision nachgezeichneten prinzipiellen Beginnen des Denkens Tillichs, das auch die hier vorgestellte Erfassung des Prinzips vornehmlich in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ bestätigt, wird auch deutlich, warum jedwede Kritik am Tillich’schen Vorgehen, die den Ansatz Tillichs recht verstanden haben und ernst nehmen will, am Offenbarungsverständnis im System Tillichs anzusetzen hat. Dazu mehr weiter unten in der Auseinandersetzung mit der Kritik von Gunther Wenz. 183

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und mißrät zum leeren Kreisen um sich selbst.“185 Da nun aber die Vorgängigkeit des nicht näher bezeichneten Grundes der vermittelten Subjektivität, mithin das, was dem sich gegebenen Subjekt sein Gegebensein gibt, die Gefahr einer Setzung mit sich bringe, die hinter neuzeitliches Gedankengut zurückzufallen drohe, „lehnt er [sc. Tillich] es ja auch ab, jenes Vorgängige direkt einzubringen. Denn würde das Undenkbare als Bestimmtes angesetzt, unbewußt wäre nichts als die Macht des Denkens bestätigt […]. – Es gilt also ebenso: Die Abhängigkeit der Subjektivität ist real nur in ihrer Freiheit.“186 Damit komme Tillich zu einer „Reziprozität von Produzieren und Produziertwerden, die auf keiner Bewußtseinsstufe aufgelöst werden kann.“187 Mit dieser Kurzzusammenfassung des Systemanfangs Tillichs in der Darstellung von Gunther Wenz dürfte das Prinzip Tillichs zutreffend erfasst sein, so wie dies auch die vorliegende Arbeit veranschlagt, die sich durch die Wenz’sche Darstellung in ihrer Analyse bestätigt sieht. In gleicher Weise formuliert auch die großangelegte Untersuchung von Christian Danz den Ansatz Tillichs.188 Gunther Wenz untersucht das Gelingen dieses Ansatzes anhand von Tillichs Religions- und Kulturverständnis, der Wissenschaftskonzeption, der Symboltheorie einschließlich der Analogielehre sowie der Offenbarungskonzeption Tillichs. Nach Wenz deutet sich bei Tillich bereits in den Bereichen von Religion und Kultur, verstärkt in der Wissenschaftslehre ————— 185

Ebd., 118. Ebd., 119. Inwieweit jedoch dieser Befund, also das Angewiesensein der Abhängigkeit auf die Freiheit dessen, der von ihr abhängig ist, schon für die frühesten Schriften einschließlich der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ zu gelten hat, muss fraglich bleiben. Zwar bemüht sich Tillich bereits hier darum, das Absolute bzw. Wahrheit als nur im Vollzug wahrhaftig in Anschlag zu bringen (vgl. v.a. A §§1–3), allerdings wird Tillich dieses Unternehmen später selbst schleierhaft, wie sich auch aus dem Briefwechsel mit Emanuel Hirsch aus den Jahren 1917/18 ersehen lässt, was ihn schließlich zu einer Präzisierung seines Ansatzes im Rahmen einer Sinntheorie zwingt, die im nächsten Hauptkapitel (Kap. 2) untersucht werden wird. 187 Wenz, Subjekt, 119. 188 Vgl. Danz, Freiheitsbewußtsein, besonders 191–201. Tillich versucht nach Danz den Freiheitsbegriff durch die Verschränkung einer apriorischen und einer aposteriorischen Perspektive (vgl. ebd., 200) zu bestimmen. Dabei sei die Tillich’sche Formulierung vom Übergang von der Essenz zur Existenz so zu verstehen, dass das „essentielle Menschsein“ – welches als solches noch nicht Selbst zu nennen sei – „lediglich die Struktur des Selbst unter Absehung seines Vollzuges“ bezeichne (ebd., 195). Just diese Struktur sei dann aber in existentiellem Vollzug nicht mehr reflexiv einholbar: „Indem Tillich diese Struktur essentiellen Menschseins als ein nichtreflexives unmittelbares Verhältnis beschreibt, trägt er dem Umstand Rechnung, daß sich das reflexive Selbstverhältnis des Bewußtseins nicht mit reflexiven Mitteln aufklären läßt.“ (Ebd.) Wesen und Vollzug oder – wie Wenz formuliert – Produzieren und Produziertwerden sind mithin in ihrer Reziprozität gleichkonstitutiv und gleichursprünglich im Selbst, sofern und sobald es als solches zu bezeichnen ist. Diese „zirkuläre Begründungsfigur“ (ebd., 194) Tillichs ist nicht auflösbar und soll es auch nicht sein, weil nur so der Freiheitsbegriff aus einer zweifachen, voneinander unabhängigen Struktur heraus begründet werden kann. 186

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Tillichs aus dem Jahre 1923, eine Aporetik an, die den Fehler Schellings in anderer Weise zu reproduzieren droht. Manifest werde die aporetische Verfasstheit des Unternehmens Tillichs schließlich in seiner Symbol- und Analogielehre, die jedoch ihre Kernproblematik angelegt finden im Tillich’schen Offenbarungsbegriff, dessen problematische Verfasstheit bereits oben zu den Thesen zum historischen Jesus von 1911 angerissen wurde.189 Der Wenz’sche Aporieverdacht kommt in der Untersuchung zu Tillichs Religions-, Kultur- und Wissenschaftsverständnis noch vorsichtig als Mutmaßung, jedoch nicht handhabbare Überführung zum Stehen,190 so dass an dieser Stelle direkt mit den von Wenz als aporetisch klassifizierten Bereichen der Symbol- und Analogielehre sowie in Sonderheit der Offenbarung eingesetzt wird. Zugespitzt formuliert kranke die Symbollehre Tillichs an dem von Wenz bereits in der Wissenschaftslehre Tillichs vermuteten Problem der Exklusivität der Religion. Dies leite sich daher ab, dass die Dialektik von Selbstmächtigkeit und Uneigentlichkeit, die die Konstitutionselemente des Symbols darstellen,191 letzten Endes „nur ‚innerhalb‘ des Symbols“ ihren Platz habe, weil sie letztlich exklusiv eingebracht sei, damit die Symbole „als besondere Phänomene eines spezifisch religiösen Bereiches“192 fungieren können. Religion sei somit zur „Sonderfunktion“193 depraviert, was sich jedoch einzig anhand der Frage entscheiden lasse, was denn nun das Kreuz ————— 189

Vgl. Kap. 1.3.2.1. Der Verdacht erhärte sich nach Wenz bereits in Tillichs Schrift ‚Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden‘ von 1923 (vgl. GW I, 109–293), in der das Ziel Tillichs, die Religion gerade nicht als exklusives Moment in das Wissenschaftsgebäude zu integrieren, fehlzuschlagen drohe, weil die in Reziprozität konstruierten Elemente letztlich „nicht nur in der paradoxen, sondern auch in der quantitativen Form“ (Wenz, Subjekt, 160) Verwendung fänden, wodurch eine Abstraktion und damit einhergehend eine Depolarisation dessen, was eigentlich nur in Form der Polarität als wahrhaft zu veranschlagen sei, statthabe. Wenz kann deshalb die Frage formulieren, ob es nicht doch so sei, „daß die Aktualität der Synthesis nur eine scheinbare ist, weil diese als apriorischer Standpunkt einer Deduktion fungiert?“ (Ebd., 144) Die Gefahr, die Wissenschaftslehre Tillichs so zu verstehen, wie Gunther Wenz dies nahe legt, besteht zweifelsohne. Jedoch vermag auch die gründliche Analyse Tillichs im Falle der Wissenschaftslehre noch keine zwingenden Gründe für ein derartiges Verstehen anzuführen, weshalb die Problematik des Systems der Wissenschaften nur ein Randphänomen bleibt – zumal die Wissenschaftslehre nicht nur den Tillichinterpreten, sondern auch Tillich selbst als nicht gerade vorzügliches Werk gilt. 191 Diese beiden Momente als das Symbol bei Tillich als solches konstituierende müssen als von Wenz unstreitbar richtig erkannt angenommen werden: „Mit Selbstmächtigkeit und Uneigentlichkeit sind demnach die konstitutiven Strukturelemente des Symbols in seiner gesamten Phänomenologie genannt.“ (Ebd., 165) Dies ist schon dadurch evident, dass das Symbol im Rahmen der metalogischen Methode Tillichs fungiert und somit als Synthesis eines logischen und eines alogischen Moments sich als Repräsentant des Relativen und des Unbedingten zugleich verstehen muss. 192 Ebd., 169. 193 Ebd., 170. 190

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Christi als das Symbol schlechthin zu bedeuten habe: „Fungiert das Kreuz als Symbol aller Symbole, als deren eigentlichstes Ausdrucksmaterial, tatsächlich als Negation der negativen Besonderheit des jeweiligen Symbols? […] Oder bleibt nicht auch das Kreuz ein bestimmtes Symbol, wenngleich das hervorragendste und eigentlichste?“194 Damit wirft Wenz genau die Frage auf, die in diesem Kapitel untersucht werden soll, nämlich ob das Kreuz Christi – oder allgemeiner formuliert: Jesus als der Christus – das Konstituens des von Tillich entworfenen Prinzips, so wie es in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ erstmals vorgestellt und von Gunther Wenz allgemein als metalogische Methode expliziert ist, oder doch nur dessen ideale paradigmatische Versinnbildlichung darstellt. Mit anderen Worten: Ist der Christus Jesus und in Sonderheit sein Kreuz die vollständig ‚un-autonome‘, dadurch aber nicht im Rückschluss als heteronom zu bezeichnende Möglichkeitsbedingung aller anderen Symbole, ja jedweder symbolischen Sprache überhaupt – oder fungiert das Kreuz Christi nur als Ausdrucksform eines von ihm nicht allererst konstituierten Prinzips? Die Wenz’sche Interpretation neigt – wie sich dies später in der Analyse des Offenbarungsbegriffs bei Tillich weiter erhärten wird – der zweiten Auffassung zu.195 Dies würde aber bedeuten, dass die Synthesis von Logismus und Alogismus in Intransigenz gerät, weil das als alogisch zu bezeichnende Element des schlechthin nicht durch die Autonomie hervorgebrachten Kreuzesgeschehens eingeholt wäre von der Autonomie – als Repräsentantin des logischen Moments –, die ihrerseits dem alogischen Kreuzesmoment seine Bedeutung erst in unvermittelter Selbsttätigkeit zuspräche, so dass letztlich die Theonomie in der Autonomie, der Alogismus im Logismus aufgehoben und somit die Doppelheit des Ausgangsprinzips nur eine scheinbare wäre, die sich in letzter Konsequenz auf einen ihrer Pole reduzieren ließe.196 Dass Wenz von diesem in Tillichs System angelegten Aporieverdacht ausgeht, bestätigt sich darin, dass er anführt, Tillich bringe „den Symbolgedanken als solchen nichtsymbolisch, univok, unmittelbar sinn————— 194

Ebd. Gunther Wenz in diesem Punkt zu folgen tendiert auch Hans Schwarz, der Tillichs Christus ebenfalls als reines Symbol zu interpretieren neigt, wenn er aussagt: „indeed Jesus the Christ is a theological metaphor and not a historical reality.“ (Hans Schwarz, Who is Jesus the Christ?, 10) 196 Diese Konsequenz spricht Wenz bei der Interpretation der Symboltheorie noch nicht expressis verbis in dieser Deutlichkeit an, setzt sie jedoch bereits voraus, wie sich dann in der seinen Standpunkt begründenden Analyse des Tillich’schen Offenbarungsbegriffs zeigen wird. Allerdings weist Wenz bereits in seinen abschließenden Bemerkungen zum Symbolverständnis darauf hin, dass seine Kritik an Tillichs Symboltheorie bereits sein Prinzip als solches, mithin die metalogische Methode, im eigentlichen Sinne treffe, denn: „bei der Dialektik von Selbstmächtigkeit und Uneigentlichkeit handelt es sich ja offensichtlich um nichts anderes als um das Tillichsche Strukturprinzip der Identität von Identität und Differenz“ (Wenz, Subjekt, 179). 195

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identisch zur Geltung.“197 Geht man von den Prämissen aus, die Wenz für Tillichs Symbolverständnis festhält, so ist diese Konsequenz nur logisch, da die Behauptung einer einzigen möglichen nicht-symbolischen Aussage über Gott, nämlich dass dieser das Sein-Selbst sei (vgl. ST I, 277),198 systemimmanent199 auf einen, wie Wenz formuliert, „univoken Symbolismus“200 zuläuft. Aus diesem ergebe sich wiederum notwendig die Exklusivität der Religion, was weiterhin zur Folge zeitige, „daß auch das Kreuz als das Symbol aller Symbole eines unter anderen ist und zur Separation des Religiösen beiträgt.“201 Dadurch verkomme die Symboltheorie Tillichs zum bloßen „Postulat“, das sich in „subjektiver Beteuerung“ erschöpfe, letztlich aber nur verweisen kann auf ein „nicht weiter überprüfbares ‚unbedingtes Angegangensein‘“202, mithin den Glauben, der, wie Wenz in Anknüpfung an Wolfhart Pannenberg feststellt, als „irrationales Engagement“203 das prius gegenüber allen weiteren theologischen Aussagen einnehme.204 Die Aussagen von Gunther Wenz zur Symboltheorie sollen an dieser Stelle noch unkommentiert bleiben, weil im Rahmen der nun zu behandelnden Offenbarungsthematik der Kernpunkt der Wenz’schen Kritik an Tillichs prinzipiellem Vorgehen erreicht wird, so dass mit den Ausführungen zum Wenz’schen Offenbarungsverständnis bei Tillich der analoge Befund für die Symboltheorie evident werden wird und dadurch eine Doppelung der Aussagen vermeidbar ist.205 ————— 197

Ebd., 177. Was tatsächlich, wie Wenz festhält, gleichbedeutend zu verstehen ist mit der von dieser Aussage Tillichs scheinbar abweichenden Bemerkung im zweiten Band der ‚Systematische[n] Theologie‘ (vgl. dazu ST II, 15f): „Die Aussage ‚„Alles, was über Gott gesagt werden kann ist symbolisch“ ist die einzige nicht-symbolische Aussage über Gott‘ verhält sich eindeutig sinnidentisch zu jener anderen: ‚„Sein-Selbst“ ist die einzige nicht-symbolische Aussage über Gott‘.“ (Wenz, Subjekt, 176) Vgl. dazu im Detail: Wenz, Subjekt, 171–176. 199 Dass die Versuche, Tillichs System von einer außerhalb dieses Systems liegenden nichtsymbolischen Aussage her verstehen zu wollen, notwendig in die Irre führen, legt Wenz (ebd., 177) überzeugend dar. Jedwede Interpretation der Tillich’schen Symboltheorie hat sich innerhalb dieses Symbolverständnisses zu bewegen – oder sie verabschiedet sich als ernstzunehmende Interpretation Tillich’schen Denkens. 200 Ebd., 177. 201 Ebd., 178. 202 Ebd. 203 Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfut am Main 1987, 46; auch zitiert bei Wenz, Subjekt, 178. 204 Dass sich Tillich allerdings dieser Grundanlage seiner Theologie selbst bewusst gewesen sein dürfte, wird schon aus seinen Bemerkungen über den ‚theologischen Zirkel‘ in ST I, 15–18, insbes. 17, deutlich. 205 Die Analogielehre Tillichs in der Wenz’schen Interpretation kann an dieser Stelle weitestgehend übergangen werden, weil sie auf Grundlage der Symbolinterpretation die dortige, nach Wenz vorhandene Aporetik nur als reproduzierte erweist. Wie das Kreuzessymbol nach Wenz letztlich nur als ideales Exempel für das Prinzip fungiert, so reduziert Wenz aufgrund dieser Interpretation 198

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Da die ausführliche Analyse der 128 Thesen ‚Die christliche Gewißheit und der historische Jesus‘ bereits geleistet sowie die grundlegende Kritik von Gunther Wenz an dem dort vertretenen Offenbarungskonzept dargestellt ist,206 sollen im Folgenden nur die für die Beurteilung der Wenz’schen Kritik zentralen Aussagen kurz resümiert und auf der Grundlage der bisherigen Darstellung ggf. kommentiert werden: Nach Wenz ergibt sich aus der Unterbetonung des historischen Aspekts des Offenbarungsgeschehens in Jesus Christus, mithin – pointiert formuliert – aus der einseitigen Betrachtung des Dass der Offenbarung unter Absehung des Was, dass sich Tillich von der Historizität und Historisierbarkeit der Offenbarung Gottes suspendieren wolle. Uno eodemque actu gehe Tillich damit aber auch des gewissermaßen zweiten Elements seines Prinzips – zu sprechen ist hier vom Alogismus in der metalogischen Methodik – verlustig, weil durch die Ausklammerung des historischen Moments der Offenbarung letztlich das Übergewicht für die Wahrheit des Christentums auf die Seite des Glaubens geladen werde.207 Bereits an dieser Stelle lohnt es sich kurz inne zu halten. Das Wenz’sche Urteil, dass Tillich „[z]u schnell […] der historischen Theologie den Abschied gegeben“208 habe, ist zweifelsfrei richtig, allerdings erscheint es problematisch, wenn Wenz die Veranschlagung einer reinen Faktizität der Offenbarung gleichsetzt mit einer völligen Verabschiedung jeglicher historischer Rückbindung.209 Der historische ‚Rest‘ an Tillichs Christusprinzip mag durchaus dürftig ausfallen, sein Vorhandensein gänzlich zu eliminieren ist deswegen jedoch nicht zwangsläufig notwendig. Nach Tillich besteht zwar eine notwendige Ungewissheit über den historischen Jesus, die Tillich allerdings – so sei hier behauptet – nicht einbringt, um ————— die Duplizität von analogia entis und analogia imaginis bei Tillich auf die analogia entis, weil letztere sich nur in der analogia imaginis versinnbildliche, der ihrerseits keine konstitutive Funktion zukomme, so dass letztlich wiederum nicht von einem echten Reziprozitätsverhältnis gesprochen werden könne: „In der Tat beschränkt sich […] die Bedeutung der im Christusgeschehen zentrierten analogia-imaginis-Konzeption Tillichs darauf, die allgemeine Identität-DifferenzPolarität der analogia entis zu exemplifizieren. Die Bildanalogie baut demnach ‚auf der analogia entis auf und setzt sie voraus‘ (173), hat aber selbst prinzipiell keine konstitutive Funktion für jene.“ (Wenz, Subjekt, 182; das Zitat bei Wenz verweist auf Klaus-Dieter Nörenberg, Analogia Imaginis. Der Symbolbegriff in der Theologie Paul Tillichs, Gütersloh 1966) 206 Vgl. Kap. 1.3.2.1. 207 Vgl. Wenz, Subjekt, 202f: „Die historische Theologie ist von nur akzidenteller Bedeutung, da die Wahrheit des Christentums auch ohne sie zu erfassen ist. Nicht die Rückfrage nach dem historischen Jesus, sondern die Verfassung der christlichen Gemeinschaft gewährt Gewißheit über den absoluten Charakter des Christentums.“ 208 Ebd., 206. 209 In eine ähnliche Richtung wie Wenz geht Ulrich Körtner, wenn er Tillich betreffend schreibt, „daß es Gewißheit nur über das Daß der Erscheinung des Christus geben kann – und zwar aufgrund der Wirkung seines Bildes in den Glaubenden –, nicht aber darüber, daß diese Erscheinung mit einem Menschen namens Jesus von Nazareth identisch ist.“ (Körtner, Historischer Jesus, 116)

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sich selbst von der historischen Rückfrage befreien zu können210 und sein Prinzip unmittelbar in die reine ‚Hülle‘ eines historisch entkernten Jesus Christus zu füllen.211 Dem widersprechen zwei Punkte: Erstens wird der Christus Jesus auch in seiner Historizität, mithin in der schieren Faktizität seines Dass, von Tillich als notwendig konstitutiv für die Selbstkonstitution des Selbst und für die certitudo des Glaubens postuliert. Dass es sich hierbei nicht nur um ein Postulat handelt, wird später noch zu beweisen sein, sei hier jedoch bereits erwähnt. Zweitens wird die ‚historische Lokalisation‘ des Christusereignisses deshalb in seiner konstitutiven Funktion negiert, weil Tillich – das dürfte in Anbetracht seiner sonstigen theologischen Position, v.a. in der Auseinandersetzung mit Karl Barth evident sein – in seinem Konzept der Theonomie die Gefahr, in eine Heteronomie abzugleiten, als weitaus größer und negativer beurteilt als die Gefahr autonomer Selbstbezüglichkeit, die zu vermeiden jedoch sein erklärtes Ziel seit seiner Auseinandersetzung mit der Spätphilosophie Schellings ist. Ziel der Tillich’schen Argumentation in Bezug auf den historischen Jesus dürfte somit weder eine Entbindung von historischen Begebenheiten noch eine – allerdings damit zugestandenermaßen einhergehende – Aufwertung der Autonomie, sondern vielmehr eine Rettung der Theonomie vor einer potentiellen Heteronomiequelle sein.212 Verfolgt man die Argumentation von Gunther Wenz weiter, so führt seiner Ansicht nach die Überbetonung des Glaubens letztlich zu einem „Problem der Gewißheit“, das sich daraus ergebe, dass die Absehung von der historischen Verortbarkeit der Offenbarung zu einer „unmittelbare[n] ————— 210

So die Meinung von Gunther Wenz: „Tillich will sich im Namen der Rechtfertigungslehre grundsätzlich vom Rekurs auf den historischen Jesus suspendieren.“ (Wenz, Subjekt, 206) 211 Dem entspricht der Aporievorwurf, den Wenz an die Symbollehre Tillichs heranträgt: Das Kreuz Christi sei nur Exemplifikation des theologischen Prinzips, welches auch ohne historischen Rückbezug zu haben sei und daher nur auf das leere Dass – wenn auch ideal, aber nichtsdestoweniger – rein paradigmatisch projiziert werde. Wenz bestätigt diese Interpretation auch nochmals in seinen Ausführungen zum Tillich’schen Offenbarungsbegriff: „Bei Tillich hingegen fungiert das Christusgeschehen einzig und allein als Exemplifikation eines Prinzips, für dessen Konstitution es letztlich ohne Belang bleibt.“ (Ebd., 205 Anm. 18) 212 Ob Tillich wirklich zwischen „einem Christusprinzip und der historischen Person Jesu“ (ebd., 203) unterscheidet, muss auch als fraglich gelten. Just diese Scheidung käme ja der in der Darstellung von Gunther Wenz kritisierten Depolarisation in der Wissenschaftslehre gleich. Christusprinzip und historische Person können im Sinne Tillichs bestenfalls als Abstraktionen verstanden werden, die letztlich in eins fallen, ohne dabei in direkt intransigenter Identität zu erstarren, weil ihre wechselseitige Reziprozität im Rahmen einer Synthesis eine Identität ebenso ausschließt wie eine abstrakte Differenzhaftigkeit. Zudem stellt Wenz selbst in einem späteren Beitrag fest, dass Tillich es mit seiner Konzeption darum geht, eben eine Heteronomisierung zu vermeiden: „Sein [sc. Tillichs] erklärter Antisupranaturalismus beschränkt sich im Grunde nur darauf, Heteronomie und in diesem Zusammenhang die Vorstellung abstrakter Jenseitigkeit Gottes zu vermeiden.“ (Wenz, Blatt, 70) Vgl. auch Danz, Glaube, 173f (insbes. Anm. 59).

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Selbstgewißheit“ des Glaubens verleite, so dass die „historische Faktizität“ der göttlichen Offenbarung in Jesus Christus „als apriori nichtkonstitutiv für das Wesen des Christentums bestimmt“213 sei. Dies besage nun aber nichts anderes, als dass die certitudo, die der Glaube aus der Offenbarung schöpfen solle, überführt sei in securitas, die allerdings – analog der notwendigen Ungewissheit über den historischen Jesus – in Form einer „negative[n] securitas“214 auftrete, welche eben die gewisse Ungewissheit der historischen Betrachtung festschreibe. Der gewissen Ungewissheit gemäß lasse sich die Glaubensgewissheit nun nicht mehr aus dem ‚Anderen‘ der Offenbarung schöpfen, sondern sie werde zum direkten Produkt des Glaubens selbst, der nun seinen eigenen Grund schaffe215 und demnach nicht nur certitudo, sondern deren negativ-selbstische Form der securitas hervorbringe. Glaube depraviere somit zur reinen Unvermitteltheit einer „fides incurvata in se“, die nicht anders gefasst werden könne als in Form von „Willkür“216. Bei aller Sympathie, die Wenz dem Ansatz Tillichs entgegenbringt, und bei aller Betonung seiner verdienstvollen Absicht217 ist das Ergebnis für das ausgeführte System Tillichs dennoch desaströs: Das eigentliche Anliegen, nämlich das Geltendmachen der Notwendigkeit, die selbsttätige Produktivität als vermittelte zu erweisen, wurde nach Wenz nicht erreicht, ja schlimmer noch, Tillich reproduziere letztlich den Fehler Schellings und ————— 213

Wenz, Subjekt, 203. Ebd. 215 Vgl. Wenz, Theologie ohne Jesus?, 130: „Denn die behauptete Differenz von Glaube und Glaubensgrund ist nur eine scheinbare, wo die Faktizität des Glaubensgrundes, wenngleich vom Glauben als ihm zuvorkommend erachtet, als Faktizität nur dem Glauben zugänglich und allererst durch ihn garantiert ist. […] Damit aber wird der Glaube zum Grund seines Grundes und das Bewußtsein der Differenz zuletzt doch in eine unmittelbare Identität eingeholt.“ Zum selben Urteil für die ‚Systematische Theologie‘ kommt Hans Schwarz, Fact and Impact in Tillich’s Theology, in: Gert Hummel (Hg.), Truth and History – a Dialogue with Paul Tillich/Wahrheit und Geschichte – Ein Dialog mit Paul Tillich. Proceedings of the VI. International Symposium held in Frankfurt/ Main 1996/Beiträge des VI. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums in Frankfurt/Main 1996 (TBT 95), Berlin/New York 1998, 79–88, hier: 85: „This means that he takes the results of historical research and draws theological conclusions from what this research has unearthed. [...] With this kind of circular reasoning faith provides its own foundation.“ In ähnlicher Argumentationsweise fragt in diesem Zusammenhang auch Ulrich Körnter, Historischer Jesus, 117, „ob Tillichs Lösungsvorschlag nicht seinerseits aporetisch ist, weil er auf die Verwechslung von Grund und Begründetem hinauszulaufen scheint. Wenn nämlich Jesus von Nazareth ohne den Glauben an ihn nicht der Christus bzw. die Manifestation des Neuen Seins geworden wäre, so scheint der Glaube bzw. das religiöse Bewußtsein seinen eigenen Grund zu produzieren.“ 216 Wenz, Subjekt, 204. 217 „Er [sc. der lange Weg zum Aporieaufweis in der Theologie Tillichs] bewahrte uns davor, Tillich vorschnell auf die Aporetik seines Denkens zu fixieren und die bemerkenswerten und fruchtbaren Absichten unbesehen zu verabschieden. […] Ohne Zweifel, Tillich vermochte seine Intention nicht adäquat zu realisieren, da in seinem Denken gerade jenes Vermitteltsein unmittelbar fungiert. Und doch – die originäre Absicht bleibt bemerkenswert.“ (Ebd., 210) 214

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ende bei einer unvermittelten Unmittelbarkeit des Selbst, das sich selbst vermitteln möchte und sich dadurch in abstrakter Autonomie verliere. Die oben angeführten Einwände haben bereits angezeigt, dass im Rahmen dieser Untersuchung der Aporieverdacht in der Darstellung von Gunther Wenz weiter problematisiert werden muss. Dass die Wenz’sche Interpretation eine berechtigte Lesart der Systemanlage Tillichs darstellt, ist unbestritten. Fraglich bleibt jedoch – so wurde bereits weiter oben bei der Analyse der 128 Thesen zum historischen Jesus angemerkt –, ob diese Lesart die notwendig ausschließliche darstellt oder ob nicht Tillich auch aus sich heraus so verstanden werden kann, dass den Aporievorwürfen gewehrt werden kann.218 Dazu sei der zentrale Vorwurf, den Wenz an die Durchführung des Prinzips Tillichs stellt, nochmals präzise in einer These – mit allen Vereinfachungen, die diese Pointierung mit sich bringt – zusammengefasst: Nach Wenz wird bei Tillich der Offenbarungsbegriff durch seine faktische Dehistorisierung eingeholt in die Autonomie des Subjekts, weil diese ihr eigenes Prinzip nicht mehr von einem ‚Anderen‘ außerhalb ihrer selbst erhält, so dass der Glaube letztlich zu reiner unvermittelter Unmittelbarkeit erstarrt, indem er sein Prinzip – das in der Offenbarung nur idealiter exemplifiziert ist – in reiner Selbsttätigkeit hervorbringt und für sich selbst vermittelt; mit anderen Worten: Der Glaubensgrund wird vom Glauben selbst hervorgebracht, so dass der Glaube sich selbst vermittelt und somit ein reines selbstidentisches Prinzip wird, das daher nicht mehr als lebendig, sondern intransigent zu bezeichnen ist. Dieser These seien nun die eigenen Interpretationsansätze in Form zweier Thesen gegenüber gestellt, die den Grund für die scheinbar vollständige Verabschiedung des Geschichtlichen an der Offenbarung in Jesus Christus bei Tillich bedingen: Erstens ist es erklärtes Ziel Tillichs219 eine Heteronomisierung der göttlichen Offenbarung zu vermeiden, so dass er – wie oben schon angemerkt – die potentielle Gefahr einer Heteronomie, die sich durch einen fixierten historischen Jesus von Nazareth ergeben könnte, auszuschalten sucht.220 Dieser Gesichtspunkt bleibt in der konzisen und präzisen Arbeit ————— 218

Gunther Wenz bietet zur Lösung der Aporie in der Explikation des Prinzips bei Tillich einen alternativen Offenbarungsansatz an, der sich stark am Offenbarungs- und Geschichtsverständnis Wolfhart Pannenbergs orientiert (vgl. ebd., 215–234). Eine eingehende Untersuchung dieses Lösungsvorschlags kann hier nicht vorgenommen werden, weil dies zu weit vom Unternehmen dieser Tillichstudie wegführen würde. Allerdings wird im Folgenden Bezug auf die Alternativlösung von Wenz genommen werden. 219 Verwiesen sei hier wiederum auf Tillichs Differenz zu Karl Barth und dessen Offenbarungsverständnis. 220 Ganz deutlich wird dieses Anliegen Tillichs in der 113. These seiner Thesenreihe zum historischen Jesus: „In allen diesen Fällen [sc. in denen prinzipielle Autoritäten wie Papst, Schrift oder historischer Jesus zum Gesetz erhoben werden] wird der Glaube an Gott abhängig gemacht von

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von Gunther Wenz weitgehend ausgeblendet, so dass weniger die Vermeidung einer Heteronomie als vielmehr eine Fundierung eines autonomen Verständnisses der Offenbarung angestrebt zu werden scheint. Dies liefe allerdings dem Grundsatz Tillichs strikt zuwider – genau hierin besteht ja seine Kritik am Schelling’schen System – und dürfte deswegen auch nicht das Ziel seiner Darstellung sein. Zum Zweiten bleibt auch in der Systemanlage Tillichs der Glaube ein vermittelter, weil das Prinzip immer noch dem Dass der Offenbarung verpflichtet bleibt. Damit ist der Wenz’sche Aporieverdacht sicherlich nicht ausgeräumt, jedoch sollte nicht unbeachtet bleiben, dass die auf das Dass beschränkte Historizität der Offenbarung sich nicht in einem reinen Dass erschöpft, sondern Tillich durchaus Bezug nimmt auf die biblische Jesusdarstellung. Hier bestätigt sich nun das Verfahren, vor der Behandlung der Kritik noch die weiteren christologischen Ausführungen Tillichs in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ zu analysieren: Bei einer reinen Betrachtung der Thesenreihe zum historischen Jesus wird der Eindruck erweckt, Tillich klammere die Historizität Jesu und damit auch die Relevanz der neutestamentlichen Darstellungen des Lebens und Sterbens Jesu vollständig aus; just dies ist bei genauerer Betrachtung der frühen Theologie Tillichs jedoch nicht der Fall.221 Dass letzten Endes trotz allem – so wird man von der Wenz’schen Kritk her einwenden müssen – auch die von Tillich geforderte Beurteilungsinstanz der biblischen Schriften, die hier als ‚Mitte der Schrift‘ bezeichnet wurde, wiederum im Prinzip selbst besteht, was gewissermaßen zur Problematik der Unterscheidung zwischen einer norma normans und einer norma normata führt, sei unbestritten. Jedoch ist die Verabschiedung des Historischen im Offenbarungsbegriff Tillichs wohl nicht so genereller Natur, wie ein Blick auf die Thesenreihe vermuten lässt und es die Interpretation von Gunther Wenz nahe legt. Deutlich wird diese, außerhalb des Glaubens zum Stehen kommende Instanz im Tillich’schen Prinzip der Selbstüberwindung, die wiederum nicht als selbstinitiierte, sondern vielmehr als vermittelte und somit vom Selbst des Subjekts geschiedene und unterscheidbare Selbstüberwindung ————— dem Glauben an eine geschichtliche Offenbarung Gottes; es entsteht ein doppelter Glaube, und der autonome wird abhängig vom heteronomen, statt daß die Offenbarung Gottes nur insoweit für den Glauben Bedeutung gewinnt, als sie den Gläubigen mit Gott direkt in Gemeinschaft bringt.“ (MW/ HW 6, 32) Allein dieses Zitat belegt, dass die Historizität Jesu für Tillich v.a. das Problem der Heteronomie mit sich bringt, welches er seinem theonomen Konzept entsprechend vermeiden muss. Wobei dadurch natürlich noch nicht automatisch erwiesen ist, dass der hier als ‚autonom‘ bezeichnete Glaube auch ein tatsächlich theonom verfasster ist. 221 Dieser Aspekt muss in der Arbeit von Gunther Wenz zwangsläufig unterbelichtet bleiben, weil zum Zeitpunkt der Abfassung von ‚Subjekt und Sein‘ die ‚Systematische Theologie von 1913‘ nur in Form einer Thesenreihe (vgl. MW/HW 6, 63–81) bekannt war, der später im Tillich-Archiv in Harvard aufgefundene Text aber erst 1998 (vgl. EW IX, 278–434) veröffentlicht wurde.

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verstanden sein will; darauf wird später beim Versuch, die Vermittlung der freien Selbsttätigkeit des Subjekts bei Tillich zu identifizieren, zu rekurrieren sein. Für den Moment muss das Prinzip der Selbstüberwindung in Verbund mit seinen historischen Implikationen als reines Postulat stehen bleiben. Weiterhin seien vier Anfragen an den Aporievorwurf von Gunther Wenz gestellt, die als Hinführung zu einem Alternativentwurf der Wenz’schen Kritik konzipiert sind, ohne dabei den Anspruch zu erheben, die Kritik von Wenz zu widerlegen, sondern nur zu problematisieren:222 (1) Ist es statthaft, im Sinne der Tillich’schen Theologie die historische Person Jesu von Nazareth von einem Christusprinzip zu dividieren? Nach Wenz findet dies faktisch im Vorgehen Tillichs statt, weil anders Tillich nicht sein autonomes Identitätsprinzip auf den Offenbarungsbegriff anwenden könne. Genau hier taucht nun aber die Fragestellung auf, ob es denn wirklich das Ziel der Tillich’schen Argumentation ist, sein Prinzip unmittelbar einzubringen. Dies wird man sicherlich – auch im Sinne von Wenz – nicht bejahen können. Wenn nun aber vielmehr – wie oben vorgestellt – die Heteronomievermeidung das eigentliche Agens des Vorgehens Tillichs ist, so muss hinwiederum eingestanden werden, dass trotz der Distanz zu einer echt historischen Theologie auch bei Tillich der Christus Jesus nicht zu haben ist ohne die tatsächliche Geschichtlichkeit des Offenbarers. Historizität Jesu – wie auch immer man Historizität in diesem Falle zu fassen hat – und Vermeidung einer Heteronomie durch die Ausklammerung des konstitutiven Anspruchs eines konkreten historischen Faktums und nur des Faktums sind somit keine Ausschlussfaktoren, die sich diastatisch widersprechen.223 Ist nun die Offenbarung als strictissime un-heteronome von Tillich behauptet, so führt das über zur zweiten Frage in Bezug auf den Glauben: (2) Ist der Glaube in Tillichs Theologie gerade dadurch, dass er sich durch die schiere Faktizität seines gegebenen Daseins auszeichnet, nicht eher als ein tenden————— 222 Eine Widerlegung im klassischen Sinne ist auch nicht intendiert, geschweige denn durchführbar. Der Interpretationsansatz von Wenz wurde ja bereits als eine Verständnismöglichkeit des Tillich’schen Systems affirmiert, die ihre Richtigkeit schon darin findet, dass die Kritik als nicht direkt abweisbar statuiert wird. Allerdings fußt diese Sicht auf Tillich auf einem bestimmten Theologie- und Geschichtsverständnis, das in dieser Form nicht unbedingt undiskutiert geteilt werden muss, so dass alternative Wege – trotz des Aporievorwurfs – gangbar erscheinen. 223 Freilich muss zugestanden werden, dass der verwendete Geschichtsbegriff dann ein höchst problematischer oder zumindest vom eigentlichen Geschichtsverständnis stark unterschiedener ist, wenn bei Tillich ein historisches Ereignis tatsächlich historisch sein kann, ohne dabei von seiner geschichtlichen Verortbarkeit abhängig zu sein. Festgehalten werden sollte aber, dass auch dieser Geschichtsbegriff die Historizität des Historischen ernst nimmt und sich seines historischen Rückbezugs – auch wenn dieser kein konkret verifizierbarer ist – bewusst ist und bewusst bleiben muss.

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ziell heteronomes Phänomen zu veranschlagen? Dies bedarf der näheren Explikation dahingehend, dass nun davon ausgegangen wird, dass eben nicht die eigentlich traditionell der Heteronomie deutlich näherstehende Offenbarung das Moment wäre, das vollständig extra nos zu klassifizieren wäre, sondern der Glaube. Tillichs Konzeption neigt der hier vertretenen Position nach genau dazu. Ist die Offenbarung noch als stark der Autonomie des subjektiven Selbst erschlossenes Geschehen gefasst, das der rein rationalen Geistesfunktion zugeeignet ist, so west es bei Tillich dem Glauben an, in seinem unvordenklichen Vorhandensein von der Autonomie schlechterdings uneinholbar zu sein. Dies verwundert zunächst, wenn man die Einordnung der Religion als eine der drei Geistesfunktionen bei Tillich bedenkt. Allerdings zeichnet sich die religiöse Geistesfunktion ja gerade dadurch aus, nicht wie die beiden anderen – Denken und Sittlichkeit – von der Faktizität des Relativen bzw. von sich selbst – und somit ebenfalls wiederum von der Relativität – anzuheben, sondern gerade im Bewusstsein des Vermitteltseins vom Relativen und dessen Abstrahierung abzusehen und dafür den eigenen Ausgang außerhalb seiner selbst – beim Absoluten – zu nehmen und damit den beiden anderen Geistesfunktionen allererst ihre wahre, d.h. wesensmäßige, Bestimmung zukommen zu lassen. Der scheinbar so subjektiv verortete Glaube – und, überspitzt gesagt, nicht Offenbarung! – ist mithin das eigentlich dem Selbst äußerliche Prinzip seiner selbst in der Konzeption Tillichs. Was überleitet zur nächsten Frage, die nun schon beinahe geklärt ist: (3) Kann deshalb nicht davon gesprochen werden, dass die insofern in die Nähe der Autonomie gerückte Offenbarung, als sie nur dem autonomen Subjekt zugänglich bleibt, wenn sie nicht ein heteronomes Gegenüber darstellt, rezipiert wird von einem Glauben, der nun seinerseits schlechthin außerhalb der autonomen Möglichkeit liegt und als Geistesfunktion immer schon der Autonomie des Selbst gegebene, jedoch als solche der Autonomie stets unverfügbare, mithin gänzlich äußerliche Funktion ist? Die positive Beantwortung der Frage scheinen die beiden ersten Fragen zu intendieren, jedoch sind die hier gestellten Fragen eher als Zuspitzung – daher die Frageform – denn als Thesen zu verstehen. Eine reine Fixierung der Autonomie auf die Offenbarung und der Heteronomie auf den Glauben würde an der von Wenz veranschlagten Grundaporie nichts ändern, da es sich allenfalls um einen Austausch von Begriffen, aber schlechterdings nicht um eine Abwandlung inhaltlicher Art handeln würde. Die Stoßrichtung der Fragen dürfte allerdings doch klar geworden sein: Weder dem Offenbarungsbegriff noch der Glaubenskonzeption kann wesentlich das Signum der Autonomie oder Heteronomie zugesprochen werden. Bestenfalls können Affinitäten veranschlagt werden, die dann – insoweit wird die Wenz’sche Kritik übernommen – derart zu verteilen sind, dass der Offenbarungsbegriff einem autonomen, der Glaubensbegriff einem

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eher heteronomen Verständnis zuneigt, ohne dass sie durch das jeweilige Verständnis in ihrem Wesen erfasst wären. Dies führt zur vierten Frage, die die Grundfrage des Kapitels aufgreift: (4) Ist die Frage nach dem Christus Jesus als echtes Konstituens des theologischen Prinzips oder als reines, ideales Paradigma in dieser Ausschließlichkeit nicht eine Abstraktion vom tatsächlichen Tatbestand, den die Tillich’sche Darstellung liefert, nämlich dass Jesus als der Christus immer beides zugleich ist und sein muss? Letztlich impliziert diese Fragestellung, dass eine Interpretation, die das Tillich’sche Prinzip in dieser Alternative zu fassen versucht, zu kurz bzw. eher zu weit greift, weil die Abstrahierung von den Einzelmomenten, die der Christus Jesus in Synthesis vereint, notwendig zu einer Missinterpretation der Einzelmomente als solche führen muss, da sie ob ihres Momentcharakters schlechterdings gerade nicht einzeln, d.h. isoliert betrachtet werden können und dürfen. Der Hauptvorwurf gegen die Tillichkritik, der sich in den Fragen herauskristallisiert hat, lässt sich somit folgendermaßen fassen: In ihrem Vorwurf, die Historizität Jesu von seinem Christusprinzip zu abstrahieren, scheint der Wenz’sche Ansatz selbst etwas zu stark von den diversen Polaritäten in Tillichs System zu abstrahieren, die sich eben nicht in den Alternativen Glaube – Offenbarung oder Konstitutionselement – Exempel festschreiben lassen, und versucht eben diese Polaritäten durch eine einseitige Fixierung auf den Offenbarungsbegriff auszuhebeln, was letztlich einer Übersystematisierung des Tillich’schen Prinzips gleichkommt. Weiter erscheint problematisch, dass gerade bei der Relativierung der Geschichtsbedeutung für den Offenbarungsbegriff bei Tillich nicht das eigentliche Ziel der Tillich’schen Argumentation in den Blick kommt, sondern – schon vom Ergebnis des Aporievorwurfs her gedacht – an Tillich der Vorwurf herangetragen wird, er wolle sein Prinzip unmittelbar einbringen. Mit anderen Worten: Der Wenz’sche Interpretationsansatz ‚zerreißt‘ das polare System Tillichs dergestalt, dass er die Depolarisierung der Pole als bereits in der Durchführung des Systems angelegt sieht, was zu einer letztendlichen Fixierung auf einen der Pole (Logismus bzw. Autonomie) führe und damit das System erstarren lasse. Zu fragen bleibt nun aber – in starker Zuspitzung –, ob Wenz nicht allererst die einseitige Fixierung auf einen Pol voraussetzt, um das Tillich’sche System depolarisieren zu können und nicht umgekehrt. Letztlich bewahrheitet sich dies – nämlich dass die Wenz’sche Argumentation gewissermaßen umgekehrt agiert – im Verfahren von Wenz, indem er erst die Konsequenzen der Aporie (Depolarisierung) thematisiert und erst zum Schluss auf das Kernproblem der Offenbarung (Unmittelbarkeit) zu sprechen kommt. Im Folgenden soll nun ein eigenes Konzept zur Lösung der zentralen Problematik des Tillich’schen Prinzips, dem Problem der Vermittlung, vorgestellt werden; dabei wird allerdings der Anspruch erhoben, dass

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dieser Lösungsansatz nicht ein von außen an Tillichs System herangetragener sei, sondern sich genetisch aus den prinzipiellen Systemanlagen Tillichs entwickeln lasse. Weiterhin wird dabei so verfahren, dass der Offenbarungsbegriff bei Tillich, wie ihn Gunther Wenz vorstellt, einer weiteren Problematisierung unterzogen wird, die sich dem hier vertretenen Ansatz gemäß in einer weiteren Differenzierung und anschließenden Synthetisierung der Tillich’schen Begriffe von Offenbarung und Glaube vollziehen muss. Angeknüpft wird zunächst teilweise an die Studien von Reinhold Mokrosch und Heinz Kolar224, mit denen unter Beibehaltung sämtlicher Prämissen Tillichs, in Sonderheit dem Vermitteltsein des Selbstbewusstseins, die Bedeutung des Wissensaspekts um die Vermitteltheit der eigenen Unmittelbarkeit betont wird. Es bleibt somit unbenommen, dass das Subjekt als selbsttätiges tatsächlich in Freiheit selbsttätig ist, sich in dieser Selbsttätigkeit jedoch als vermitteltes weiß. Das Sich-selbst-Gegebensein der freien Selbsttätigkeit ist mithin unveräußerlicher Bestand des eigenen Selbstbewusstseins, d.h.: „Das Sich-Gegebensein des Selbstbewußtseins in seiner Selbsttätigkeit ist unmittelbare Bewußtseinstatsache“225 – und somit schlechterdings Wissen um das sich Gegebensein, das als solches notwendig Vermittlung inkludiert. Soweit besitzen die Untersuchungen von Mokrosch und Kolar ihr Recht und sind auch genetisch im Prinzip Tillichs angelegt, so dass das Wissen um das Vermitteltsein der sich gegebenen Selbsttätigkeit als originär Tillich’sches Gedankengut erscheint.226 Hebt doch gerade das Prinzip der Selbstüberwindung – die selbst wiederum nur vermittelt und nicht unmittelbar in Anschlag gebracht wird – nirgends anders an als von dem unmittelbaren Bewusstsein der Vermitteltheit des Selbst, ohne dass das Selbst deshalb das Prinzip der Selbstüberwindung selbsttätig hervorzubringen vermag, es allerdings nur im Bewusstsein des eigenen Vermitteltseins in Anwendung auf sich selbst befindlich umzusetzen bzw. präziser gesprochen: auf sich angewendet sein lassen kann. Mit anderen Worten: Das Prinzip der Selbstüberwindung, so wie es Tillich in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ vorstellt, setzt das Wissen um ————— 224 Vgl. Reinhold Mokrosch, Tillich und Schelling. Zum Verhältnis von Metaphysik und Ethik, insbesondere zum Begriff der Freiheit in der Philosophie Schellings und in den Anfängen Paul Tillichs, Diss. Tübingen 1972, und Heinz Kolar, Das Methodenproblem in der Religionsphilosophie Paul Tillichs, Diss. Wien 1966. 225 Wenz, Subjekt, 212. 226 Dies bedeutet eine leichte Abweichung gegenüber Gunther Wenz (vgl. ebd., 213), der die Ergebnisse von Mokrosch und Kolar schon als über den Ansatz Tillichs hinausgehend, ihn korrigierend beurteilt. Zur Begründung der Behauptung, es handle sich um authentisches Tillichmaterial, siehe das im Text weiter Ausgeführte.

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das Vermitteltsein der eigenen Subjektivität notwendig voraus, um – unter Ausschluss der Aktivität des Subjekts – Anwendung auf das Subjekt finden zu können. Tillich erwähnt diesen Tatbestand nicht expressis verbis, allerdings leitet er sich notwendig aus seiner Konzeption des Prinzips der Selbstüberwindung ab. Mit dem eben Ausgeführten wird auch klar, dass die Kritik von Gunther Wenz an Mokrosch und Kolar geteilt werden muss, wenn sie vorbringt, dass bei Mokrosch und Kolar das Wissen um das Vermitteltsein der Subjektivität nun mit der „Funktion der Konstitution“227 belegt wird. Das würde nichts anderes bedeuten, als dass just der Wissensaspekt um das Vermitteltsein der eigenen Unmittelbarkeit die Vermittlung dieser Unmittelbarkeit übernehme. Genau das kann aber keineswegs der Fall sein, weil ansonsten einerseits das Vermitteltsein eingeholt wäre von der Vermittlung und der Vermittlungsprozess tatsächlich in Intransigenz überführt wäre;228 andererseits wurde gerade hergeleitet, dass es aus den Äußerungen Tillichs, die das Prinzip der Selbstüberwindung betreffen, schlechterdings unmöglich ist, die Selbstüberwindung oder das für sie – und nur für sie – notwendige Wissen um das Vermitteltsein der subjektiven Unmittelbarkeit schon selbst als Vermittlungsinstanz einzusetzen. Diese Möglichkeit schließt der Text Tillichs selbst aus. Das Prinzip der Selbstüberwindung fungiert – wie in der Analyse des Tillich’schen Prinzips bereits gesehen229 – nun primär als Vermeidungsmoment eines sacrificium intellectus, das notwendig droht, wenn der Glaube bzw. Religion als Konstitutionsbasis wahrhaften Denkens bzw. wahrhafter Sittlichkeit bei Tillich angesetzt wird.230 Die Funktion des Prinzips der Selbstüberwindung ist nun aber im Umkehrschluss auch für den Glauben selbst von Bedeutung, insofern auch das Prinzip der Selbstüberwindung nicht vom Glauben selbst konstituiert ist, sondern sich nur im religiösen Nachvollzug der Selbstkonstitution des Selbst als ob des sich im religiösen Akt einstellenden Wissens um das Vermitteltsein des Selbst als notwendig ————— 227

Ebd. Vgl. dazu äußert treffend Wenz, Subjekt, 213: „Das Wissen des Subjekts um sein SichGegebensein wird damit [sc. mit der Belegung des Wissens mit der Funktion der Konstitution] aber abstrakt, d.h. auf Kosten des Gedankens des Produziert- und Konstruiertseins, als Produktion und Konstruktion ausgegeben; es fungiert gleichsam als ein Vollzug, in dem das Subjekt sein Nichtgesetztsein setzt. D.h.: das Sich-Gegebensein der Subjektivität versteht sich als Wissenskonstrukt ebendieser Subjektivität.“ Daraus folgt aber: „[J]enes Wissen ist an sich selbst unmittelbar und zwar unvermittelt unmittelbar.“ (Ebd.) Der Lösungsversuch von Mokrosch und Kolar führt in die eigentlich zu behebende Aporetik zurück. 229 Vgl. Kap. 1.2.1 und 1.2.5.1. 230 Das Prinzip der Selbstüberwindung soll also genau das vermeiden, was Wolfhart Pannenberg an Tillich kritisiert, wenn seiner Meinung nach „auch bei Tillich ein irrationales Engagement als Vorzeichen aller theologischen Aussagen behauptet [wird], trotz alles sonstigen Strebens nach Rationalität in Tillichs apologetischer Theologie.“ (Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 46) 228

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für die Wahrhaftigkeit des Glaubens erweist. Glaube kann mithin in seiner Angewiesenheit auf das Prinzip der Selbstüberwindung, das seine stete Konnektivität mit dem Denken des Subjekts als unhintergehbare Basis seiner selbst aufdeckt, niemals zu securitas depravieren, weil die im denkenden Glauben durch das Vorhandensein des Prinzips der Selbstüberwindung fortwährend sich stellende Notwendigkeit der Relativierung des subjektiven Glaubensvollzugs ihn niemals zu reinem Bei-sich-Sein degenerieren lässt. Der in Tillichs Schriften, die an seine früheste Phase anknüpfen, so wichtige Aspekt des Zweifels ist unscheidbar mit dem Glauben momenthaft verbunden und verbietet darob – in Form des Prinzips der Selbstüberwindung – ein Sich-Beruhigen des Glaubens bei sich selbst, weil der Glaube als nicht rein irrationales Element seinem rationalen Anteil ungebrochen verpflichtet bleibt.231 Damit ist das Problem der Vermittlung der freien Selbsttätigkeit des Subjekts zwar weiterhin ungelöst – jedoch hat die Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Selbstüberwindung und dem Tillich’schen Glaubensbegriff eindeutig erbracht, dass die Festlegung der Begriffe Tillichs auf einen der in ihnen tatsächlich enthaltenen Pole höchst problematisch ist und den Ansatz Tillichs notwendig als aporetisch missinterpretiert. Durch das Einbringen des Prinzips der Selbstüberwindung ist nun ein neuer, mit dem Wissensbegriff eng verbundener Aspekt namhaft gemacht worden, der seinerseits nicht imstande ist – genauso wenig wie das Wissen –, den Vermittlungspart zu übernehmen, aber die Auswirkung des Vermitteltseins im realen Selbstvollzug des Selbst benennt. Das Problem der Vermittlung verschiebt sich somit nur auf eine höhere Ebene, indem Wissen um das Vermitteltsein der Unmittelbarkeit des Subjekts und Prinzip der Selbstüberwindung als dem Vermitteltsein notwendige Implikate die Vermittlung für die Geistesfunktionen des Selbst vermitteln. Wie hat nun aber die Vermittlung der Unmittelbarkeit der selbsttätigen Subjektivität statt? Oder anders formuliert: Wie hat die Evidenz der Berechtigung des Prinzips der Selbstüberwindung vorstellig zu werden? Dies gilt es weiter zu eruieren. Tillichs primäres Streben in der Konzeption der Offenbarung war der hier vertretenen Tillichauffassung nach die Vermeidung einer heteronomen Vereinnahmung der autonom selbsttätigen Produktivität durch die Setzung eines historisch fixierten Offenbarungsfaktums. Dieses Bemühen hat sich in ————— 231

Die Konstatierung der Irrationalität als Basis der Theologieexplikation Tillichs bei Wolfhart Pannenberg kann somit nicht in der vollen, von Pannenberg postulierten Weise und Konsequenz (vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 46f) geteilt werden, weil der Glaube in der Fassung Tillichs – dies dürfte aus der Analyse zur ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ erhellen – zwar ein alogisches Moment notwendig enthält, deswegen aber in gleicher Weise rational konnotiert ist, was eine einseitige Festlegung des Glaubens auf einen der beiden Aspekte verunmöglicht.

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Die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips

der Analyse des Tillich’schen Glaubensbegriffs nun allerdings gleichsam auf die Vermeidung einer willkürlich-autonomen Verkürzung des Glaubens auf einen rein irrational unverfügbaren Begriff erweitert und expliziert. Weder Offenbarung noch Glaube sind demnach – dies wurde bereits in den Anfragen an die Kritik von Gunther Wenz angedeutet – rein autonom oder heteronom verfasste Begriffe. Bleibt unbeschadet dieser Anlage die Polarität von Glaube und Offenbarung als reziprokes Spannungs- und Konstitutionsverhältnis ungebrochen in Geltung, so ist diese Polarität nicht als einfache Poldualität anzusetzen: Die Polarität von Autonomie und Heteronomie vollzieht sich originär nicht zwischen den Polen von Glaube und Offenbarung, sondern vielmehr innerhalb dieser beiden Pole jeweils selbst, so dass die beiden Grundpole ihrerseits wiederum polar aufgebaut sind.232 Dass auch dieses Konstrukt einer Polarität von Polaritäten seinerseits missverständlich und falsch wird, wenn von der Polarität der Einzelpole abstrahiert wird und diese im Einzelnen entfaltet werden, erhellt; trotzdem soll – unter stetem Bewusstsein der Abstraktheit des Unternehmens – das Polaritätsverhältnis innerhalb des Glaubens- und des Offenbarungspols näher expliziert werden, um die Grundanlage des Vermittlungsbegriffs bei Tillich besser nachvollziehen zu können. Somit lässt sich im Glaubensbegriff die Polarität eines heteronom und eines autonom verfassten Pols aufweisen, die sich einerseits als den individuell-subjektiven Glaubensvollzug und andererseits die schiere Faktizität des Gegebenseins des Glaubens aufweisen lassen. Angewandt auf den Offenbarungsbegriff lässt sich von der Dualität von einer für die Autonomie rezipierbaren Fassung der Offenbarung und auf der anderen Seite von dem historisch bedingten Unverfügbarkeitsmoment der Offenbarung, welches sich der autonomen Aneigenbarkeit entzieht, sprechen. Sowohl Glaube als auch Offenbarung sind als solche somit immer als Begriffe bestimmt, die von einer doppelten Konstitutionsbasis aus anheben und ausschließlich in dieser dualen Verfasstheit ihrem Wesen wahrhaftig entsprechen. In beiden Fällen bewahrt das heteronome Moment die autonome Selbsttätigkeit vor der Selbstverabsolutierung ihrer selbst, so wie gleichsam das autonome Moment die freie Selbsttätigkeit, mithin das Selbst-Sein an sich, und die wechselseitige Aufgeschlossenheit der Pole von Glaube und Offenbarung füreinander allererst ermöglicht. Oder kurz gesagt: Glaube und Offenbarung konstituieren nicht erst in ihrem Wechselspiel Theonomie,233 sondern sie selbst sind bereits ihrerseits theonome Be————— 232

Diese interne Polarität dürfte aus den obigen Ausführung zum Offenbarungs- und Glaubensbegriff evident sein, so dass eine erneute Erklärung als nur redundant nicht angeführt wird. 233 Das betrifft wiederum den Hauptvorwurf der Wenz’schen Interpretation des Theonomiebegriffs Tillichs, weil dieser ja dadurch fehlschlage, dass die Theonomie faktisch eingeholt sei durch die Autonomie, die jedwede Konstitutionsbasis außerhalb ihrer selbst – namentlich die Offenbarung –

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griffe. Innerhalb der internen Spannung dieser beiden theonomen Pole vollzieht sich nun die Vermittlung von Selbst und Grund des Selbst, die jedoch jetzt nicht mehr als eine einfache Bewegung, sondern – gewissermaßen in ihren Dimensionen potenziert – als eine zweifache Doppelbewegung234 ansichtig werden muss. Jedoch – so ist zu ergänzen – hat diese Bewegung bzw. die polar strukturiert ablaufende Doppelbewegung nie als eine abgeschlossene vorstellig zu werden, so dass Vermittlung zu einem tatsächlich dynamischen Begriff wird, der niemals zur intransigenten Feststellung einer Vermitteltheit der selbsttätigen Subjektivität wird, sondern immer ihr fortwährend sich vollziehendes und stets neu zu konstituierendes Vermitteltsein vorstellt. Mit dem vorgestellten Konzept, das aufgrund der vorhergehenden Analyse des Tillich’schen Prinzipdenkens beansprucht, die bei Tillich angelegten Strukturen systemintern zu explizieren, dürfte erhellen, dass eine kontradiktorische Anlage von Tillichs Prinzip und seinem Offenbarungsverständnis am Ansatz Tillichs selbst vorbeiläuft,235 weil sich die Vermittlung ————— ablehne und somit aus sich selbst heraus nichts anderes als unvermittelte Unmittelbarkeit hervorzubringen vermag. 234 Die von Wenz herausgearbeitete metalogische Methode des Tillich’schen Prinzips vollzieht sich somit in doppelter Form, indem sie sowohl im Glaubens- als auch im Offenbarungspol in Gänze verwirklicht ist. 235 Der Lösungsansatz von Gunther Wenz (vgl. Wenz, Subjekt, 215–234) auf Basis des Pannenberg’schen Offenbarungs- und Geschichtsverständnisses versucht deshalb auch, diese Differenzhaftigkeit in der Form, wie sie am Tillich’schen System kritisiert wird, zu vermeiden. Diese Konzeption nimmt einen viel stärkeren Ausgang von einer dezidiert historisch angelegten Offenbarungsfassung, auf deren Basis dann erst die Selbstkonstitution des Selbst anzuheben habe: „Wir behaupten also die Christusoffenbarung als die Bedingung der Möglichkeit produktiv tätiger Subjektivität! […] Christus ist nicht allein exemplarische Verkörperung, sondern Konstituens und Möglichkeitsgrund wahren Menschseins.“ (Ebd., 215) Daher solle von einer Abstrahierung von der Offenbarung in Jesus Christus abgesehen werden, weil die Tillich’sche „Aporetik nur durch ein grundweg geschichtliches Verständnis des Christusereignisses“ (ebd., 221) überwunden werden könne: „Die Theologie wird deshalb […] von der Selbstoffenbarung Gottes in der kontingenten und bestimmten Einmaligkeit Jesu ihren Ausgang zu nehmen haben.“ (Wenz, Theologie ohne Jesus?, 136) Entscheidend sei also, die „Differenzhaftigkeit der Offenbarung in Christus“ und damit das Offenbarungsgeschehen als „kontingente Geschichte“ (Wenz, Subjekt, 224) wahrzunehmen. In diesem schlechterdings differenten Jesus Christus „trifft der Geist nicht auf ein Fremdes, dem er verhaftet würde, sondern er findet in Christus als dem Außerhalb seiner selbst nichts anderes als sich selbst vor.“ (Ebd.) Clou der Argumentation von Wenz ist somit, dass die Offenbarung nicht – wie bei Karl Barth – als heteronome Andersheit, sondern im Gegenteil als eigentliche Bestimmung des Menschen, jedoch als kontingent Fremdes mit der Funktion einer „Selbstexplikation im anderen“ (ebd.) eingebracht werde. Dieser Ansatz versucht sicherlich die von Wenz veranschlagte Aporie bei Tillich zu beseitigen, bedient sich dabei allerdings eines völlig anderen Gedankenguts, als dies für die Tillich’sche Theologie passend wäre, so dass hier letztlich ein anderes Theologieverständnis raumgreift. Die Konzeption von Geschichte und Offenbarung bei Pannenberg, auf die Wenz rekurriert, ist völlig different zum Konzept Tillichs, weil sie die geschichtlichen Fakten als reine, von der historisch-kritischen Wissenschaft zu überprüfende

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nicht in der einfachen Form zweier Pole, sondern vielmehr in der Vermittlung zweier sich selbst in Vermittlung befindlicher Pole vollzieht. Diese sich vermittelnde Parallelstruktur hebt nicht die Differenzhaftigkeit von Glaube und Offenbarung auf, die ihrerseits jeweils parallele, aber distinkte Strukturen darstellen, von denen erst in ihrer Polarität ausgesagt werden kann, dass sie das Selbe vollziehen und nichts Verschiedenes thematisieren. Für das Verhältnis von Glaube und Prinzip bedeutet dies, dass der Glaube sein Prinzip nicht selbst, sondern allenfalls vermittelt hervorbringt; in Bezug auf die Offenbarung ist dann nicht von der Problematik von Konstruktionsbasis des Prinzips oder idealem Exempel zu sprechen, weil das Prinzip, das die Offenbarung konstituiert, allenfalls vermittelt eingebracht wird, weshalb die Offenbarung Gottes in Jesus Christus immer beides zu sein hat: Prinzip und Paradigma.236 Ihre Korrektur erhalten Glaube und Offenbarung von ihrem jeweiligen Gegenpol, der das Vermitteltsein dieser Vermittlung ansichtig werden lässt im Prinzip der Selbstüberwindung, dem beide Polari————— Thesen einbringt, wodurch gerade der intersubjektive Charakter der Theologie im Gespräch mit anderen Wissenschaften beibehalten werden soll. Die perennierende Überprüfung des Wahrheitsgehaltes der kontingent-historischen Offenbarung ist es dann auch, die das Vermitteltsein des Selbst leisten soll, weil die ständige Überprüfung der eigenen Unmittelbarkeit am fremden und doch intimst das eigene Selbst thematisierenden Charakter der Offenbarung die Fortdauer der Vermittlung bewerkstelligen und garantieren soll. Fraglich bleibt allerdings auch an diesem Lösungsansatz, dass nicht geklärt ist, wie denn eigentlich historisch zu verifizierende Thesen gleichzeitig als für wahr befundene Glaubensaussagen fungieren können. Vgl. dazu etwa Hermann Fischer, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 163–178, in dessen Polemik gegen den Ansatz Pannenbergs sicherlich nicht eingestimmt werden muss, der aber auch das Problem erkennt, dass einerseits „die Aussagen der Theologie […] lediglich den wissenschaftstheoretischen Status von ‚Hypothesen‘“ (ebd., 167) einnehmen sollen, andererseits aber die Wahrheit ihrer Behauptung voraussetzen – oder in die Gefahr geraten, dass die auf Wahrheit hin angelegte Offenbarung Gottes auch tatsächlich falsifiziert werden kann. Außerdem besteht im Hinblick auf die Offenbarungsthematik das Problem, dass bei einem letztlichen Ausgehen davon, dass im Christusereignis das wahre Menschsein dem Selbst seine Selbstkonstitution vermittelt, die Überprüfung der historischen Thesen ja bereits als Verifikation vollzogen sein muss und das Überprüfungssystem somit wiederum zu einem Feststellen der Wahrheit, mithin zu Intransigenz gerinnt. Freilich ist das nicht die Intention des Unterfangens, jedoch muss sich der Ansatz diese Anfrage gefallen lassen, wie denn die Dynamik aufrecht erhalten bleiben soll, ohne reines Postulat zu sein. – Intendiert somit der Lösungsansatz der Tillich’schen Aporektik durch Gunther Wenz zwar, die historische Dimension auch in die Theologie einzubringen und ernst zu nehmen, so verabschiedet er sich damit jedoch vom Konzept Tillichs, das von einem anderen Theologieverständnis ausgeht. Vgl. allerdings jetzt Wenz, Metaphysischer Empirismus. Der späte Schelling und die Anfänge der Tillich’schen Christologie, in: Peter Haigis/Gert Hummel/Doris Lax (Hg.), Christus Jesus – Mitte der Geschichte!? Beiträge des X. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/Main 2004. Christus Jesus – the Center of History!? Proceedings of the X. International Paul-TillichSymposium Frankfurt/Main 2004 (Tillich-Studien, Bd. 13), Berlin 2007, 11–32. 236 Die Frage nach einem prius stellt sich daher überhaupt nicht, weil die Gleichzeitigkeit garantiert ist aufgrund der internen polaren Struktur, in der der Offenbarungsbegriff angelegt ist. Dasselbe gilt für den Glaubensbegriff.

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tätsrelate aufgrund der Reziprozität des Verhältnisses gleichermaßen verpflichtet sind. In weitestgehender Übereinstimmung mit der gerade explizierten Tillichinterpretation steht der groß angelegte Ansatz von Christian Danz, der sich allerdings primär mit der Spätphase des Tillich’schen Denkens und somit der ontologischen Fassung des Systems bei Tillich befasst.237 Da nun das Funktionieren der sich selbst in gegenläufiger Polaritätsstruktur entfaltenden Pole im System Tillichs auch für das frühe Werk der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ nachzuweisen versucht wurde, sollte noch stärker von einer Kontinuität im Werk Paul Tillichs die Rede sein dürfen – doch dies wird sich noch deutlicher in den Kapiteln 2 und 3 zeigen.

1.3.3 Die Pneumatologie als Inbegriff des theologischen Standpunkts 1.3.3.1 Die trinitätstheologische Vollendung des Systems Der letzte Teil der Dogmatik steht als drittes und somit absolutes Moment in engem Zusammenhang mit den beiden ersten Teilen, der Gotteslehre sowie der Christologie. Wie der gesamte dogmatische Part in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ ist auch die Pneumatologie trinitätstheologisch konzipiert.238 Wie bereits für die Christologie angemerkt, lässt sich keine klare Trennlinie zwischen der Lehre vom Christus und der Lehre vom Geist ziehen, da das dritte Moment der Christologie, die Auferstehung oder Erhöhung, bereits die Vollendungsbewegung initiiert, die über die Versöhnung im Kreuz hinausreicht. Der Pneumatologie kommt es nun in besonderer Weise zu, das von Jesus Christus gewirkte Rettungswerk zur soteriologischen Vollendung zu führen, indem sie die in der Inkarnation des Christus erfolgte Bewegung von der abstrakten Absolutheit in die völlige Konkretheit hinein und wieder zurück zur – nun vollendeten – Absolutheit gewissermaßen wiederum fruchtbar rückbindet an den nach wie vor existenten Standpunkt der Relativität. Ist das Konkrete, Relative durch die Tat Gottes in Kreuz und Auferstehung Christi gerechtfertigt, d.h. von der Sünde ————— 237 Vgl. dazu v.a. den ersten Teil der Danz’schen Darstellung (Danz, Freiheitsbewußtsein, 13– 175). Danz ist darum bemüht, gerade die Polaritätsstrukturen im System Tillichs bis in ihre kleinsten Verästelungen im Rahmen des Gesamtsystems Tillichs zu explizieren. Genau diese Vorgehensweise führt zu dem Ergebnis, das in extrem komprimierter Form auch oben vorgestellt wurde: Die Tillich’schen Polaritäten müssen in ihrer Strukturiertheit als gegenläufige Bewegungen verstanden werden, die sich gerade nicht in einem einfachen Poldual erschöpfen. 238 Dies wird im Fall der Pneumatologie in Sonderheit deutlich, da sie von Kapiteln gerahmt ist, die die Trinität bereits im jeweiligen Titel thematisieren; vgl. die Paragraphenüberschriften zu D §14; 364: „Die Einheit Gottes und des erhöhten Christus (Trinität)“ und D §19; 375: „Das ewige Leben (Trinität)“.

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befreit, und prinzipiell in die einende Absolutheit Gottes zurückgeführt, so ist es Anliegen des Geistes, vom erhöhten Christus ausgehend239 das, was prinzipiell erfolgt ist, auch faktisch zu vollziehen.240 Dieses telos der faktischen Rückführung wird erreicht, indem die Pneumatologie als doppeltes Prinzip fungiert: Einerseits ist der Geist zwar primär das „Prinzip der Rückkehr zu Gott“ (D §14; 365f), weil er das prinzipiell Versöhnte in die Einheit Gottes reintegriert, anderseits ist er dieses Prinzip immer nur unter der Voraussetzung, dass er das bewahrende Prinzip darstellt, das das in Kreuz und Auferstehung Christi Bewirkte beständig garantiert. Dass Gott „die Züge Jesu von Nazareth“ (D §14; 365) trägt, verdankt sich somit prima facie zwar der Christologie als der Bewerkstellerin eben dieses Faktums; die Prolongation dieser Tat in die Ewigkeit hinein vermag allerdings der Geist als das Prinzip der Rückkehr zu bewirken, indem das ewig in Gott Bewahrte vermittels des Geistes allererst seine ewige Stelle einnehmen kann. Aus der zunächst konstatierten zeitlichen Abfolge von christologischem und pneumatologischem Vollzug wird genauer betrachtet daher ein Ineinandergreifen der beiden dogmatischen Topoi, die inhaltlich – und hier ist natürlich wiederum das erste, absolute Moment in Anschlag zu bringen – nichts Differentes aussagen, ihre Spezifität allerdings aus der Perspektive der Betrachtung erhalten, indem die Christologie den initiierenden und bewirkenden Part, die Pneumatologie ihr vollendendes und ausführendes Pendant darstellt. Die Pneumatologie ist somit nicht ohne die Christologie und vice versa, wenn auch festgehalten werden muss, dass ob des konkreten Aspekts, den die Christologie in die Dogmatik einbringt, vom theologischen Standpunkt aus eine umgekehrte Reihenfolge der beiden Topoi schlechterdings undenkbar ist – aus absoluter Perspektive fallen die beiden Aspekte – nach Aufhebung des Paradoxes – natürlich in suprazeitliche Einheit. ————— 239 Tillichs Konzeption trägt somit stark die Züge einer das filioque bejahenden Position. Der Geist ist dezidiert abhängig von der vorangehenden und errettenden Offenbarung Gottes in Jesus Christus, so dass der Geist erst nach der Heilstat Jesu Christi als Konsequenz des Kreuzesgeschehens – was ihn in die Nähe der Auferstehung Jesu rückt und den engen Konnex von Christologie und Pneumatologie unterstreicht – seine Wirkung und Funktion entfalten kann; vgl. D §14; 366: „[A]ls beherrschendes Prinzip kann er [sc. der Geist] aber erst erscheinen, nachdem die Einheit der anderen Momente vollendet ist, nach der Erhöhung Christi; erst nachdem die Welt in Christus prinzipiell zurückgekehrt ist zu Gott, kann sie durch den Geist faktisch zurückkehren. Nicht als ob der Geist ein neues Offenbarungsprinzip wäre, er ist gebunden an die Geschichte der Offenbarung und ihre Vollendung in Christus, er ist der Geist Christi“ (Hervorhebungen S.D.). 240 Die Abhängigkeit pneumatologischer Realisierung von dem im Christusgeschehen prinzipiell Vollzogenen für Tillichs Gesamttheologie, v.a. aber für die spätere Theologie Tillichs ab dem Jahr 1925, betont auch Falk Wagner; vgl. Wagner, Christus, 250f und 237.

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1.3.3.2 Die Pneumatologie als Endpunkt der Entfaltung des theologischen Prinzips Neben dem eben dargestellten absoluten, für den Standpunkt der Relativität jedoch notwendig abstrakten Anspruch, den die Pneumatologie in ihrer inhaltlichen Füllung erhebt, expliziert sich die Pneumatologie im Weiteren noch in dem Aspekt der konkreten Verwirklichung (1) des pneumatologischen Anspruchs in der Sphäre der Relativität, wozu namentlich die Kirche und ihre Geschichte zu nennen sind, und in der absoluten Durchsetzung (2) des pneumatologischen Anspruchs, also der Auferstehung und Vollendung des Einzelnen. Diese beiden Aspekte sollen im Folgenden verhandelt werden. (1) Die im abstrakt-absoluten Anspruch der Pneumatologie enthaltenen Grundsätze der Geborgenheit sowie der Rückführung der Sündhaftigkeit in die Einheit Gottes und dadurch der Heraushebung des gesamten Standpunkts aus der Sündhaftigkeit überhaupt äußern sich in konkreter Hinsicht beim dritten Moment des theologischen Prinzips nach Tillich in der Zusammenfassung der Einzelglieder des Relativitätsstandpunkts zu einer Gemeinschaft, welche sich – und eben das ist die Konkretheit des eigentlich absoluten Unterfangens – in Form der Kirche realisiert.241 Entscheidend gebunden bleibt auch die kirchliche Äußerung an die Rettungstat Gottes in Christus, so dass zwar jedes Einzelsubjekt per se angesprochen bleibt von der konkreten Anschauung des Christus am Kreuz, eine Exklusivität des Einzelselbst jedoch insofern schlechterdings abzulehnen ist, als das Kreuz Christi zwar für jeden Einzelnen die Tat Gottes vorstellig macht, die Versöhnung mit Gott bzw. Errettung aus dem Stand der Sündhaftigkeit jedoch letztlich immer eine den Gesamtstandpunkt betreffende ist, so dass zwar die Errettung jedes Einzelnen statthat, jedoch so, dass diese Rettungsform vermittels ihrer Bindung an Christus und somit auch an die Gestalt der Erlösung im Kreuz stets als eine bezüglich einer Gemeinschaft aller Einzelnen erfolgte gedacht werden muss.242 Aus der Christologie leitet sich für Tillich demnach konsequent die durch den Geist, präziser: den Geist Christi vermittelte Ekklesiologie ab. Genau genommen ist es auch hier wieder das Prinzip der Selbstüberwindung, das latent Rückbindung des Einzelnen an die gottgewirkte Gemeinschaft der Kirche garantiert, weil erst unter Absehung des Selbstbehauptungsanspruchs des Einzelselbst von einer Akzeptanz des Kreuzesgeschehens gesprochen werden kann, so dass die vertiefte Einsicht in das, was sich am Kreuz ereignet, pneu-

————— 241

So kann Tillich aussagen, „daß die Überwindung des Zustandes der Sündhaftigkeit, der sich selbst behauptenden Einzelheit, nur möglich ist durch die Zusammenfassung des einzelnen zu der Einheit einer in Gott begründeten Gemeinschaft.“ (D §15; 367) 242 Vgl. D §15; 367: „Jeder Versuch die Wirkung des Geistes unabhängig zu machen von diesen Vermittlungen [sc. die Vermittlung zwischen Kirche und Christus durch die media salutis, Wort und Sakrament], sie als unmittelbar erlebbar zu fassen, scheitert an dem konkreten Moment des theologischen Prinzips und der grundlegenden Beziehung der Erlösung auf den Zustand der Sündhaftigkeit, nicht auf den einzelnen Sünder.“

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matologisch notwendig die Gemeinschaftsform aller Einzelnen als die gottgemäße Rezeptionsform der Einzelerrettung zur Folge zeitigt.243 Ist dies alles eine der absoluten Perspektive zugeordnete Position, so spricht Tillich hier auch von der, wie er sagt, „unsichtbaren Kirche“ (D §15; 368) bzw. der „Kirche im dogmatischen Sinn“ in Unterscheidung zu „den Kirchen als Institutionen“ (D §15; 369). Die Ekklesiologie als konkreter Part der Pneumatologie möchte jedoch dezidiert das Tableau, mithin die prinzipielle Struktur und Form vorgeben, in denen sich konkrete Kirchlichkeit gemäß dem theologischen Prinzip abzuspielen vermag. Die Unterscheidung zwischen ‚der Kirche‘ und ‚den Kirchen‘ ist bei Tillich demgemäß eine zwar prinzipielle, aber andererseits durchaus auch für die Konkretheit ernst gemeinte. Kirche im singulären Sinne muss es zwar aus der Einheit des Prinzips heraus geben, allerdings kann Kirche als konkret verfasste sich nur äußern in der durch die kulturelle Relativität gegebenen Pluralität, so dass wie bei Tillichs Konzept einer ‚Mitte der Schrift‘ auch die realexistenten Kirchen zu messen sind an der Erfüllung des absoluten Anspruchs, der an sie herangetragen wird, welcher sich konkret in der Einheit, Heiligkeit und Allgemeinheit der Kirche äußert.244 Die Einheit ist – wie bereits erwähnt – gegeben durch den Ausgang von einem theologischen Prinzip, welches als singuläres Prinzip auch eine Einzelform der Kirche notwendig nach sich zieht. Die Gemeinschaftsform aller Erretteten unter Einschluss des Retters Jesus Christus bewirkt die Heiligkeit der Kirche, weil alle an der göttlichen Einheit Partizipierenden und sich somit in die Gemeinschaft Eingliedernden dem Zustand der Sündhaftigkeit enthoben sind, wodurch die Sphäre der Heiligkeit auch den Gemeinschaftsmitgliedern zugeschrieben werden kann. Die Allgemeinheit der Kirche schließlich ergibt sich aus ihrer Rückbindung an den Christus Jesus und damit – ohne dass Tillich

————— 243 Bei aller Konsequenz, die Tillich in sein Kirchenkonzept einzuzeichnen versucht, bleibt letztlich doch der Verdacht, dass die Ekklesiologie an dieser Stelle – so sehr ihre Wichtigkeit und Notwendigkeit von Tillich betont wird – eigentlich nur Annex der Christologie ist, der potentiell sekundär auch dahinfallen kann. Es zeigen sich mithin Analogieelemente zu Tillichs Fokussierung auf das Kreuz bei gleichzeitiger tendenziell zurücktretender Bedeutung der Auferstehung Jesu Christi. Auch hier ist das dritte Moment weniger stark betont als das zweite, was sich nun gesamtdogmatisch betrachtet auf das dritte Moment, die Penumatologie, niederschlägt. Wirklich logisch mutet die von Tillich postulierte Notwendigkeit, mit der das Kreuzesgeschehen in die Gemeinschaft aller vom Kreuz Betroffenen mündet, nicht an, weil der letzte Bezugspunkt, Christus bzw. sein Kreuz, immer nur, ja gerade in Form der völligen, unvermittelten und somit sündhaften Einzelheit rezipierbar bleibt, ohne dass dies aus absoluter Sicht in concreto die Zusammenfassung zur Kirche folgern würde. Freilich ist zu veranschlagen, dass Tillich von der Kirche im dogmatischen Sinne und nicht in ihrer institutionellen Ausprägung spricht – jedoch bleibt fraglich, ob die zwar eschatologisch auch nach Tillichs System notwendig zur Gemeinschaft aller Einzelentitäten führende Kirchenvorstellung auch auf die realexistente Kirche bzw. die existierenden Kirchen Anwendung finden kann. Was in eschatologischer Hinsicht notwendiges Postulat ist, muss noch lange nicht das in der Zeitlichkeit Gesetzte mit unbedingtem Anspruch betreffen. Tillich entwirft hier somit bestenfalls ein eschatologisches Bild, das jedoch nur schwerlich auf die realen Verhältnisse anwendbar erscheint. 244 Die vierte klassische Bestimmung der Kirche, ihre Apostolizität, erwähnt Tillich nicht, wohl um seine Triasstruktur aufrecht erhalten zu können.

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es erwähnt – an die allgemeine Gültigkeit der von ihm vorstellig gemachten absoluten Kriterien, welche alle in die identische Gemeinschaft führen.245 Zwar immer noch in abstrakter Perspektive, aber mit konkreter Intention verbunden ist bei Tillich die Explikation dessen, was denn nun Kirche sei. Analog den beiden Momenten von Abstraktheit und Konkretheit ist das Tillich’sche Kirchenverständnis in starker, wenn auch nicht erwähnter Bezogenheit auf den siebten Artikel der Confessio Augustana konzipiert, indem die heilige Schrift bzw. ihre Verkündigung und die Sakramente als Konstitutionselemente der Kirchlichkeit der Kirche bestimmt werden. Die Bestimmung dessen, was als Kirche zu bezeichnen ist, wird von Tillich mit der Historizität der Erlösung durch das Kreuz Jesu Christi begründet, weil ob des geschichtlichen Vollzugs die Vermittlung der durch den Gottessohn gewirkten Heilstat schlechterdings nicht anders für den Standpunkt der Relativität vorstellig werden kann „als durch Kunde von dieser Geschichte und lebendige Beziehung zu dem geschichtlichen Christus“ (D §15; 367). Die sich daraus ableitenden media salutis von Wort und Sakrament sind deshalb nicht anders zu verstehen als den beiden menschlichen Geistesmöglichkeiten gegenüberstehende Analoga, indem konkret die Wortverkündigung der Abstraktheit des Denkens, das Sakrament der sinnlich-konkreten Anschauung entsprechen; sachlich, d.h. von ihrem Bedeutungsinhalt her stellen Wort und Sakrament jedoch keine Gegensätze dar, sondern explizieren nur die Botschaft von der in Christus erfolgten Gottestat für die beiden auf dem Standpunkt der Relativität statthaften Rezeptionsmöglichkeiten. Wie der Inhalt der Schrift nach Tillichs Konzeption sind auch Wort und Sakrament an sich relative Formen, anhand derer der absolute Inhalt des theologischen Prinzips in paradoxer Gestalt vom Konkreten erfasst werden kann, weshalb Tillich die media salutis auch als „heilige Objekte“ bezeichnen kann.246 Die höchste Konkretionsstufe erreicht die Tillich’sche Pneumatologie in der expliziten Lehre von Wort und Sakrament. Zwar muss auch hier von einem abstrakten bzw. dogmatischen Kirchenverständnis ausgegangen werden, weil man ansonsten in die oben erwähnten Aporien gerät, allerdings ist die Konzeption der media salutis doch bewusst darauf ausgerichtet, was sie sein sollen, nämlich die echte Vermittlungsinstanz der Einzelmitglieder der gottgewirkten Gemeinschaft mit der durch Jesus Christus erfolgten Heilstat, wodurch letztlich die volle Partizipation am Heilsgeschehen statthaben soll. Die Wortverkündigung ist bei Tillich strictissime an seinem Schriftverständnis orientiert, d.h. dass nicht die Schrift als solche unmittelbare Autorität in Anspruch nehmen kann, sondern den biblischen Aussagen nur insofern

————— 245 Vgl. D §15; 369: „Die Eigenschaften der Kirche sind entsprechend den drei Momenten des theologischen Prinzips Einheit, Heiligkeit, Allgemeinheit. Die Kirche ist eine, denn sie ist gegründet auf die absoluten Kategorien des Rechtfertigungsprinzips, durch die jede Mehrheit der Kirchen im absoluten Sinne ausgeschlossen ist; die Kirche ist heilig, denn sie ist durch die Gemeinschaft mit dem erhöhten Christus aus dem Zustand der Sündhaftigkeit erhoben; die Kirche ist allgemein, denn jeder, der mit Christus verbunden ist, gehört ihr an.“ 246 Vgl. D §15; 367: „Wort und Sakrament verhalten sich wie Denken und Anschauen; ihr Gegensatz ist also lediglich ein phänomenologischer, kein sachlicher. Sachlich sind sie das Gleiche: Einzelerscheinungen, in denen das Absolute wirksam ist, […] kurz: heilige Objekte.“

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und insoweit Bedeutung zuzusprechen ist, als sie das theologische Prinzip in Reinform enthalten. Anhand dieser Definition ist es Tillich auch möglich von einem über den biblischen Textbestand hinausgehenden Wortverständnis auszugehen, weil das theologische Prinzip als solches zwar in den biblischen Schriften in höchster Dichte, jedoch – aufgrund der nicht unmittelbaren Autorität – nicht ausschließlich enthalten ist.247 Einen weiteren Schritt weg vom siebten Artikel der Confessio Augustana bewegt sich Tillich in seinem Sakramentsverständnis. Auch hier ist wiederum das theologische Prinzip der Maßstab, anhand dessen dem Sakrament seine Sakramentalität zuzusprechen oder abzusprechen ist. Von einem Sakrament kann nach Tillich nur gesprochen werden, „sofern darin das theologische Prinzip in eigentümlicher Weise rein zur Anschauung kommt.“ (D §15; 368) Demnach kann prinzipiell „jede Handlung“ (D §15; 368) zum Sakrament werden. Die Entscheidungskriterien für die Auswahl der Sakramente obliegen nach Tillich somit der jeweiligen Gemeinschaft in ihrer historischen Bedingtheit, so dass der argumentative Nachvollzug der Sakramentenauswahl letztlich eine Aufgabe der praktischen Theologie und nicht der systematischen ist.248 Von Bedeutung ist für Tillich nur das Verhältnis von der abstrakten Form der Wortverkündigung und dem konkreten Sakramentsvollzug dergestalt, dass beide Formen per se aufgrund ihrer Relativität nicht als die Form schlechthin bezeichnet werden können, sondern dass erst dezidiert beide Gestalten der Heilsvermittlung in wechselseitiger Bedingung die Kirchlichkeit der Kirche begründen und bewahren können. Eine Einzelbetonung von Wort oder Sakrament führt nur zu abstrakter Polarität, die dem Paradox, welches Grundlage der Kirche ist, nicht gerecht zu werden vermag.

————— 247 Vgl. D §15; 367f: „Das Wort Gottes ist grundlegend enthalten in der heiligen Schrift, insofern, aber auch nur insofern in ihr die Offenbarung des theologischen Prinzips gegeben ist; Wort Gottes ist aber auch jedes aus der Schrift abgeleitete Wort, sofern darin das theologische Prinzip zu reinem Ausdruck kommt. Wort Gottes ist also zugleich enger und viel weiter als [die] Bibel.“ (Hervorhebung S.D.; Konjektur in der Edition) Die Stelle macht deutlich, dass Tillich hier schlicht an sein bereits dargestelltes Schriftverständnis anknüpft und demnach von einer Art ‚Mitte der Schrift‘ ausgeht, deren Kern das theologische Prinzip darstellt, an dem sich der Wahrheitsgehalt der biblischen Texte zu messen hat. Gleichzeitig versucht Tillich an der Notwendigkeit einer Ableitung der Wortverkündigung aus der Schrift festzuhalten, auch wenn die Verkündigung über die Schrift hinausgeht. Tillich meint damit allerdings kein inhaltlich über die Schrift hinausgehendes und insofern als Ergänzung zu bezeichnendes Material, sondern ausschließlich andere Ausdrucksformen des in der Mitte der Schrift bzw. im theologischen Prinzip Enthaltenen. Deshalb muss auch in diesem Fall von einem konstitutiven Reziprozitäts- und Irreduzibilitätsverhältnis von Schrift und Prinzip ausgegangen werden, so dass im Rahmen des Tillich’schen Gesamtkonzepts die Schrift als konkretes Moment nicht hinfällig, sondern nur in ihrer Konkretheit als relativ und somit bar jeglichen absoluten Anspruchs, der nur dem Prinzip allein zuzusprechen ist, gekennzeichnet werden muss. 248 Vgl. D §15; 368: „Was in einer einzelnen Gemeinschaft als Sakrament gelten soll, entscheidet diese selbst: die Begründung dieser Entscheidung gibt die praktische Theologie.“ Die Einteilung der Sakramente daran festzumachen, ob sie von Jesus selbst eingesetzt wurden, lehnt Tillich als Autoritätsbeweis, der seine Beweiskraft ausschließlich aus der „Sphäre der Zufälligkeit“ (D §15; 368) speist, systemkonsequent als relatives Unterfangen ab.

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Die Kirche als solche kommt somit bei Tillich primär als eschatologische Instanz, mithin als ‚Sammlungsstätte‘ der durch und in Jesus Christus Geretteten in Ansicht und widmet sich dadurch in Sonderheit dem bewahrenden Aspekt der Pneumatologie; gleichzeitig ist die Kirche aber immer auch – selbst in ihrer dogmatischen Abstraktheit – lebensweltliche Bezugsgröße, was sich an ihrer Geschichtlichkeit bzw. ihrem Sein in der Geschichte zeigt und zu ihrem zweiten, soteriologischen Aspekt überleitet. Tillich fasst auch hier wiederum die Kirche als im dogmatischen Sinn verstandene, wenn er die Kirchengeschichte gegenüber der Weltgeschichte249 als Prinzip und letztere als das relative Pendant klassifiziert. Letztlich ist auch hier wiederum der dem System Tillichs grundgelegte Gedanke eines irreduziblen und konstitutiven Spannungsverhältnisses der beiden Relate innerhalb des Prinzipverhältnisses konstitutiv. Stellt die Kirchengeschichte die Geschichte der in die Geschichte eingegangenen dogmatischen Kirche, d.h. der Kirche im absoluten Sinne, dar und verkörpert somit ein Eingehen absoluter Kategorien in die Relativität, so ist die Weltgeschichte ihrerseits als das relative Bemühen zu verstehen, aus der Relativität heraus zur Absolutheit der Kirchengeschichte zu gelangen. Dabei fallen die Konvergenzstrukturen der beiden Geschichten jedoch unter Relativitätsbedingungen aufgrund der absoluten, unüberbrückbaren Differenzhaftigkeit der beiden Pole niemals in eins, ja können dies schlechterdings nicht, weil dies eine Aufhebung des Polaritätsverhältnisses von Kirchen- und Weltgeschichte zur Folge hätte, was gleichzusetzen wäre mit der Aufhebung des Paradoxes.250 Dass dieses Unterfangen des Dahinfallens des Paradoxes als in der Zeitlichkeit stattfindendes von Tillich schlechterdings abgelehnt werden muss, ist evident, da die Paradoxalität des Paradoxes erst und ausschließlich im Zustand der Vollendung, die als die absolute Synthesis von Absolutheit und Konkretheit trotz ihrer unüberbrückbaren Differenz vorstellig zu werden hat, statthaft ist.251 Gleichzeitig bleibt die innerhalb des Prinzips angelegte Hierarchiestruktur, die von Tillich latent von Schellings Konzeption übernommen sein dürfte, auch in diesem Fall dergestalt in Kraft, dass, gleichsam wie das Konkrete erst seinen Ausgang nimmt beim Absoluten und somit ohne das Absolute schlechterdings nicht ist, auch die Weltgeschichte ihren Konstitutionsgrund in der ihr notwendig vorangehenden Kirchengeschichte findet, was jedoch wiederum nicht einer Aufhebung der Irreduzibilität zwischen der Konstituierung von Kirchen- und Weltgeschichte gleichkommt.252 Mit

————— 249 Vgl. die Überschrift zu D §16; 369: „Kirchengeschichte und Weltgeschichte (Grundlegung der theologischen Ethik)“. 250 Vgl. die These zu D §16; 369f: „Während in der Kirchengeschichte das theologische Prinzip eingeht in alle Seiten des Reflexionsstandpunktes, bewegen sich in der Weltgeschichte alle Seiten des Reflexionsstandpunktes auf das theologische Prinzip hin. Beide Bewegungen beeinflussen sich wechselseitig, kommen aber, als auf dem Boden der Relativität stehend, ins Unendliche zu keiner absoluten Einheit.“ 251 Vgl. D §16; 371: „Der absolute Endzustand wäre aber die Verneinung des Reflexionsstandpunktes und damit die Aufhebung des Paradox. Dieses darf aber entsprechend dem dritten Moment des theologischen Prinzips in keinem Zeitpunkt als vollzogen gedacht werden, sondern führt zurück in die überzeitliche Betrachtung – zu der Eschatologie.“ 252 Vgl. D §16; 370: „In der Kirchengeschichte wird sich die Weltgeschichte ihrer eignen Voraussetzung bewußt, und in der Weltgeschichte findet die Kirchengeschichte die Motive ihrer Bewe-

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anderen Worten: Die Kirchengeschichte geht als Basis und telos der an sich kontingenten Weltgeschichte immer schon voraus, jedoch derart, dass dies unter relativen Bedingungen einen wechselseitigen Bezug der beiden Geschichtsvollzüge aufeinander zur Folge zeitigt, weil die beiden Pole in steter Nichtkongruenz stehen, so dass ihre Synthese in und trotz aller Differenz wiederum als eine geforderte, aber noch ausstehende zu kennzeichnen ist. Dass Tillich beim Verhältnis von Kirchen- und Weltgeschichte trotzdem nicht von einer „absolute[n] Antithese“ (D §16; 370) sprechen möchte, ist eben der Kombination von Verhältnismäßigkeit und Hierarchie der Pole geschuldet, indem zwar die Weltgeschichte nicht ist ohne die Kirchengeschichte und somit letztlich der Kirchengeschichte untergeordnet ist, gleichzeitig aber die Kirchengeschichte fortwährend als auf die Weltgeschichte bezogene vorstellig werden muss, darob sie ihretwillen überhaupt erst ist. Der erste Aspekt verdeutlicht den Hierarchieanspruch, der zweite den Verhältnischarakter von Kirchen- und Weltgeschichte. Soteriologisch ist der geschichtliche Aspekt des Kirchenbegriffs somit durch die in der historischen Sphäre stattfindende Weitergabe der durch Jesus Christus vermittelten absoluten Kategorien. Die Kirche und ihre Geschichte stellen dabei in absoluter Form die konkrete Bedeutung dar, die das Christusereignis in eschatologischer Dimension beansprucht, nämlich die letztliche Synthese von Relativität und Abstraktheit in und trotz ihrer jeweiligen Verfasstheiten. Tatsächlich soteriologisch wirken kann die Kirche nur durch ihre im Geist immer gegebene Rückbindung an die Versöhnungstat Jesu Christi, die das schlechthin konstitutive Moment wahrer Kirchlichkeit in sich trägt. (2) Das dritte und somit absolute Moment des pneumatologischen Teils behandelt nun klassisch eschatologische Themen, indem der Endzustand der Relativität in Verbindung mit Gericht und Auferstehung sowie dem Reich Gottes Gegenstand der Betrachtung ist. Diese absolute Durchsetzung des pneumatologischen Anspruchs wird von Tillich wiederum gemäß seiner Grundtrias expliziert: Erstens kommt als allgemeines Moment die Reintegration des Relativitätsstandpunkts als auf der Natur basierender in Ansicht, was der Rückkehr alles Natürlichen zu Gott entspricht. Zum Zweiten ist in konkreter Perspektive der Fokus auf die Vollendung des Einzelnen, ja dezidiert des einzelnen Menschen als Persönlichkeit gerichtet, was sich in der persönlichen Einzelauferstehung äußert. Zuletzt geht Tillich noch auf den absoluten Endzustand ein, der als vollkommene Gemeinschaft als Ausdruck eines differenzierten Einheitsbegriffs, mithin als Reich Gottes, expliziert wird. Durch die Existenz von Einzelentitäten auch nach der Gottestat im Kreuz Christi ist die Fortdauer natürlicher, relativer Kreatürlichkeit schlechterdings Signum der Lebenswirklichkeit. Eine absolute Form der Überwindung der Sündhaftigkeit, die erst gegeben ist in der Aufhebung des gesamten Standpunkts der Sündhaftigkeit, hat

————— gung. Faktisch ergibt sich daraus die doppelte Bewegung von dem theologischen Prinzip aus in die Mannigfaltigkeit des geschichtlichen Prozesses und umgekehrt von dieser Mannigfaltigkeit hin zu dem theologischen Prinzip.“

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mithin erst unter eschatologischen Bedingungen statt,253 so dass im Gegenzug unter relativen Bedingungen stets eine partielle Aufhebung der Einzelentität nur im Fall des Dahinfallens der natürlichen Grundlage, also im Tod, zu konstatieren ist. Der Tod des Einzelwesens ist demnach unter den Bedingungen relativer Verfasstheit der Modus, in dem im Rahmen des natürlichen Prozesses die Einzelheit zurückkehrt zu ihrer göttlichen Bestimmung, indem sie durch ihre Aufhebung als Naturwesen von der Sphäre der Differenzhaftigkeit zurückkehrt in die Einheit Gottes. Dieser Rückführungsprozess hat allerdings unter der Perspektive der göttlichen Einheit von Einheit und Differenz nicht anders vorstellig zu werden als als Reintegration des Differenten in die Einheit, die das Differente prinzipiell nie verlassen hat, ja im Hinblick auf die Einheit als Möglichkeitsbedingung der Differenz nie verlassen hätte können. Mit anderen Worten: Der Tod der Einzelentität als Naturwesen, in welchem schlechterdings die Einzelheit als solche angelegt ist,254 ist schlicht die Reintegration des Einzelwesens in die schon immer anzusetzende göttliche Einheit, wodurch das Einzelwesen seiner überzeitlichen Bestimmung als Moment im Leben Gottes zugeführt wird.255 Die Allgemeinheit dieses Vorgangs führt notwendig zur Abstraktheit, die diesem ersten Part der Eschatologie anhaftet, und leitet über zur Notwendigkeit der Einzelauferstehung im Konkreten. Die Rückbindung der Eschatologie an den Christus Jesus wird besonders deutlich am konkreten Teil, der Einzelauferstehung. Das, was den Menschen zum Menschen macht und auch gleichzeitig zur Möglichkeit seiner Sündhaftigkeit werden kann, seine Selbstbehauptung, die unter relativen Bedingungen immer umschlägt in eine Selbstsetzung und dadurch der göttlichen Bestimmung eines gesetzten, aber freien Einzelselbst zuwiderläuft, ist in seiner gottkonformen Ausprägung getragen und bejaht durch Jesus Christus, welcher der nur relativen Form des gottkonformen Selbst ein Ende setzt, indem in ihm das schöpfungsgemäße Einzelselbst in Erscheinung tritt. Tillich kann somit den tatsächlich menschliches Selbst gewordenen und als

————— 253

Vgl. auch Jean-Paul Gabus, Trinity, 71, der darauf verweist, dass die Geistlehre Tillichs gerade nicht als realiter verwirklichte bzw. verwirklichbare Eschatologie konzipiert sei, wodurch der Geist bei Tillich nicht als „principle of ‚realised [sic!] eschatology‘“ (ebd.) verstanden werden könne. 254 Hier zeichnet sich schon das in Tillichs späterer Theologie ausführlich dargestellte Motiv der Potentialität, die auch bis hinein ins Anorganische zu finden ist, ab; vgl. v.a. ST III, 28–32. Kombiniert mit der späten Terminologie Tillichs lässt sich das Sterben des Naturwesens dann auch als ‚Essentifikation‘ des Relativen bezeichnen; vgl. hierzu ST III, 465–473. 255 Vgl. D §17; 372: „Das einzelne kehrt zu dem zurück, was es wesentlich ist, in Ewigkeit in Gott ist und nie aufgehört hat zu sein, ein Moment in dem ewigen Prozeß des göttlichen Lebens.“ Was das Einzelne als Natürliches und somit Konkretes in der Sphäre der Relativität niemals leisten kann, wird mit der Aufhebung der Naturgrundlage deutlich: die Vollendung des Einzelselbst, als das, was es ist, nämlich Einzelheit, die stets und fortwährend zu begreifen ist als integrativer Bestandteil des göttlichen Lebens – oder religionsphilosophisch gesprochen: als Moment im intuitiven Vollzug des absoluten Prozesses. Tillich bringt hier wiederum indirekt Schelling ein, indem er das Verwurzeltsein des Natürlichen bereits in Gott legt, was nicht zuletzt daran deutlich wird, dass Tillich in wortwörtlicher Entsprechung zu Schelling von einer „Natur in Gott“ (D §18; 374) sprechen kann; vgl. dazu Kap. 1.1.2.

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solches erhöhten Christus Jesus als das bezeichnen, wozu der Mensch als selbstzentriertes Wesen bestimmt ist: als „Persönlichkeit, die zugleich die höchste Vollendung und Überwindung der Selbstheit ist“ (D §18; 373).256 Genau betrachtet ist somit die Persönlichkeit das Vollendungskriterium der Selbstheit, indem der Persönlichkeitsbegriff bei Tillich nichts anderes aussagen möchte als die völlige Einzel- und Selbstheit des Individuums bei gleichzeitiger Momenthaftigkeit als integraler Bestandteil im Leben Gottes. Ist dieses Konzept unter relativen Bedingungen immer nur ansichtig im Paradox als der Synthesis des Unsynthetisierbaren, so muss unter Vollendungskriterien das Paradox als solches dahinfallen und dadurch die Koexistenz von Persönlichkeit des Einzelselbst und Leben Gottes – jedoch beides in der Einheit Gottes – als bestimmter Endzustand in Anschlag gebracht werden. Dabei bleibt die Persönlichkeit des Einzelnen immer gebunden an die erhöhte Persönlichkeit des inkarnierten Gottessohnes, in dem jedwede Persönlichkeit insofern den Grund ihres Getragenseins findet, als just die Inkarnation konstitutiver Bestandteil der Persönlichkeit des Gottessohnes ist, ja gesagt werden kann, dass der Gottessohn allererst durch die Inkarnation Persönlichkeit, oder präziser: Persönlichkeit schlechthin wird.257 Hier erhellt vollends, was Tillich mit der Formulierung, dass Gott die Züge Jesu von Nazareth trage (vgl. D §14; 365), aussagen möchte: Der Sohn Gottes ist Sohn Gottes, d.h. Anderer Gottes, allererst in seinem Inkarniertsein, also seiner völligen Konkretheit und somit Personhaftigkeit. Da nun die Gottheit Gottes konstitutiv auf der Reziprozität und der damit verbundenen wechselseitigen Konstitution der Hypostasen fußt, lässt sich letztlich aussagen, dass selbst die Gottheit Gottes schlechterdings nur ist in, durch und trotz der Persönlichkeit des Gottessohnes. Eben dadurch ist es auch möglich, dass die Sünde im Zustand der Vollendung als überwunden, d.h. erkannt und somit als der gottwidrigen Relativität zugehörig aufgehoben, erscheint,258 obwohl die

————— 256 Dass der Mensch als solcher immer auch gleichzeitig Naturwesen ist und somit auf ihn zutrifft, was zuvor in Bezug auf das Sterben der Naturwesen expliziert wurde, dürfte klar sein. Die Selbstheit und das Selbstsein des Menschen, welche in höchster Zuspitzung in Jesus Christus zum Ausdruck kommen, bleiben jedoch besonderes Kennzeichen der Menschlichkeit des Menschen, wovon letztlich die Einzelauferstehung sowie auch – wie im Folgenden deutlich werden wird – die Gerichtsvorstellung anheben. 257 Vgl. D §18; 373: „[D]iese Persönlichkeit, die Christus selbst, als er einzelner wurde, bejaht hat, wird durch den Übergang in die Ewigkeit zur Vollendung gebracht. Das Moment der Sündhaftigkeit, das auf der Stufe der Sündhaftigkeit nicht überwunden, sondern im Paradox enthalten war, wird durch das Heraustreten aus diesem ganzen Zustand aufgehoben: Die im Zentrum gebrochene Selbstheit hat nach Zerbrechen der Naturgrundlage, aus der sie immer wieder emporstieg, keine Macht mehr. Das, was im Paradox als Paradox enthalten war, wird verwirklicht ohne die Form des Paradox. Das ist die Vollendung. Nicht aufgehoben dagegen wird die Relativität an und für sich, die Einzelheit als solche, vielmehr wird sie in der Einheit mit dem einzelner gewordenen Christus gleichsam bedeckt und geschützt vor dem verzehrenden Feuer des göttlichen Lebens.“ 258 Insofern kann Tillich der Sünde dann auch einen Sinn zusprechen – so sehr ihre schlichte Faktizität ‚sinn-los‘ und unableitbar vorstellig zu werden hat –, weil sie somit ein Aspekt auf dem Weg der Reintegration der Einzelheit in die Absolutheit Gottes darstellt – allerdings, so bleibt zu ergänzen, erst in völlig absoluter Form, d.h. im Hinblick auf das Reich Gottes, welches sich als Gemeinschaft aller geeinten Einzelheit expliziert. Vgl. hierzu D §19; 376: „Das ist der Sinn der Sünde, daß sie der Durchgang ist von der Einheit zur Gemeinschaft.“

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Relativität an sich, d.h. in ihrer Funktion als Bedingung der Möglichkeit echter und somit freier Einzelheit als Moment – und zwar als notwendiges, da konstitutives Moment – im Leben Gottes erhalten bleibt, wenn auch unter Aufhebung der paradoxen Struktur. Ist demnach zusammenfassend gesprochen der Mensch nach Tillich in der Vollendung als zwar sündlos, ja suprasündhaft, weil in den absoluten Prozess des göttlichen Lebens integriert, und gleichzeitig doch als bis zur Erschöpfung aller Potentialität verfasstes Einzelselbst zu veranschlagen, so muss ihm als Vollendungsdatum schlechterdings das Signum der Persönlichkeit zugesprochen werden, weil Persönlichkeit an sich eben nichts anderes meint als das Einzelselbst, das eben nicht aus sich selbst die Basis seiner Selbstkonstituierung zu gewinnen sucht, sondern jederzeit von Gott her, mithin vermittelte Unmittelbarkeit, ist. Der Einzelauferstehung kommt dann nur noch zu, den Persönlichkeitsgedanken in der Ewigkeit Gottes zu verankern, was seinen klassischen Ausdruck in der leiblichen Auferstehung findet, die nichts anderes aussagt, als „daß die einzelne Persönlichkeit in Ewigkeit von Gott bejaht wird“ (D §18; 374) und daher auch im Leben Gottes in Momenthaftigkeit bewahrt ist. Als vermittelte Unmittelbarkeit steht der Mensch in schlechthinniger Konformität mit dem göttlichen Willen, weshalb Tillich auch die Gerichtsvorstellung genau an diesem Aspekt anheben lässt. Zentral ist für Tillich, dass „das Maß der Vollendung abhängig [ist] von dem Maß, in dem der einzelne sich über den Zustand der Sündhaftigkeit erhoben hat“ (These zu D §18; 373), was in Bezug auf den Persönlichkeitsbegriff bedeutet, inwieweit der Mensch Persönlichkeit ist. Für das Gericht, das nach Tillich auf relativer Basis anzusetzen ist, ist in diesem Zusammenhang konkret das Werk der Einzelperson entscheidend: „Das Gericht ergeht nach den ‚Werken‘, nicht nach dem ‚Bekenntnis‘, auch nicht nach dem Bekenntnis zu Christus.“ (D §18; 374) Dies ist nur prima facie eine der bisherigen Darstellung widersprechende Aussage, weil die ‚Werke‘ im Tillich’schen Verständnis nicht anders zu klassifizieren sind als das erreichte Maß an Persönlichkeit, d.h. der Gottkonformität im Gottwidrigen. Das Bekenntnis hat in diesem Zusammenhang nur eine sekundäre Bedeutung, insofern es reines Mittel zum Zweck der Erfüllung von absoluten Kategorien ist und daher als rein relatives nicht mit einfließen kann als gerichtliches Urteilskriterium, das sich nur an der verwirklichten Absolutheit im Konkreten bemisst. Die tendenzielle Relativierung des Christus Jesus aufgrund dessen historischer Kontingenz für das Gerichtsurteil ist allerdings nur eine vordergründige, da eben das, was Tillich als ‚Werk‘ bezeichnet, dem entspricht, was ausschließlich durch die Menschwerdung und Erhöhung Jesu Christi statthat, nämlich das Persönlichkeitsein. Einziges Kriterium der Tillich’schen Gerichtskonzeption bleiben damit wiederum die absoluten Kategorien – ob sie nun im Christus Jesus ansichtig oder anderweitig bezogen werden –, die die gnadenhafte Bejahung der Relativität in und trotz ihrer Sündhaftigkeit in Beziehung setzen mit der Gerechtigkeit Gottes, die als solche in relativer Hinsicht operiert. Gnade und Gerechtigkeit ergänzen sich somit wechselseitig und fundieren in gegenseitiger Konstitution das Gericht Gottes als eine absolute und

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trotzdem konkrete Instanz.259 Aufgrund dieses Bezugs zur Relativität kann Tillich auch die ewige Verdammnis als reinen Grenzbegriff, der außerhalb menschlicher Möglichkeit liegt, bezeichnen, weil Relativität an sich immer eine nicht-absolute Position voraussetzt. Eben ein absoluter Standpunkt wäre allerdings notwendig, um in perennierender Gegensätzlichkeit zu Gott zum Stehen kommen zu können. Als Anfrage an die Gerichtskonzeption Tillichs muss jedoch herangetragen werden, warum gerade das Gericht sich nicht nach den absoluten Kriterien, sondern anhand relativer Begebenheiten vollzieht. Hier wirkt der Tillich’sche Entwurf inkonsequent, weil noch in der Christologie von einer völligen, d.h. absoluten Verneinung und Bejahung ausgegangen wurde, die nun im Gerichtsfall zu einer abwägenden, relativen Verflachung verkommt. Gerade der absolute Part der Dogmatik und noch dazu ihr drittes Moment müsste in Sonderheit die Notwendigkeit eines absoluten Vollzugs in Anschlag bringen und nicht gewissermaßen überwundene und als solche abgelehnte ‚Halbheiten‘ wiederbeleben. Ein möglicher Erklärungsgrund für Tillichs Vorgehen mag die Vermeidung einer apokatastasis panton sein, auf die sein systematisches Konzept im Endeffekt hinauslaufen würde.260 Ob dies jedoch eine Absage an sein bisheriges prinzipielles Vorgehen rechtfertigt, bleibt mehr als fraglich, auch wenn die Gerichtsvorstellung ansonsten in Tillichs System dahinzufallen drohte, weil das absolute Urteil – so wie es ja auch christologisch vorstellig wurde – schlechterdings unabhängig von jedweder relativen Begebenheit ist und sein muss.

————— 259 Vgl. D §18; 374: „Das Gericht Gottes ist gerecht: Es ist begründet in der Gnade, aber es ergeht nach der Gerechtigkeit, die jedem einzelnen den bewußten Anteil an der Ewigkeit gibt, den er sich in der Zeitlichkeit erworben hat, und der bedingt ist durch die Nähe oder Ferne, in der er zu den absoluten Kategorien des theologischen Prinzips, konkret gesprochen, zu Christus steht, ganz gleich, ob er ihn kennt oder nicht.“ 260 Wobei Tillich selbst bei der Vorstellung der ewigen Verdammnis die apokatastasis als Randbemerkung ergänzt hat; vgl. EW IX, 375 Anm. 305.

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2. Die sinntheoretische Präzisierung des Systemprinzips

Nach bzw. noch im Verlauf des ersten Weltkriegs erfährt der prinzipielle theologische Ansatz Tillichs nach allgemeinem Dafürhalten der aktuellen Tillichforschung eine Neuformulierung, die terminologisch zumeist in einem Wechsel von einer Wahrheits- zu einer Sinntheorie erkannt wird.1 Dass Tillich um die Jahre 1917/1918 das Prinzip seiner Theologie einer Revision unterzieht, muss unbestritten bleiben. Allein die kritische Durchsicht des Briefwechsels Tillichs mit Emanuel Hirsch bestätigt diesen Befund.2 Inwieweit es sich dabei jedoch um einen tatsächlichen Wechsel in der prinzipiellen Verortung der Theologie handelt, bedarf der genaueren Analyse.3 Die im vorherigen Hauptkapitel aus Tillichs frühestem System ————— 1 Vgl. v.a. Danz, Theologie als normative Religionsphilosophie. Voraussetzungen und Implikationen des Theologiebegriffs Paul Tillichs, in: ders. (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs (Tillich-Studien, Bd. 9), Wien 2004, 73–106, und Wittekind, „Allein durch Glauben“. Tillichs sinntheoretische Umformulierung des Rechtfertigungsverständnisses 1919, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920) (Tillich-Studien, Bd. 20), Wien/Berlin 2008, 39–65. 2 Vgl. Paul Tillich, Briefwechsel mit Emanuel Hirsch (1917/1918), in: EW VI: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, hg. von Renate Albrecht und René Tautmann, Frankfurt a.M. 1983, 95–136. Zum Briefwechsel allgemein vgl. das Nachwort des ersten Herausgebers der Briefe von Tillich und Hirsch, HansWalter Schütte, das jetzt wieder zugänglich ist in: Hans-Walter Schütte, Subjektivität und System. Zum Briefwechsel Emanuel Hirsch (1888–1972) und Paul Tillich (1886–1965), in: Christian Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie, Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs (Tillich-Studien, Bd. 9), Wien 2004, 3–22. Die sich wandelnde Beziehung Tillichs und Hirschs beobachtet anhand des Briefwechsels Alf Christophersen, Kairos, insbes. 157–215. Dabei geht Christophersen über den edierten Briefbestand weit hinaus und zieht in seine Betrachtungen sechzehn vollständig oder weitestgehend unpublizierte Briefe aus dem Tillich-Nachlass in Harvard ein. Zum selben Thema, jedoch nur die späten Briefe betreffend und ohne Rekurs auf unveröffentlichtes Material äußert sich A. James Reimer, The Paul Tillich – Emanuel Hirsch Debate: Theological Assumptions and Political Commitments, in: ders., Paul Tillich: Theologian of Nature, Culture and Politics (Tillich-Studien, Bd. 6), Münster 2004, 75–94. 3 So wählen bereits Christian Danz und Folkart Wittekind – wohl zu Recht – die eher vorsichtigen Begriffe der „Umformung“ und „Umformulierung“, um das Eingreifen Tillichs in sein prinzipielles Vorgehen zu beschreiben; vgl. die Überschrift bei Danz, normative Religionsphilosophie, 80: „Tillichs Umformung des theologischen Prinzips im Briefwechsel mit Hirsch“, und den Begriff der Umformulierung bei Wittekind bereits im Titel seines Beitrags: „‚Allein durch Glauben‘. Tillichs sinntheoretische Umformulierung des Rechtfertigungsverständnisses 1919“. Ebenfalls

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Die sinntheoretische Präzisierung des Systemprinzips

gewonnenen Erkenntnisse lassen eine bereits hochreflektierte und ausgearbeitete Prinzip- sowie Theologiekonzeption erkennen, deren Implikate in der Forschung teilweise oft erst der ‚zweiten Phase‘ des Tillich’schen Denkens, mithin der Sinntheorie, zugeschrieben werden.4 Analysiert man aber die Texte Tillichs in systematischer Hinsicht und stellt potentielle Phaseneinteilungen seines Denkens hintan, so entsteht ein stärker geschlossenes Gesamtbild, das zwar nicht bruchfrei erscheint, sich jedoch gleichsam der strikten Phaseneinteilung vehement widersetzt. Anliegen dieser Arbeit wird es somit sein, die bisher unterbetonten Kontinuitätselemente zwischen der sog. wahrheitstheoretischen und sinntheoretischen Phase Tillichs herauszuarbeiten und in ihrem genetischen Bezug aufeinander darzustellen. Ziel ist es, Wahrheitstheorie und Sinntheorie – die Verwendung der Begriffe ist, sofern sie nicht als Fixierungen klarer Phasengrenzen interpretiert werden, weiterhin sinnvoll – in ihrem systematischen Konnex zu interpretieren, wobei als Thesis angesetzt wird, dass die Sinntheorie nicht zu verstehen ist ohne die wahrheitstheoretische Konzeption Tillichs – und umgekehrt, die ————— zurückhaltend in Bezug auf einen Paradigmenwechsel Tillichs nach dem ersten Weltkrieg äußert sich Jörg Lauster, Religion als Substanz der Kultur? Kulturtheologische Aspekte zu Tillichs Theologie der Religionen, in: Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm (Hg.), Religionstheologie und interreligiöser Dialog (Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung. International Yearbook for Tillich Research. Annales internationales de recherches sur Tillich, Bd. 5/ 2009), Wien/Berlin 2010, 61–74, hier: 63f: „Der theologische Bruch 1918 ist keineswegs so groß wie angenommen. Barth, Bultmann und Tillich führen vielfach die Debatten ihrer Lehrer weiter.“ Auch Friedrich Wilhelm Graf, Old harmony, 383, konstatiert für Tillichs Nachkriegstheologie keinen signifikanten Wechsel, sondern spricht von allenfalls vestärkten Tendenzen. Ebenfalls „keinen abrupten Neuansatz“ nach dem Krieg kann Georg Neugebauer, frühe Christologie, 255, erkennen. 4 Zu nennen sind hier v.a. die neuesten Veröffentlichung zum frühen Tillich von 1919/1920, die dem ersten internationalen Kongress der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft e.V. in Halle an der Saale aus dem Jahre 2007 entstammen und gesammelt abgedruckt sind in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919– 1920) (Tillich-Studien, Bd. 20), Wien/Berlin 2008. In Sonderheit die Beiträge von Folkart Wittekind (Wittekind, sinntheoretische Umformulierung), Arnulf von Scheliha (Scheliha, Die Deutung der Rechtfertigungslehre bei Paul Tillich und Emanuel Hirsch. Problemgeschichtliche Perspektiven und systematische Grundentscheidungen, in: ebd., 67–84), Michael Moxter (Moxter, Kritischer Intuitionismus. Tillichs Religionsphilosophie zwischen Neukantianismus und Phänomenologie, in: ebd., 173–195) und Ulrich Barth (Barth, Religion und Sinn, in: ebd., 197–213) aus dem genannten Band sowie die frühere Studie Ulrich Barths zu den problemgeschichtlichen Hintergründen der Tillich’schen Sinntheorie (vgl. Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 89–123) tendieren stark dazu, die Sinntheorie Tillichs als eigenen Phasenabschnitt in seinem Denken zu explizieren, was ob der Kontinuität zur Wahrheitstheorie, die es noch zu erweisen gilt, höchst problematisch erscheint. Vgl. Tillichs Kulturtheologie betreffend auch die aktuelle Studie von Martin Harant (Harant, Religion – Kultur – Theologie. Eine Untersuchung zu ihrer Verhältnisbestimmung im Werke Ernst Troeltschs und Paul Tillichs im Vergleich, Frankfurt a.M. 2009).

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Wahrheitstheorie erst durch die sinntheoretischen Ausführungen ihre tatsächliche Gültigkeit erhalten. Pointiert gesprochen: Auf dem Weg von der wahrheitstheoretischen zur sinntheoretischen Konzeption Tillichs findet keine tatsächliche Umformung, sondern vielmehr – wie bereits die Überschrift des Hauptkapitels impliziert – eine systematisch-logische und somit konsequente Präzisierung der Wahrheitstheorie durch die Sinntheorie statt. Zum Erweis der Richtigkeit dieser These wird im Folgenden als Hauptgrundlage der Entwurf Tillichs mit dem Titel ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ aus dem Jahre 1919 herangezogen.5 Außerdem werden weitere wichtige kleinere Schriften Tillichs sowie besonders Tillichs vor der KantGesellschaft gehaltener Vortrag ‚Über die Idee einer Theologie der Kultur‘6 – ebenfalls von 1919 – der Analyse zugrunde gelegt. Maßgeblich für den Nachvollzug der allererst sich eröffnenden Notwendigkeit für Tillich, sein Wahrheitskonzept sinntheoretisch zu präzisieren, ist der bereits erwähnte Briefwechsel Tillichs mit Emanuel Hirsch aus den Jahren 1917 und 1918, weil die Implikationen und Hintergründe, die zu Tillichs prinzipieller Weiterentwicklung führen, hier in ihrer Genese beobachtet werden können.7

————— 5

Tillichs Entwurf liegt in zwei Versionen vor, von denen die erste, längere, nur handschriftlich ausgearbeitet, die zweite in Typoskriptform vorliegt. Beide Texte finden sich unter dem Titel ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ in: EW X: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der Deutschen Zeit (1908–1933). Erster Teil, hg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York 1999, 127–230 (1. Version: Manuskript: 128–185; 2. Version: Typoskript: 185–230). Bei der Zitation wird so verfahren, dass bei Zitaten aus der Manuskriptfassung das Kürzel „Ms“, bei Zitaten aus der Typoskriptversion „Ts“ hinzugesetzt wird. Somit ist sofort erkennbar, welcher Fassung das jeweilige Zitat entnommen ist. 6 Paul Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: GW IX: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart (11967) 21975, 13– 31. 7 Allerdings wird nicht beabsichtigt, die angegebenen Schriften in ihrer chronologischen Abfolge zu behandeln, weil die Analyse des Prinzips dezidiert systematisch und nicht werkbiographisch verstanden sein will. Mit dem Briefwechsel zwischen Tillich und Hirsch zu beginnen, ist jedoch trotzdem gerechtfertigt, insofern die bedeutenden Anfragen Tillichs an seine bisherige Prinzipkonstruktion, wie sie das System von 1913 ausführt, hier erstmals in Klarheit auftauchen und den Grundansatz seiner Prinzippräzisierung erhellen.

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2.1 Das Absolute ist ein Götze Hält sich das stark am deutschen Idealismus vornehmlich Schelling’scher Provenienz orientierte Prinzipverständnis Tillichs in seinen Dissertationen und seinem frühesten ausgeführten System von 1913 durch und ist als durchweg wahrheits- oder absolutheitstheoretisch zu bezeichnen, so erfährt dieses Verständnis gegen Ende des ersten Weltkriegs eine gewichtige, das Prinzip als solches betreffende Veränderung.1 Tillich formuliert in seinem Brief an Emanuel Hirsch vom Dezember 1917 das „Zentralproblem“ seines Denkens, wie er dort selbst schreibt, in Fragenform, die durchaus als Anfrage an sein bisheriges Konzept gestellt ist: „Wie ist mit dem theoretischen Zweifel diejenige Gewißheit vereinbar, die das Wesen des Glaubens ausmacht? Oder: Wie können die aus dem Denken erwachsenden Hemmnisse der religiösen Funktion überwunden werden?“ (EW VI, 99) Mit der Aufnahme des dezidiert theoretischen Zweifels schließt Tillich eindeutig an seine Behandlung des Zweifels in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ an, in der der Zweifel noch als aufgehobenes Moment im Wahrheitsgedanken selbst gedacht wird. Der Begriff der Aufhebung wird an dieser Stelle von Tillich noch im Sinne einer bestenfalls potentiellen Aktualität, die jedoch faktisch als Erledigt-Sein zu bestimmen ist, verstanden. Der Zweifel ist hier noch Auszeichnung des Denkens, die sich allerdings in Anbetracht der Absolutheit des Wahrheitsgedankens unter diese beugt, ja beugen muss, weil der Zweifel als letztlich doch nichts anderes als die Wahrheit, von der aus er anhebt, intendierender sich selbst als unhaltbar erkennen muss. In einer wahrheitstheoretischen Prinzipfassung ist demnach der Zweifel – auch und gerade in theoretischer, also das Prinzip im Kern ————— 1 Inwieweit dieser neue Blick Tillichs auf das eigene System seiner durch den Krieg erschütterten Biographie, seiner Beschäftigung mit der zeitgenössischen, modernen Philosophie – Tillich nennt selbst als besonders einflussreich „Husserl, Lotze, Sigwart, Windelband, Lask“ (EW VI, 99) – oder schlicht der zeitlichen Distanz zum Selbstverfassten entspringt, tut systematisch nichts zur Sache und ist von rein biographischem Interesse. Dass die genannten Philosophen, in Sonderheit Husserl, ihren Anteil an der selbstkritischen Sicht Tillichs auf seine frühen Werke haben, ergibt sich schon aus deren Nennung und der von Tillich ihnen zugeschriebenen Bedeutung für sein Denken im Briefwechsel mit Emanuel Hirsch und ist hervorragend aufgearbeitet in den beiden Beiträgen von Ulrich Barth; vgl. Barth, Grundlagen, passim, und ders., Religion, passim. Einen historischen Abriss zur Sinnthematik beginnend bei dem ausgehenden 19. Jahrhundert in geschichtsphilosophischer Perspektive bietet Milos Havelka, Von der Geschichte des Sinns zum Sinn der Geschichte, in: Gert Hummel (Hg.), Truth and History – a Dialogue with Paul Tillich/ Wahrheit und Geschichte – Ein Dialog mit Paul Tillich. Proceedings of the VI. International Symposium held in Frankfurt/Main 1996/Beiträge des VI. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums in Frankfurt/Main 1996 (TBT 95), Berlin/New York 1998, 15–25.

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treffender Hinsicht – aus eigener Wesenserkenntnis des Zweifels generell notwendig zu verabschieden.2 Im Brief an Hirsch aus dem Jahre 1917 bricht nun aber just der prinzipielle Zweifel, der 1913 noch als faktisch nicht existent klassifiziert wurde, hervor und wird sogar zum Zentralproblem des Tillich’schen Denkens. Neben dem Weg der Mystik wird die eigene, als „intellektuelle Überwindung [sc. des theoretischen Zweifels] durch den ‚wissenschaftlichen Gottesbegriff‘“ (EW VI, 99) bezeichnete Position aus dem Jahr 1913 von Tillich selbst ausgeschlossen.3 Damit ist aber nun nichts anderes gesagt, als dass Tillich die Notwendigkeit sieht, sein 1913 aufgestelltes und systematisch durchgeführtes Prinzipverständnis dahingehend einer Modifikation zu unterziehen, dass der nicht nur in praktisch-subjektiver, sondern gerade auch in objektiv-erkenntnistheoretischer Hinsicht auftretende Zweifel nicht übergangen werden darf, ja vielmehr sogar notwendig ins Zentrum rücken muss. Mit dem theoretischen Zweifel ist nicht einfach ein Moment des Bezweifelns gemeint, das prinzipiell in jedem Akt des Denkens auftritt, insofern es im Widerstreit zum Wahrheitsgedanken steht; Tillich geht von einer ungleich tieferen Form des Zweifels aus, die gerade die Wahrheit als absolute, d.h. als transzendentalen Grund jedweden Denkens überhaupt, der Skepsis überantwortet, ja überantworten muss, sofern der Zweifel sich ernst nehmen und sich nicht als bloßer Schein erfassen möchte. Was somit in Zweifel gezogen wird, ist nichts anderes als eben der Ermöglichungsgrund von Reflexivität selbst.4 Überträgt man diesen Gedanken auf die 1913 vorgenommene religionsphilosophische Übersetzung des Begriffs des Absoluten in den Gottesbegriff, so ist schlechterdings das betroffen, was den Menschen in seinem Sein als geistiges Wesen ————— 2 Vgl. die ersten Sätze des Systems von 1913 in A §1; 278: „Alles Denken, auch das zweifelnde, hat das Ziel, Wahrheit zu erkennen, und die Voraussetzung, daß das Denken Wahrheit erkennen könne. Es ist dem Denken nicht möglich, diese Voraussetzung zu verleugnen; denn jede denkende Bestreitung der Wahrheit will selbst Wahrheit sein. Sogar der Zweifel setzt also den Wahrheitsgedanken voraus; der prinzipielle Zweifel in all seinen Formen hebt sich selbst auf.“ 3 Neben der Nomenklatur, die eindeutig auf das System von 1913 anspielt (vgl. v.a. den Begriff des wissenschaftlichen Gottesbegriffs), erwähnt Tillich sogar ausdrücklich, dass es sich um seine ehemalige eigene Position handelt: „Die zweite Art [sc. neben der Mystik] wäre die intellektuelle Überwindung des ‚wissenschaftlichen Gottesbegriffs‘. Ich vermute, daß Du auch eine Widerlegung dieses Weges nicht nötig hast. Da es aber mein früherer war, so will ich zugleich als Selbstkritik darauf eingehen.“ (EW VI, 99) 4 Auch der späte Tillich kann im Jahre 1961 in seiner Schrift ‚Wesen und Wandel des Glaubens‘ noch genau auf diese Form des Zweifels Bezug nehmen, die er nun als existentiellen Zweifel fasst: „Es handelt sich hier weder um den ständigen Zweifel des Wissenschaftlers noch um den flüchtigen des Skeptikers; es ist vielmehr der Zweifel eines Menschen, der von einer konkreten Sache mit letztem Ernst ergriffen ist. Man könnte einen solchen Zweifel […] den existentiellen Zweifel nennen. Er fragt nicht danach, ob eine bestimmte These wahr oder falsch ist, er lehnt nicht jede konkrete Wahrheit ab, doch weiß er um das Element der Ungewißheit in jeder existentiellen Wahrheit.“ (GW VIII, 125)

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in unbedingter Form betrifft: die religiöse Funktion, von der ausgehend allererst eine vernünftige, d.h. wahre, Selbstsetzung des Selbst als in dieser Selbstsetzung vermitteltes anzuheben imstande ist. Bei dem schlechthin Bezweifelten handelt es sich somit um Gott oder – religionsphilosophisch gesprochen – um das Absolute. Insofern verwundert es nicht, wenn Tillich an Hirsch schreibt: „Ich akzeptiere den Kählerschen Satz ‚Das Absolute ist ein Götze‘, dann nämlich, wenn die religiöse Funktion auf die Vollendung des theoretischen Gottesbegriffs fundiert werden soll.“5 (EW VI, 99) Eben dieses Fundament ist es, welches der Zweifel der Skepsis unterwirft – und zwar nicht in revidierbarer, relativer Form, sondern – wie der Begriff der Vollendung bei Tillich anzeigt – in absoluter Hinsicht, weil der wissenschaftliche Gottesbegriff bzw. das Absolute eben ob ihrer abstrakten Absolutheit und somit aufgrund ihres thetischen Vorausgesetzt-Seins vor aller Religion bezweifelt werden. Mit anderen Worten: Die Religion kann sich nicht retten, wenn sie im Falle des Zweifels sich auf das zu gründen sucht, was gerade bezweifelt wird. Nun ließe sich diese Form des Zweifels als faktisch dem Religiösen widersprechend und somit als schlicht abzulehnend behaupten, was Hirsch gegenüber Tillich unter Anbringung des Begriffs des ‚Fremden‘, welches in der göttlichen Offenbarung aufgehe und der subjektiven Skepsis ob des externen Charakters schlechterdings entzogen sei, versucht,6 für Tillich allerdings aus einem doppelten Grund nicht akzeptabel ist: Erstens hält Tillich an der monistischen Prinzipanlage fest,7 weshalb er eine Dualität im Erkenntnisakt nicht annehmen darf, sondern weiterhin vom in vermittelter Unmittelbarkeit sich selbst gesetzt habenden Subjekt ausgeht und somit seine dem Idealismus nahestehende Position aus frühester Zeit durchaus weiterführt.8 Zum Zweiten bedarf es nach Tillich nicht einmal der generel————— 5

Genauso äußert sich Tillich 1919 in ‚Rechtfertigung und Zweifel‘; vgl. EW X, 205: „‚Das Absolute ist ein Götze‘, wie Kähler zu sagen pflegte – mit Unrecht, wenn er dem philosophischen Denken einen Vorwurf machen wollte, mit Recht, wenn er ablehnte, die religiöse Gewißheit auf dieses Produkt nicht evidenten Denkens zu gründen.“ 6 Vgl. v.a. Hirschs Bezug auf das „Innewerden des ‚Andern‘, des ‚Fremden‘ als des Göttlichen“ (EW VI, 106), das er insbesondere in EW VI, 106–108, expliziert. 7 Vgl. EW VI, 115: „Es gibt eine flachköpfige Rede, daß die menschliche Vernunft aus architektonisch-ästhetischen Gründen monistisch sei. Sie ist es aber so notwendig, daß ihre Existenz daran hängt. […] Das ‚Gedachtsein‘ ist das ‚monistische‘ Land, das selbst noch größere Gegensätze als die von Himmel und Erde verbinden würde.“ Das denkende Subjekt bleibt mithin de facto im Zentrum der Tillich’schen Betrachtung, der sich damit immer im Rahmen der Kant’schen Aufklärung – wenn auch in ihrer idealistischen Weiterführung – zu bewegen weiß. Insoweit ist der Ansatz von Michael Moxter, dass Tillich in seiner Sinnkonzeption zwischen Neukantianismus und Phänomenologie zu verorten sei, voll zutreffend; vgl. Moxter, Intuitionismus, passim. 8 Dass dies an sich kein defizitäres Unterfangen bei Tillich ist, konstatiert auch Gunther Wenz gegen Oswald Bayer: „Daß das Ichsubjekt als jenes cogito, das all meine Vorstellungen begleiten

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len Skepsis dem religiösen Bereich gegenüber, um den Zweifel am Absoluten selbst als statthaft zu konstatieren (vgl. EW VI, 99f). Denn es widerspreche ganz eindeutig „dem Centrum des religiösen Lebens, daß das Recht zum Glauben abhängig wird von einem intellektuellen Werk“ (EW VI, 100; Hervorhebung S.D.). Der Zweifel ist damit nicht als ein an die religiöse Funktion von außen herangetragenes Problem, sondern im Gegenteil als ein der Mitte der Religion selbst entspringendes Phänomen erkannt, woraus sich die Konsequenz ergibt, dass der Glaube um seiner eigenen Gewissheit willen nicht umhinkommt, sich als zweifelnder mit dem Zweifel auseinanderzusetzen, weil der Zweifel als integrales Moment jedweden religiösen Vollzugs auftritt. Tillich nimmt damit das Wesen menschlicher Reflexion ernst, indem er den Werkcharakter des Glaubens veranschlagt, sofern der Glaube seinen Ansatz- und Ausgangspunkt als unbezweifelte und unanzweifelbare Setzung gewissermaßen contra rationem ‚annehmen‘ muss. Dies münde in „eine intellektuelle Gleichgültigkeit“ oder einen „intellektuelle[n] Pharisäismus“ (EW VI, 100), die beide das Moment des Zweifels in der religiösen Funktion des menschlichen Geistes durch ein sacrificium intellectus auszuschalten suchen. Der theoretische Zweifel ist somit von Tillich als notwendiges Implement der religiösen Funktion des Menschen und damit als unhintergehbares, berechtigtes Faktum erwiesen, dem es zwar zu begegnen gilt, das sich jedoch nicht auf einen wie auch immer konzipierten Begriff des Absoluten oder Gottes berufen kann. Auch der Versuch, den Zweifel mit Hilfe der Sittlichkeit zu belasten, also ihn mit der Konnotation der Schuldhaftigkeit zu versehen,9 fördert Tillich zufolge keine Möglichkeit zu Tage, den Zweifel als solchen aus dem religiösen Vollzug auszuscheiden. Letztlich führe auch diese Methode wiederum dazu, dass der Glaube von einem Werk abhängig gemacht werde, diesmal jedoch nicht von einem erkenntnistheoretischen, sondern von einem sittlichen (vgl. EW VI, 100f). Die Konsequenz, die Tillich aus dieser Unauflöslichkeit der Verstrickung des Glaubens und sogar des Religiösen in seiner Funktion, das Selbst wahrhaftig zu konstruieren, mit dem Zweifel ————— muß, sich nicht unmittelbar aus sich selbst heraus zu begründen vermag, sondern nur dann seiner Wirklichkeit gewahr wird, wenn es sich als von Gott sich gegebenes Selbstbewußtsein weiß, ist eine Erkenntnis, die Tillich ebensowenig fremd ist wie die Einsicht, daß das Unwesen der Sünde etwas mit der bewußten Verkennung und willentlichen Ignoranz dieses kreatürlichen Urfaktums zu tun hat. Der Gedanke der Konstitution menschlicher Subjektivität aus der Gottesbeziehung ist bei Tillich nicht nur präsent, sondern bestimmend für seine Theonomiekonzeption und sein theologisches System insgesamt.“ (Wenz, Blatt, 69f). Zweifel meldet Wenz im Anschluss jedoch an der begrifflichen Durchführung des Erkenntnisprinzips Tillichs durch Tillich selbst an (vgl. ebd., 70). 9 Was schon – Tillich erwähnt es allerdings nicht selbst – insofern problematisch wäre, als der Zweifel stark in die Nähe des Sündhaften gerückt würde.

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zieht, ist ebenso einfach wie denknotwendig: Der Zweifel als Zweifel ist unüberwindbar, ja – so wird man hinzufügen müssen – notwendig unüberwindbar, weil er konstitutiver Bestandteil der Bereiche ist, in denen er auftritt. Gegenüber Emanuel Hirsch, der nach Tillichs Auffassung eher zur ethischen Überwindung des Zweifels tendiert, äußert sich Tillich folgendermaßen: „Du hältst den Zweifel für letztlich unsittlich, ich halte ihn von der sittlichen [Erfahrung]10 oder der Wahrhaftigkeit aus für sittlich11 erforderlich unter bestimmten Voraussetzungen. Sind diese Voraussetzungen (Fähigkeit theoretischer Kritik) gegeben, so halte ich ihn in einem bestimmten Sinne für unüberwindlich.“ (EW VI, 101) Der Zweifel wird von Tillich somit als ein einerseits berechtigtes und andererseits unüberwindliches Phänomen des Geistes definiert. Da nun aber der Glaube um seiner Gewissheit willen selbst nicht auf etwas aufruhen darf, was seinerseits wiederum in Zweifel steht, verbietet es sich, von einer absoluten Thesis auszugehen, die Religion allererst konstituieren und Glauben gewiss machen soll. Absolutheit in jeglicher Form – Tillich spricht in diesem Zusammenhang von ‚Gegenständlichkeit‘ –, sei es nun als abstraktes Absolutes oder als Gottesgedanke, kann – da vom theoretischen Zweifel ergriffen und von ihm nicht befreibar – nicht mehr die Instanz darstellen, von der prinzipiell aus————— 10

So der Konjekturvorschlag des Editors für das fehlende Nomen; vgl. EW VI, 104 Anm. 7. Ob ‚Erfahrung‘ das von Tillich Gemeinte trifft, muss jedoch fraglich bleiben. Womöglich wäre ‚Perspektive‘ der bessere Lösungsvorschlag, weil wohl – neben dem Standpunkt der Wahrhaftigkeit, der als zweites genannt ist – die Sittlichkeit als bestimmte Perspektive, mithin als Standpunkt, gemeint sein dürfte. 11 Hier zeigt sich ein Problem durch die Unklarheit der Tillich’schen Nomenklatur: Sittlich meint in diesem Fall wohl die Begriffsbedeutung, wie sie dem Begriff der Sittlichkeit in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ zukommt, also den Ort der Selbstbestimmung des Selbst als es selbst. Dies geht schon aus dem folgenden Satz hervor, der die ‚bestimmten Voraussetzungen‘ als die Fähigkeit des sich selbst setzenden – und damit im gerade aufgeführten Sinne sittlichen – Selbst zur kritischen Analyse der Konstitutionsbedingungen seiner selbst expliziert. Es lässt sich also sagen, dass nach Tillich der Zweifel dann als unüberwindlich aus der erkenntnistheoretischen wie ethischen – so ist die erste Nennung von ‚sittlich‘ wohl zu erfassen – Position heraus erkannt wird, wenn kritisch auf die Konstitutionsbedingungen des Selbst geblickt wird. Belegbar wird die aufgestellte Interpretationsthese, wenn man Tillichs spätere systematische Fixierung dieser Gedankengänge in der Schrift ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ von 1919 betrachtet. Dort wird die Identifikation des theoretischen Zweifels mit Schuld als sekundärer Schritt vollzogen, nämlich in der – dann notwendig weiterhin bestehenden – Annahme, das Gottesbewusstsein gehöre „in demselben Sinne zur menschlichen Wesenheit […] wie etwa das sittliche Bewußtsein“ (EW X, 201 Ts). Just diese Annahme fällt aber mit dem theoretischen Zweifel dahin, weil gerade Gott bzw. das Absolute in den unendlichen Zweifel hineingezogen wird, so dass eine direkte Bezugnahme des sittlichen Bewusstseins auf das Gottesbewusstsein gar nicht stattfinden kann. Verschärft wird die Problematik noch dadurch, dass ein Begriff von Sittlichkeit im ethischen Sinne allererst die Selbstkonstitution des Selbst voraussetzt, die jedoch nicht anders zu haben ist als in der Form religiöser Vermittlung, die sich durch den Zweifel aber nun selbst in der Krise befindet.

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gehend ein System religiöser Erkenntnis zu errichten ist.12 Die reine Deduktion – die Tillich allerdings auch nie angestrebt hat – von einem absolut gesetzten Prinzip ist mithin verwehrt. Aber nicht nur das: Auch ein aus dem Wechselverhältnis von Absolutheit und Konkretheit gewonnenes Prinzipverständnis unterliegt notwendig dem Zweifel, sofern es sich in seiner Relativität immer schon auf die ihm – notwendig – vorausgehende Absolutheit bezieht.13 Jedwede Externität in der Prinzipanlage ist damit kraft des Zweifels ad absurdum geführt. Zu fragen bleibt, wie eine solche Konzeption nunmehr anzusetzen hat, um gewissermaßen mit dem unüberwindbaren Zweifel zurecht zu kommen.14 Betrachtungsbasis kann, nachdem ein externes Anheben notwendig dem Zweifel anheim fällt, nur das subjektive Moment im religiösen Vollzug werden. Jedoch sieht sich das Selbst damit automatisch dem Problem des eigenen Vermitteltseins gegenüber, dessentwegen eine reine Selbstkonstitution und eine rein subjektive Lösung des Zweifels versagt bleiben muss. Es ist somit nicht das Subjekt selbst, das Gegenstand der Beobachtung werden kann, sondern nur das Subjekt in seinem religiösen Vollzug. Mit Tillichs Worten: „Dieses subjektive urständliche Moment der Religion zu beschreiben, ist nun die wichtigste Aufgabe der Religionswissenschaft und Theologie. Es enthält sicher mehrere Elemente, alle unter dem Exponenten ‚absolut‘, also etwa: Unendlichkeitsbewußtsein, Eigenwertbewußtsein, Bewußtsein einer Wertordnung, Abhängigkeits- und Freiheitsbewußtsein, Totalitätsbewußtsein etc., alles unter dem Exponenten ‚absolut‘.“ (EW VI, 102) Die im religiösen Vollzug zur Anschauung kommende Absolutheit ist nun allerdings im Unterschied zum Begriff des Absoluten selbst nicht als exter————— 12

Vgl. EW VI, 102: „Da es aber weder möglich ist, das gegenständliche Moment in der Religion theoretisch durch Beweis, noch praktisch durch sittliche Forderung vom Zweifel zu befreien – falls die Voraussetzungen des Zweifels gegeben sind [–], so muß sich die religiöse Gewißheit auf ein anderes als das objektive Moment beziehen.“ 13 Auch hier ist anzumerken, dass Tillich schon 1913 eine solch kristalline Fassung einer Identität von Identität und Differenz, die allererst den letztgültigen Identitätsaspekt voraussetzt, um sich explizieren zu können, nicht ansetzt oder gar anstrebt. Jedoch neigt sein frühestes System – wie v.a. in Auseinandersetzung mit dem Aporievorwurf von Gunther Wenz gesehen – noch stärker in diese Richtung, da zwar nicht vom Absoluten her deduziert werden soll, das Absolute als solches jedoch immer schon als unbezweifelte und nicht in Zweifel zu ziehende Konstituente des Systems angesetzt wird. Diese strenge Form der Prinzipanlage wird nun durch die Anführung des prinzipiellen bzw. theoretischen Zweifels aufgebrochen. 14 Dass der Zweifel für Tillich als nur im einfachen Sinne des Wortes als unüberwindbar zu bezeichnen ist, wird schon aus der Einschränkung im obigen Zitat deutlich, dem zufolge der Zweifel „in einem bestimmten Sinne“ (EW VI, 101) nicht überwindbar sei. Wie die Überwindung des schlechterdings Unüberwindlichen vorstellig zu werden hat, muss allerdings bei der Exposition der neuen Fragestellung noch offen gelassen werden und wird erst später einer Klärung zugeführt.

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ne, d.h. außersubjektive, Setzung im Sinne eines religiösen Realismus misszuverstehen, sondern beschreibt vielmehr das subjektive Erfassen seiner eigenen Zuständlichkeit, das seinerseits nicht dem Zweifel zu unterliegen vermag, weil es unmittelbar identisch mit dem Subjekt selbst in Anwendung gebracht wird.15 Kurz gesagt: Absolutheit tritt ausschließlich unter dem Vorzeichen der subjektiven Selbstwahrnehmung auf und lässt sich im Erfassen dieser Selbstwahrnehmung als schlechterdings vermittelte nur nicht-objektiv aussagen.16 ————— 15

An Hirsch gewendet formuliert Tillich: „Dein Einwand, daß die Skepsis sich auch gegen dieses Bewußtsein [sc. die Bewusstseinszustände unter dem Exponenten ‚absolut‘] richten könne, trifft nicht, da ja in ihr nichts Objektives bewußt wird, sondern das nur die Beschreibung einer reinen Zuständlichkeit ist.“ (EW VI, 102) 16 Somit ist es auch folgerichtig, wenn Tillich feststellt: „das Menschsein fängt mit der Erlebnisform an!“ (EW VI, 102) Es sind keine Objektivationen und keine reine Subjektivität, die den religiösen Vollzug mit dem Signum der Absolutheit versehen, sondern die in der Zuständlichkeit des Subjekts in seinem Sein als solchem selbst liegende Erlebnisform, die als absolut zu bestimmen ist. Tillichs Bestimmung von Absolutheit, ja von Religion überhaupt, rückt hier sehr stark in eine Verständnisrichtung, wie sie auch von Georg Simmel angesetzt wurde. Umso stärker verwundert es, dass bisher der Simmel-Rezeption Tillichs als ausschließliches Thema nur von Erdmann Sturm eine kleine, aber präzise Studie gewidmet wurde, die Tillichs Bezug und Kritik an Simmel über das komplette Werk Tillichs hin betrachtet (vgl. Sturm, Selbstbewusstsein zwischen Dynamik und Selbst-Transzendenz des Lebens und unbedingter Realitätserfassung. Paul Tillichs kritische Rezeption der Religions- und Lebensphilosophie Georg Simmels, in: Christian Danz [Hg.], Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs [Tillich-Studien, Bd. 9], Wien 2004, 23–47). Siehe aber auch den erhellenden Exkurs Werner Schüßlers zur Simmelrezeption Tillichs in seiner Dissertation, wobei Schüßler stärker als Sturm von einem direkten Abhängigkeitsverhältnis Tillichs von Simmel ausgeht; vgl. Schüßler, Jenseits von Religion und Nicht-Religion. Der Religionsbegriff im Werk Paul Tillichs, Frankfurt a.M. 1989, 108–116, und jetzt nochmals bestätigend ders., Nachwort. Die Bedeutung der Kunst, der Kunstgeschichte und der Kunstphilosophie für die Genese des religionsphilosophischen und kulturtheologischen Denkens Paul Tillichs, in: Paul Tillich, Kunst und Gesellschaft. Drei Vorlesungen (1952). Aus dem Englischen übersetzt, hg. und mit einem Nachwort über die Bedeutung der Kunst für das Denken Paul Tillichs von Werner Schüßler, Münster 2004, 49–87, hier: 76–86. Vgl. ebenfalls die eine große Ähnlichkeit zwischen Tillichs Sinntheorie und Simmels Philosophie konstatierende Aussage von Jörg Lauster, Religion, 67, sowie Ulrich Barth, Religion, 204–207. Sturm teilt die Simmel-Rezeption seitens Tillichs in drei Phasen, eine frühe um 1917, eine zweite „wenige Jahre später“ und eine dritte „vor allem in den USA“ (Sturm, Selbstbewusstsein, 26). Für die Analyse des Briefwechsels und die sich anschließende Zeit Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts sind besonders die ersten beiden von Sturm abgegrenzten Phasen von Bedeutung. Nach Sturm lässt sich jedoch in keiner der drei Phasen eine dezidierte Abhängigkeit Tillich’schen Gedankenguts von den Werken Georg Simmels konstatieren, ja die Kontrastlinien seien sogar in den ersten Phasen stärker als in Tillichs späten Werken. In Tillichs Briefwechsel mit Hirsch ist dezidiert das Rembrandt-Buch Simmels als anregende Lektüre benannt; so schreibt er am 12. November 1917 an Emanuel Hirsch, nachdem er ihm sein Konzept erläutert hat, in dem nicht mehr das Sein Gottes als thetische Setzung, sondern entsprechende Ordnungen nur als „Sinn“ bzw. „Tiefe“ zu interpretieren seien: „Ähnliche Gedanken kannst du in Simmels ‚Rembrandt‘ in dem Abschnitt über religiöse Kunst finden.“ (EW VI, 97;

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————— vgl. aber auch Tillichs Berliner Vorlesung ‚Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart‘ von 1919, wo er dezidiert das Rembrandtbuch nennt; vgl. EW XII, 69) Sturm schließt aus der Formulierung, dass Tillich nur eine reine Ähnlichkeit im Gedankengang bei Simmel erkennen könne, „aber eine Abhängigkeit von Simmels Religionstheorie“ liege „hier nicht vor.“ (Sturm, Selbstbewusstsein, 31) Der Unterschied zwischen Tillichs und Simmels Auffassung bestehe – in Sonderheit betreffs der „Unterscheidung von subjektiver und objektiver Religion“ (ebd., 30) – darin, dass die Auffassung einer Frömmigkeit, die ohne einen Gottesbegriff operiert, von Tillich „ausdrücklich rechtfertigungstheologisch begründet“ sei (ebd., 32). Dem ist wohl kaum zu widersprechen, zumal Tillich in seiner Religionsphilosophievorlesung von 1920 just darauf rekurriert (vgl. EW XII, 439). Allerdings scheint es ob des bisher oben Ausgeführten problematisch, wenn Sturm anbringt, Tillich wolle „einen gegenständlichen Gottesbegriff nicht ausschließen“ (Sturm, Selbstbewusstsein, 32). Zwar relativiert Sturm diese Behauptung dahingehend, dass Tillich den Gottesbegriff nicht als „Glaubensgegenstand“ (ebd.), sondern nur als Konsequenz des Glaubens verstanden wissen wolle, dem zweifelsfrei zuzustimmen ist – nur hat die Gegenständlichkeit des Gottesbegriffs für Tillich damit auch keine unmittelbar konstitutive Funktion in Bezug auf die religiöse Funktion im Geistesleben des Menschen mehr inne (vgl. dazu auch Tillichs Brief an Maria Klein vom 5. Dezember 1917; EW V, 120f, hier: 121). In diesem Zusammenhang konzediert Sturm „eine gewisse Analogie zu Simmels Unterscheidung von subjektiver und objektiver Religion bzw. von Leben und Form“ (Sturm, Selbstbewusstsein, 32), kommt aber doch letztlich zu dem Schluss: „Simmels Religionstheorie ist also ohne Einfluss auf Tillichs religionsphilosophisches und theologisches Denken geblieben. Es handelt sich lediglich um ein Wiedererkennen eines ähnlichen Gedankens in Simmels Rembrandt.“ (Ebd., 33) Betrachtet man die Aussagen Simmels im dritten Kapitel seines Rembrandt-Buches (vgl. Georg Simmel, Rembrandt, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 15, Frankfurt a.M. 2003, 305–515, hier: 451– 505), so drängt sich die Frage auf, ob die These Sturms in dieser Form beibehalten werden kann. Die bei Rembrandt dargestellten Menschen kann man Simmel zufolge „mit einer gewissen Paradoxität so bezeichnen, daß sie in dieser Frömmigkeit leben würden, auch wenn kein Gott existierte oder geglaubt würde. […] Wie diese Frömmigkeit sich nicht nach außerhalb der Seele zu erstrecken braucht, so entlehnt sie auch ihren religiösen Wert nicht von außerhalb ihrer selbst.“ (Simmel, Rembrandt, 473) Im gleichen Sinne formuliert Simmel: „Darin also, daß Rembrandts Menschen von sich aus fromm sind, und nicht daher, daß sie in eine vorbestehende transzendente Ordnung eingestellt sind – darin haben sie das Definitivum ihres seelischen Lebenswertes; so daß, cum grano salis gesagt, die religiösen Objektivitäten, zu denen die Frömmigkeit sonst als Mittel und Weg, Vorbereitung und Würdigkeit, aufwärtsführte, ihrerseits nur Voraussetzungen und Bedingungen der Frömmigkeit sind. Nur als Sprungbrett, von dem aus die Subjektivität zu jenen hinaufgelangte, erschien sonst die Frömmigkeit. Nun ist es umgekehrt“ (ebd., 460). Die beiden Zitate stellen sowohl Gemeinsamkeit als auch Differenz zwischen der Auffassung Tillichs und Simmels deutlich heraus: Die Frömmigkeits- bzw. Glaubensauffassung berührt sich aufs engste, indem beide Male das Moment des religiösen Vollzugs an sich, wie bei Tillich bereits gesehen, unter Absehung jeglicher Objektivationen Religion in ihrem originären Verständnis expliziert (so auch Barth, Religion, 205). Das Erleben der Paradoxalität ist der entscheidende Punkt in der Darstellung beider Denker – allerdings, so wird man sofort hinzuzufügen haben, mit zwei entscheidenden Unterschieden: Simmel fasst den im Subjekt stattfindenden religiösen Vollzug als rein, d.h. schlechthin ausschließliches, subjektives Empfinden – so weit würde auch Tillich womöglich noch gehen –, jedoch ohne die notwendige Folge des Transzendierens (ähnlich Barth, Religion, 206). Der religiöse Mensch Simmels ruht als solcher in sich selbst, ja er kann die Religiosität als „etwas Objektives, als Wert, der, einmal gesetzt, das Dasein der Welt überhaupt und zeitlos um so viel wertvoller macht“ (Simmel, Rembrandt, 471) beschreiben. Tillich bemüht sich hingegen gleichfalls um eine gewisse Entverobjektivierung des Religiösen, allerdings dergestalt, dass das religiöse Erleben als internes Geschehen im Subjekt selbst wiederum aufgrund des

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Der neue Problemhorizont, um den Tillichs Denken um das Jahr 1918 kreist, ist damit aufgetan, so dass die Behandlung des Briefwechsels mit Emanuel Hirsch vorerst abgebrochen und erst wieder später zur Detailanalyse herangezogen wird. Der Ertrag aus den bisherigen Beobachtungen ist folgender: Das Absolute resp. der Gottesbegriff in der Fassung von 1913 ist für Tillich aus seiner Perspektive von 1918 zu verabschieden, weil er dem neuen Faktor in seinem Denken nicht standzuhalten vermag: dem theoretischen Zweifel. Mit der Ausscheidung des Absoluten als solches geht jedoch nicht gleichzeitig eine Bestimmung der Absolutheit des Absoluten als schlechthin irrelevant oder als gar bloßer Schein einher, vielmehr wird das Absolute beibehalten in transformierter Form. Absolutes und Relatives bleiben nach wie vor die Pole Tillich’schen Denkens, allerdings werden beide ansichtig ausschließlich in ihrem wechselseitigen Bezugscharakter, der vom Subjekt aus schlechterdings nur in Form des Erlebens im Akt der ————— Vermitteltseins und Sich-vermittelt-Wissens der subjektiven Selbstsetzung zur notwendigen Konsequenz ein Ausschlagen über das Subjekt hinaus und damit verbunden eine Verobjektivierung dieses Transzendierungsvorgangs zeitigt, jedoch ohne dass dadurch das Verobjektivierte seinerseits nun wieder mit einem unmittelbaren Absolutheitsanspruch auftreten könnte. Dieser ist ausschließlich im Unbedingtheitserlebnis der religiösen Funktion vorhanden. Das Objektive kann also gerade nicht zum Primären, dem ‚Sprungbrett‘ Simmels werden, sondern ist allererst sekundäres und relatives Phänomen des Religiösen. So formuliert auch Sturm (Sturm, Selbstbewusstsein, 38) zutreffend: „In Simmels Subjektivismus fehlt dem Ich-Bewusstsein also der Durchbruch des Unbedingten als des Realitätsgrundes.“ Ob sich nun allerdings aus diesen Differenzen der Einfluss Simmels auf Tillich – zumal in Anbetracht der nahezu bis in die Begrifflichkeit identischen Formulierungen was den religiösen Vollzug anbetrifft – vollständig negieren lässt, muss zumindest als höchst fraglich festgehalten werden. Dies wird umso zweifelhafter, wenn Sturm selbst für den späten Tillich und den späten lebensphilosophisch geprägten Simmel aussagen kann: „Simmels Lebensphilosophie wird also nicht nur als Protest gegen die Rationalität der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft interpretiert [sc. von Tillich], sondern auch religiös gedeutet als ‚intuitives Eindringen‘ in die Tiefe des Lebens, den religiösen Gehalt.“ (Ebd., 41) Hier scheint der vorher konstatierte Unterschied des auf der Rechtfertigung beruhenden Religionsverständnisses Tillichs gegenüber Simmel beinahe aufgehoben. Nicht zutreffend ist die Sturm’sche Gleichsetzung von subjektiver und objektiver Religion Simmels mit dem absoluten und konkreten Moment Tillichs (vgl. ebd., 32f. Richtig liegt hier hingegen Schüßler, Jenseits von Religion, 109). Zwar hält Sturm die Interpretation Tillichs für über die Fassung einer subjektiven und objektiven Religion bei Simmel hinausgehend, allerdings ist bereits der Bezug von absolutem und konkretem Moment auf subjektive und objektive Religion in dieser Konstellation falsch, weil subjektive und objektive Religion durchaus bei Tillich auftreten – etwa in der Verortung der Religion eben im Subjekt und andererseits etwa in der Institution der Kirche mit ihren Sakramenten –, absolutes und konkretes Moment aber in beiden Formen der Religion gleichsam und gleichzeitig walten, so dass eine direkte Entsprechung keinesfalls statthaft ist. Überdenkenswert scheint dieser Ansatz bei Sturm auch dahingehend, dass „das Konkrete“ als „die Kirche“ (Sturm, Selbstbewusstsein, 33) angesetzt wird, was in dieser Exklusivität im Tillich’schen Verständnis schlechterdings abgelehnt werden muss, da die schlechthinnige Konkretion ausschließlich vom Christus Jesus ausgesagt werden kann. Die Kirche ist bestenfalls ein Konkretes unter anderen, das in stetem Bezug auf den Christus Jesus als das Konkrete schlechthin Symbolcharakter für das Absolute erhalten kann.

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Selbstkonstitution bzw. des Selbstvollzugs des Selbst vorstellig werden kann. Absolutheit ist mithin nicht unter Absehung von Subjektivität. Der Erlebnischarakter, in dem das Absolute auftaucht, sowie die tatsächliche Verhältnisbestimmung von Subjektivität, die sich als in ihrer Selbstsetzung immer schon vermittelte ob ihres steten Gegebenseins vor jedwedem Selbstvollzug weiß, und Absolutheit bedarf selbstverständlich noch der genaueren Ausdifferenzierung und Bestimmung.17 Zu klären bleibt demnach die Grundfrage, wie angesichts des radikalen Zweifels Glaubensgewissheit garantiert werden soll und kann oder, anders formuliert, wie Glaube und Zweifel ins Verhältnis zu setzen sind, ohne dass dabei der Glaube so vom Zweifel verschlungen wird und dadurch das subjektive Moment eine derartige Auf- oder eher Überbewertung erfährt, dass der Glaube grundlos wird, weil er auf rein subjektivistischem Boden fußt, wodurch seine Gewissheit in Willkür umzuschlagen droht. Gleichzeitig muss dem Wesen des Menschen als Geistwesen entsprochen werden, indem die Reflexivität und der mit ihr als untrennbar verbunden erkannte Zweifel nicht der faktisch nur mit der Selbstaufgabe der Reflexivität zu habenden Zumutung anheim gegeben wird, in einem erkenntnistheoretisch oder sittlich erfolgenden sacrificium intellectus von einer dem Zweifel unterliegenden externen Instanz den eigenen Ausgangspunkt annehmen zu müssen. Dies wäre genauso problematisch, wie von reiner Reflexivität ausgehen zu wollen, und käme somit dem Verfehlen des menschlichen Wesens gleich.

————— 17

Hans-Walter Schütte fasst diesen Ansatz Tillichs im Begriff des ‚Systems‘, dem im Briefwechsel der stärker von der Fichte’schen Philosophie geprägte Subjektbegriff bei Hirsch gegenübersteht (vgl. Schütte, Subjektivität, insbes. 7–13). Freilich lassen sich nach Schütte Tillich und Hirsch nicht auf die beiden Begriffe festlegen (vgl. ebd., 13). Für Tillich ist ja gerade der Subjektivitätsbegriff nach dem ersten Weltkrieg von gesteigerter Bedeutsamkeit; deshalb schließt Schütte zufolge der Tillich’sche Systemgedanke „eine Theorie der Wirklichkeit ein. System, und das scheint sich aus den Aussagen Tillichs zu ergeben, ist die im Reflexionsmodus sich auslegende Wirklichkeit. Dass sie sich in dem Subjekt einen Repräsentanten verschafft, das gehört zu ihren Aufbauformen.“ (Ebd., 21) Schütte hat hier bereits das erst etwas später ausformulierte Konzept Tillichs von einer ‚Theologie der Kultur‘ im Blick, das in ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ schon anklingt, und ausgeführt im ebenfalls 1919 verfassten Vortrag ‚Über die Idee einer Theologie der Kultur‘ (GW IX, 13–31) vorliegt. Darauf wird später noch zurückzukommen sein, wenn es um die Besprechung der Konsequenzen des neuen Prinzips zu tun ist; vgl. Kap. 2.4.1.

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2.2 Das absolute Paradox 2.2.1 Der Zweifel als Strukturelement menschlichen Selbstvollzugs Die Konsequenz aus einem durch den theoretischen Zweifel dahinfallenden Begriff des Absoluten und Gottes als in thetischer Abstraktheit auftretender führt für Tillich in rechtfertigungstheoretischer Hinsicht zur „Paradoxie eines Glaubens ohne Gott“ (vgl. EW VI, 97 und EW V, 121). Der Zweifel selbst treibt die menschliche Reflexion mithin zur Erkenntnis des Zweifels als integraler Bestandteil reflexiven Vollzugs überhaupt. Wie hat dies als geschehend vorstellig zu werden? Einerseits bestimmt Tillich die menschliche Reflexion als schlechterdings monistische Instanz, womit er gleichzeitig den prinzipiellen Ansatz der Theologie als einzig möglichen, weil dem Menschen allein anwesenden, firmiert. Insofern bleibt Tillich seinem identitätsphilosophischen Grundsatz, den er bereits in der Thesenreihe von 1911 vertreten hatte, treu und vertieft ihn sogar durch die Hineinnahme des Zweifels in das Selbstbewusstsein des Subjekts. Zum anderen steht dem Identitätsprinzip unverändert das in der metalogischen Methode sich in der Synthesis von Logismus und Alogismus erklärende, für das sich selbst setzende Subjekt in erkenntnistheoretischer Hinsicht stets evidente, weil unabweisbare Vermitteltsein der Unmittelbarkeit des Selbst, gegenüber. Unbeschadet des Ernstnehmens des theoretischen Zweifels in voller Konsequenz hält Tillich weiterhin daran fest, dass das Selbst allezeit im reflexiven Nachvollzug der eigenen Selbstkonstitution nicht umhinkann, sich als nicht unmittelbar selbstsetzend zu erfassen. Diese transzendentaltheoretische These ist nicht etwa gewusstes Wissen im Sinne einer Verifizierung, sondern schlicht evidentes Faktum, das sich aus der schieren Faktizität des Selbst-Seins ergibt und somit vor jeglicher Reflexivität und damit auch vor dem Zweifel zum Stehen kommt. Identitätsprinzip und metalogische Methode sind somit einerseits wechselseitige Implikate, andererseits stehen sie insofern gleichzeitig in unendlicher und unüberbrückbarer Spannung, als das Identitätsprinzip als schlechterdings rational operierend vorstellig zu werden hat; die metalogische Methode hinwiederum muss dezidiert ein alogisches Moment als integralen Bestandteil ihrer selbst ansetzen und akzeptieren, um die Evidenz des Vermitteltseins subjektiver Selbstsetzung und uno eodemque actu auch von Selbstidentität zur Ansicht zu bringen. Die Spannung ergibt sich demzufolge aus der Gleichzeitigkeit des Moments des Alogischen in der metalogischen Methode und der strikten, sich im Zweifel verwirklichenden Rationalität des Identitätsprinzips.

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Näherhin hebt das Identitätsprinzip immer schon an von einem notwendig vorgängig sich als Selbst definiert habenden Selbst, gerät aber sekundär in Konflikt mit dem alogischen Moment der just die Selbstsetzung des Selbst vorstellenden metalogischen Methode, sofern das alogische Element als subjektsextern zu klassifizieren ist. Oder anders formuliert: Das Identitätsprinzip ist wesentlich angewiesen auf die metalogische Methode, durch die es allererst konstituiert wird, muss aber den in der Methodik verankerten Alogismus ob der Rationalität der reflexiven Identität dem Zweifel unterwerfen. Ist die metalogische Methode vom Identitätsprinzip somit zwar als solche als notwendig, weil als reziprokes Pendant des Prinzips, angenommen, so muss sie gleichzeitig in ihrer Durchführung abgelehnt werden. Möchte man dieses Spannungsverhältnis prozessual ausdrücken – wobei eine eigentliche Zeitlichkeit auch hier wiederum ob des ständigen Vorausgesetztseins des hier im Prozess Ablaufenden nicht angesetzt werden darf –, findet sich zunächst das Selbst im Zuge seiner Selbstsetzung immer schon als vorhandenes vor und muss mithin sein Vermitteltsein als evidentes Unmittelbarkeitserlebnis faktisch akzeptieren.1 In seiner schieren Faktizität des Da-Seins ist das Selbst sich gleichzeitig in seinem So-Sein als Geist, mithin als Reflexivität schlechthin, bewusst, weil anders als in reflexivem Nachvollzug – der allerdings in der Reflexion auf sich selbst, wie gesehen, immer das eigene Gegebensein als schlicht faktisch konstatieren muss – das denkende Selbst zu operieren nicht in der Lage ist und somit immer zurückgeworfen bleibt auf sein Da- und So-Sein. Aussagen, die nicht automatisch in die mit der reflexiven Dialektik gegebene SubjektObjekt-Struktur überführen wollen, sind somit ausschließlich dann möglich, wenn das Selbst mit den von ihm getroffenen Aussagen in Identität zu stehen vermag. Alles also, was nicht dem Satz ‚ich = ich‘ entspricht, unterliegt notwendig der Negation des selbstgesetzten Subjekts und verfällt in seinem Wahrheitsgehalt dem denkerischen Zweifel. Da nun allerdings just die Selbstsetzung des Subjekts nicht anders gedacht werden kann als eine vermittelte und das Denken die Vermittlung abstrahieren und damit als Objektivation setzen muss, wird der Zweifel der Reflexion im Hinblick auf den erkenntnistheoretischen Nachvollzug des Selbstvollzugs zum prinzipiellen

————— 1 So auch Falk Wagner, der die Bewusstwerdung des immer schon vorgängigen, unvordenklichen Sich-Gegebenseins des Selbst am Gewahrwerden der Endlichkeit festmacht: „Der Mensch als zentriertes Selbst findet sich im Gewahrwerden seiner Endlichkeit als sich gegeben vor. Das SichGegebensein als das Von-anderem-her-Sein kann der Mensch auf keine Instanz der Weltwirklichkeit zurückführen.“ (Wagner, Absolute Positivität, 186) Das heißt aber nun nichts anderes als: „Die Autonomie wird sich selbst zum Thema.“ (Ebd., 178)

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– in Tillichs Nomenklatur: theoretischen – Zweifel. Kurz gesagt: Das Identitätsprinzip kann das nicht akzeptieren, wodurch es allererst ist.2 Da es sich bei dem geschilderten Phänomen um ein Reziprokverhältnis handelt, reproduziert sich der Befund, wenn man ihn aus der Perspektive der metalogischen Methode betrachtet. In diesem Fall expliziert sich die Methodik als fortwährend auf ihr telos, das selbstgesetzte Subjekt, ausgerichtet, das zu erreichen nur möglich und statthaft ist unter der Prämisse des Vermitteltseins der Subjektivität, weil sie anders zu fassen aufgrund der Reflexionsdialektik schlechterdings ausgeschlossen ist. Will die metalogische Methode also das in Anschauung bringen und begründen, worauf sie abzielt, muss sie notwendig den Vermittlungsaspekt als mit der Subjektsidentität gegebenen als stetes Moment sich selbstsetzender Subjektivität in Form des Alogismuselements miteinbringen.3 Das methodisch folgerichtig in Vermittlung selbstgesetzte Selbst tritt daraufhin allerdings – hier besteht der Analogiepunkt zwischen Prinzip und Methode – insofern in ein zweifelndes Gegenüber zur Methodik, als es ausschließlich auf dem Prinzip selbstidentischer Rationalität basiert, welche dem notwendigen alogischen Moment der metalogischen Methode widerstreitet und diese vollständig in den Abgrund der Ungewissheit des Zweifels zieht. Zweifel hebt mithin erst von der Subjektivität aus an, die das telos des methodischen Bemühens ist – und doch ist der Zweifel nicht ohne das, was er prinzipiell bezweifelt. Unschwer lässt sich in der dargestellten Struktur das bereits 1913 von Tillich explizierte Mit- und Gegeneinander eines absoluten und eines konkreten Moments identifizieren: Der Absolutheits- bzw. Wahrheitsanspruch obliegt dem die Identität von Identität und Differenz in sich tragenden absoluten Pol, wohingegen das oben als Identitätsprinzip bezeichnete, nichts anderes als Subjektivität selbst meinende Moment mit dem Pol der Konkretheit zu identifizieren ist. Einziger, aber folgenschwerer Unterschied gegenüber dem Konzept von 1913 ist nun aber die Hinzunahme des prinzipiellen Zweifels, der die Subjektivität dahingehend stärkt, dass sich das System nicht in rein abstrakt-absoluter Intransigenz festzufahren droht. Der Zweifel tritt in der Konzeption von ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ und auch schon im Briefwechsel mit Emanuel Hirsch nicht mehr als abstraktes Spiel der Reflexion, sondern als notwendiges, weil im Prinzip selbst verankertes Moment zutage. Der prinzipielle, theoretische oder strukturelle Zweifel ist ————— 2

Genau das benennt Falk Wagner sehr richtig als das „Problem der Selbstbehauptung“ (ebd., 180), das sich darin äußert, dass die „sich unmittelbar haben wollende Autonomie“ dieses ihr Ziel, nämlich sich selbst zu behaupten, nur erreichen kann in der „Negation dessen, was sie nicht unmittelbar selbst ist“ (ebd.). Tillich spiele mithin „die Selbstverwirklichung des Selbstbewußtseins so durch, daß er sie als in sich selber aporetisch erweisen kann.“ (Ebd., 188) 3 Vgl. ähnlich auch Wagner, Absolute Positivität, 190.

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mithin uneleminierbarer Bestandteil des Prinzips selbst geworden und darob von Tillich zu Recht als in bestimmter Form ‚unüberwindbar‘ bezeichnet. Betrachtet man den Einleitungsteil seines Manuskripts ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ von 1919, so bestätigt sich der Befund: Tillich verwehrt sich gegen eine Prinzipduplizität, denn eine „Zweiheit der Prinzipien widerspricht dem Wesen des Prinzips.“4 (EW X, 188 Ts) Demnach müsse die oft anzufindende Distinktion in ein Material- und ein Formalprinzip notwendig dem Prinzipbegriff zuwider laufen – mit einer einzigen Ausnahme: „Der einzige Grund, warum ein Ort genannt werden dürfte, in dem der Inhalt maßgeblich gefaßt ist, wäre der, daß an diesem Ort der gemeinte Inhalt vollkommen und ausschließlich zu finden [ist]. Dann aber ist das Formalprinzip eine Tautologie des Materialprinzips.“5 (EW X, 189 Ts; Konjektur in der Edition) Die durch die Unumgänglichkeit des Zweifels aufgebrochene Problematik der Subjektivität gilt es nun prinzipientheoretisch zu verarbeiten. Tillich prozediert hier nahezu deckungsgleich zu seiner Prinzipkonstruktion in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, wenn er durch die Aufnahme der Subjektivität in das Prinzip eine „Zwiespältigkeit“ (EW X, 189 Ts) innerhalb des Prinzips selbst konstatiert, die notwendig dazu führt, dass der „logisch unumgängliche Monismus der Prinzipienlehre […] durch die Aufnahme der Subjektivität in das Prinzip dualistisch aktualisiert“ wird (EW X, 190 Ts). Die dualistische Aufspaltung des trotzdem monistischen Prinzips expliziert Tillich wiederum in Form zweier Momente, von denen das erste „etwas Absolutes, […] jeder subjektiven Kritik Enthobenes“ enthalte und somit schlechterdings „absolut und für das Bewußtsein abstrakt“ (EW X, 190 Ts) vorstellig zu werden habe. Um der Abstraktheit des – in Tillich’scher Nomenklatur als Materialmoment zu bezeichnenden – ersten Moments zu wehren, „braucht es ein zweites, konkretes Moment“ (EW X, 190 Ts), um die Absolutheit nicht in intransigenter Kristallinität verharren ————— 4 Weiter definiert Tillich: „Prinzip bedeutet einen Anfang, der nicht nur das zeitlich und logisch Erste, sondern auch das sachlich Grundlegende enthält, das Erste nicht nur im Sinne des Zählens, sondern auch des Wägens, das Beherrschende, das den Fortgang ständig leitet. Spricht man von zwei Prinzipien, so hebt man entweder diesen Begriff von Prinzip auf oder man ordnet stillschweigend das eine dem andern unter, falls man nicht beide unbewußt unter eine Art drittes, höheres Prinzip stellt.“ (EW X, 188 Ts) 5 Dies verweist auf die Konzeption der Christologie in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, die eben nichts anderes sein möchte als der Ausdruck des Prinzips in Reinheit auf dem Boden der vollständigen Konkretion. Material- und Formalprinzip sind, wie in Kap. 1.2.5.3 dargestellt, überführt in ein Material- und ein Formalmoment, die jeweils das Prinzip in Gänze in Anschauung bringen, ohne selbst als Einzelprinzipien aufzutreten. Dieser Themenbestand wird insgesamt noch im Rahmen der Verhältnisbestimmung von theologischem Standpunkt und absolutem Paradox der weiteren Thematisierung bedürfen; vgl. Kap. 2.4.2.

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zu lassen, sondern sie zu aktualisieren. „In diesem zweiten Moment ist die Wahrheit des sogenannten Formalprinzips enthalten: Es wird eine objektive Bindung gegenüber der ins Unendliche kritischen Subjektivität gewonnen. Aber diese Bindung steht dem absoluten Moment nicht gleichwertig gegenüber, sie steht unter ihm“ (EW X, 190 Ts). Ein drittes, als nicht realisiert, sondern allenfalls im Anheben des Vollzugs befindliches Moment ergänzt die gewohnte Momententrias.6 Was ist – so muss gefragt werden – neu an der von Tillich in ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ vorgestellten Fassung des theologischen Prinzips gegenüber der von 1913? Dass es die Subjektivität sei, durch die die beiden ersten Momente in Spannung zueinander treten (vgl. EW X, 190 Ts), wird man kaum als Neuerung empfinden können, da 1913 zwar nicht der Subjektivitätsbegriff in Sonderheit Anwendung findet, dasselbe Phänomen aber unter dem Eintreten des Denkens, das wider die Wahrheit steht und doch nur von ihr her ist, nur in minimaler Begriffsverschiedenheit ausgeführt wird. Die Subjektivität an sich ist somit nicht der entscheidende neue Faktor, sondern nur der prinzipielle Zweifel. Letztgenannter ist zweifelsohne höchstes Signum der Subjektivität, die in Form des Denkens 1913 ob dieses Mangels noch als unterbestimmt zu klassifizieren ist – eine tatsächliche Neufassung des Prinzips lässt sich bisher allerdings nicht konstatieren.7 ————— 6 „Nun kann man zwar von einem dritten Moment des theologischen Prinzips reden, aber nicht als realer Synthese, sondern als idealer Forderung. Die Aufhebung der Spannung kann als unendliches Ziel, nicht als empirische Lösung gesetzt werden.“ (EW X, 190 Ts) 7 Diesen Befund bestätigt weitestgehend auch Folkart Wittekind, sinntheoretische Umformulierung, passim, dem zufolge es „nicht leicht“ sei, „die Veränderungen des Konzepts zu erfassen.“ (Ebd., 39) Allerdings gilt es kritisch anzumerken, ob in Wittekinds Darstellung die Linien, die von der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ zum Entwurf ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ von 1919 führen, nicht tendenziell unterbestimmt sind. So stellt Wittekind für das System von 1913 fest, dass das Paradox „ein gedachtes, allgemeines Prinzip“ sei, „welches nur dadurch real ist, dass es […] mit der Person Jesu Christi zusammengedacht wird.“ (Ebd., 44) Daraus folgert Wittekind eine nahezu durchgängige Konstanz des Rechtfertigungsbegriffs in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, die durch die Konkretheit des Prinzips kaum verändert werde: „Das Absolute bleibt in Tillichs hier gegebener Deutung des Rechtfertigungsaktes auch absolut dominant. Ein weitergehendes Ja zum Einzelnen als im ersten Teil des Systems ist kaum zu erkennen.“ (Ebd.) Tendenziell wurde diese These bereits im Aporievorwurf von Gunther Wenz vertreten, was sich als Befund erhärtet, wenn Wittekind die Deutung des Kreuzesgeschehens bei Tillich als „ganz unhistorisch […] gedanklich-gewusst, abstrakt, allgemein, ideell und nicht konkret“ (ebd., 45) bezeichnen kann. Das Moment der Konkretheit erscheint Wittekind in der Darstellung von 1913 demnach noch von Tillich nicht überzeugend ins Gesamtsystem eingebunden und damit als unterbestimmt. Insofern verwundert es nicht, wenn Wittekind dem Tillich’schen Christus Jesus des Jahres 1913 nicht die Bezeichnung ‚Mitte der Geschichte‘ zusprechen kann und ihm gleichfalls soteriologische Kompetenz absprechen muss (vgl. ebd., 46 und 51). Dass beide Tendenzen das System von 1913 kennzeichnen und als potentielle Aporiequellen fungieren können, bleibt unbenommen, muss aber nicht die notwendige Konsequenz darstellen (vgl. die ausführliche Erörterung hierzu in Kap. 1.3.2.3). Höchst richtig konstatiert Wittekind, dass „Rechtfertigung und Zweifel seinen Standpunkt

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2.2.2 Rechtfertigung des Zweiflers durch Rechtfertigung des Zweifels Ist der Zweifel als genuin neues Element im Konzept Tillichs entlarvt und als Strukturelement des Menschseins des Menschen, mithin in seiner Unhintergehbarkeit, erkannt,8 so bedarf es der Beantwortung der Frage, wie nun der an sich unüberwindliche Zweifel einer religiösen Verarbeitung zugeführt werden kann. Tillich beruft sich dabei auf sein schon 1913 aufgestelltes theologisches Prinzip, in dem der Rechtfertigungsbegriff materialiter die entscheidende Stellung innehat.9 Um nun allerdings der Abstraktheit des Rechtfertigungsbegriffs wehren zu können, löst Tillich ihn aus der abstrakten Unabhängigkeit von der durch den Zweifel schlechterdings in

————— in dem theologischen Prinzip ein[nimmt]“ (Wittekind, sinntheoretische Umformulierung, 52; ähnlich auch Danz, Geschichtliche Offenbarung, 179f), veranschlagt allerdings das zweite, konkrete Moment des theologischen Standpunkts nicht mehr christologisch, sondern subjektstheoretisch und erkennt darin gegenüber früher eine Aufhebung der „Nebeneinanderstellung von Rechtfertigung und Christologie“, so dass letztlich mit dem idealistischen Konzept gebrochen und dieses in eine „gegenwartsbezogene Protestantismustheorie überführt“ werde (Wittekind, sinntheoretische Umformulierung, 52). Fraglich bleibt allerdings ein Doppeltes: Einerseits muss das Konzept von 1913 nicht notwendig in derart idealistisch-abstrakter Form expliziert werden, wie Wittekind dies – bei aller positiven Anmerkung, es handle sich bei Tillichs Konzept nicht um ein hegelianisches System (vgl. ebd., 40; tendenziell anders Neugebauer, frühe Christologie, 257) – tut, so dass der Gegenwarts- und Subjektsbezug zwar nicht das tragende Element im Jahre 1913 darstellt – soweit befindet sich die Wittekind’sche Darstellung im Recht –, er aber deswegen nicht automatisch vollkommen ausgeblendet ist. Dieses Vorhandensein wurde bereits zu erweisen versucht (vgl. wiederum Kap. 1.3.2.3). Zum anderen kann es sich als problematisch erweisen, das konkrete Moment Tillichs im Entwurf von 1919 nicht – zumindest potentiell – christologisch fassen zu wollen, weil Tillich – auch hierin ist Wittekind zuzustimmen – zwar nicht mehr die Pole Rechtfertigung und Christologie, sondern Rechtfertigung und Glaube eröffnet, dies allerdings dezidiert für sein absolutes Paradox vollzieht, was nicht automatisch auch für das theologische Paradox in Geltung stehen muss. Wie dann das Verhältnis der beiden Paradoxe zu bestimmen ist, soll erst nach der Analyse von ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ näher geklärt werden (vgl. Kap. 2.4.2) – als vorläufiges Ergebnis der Auseinandersetzung mit der Darstellung von Folkart Wittekind kann jedoch festgehalten werden, dass Tillich sein Konzept 1919 gegenüber 1913 zwar stärker von der Christologie weg hin zur Subjektivität und somit von der historischen Fragestellung zu einer gegenwartsbezogenen Deutung bewegt, diese Tendenz allerdings nicht überinterpretiert werden darf, weil Tillich einerseits starke Ansätze hierfür bereits in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ erkennen lässt und andererseits ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ noch deutlich stärker am alten Konzept entlang interpretiert werden kann und nicht als tatsächlicher Bruch mit dem Vorherigen betrachtet werden muss. 8 Dies bestätigt auch Christian Danz, der in Tillichs Prinzipfassung von 1919 „die Subjektivität als unendliche Negativität, als die Unendlichkeit des Zweifels gefasst“ wissen will (Danz, Geschichtliche Offenbarung, 180), so dass der Zweifel „die unbedingte Vollzugsgestalt der Subjektivität selbst ist.“ (Ebd., 181) 9 Zur Bedeutung des Rechtfertigungsbegriffs bei Tillich im Vergleich mit Karl Holl vgl. Christian Danz, Glaube, passim.

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ihrer Tiefe erkannten Subjektivität, die als uneliminierbare Instanz menschlicher Reflexivität fungiert.10 Die Definition des Rechtfertigungsbegriffs deckt sich mit der bekannten Fassung aus der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, indem Tillich betont, Rechtfertigung werde ausschließlich dann richtig, also ihrem Wesen entsprechend, verstanden, wenn von ihr per paradoxian die Rede ist. Damit ist unmittelbar ausgesagt, dass – so die wörtliche Interpretation Tillichs – die Rechtfertigung in ihrer Paradoxaltität dem widerspricht, was die reine Rationalität als ethische Maßstäbe anlegt. Die Begriffe von Gut und Böse stellen mithin keine Beurteilungskriterien dar, weil das göttliche Rechtfertigungsurteil – eben paradoxerweise – absieht von jeglichen justiziablen Richtlinien11 und somit als „freischöperische[r] Akt Gottes“ (EW X, 192 Ts) vorstellig zu werden hat:12 „Das richterliche Urteil Gottes über den Sünder ist nicht begründet in der realen Qualität des Beurteilten, sondern steht zu dieser in Widerspruch.“ (EW X, 191 Ts) Just dieser unvermeidliche, die Paradoxie allererst bedingende Widerspruch wird aufgelöst, sobald er einer Form der Rationalisierung unterworfen wird. Tillich nennt dafür fünf Beispiele: (1) Ihrer Paradoxalität verlustig geht die Rechtfertigung, sofern sie im Rahmen einer Stellvertretungsvorstellung in eine Erlösungslehre eingebunden wird, die

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Insofern ist der Veranschlagung der Subjektivität als des konkreten Moments durch Folkart Wittekind zuzustimmen (vgl. S. 252f Anm. 7). Allerdings stellt dies, wie gesehen, keine Neuerung gegenüber dem Konzept von 1913 dar, weil auch hier in der Konstruktion des Wahrheitsprinzips Wahrheit als der absolute, Denken als der konkrete Pol definiert wurde und das Denken durch sein Stehen in der Wahrheit von dieser als ‚gerechtfertigt‘ beurteilt wird. Erst in der materialdogmatischen Anwendung des theologischen Prinzips verteilen sich die Momente von Absolutheit und Konkretheit auf den rechtfertigenden Gott-Vater und den die Rechtfertigung vermittelnden Sohn. Rechtfertigung und Christologie stehen mithin nur in materialdogmatischer Perspektive für den absoluten und konkreten Pol – was die grundlegende Prinzipkonstruktion anbelangt, ändert sich durch die Aufnahme der Subjektivität, die als Analogon zum Denken verstanden werden muss, zunächst nichts. Erst der in seiner Tiefe ernst genommene Zweifel vermag an der Berechtigung des absoluten Wahrheitsgedankens, der für das Denken bzw. Subjekt inhaltlich Rechtfertigung bedeutet, zu rütteln. Dies bestätigt auch der Befund in ‚Rechtfertigung und Zweifel‘, der im Folgenden näher betrachtet wird. 11 „Diese E³YB, gegen die er [sc. der rechtfertigende Akt Gottes] verstößt, ist das Denken in den ethisch-juristischen Kategorien gerecht und ungerecht.“ (EW X, 192 Ts) 12 Damit verwirft Tillich de facto ein sittlich orientiertes Rechtfertigungsverständnis, wie es noch Karl Holl im Anschluss an Luther vertritt; vgl. dazu Danz, Glaube, 168, der feststellt, dass Tillich entgegen Holls Auffassung die Meinung vertrete, „dass eine modernegemäße Explikation der Rechtfertigungslehre nicht vom sittlichen Selbstverhältnis und dessen Konstitution, sondern vom Selbstverhältnis überhaupt auszugehen habe. […] Die Rechtfertigung wird deshalb von Tillich nicht mehr wie bei Holl als die Konstitution der Sittlichkeit verstanden und in ethischen Kategorien gefasst, sondern als Sich-evident-Werden des Geistes in der Geschichtlichkeit seines Bezuges auf sich selbst.“ (Danz, Glaube, 168f)

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die Rechtfertigung logisch zu begründen sucht. Dadurch wird entweder die Absolutheit Gottes beschränkt, indem er notwendig an eine Instanz – Jesus Christus – gebunden ist, vermittels derer er die Rechtfertigung allererst anzuwenden vermag. Durch diese Notwendigkeitsstruktur – die 1913 noch unter dem Stichwort ‚Mechanisierung‘ als abzulehnende Fassung der Rechtfertigung klassifiziert wurde –, auf die der göttliche Akt fixiert wird, wird die Paradoxalität des Paradoxes insofern aufgelöst, als die Rechtfertigung letztlich ‚durchschaut‘ wird und „sich das Denken auf den Standpunkt [Gottes] erhebt“ (EW X, 192 Ts; Konjektur in der Edition), von dem aus es deduziert. Wird Gott zu stark in diesen Heilsmechanismus hineingezogen, depraviert das Leiden des Sohnes zum Leiden Gottes selbst, so dass in dieser stark theopaschitischen Konzeption „die Paradoxie in einen innergöttlichen realen Prozeß verlegt wird“, was Tillich ob des „mythologische[n] Charakter[s]“ (EW X, 193 Ts), der dieser Durchführung zwangsläufig anhaftet, ablehnen muss. (2) Führt die Rechtfertigungslehre so stark in die Christologie hinein, dass sie in ihr verloren geht, so kommt es nach Tillich zu einer Verdinglichung der Rechtfertigungslehre, die Tillich primär im römischen Katholizismus ausgeführt sieht. Genau genommen ist die Rechtfertigung in dieser Fassung als Materialprinzip komplett aufgegangen im Formalprinzip Jesus Christus, so dass ein Zugang ausschließlich über die dingliche Form „sakramentale[r] Tätigkeit“ (EW X, 194 Ts) erfolgen kann. Die Rechtfertigungslehre darf aber eben nicht abhängig gemacht werden von einer wie auch immer gearteten Vermittlung ihrer selbst, weil ihr Grund und Ziel allein Gott ist, so dass es „keiner Zwischenglieder“ bedarf, „um an Gott heranzukommen. Der Glaube richtet sich unmittelbar auf ihn selbst.“ (EW X, 194 Ts) (3) Richtet sich der Glaube im Vollzug seiner selbst auf sich selbst – wie es nach Tillich im Pietismus der Fall ist –, so verfehlt er wiederum sein eigentliches telos, Gott, und führt zu einer „Verdoppelung des Glaubens“ (EW X, 194 Ts), indem der Glaube sich einerseits auf Gott zu beziehen sucht, dies aber gewissermaßen vermittelt in der Selbstbezüglichkeit unternimmt, so dass der Glaube seine eigene Gewissheit allererst selbst generieren müsste, was nach Tillich dazu führt, dass der Glaube selbst zu einem „bedingte[n], unzuverlässige[n], Schwankungen ausgesetzte[n] Zwischenglied“ wird, der letztlich nichts anderes ist als „Ungewißheit“ (EW X, 194 Ts). (4) Ein rein rationalistisches Verständnis der Rechtfertigung verwirft Tillich mit der Begründung, dass für diesen Weg letzten Endes eine „Einsicht in den Standpunkt Gottes“ (EW X, 195 Ts) notwendig wäre, was wiederum die Selbsterhebung des zu Rechtfertigenden nach sich ziehen müsste und dadurch den paradoxen Charakter aufheben würde. (5) Zuletzt verwirft Tillich den an Ritschl orientierten Versuch, „die Rechtfertigung durch den ethischen Akt der Verzeihung zu deuten.“ (EW X, 195 Ts) Dies würde nach Tillich die Rechtfertigung entweder „psychologisch-kausal“ oder „ethisch-teleologisch“ (EW X, 195 Ts) missinterpretieren, was entweder zu einer Nichtbeachtung der Sündenschuld oder aber zu ihrer Vergebung mit dem Zweck der „Wiederherstellung einer ethischen Gemeinschaft“ (EW X, 195 Ts) führt. Ersteres ist abzulehnen, Zweites verfehlt das eigentliche Ziel des Rechtfertigungshandelns Gottes, nämlich die Bejahung des Sünders, und deutet Rechtfertigung daraufhin, „daß der ewige Gott den vergänglichen Menschen zur Gemeinschaft mit sich zuläßt“ (EW X, 196 Ts), wodurch die Verzeihung zum Mittel für den Zweck der Realisierung dieser Gemeinschaft mutiert und somit ebenfalls eine Rationalisierung und Mechanisierung des Rechtfertigungsgedankens eintritt.

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Die Diskussion der Wege, die das Rechtfertigungsverständnis seinem Wesen nach verfehlen, war insofern gewinnbringend, weil sich deutlich gezeigt hat, dass in allen Fällen die Rechtfertigung ihr Ziel nicht erreicht bzw. die Rechtfertigung selbst verfehlt wird, da sie in mediatisierter Form ihre Anwendung findet, was letztlich entweder auf eine reine Verdinglichung oder auf eine Abwertung der Rechtfertigung zugunsten eines ‚höheren Zieles‘ hinausläuft, der Rechtfertigung aber das nimmt, was ihr anwest, nämlich den paradoxen Charakter. In dieser einzig vertretbaren Fassung wird die Rechtfertigung allerdings erst dann verwirklicht, wenn sie sola fide realisiert wird: „Die Paradoxie der Rechtfertigung kann nur dann rein erfaßt werden, wenn die Rechtfertigung allein durch den Glauben kommt.“ (EW X, 196 Ts) Zu klären ist nun, wie nach Tillich Glaube zu begreifen ist, wenn er allein die Möglichkeit der unvermittelten Rechtfertigungsverwirklichung vorstellt: „Glaube ist persönliche, unmittelbare auf Gott gerichtete Bejahung des Paradox der Rechtfertigung, er ist ein Absehen von jeder Qualität des Glaubenden, auch derjenigen, daß er glaubt, und ein Hinsehen allein auf Gott.“ (EW X, 194f Ts) Mit Folkart Wittekind lässt sich somit treffend sagen: „Glaube soll nicht Glaube an Rechtfertigung sein, […] sondern das anerkennende Geschehenlassen der Rechtfertigung.“13 Glaube und Rechtfertigung treten mithin in einen untrennbaren Zusammenhang, indem Rechtfertigung wesensmäßig ausschließlich realisiert ist in der Aneignung durch den Glauben und Glaube seinerseits nichts anderes ist als diese Aneignung.14 Tillich kann damit – und in Abgrenzung zu den falschen ————— 13

Wittekind, sinntheoretische Umformulierung, 54. Zwar ist somit Folkart Wittekind darin zuzustimmen, dass das „Materialprinzip […] aus der Rechtfertigung selbst und der Aneignung des göttlichen Aktes im Menschen“ besteht (Wittekind, sinntheoretische Umformulierung, 54); allerdings ist damit nicht unbedingt ein derart starker Bruch bzw. Neuansatz gegenüber dem System von 1913 gegeben, wie ihn Wittekind konstatiert. Das Moment des Glaubens war in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ noch deutlich unterbestimmt, tritt aber ausschließlich in Form einer oboedientia passiva und somit als reines Geschehenlassen der Rechtfertigung seitens Gottes auf. Glaubensoboedienz meint allerdings deshalb nicht die von Tillich abgelehnte Form der Annahme etwas der Vernunft Zuwiderlaufenden, sondern just das Erfassen der Rechtfertigung in ihrem paradoxen Charakter und nicht etwa Glauben an die Rechtfertigung. Tatsächliches und von Wittekind hervorragend herausgearbeitetes Novum ist allerdings die Aufnahme des Glaubens in das Prinzip selbst als Akt der Rechtfertigungsannahme. Dies ergibt sich durch die aufgrund des Zweifels hervortretende Subjektivität, mit der gleichzeitig eine Aufwertung des Glaubens in prinzipieller Hinsicht statthat. Wenn Wittekind ob dem allerdings die Christologie in ihrem konstitutiven Charakter verabschiedet (vgl. ebd.), so hat dies seine Berechtigung – allerdings nur für die Anlage des Rechtfertigungsprinzips, für die sie jedoch auch schon 1913 nicht von Belang war, insofern das Wahrheitsprinzip in abstrakter Reinform unter Absehung christologischer Aspekte behandelt wurde. Freilich wird sekundär die Christologie zum Kristallationspunkt prinzipientheoretischer Ausführungen und hat ob dem auch konstitutiven Charakter, der ihr um des prinzipiellen Zweifels 1919 in der Form von 1913 versagt bleiben muss und vom Glauben des Subjekts eingeholt wird. Dahingehend ist den Ausführungen

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Verständnismöglichkeiten der Rechtfertigung – drei Kriterien für den Glauben benennen: Glaube als Annahme der Rechtfertigung bedeutet somit erstens immer deren Annahme als Paradox und nichts anderes. Zum Zweiten ist die glaubensmäßige Erfassung des Paradoxes niemals dinglich, sondern immer persönlich und somit unmittelbar zu verstehen. Drittens darf der Akt des Glaubens als An- bzw. Aufnahme des Paradoxes nicht zu Selbstbezüglichkeit depravieren, so dass Glaube stets als Phänomen und nicht als Selbstreflex auf sich selbst gefasst werden darf.15 Deshalb lehnt Tillich auch ab, „die psychologisch-metaphysische Frage nach der Entstehung des Glaubens“ (EW X, 196 Ts) bei der – phänomenologischen – Betrachtung des Glaubensaktes als Rechtfertigungsrezeption zu behandeln; würde Glaube selbstreflexiv, so bestehe wiederum die Gefahr, dass Glaube nicht Erfassung des Paradoxes, sondern Glaube an Rechtfertigung darstellen würde, was nur die Paradoxauflösung durch deren erneutes Einholen im Werkcharakter reproduzieren würde.16 Gefasst ist die Paradoxalität des Paradoxes wiederum in dem Doppelurteil von Bejahung und Verneinung des gläubigen Subjekts unter Absehung jedweder ethisch-justiziabler Kategorien. Hierin sieht Tillich die „Formulierung des Paradoxen“ in einem Satz gefunden, „in dem der logische Charakter der Paradoxie einerseits, der persönliche unbedingte Charakter des Glaubens andrerseits zu deutlichem Ausdruck kommt.“17 (EW X, 197 Ts) ————— Wittekinds zuzustimmen. Die sekundären Objektivationen, die es später noch zu behandeln gilt und die sich notwendig aus der Prinzipanlage ergeben, lassen das zweite Moment des theologischen Prinzips nun aber gerade nicht hinfällig und zum bloßen Symbol unter anderen werden, sondern führen im zweiten Schritt zurück zur materialdogmatischen und damit letztlich auch prinzipiellen Notwendigkeit des zweiten konkreten Moments, der Christologie – zumal, so ist zu ergänzen, die Aufnahme der Subjektivität in Form des Glaubens in das Materialprinzip selbst eine konkrete Rückbindung des Prinzips in seinem zweiten Moment notwendig erforderlich macht. Was also prima facie zu einer Verabschiedung der Christologie in prinzipieller Hinsicht zu führen scheint, bedingt letztlich doch eine konkrete Realisierung, die zwar nicht inhaltliche Bestimmung ist – insofern wird das Rechtfertigungsprinzip nicht abhängig von Objektivationen seiner selbst –, aber notwendiges Implement des Prinzips selbst. 15 Zum vollkommen unbedingten Charakter der Rechtfertigung gehört es bezüglich des Glaubens, „1. daß im Glauben das Paradox schlechthin als Paradox erfaßt wird […]; 2. daß das Paradox in persönlicher, unmittelbarer Weise erfaßt wird, nicht in dinglicher, vermittelter Weise (Katholizismus); 3. daß die Erfassung des Paradox nicht selbst wieder Gegenstand des Glaubens wird“ (EW X, 196 Ts). Vgl. dazu positiv Tillichs Äußerung in der Religionsphilosophie von 1925: „Glaube ist Richtung auf das Unbedingte im theoretischen und praktischen Akte; nun aber kann niemals das Unbedingte als solches Gegenstand sein, sondern nur das Symbol, in dem das Unbedingte angeschaut und gewollt wird. Glaube ist Richtung auf das Unbedingte durch Symbole aus dem Bedingten hindurch.“ (GW I, 331f) 16 „[S]o kann es das Problem der Erwählung überhaupt nur als geschichtsphilosophisches und psychologisches geben, nicht aber als unmittelbar religiöses.“ (EW X, 197 Ts) 17 Tillich verlässt somit die metalogische Methode bei der Paradox- und somit Prinzipkonstruktion auch 1919 nicht.

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Damit scheint nicht nur, sondern ist dezidiert der Paradoxbegriff der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ nicht nur auf-, sondern sogar übernommen. Besonders deutlich wird dies, wenn Tillich die Rechtfertigung auch 1919 als das Doppelurteil Gottes auf den Menschen in seiner Konkretheit verstanden wissen will und den Glauben selbst als die bejahende Annahme eben jenes göttlichen Urteils begreift, das die konkrete Fassung menschlicher Existenz als zugleich absolut firmiert und absolut negiert fasst.18 Rechtfertigung und Glaube an sich sind somit nicht different zum System von 1913 definiert, sondern werden im Gegenteil begrifflich deckungsgleich verwendet;19 für die Prinzipkonstruktion ergeben sich nichtsdestoweniger anderweitige Konsequenzen, die allerdings ihren Ursprung nicht in den Begriffen von Rechtfertigung und Glaube, sondern einzig und allein in der erkannten notwendigen Neuverortung des Zweifels als unausscheidbares Element des Prinzips selbst haben. Die Aufwertung und damit verbunden die prinzipielle Neubestimmung der Subjektivität durch den sie allererst ihrem wahren Wesen zuführenden Zweifel und die dadurch prinzipientheoretisch gewichtigere Einstufung des Glaubens als Ort zwischen Rechtfertigung und Zweifel sind rein sekundäre Phänomene. ————— 18

„Das absolute Nein und das absolute Ja über den Menschen als ein einheitlicher Akt Gottes, der gerichtet ist auf denselben Menschen in seinem gesamten empirischen Bestande. Das ist die Paradoxie der Rechtfertigung und die unmittelbare persönliche Bejahung dieses Urteils, die Anerkennung sowohl des Ja als auch des Nein oder vielmehr die Einheit beider als göttliches Urteil über mich, das ist der Akt des Glaubens.“ (EW X, 197 Ts) Gleichzeitig betont Tillich, dass der Glaube als „Bejahung [des] Paradox […] niemals objektives Heilskriterium werden“ (EW X, 197 Ts; Konjektur in der Edition) kann, wodurch der Werkcharakter des Glaubens schlechterdings ausgeschlossen ist. 19 Insofern muss es doch stark verwundern, dass Folkart Wittekind in Tillichs Satz „Wenn wir eine Formulierung des Paradoxen suchen, so müsste ein Satz gefunden werden, in dem der logische Charakter der Paradoxie einerseits, der persönliche unbedingte Charakter des Glaubens andrerseits zu deutlichem Ausdruck kommt.“ (EW X, 197) im logischen Part eine Anknüpfung an die Systematik von 1913 und im alogischen Moment des Glaubens die Neuformulierung zu erkennen glaubt: „Mit der ersten Satzhälfte wird das System von 1913 aufgenommen, mit der zweiten seine neue verwandelte Gestalt genannt.“ (Wittekind, sinntheoretische Umformulierung, 55) Logismus des Paradoxen und dessen persönliche Aufnahme im Glauben widerstreiten auch nicht im System von 1913. Freilich spielt der Glaubensaspekt noch nicht die überragende Rolle wie 1919, jedoch ist seine Bestimmung nach wie vor dieselbe und, dass Rechtfertigung nicht anders ist als in ihrem glaubensmäßigen Vollzug, würde wohl auch der ganz frühe Tillich nicht abstreiten wollen. Wittekind hat sicherlich Recht, wenn er in der Unbedingtheit des Glaubens für das Prinzip eine Formulierung erblickt, die in dieser Präzision und Zuspitzung für die ‚Systematische Theologie von 1913‘ noch nicht ausgeprägt ist und durchaus grenzwertig erscheint. Die prinzipielle Veranschlagung ist im zitierten Tillich’schen Satz allerdings noch nicht thematisiert und kommt erst – hier scheint die Lücke in der Darstellung Wittekinds zu liegen – sekundär durch den prinzipiellen Zweifel sowie das daraus resultierende Verlustiggehen des Absoluten ins Spiel. Dies am Text – den Wittekind in seiner Darstellung von ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ bezeichnenderweise übergeht – zu erweisen, gilt es im Folgenden.

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Der entscheidende Punkt wird von Tillich in der Frage aufgenommen, „ob denn die Rechtfertigung überhaupt fähig ist, im eigentlichen Sinne Prinzip zu werden.“ (EW X, 198 Ts) Dies wird von Tillich direkt im Anschluss verneint und zwar dahingehend, dass die vorliegende Fassung der Rechtfertigung nicht unmittelbar dazu befähigt sei.20 Dies bestätigt nur den bisherigen Befund, nämlich dass das von Tillich beschriebene Rechtfertigungs- und Glaubensverständnis gerade nicht von dem in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ vertretenen abweicht, weil der entscheidende und notwendige Korrekturpunkt allererst eingebracht wird: Der sich bei dem Subjekt in existentieller Not unabwendbar einstellende Zweifel an der Voraussetzung jeglicher Heilsgewissheit, die zu erreichen der zweifelnde Glaube strebt, führt nicht einfach nur zur Zersetzung der Beruhigung des Subjekts beim gottgewährten Heil, sondern zur Instanz, die sein muss, um das Heil zu garantieren: Gott selbst. Was dem Zweifel unterliegt, ja konsequenterweise unterliegen muss, ist nichts anderes als das Gottesbewusstsein selbst, mit dem alle weiteren Bewusstseinszustände, angefangen vom Heilsüber das Glaubensbewusstsein bis hin zum sittlichen Bewusstsein, in radikaler Weise ihren Grund verlieren, weil das Gottesbewusstsein elementar mit dem Selbstbewusstsein des Subjekts verknüpft ist und daher sich das Selbst selbst zweifelhaft wird. „Hier allein aber“, so konstatiert Tillich, „liegt das religiöse Problem der Gegenwart.“ (EW X, 198 Ts) Damit die Rechtfertigungskonzeption, wie sie Tillich vorgestellt hat, unmittelbar in Geltung treten kann, bedarf es Gottes als der Instanz, die eben die Rechtfertigung in ihrer paradoxen Gestalt als zugleich bejahendes und verneinendes Urteil fundiert. Kann dem so verfassten Gottesbewusstsein jedoch keine unmittelbare Evidenz im Bewusstsein des Selbst mehr zugesprochen werden, ja ist sich das Selbst seiner selbst nicht mehr sicher – und just dies muss Tillich zufolge beim konsequent denkenden Subjekt unabweichlich eintreten –, fällt der Gottesbegriff als reine Begrifflichkeit ohne inhaltliche Füllung in Ungewissheit dahin und mit ihm die auf ihm basierende abstrakte Fassung der Rechtfertigung. Vom zweifelnden Subjekt führt keine direkte Linie hin zu Gott.21 Der schon 1913 konstatierte Bruch auf dem Weg vom Relativen zum Absoluten kommt in diesem Gedanken zu seiner letzten Konsequenz. Das Resultat fasst Tillich folgendermaßen zusammen: „Die Rechtfertigung in ihrer historischen Beschränkung auf das Problem der Heilsgewißheit ist also nicht imstande, theologisches Prinzip zu werden.“ ————— 20

„Darauf ist zu antworten, daß die Rechtfertigung in ihrer unmittelbaren Form zweifellos nicht dazu geeignet ist.“ (EW X, 198 Ts) 21 „Von der Not des mit Gott ringenden Gewissens gibt es keinen direkten Weg zur Begründung der Gottes- oder Offenbarungsgewißheit, nicht einmal den höchst unsicheren des Postulates; denn die Sphäre der Heilsgewißheit setzt die beiden anderen voraus, nicht umgekehrt.“ (EW X, 198)

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(EW X, 199 Ts) Das Zentrum moderner Subjektivität setzt gewissermaßen nicht bei der Frage nach dem Heil, sondern bereits einen Schritt vorher, bei der Selbstkonstitution des Selbst an, woraus – die Stoßrichtung der Tillich’schen Argumentation ist schon klar zu erkennen – der Zweifel in prinzipieller, d.h. erkenntnistheoretischer Hinsicht leitendes Agens des Rechtfertigungsgedankens zu werden hat. Somit – und damit bestätigt sich die zuvor aufgestellte These – ist es nicht eine Neuerung in der Methodik, nicht in der Begriffsdefinition von Rechtfertigung und Glaube, auch nicht ein bewusster Perspektivenwechsel, der nun von der Subjektivität aus anheben würde, sondern ausschließlich der prinzipielle, sich genetisch aus der ursprünglichen Prinzipkonstruktion ergebende und hervorbrechende Zweifel, der eine Modifikation des gesamten prinzipiellen Ansatzes notwendig macht. Nicht das unmittelbare Einbringen der Subjektivität als Signum der Moderne bewirkt die Revision des Prinzips, sondern die Vertiefung der Subjektivität selbst ist Konsequenz eines prinzipiellen Zweifels,22 der seinerseits in der bisherigen Systemanlage Tillichs latent verborgen war und im logischen Weiterdenken des Systems hervorbricht. Für das System von 1913 bedeutet dies, dass erstens die ursprüngliche Wahrheitskonzeption zwar beibehalten werden, der in ihr als aufgehoben vorgestellte Zweifel jedoch nicht aus dem System ausgeschieden werden kann, sondern als Implement ernst genommen werden muss. Von größter Bedeutung ist die zweite Konsequenz: Das bisherige Ansetzen der Wahrheit als des Absoluten und die religiöse Ableitung des Gottesbegriffs aus dem Begriff des Absoluten ist nicht mehr beizubehalten. Die Linie ‚Absolutes – Religion – Gott‘23 ist damit insofern aufgebrochen, als eben das, was in der Religion als Gott bestimmt werden soll, das Absolute, an sich in Zweifel gezogen ist und mithin nicht mehr Konstituens des Gottesbegriffs sein kann. Religion muss demnach unter Absehung jeglicher Absolutheitssetzungen agieren, weil jene als in Zweifel stehende nicht mehr Träger des Systems werden können.24 ————— 22

Allerdings – so sei hinzugesetzt – bedingen sich Subjektivität und Zweifel natürlich wechselseitig, so dass der Zweifel zwar die Subjektivität allererst zu ihrer tiefsten Bestimmung führt, andererseits aber der prinzipielle Zweifel erst durch die Selbstbehauptung subjektiven Denkens realiter hervorzutreten vermag. Das systematische Primat muss jedoch ohne Zweifel dem Zweifel zugestanden werden, da dieser das rein chronologisch betrachtet – auch wenn sich hier wiederum jede Chronologie im eigentlichen Wortsinn verbietet – erste Moment darstellt. 23 Vgl. A §11; 294–296; hier v.a. 296. 24 Ausschließlich dahin zielend richtet sich Tillichs Kritik an dem Religionsverständnis von Rudolf Otto, wie Letztgenannter es in seinem 1917 erschienen Buch ‚Das Heilige‘ darlegt. Wie Tillich in seiner Vorlesung über Religionsphilosophie an der Universität Berlin im Jahr 1920 ausführt, sei bei Otto einerseits die Begrifflichkeit zu wenig „transzendentalpsychologisch gefaßt“ (EW XII, 439), weshalb der Otto’sche Begriff des Numinösen „noch zu gegenständlich“ sei (ebd.); zum Zweiten fehlt Tillich die konkrete Benennung des Unbedingtheitserlebnisses, das bei Otto zwar vorhanden, jedoch nicht ausgesprochen sei. Insgesamt konstatiert er aber größte Nähe: „Im

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Stellt der prinzipielle Zweifel ein unhintergehbares Faktum von Subjektivität dar, gilt es diesen auch prinzipiell zu integrieren. Dabei lehnt Tillich wie schon 1913 ein eigenständiges Formalprinzip aufgrund der Subjektivität, die – wie bereits gesehen – aufgrund des Identitätsprinzips nicht direkt auf ein externes Prinzip zurückzugreifen vermag, sowie die Subjektivität selbst als Prinzip ab.25 Bleibt aber nun auch die Subjektivität wie der Zweifel unhintergehbar, so ist die Rechtfertigungstheorie derart zu verändern, dass sie die Subjektivität und ihren prinzipiellen Zweifel nicht umgeht, sondern sogar zur Geltung zu bringen vermag: „Wohl aber kann sie [sc. die Subjektivität] aus der Rechtfertigung gewissermaßen ein Prinzip hervortreiben, das im Stande ist, theologisches Prinzip zu werden.“ (EW X, 199 Ts) Dies gilt es im Folgenden näher zu betrachten – betont sei jedoch nochmals, dass es der Zweifel und die mit ihm zu sich selbst gekommene Subjektivität sind, die eine Modifikation des bestehenden und – so muss ausdrücklich gesagt werden – weiterhin in Bestand bleibenden Prinzips von 1913 bedingen. Es scheint also durchaus angemessen, nicht von einem echten Neuansatz bei Tillich auszugehen, sondern vielmehr den punktuell ausgelösten, sich jedoch notwendig weitergreifend vollziehenden Eingriff in die Prinzipkonstruktion als Präzisierung zu bezeichnen. Die Problemexposition, wie nun Zweifel und Rechtfertigung prinzipiell ins Verhältnis zu setzen sind, zeichnet Tillich bewusst als „religiöse[n] Proceß“ (Hervorhebung S.D.), der „nicht auf dem Wege der Reflexion“ (EW X, 199 Ts/Ms)26 gangbar ist. Diesen Schritt begründet Tillich damit, dass es sich um ein „religiöses Princip“ (EW X, 199 Ts/Ms) handeln solle, das herausgearbeitet wird, was sich aber schon aus der weiterhin in Geltung stehenden metalogischen Methode ergibt, die eine rein rationelle Verortung der Problematik aufgrund der doppelten Momenthaftigkeit von Logismus und Alogismus schlechterdings ausschließt.27 In drei Fragen fasst Tillich die zu eruierende Problematik zusammen: „Welche Bedeutung gewinnt der ————— Ganzen könnte ich eigentlich den Ottoschen Religionsbegriff nur insofern kritisieren, als ich eine logische Unschärfe seiner psychologisch völlig richtigen Erfassung des Religiösen zu tadeln hätte.“ (Ebd.) Zur Hochschätzung Ottos durch Tillich vergleiche auch Tillichs Rezension aus dem Jahr 1923 zur zehnten Auflage von Ottos Werk ‚Das Heilige‘ in GW XII, 184–186. 25 Die Begründung für das Verwerfen der Subjektivität als Prinzip bleibt Tillich an dieser Stelle zwar schuldig; sie lässt sich aber, wie bereits aufgezeigt, aufgrund des Vermitteltseins der Unmittelbarkeit des Selbst erklären, die in einem rein subjektiv konzipierten Prinzip nicht unterzubringen wäre. 26 Da an dieser Stelle eine Seite des Typoskripts fehlt, wird die entsprechende Passage aus dem Manuskript zitiert und dafür beide Belegstellen genannt; vgl. EW X, 199 Anm. 106. 27 Die tiefe Begründung liefert der oben und auch für die ‚Systematische Theologie von 1913‘ konstatierte Bruch zwischen Relativität und Absolutheit, der jedwede direkte Bezugnahme vom Relativen zum Absoluten von vornhrein ausschließt.

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Rechtfertigungsgedanke für den Fall des Zweifels an den Voraussetzungen dieses Gedankens? Oder: Welche Formulierung gewinnt der Glauben durch den Zweifel an den ihm immanenten gegenständlichen Voraussetzungen? […] Welche Formung nimmt die absolute Paradoxie an, wenn diejenigen Voraussetzungen, die seine Formung innerhalb des Rechtfertigungsgedankens bedingen, in ungelöstem Zweifel stehen?“ (EW X, 199 Ts/Ms) Es geht mithin um die Modifikation – nun erst lässt sich von ihr sprechen! – des Rechtfertigungsbegriffs, des Glaubens und im letzten Schritt des Prinzips selbst, nämlich des absoluten Paradoxes, die durch das Auftreten des Zweifels und seine zerstörerische Wirkung für die Voraussetzung von Prinzip, Glaube und Rechtfertigung notwendig wird. Dass es der Zweifel ist, der für diese neue prinzipielle Sicht verantwortlich zeichnet, betont Tillich sogar selbst, wenn er anmerkt, der Zweifel sei „die Tatsache […], die religiös zu verarbeiten ist.“28 (EW X, 199 Ts/Ms) Der Zweifel ist als „uneliminierbares Ferment des Geisteslebens“ (EW X, 200 Ts/Ms) aus dem Prinzip selbst nicht ausscheidbar, so dass die einzige Möglichkeit, mit dem Zweifel zu verfahren, seine Aufnahme in das Prinzip selbst darstellt.29 Daraus ergibt sich eine doppelte Problematik, da einerseits nun die Subjektivität als durch den prinzipiellen Zweifel in ihrer höchsten Potenz realisierte30 in das Prinzip, dem sie sich eben widersetzt, aufgenommen werden muss und andererseits just vom subjektiven Standpunkt aus ein Erreichen des Prinzips aufgrund des Bruchs zwischen Relativität und Absolutheit schlechterdings ausgeschlossen ist. Für das im Zweifel konstituierte Subjekt kann es mithin keine Wahrheitsgewissheit geben, weil unvermeidlich jedwedes potentielle Objekt als dem Subjekt externes Phänomen dem Zweifel unterliegt und somit jede „Wahrheitsgewißheit, die auf reale Überwindung des Zweifels gegründet ist,“ automatisch „ins Unendliche“ zu „Ungewißheit“ depraviert ————— 28

Zwar ist der Zweifel selbstverständlich „der religiös-konkrete Ausdruck für die Subjektivität, die in das religiöse Princip aufzunehmen ist“ (EW X, 199 Ts/Ms), jedoch ist und bleibt der Zweifel der entscheidende Motor der Neubestimmung – die Subjektivität ist nur sekundäres, mit dem Zweifel untrennbar verbundenes Phänomen. 29 „Es kommt aber darauf [an], den Zweifel] aufzunehmen in das religiöse Prinzip, nicht den ins Unendliche mißlingenden Versuch zu machen, ihn zu überwinden.“ (EW X, 200 Ts/Ms; Konjektur in der Edition, die geschlossene eckige Klammer nach ‚Zweifel‘ markiert, dass nun wieder der Text des Typoskripts angegeben wird.) 30 Vgl. dazu EW X, 199f Ts/Ms: „Im Zweifel ist die Subjektivität rein aktualisiert, sie hat das Objekt verloren und noch kein neues gefunden; sie ist ganz in sich selbst.“ Die Subjekt-ObjektStruktur, die mit der Subjektivität selbst gegeben ist, bricht also mit dem prinzipiellen Zweifel insofern auf, als jegliche Objektivationen vom Subjekt als dem Zweifel unterliegende und somit in ihrem Wahrheitsgehalt als ungewiss eingestuft werden müssen. Echte Objekte gibt es für das Subjekt mithin nur in Form der Negation, der Ausschließung aus dem Ichhaften. Das Subjekt ist im prinzipiellen Zweifel vollständig auf sich selbst zurückgeworfen und vermag somit nur vom oben dargestellten Identitätsprinzip aus zu agieren.

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(EW X, 200 Ts). Der konstatierte Bruch zwischen Relativität und Absolutheit reproduziert sich also im unvermeidlichen Ungewisswerden jedweden Wahrheitsanspruches, der sich der Gleichung ‚ich = ich‘ entzieht. Das, was 1913 noch aus dem System ausgeschieden war, der Zweifel an der Wahrheit selbst, die das Prinzip konstituierte, kommt jetzt durch die vom Zweifel ermöglichte vollständige Subjektivität mit voller Wucht zum Tragen, so dass jede Form der Apologetik der Wahrheit gegenüber dem Glauben aufgegeben werden und das System unter dem Signum von Zweifel und Subjektivität neu angesetzt werden muss. Der prinzipielle Zweifel macht nicht Halt vor der erkenntnistheoretischen Selbstverortung von Subjektivität, wodurch alle stillschweigenden, thetischen Voraussetzungen der Subjektivität als solche nicht mehr unbezweifelt bleiben können: „Der Zweifel an den gegenständlichen Voraussetzungen zwingt also dazu, den Rechtfertigungsgedanken auch auf das intellektuelle Gebiet zu übertragen.“ (EW X, 200 Ts) Dass es sich beim prinzipiellen Zweifel als einem Strukturelement menschlichen Seins überhaupt nicht um Schuld in der ethischen Dimension des Begriffs handelt, wurde bereits erörtert und braucht hier nicht nochmals zur Darstellung zu kommen.31 Ein Blick auf die Bedeutung und Präzisierung dieser Feststellung erscheint jedoch durchaus lohnend, weil von dieser Warte aus auch die gravierendsten Missverständnisse des Rechtfertigungsbegriffs anheben, die allesamt zur apologetischen Position führen, die eben die Rechtfertigung vor dem Zweifel zu schützen sucht.32 In Analogie zu seiner Christologiekonzeption in der Thesenreihe von 1911 lässt sich auch bezüglich Tillichs Verhältnisbestimmung von Heils- und Wahrheitsbewusstsein erkennen, dass sein Ziel darin besteht, ein wechselseitiges Ausspielen beider Sphären gegeneinander zu vermeiden. Werden nämlich beide Bewusstseinszustände auf gleicher Ebene angesetzt, so entsteht – wie auch schon im Falle der Christologie – eine folgenschwere Verdopplung: War christologisch noch das Problem des doppelten Glaubens an den historischen Jesus und den Christus Stein des Anstoßes, so führt die Gleichschaltung von erkenntnistheoretischer und sittlicher Dimension nach Tillich zu einer „Verdoppelung Gottes“, nämlich dem „Gott, an dem gezweifelt wird,“ und dem „Gott, der verwirft“ (EW X, 203 Ts). Kommt einerseits das Wahrheitsbewusstsein nicht umhin an dem Satz ‚Gott ist‘, mithin an der Setzung Gottes, prinzipiell zu zweifeln, muss just diese Form des Zweifels in ethischer Hinsicht als Schuld empfunden werden. Die erkenntnistheoretische ————— 31

Vgl. Kap. 2.2.1. Dabei ist es gleichzeitig möglich, die etwas ungenaue Themenexposition bei Tillich besser zu systematisieren.

32

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und die sittliche Wahrnehmung Gottes werden gegeneinander ausgespielt. Tillich setzt nun allerdings im Gegenteil – wie gesehen – den Zweifel gerade nicht als Schuld an und erkennt den kategorialen Fehler an der Schuldbelastung des Zweifels in der scheinbaren Gleichwertigkeit von Erkenntnistheorie und Ethik. Handelt es sich bei beiden prima facie um zwei unabhängige Bereiche, so ist dieser Schein in zwei Richtungen hin aufzulösen. Einmal würde eine derartige Veranschlagung davon ausgehen, dass das „Gottesbewußtsein in demselben Sinne zur menschlichen Wesenheit gehört wie etwa das sittliche Bewußtsein“, was insofern auszuschließen ist, als dann der Zweifel zu einem „Mittel […], Gott fernzubleiben“ (EW X, 201 Ts), depravieren würde. Dies müsste indirekt zu der semipelagianischen Tendenz führen, dass mit dem Zweifel dem Menschen die Möglichkeit gegeben sei, sich für den Glauben oder für den Zweifel, mithin sich für oder gegen Gott entscheiden zu können. Zum anderen besteht nach Tillich eine klar hierarchisch orientierte Dependenz zwischen den beiden Bereichen, weil sich das Bewusstsein erkenntnistheoretisch auf die „Existenz Gottes“, sittlich auf die „Gesinnung Gottes“ (EW X, 201 Ts) bezieht. Von einer Gesinnung Gottes kann nun allerdings logischerweise nur gesprochen werden, insofern Gott auch existiert, so dass ausgesagt werden muss: „Heilsgewißheit im Sinne der Rechtfertigung setzt Wahrheitsgewißheit im Sinne der Existenz Gottes voraus.“ (EW X, 201 Ts) Beidesmal liegt ein und derselbe Grundgedankengang zugrunde, der bereits erörtert wurde: Der Zweifel ist nicht sekundäres Produkt einer bereits bestehenden Subjektivität, sondern tritt im Prozess der Selbstkonstitution des Selbst unvermeidlich auf, so dass das Selbst bereits in statu nascendi notwendig mit dem Zweifel verbunden ist, das sittliche Bewusstsein allerdings erst von der sich als solche konstituiert habenden Subjektivität ausgesagt werden kann. Erkenntnistheorie und Ethik operieren mithin nicht auf derselben Konstitutionsebene, sondern sittliches Bewusstsein hängt wesenhaft von erkenntnistheoretischem Vollzug ab. Beiden Bewusstseinszuständen kann also nicht derselbe Status zugesprochen werden, so dass sich Erkenntnistheorie und mit ihr der Zweifel „zu einer selbständigen Sphäre erhebt“ (EW X, 200 Ts).33 Mit anderen Worten: Sittlichkeit ist nicht ohne vorhergehende Erkenntnis. „Sobald die Sphäre des Wahrheitsbewußtseins selbständig geworden ist, wird sie zur übergeordneten, die die Sphäre des Heilsbewußtseins bejahen oder verneinen kann.“ (EW X, 200 Ts) Die Konsequenz daraus ist, „daß der Zweifel nicht dem Schuldbewußtsein untergeordnet, also zu Schuld“ (EW X, 200 Ts) werden kann. Damit ist genau die Grundfrage skizziert, die Tillich lösen ————— 33

Zweifel und mit ihm Subjektivität muss mithin „eigengesetzlich“ (EW X, 203 Ts) behandelt werden.

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möchte: Rechtfertigung hat nicht nur im Gebiet des Heils zu greifen und den Sünder als gerecht und ungerecht zugleich als in diesem Zustand durch die göttliche Heilstat gerechtfertigt und gerettet zu konstatieren; vielmehr muss darüber hinaus einen Schritt früher angesetzt werden, nämlich bereits bei der Selbstkonstitution des Selbst, bei welcher durch die doppelte Vorfindlichkeit der Subjektivität als einerseits rein selbstidentisch (Identitätsprinzip) und als andererseits allezeit schon vermittelt (metalogische Methode) das Problem des Zweifels auftritt, welcher als das, was das Subjekt ist, nämlich vollkommene Selbstheit, bezüglich der Instanz, welche die Vermittlung bewirkt, in Anwendung kommt und der gleichzeitig als Zweifel einer vermittelten Subjektivität das voraussetzt, was er bezweifelt.34 Der Rechtfertigungsbegriff wird mithin schlicht auf die höher gelegene Ebene der Erkenntnis verschoben.35 Bevor der für die erkenntnistheoretische Sphäre zu modifizierende Rechtfertigungsbegriff näher betrachtet wird, sei der Blick nochmals auf die Missverständnisse gelenkt, die sich auftun, sofern die strikte kategoriale Trennung zwischen Gottes- und Heilsbewusstsein auf zwei Ebenen unterschiedlichen Grades – bei aller Parallelität, die dem Vollzug auf der jeweiligen Ebene innewohnt!36 – nicht vorgenommen wird. Die Vermischung der beiden Ebenen führt, wie gezeigt, zur Erkenntnis des Zweifels als Schuld, wobei sich das Wahrheitsbewusstsein jedoch – durch die schiere Faktizität des Zweifels – nicht beruhigen kann, so dass stets das Problem auftritt, dass erkenntnistheoretisches und sittliches Bewusstsein, in Tillichs Nomenklatur: Wahrheit und Gewissen, in unlösbarem Widerstreit stehen. „Man ist nicht stark genug zum Zweifel an Gott mit gutem Gewissen; man ist zu tief in den Zweifel gekommen, um ihn mit gutem Gewissen aufzugeben.“ (EW X, 202 Ts) Auf diesem Boden aufgebaut ist Religion aber schon im Ansatz ————— 34

Dies macht Tillich auch in der 1924er Schrift ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ deutlich, der zufolge „die Wahrheit, die der Zweifler sucht, […] nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung alles Zweifels bis zur Verzweiflung ist.“ (GW VIII, 91) Vgl. auch Danz, Glaube, 171: „Auch Tillichs geschichtsphilosophische These, dass der Weg von der Rechtfertigung zu dem Zweifel an ihren Voraussetzungen ein notwendiger sei, resultiert aus seinem Begriff des Geistes“ – also aus seinem Verfasstsein als vermittelte Unmittelbarkeit. 35 Dass genau dieselbe Konstellation bei Tillichs Übergang zur Ontologie zum Tragen kommt, wird später (vgl. Kap. 3.3.2 und den Epilog) zu erörtern sein; aufgrund der parallelen Strukturen sei jedoch bereits vorausgreifend auf dieses Phänomen hingewiesen. 36 Denn, so schreibt Tillich, die „Wahrheitsgewißheit kann wie die Heilsgewißheit nie auf realem Wege, sondern nur auf dem Wege des Paradox überwunden werden.“ (EW X, 201 Ts) Wie Tillich sich diese paradoxe Lösung betreffs der Heilsgewissheit denkt, hat die Analyse der frühesten Schriften, insbesondere der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ sowie der Thesenreihe zum historischen Jesus von 1911, gezeigt. Zu klären bleibt somit weiterhin, wie diese Heilsparadoxie zu betrachten ist, wenn die Wahrhaftigkeit ihrer Voraussetzungen in Zweifel gerät. Um die Beantwortung dieser Frage geht es Tillich seit dem Ende des ersten Weltkrieges.

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falsch angesetzt, weil sie das „asketische Werk des unterdrückten Wahrheitsbewußtseins“ (EW X, 202 Ts) fordern würde, was einerseits einem sacrificium intellectus und andererseits der erneuten Herabsetzung des Glaubens zum bloßen Mittel gleichkäme. Die Annahme des Zweifels als Schuld kann demnach nicht das normale religiöse Verhältnis vorstellig machen und ist allenfalls als „Übergangszustand“ (EW X, 204 Ts) zur Religion im wahrhaftigen Sinne zu verstehen. Einzig mögliches Ziel kann es somit sein, den Zweifel als faktisches und als solches als unvermeidliches, ja notwendiges Element subjektiven Selbstvollzugs zu betrachten, das frei von jeglicher Schuldzuweisung zusammen mit dem Glauben, der nun seinerseits nicht als Werk abgewertet ist und kein ‚intellektuelles Opfer‘ fordert, berechtigt in Geltung steht.37 Der falsche Gegensatz zwischen nichtgegenständlicher Wahrheit und prinzipiellem Zweifel muss überwunden werden durch das Paradox, dass Wahrheit von Seiten echter Subjektivität aufgrund derer spezifischen Form der Selbsterfassung einzig und allein im Modus des Zweifels rezipierbar ist, Rationalität wie Glaube also nicht eine bezweifelte gegenständliche – und somit nicht tatsächliche – Form der Wahrheit, sondern Wahrheit nur in Form des Zweifels rezipieren können. Wahrheit ist nicht als externe, wie auch immer zu veranschlagende Entität – und sei deren ‚Sein‘ auch nur als Thesis vorgestellt –, sondern nur in ihrem subjektiven Vollzug im Zweifel des Selbst. Das Dilemma zwischen erkenntnistheoretischem Zweifel im Glauben und sittlicher Schuldbeladung des Glaubens, sofern das Wahrheitsbewusstsein nicht hintan gestellt wird, lässt sich daher nach Tillich nur durch das Paradox lösen, „daß Gott vor jeder Bestimmtheit und Gegenständlichkeit, bis hin zum logischen Existentialurteil die Wahrheit ist, zu der wir uns wahrhaftig und insofern ‚gerecht‘ nur verhalten können durch den unendlichen Zweifel hindurch.“ (EW X, 203f Ts; Hervorhebungen S.D.) Zu rechtfertigen ist – wie schon die Überschrift dieses Kapitels andeutet – nicht zuerst der Zweifler als solcher, sondern der zweifelnde Zustand, in dem er sich befindet. Berechtigt und auch gerechtfertigt ist der Zweifel aber durch sein ständiges Allezeit-Vorausgesetztsein, welches sich wiederum aus dem Verhältnis des Selbst zu seinen eigenen Konstitutionsbedingungen ableitet. Ist der Zweifel mithin untrennbar mit der Selbstheit echter Subjektivität verbunden, so kann er dem Subjekt nicht als Schuld zur Last gelegt werden, sondern lässt sich nur als Konstitutionselement von Selbstheit selbst erklären. Wahrheitsrezeption und Zweifel an der Wahrheit finden ihren eigentlichen Konvergenzpunkt somit ————— 37

„Die Religion […] muß dem radikalen Zweifler das gute Gewissen lassen und ihm doch die Möglichkeit des Glaubens geben.“ (EW X, 204 Ts)

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ausschließlich im Selbst, welches in seinem Vermitteltsein beide Momente paradox zusammenführen muss.38 Zu fragen bleibt, welche Konsequenzen die dargestellte Prinzipanlage für die entsprechenden Begriffe im System von 1913 zeitigt. Wahrheit kann und muss sogar – so lässt sich unschwer erkennen – nach wie vor leitendes Moment prinzipiellen Denkens sein. Insofern bleibt sich das Tillich’sche Denken unverändert treu. Der Wahrheitsbegriff hinwiederum erfährt eine Modifikation dergestalt, dass von Wahrheit nur noch zu sprechen ist unter Absehung jeglicher Absolutheit im Sinne von Vergegenständlichung. War Wahrheit in der Systematik von 1913 noch latent39 mit unhintergehbarer Faktizität absolutheitstheoretischer Provenienz versehen, so büßt sie jetzt dieses Signum ein, um tatsächlich wahr nur im Selbstvollzug des Subjekts zu sein40 – jedoch, so sei bereits hier angemerkt, stellt sich wiederum die Frage, welche Bedeutung dann ihrer notwendigen, wenn auch sekundären verobjektivierten Form zuzusprechen ist. Rechtfertigung ist immer noch Rechtfertigung des Konkreten, Nicht-Absoluten, jedoch dezidiert bezogen auf die erkenntnistheoretische Ebene, so dass nicht mehr die Vorgängigkeit von Absolutheit die Rechtfertigung garantieren muss, die dem Zweifel anheim fällt, sondern Rechtfertigung genetisch dem Selbstkonstitutionsprozess vermittelter Subjektivität entspringt, wobei Rechtfertigung deswegen nicht als Produkt dieses Prozesses veranschlagt werden darf; wohl muss sie aber als das Verhältnis von vermittelter Subjektivität und Vermittlung – die gerade nicht-objektiv anzusetzen ist – in seiner Spannung allererst bewerkstelligend bestimmt werden. Mit anderen Worten: Rechtfertigung hat sich in ihrer neuen Fassung von einer absoluten Instanz genauso emanzipiert wie von der Subjektivität. Damit verbunden ist die drastischste Begriffmodifikation, nämlich die von Absolutem und Gott. Beide Begriffe können als solche nicht mehr Anwendung finden und fallen – zunächst! – vollständig aus ————— 38

Inwieweit und inwiefern die sekundären Objektivationen, die sich aus dieser Konstellation und diesem spezifischen Wahrheitsbegriff ergeben, nun ihrerseits wieder konstitutiven Anspruch im Rahmen der Prinzipkonstruktion beanspruchen können, gilt es an anderer Stelle noch zu eruieren (vgl. Kap. 2.3.2 und 2.4.2). Allein der Begriff des ‚absoluten Paradoxes‘, den Tillich für sein Prinzip im Jahre 1919 wählt, zeigt jedoch bereits, dass diese Absolutheit von Seiten des konkreten Subjekts niemals die letzt- oder einziggültige Instanz bilden kann. 39 Tillichs Aussagen weisen auch 1913 bereits in die Richtung von 1919, wenn auch Wahrheit nie ist, ohne dass sie gedacht wird (vgl. A §2; 279: „Darum ist es unrichtig zu sagen: Die Wahrheit ist irgendwo als eine objektive Realität, als ein Seiendes oder das Sein selbst, und dann zu fragen: wie man zu ihrer Erkenntnis kommen könnte. Die Wahrheit ist nicht abgesehen von der Erkenntnis der Wahrheit.“). De facto fungiert Wahrheit in ihrer Übersetzung ins Absolute und letztlich in den Gottesbegriff jedoch als tragende, notwendig objektive Säule des gesamten Systems, weil sie als solche nicht in Zweifel gezogen werden kann. 40 Vgl. hierzu Christian Danz, Religion der konkreten Existenz. Heideggers Religionsphilosophie im Kontext von Ernst Troeltsch und Paul Tillich, in: KuD 55, 2009, 325–341, hier: 330–334.

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dem Zusammenhang der Rechtfertigung. Insofern spricht Tillich ja auch vom ‚Glauben ohne Gott‘ – wie beide Instanzen im zweiten Schritt wieder Eingang ins System finden, wird später noch zu betrachten sein. Die Definition des Glaubens bereitet in der bisherigen Darstellung von Tillichs Entwurf noch die größten Probleme: Einerseits ist er die direkte Richtung auf Gott, der allerdings als gegenständlicher schlechterdings aus dem System ausgeschieden ist; andererseits ist Glaube nichts anderes als die Bejahung des Paradoxes als das, was es nach wie vor ist, nämlich das bejahende und verneinende Urteil über das Subjekt unter Absehung seiner Qualität im ethischen Sinne. Glaube bleibt also wie auch 1913 auf die Annahme des Paradoxes der Rechtfertigung fixiert – mit dem einzigen Unterschied, dass letztere nicht mehr durch einen Gottesbegriff fundiert ist. Die Formel ‚Glaube ohne Gott‘ ist mithin wörtlich zu nehmen, weil Glaube inhaltlich nichts anderes meint als bereits in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, sich im Vollzug jedoch nicht mehr auf eine unter dem Zweifel stehende objektivierte Fassung Gottes zu beziehen vermag.41 Alle Formen der Apologetik richten sich nach Tillich nun auf eine bestimmte, unter dem Zweifel stehende Fassung eines gegenständlichen Gottesbegriffs oder sie vermögen die religiöse Funktion von ihrem Standpunkt aus überhaupt nicht zu begründen. Die Kritik an jeglicher Apologie, die als solche immer auf eine – nach der Darstellung von Tillichs Konzept schlicht unmögliche – Überwindung des Zweifels abzielt, expliziert Tillich als eine „allgemeine Gewißheitslehre“ (EW X, 204 Ts), die Gewissheit über den Glaubensgegenstand auf vier Arten zu erreichen sucht: Die erste Möglichkeit (1) besteht in der Annahme der Evidenz des religiösen Inhalts im Subjekt; als zweiter Weg (2) erweist sich die „praktische Gewißheit“ (EW X, 205 Ts), die vermittels unmittelbarer Anschauung und Erfahrung das religiöse Objekt für das Subjekt einzuholen versucht. Das Vorgehen (3), über den Begriff der Überzeugung zu Glaubensgewissheit zu gelangen, schlägt den ————— 41

Insofern beginnt in Tillichs zweitem Stadium verstärkt der von Jean-Claude Petit so bezeichnete „Kampf, den Tillich sein Leben lang gegen jegliche Art von Objektivierung des Unbedingten geführt hat“ (Jean-Claude Petit, Einige Bemerkungen über die Bedeutung des Nichts in Tillichs Religionsverständnis und für die religiöse Erfahrung der Moderne, in: Gert Hummel [Hg.] God and Being/Gott und Sein. The Problem of Ontology in the Philosophical Theology of Paul Tillich/ Das Problem der Ontologie in der philosophischen Theologie Paul Tillichs. Contributions made to the II. International Paul Tillich Symposium held in Frankfurt 1988/Beiträge des II. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt 1988 [TBT 47], Berlin/New York 1989, 223–229, hier: 225). Für den späten Tillich kann Petit dann in diesem Rahmen zugespitzt aussagen: „Wenn Tillich von dem spricht, ‚was uns unbedingt angeht‘, so spricht er nicht von einer bstimmten einzelnen Gegebenheit neben anderen Gegebenheiten, sondern von dem, was allein uns im Grunde an die äußerste Grenze unserer selbst führen kann, weil es die äußerste Grenze von allem ist: das Nichts, die ‚heilige Leere‘, und die Erfahrung ihres Umschlags, das, was in Wirklichkeit und wortwörtlich unbedingt angeht.“ (Ebd., 229)

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subjektivitätstheoretischen Weg über die Konstitutionsbedingungen von Ichheit ein. Die vierte und letzte Methode (4), die Tillich zum Gewinn von Gewissheit für das glaubende Subjekt anführt, ist das „konkrete Paradox“ (EW X, 212 Ts), welches von Tillich paradigmatisch an der Konzeption von Karl Heim vorgestellt und kritisiert wird. Besonders die Methoden von Evidenz und konkretem Paradox ähneln in Kombination der Systematik von 1913, ohne sie jedoch totaliter zu erfassen. Im Folgenden werden die einzelnen Wege der Apologetik samt ihrer Widerlegung durch Tillichs Prinzip, das aufgrund seiner paradoxen Struktur, die den prinzipiellen Zweifel zu integrieren sucht, apologetisches Vorgehen per se ablehnen muss, in ihren wichtigsten Punkten skizziert. (1) Evidenz als „Grundform der Gewißheit“ hat zwei Formen, in denen sie sich zu entfalten vermag: „Evident ist die reine Form und der reine Inhalt.“ (EW X, 204f Ts) Die erste Fassung ermöglicht es, „die unmittelbare Gewißheit der Religion als einer Kategorie der Wirklichkeitserfassung“, die zweite, „die Möglichkeit, religiös gefärbte Data unmittelbar evident zu erfassen“, zu begründen (EW X, 205 Ts). Religiöse Gewissheit in Form religiöser Gegenständlichkeit einer Begründung zuzuführen sind beide Wege jedoch außerstande, indem sie nur rein apriorische formale wie materiale Kategorien zu evidentem Bewusstsein zu bringen in der Lage sind. Der formale Weg, die Existenz Gottes ontologisch einer Gewissheit zuführen zu wollen, scheitert notwendig an der „Kritik des Nominalismus“ (EW X, 205 Ts), weil ein formaler Evidenzschluss auf Gott nur unter der Prämisse realistischer Kategorien möglich ist. Fallen diese Kategorien dahin – und dies müssen sie unter dem prinzipiellen Zweifel –, so verkommt der über den Weg des Absoluten gewonnene, spekulative Gottesbegriff wiederum zum intellektuellen Werk.42 Wird der Evidenzbeweis materialiter vollzogen, so kommt es zu einem Rückschluss „von der Wirkung auf die Ursache“ (EW X, 205 Ts), was der Unmittelbarkeit echter Evidenz selbst zuwider läuft. Evidenz kann mithin ausschließlich Religion an sich als Funktion der Wirklichkeitserfassung zu Bewusstsein bringen, muss jedoch von jedweden Objektivierungen, die über die mit der Evidenz gegebene Unmittelbarkeit hinaus gehen, absehen, weil diese notwendig dem Zweifel anheim fallen, so dass die Methode der Evidenz niemals zu religiöser Gewißheit im gegenständlichen Sinne führt – versuchte sie dies, so machte sie sich einer metabasis eis allo genos schuldig. (2) Die zweite Form der Apologetik über den Weg praktischer Gewissheit grenzt Tillich zunächst von Gewissheit im pragmatischen Verständnis ab. Praktische Gewissheit operiert „aus der unmittelbaren Anschauung heraus“ (EW X, 205 Ts), die direkt auf die betrachteten Gegenstände angewandt werden, so dass Zweifel ob der Unmittelbarkeit der erlebten Anschauung gar nicht erst anheben kann. Im Gegensatz dazu führt allein der Begriff ‚pragmatische Gewissheit‘ seinen eigenen Inhalt immer

————— 42

„Darum sind die zahlreichen Versuche der spekulativen und älteren Vermittlungstheologie, auf dem Wege über das Absolute den Gottesbegriff zu erfassen, zwar durchaus berechtigt. Aber sie schaffen keine Evidenz, sie sind für den Zweifler, den sie heilen sollen, ‚Werk‘.“ (EW X, 205 Ts)

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schon ad absurdum, weil Gewissheit schlechterdings nur im direkten Konnex mit der Wahrheit dessen, was gewiss ist, auftreten kann – andernfalls würden, sobald gewiss wäre, „daß unsere Gewißheit[en] nur Lebenszweckmäßigkeiten sind“, die Gewissheiten notwendig „aufhören, gewiß zu sein.“ (EW X, 206 Ts; Konjektur in der Edition) Wahrer Pragmatismus kann mithin nicht anders enden als in der Selbstaufhebung. Die praktische Gewissheit im oben skizzierten Sinne ist immer nur vorhanden als „Realitätsgefühl“, das sich nie anders explizieren kann als in direkter Unmittelbarkeit, damit aber „a priori unterhalb des Gegensatzes von Ich und Gegenstand liegt“ (EW X, 206 Ts) und fortwährend dem Zweifel verfällt.43 Evidenz kann von der praktischen Gewissheit daher nicht beansprucht werden aufgrund der „prinzipielle[n] Distanz […], die das erkenntnistheoretische Ich von jeder Realität scheidet.“ (EW X, 206 Ts) Die Form der Evidenz ist von der praktischen Gewissheit mithin nur als absolute Unmittelbarkeit des Realitätsgefühls im „Lebensstrom“ (EW X, 206 Ts) selbst einholbar, der auch, „wenn unser Realitätsgefühl überhaupt keinen Gegenstand mehr findet“ (EW X, 207 Ts), unmittelbar evidente Tatsache praktischer Gewissheit bleibt.44 Soll nun die religiöse Gewissheit über den Weg der praktischen Gewissheit garantiert werden, so muss diese apologetische Methodik zwei Voraussetzungen zugestehen: „Sie muß den religiösen Gegenstand in den Prozeß der praktischen Realitätserfassung hineinstellen und seinen Bedingungen unterstellen, und sie muß zweitens eine psychische Beziehung zwischen dem psychischen Subjekt und dem religiösen Gegenstand behaupten.“ (EW X, 207 Ts) Die Zustimmung zu diesen mit dem Verfahren der praktischen Gewissheit notwendig gegebenen Prämissen führt zur Problematik, dass es in Folge der Koppelung von praktischer Gewissheit, Selbstgewissheit und psycho-physischem Ich niemals zu wirklicher Evidenz kommen kann, weil alle Gewissheiten, die die so strukturierte praktische Gewissheit hervorzubringen vermag, als reine Bewusstseinsphänomene zu klassifizieren sind. Dies bedeutet, dass nicht das Da- und So-Sein des Ich an sich, sondern nur das Bewusstsein darum evident ist.45 Kantisch gesprochen ist es die transzendentale Apperzeption, der Evidenz bescheinigt wird, nicht die psychologische oder empirische. Ist aber über die praktische Gewissheit in Anschauung oder Erlebnis keine Evidenz zu erreichen, so muss

————— 43 „Unser Realitätsgefühl nimmt a priori Inneres und Äußeres, fremdes und eigenes Innenleben mit der gleichen Unmittelbarkeit auf, ist aber auch imstande, an allem, auch dem eigenen psychologischen Ich, zu zweifeln und es mit allen Dingen in das Jenseits des Traumhaften, Unwirklichen, Verschleierten zu heben.“ (EW X, 206 Ts) 44 Der lebensphilosophische Terminus des ‚Lebensstroms‘ macht sehr gut die Differenz Tillichs zu Georg Simmel deutlich: Letztgenannter ließe sich nach Tillichs Dafürhalten eben der Position praktischer Gewissheit zuordnen, die im reinen Reflex auf das Stehen im Lebensstrom ihre unmittelbare Gewissheit findet. Insofern unterscheidet sich der religiöse Mensch Simmels von dem Tillichs, weil er seine Religiosität aus seiner Integration in den Lebensstrom bezieht, ohne die Ungewissheit, die mit dem Erlebnischarakter einhergeht (zu diesem Punkt vgl. die detaillierteren Ausführungen weiter unten), einer Kritik zu unterziehen. Nichtsdestoweniger bleibt die davon ausgehende Konzeption des Religiösen als reines Phänomen in actu, das der Objektivation nicht unmittelbar bedarf, gemeinsames Anliegen von Tillich und Simmel. 45 „Denn daß ich, d.h. mein psycho-physisches Ich, ist oder so ist, ist keineswegs evident. Evident ist nur, daß es sich bewußt ist, zu sein oder so zu sein.“ (EW X, 208 Ts)

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dies als ungenügend für das religiöse Bewusstsein beurteilt werden, weil sich der durch den prinzipiellen Zweifel verursachte Zustand genau durch ein vollkommenes Zweifelhaftwerden jeglicher Realität auszeichnet, dieser dann aber nicht durch ein Gottesbewusstsein verlassen werden kann, das selbst den Bedingungen der bezweifelten Realität unterliegt.46 Damit ist für Tillich auch das Vorgehen der Erfahrungstheologie, sofern sie im Rahmen praktischer Gewissheit agiert, als apologetische Möglichkeit auszuscheiden; ja, Tillich geht noch einen Schritt weiter und versucht, das Zurückbleiben der Erfahrungstheologie selbst hinter der praktischen Gewissheit zu begründen. Die religiöse Erfahrung vermag nicht einmal zu praktischer Gewissheit zu führen, weil der „Zweifel an der Realität des religiösen Gegenstandes“ (EW X, 208 Ts) zwar die Realitäts-, aber gerade nicht die Selbstgewissheit zerstört, sondern diese vielmehr zu ihrem vollen Bewusstsein führt; denn „in der Qual des Zweifels wird sich das psycho-physische Ich so fühlbar wie nur irgend möglich. Die Erschütterung, die der religiöse Zweifel bringt, ist nicht eine Erschütterung des Realitätsbewußtseins, sondern des Sinnerlebens der Wirklichkeit.“ (EW X, 208 Ts) Es liegt hier die schon oben veranschlagte Abfolge im Verhältnis von Zweifel und Subjektivität vor, indem durch das Aufbrechen des Zweifels auch in prinzipieller Hinsicht zwar jegliche Objektivationen als bezweifelte und daher ungewisse dahinfallen, das Subjekt selbst jedoch allererst zu seiner ‚vollkommenen‘ Entfaltung geführt wird, indem es sich selbst unstatthafter Weise und gegen sein Wesen zum einzigen Prinzip aufschwingt. Die durch den Zweifel bedingte Abwertung externer Bestimmungsmomente führt im Umkehrschluss zur Aufwertung der Subjektivität, die gerade in den „religiösen Erschütterungen“ (EW X, 208 Ts) nicht untergeht, sondern vollkommen auf sich selbst zurückgeworfen zutage tritt. In letzter Konsequenz führen praktische Gewissheit und Erfahrungstheologie somit immer zu einer „argumentatio ad hominem“, indem sie fälschlicherweise „den Blick des Zweiflers auf die Tatsache statt auf den Inhalt der Erfahrung“ lenken, was – in Analogie zum intellektuellen Werk der Evidenz – nun zu dem „emotionale[n] Werk“ führt, die religiöse Erfahrung herbeizwingen zu müssen (EW X, 209 Ts). Als Fazit für den Versuch der praktischen Gewissheit, religiöse Gewissheit zu begründen, lässt sich ziehen, dass „die Absolutheit des religiösen Objektes“ (EW X, 209 Ts) schlechterdings außerhalb ihrer Möglichkeiten liegt, weil es durch die Prämissen, die es im Rahmen praktischer Gewissheit anzuerkennen gilt, stets gewissermaßen zu einer ‚Verweltlichung‘ Gottes kommt, die wiederum notwendig dem prin-

————— 46

„Das aber [sc. das Zurückbleiben der praktischen Gewissheit hinter der Evidenz] ist für das religiöse Bewußtsein zu wenig, die Gottesgewißheit muß auch in Zuständen der Ungewißheit um irgendeine Realität, einschließlich der eigenen psycho-physischen, fest bleiben.“ (EW X, 208 Ts) Hier zeigt sich wiederum, dass Tillich zwar die Subjektivität und den sie konstituierenden Zweifel als notwendig in das Prinzip zu integrierend beurteilt, deswegen einer rein subjektivistischen Position, die im Falle der praktischen Gewissheit am deutlichsten gezeichnet ist, jedoch keinesfalls zuneigt, sondern sie im Gegenteil sogar ablehnen muss.

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zipiellen Zweifel unterliegen muss.47 Was die Evidenz über die Theorie einzuholen versuchte, unternimmt die praktische Gewissheit auf dem Wege der Praxis und scheitert gleichfalls, weil auch sie eine externe Instanz zu begründen sucht, die im Falle des prinzipiellen Zweifels jedoch unhaltbar ist. (3) Weder den Weg der reinen Theorie noch den der reinen Praxis schlägt der Versuch der Gewissheitsgewinnung vermittels der Überzeugung ein, wobei der Begriff der Überzeugung von Tillich nicht in der gebräuchlichen Valenz eines bloßen Meinens, das notwendig nicht mit Gewissheit identifiziert werden kann, sondern in der Definition Fichte’scher Provenienz gebraucht wird. Gemeint wird mit dem Begriff der Überzeugung mithin kein Gegenstandsbezug, sondern das „Merkmal der Ichhaftigkeit“ (EW X, 210 Ts). Überzeugung wird damit zum Singularitätsbegriff, weil er sich in seiner Bedeutung, die „freie Tat der Selbsterfassung des Ich“, mithin nichts anderes als „Freiheit“ (EW X, 210 Ts) schlechthin zu sein, jeglicher pluraler Verwendung widersetzt.48 Diese dezidiert subjektivistische Aufladung des Überzeugungsbegriffs und seine rein ungegenständliche, nur auf das Ich fokussierte Fassung verbietet deshalb jegliche Aussage über das, was nicht das Ich ist, und somit auch über jegliches externale religiöse Objekt. Über Sein oder Nichtsein Gottes zu entscheiden, sieht sich die Überzeugung somit schlechterdings außerstande und ist auch nicht in der Absicht Fichtes.49 Überzeugung in Fichte’scher Provenienz ist ein rein ichhaftes Unterfangen, das eben „kein Akt gegenständlichen Erkennens ist“, sondern im Gegenteil nur „zur metaphysischen Erfassung des Ich, niemals und nirgends zu einer Erkenntnis des Nicht-Ich“ führt (EW X, 210 Ts). Auch das absolute Ich ist somit niemals objektiver Bezugspunkt des Ich. Die von „Schleiermacher, Hegel und der Romantik“ (EW X, 211 Ts) vorgenommene Ausweitung der Überzeugungsthematik auf einen jeder Individualität in originärer und doch allgemeiner Weise zuzusprechenden Begriff ändert trotz der dem Subjekt zugesprochenen schöpferischen Selbstheit nichts an der Grundproblematik dieses Standpunkts in Bezug auf die Religion: Die Tatsache bleibt unberührt, dass bei diesem Verständnis von Überzeugung keine Subjekt-Objekt-Trennung mehr in dem Sinn vorliegt, dass das Objekt nichts mehr ist, „was dem Subjekt in irgendeiner Selbständigkeit gegenüberstände“, weil die Subjektivität letztendlich in die „Sphäre des Gültigen, Geistigen“ (EW X, 211 Ts) übergegangen und somit zum Zentrum jeglicher Wertschöpfung geworden ist. „Es sind deswegen alle Versuche hoffnungslos, von der Wertsphäre aus zur Seinssphäre zu gelangen.“ (EW X, 211 Ts) In seiner schöpferischen Tätigkeit findet sich zwar ein Analogon zum Glauben, jedoch sind die Wertschöpfungen immer nur Relativa, die ihrerseits „unter dem Nein stehen.“ (EW X, 211 Ts) Der Mangel des Stand-

————— 47

„Denn was in die Gegenstandserfahrung eintreten soll, muß unter ihren Bedingungen stehen, muß in psycho-physische Beziehungen kommen können. Die Götter und selbst der eine Gott sind, von hier aus betrachtet, Weltwesen.“ (EW X, 209 Ts) 48 „Insofern gibt es im Grunde nur eine Überzeugung, nämlich die Freiheit selbst, die Selbsterfassung und Selbstunterscheidung des Ich gegenüber allem Nicht-Ich, allem Dinghaften, Triebmäßigen, Unfreien.“ (EW X, 210 Ts) 49 „Eine Apologetik, die von hier [sc. von der Überzeugung] aus arbeitet, kann es […] nie zu der Überzeugung bringen, daß Gott ist.“ (EW X, 210 Ts)

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punkts der Überzeugung ist also, dass keine Loslösung vom Ich stattfindet, sondern im Gegenteil „ein gesteigertes Ichbewußtsein“ (EW X, 211f Ts) statthat, das seine eigene Produktivität notwendig der Relativität unterstellen muss. Überzeugung fördert mithin nur moralisches, niemals aber Glaubensbewusstsein zutage, indem es zur Einholung des Glaubens wiederum auf den Erfahrungsbegriff praktischer Gewissheit zurückfällt, wenn der Glaube nur in Form des „Glaubensexperiment[s]“ (EW X, 212 Ts) als Versuch des reinen Ichbewusstseins mit der Externalität religiösen Bezugs anzuheben vermag und somit wiederum auf die Bestätigung dieses Experiments in der Erfahrung angewiesen bleibt. Mit dem daraus resultierenden Werkcharakter des Glaubens reproduziert sich auch für den Versuch, Gewissheit aus Überzeugung zu gewinnen, Tillichs Verdikt, das schon die praktische Gewissheit traf, nämlich, dass es ein „typisch ungläubiges Verhalten“ sei, „das hier gefordert wird.“ (EW X 212 Ts)

(4) Zuletzt und am ausführlichsten behandelt Tillich in seiner Apologetikkritik das Konzept der Gewissheitsgewinnung über den Weg des konkreten Paradoxes von Karl Heim.50 Damit sei nach Tillich „die Apologetik zu ihrer Vollendung und – ihrem Ende gekommen“ (EW X, 217 Ts), weil Tillich Heim zwar als Kritiker der Apologetik loben kann, dieser aber in seiner Kritik und seinem Gegenentwurf selbst wieder hinter das von ihm Kritisierte zurückfalle. In systematisch-prinzipientheoretischer Hinsicht ist die Widerlegung des Heim’schen Ansatzes durch Tillich von großem Interesse, weil dadurch die bisher gezeichneten Kontinuitätslinien vom System von 1913 bis zum Konzept in ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ gestützt sowie Fehlinterpretationen von Tillichs frühestem System abgewiesen werden können.51 Könnte sich prima facie der Verdacht aufdrängen, Tillich kritisiere sein ehemaliges eigenes Konzept in Form der Kritik Heims, wenn er das Ziel von dessen Argumentation darin sieht, „einen Punkt zu finden, der jenseits jeder Möglichkeit des Zweifels liegt“, wobei „[d]ieser Punkt […] für ihn [sc. Heim] Christus, das absolute Konkretum“, ist (EW X, 212 Ts), so revidiert sich diese Vermutung sofort im weiter folgenden Text. Zwar ist in Tillichs System von 1913 letztlich auch der Christus Jesus die entscheidende Vermittlungsinstanz und als Absolutes, das in das Konkrete einge————— 50

Vgl. dazu und auch allgemein zu Tillichs Konzept von 1919 die Ausführungen von Erdmann Sturm in: Schüßler/Sturm, Paul Tillich, 131–134. Ohne auf Heim zu rekurrieren, behandelt die Thematik auch Jean-Claude Petit, Jesus der Christus: die Mitte der Geschichte – „eine kühne Behauptung des Glaubens“. Was heißt das?, in: Peter Haigis/Gert Hummel/Doris Lax (Hg.), Christus Jesus – Mitte der Geschichte!? Beiträge des X. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/Main 2004. Christus Jesus – the Center of History!? Proceedings of the X. International Paul-Tillich-Symposium Frankfurt/Main 2004 (Tillich-Studien, Bd. 13), Berlin 2007, 247–253 (insbes. 249–251). 51 Die Auseinandersetzung Tillichs mit Heims Christus- und Glaubenskonzept hat ihren Ursprung eben schon in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ (vgl. A §25; 321). Für den Kontext, in dem Tillich im Jahr 1913 Heims These verhandelt, vgl. Kap. 1.2.5.3.

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gangen ist, gleichfalls das absolute Konkrete – aber eben auch umgekehrt das konkrete Absolute; hierin erweist sich sofort die Differenz zum Ansatz Heims, weil dieser Christus verstanden wissen will als Instanz, für die es „keinerlei Begründung für seine Bejahung geben“ dürfe, woraus folgt, dass „[k]eine Kategorie“ auf das absolute Konkretum Jesus Christus angewandt werden dürfe (EW X, 212 Ts). Gerade Letzteres ist aber entscheidendes und unbedingtes Postulat des christologischen Konzepts in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, dass nämlich auch der Christus Jesus – obwohl und gerade weil er das absolute Konkrete ist – unter den absoluten Kategorien stehend vorstellig werden muss, die bei Tillich nicht anders verstanden sein wollen als im Vollzug des Rechtfertigungsbegriffs geschehend. Von der Rechtfertigung darf unter keinen Umständen eine Suspendierung statthaben – auch nicht, wenn es sich dabei um den konkreten Ausdruck der Rechtfertigung selbst handelt, der umso mehr rechtfertigungstheoretischen Kategorien zu unterwerfen ist, als er anders konkret zu sein schlechterdings außerstande ist.52 Bereits aus diesen Konsequenzen, die aus den ersten Sätzen der Auseinandersetzung Tillichs mit Heim zu folgern sind, wird deutlich, dass Tillichs Argumentation 1919 erstens gleichfalls und ungebrochen rechtfertigungstheoretisch anhebt und zweitens selbst die christologische Konzeption ungebrochen bleibt, wie sich noch in der weiteren Analyse des Heim’schen Konzepts erweisen wird. Tillich prozediert also 1919 nicht im Geringsten anders, als er es auch schon 1913 getan hätte.53 In der Fassung Heims zeichnet sich der Christus Jesus als das durch sein Sein des absoluten Konkretums bedingte konkrete Paradox nun zugespitzt formuliert darin aus, epistemologisches Apriori schlechthin zu sein. Dieser „feste[.] Punkt“, den das absolute Konkretum Jesus Christus markiert, ist bei Heim unhintergehbares Konstituens jedweder kategorialer Bestimmungen und als solches Ursprungsfixierung, die „nicht in das dialektische Wi————— 52

Vgl. dazu auch Tillichs Aussage in der ersten Version von ‚Rechtfertigung und Zweifel‘, der zufolge das geforderte Konkrete und im Christus Angeschaute zweierlei erfüllen muss, nämlich „einerseits die Negativität über sich [zu] tragen, vom absoluten Paradox her verworfen zu werden, andererseits die Positivität, sich ganz dem absoluten Paradox hinzugeben und insofern ganz von ihm bejaht zu werden.“ (EW X, 180 Ms) 53 Auch wenn die konstatierten Modifikationen primär im Verständnis des Zweifels- und damit Subjektivitäts- und Glaubensbegriffs unbenommen bleiben, so wird durch das oben Aufgezeigte die Kritik an einer tendenziell zu starken Relativierung des christologischen Aspekts im System Tillichs, wie sie von Folkart Wittekind, sinntheoretische Umformulierung, passim, eingebracht wird, firmiert. Prinzipiell geht die Christologie – wie Wittekind zweifelsfrei zu Recht festhält – ihrem uneingeschränkten Momentcharakter, den sie noch 1913 innehatte, verlustig – aber – und darauf wurde bereits verwiesen – die Bedeutung der Christologie verkommt auch im sinntheoretischen Gewande und auch in Form eines erst sekundären Objektivationsprozesses nicht im Hinblick auf ihre konstitutive Funktion für das Prinzip. Das wird später noch zu erweisen sein.

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derspiel hineingezogen werden kann.“ (EW X, 213 Ts) Folgerichtig stellt Tillich die Frage nach dem Wie und in Sonderheit der Berechtigung danach, just den Christus zum Ausgangspunkt aller Erkenntnis zu machen. Wenn nämlich das absolute Konkretum als tatsächlich konkret anzusetzen ist, so muss es sich auch Fragen zu seiner Konkretheit gefallen lassen, obwohl sich diese aufgrund der allumfassend konstitutiven Funktion des absoluten Konkreten eigentlich an sich verbieten. Eben eine Unterlassung der Fragestellung steht aber notwendig wider die Vernunft, die jedoch genau „im Moment der tiefsten Not“ (EW X, 213 Ts), die nach Tillich für Heim das entscheidende Tableau abgibt, auf dessen Hintergrund Heim das konkrete Paradox zu skizzieren versucht, beim Dahinfallen aller kategorialen Verankerungen sich zurückgeworfen findet auf dasjenige, was die Kategorien in Absolutheit begründet; daher ist in diesem Zustand „eine Entscheidung nötig, die nicht nur die Kategorien ‚willkürlich‘, ‚notwendig‘, sondern auch alle übrigen Sinnkategorien in Bewegung setzt“ (EW X, 213 Ts) – mithin, das konkrete Paradox bedarf notwendig der Hinterfragung hinsichtlich seiner Berechtigung, weil diese zur unübergehbaren Bedingung im Falle prinzipiellen Zweifels wird. Letztlich darf das zweifelnde Subjekt gar nicht vor der Wahl stehen, ob das absolute Konkretum denn nun rettender Grund sei oder nicht, da bereits der Wahlaspekt automatisch die Bezweifelbarkeit des zu Wählenden impliziert. Dies wird allerdings nur erfüllt, wenn das absolute Konkrete „nicht in Distanz gedacht“ wird „mit dem in Not befindlichen Individuum“ (EW X, 213 Ts), für den Fall also, dass eine Identität zwischen absolutem Konkreten und Zweifler besteht.54 Diese Identität dürfte somit nicht wiederum dem Zweifel unterliegen, was sie aber notwendig tut, sofern es sich nicht um jemanden handelt, der „nicht aus der Einheit mit Christus herausgetreten“ (EW X, 213 Ts) ist – wobei dann sofort zu fragen wäre, ob es sich dann tatsächlich um die ‚tiefste Not‘ handeln würde, in der sich das Subjekt befände. Kurz gesagt: Entweder das Verhältnis zum Christus Jesus ist ein ungebrochenes oder es muss zur Verleugnung „methodische[r] Ideale […], die allgemein anerkannt sind“ (EW X, 214 Ts) – gemeint ist selbstverständlich das (historisch-)kritische Modernitätsbewusstsein – kommen, um den angesetzten Fixpunkt Christus Jesus vor dem prinzipiellen Zweifel zu bewahren. Erstes ist im Zustand tiefster Not schlechterdings ausgeschlossen, Zweites kommt einer Opferung nachaufklärerischer Vernunft und ihrer Methode gleich und muss darob als ————— 54

Diese Identität ist schon deshalb notwendig, weil das absolute Konkretum als Konstitutionsinstanz kat’ exochen den Zweifel selbst zu begründen hätte: „Es [sc. das absolute Konkretum] müßte unmittelbar mit dem Zweifler identisch sein, da es ja schon die Möglichkeit des Zweifels konstituiert.“ (EW X, 213 Ts)

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Option entfallen. Damit aber ist „der Zweifel unüberwindlich geworden.“ (EW X, 214 Ts) Der Befund verschärft sich potenziert, wenn die empirische Forschung – Tillich selbst nennt dezidiert die „Naturwissenschaften“ (EW X, 214 Ts) – miteinbezogen wird, weil diese ihre Aussagen nicht von einem religiös begründeten konkreten Paradox, sondern ausschließlich von der „praktischen und wissenschaftlichen Gesamterfahrung der Menschheit“ (EW X, 214 Ts), mithin von Wirklichkeitserfahrung, abhängig machen darf. Dadurch führt das Heim’sche Konzept entweder in die Problematik eines unüberbrückbaren Grabens zwischen empirisch arbeitender Naturwissenschaft und Theologie oder lässt das konkret-paradoxe Konzept zu einer „abstrakte[n] Erwägung“ (EW X, 215 Ts) depravieren. Hierin knüpft Tillich wiederum an seine frühesten Gedanken an, indem er – analog der Argumentation zum historischen Jesus von 1911 – die Durchführbarkeit des konkreten Paradoxes aufgrund der „existentielle[n] Breite“ jedweder Konkretheit, welche notwendig „dem Zweifel unendliche Angriffsflächen“ (EW X 215 Ts) bietet, für unmöglich, ja, so wird man sagen müssen, für notwendig unmöglich hält.55 Konkretheit als ausschließliche, alleinige Begründung absolut geltender Kategorien muss ob der immer nur vorläufigen bzw. approximativen Wahrscheinlichkeit, die historisch-kritische wie empirische Forschung hervorzubringen vermag, in letzter Konsequenz dem prinzipiellen Zweifel unterliegen und führt somit niemals zu Gewissheit. Die Ungewissheitsmomente, die schon mit dem schlichten Da-Sein von Konkretheit als externer Entität – sofern es sich dabei nicht um das eigene Selbst handelt – gegeben sind, bleiben im Falle prinzipiellen Zweifels schlechterdings ungewiss und lassen sich somit niemals in die Identität subjektiver Selbstheit überführen oder sich ihr vermitteln. Die Undurchführbarkeit des konkreten Paradoxes treibt die Denkbewegung über die Fixation auf den konkreten Kristallisationspunkt hinaus und führt letztlich zu einem absoluten Ansatz, wie er sich äußerlich vergleichbar im Wahrheitskonzept der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ von Tillich ausgearbeitet findet.56 ————— 55

Vgl. hierzu auch das Urteil von Gunther Wenz, Rechtfertigung und Zweifel. Tillichs Entwurf zur Begründung eines theologischen Prinzips von 1919 im halle-wittenbergischen Kontext, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920) (Tillich-Studien, Bd. 20), Wien/Berlin 2008, 85–116, hier: 113: „Sehe ich recht, dann ist der Entwurf von 1919 über Rechtfertigung und Zweifel eine spezifische Variation genau jenes Themas, das 1911 christologisch eröffnet wurde.“ Auch Wenz rückt somit Tillichs Schrift von 1919 stark in kontinuierliche Nähe zu dessen theologischer Konzeption vor dem ersten Weltkrieg. 56 „Wenn zugegeben wird, daß es auch außerhalb der bewußten Orientierung an Christus gelingendes Denken gibt, so ist damit die Absolutheit seines Konkreten [aufgehoben], es sei denn, daß dieses zu einer unbewußten Voraussetzung alles Denkens wird. Aber dann hört es auf, konkret zu

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Würde am Konzept des konkreten Paradoxes trotz des Erweises seiner Undurchführbarkeit festgehalten, so liegt das aus Tillichs Sicht am Ziel des Heim’schen Argumentationsduktus, der eben nicht auf Rechtfertigung, sondern Erlösung ziele, weshalb der Zweifel in Form einer „Wiedergeburt des Denkens“ aus dem Denken selbst auszuscheiden versucht wird. Der fixe Konstitutionspunkt, von dem sich alle apriorischen Kategorien herleiten und auf den sich das Denken somit als der ihm übergeordneten Instanz zu beziehen hat, soll dabei garantieren, dass die Neubestimmung des Denkens ohne das störende Element des Zweifels zustande kommt, weil ja die Konstitutionsbasis des Denkens als solche selbst als vom Zweifel unbetroffen gesetzt werden soll. In letzter Konsequenz führt dieses Unternehmen allerdings zur Dogmatisierung, die „die gesamte existentielle Breite des Christus“ betrifft und damit „ein System des intellektuellen Perfektionismus auf allen Gebieten einrichte[t].“ (EW X, 215 Ts) Dies wiederum mündet allerdings in eine vollkommene Abhängigkeit der Kultur, ja – ohne dass Tillich dies expressis verbis anmerkt – der Wirklichkeit überhaupt vom Dogmatisierten, so dass vom absoluten Konkretum Heims ein alles umfassender Heteronomisierungsschub ausginge.57 Glaube wird damit aber zur „Bejahung eines Konkreten und damit eines Stückes Wissen unter anderem, das sich nun über alle anderen erhebt“ (EW X, 215f Ts), wodurch der im Widerstreit mit dem „autonomen Erkenntnisprozeß“ (EW X, 215 Ts) stehende Glaube wiederum zum ‚Werk‘ wird, indem die vernunftmäßig abzulehnende Akzeptanz eines verabsolutierten Wissensmoments bzw. Wirklichkeitsausschnitts gefordert wird. Der Werkcharakter, der letztlich doch wieder in ————— sein, und wird zu der allen Zweifel in sich aufnehmenden absoluten Paradoxie der Wahrheitsgewißheit.“ (EW X, 215 Ts; Konjektur in der Edition) Damit ist natürlich ein Doppeltes ausgesagt: Einerseits ist das konkrete Paradox niemals als eigenständige, alleinig-konstitutive Instanz, sondern – wie 1913 vorgestellt – ausschließlich als Moment durchführbar – dann allerdings mit allen Konsequenzen, auch denen der Absolutheit des Konkreten ohne dessen gleichzeitig nur symbolischer Funktion. Andererseits ist der Weg zur absoluten Paradoxie via Negation des konkreten Paradoxes zwar gangbar, führt aber zur abstrakten Depravierung absoluter Wahrheitsgewissheit idealistischer Provenienz, die das Element des Zweifels in sich zu absorbieren droht. Der erste Teil des Doppelschlusses setzt notwendig den zweiten Teil als Verifikationsinstanz voraus. Beide Wege erscheinen Tillich schon 1913 unzureichend, weshalb die Insuffizienz des rein konkreten Moments deutlich konstatiert sowie die Abstraktheit einer rein absoluten Konstruktion gleichfalls verworfen wird. Allerdings tendiert das System von 1913 noch stark zum zweiten Problem der Abstraktheit, die den Zweifel als unter ihm stehendes Phänomen realiter nicht ernst nimmt. Hier nun setzt die Neuorientierung von 1919 an – die Widerlegung Heims ist allerdings schon vor dem ersten Weltkrieg aus der Perspektive von 1913 deckungsgleich durchführbar, was schon daraus ersichtlich wird, dass Tillich dort den Weg Heims in analoger, die Undurchführbarkeit des Herausgreifens eines durch den Glauben begründeten kontingenten Geschichtsdatums als Konstitutionspunkt betreffender Weise kritisiert; vgl. A §25; 321. 57 „Wird nun unter Christus ein irgendwie bestimmtes Christusbild verstanden, so wirkt all das, was unter diesem Bild zusammengefaßt ist, heteronom auf die Kultur ein.“ (EW X, 215 Ts)

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Heims Lösungsversuch eindringt, folgt nach Tillich aus der „Analogie zu der ethisch-religiösen Einstellung des Pietismus“ (EW X, 216 Ts), von der Heims Werk geprägt sei. Dadurch werde aber wiederum das Bekehrungserlebnis zentrales Agens gläubigen Bemühens, was zur Folge zeitigt, dass nicht der Rechtfertigungsgedanke an sich, sondern vielmehr die Erlösung, die durch die vom absoluten Konkretum initiierte Bekehrung herbeigeführt werden soll, die Systemleitung übernimmt.58 Damit verfällt das Konzept des konkreten Paradoxes aber wiederum dem falschen Weg einer argumentatio ad hominem, weil der Fokus gleichsam „auf das eigene Ich“ (EW X, 216 Ts), das sich in tiefster Not befindet, zentriert wird. Der Zustand der tiefsten Not selbst wird somit zum Mittel, die Gottesbeziehung allererst zu begründen, da in diesem abgründigen Erlebnis just das aufgegeben werden muss, was vor ihm am direkten Zugang zum göttlichen Bezug gehindert hat: der Zweifel. Mit ihm geht das Subjekt jedoch gleichfalls notwendig seiner Selbststruktur als vermittelte Unmittelbarkeit, die sich in Identität expliziert, und daraus folgend seines ethischen Autonomiebewusstseins verlustig, um durch das „negative Werk“ dieses doppelten Opfers wiederum ein Werk, diesmal allerdings das „positive Werk“ (EW X, 217 Ts) einer neuen, am konkreten Paradox orientierten Selbststruktur, zu erreichen.59 Das paulinische Verständnis, das Tillich in der aus dem Ergriffensein von Jesus Christus resultierenden Wirkung erblickt, wäre als Zustand hingegen kein Werk, weil es ihm eben um die Rechtfertigung des Gläubigen und nicht um die Destruktion des Zweifels zu tun ist. Wie auch schon bei den vorherigen Fassungen der Apologetik gilt es resümierend aus Tillichs Sicht festzuhalten, dass es letzten Endes ein Punkt ist, den alle Apologetik gemein hat und dessentwegen sie zu verwerfen ist: der Versuch, den Zweifel als Element zu eliminieren. Das Problem besteht zutiefst darin, dass – wie schon zu Beginn gezeigt – der Zweifel nicht fakultatives, potentiell ausscheidbares Moment menschlichen Vollzugs ist, sondern im Gegenteil in unmittelbarer, unauflöslicher Verbindung mit der Selbstkonstitution des Menschen als Selbst steht. Jeder Versuch, dieses Moment prinzipiellen Zweifels auszuscheiden, muss somit gleichzeitig zu ————— 58

„Der Rechtfertigungsgedanke spielt innerhalb dieses Systems [lediglich die Rolle], die außerpersönlich-dinglichen Kategorien des Katholizismus abzuwehren, er ist in keiner Weise Zentralgedanke. Das ist die Erlösung durch das konkrete Paradox.“ (EW X, 216 Ts; Konjektur in der Edition) 59 „Der Weg dazu [sc. über den Zustand der tiefsten Not] aber führt auf ethischem Gebiet über die Auflösung jedes autonomen Wertbewußtseins, auf logischem Gebiet über die Auflösung der autonomen Struktur des kategorialen Bewußtseins. Es ist ein negatives Werk, was zu leisten ist, aber es kommt darauf an, daß es geleistet wird. Dieses negative Werk der Niederreißung des gesamten Wertbewußtseins um des einen konkret-Absoluten willen ist aber genauso Werk wie das positive Werk eines Wertaufbaus, um dadurch die Gerechtigkeit zu empfangen.“ (EW X, 217 Ts)

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einer unzumutbaren, weil für das Selbst konstitutiven, Forderung an Subjektivität werden, die sich jedesmal nur erfüllen lässt in Form eines widervernünftigen Werkes, das es vom Selbst anzunehmen gilt – trotz der strukturellen Unmöglichkeit dieser Akzeptanz. Daraus ergibt sich für die Position Tillichs, dass Theologie nur dann statthaft vorgehen kann, wenn sie die Selbststruktur menschlicher Subjektivität in und mit ihrem Explikativum und Konstituens, dem prinzipiellen Zweifel, nicht nur akzeptiert und somit in Bestand lässt, sondern darüber hinaus diese Struktur rechtfertigt, d.h. sie als solche in gleichzeitiger Bejahung und Verneinung als wahr firmiert. Systematisch ist dies nicht anders zu erreichen als durch den „Versuch, den Zweifel aufzunehmen in diese Wahrheitsgewißheit“ und somit das „System einer Theologie des absoluten Paradox“ zu errichten (EW X, 217 Ts).

2.2.3 Radikales Ernstnehmen der Relativität im Glauben ohne Gott: das absolute Paradox Aufgabe und Ziel von Theologie – sofern sie den Menschen als solchen wirklich betreffen möchte – ist nicht nur die von Seiten der Reformatoren aufgegriffene und in ihrer Tiefe diskutierte Frage nach der Heilsmöglichkeit des Sünders, sondern im Hinblick auf den menschlichen Intellekt gleichsam dessen Rechtfertigung als vermittelte Unmittelbarkeit, die notwendig den Zweifel als Element einschließt. Wird der Zweifel als Strukturelement menschlichen Selbstseins bis in seine äußersten Konsequenzen hinein ernst genommen – und dies ist, so wird man sagen müssen, zur Aufrechterhaltung von Subjektivität überhaupt schlechterdings unumgänglich –, so muss Glaube seinen Ausgang nehmen von einem Punkt, der jenseits des Zweifels liegt, oder präziser gesprochen: der den Zweifel als Strukturelement allererst konstituiert. Der Zweifel als prinzipieller ist mithin im religiösen Vollzug uneliminierbarer Bestandteil, der einerseits größtes Bollwerk gegen alle Heteronomisierungsversuche, die das Subjekt zu treffen suchen, darstellt60 und andererseits gerade das, was er scheinbar zu bezweifeln strebt, firmiert: das Wahrheitsbewusstsein. Wahr ist Wahrheit nämlich nur dann, wenn sie den Zweifel in sich zu integrieren anstatt ihn im Sinne der Auflösung aufzuheben vermag – darin lässt sich nun eine eklatante Neuerung gegenüber dem System von 1913 erkennen. Zweifel ist nicht nur faktisch, sondern er ist sogar Implement des Wahrheitsprinzips, weil der Zweifel nur wahr sein ————— 60

„Er [sc. der Zweifler] will nicht erlöst sein vom Zweifel, weil er durch ihn sich erhebt über jede Heteronomie“ (EW X, 217 Ts).

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lässt, was auch tatsächlich wahr ist. Jedweder Objektivation, die – in Tillich’scher Nomenklatur – immer relativ stets gleichzeitig unter dem Ja wie unter dem Nein stehen muss, ist als einer subjektsexternen und somit thetischen Setzung, die nicht anders vorstellbar ist als unter den Bedingungen von Relativität statthabend, unbedingte Bedeutung abzusprechen. Die Aufnahme des Zweifels ins Prinzip selbst macht also jeder „Halbheit“ (EW X, 217 Ts) ein Ende, indem durch den Zweifel alles Unwahre – das sich nicht anders definieren lässt als mit dem Begriff des Relativen bzw. des Bedingten, das als fortwährend wahr und unwahr zu denken ist – als solches entlarvt und als Prinzipkonstituens verworfen wird. Es ist also gerade nicht der Zweifler, der entfernter zur Wahrheit stünde; vielmehr zeichnet sich just der prinzipielle Zweifler durch höchstes Wahrheitsbewusstsein aus. Daher „lebt der Zweifler am Abgrund der Verzweiflung, und doch muss er alle Verlockungen von seiten der Verkündiger des Werkes […] von sich weisen. Zu stark ist sein Wahrheitsbewußtsein, es läßt sich nicht auf Bedingtes und Kompromisse ein.“ (EW X, 217 Ts) Tillich macht ernst mit dem Menschsein des Menschen und mit der mit ihm gegebenen Abgründigkeit, die in ihrer fatalen Endstufe bis hin zum Irrewerden am Absoluten, an Gott und somit in die Verzweiflung an Absolutheit überhaupt zu führen droht. Der eine Weg des Dilemmas im religiösen Verhältnis hat somit als reinen – und damit niemals erreichbaren – Grenzbegriff den Abbruch des religiösen Bezugs in der „Verzweiflung am Unbedingten“, die sich als „innerlich gebrochene Hinwendung zu einem Relativen“ (EW X, 218 Ts) äußert, als Konsequenz. Die zweite Möglichkeit, nun allerdings mit der Folge, trotz des Zweifels an der Religion festzuhalten, sieht Tillich im Glaubenskonzept des absoluten Paradoxes, wobei Glaube die alleinige Funktion ist, die dieses Verhältnis zu garantieren vermag.61 In diesem strikten sola fide-Entwurf lässt sich Glaube nicht mehr anders fassen als „den Glauben, daß eben der Zustand, in dem [man] sich befindet, dem Wesen des Unbedingten angemessen ist, daß [man] in diesem Zustande des Zweifels die allein mögliche Stellung dem Unbedingten gegenüber einnimmt.“ (EW X, 218 Ts; Hervorhebungen S.D.) Im Zustand des Zweifels kann vom Unbedingten wesenhaft allerdings nur abgesehen von jeglicher Form der Objektivation gesprochen werden, so dass Glaube einzig und allein – diese Notwendigkeit betont Tillich ausdrücklich – einer sein kann, „der nun keinen von den Inhalten mehr haben kann, auf den sich der Zweifel richtet“ (EW X, 218 Ts). Was Tillich in seinem Glaubensbegriff, der sich auf nichts Inhaltliches mehr zu beziehen vermag, vorstellt, lässt sich in dem schon im Briefwech————— 61

„Der rettende Ausweg aus der Not des Zweifels ist der Glaube und allein der Glaube“ (EW X, 218 Ts).

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sel mit Emanuel Hirsch auftauchenden Terminus eines ‚Glaubens ohne Gott‘ oder – bei aller zugespitzten Pointierung – auch im Begriff eines ‚Glaubens als Zweifel‘ fassen. Dabei möchte die letzterwähnte, nicht von Tillich stammende Begrifflichkeit nicht dahingehend missverstanden werden, als erschöpfe sich Glaube in der Funktion des Zweifels, geschweige denn, dass es sich um einen Glauben an den Zweifel handle. Auch ist der Zweifel nicht notwendiges Konstituens des Glaubens, so dass allererst das Auftreten des Zweifels unerlässlich für den Glaubensvollzug wäre. Ausgesagt werden soll mit dem Begriff des ‚Glaubens als Zweifel‘ nur das, was den Kern des Tillich’schen Glaubensbegriffs ausmacht: Glaube ist niemals Glaube an etwas, sofern es sich dabei um eine Gegenständlichkeit handelt, sondern immer nur Vollzug der Rechtfertigung im gläubigen Subjekt selbst. Damit ist aber wiederum ein Doppeltes ausgesagt: Einerseits ist Subjektivität stets nur im Zusammenhang mit Zweifel, dessen tiefste Ausprägung, die prinzipielle, im Glaubensakt fortwährendes Element der Ausscheidung alles Relativen ist. Zum anderen meint Rechtfertigung ausschließlich die bejahende Gleichzeitigkeit von Bejahung und Verneinung jedweder Subjektivität, die ihrerseits ihre höchste wesensmäßige Verdichtung im prinzipiellen Zweifel erfährt, so dass Glaube wahrhaftig ist – dies impliziert jedoch nicht automatisch Ausschließlichkeit62 – als Annahme der Rechtfertigung des zweifelnden Subjekts, wobei der Zweifel fortwährend begleitendes Element dieses Prozesses ist, weil von Rechtfertigung und Glaube unter den Bedingungen von Subjektivität – und andere anzuführen wäre als abstrakter Überstieg unstatthaft – nicht unter Absehung vom Zweifel die Rede sein kann. Insofern, und nur insofern, lässt sich vom ‚Glauben als Zweifel‘ sprechen. Worauf aber bezieht sich Glaube, wenn er als inhaltsloser nicht mehr als Glaube an etwas verstanden werden kann? Tillich nennt hier die Voraussetzung des Glaubens selbst, die – jenseits jedweder Objektivation – oberhalb der „Sphäre des Zweifels“ in der Synthesis des „Gegensatz[es] von Zweifelndem und Bezweifeltem“ (EW X, 218 Ts) zum Stehen kommt. Dies entspricht aber nun wiederum dem, was Tillich bereits 1913 in seinem Wahrheitsprinzip und der Konstruktion eines absoluten sowie eines relativen Standpunkts zu explizieren versuchte. Einziger, aber entscheidender ————— 62

Sonst wäre jede Form des Glaubens, die nicht durch den Zweifel bzw. sogar den Zweifel bis hin zum Rande der Verzweiflung hindurchgegangen wäre, nicht als Glaube im wesentlichen Sinne zu bezeichnen, was schlechterdings auszuschließen ist, weil andernfalls Glaube abhängig wäre vom Intellekt des Subjekts, was schon aufgrund der inhaltlichen Bestimmung des Rechtfertigungsbegriffs, nämlich Bejahung und Verneinung des Subjekts in seinem – wie auch immer gearteten – Da- und So-Sein zu sein, abgelehnt werden muss. Außerdem ist Glaube niemals ‚Schöpfung‘ des Subjekts selbst, weshalb der Glaube auch nicht von der Spezifität des Subjekts abhängt.

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Die sinntheoretische Präzisierung des Systemprinzips

Unterschied ist, dass die Synthesis nicht mehr zur absoluten Setzung zu depravieren droht, weil der Zweifel in prinzipieller Hinsicht vollständig ernst genommen wird und daher eine derartige Thesis verbietet. Die Nähe zu Tillichs frühestem System ist aber evident und darf ob der Neuerung nicht unterschlagen werden. Vorstellig zu werden hat der Glaubensvollzug in Bezug auf eine über dem Zweifel stehende Sphäre mithin in der glaubensmäßigen paradoxen Bejahung, „daß der Zweifel das Stehen in der Wahrheit nicht aufhebt.“ (EW X, 218 Ts) Nachdem er in Bezug auf Karl Heim die Notwendigkeit der Begründung und Rechtmäßigkeit dessen Konzepts eines konkreten Paradoxes hinterfragt hat, stellt Tillich nun auch sich selbst bezüglich des eben zitierten Satzes die notwendige Frage: „Wer gibt das Recht zu einem solchen Urteil?“ (EW X, 218 Ts) Seine Antwort, „alle Versuche, ein solches Recht zu begründen“, würden „die Paradoxie aufheben und Gott unter Bedingungen stellen“ (EW X, 218 Ts), erweckt nur auf den ersten Blick den Verdacht, Tillich wolle sich der Fragestellung durch eine Suspendierung von ihr entziehen. Die Paradoxalität des Glaubens durch den Zweifel hindurch an die Konsitutionsinstanz von Zweifel – und Subjektivität – selbst, ohne dass dabei diese Instanz wiederum dem Zweifel unterliegen würde, ist begründet in der Unbedingtheit dieses Jenseits des Zweifels, d.h. in seinem schieren Nicht-Objektsein.63 Echte Begründbarkeit würde das Unbedingte allerdings wiederum in eine Reihe stellen mit begründbaren Entitäten, mithin Gegenständlichkeiten, also just dem, was dem Begriff des Unbedingten schlechterdings widerspricht. Unbegründbarkeit ist jedoch nicht dasselbe wie Unbegründetheit in dem Sinne, dass das Unbedingte als solches widervernünftige Spekulation sei; im Gegenteil ist das Unbedingte in der Selbstkonstitution bzw. Selbsterfassung des Subjekts unmittelbare Faktizität, die sich aus dem eigenen Vermitteltsein der Subjektivität erkennen lässt. Zweifel steht als Signum der Subjektivität in unmittelbarem Konnex mit ihr und ihren Bedingungen, die – entsprechend den ‚Bedingungen der Relativität‘ – die stete Subjekt-Objekt-Spaltung sowie das Vermitteltsein der eigenen Unmittelbarkeit fortwährend voraussetzen. Unbedingtes und Zweifel sind somit in zwei kategorial distinkten Sphären anzusiedeln, wobei die Sphäre des Unbedingten Konstitutionsbasis jedwe————— 63

Der Begriff des Unbedingten, den Tillich schon in der ‚Verzweiflung am Unbedingten‘ stillschweigend einführt, ersetzt gewissermaßen den Begriff des Absoluten aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Da der Unbedingtheitsbegriff weitestgehend selbsterklärend ist, scheint Tillich von einer genaueren Begriffsdefinition abzusehen. Unbedingtheit impliziert in der Tillich’schen Fassung, die sich unmittelbar aus seinem neuen Konzeptansatz ergibt, einen kategorialen Unterschied zum Bedingten bzw. ehemals Relativen, wobei dieser Unterschied nicht in einer Seinsdifferenz zu fassen ist, weil der Begriff des Unbedingten untrennbar mit Nicht-Gegenständlichkeit verbunden ist, wodurch er sich tendenziell vom Absolutheitsbegriff unterscheidet.

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Das absolute Paradox

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der in das Gebiet des Zweifels fallender Begebenheit darstellt. Ist Glaube aber nichts anderes als Vollzug der Rechtfertigung im Subjekt, so ist der Zweifel nicht nur begleitendes Element dieses religiösen Unbedingtheitsvollzugs, sondern Teil dieses Vollzugs selbst. So kategorial die Trennung zwischen Unbedingtem und Zweifel auch anzusetzen ist – im religiösen Vollzug erweisen sich Zweifel – als prinzipielle Skepsis gegenüber allem Subjektsexternen – und Unbedingtes – als über dem Zweifel stehende Sphäre, die das, was ob der Subjekt-Objekt-Spaltung in Zweifel stehen muss, begründend synthetisiert – in wechselseitigem Explikationsverhältnis für das Subjekt, weshalb sich eine Begründung dessen, was den Zweifel allererst fundiert, schlechterdings ausschließt. Das Paradox der Rechtfertigung auf erkenntnistheoretischem Boden erstreckt sich genau auf diese Polarität im Akt der Selbstkonstitution des Selbst, indem das So-Sein des Unbedingtheitsvollzugs unter Beteiligung des Zweifels als die einzig wahre Fassung dieses Vollzugs bejaht werden muss. Anders formuliert: Mit der Unbegründbarkeit des Unbedingten geht folglich auch einher, dass es nicht unter dem Zweifel stehen kann, weil Zweifel notwendig das Denken im Schema von Subjekt und Objekt braucht. Ist das Unbedingte nun aber jenseits reiner Objektivität wie reiner Subjektivität und als deren Synthesis treibendes Agens im Prozess der Selbstkonstitution des Selbst, gegen dessen – des Unbedingten – Verobjektivierung der mit der Vermitteltheit des Selbst anhebende Zweifel fortwährend steht und sie abwehrt, so ist dieses Verhältnis von Unbedingtheit und zweifelnder Subjektivität nicht einer Begründung zuzuführen und nicht anders zu beschreiben als in schlechthinniger Paradoxalität stehend. Gott und abstrakte Absolutheit halten der Skepsis prinzipiellen Zweifels nicht stand und gleichzeitig weiß sich das Subjekt in seinem Vermitteltsein stets als sich nicht selbst begründend, weshalb es selbst nicht zum Träger von Unbedingtheit werden kann. Ausdruck findet dieses Dilemma in dem Spannungsverhältnis zwischen Unbedingtem und Zweifel in der religiösen Erfassung des Selbstverhältnisses des Selbst. Damit ist ein analoges Verhältnis konstruiert wie schon zwischen Absolutem und Relativem: Das Unbedingte nimmt innerhalb des Verhältnisses eine Doppelfunktion ein, indem es einmal polare Struktur innerhalb des Selbstvollzugs des Selbst darstellt und die fortwährende Vermitteltheit von Subjektivität momenthaft vorstellig macht. Andererseits ist es das Unbedingte, das allererst die Struktur von Zweifel und Subjektivität garantiert und somit diese als solche fundiert und rechtfertigt.64 Diese Spezifität des Unbedingten – als Moment ————— 64

Diese Prinziperklärung findet sich wörtlich so nicht in Tillichs Texten, allerdings darf sie im Tillich’schen Sinne durchaus aus seiner Prinzipanlage geschlossen werden, weil anders sowohl

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des Verhältnisses und gleichzeitig als das Verhältnis selbst zu fungieren – hat das Unbedingte mit dem Wahrheits- und dem Absolutheitsbegriff im Verständnis von 1913 gemein, unterscheidet sich allerdings, wie gesehen, kategorisch in der Verobjektivierbarkeit seiner selbst. Zu fragen bleibt somit, wie unter diesen Bedingungen vom Gottesbegriff die Rede sein muss, ja ob von ihm überhaupt noch gesprochen werden kann. Für Tillich korrespondiert mit dem ‚Glauben ohne Gott‘ nun allerdings nicht eine Konzeption nihilistisch-existentialistischer Provenienz, sondern der „Gott über Gott“ bzw. der „Gott des Zweiflers, ja des Atheisten.“ (EW X, 219 Ts) Dieser Gottesbegriff lässt sich nun allerdings – analog dem Glauben – nicht mehr inhaltlich bestimmen, sondern steht ausschließlich für das Unbedingte selbst.65 Als solches bewegt es sich jedoch, wie dargestellt, jenseits von Objektivität wie Subjektivität und ist in dieser Struktur weder mit dem Subjekt des Glaubens identisch noch zu ihm different im Sinne eines Objektseins.66 Die Begriffsunschärfe, die damit eintritt, entsteht somit eben nicht aus mangelhafter Definition heraus, sondern ist mit dem Unbedingten selbst gegeben, ihm notwendig inhärent, weil dessen Explikation nicht anders auszuführen ist als in einem „Schweben zwischen Anschauung und Begriff“ oder einem „Oszillieren“ (EW X, 221 Ts).67 Als solches, das weder ————— Prämissen als auch Konsequenzen des Tillich’schen Prinzips nicht einer Erklärung zugeführt werden können. 65 „Es kann nach allem Vorausgegangenen keinen anderen Inhalt für diesen Begriff [sc. den des Gottes über Gott] geben als den des Unbedingten selbst.“ (EW X, 219 Ts) 66 „Es liegt im Sinne dieses Begriffs [sc. des Unbedingten], daß er einerseits hinausführt über das Ich, das sich ihm gegenüber als bedingt erfährt, andrerseits nicht hinausführen kann zu einem Nicht-Ich, zu einem irgendwie Gegenständlichen, das ja auch jedes Gegenständliche bedingt.“ (EW X, 219 Ts) 67 Auf die Begriffe des Schwebens und Oszillierens wird später im Rahmen der Behandlung von Tillichs sinntheoretischer Ausformulierung der getroffenen epistemologischen Erkenntnisse zu kommen sein; vgl. Kap. 2.3.2. Allerdings spielen sie, wie eben zu zeigen versucht wurde, bereits in rein erkenntnistheoretischer Perspektive eine entscheidende Rolle. Trutz Rendtorff erläutert allgemein die Tillich oft vorgeworfenen methodischen und begrifflichen Unklarheiten seines Gesamtwerkes biographisch-historisch anhand des Stehens Tillichs zwischen zwei ‚Parteien‘, die auf der einen Seite durch Max Weber und Ernst Troeltsch, mithin die Position eines historischen Blickes auf das Denken überhaupt, und auf der anderen Seite durch Personen wie Rudolf Otto, Franz Rosenzweig oder Martin Buber, also einer elementarisierenden Religion, markiert ist (vgl. Trutz Rendtorff, In Richtung auf das Unbedingte. Religionsphilosophie der Postmoderne, in: Hermann Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt a.M. 1989, 335–356, hier: 340–342): „Es ist oft gesagt worden, daß Tillichs Werk der methodischen Klarheit entbehre und daß seine Begrifflichkeit nie den Stempel letzter Konsistenz erreicht habe. Das ist für eine puristische Betrachtungsweise wohl zutreffend, aber doch nur dann, wenn man den außerordentlich widerspruchsreichen Kontext außer acht läßt, in dem er sich bewegt und auf den er sich bezieht.“ (Ebd., 342) Die untersuchten systematischen Gesichtspunkte für Tillichs Begriffsunschärfe finden mithin ihre Entsprechung in den von Rendtorff aufgewiesenen biographischzeithistorischen Gründen.

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subjektiv noch objektiv Einholbare, ist das Unbedingte aber Rechtfertigungsinstanz schlechthin gegenüber jeder Form von Zweifel, „auch in Bezug auf den Zweifel an Gott.“ (EW X, 219 Ts) Der neue Gottesbegriff Tillichs geht mithin diesbezüglich über sein früheres Gotteskonzept hinaus, dass der ‚Gott über Gott‘ insofern wahrhaftiger Gott ist, als er nicht mehr in relativer Begrifflichkeit einzufangen und damit auch nicht mehr in die Welt der Objektivitäten einzuordnen ist,68 wodurch Tillich ein Doppeltes erreicht, nämlich einmal die wahre Göttlichkeit Gottes als einem kategorial von der Welt der Gegenstände Unterschiedenen und andererseits die im Glaubensvollzug wirkende Immanenz des göttlichen Unbedingten durch dessen schlechthinnige Nicht-Differenz zum Subjekt. Es gilt somit: Gott bzw. das „Unbedingte aber ist kein Seiendes. […] Das Unbedingte ist ein Sinn“ (EW X, 219 Ts). Wie dies allerdings zu verstehen ist und auf welche Weise eine sinntheoretische Adaption des gerade erkenntnistheoretisch Aufgezeigten zu denken ist, sollen die folgenden Kapitel vorstellen.

————— 68

Der Unterschied zwischen dem ‚Gott des Theismus‘, wie Tillich die ‚klassische‘ Gottesdefinition später bezeichnet, und dem ‚Gott über Gott‘ ist auch präzise gefasst in Tillichs Brief an Emanuel Hirsch vom 20. Februar 1918, in dem er wiederum den Distinktionspunkt beider Gottesbegriffe am prinzipiellen Zweifel festmacht: „An Gott zu zweifeln ist unmöglich und an Gott nicht zu zweifeln ist unmöglich. Das erste bezieht sich auf den Gehalt, das zweite auf die Objektivationsform.“ (EW VI, 122) Der Zweifel an dem ‚Gott über Gott‘ ist mithin ausgeschlossen, weil dieser Gott nicht ‚ist‘ und damit jeglicher Skepsis, sei sie auch prinzipieller Art, schlechterdings entzogen ist – wohingegen der gegenständliche Gottesbegriff automatisch dem Zweifel anheim fällt.

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Die sinntheoretische Präzisierung des Systemprinzips

2.3 Unbedingtes und Sinn 2.3.1 Der transzendentale Status von ‚Sinn‘ Bisher unbeantwortet geblieben ist die Frage nach dem Status des ‚Gottes über Gott‘. Die Analyse des Rechtfertigungsvorgangs im Glauben mit und trotz des Zweifels ist zwar erkenntnistheoretisch suffizient, bleibt jedoch in praxi in bezugsloser Abstraktheit stecken und drängt daher zur Frage nach der konkreten Realisierbarkeit und Realisierung des theoretisch Erkannten. Eine erste Stufe der Konkretisierung erreicht Tillich über eine sinntheoretische Explikation seiner epistemologischen Ergebnisse, auf die er im Rahmen der Abweisung des Verständnisses des Terminus ‚Gott über Gott‘ als eines ontologisch verfassten Begriffs zu sprechen kommt. Das Zusprechen des Seins-Status für den Gottesbegriff würde – wie gesehen – nur eine Einreihung Gottes in die Welt der Gegenstände zur Konsequenz zeitigen;1 der andere mögliche – und einzig gangbare – Weg, Gott zu erfassen, verläuft für Tillich über die Identifikation des Unbedingten, das ja nichts anderes ist als der ‚Gott über Gott‘, mit Sinn, so dass er gegenüber Emanuel Hirsch schließt: „[D]as Erlebnis, das Otto, die Mystik, die Schelling etc. beschreiben, ist entweder ein natürlich-psychologischer Vorgang, veranlaßt durch eine natürliche Ursache, die prinzipiell erklärbar und einfügbar ist in das natürliche Universum (etwa im Hegelschen Sinne) […] oder es handelt sich überhaupt nicht um einen besonderen Gegenstand, sondern um einen besonderen Sinn, den Sinn des Gegenstandes ‚Welt‘. Eben dieses ist nun meine Meinung.“ (EW VI, 124f) Gott im Sinne des Unbedingten ‚ist‘ mithin nicht, sondern ihm kommt das Prädikat des Sinns zu: „Das Unbedingte ist ein Sinn“ (EW X, 219 Ts). Findet nun aber eine direkte Identifikation der Begriffe des Unbedingten und des Sinns statt, so gilt es zu fragen, wie diese begriffliche Deckungsgleichheit zustande kommt und wie sie im bisher erörterten erkenntnistheoretischen Rahmen zu verorten ist. Das bestimmende Signum prinzipiellen Zweifels ist seine stete Abgründigkeit, die letztlich zur Verzweiflung führt. In der Verzweiflung selbst sind alle Entitäten mit Ausnahme des eigenen Selbst, dessen sich das Subjekt durch den Zweifel unmittelbar bewusst ist, als nicht mit Gewissheit in ————— 1

So formuliert Tillich an Hirsch bezüglich der Konzeptionen von Schelling und Rudolf Otto: „Aber auch Schelling kann ja nicht anders als sagen: ‚das Überseiende ist‘, der Zwang der Kategorialisierung führt zur Naturalisierung. Und Otto muß sagen: ‚das Numinöse ist‘, eben damit ist es aber ein Moment in der Sphäre des Seienden (die einzige, die ‚es gibt‘, die ‚ist‘). Der Vergegenständlichung durch das Existentialurteil entgeht nichts!“ (EW VI, 124)

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Wahrheit zu überführende hinfällig. Der Zustand der Verzweiflung ist daher wesensmäßig gekennzeichnet durch fortwährende Sinnlosigkeit in der Wirklichkeitserfahrung, weil jedwede externe Entität ausschließlich in Negation der Abgrenzung von Selbstheit zu dienen vermag, an sich jedoch für das Selbst keine erkenntnistheoretisch verwertbare, weil unter dem Zweifel stehende, Funktion annehmen kann. Das Subjekt findet sich mithin in der Situation vor, dass zwar „die Selbstbeziehung des Ich […] unaufhebbar“ (EW X, 225 Ts) ist, gleichzeitig aber der Verlust von Sinnhaftigkeit all dessen, was unter dem Begriff ‚Welt‘ subsumiert werden kann, aufgrund des prinzipiellen Zweifels auftritt. Mit anderen Worten: Auf dem Wege empirischer Welterfassung ist Gewissheit für das Selbst nicht einholbar, weil es sich durch die schiere Faktizität seiner Selbstidentität schlechterdings geschieden weiß von jedweder Externalität. Das Selbst weiß sich konstitutiv als vermittelt, vermag jedoch nicht über die Erfassung von Selbst und Welt, mithin über Gegenständlichkeit per se, diese Vermitteltheit in solipsistischer Isolation einer sinnvollen Lösung zuzuführen. Just diese Erfahrung der Sinnlosigkeit als Ausdruck tiefster Verzweiflung führt nun aber zur Vertiefung der Sinnlosigkeit in der „Sinnwidrigkeit der Sinnwidrigkeit“ (EW X, 223 Ts) selbst, die sich für das Subjekt einstellen muss, weil auch der Zustand der Verzweiflung aufgrund der begegnenden Sinnlosigkeit selbst nicht ‚sinn-voll‘ bzw. präziser: ‚sinn-erfüllend‘ auftritt und somit selbst wiederum als ‚Un-Sinn‘, oder wie Tillich sagt: Sinnwidrigkeit, erfahren werden muss. Ist demnach die Verzweiflung Konsequenz der Erfahrung von Sinnwidrigkeit jeglicher Gegenständlichkeit, so muss die Verzweiflung selbst als sinnwidriges Unterfangen angesetzt werden, das von sich auch nicht aus dem präsenten Mangel an Sinn herauszuführen vermag.2 Dieser von Tillich als ‚Sinnwidrigkeit der Sinnwidrigkeit‘ bezeichnete Zustand ist nun ausschließlich in zwei Richtungen hin aufzulösen: Entweder kommt es zu einem Verbleiben in der Verzweiflung, was letztlich ein unhaltbarer Zustand ist und nur in reinen Relativismus unter Ausschluss jeglichen Sinnempfindens münden kann;3 oder eben der Zustand der Sinn————— 2 Eine Verabsolutierung dieses Verzweiflungszustandes lehnt Tillich in der ebenfalls ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ benannten Schrift von 1924 als „Sünde des Zweiflers“ bzw „Unglaube“ ab, weil ein Verharren in der Verzweiflung gerade „das Nichtzweifeln an seinem eigenen Zweifel und der Versuch, von diesem grundsätzlich gottlosen Standpunkt Gott zu suchen“, sei (GW VIII, 91). 3 Dieser Fall lässt sich zwar als legitime Konsequenz aus der Erfahrung der Sinnwidrigkeit der Sinnwidrigkeit anführen, läuft aber letzten Endes der Intention echten Denkens insofern zuwider, als Denken wesensmäßig auf Wahrheitserkenntnis angelegt ist. Vollkommene Verzweiflung als Erfahrung in sich sinnloser Sinnwidrigkeit verlagert den Modus der Wahrheitssuche jedoch notwendig auf die Frage nach dem Sinn der Suche und auch der Erkenntnis von Wahrheit, wodurch das Denken per se in Frage gestellt wird. Will Denken aber es selbst bleiben, kommt es nicht umhin über sich hinauszutreiben, ja nach sich und seinem Status zu fragen, so dass das

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Die sinntheoretische Präzisierung des Systemprinzips

widrigkeit wird als einzige Möglichkeit angenommen, überhaupt Sinn realiter erfassen zu können. Die Unbedingtheitsdimension, die in der Verzweiflung durch suchendes Kreisen des Subjekts um sich ohne jede Möglichkeit ist, Unbedingtheit zu erreichen, weil alles unter dem Zweifel steht, wird im zweiten Fall somit durch die Akzeptanz von Sinnwidrigkeit als Erfassungsmodus von Sinn bzw. Unbedingtheit eingeholt. Hier reproduziert Tillich eindeutig den schon erkenntnistheoretisch angesetzten und auch schon 1913 in der Polarität von Wahrheit und Denken explizierten Sachverhalt, dass in diesem Fall Sinn selbst keine Instanz ist, die der Kategorie der Sinnwidrigkeit zu unterliegen vermag. Wie sich das Denken bzw. – in potenzierter Form – der prinzipielle Zweifel gegen die Wahrheit wendet – zumindest in ihrer gegenständlichen Fassung –, gleichzeitig aber von der das Denken oder den Zweifel allererst konstituierenden Wahrheit her anhebt, genau so setzt Sinnwidrigkeit, die als solche nichts anderes ist als Zweifel an Sinn, Sinn kategorial voraus.4 Allerdings gilt auch für den Sinnbegriff, was 1919 schon für den Gottesbegriff festgehalten wurde: Auch hier lässt sich nicht von Sinn als gegenständlicher Setzung – auch nicht als abstrakte Thesis – sprechen, sondern Sinn ist wie der ihm deckungsgleiche Begriff des Gottes über Gott sowie der Begriff des Unbedingten in Jenseitigkeit einer Einordnung in subjektiv-objektive Bezüge verfasst. In Tillichs Worten: „Das Unbedingte ist ein Sinn, aber nicht ein einzelner Sinn; denn jeder einzelne Sinn steht unter dem Zweifel und könnte den Zweifler nicht rechtfertigen. Das Unbedingte ist der Sinn schlechthin, der Ausdruck dafür daß überhaupt ein Sinn ist, die Setzung der Sinnsphäre. […] Ein Zweifel am Sinn schlechthin aber ist nicht möglich, da der Zweifel die Bejahung der Sinnsphäre bereits voraussetzt und zwar umso deutlicher, je tiefer er erlebt wird.“5 (EW X, 219 Ts) Ist nun aber – so drängt es sich als Frage auf – hier etwas prinzipiell Anderes in Anschlag gebracht als in der wahrheitstheoretischen Konzeption – nur mit dem Ersetzen der Begriffe von ‚Wahrheit‘ und ‚Denken‘ bzw. ‚Zweifel‘ durch ‚Sinn‘ und ‚Sinnwidrigkeit‘ als denkender Zweifel am Sinn? Auch wenn man die im Ernstnehmen des Zweifels neu hinzugekommene Nicht-Verobjektivier————— Verharren im Widersinn einer falschen, weil für das Denken unstatthaften, Resignation gleichkommen muss, da bei sich und nur bei sich verbleibendes Denken hinter seinem eigenen Wesen zurückbleibt. Vollständig reflektiert kann und darf Sinnlosigkeit jeglicher Couleur nicht Endpunkt denkenden Denkens sein, weil Intransigenz im Denkprozess zu einem Ende des Denkens überhaupt führt. Verzweifeltes, auf sich beschränktes Denken ist mithin eine contradictio in adiecto. 4 Vgl. dazu auch Falk Wagner, Absolute Positivität, 181 Anm. 22: „Denn der Zweifel kann sich überhaupt nur dann als Zweifel äußern, wenn er sich schon auf den bezweifelten, damit gleichwohl vorausgesetzten Sinn und Sinngrund bezieht.“ 5 Vgl. dazu Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, 327.

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barkeit von Sinn gegenüber dem alten Wahrheitsbegriff hinzunimmt, lässt sich die Frage nicht eindeutig bejahend oder verneinend beantworten. Einerseits ist die Strukturanalogie des Wahrheits- und des Sinnkonzepts evident, weil beide mit dem Vorstellungsmodell einer Identität von Identität und Differenz arbeiten, sich also der metalogischen Methode eines In- und Miteinander von Logizität und Alogizität bedienen. In beiden Fällen ist der „Ort, wo das Paradox gesucht werden darf, im logischen Prinzip selbst“ (EW X, 229 Ts) zu veranschlagen. Daher würde eine Neufassung des Wahrheitsbegriffs dergestalt, dass Wahrheit ausschließlich nicht-objektiv, nicht-thetisch und als nicht extern zu bestimmende Setzung vorstellig wird, der sinntheoretischen Explikation des absoluten Paradoxes bis zur Ununterscheidbarkeit nahekommen. Die Distinktivität beider Konzepte hängt somit tatsächlich ‚nur‘ an der Bestimmung von Zweifel und Wahrheit, indem die volle Erfassung der Tragweite prinzipiellen Zweifels die Nicht-Objektivität von Wahrheit zur Folge zeitigen muss.6 Ihre zweifelsfrei größte, die Unterschiedenheit übertreffende Übereinstimmung besteht im Ansetzen von Wahrheit bzw. Sinn als transzendentale Größen, die im Selbstkonstitutionsund Selbstbestimmungsakt des Denkens die unhintergehbar vorausgehende – wenn auch hierunter nicht eine wie auch immer geartete ‚Existenz‘ oder ein ‚Sein‘ gedacht werden darf – Instanz der Vermittlung subjektiver Unmittelbarkeit übernimmt. Unter diesem Gesichtspunkt ist die obige Frage somit tendenziell mit Ja zu beantworten. Andererseits gilt es zu fragen, ob sich die Relation der Begriffe von Wahrheit und Sinn tatsächlich in der Bestimmung ihres Unterschieds und ihrer Gemeinsamkeit erschöpfen kann. Dies würde ja bedeuten, dass Wahrheit und Sinn als begriffliche Bestimmungen das Gleiche meinen, d.h. dass ————— 6 Die genaue Betrachtung der Eingangsparagraphen der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ lässt – wie bereits angeführt – die sinntheoretisch präziser gefasste Form des Prinzips bereits erahnen, wenn Tillich Wahrheit als falsch verstanden ansetzt, sofern man sie „irgendwo als eine objektive Realität“ betrachtet, und somit Wahrheit „nicht abgesehen von der Erkenntnis der Wahrheit“ bestimmt (A §2; 279). Andererseits ist Wahrheit faktisch immer schon das Einheitsprinzip, das den Gegensatz des Denkens aus sich allererst heraussetzt (vgl. A §3; 281: „Der absolute Wahrheitsgedanke enthält also in sich ein Prinzip des Widerspruchs gegen sich“). Alle Erfahrung entstammt einem Prinzip, „das alle bestimmte Erfahrung ermöglicht [statt ‚ermöglicht‘ lautet die ursprüngliche Formulierung bemerkenswerterweise: ‚vorausgeht‘; vgl. EW IX, 279 Anm. 4]“; dieses Prinzip wird im Folgenden mit dem Wahrheitsprinzip identifiziert. Tillichs Wahrheitskonzept von 1913 erscheint somit noch unausgegoren in dem Sinne, dass eine eindeutige Festlegung auf das Verhältnis von Wahrheit und Denken nicht ausgemacht werden kann, sondern vielmehr bereits Implikate der Sinntheorie von 1919 auftreten, aber parallel direkt neben den absolutheitstheoretischen Formulierungen zu stehen kommen, welche im System von 1913 noch die den Gedankengang klar leitenden sind. Die Prinzipmodifikationen von 1919 räumen diese Unklarheiten beiseite und führen daher zu einer Eindeutigkeit, deren Genesis nicht anders bezeichnet werden kann als mit dem Begriff der Präzisierung.

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Die sinntheoretische Präzisierung des Systemprinzips

sie teleologisch dieselbe Ausrichtung haben. Prima facie hat dies auch tatsächlich in prinzipientheoretischer Perspektive den Anschein; allerdings lässt sich zwischen Wahrheit und Sinn selbst in ihrer Zielrichtung dahingehend ein Unterschied ausmachen, dass Wahrheit immer der unmittelbare Gegenstand auf sie ausgerichteten Denkens ist, Sinn hinwiederum insofern davon kategorial geschieden ist, als die Verhältnismäßigkeit der WahrheitDenken-Relation für das Denken im Begriff des Sinnes ein Urteil erfährt. Mit anderen Worten: Wahrheit und Denken stehen in einem direkten Relationsverhältnis, wohingegen Sinn derart ‚außerhalb‘ dieses Verhältnisses zu stehen kommt, dass er die Verhältnismäßigkeit des Verhältnisses einer Begründung zuführt. Die Notwendigkeit, die Relation des Denkens zur Wahrheit zu begründen, bricht ihrerseits durch den prinzipiellen Zweifel auf, der an der Wahrheit als seinem bzw. dem Denken wesensmäßigen telos – und damit auch Ursprung – irre zu werden droht, weil er dieses Verhältnis zwar vorfindet, in das Prinzip der Selbstidentität des Denkens jedoch nicht widerspruchsfrei einzubringen vermag, weshalb das für den Zweifel selbst konstitutive Verhältnis zur Wahrheit in Frage gestellt werden muss. Zu garantieren vermag dieses bezweifelte Verhältnis nur ein Urteil, das in der Sphäre von Sinnhaftigkeit gefällt wird. Sinn seinerseits ist nun aber – wie bereits ausführlich erörtert – nicht an sich dem denkenden Zweifel evident zuführbar, weil auch der Sinn als potentiell externe Setzung dem Zweifel unterliegen muss, wobei dieses Vorgehen auch vom Zweifel selbst als sinnwidriges Unterfangen erkannt werden muss, weshalb Sinn durch die Sinnwidrigkeit von Sinnwidrigkeit nicht anders vom Zweifel rezipiert werden kann als in einer transzendentalen, ihn somit allererst ermöglichenden und setzenden nicht-gegenständlichen Instanz, die als Konstituens von Sinn überhaupt – und somit auch von Zweifel an Sinn – selbst nicht mehr vom Zweifel hinterfragbar ist. Somit gilt es, die oben aufgeworfene Frage nach der Deckungsgleichheit von Wahrheit und Sinn neben ihrer Bejahung insofern tendenziell zu verneinen, als Wahrheit und Sinn teleologisch distinkt verfasst sind, jedoch analog fungieren. Genau genommen setzt die Sinnsphäre früher, d.h. vor der Wahrheitssphäre, an, indem sie Wahrheit bzw. präziser gesprochen: das Verhältnis zwischen Denken und Wahrheit für das Denken einer Begründung zuführt. Damit ist ein Doppeltes für das Prinzipverständnis und seine Explikation bei Tillich ausgesagt: Zum einen ist Sinn die vorgängige Dimension im transzendentalen Geflecht gegenüber der Wahrheit; andererseits ist Sinn immer eine Kategorie, die vom Denken ausgeht und für das Denken fungiert, so dass Sinn allererst unter der Voraussetzung von Wahrheit bzw. von Wahrheit als dem Denken von Wahrheit anzuheben vermag. Sinn hat mithin eher statt als Wahrheit – und findet doch in der Wahrheit selbst sein vorausgehendes Konstituens. Wahrheit und Sinn stehen somit selbst in einem reziproken Verhältnis, das als solches

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Unbedingtes und Sinn

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unhintergehbar ist, weil es den bestimmten transzendentalen Charakter des jeweiligen Pendants erst konstituierend zur Geltung zu bringen vermag. Für Tillichs Prinzipkonzeption bedeutet dies, dass sich der Ansatzpunkt des Prinzips vorverlagert auf die Sinnsphäre, diese aber gleichzeitig ihre Explikation ausschließlich auf Basis der ihr nachgeordneten Wahrheitssphäre erfahren kann. Im Prinzip kommt es mithin zu einer Verschiebung dahingehend, dass das als insuffizient empfundene – und in seiner Anlage auch schon ambivalent verfasste – Wahrheitssystem von 1913 eine Präzisierung erfährt, die sich in einer sinntheoretisch verfassten Begründung der Wahrheit-Denken-Relation vollzieht, dabei jedoch konstitutiv angewiesen bleibt auf die wahrheitstheoretisch explizierten Grundlagen. Im Zuge dessen kommt es zu einer Neufassung der ‚alten‘ Begriffe insofern, als diese – zu denken ist in Sonderheit an die Begriffe von Wahrheit, Denken, Zweifel und Absolutes bzw. Gott – nun ihrerseits in ein Verhältnis mit der Sinnsphäre eintreten und daher ihre Definition stets im Rahmen der Relation zu Sinn selbst erfahren. Der Einblick in die Bezüglichkeit von Wahrheitskonzept und sinntheoretischer Präzisierung sei an dieser Stelle vorerst abgebrochen, weil er in seinen Grundfesten erklärt ist. Eine weitere Beschäftigung mit dieser Thematik7 gewinnt in vollständiger Tragweite erst endgültigen Charakter nach Erörterung der noch ausstehenden präziseren Fassung des Sinnkonzepts, der sich die folgende Darstellung widmet.

2.3.2 Individuelles Sein als aktualer Sinnvollzug Dem Sinn als transzendentaler Größe ist – soll er nicht dem jegliche Gegenständlichkeit in seinen Bann ziehenden Zweifel unterliegen – jedwede Form einer Eingliederung in die Subjekt-Objekt-Struktur des Denkens, mithin sein Status als Seiendes oder Sein, auch im pantheistisch gefärbten Sinne einer dem Seienden sein Sein verleihenden Größe, abzusprechen. Kurz gefasst ist diese Definition in Tillichs Identifikation des Sinns mit dem Unbedingten, das sich schon im reinen Wortverständnis jegliche Besetzung mit Objektivierbarkeit verbietet. Stets aber ist Sinn eine das Denken bzw. allgemeiner gesprochen: die Subjektivität betreffende und damit relationalkonkrete Größe, was schon oben angesprochen wurde, indem davon die Rede war, Sinn fungiere für das Denken. Hieraus folgt, dass der Sinnbegriff sich wesensmäßig auf Konkretes bezieht und deshalb die Sinntheorie Tillichs als erste Explikationsstufe auf dem Weg zu einer konkreten Umsetzung prinzipientheoretischer Erwägungen in die realiter verwertbare Form ————— 7

Vgl. dazu Kap. 2.4.

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des Systems ansichtig wird. Bisher wurde Sinn allerdings rein epistemologisch und damit abstrakt als „Sinn schlechthin“ (EW X, 219 Ts) vorstellig, der weder in Gegenständlichkeit noch in rein bezugsloser Transzendenz angeschaut werden darf. Nach Tillich ist es aber nun gerade nicht der „abstrakte Begriff […], der die Rechtfertigung trägt, sondern der Sinn, der sich dem erlebenden Ich paradox offenbart, der Sinn, der ein unbedingtes Ja und ein unbedingtes Nein gleichzeitig über den Zweifler bedeutet.“ (EW X, 219 Ts) Sinnvoll zu sprechen vom Sinnbegriff ist damit immer nur – und Tillich richtet sich dadurch an der Grundlinie seines Prinzipdenkens aus – im Rahmen von Rechtfertigung möglich; diese betrifft hinwiederum ausschließlich konkrete Entitäten, so dass die abstrakte Fassung des Sinnbegriffs nicht zur Lösung des mit dem Zweifel konkret gegebenen Rechtfertigungsproblems ausreicht. Vielmehr hat Sinn nur Berechtigung als vom Konkreten rezipierter – und muss deshalb auch vom Subjekt rezipierbar sein, was Tillich im Glauben ansetzt, der ja als Erfassung und Vollzug der Rechtfertigung definiert wurde: „Also nicht die abstrakte Erwägung, daß im Zweifel überhaupt ein Sinn vorausgesetzt ist, hilft weiter – sie ist noch Gesetz und kann erzwungen werden8 –, sondern nur die glaubensvolle, lebendige und persönliche Erfassung dieses Sinnes.“ (EW X, 219 Ts; Hervorhebung S.D.) Die Möglichkeit der Vermittlung von Sinn, wie er in Abstraktheit definiert wurde, mithin – was dasselbe bedeutet – die Vermittlung des Unbedingten bzw. des absoluten Paradoxes, gilt es zu eruieren. Den Bezug von abstrakter Sinnfassung auf konkrete Rezeption von Sinn erläutert Tillich im Bezug des Sinns zum Sein. Dabei unterscheidet er Sein in das „ontologische Sein, das Wertsein und das Ichsein“ (EW X, 220 Ts). In diesem Bezugsrahmen kann Sinn niemals – auch und gerade nicht absolut gefasst – als fixierter Ausgangspunkt fungieren, so dass für die drei Seinsformen die Bezeichnungen „absolut Seiende[s]“, „absolute[r] Wert“ und „absolute[s] Ich“ (EW X, 220 Ts) schlechterdings als thetisch und somit unter dem Zweifel stehend abgelehnt werden müssen. Das Unbedingte, welches identisch ist mit Sinn, bedeutet Tillich zufolge im Gegenteil, „daß alles Seiende in paradoxer Weise den Sinn ‚absolute Realität‘ in sich trägt, daß alle Werte in paradoxer Weise den Sinn ‚absoluter Wert‘ in sich tragen, daß alle Ichs in paradoxer Weise den Sinn ‚absolutes Ich‘ in sich tragen, also durch das Seiende hindurch als dasjenige, wovon das Seiende unbedingt vernichtet und zugleich zu unbedingter Realität erhoben wird, und durch die Werte hindurch als das, wovon die Werte unbedingt entwertet und zugleich zu absoluter Wertung erhoben werden, und durch das Ich hindurch als das, wovon das Ich unbedingt zermalmt und zugleich zu abso————— 8

Und ist als solche – um Tillichs Nomenklatur zu verwenden – ‚Werk‘.

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luter Bedeutung erhoben wird – so offenbart sich der Sinn schlechthin, das Unbedingte, das absolute Paradox.“ (EW X, 220 Ts; Hervorhebungen S.D.) Die realistisch anmutende Gedankenfigur, in der Tillich Sinnrealisierung beschreibt, bedeutet nun – dies gilt es als erstes festzuhalten –, dass auch die Explikation von Sinn unter dem steht, was Tillich als prinzipiellen Grundsatz schlechthin ansetzt: unter der Rechtfertigung. Egal auf welche Sphäre des Seins das Unbedingte bzw. der Sinn Anwendung findet – immer bedeutet es unmittelbar die Stellung dessen, wodurch Sinn zum Tragen kommt, unter das Doppelurteil von Bejahung und Verneinung im Rechtfertigungsakt. Insofern und Insoweit weicht Tillich nicht von seinem Rechtfertigungsverständnis und der 1913 vertretenen Relationskonzeption von absolut und konkret ab. Entscheidend ist nun aber wiederum das im neuen Konzept strictissime durchgeführte Verfahren, nicht von einer verobjektivierten Basis der transzendentalen Bezugsgröße auszugehen. Just deswegen kann Sinn nicht einfach als Thesis, die sich im Konkreten niederschlägt, verstanden werden – der Begriff des Realismus, wie er oben rein explikativ verwendet wurde, ist für Tillichs Überlegungen somit nicht statthaft –, sondern Sinn ‚ist‘ ausschließlich und notwendig nur in Form seiner Realisierung im Konkreten.9 Dies bedeutet allerdings nicht im Umkehrschluss, dass es die Wirkung sei, die von konkreten Entitäten ausgehe, die Sinn allererst konstituiere – eine solche Konsequenz ist ebenso abzulehnen wie eine absolute Ansetzung von Sinn, weil ansonsten Sinn wiederum eingeholt werden würde in die Sphäre der Gegenständlichkeit und dadurch automatisch dem Zweifel unterworfen wäre.10 Was Tillich meint, ist die schon bekannte Form des Sinns als einer sich in Jenseitigkeit von Gegenständlichkeit und Nicht- oder: Über-Gegenständlichkeit bewegender. In seinem Brief vom 9. Mai 1918 an Emanuel Hirsch formuliert Tillich dies treffend, indem er schreibt, er „lehre also den Monismus des Sinnes, der sich nach zwei Seiten den Widersinn, das Irrationale entgegensetzt, das Sein und das Übersein!“ (EW VI, 127) Richtig verstandener Sinn ist mithin weder Sein ————— 9

Vgl. dazu auch Tillichs erhellende Unterscheidung von Sinnform und Sinngehalt in seiner ‚Religionsphilosophie‘ von 1925: „Wenn wir die Besonderungen des Einzelsinns und aller Einzelzusammenhänge bis hin zu dem universalen Sinnzusammenhang Sinnformen nennen, so ist im Verhältnis zu ihm der unbedingte Sinn als Sinngehalt zu bezeichnen. Unter Sinngehalt verstehen wir also nicht den Bedeutungsgehalt des einzelnen Sinnvollzuges, sondern die Sinnhaftigkeit, die jedem Einzelsinn Realität, Bedeutung, Wesenhaftigkeit gibt.“ (GW I, 319) 10 Absoluter Sinn nach dem obigen Verständnis ist nach Tillich genauso getragen von dem unbedingten Sinn, um den es hier geht, wie der einzelne Sinnakt. Dies verdeutlicht Tillich in seinem Vortrag ‚Kirche und Kultur‘ von 1924: „Der unbedingte Sinn aber, auf den jeder Sinnakt in schweigendem Glauben gerichtet ist und der das Ganze trägt, der es vor dem Sturz in das Nichts der Sinnleere schützt, ist in sich doppelseitig: er trägt den Sinn jedes einzelnen Sinnes sowie den Sinn des Ganzen.“ (GW IX, 34)

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noch befindet er sich in einem Status, der sich in reiner Transzendenz dem Sein gegenüber erschöpft. Es handelt sich um ein ‚sowohl – als auch‘ und gleichzeitig um ein ‚weder – noch‘. Sinn lebt also in dem Punkt der Realisierung seiner selbst, in dem er weder als externe Absolutheitskategorie für das subjektive Selbst noch als bestimmtes, von Subjektivität kreiertes Sinnprodukt, d.h. als Wirkung von transzendentem Sinn in Form der Transformation ins Konkrete durch das Subjekt, in Erscheinung tritt. Im ersten Fall wäre Sinn nur abstrakt gefasst und trotzdem und gerade als solcher für das Subjekt nur greifbar im Zustand externer Objektivierung; im zweiten Fall handelt es sich nicht mehr um Sinn im eigentlichen Verständnis, sondern bestenfalls um Sinnwirkung, die als solche stets konkret verfasst notwendig dem Zweifel unterliegt. Der Ort von Sinn ist eben seine Realisierung selbst, d.h. sein Vollzug im Rahmen der Selbstbestimmung von Subjektivität zwischen Vermitteltsein und Unmittelbarkeit.11 Wahrhaft erfasst ist die Bedeutung von Sinn erst, wenn sein transzendentaler Status und seine Realisierung nicht widersprüchliche Momente darstellen, sondern im Koinzidenzpunkt sich in Vermittlung selbst setzender Subjektivität zusammenfallen – und erst sekundär, gewissermaßen post-subjektiv, also im Da-Sein echter Subjektivität in die beiden – dann ob der Subjekt-Objekt-Struktur widerstrebenden – Momente von Konstitution und Realisation zerlegt werden.12 Auch die konkrete Fassung von Sinn bzw. Unbedingtheit hat mithin anzuheben bei der gleichzeitigen Nicht-Konkretheit wie Nicht-Absolutheit von Sinn bzw. Unbedingtem. Doch auch diese Form der Konkretisierung ist für das Subjekt noch als unterbestimmt zu kategorisieren, weil echte Konkretheit immer auch den Einschluss in die Sphäre der Spaltung von Subjekt ————— 11

Analog argumentiert Christian Danz, dem zufolge „gerade der Vollzug des Zweifels eine ihm selbst entzogene Positivität zum Vorschein bringt.“ (Danz, Geschichtliche Offenbarung, 181) Genau diese Positivität nun „nennt Tillich das Unbedingte und identifiziert es mit der Sinnsphäre.“ (Ebd.) Auch bei Danz ist es mithin der Selbstvollzug von Selbstheit, deren schlechthinniges Signum der Zeifel darstellt, wodurch das, was Sinn in seiner Unbedingtheitsdimension konstituiert, allererst und einzig zu erfassen ist. Eine ähnliche Fassung religiösen Vollzugs erkennt Christian Danz bei Martin Heidegger (vgl. Danz, Existenz, passim). 12 Die Ausführungen könnten den Anschein erwecken, Tillich mache den Sinnbegriff bzw. den Begriff des Unbedingten abhängig vom Selbstvollzug des Individuums, weil nur hier von Sinn gesprochen werden könne. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, dass die Perspektive, aus der die Betrachtung erfolgt, die der zweifelnden Subjektivität ist. Von deren Basis aus kann Sinn niemals anders erfasst werden, als in der von Tillich dargestellten Weise – wie Sinn demnach unter Absehung subjektivitätstheoretischer Implikationen zu denken wäre, kommt für den Tillich von 1919 – und genau hierin liegt der Unterschied zu 1913 – nicht mehr in Frage, weil ein solches SichErheben auf einen absoluten Standpunkt unter vollständigem Ernstnehmen des subjektiv-konkreten Standpunkts schlechterdings unmöglich ist, da andernfalls einerseits der absolute Standpunkt sofort in eine unter dem Zweifel stehende Thesis umschlagen würde und andererseits Subjektivität allererst die Möglichkeit haben müsste, sich über ihre transzendentalen Voraussetzungen zu erheben – was ihr schlechthin abzusprechen ist.

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und Objekt voraussetzt, die automatisch wieder in den Bereich des Zweifels fällt. Festzuhalten bleibt aber, dass auch die konkrete Umsetzung von Sinn sich nicht anders expliziert als der Sinn in seinem transzendentalen Status.13 Sinnvollzug im Subjekt und Sinn im Verständnis einer transzendenttranszendentalen Größe stellen mithin keinen Widerspruch, sondern die einzig mögliche Fassung von Sinn selbst dar. Für das denkende Subjekt ist damit noch nicht das erreicht, was für die Rezipierbarkeit von Sinn nötig ist, nämlich Konkretheit. Daher setzt auch jede Fassung von Sinn und Sinnvollzug notwendig mit einer Verobjektivierung an, indem der Akt der Sinnrealisierung im Subjekt selbst „irgendeine Art Personifizierung des Sinnes voraussetzt.“ (EW X, 221 Ts; Hervorhebung S.D.) Das, wovon subjektsverorteter Sinnvollzug anhebt, ist von Seiten der Instanz, durch die Sinn sich realisiert, mithin das es selbst seiende Subjekt, nicht anders denkbar, als dass der Ursprung von Sinn verobjektiviert wird, wodurch der Sinn schlechthin „Seinsgestalt an[nimmt], ohne je als seiend gedacht werden zu dürfen“, weil unabwendbar „die Notwendigkeit einer anschaulichen Erfüllung des abstrakten Sinnbegriffs“ besteht (EW X, 221 Ts). Von grundlegender Bedeutung ist dabei, dass Sinn – sei es nun die transzendente Form des Sinns oder seine oben explizierte Realisierung im Zentrum der Genesis von Subjektivität – nun zwar einer sekundären Verobjektivierung zugeführt wird, weil anders die Konkretheit absoluter Paradoxie nicht für das Konkrete einholbar ist, diese aber immer und ausnahmslos als nichtseiend, d.h. als nichtgegenständlich, zu denken ist, weil ansonsten Sinn selbst wiederum dem Zweifel verfällt, was seinem Wesen schlechterdings widerspricht. Die letztlich doch stattfindende Überführung von Sinn in Gegenständlichkeit ist jedoch nicht gewissermaßen ein unstatthafter Schritt Tillichs, um sein absolutes Paradox aus der Abstraktheit herabzuziehen ins Konkrete; vielmehr ist die – wohlgemerkt nur denkerisch vollzogene – Verobjektivierung des Nicht-Verobjektivierbaren mit der Faktizität von Subjektivität überhaupt uno eodemque actu gegeben. Dies gilt nicht nur für die sinntheoretische Explikation des absoluten Paradoxes, sondern bereits für die rein rechtfertigungstheoretisch ausgeführte epistemologische Basis des absoluten Paradoxes, weil schon im Glauben als dem Akt der Bejahung und damit des Voll————— 13

Auch hierin findet das Sinnkonzept von 1919 sein Analogon in der Wahrheitstheorie von 1913, in der Absolutheit und Konkretheit nur abstrakte Verabsolutierungen der Rechtfertigung darstellten. Freilich ist das Konzept nicht direkt übertragbar, weil 1913 noch stärker von den beiden Polen als echte Setzungen und somit ‚Seinszustände‘ des Absoluten – wenn auch mit höchster Vorsicht! – gesprochen werden könnte, die Sinntheorie das Unbedingte hingegen ausschließlich im Überschlagspunkt zwischen beiden Polaritäten, die beide für das Denken als bezweifelte Objekte entlarvt sind, verortet, so dass von einem Sein im Sinne eines Auftretens von Sinn nur in genau diesem Punkt zu sprechen statthaft ist.

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zugs der Rechtfertigung unabwendbar das Moment subjektiver Konkretheit konstitutiver Bestandteil ist, so dass Glaube niemals unter Absehung von Gegenständlichkeit, die allein mit dem Subjektsein des den Glaubensakt Vollziehenden schlicht faktisch ist, vorstellig werden kann.14 Es wäre somit schon an sich falsch, Glauben als Rechtfertigungsvollzug in abstrakter Absolutheit schweben lassen zu wollen, weil dies dem Zentrum jenes Vollzugs zuwider läuft. „Es gibt keinen Glaubensakt, der als empirischer Vorgang nicht bedingt wäre, und [er ist] nur in, mit und unter dieser Bedingtheit.“ (EW X, 225 Ts; Konjektur in der Edition) Auch Sinnvollzug – und dabei handelt es sich ja, wie gesehen, um die einzige Fassung, die vom Sinn ausgesagt werden kann – hat demnach stets und ausnahmslos unter Einschluss des Moments der Konkretheit bzw. Bedingtheit statt, weil diese automatisch mit der Entität, in deren Selbstvollzug sich Sinnvollzug allererst realisiert, verbunden ist. Die Konkretisierung des an sich nichtkonkretisierbaren Sinns ist jedoch nicht nur gegeben in der Konkretheit seines Vollzugspunkts, dem Subjekt, sondern muss auch direkt in der Hypostasierung der drei oben distinguierten Status des Seins ansetzen. In Anlehnung an das reformatorische Glaubensverständnis als einer „fiducia erga deum“ (EW X, 220 Ts) ist Glaube – auch und gerade als Vollzug von Rechtfertigung – immer teleologisch verfasst und richtet sich darob in Tillichs Konzeption auf den Gott über Gott, der als nicht-objektive Instanz die Rechtfertigung gewissermaßen in ‚gottloser‘ Form garantiert. Nichtsdestoweniger kann Teleologie unter raumzeitlichen Bedingungen nicht anders verstanden werden als im persönlichen Gegenüber, das allerdings der Subjekt-Objekt-Struktur unterliegt, weshalb Sinn bzw. das Unbedingte nicht überführbar ist in Persönlichkeit, jedoch nicht anders vorgestellt werden kann als in ihr. Für das Sein bedeutet dies nach Tillich, dass der Vollzug von Sinn in der oben geschilderten abstrakten Fassung notwendig der „inhaltliche[n] Färbung“ (EW X, 220 Ts) bedarf, was letztendlich eine Hypostasierung zur Konsequenz zeitigt, die allerdings nicht als Identifikation des Sinns mit einem Seins-Status missinterpretiert werden darf. Entsprechend der drei Seins-Status nimmt der Sinn im Rahmen seines Vollzugs „für das Bewußtsein die Züge des absoluten Seins, des absoluten Wertes, des absoluten Ichs an. Es [sc. das Sinnerlebnis] wird nicht zu diesen dreien oder ihre Einheit; denn dann wäre ja an Stelle des Glaubens die Metaphysik getreten. Aber das Bewußtsein kann nicht ————— 14

„Andererseits kann das absolute Paradox nicht anders in das Bewußtsein treten als durch bestimmte Vorstellungen, Willens- und Gefühlsbewegungen. Es ist also in der primären Erfassung des Paradox, in dem absoluten Glaubensakt, schon ein Moment der Relativität enthalten.“ (EW X, 225 Ts)

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umhin, das Unbedingte in diesen drei Formen zu hypostasieren.“ (EW X, 220f Ts) Worauf Tillichs Argumentation hinauslaufen soll, ist damit noch etwas unscharf gezeichnet, weil nicht klar ersichtlich ist, wie diese Mittelstellung zwischen Absolutheitsimplikation des Sinns und ihrer Anschauung in der konkreten Hypostase vorstellig werden soll. Doch just die hier so bezeichnete Unschärfe ist argumentatives Ziel der Tillich’schen Darstellung, wenn er – wie bereits an anderer Stelle zitiert – „ein Schweben zwischen Anschauung und Begriff“, mithin ein „Oszillieren“ (EW X, 221 Ts) zwischen beiden Ebenen anstrebt.15 An dieser Stelle steht Tillich somit erneut in seinem Grundmuster eines reziproken Bezugs von abstrakter Absolutheit und relativer Konkretheit – nur wird diesmal nicht versucht, das Verhältnis beider Pole wiederum einer Hypostasierung im Begriff des ‚absolut Absoluten‘ als der Synthesisinstanz schlechthin zuzuführen, sondern die Synthese als nach wie vor in Mannigfaltigkeit verschiedener Einheit wird jetzt im Vollzug von Subjektivität selbst ansichtig. Damit aber wird die Hypostasierung zum notwendigen Postulat nicht-hypostasierbaren Sinns, weil nur so der subjektive Vollzug von Sinn einer echten Anschauung zugeführt werden kann. Tillich bewegt sich hier deutlich „zwischen Neukantianismus und Phänomenologie“16, indem er beide Momente – Absolutheit und Subjektivität – in sein Konzept integriert. Die Verobjektivierung des Sinns bzw. des Unbedingten in Hypostasen mit Absolutheitsimplikat gelten nun als „Offenbarungen […] für die Lebendigkeit und Konkretheit des absoluten Paradox.“ (EW X, 221 Ts) Zu bestimmen bleibt aber noch, ob die hier von Tillich als Offenbarung bezeichnete Wirkweise der Hypostasierungen ausschließlich als sich folgerichtig aus dem Wesen des Paradoxes ergebende Konsequenz zu charakterisieren ist oder ob den Hypostasierungen von sich aus konstitutive Bedeutung für das absolute Paradox zugesprochen werden darf oder gar muss.17 ————— 15

Diese Ansicht auf den Religionsbegriff bezogen teilt auch Jörg Lauster: „Die Stärke dieses Religionsbegriffs liegt m.E. damit gerade in dem, was als Unschärfe kritisiert wurde.“ (Lauster, Religion, 73) 16 So deutet dies bereits der Untertitel von Michael Moxters Beitrag an (vgl. Moxter, Intuitionismus, 173). 17 Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als Tillich in seinem Konzept vor dem ersten Weltkrieg ja auch die Christologie als konkreten Part des Systems mit konstitutiver Bedeutung für das Gesamtsystem besetzt. Es schließt sich somit an die Beantwortung der Fragestellung nach der konstitutiven Funktion der Hypostasierungen unmittelbar die Frage an, welche Funktion der Christologie noch zukommen kann. An dieser Stelle ist auch wieder die Wenz’sche Kritik am Christologiekonzept Tillichs (vgl. Kap. 1.3.2.1 und 1.3.2.3) aufzugreifen, weil eben diese Fragestellung und die ‚Herabstufung‘ der Person Jesu Christi zu einem Symbol unter anderen – und genau dies wäre der Christus Jesus, käme der Christologie als Konkretion keine konstitutive Bedeutung mehr zu – das entscheidende, zu diskutierende Problem schon in der frühesten Theologie Tillichs darstellte.

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Dies lässt sich erst in der Zusammenführung der beiden bisher – so weit als möglich – getrennt verhandelten Phänomene von Sinn als absoluter, d.h. transzendent-transzendentaler, Größe und Sinn als Vollzug, d.h. als subjektivitätstheoretische Einholung des absoluten Sinns, der notwendig sekundäre Verobjektivierung anwest, klären.

2.3.3 Die unhintergehbare Polarität von absolutem Sinn und aktualem Sinnvollzug Auf die wechselseitige Dependenz zwischen absolutem Sinn und seiner Explikation im Vollzug des Subjekts wurde bereits mehrfach verwiesen; dass es sich hierbei um echte Reziprozität handelt und handeln muss, ergibt sich schon daraus, dass eine reine Deduktion von der Absolutheit des Sinns hin zu seinem konkreten Vollzug unweigerlich das Problem der thetischen Ansetzung von Sinn mit sich brächte und auf die als kritisch erkannten Tendenzen des Systems von 1913 zurückfallen würde.18 Umgekehrt schließt Tillich gleichfalls ein gewissermaßen induktives Vorgehen aus, weil jenes seinerseits die zweifelnde Subjektivität selbst zum leitenden Moment und somit zum Prinzip erheben würde, was sich schon ob der erkannten Bedingtheit jedweder subjektiven Verfasstheit verbietet. Trotz des zweiten Einwands ist der Zweifel von Tillich als uneliminierbares Phänomen denkenden Seins erkannt worden, so dass ein Zurück hinter die Subjektivität schlechterdings unmöglich ist.19 Subjektivität hat somit zwar nicht zum Prinzip, wohl aber zum Modus zu werden, in dem sich die systematische Entfaltung des weder absolut noch subjektiv verortbaren Prinzips vollzieht.20 Damit ist gleichzeitig aber auch die Notwendigkeit, sich in explikativer Hinsicht der Subjekt-Objekt-Struktur zu bedienen, ausgesagt, wodurch die eben geschilderten Verobjektivierungen des Sinnvollzugs – abstrakt wie ————— 18

So auch Christian Danz, Jesus Christus als Mitte der Geschichte. Die geschichtsphilosophischen Grundlagen von Paul Tillichs Christologie, in: Peter Haigis/Gert Hummel/Doris Lax (Hg.), Christus Jesus – Mitte der Geschichte!? Beiträge des X. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/Main 2004. Christus Jesus – the Center of History!? Proceedings of the X. International Paul-Tillich-Symposium Frankfurt/Main 2004 (Tillich-Studien, Bd. 13), Berlin 2007, 142–154, hier: 146. Gegenüber der früheren Konzeption Tillichs ist nun eben „die inhaltliche Bestimmtheit des Geistes kein bloßes Durchgangsmoment mehr, sondern die Konkretheit ist die notwendige und für den Geist selbst unhintergehbare Form geschichtlicher Sinnerfassung.“ (Ebd.) 19 Denn „zurück geht es nicht. Ist die Subjektivität einmal als solche entbunden, so kann sie mit der ihr immanenten Unendlichkeit nicht mehr vernichtet werden, es sei denn durch das physische Sterben eines Kulturkreises.“ (EW X, 204 Ts) 20 So auch Folkart Wittekind, sinntheoretische Umformulierung, passim, auch wenn er Subjektivität noch vor dem Zweifel als neues Agens in Tillichs Prinzip bestimmt.

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konkret – ihre systematische Begründung und Berechtigung erfahren. Ist nun aber diese rein in der Konsequenz aus dem Prinzip sich modal ergebende Verobjektivierung wiederum konstitutiv für das Prinzip selbst? Oder anders gefragt: Dürfen Folgen systematischer Explikation nicht nur rückwirken auf die sie allererst in Gang setzenden prinzipiellen Prämissen, sondern an diesen Prämissen sogar selbst konstitutiven Anteil haben? Auch hier lässt sich eine Antwort nur in Form eines Nein und eines Ja geben. Kategorisch negiert werden muss der Anspruch der sekundären Verobjektivierung bzw. Verobjektivierungen, nun selbst Absolutheit im Sinne unbezweifelbar wahrer Setzung zu sein. Damit lehnt Tillich sowohl die Unbedingtheit von Einzelheit per se – als stets vermittelte und nicht unmittelbar selbstidentische – als auch die von kollektiver Einzelheit, mithin allem Bedingten, ab. Das absolute Paradox als Inbegriff der Rechtfertigung untersagt die Absolutsetzung von Bedingtem, weil alles, was bedingt ist, seinerseits unter der Rechtfertigung zum Stehen kommt. „Damit fallen auch Begriffe wie Absolutheit des Christentums hin.“ (EW X, 226 Ts) Es käme einer Verletzung der Unbedingtheit des Unbedingten gleich, würde Bedingtes an seine Stelle treten können.21 Dieses Nein zur absoluten Ansetzung von etwas Bedingtem heißt aber nicht automatisch, dass das Bedingte in einer Distanz zum Unbedingten stehen würde, die sich ausschließlich in Trennung und nicht auch in Reziprozität explizieren kann. Denn – wie gesehen – „wird das Unbedingte gemeint durch bedingte Vorstellungen hindurch“, ja es ist notwendig, dass „in einem System das absolute Paradox lebendig hindurchschwingt“ (EW X, 225 Ts). Lebendigkeit kann aber nicht ausgesagt werden von einem abstrakt anzusetzenden Unbedingtheitsbegriff, so dass letztgenannter in gleicher Weise zu negieren ist wie die unstatthafte Ansetzung von Bedingtem als Unbedingtes. Die notwendige Negation beider Momente – gemeint ist die Verabsolutierung von Bedingtem sowie die Abstrahierung von Unbedingtheit – führt aber gleichzeitig zur Neudefiniti————— 21

„Ob es darum Luthertum oder Katholizismus, Papst oder Konzilien, Bibel oder historischer Jesus, religiöses Bewußtsein oder spekulatives System, Christentum oder Monotheismus heißt, das absolute Paradox, die Unendlichkeit des Zweifels, die der notwendige Ausdruck ist für die Unbedingtheit des Unbedingten, verbieten die Anwendungen des Begriffes ‚absolut‘. […] Die Kirche steht unter der Rechtfertigung, nicht über ihr, und mit ihr Bibel und Offenbarungsträger.“ (EW X, 226 Ts) Dieselben Sätze könnten sich auch in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ finden, in der es in gleicher Weise Ziel ist, Absolutheitsansprüche des Relativen – später wird Tillich in diesem Zusammenhang von ‚Dämonisierung‘ sprechen – abzuwehren. Der Unterschied besteht allerdings wiederum darin, dass das Absolute begrifflich anders gefasst und eben noch tendenziell thetisch verstanden wird. Dies tut dem Verhältnis von wahrhaft Absolutem und Relativem keinen Abbruch darin, dass das Relative oder Bedingte niemals mit dem Signum der Absolutheit belegt werden darf – auch wenn 1919 das Absolute nicht mehr unter Absehung seiner konkreten Erscheinung zu thematisieren ist.

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on des Absolutheitsbegriffs, der in der Bejahung der Absolutheit von Bedingtem in bestimmtem Sinne und zur Abstraktheit von Unbedingtem in bestimmtem Sinne mündet: Bedingtes ist niemals absolut in der Weise thetischer Setzung, aber Unbedingtheit braucht „ein Konkretes, durch das hindurch sie […] erfaßt“ (EW X, 227 Ts) werden kann, so dass die Unbedingtheit des Unbedingten systematisch nur via ihrer Explikation im Bedingten realiter zum Tragen kommt. Damit ist freilich auch das oben Konstatierte ausgesagt, nämlich dass dies nur für die Subjektivität als Modus der Prinzipentfaltung gilt. Dieser Ansatz erweist sich aber als berechtigt darin, dass Subjektivität unhintergehbar faktisch ist und somit den einzig wahrhaft möglichen Explikationsort für das Unbedingte darstellt.22 Kurz gesagt: Für die Subjektivität müssen beide Pole – Unbedingtes und Bedingtes – als reine Abstraktionen erscheinen, ohne dabei den Anspruch erheben zu können, selbstmächtig suffizient zu sein für das, was sie wesensmäßig sind. Das der Subjektivität anwesende Denken ist als solches ausgezeichnet durch die Trennung von Subjekt und Objekt im Denkakt selbst, ja von Denken kann nicht die Rede sein abgesehen von dieser Trennung. Unter eben dieser Prämisse sind die sekundären Verobjektivierungen, die sich aus der Prinzipanlage genetisch ergeben, für das erkennen wollende Denken notwendiges Anschauungsmaterial. Somit ist Objektivation zwar noch nicht als konstitutiv für das Prinzip selbst, aber doch für die Erkenntnis des Prinzips erwiesen. Dies sei als erster Schritt zur positiven Beantwortung der obigen Frage festgehalten. Tillich betont die Wirkung des Unbedingten durch das Bedingte hindurch und hebt damit den Mediumscharakter, der der Bedingtheit in dieser Konzeption zukommt, dezidiert hervor.23 Kann somit zwar potentiell alles, was zur Sphäre des Bedingten gehört, Ort der Wirkung bzw. präziser ge————— 22

Alles andere wäre ein spekulatives Unterfangen, das mit der Unausscheidbarkeit der Subjektivität, die ja ihrerseits auch die Spekulation selbst aus sich heraussetzte, notwendig dem Zweifel unterliegt. 23 Dass sich aus diesem Konzept dann konsequent die mit Tillich so eng verbundene Symboltheorie herleitet, bedarf kaum der Erwähnung. So findet der Symbolbegriff auch in der Manuskriptversion von ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ wohl erstmals Erwähnung im Werk Tillichs: „Sobald sich das Bewußtsein aber auf die Stufe des radikalen Zweifels erhoben hat, können jene Vergegenständlichungen in ihrer unreflektierten Anschaulichkeit nur als Symbole gelten für die Lebendigkeit und Konkretheit des absoluten Paradox. Auf dieser Stufe kann das Bewußtsein jene Symbole nur gebrauchen unter ständiger Erinnerung an ihren symbolischen Charakter und den Sinn, den sie zwar anschaulich und lebendig, aber doch inadäquat ausdrücken.“ (EW X, 172f Ms) Vgl. hierzu Christian Danz, Symbolische Form und die Erfassung des Geistes im Gottesverhältnis. Anmerkungen zur Genese des Symbolbegriffs von Paul Tillich, in: ders./Werner Schüßler/Erdmann Sturm (Hg.), Das Symbol als Sprache der Religion (Internationales Jahrbuch für die TillichForschung. International Yearbook for Tillich Research. Annales internationales de recherches sur Tillich, Bd. 2/2006), Wien/Berlin 2007, 59–75.

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sprochen: des Auftretens des Unbedingten überhaupt werden,24 so muss diese Möglichkeit doch eine Beschränkung erfahren, um nicht Willkür zu werden, was nichts anderes hieße, als dass eben das Unbedingte einseitig abhängig gemacht wäre vom bedingten Ort seiner Realisierung. Damit dies nicht geschieht, muss diejenige Bedingtheit, die Ort des Unbedingten wird bzw. werden kann, ein Kriterium erfüllen: sie muss unter der Rechtfertigung stehen, d.h. das bedingte Einzelne „muß nun einerseits das negative, andererseits das positive Urteil des Absoluten über sich tragen. Es muß von ihm zugleich verneint und bejaht werden.“ (EW X, 227 Ts) Exakt dieselbe Themenkonstellation begegnete bereits bei Tillichs Thesenreihe zum historischen Jesus von 1911; auch jetzt setzt Tillich ein aus dem Prinzip gewonnenes Kriterium zur Beurteilung einer Vermittlungsinstanz an. Für das Konzept von 1911, das sich gleichfalls im System von 1913 findet, wurde – bei der Konstatierung aller möglichen Problem- und Aporiequellen – die notwendige wechselseitige Verwiesenheit von abstraktem Prinzip und seiner Konkretisierung mit Nachdruck aufgezeigt und erörtert.25 An dieser Interpretation von Tillichs Ansatz muss auch für den Entwurf ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ und die gesamte sinntheoretische Konzeption Tillichs festgehalten werden, sofern das explizierte System nicht zu Willkür depravieren soll.26 Die skizzierte Ansetzung eines prinzipverhafteten Kriteriums zur Überprüfung des Konkretisierungspunkts auf dessen Wahrhaftigkeit hin setzt bei genauer Betrachtung eine doppelte Verobjektivierung voraus: Nicht nur der bedingte Realisierungsort des Unbedingten, sondern in glei————— 24

Andernfalls wäre das Unbedingte an das Bedingte gebunden, was seiner Unbedingtheit zuwiderliefe. Vgl. dazu auch Worte des späten Tillich in seiner Rede ‚Grenzen‘ anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 1962: „Kein Endliches kann seine Endlichkeit zum Unendlichen hin überschreiten. Aber etwas anderes ist möglich: Das Unendliche kann von sich aus seine Grenze zum Endlichen überschreiten. Es wäre nicht das Unendliche, wenn das Endliche seine Grenze wäre.“ (GW XIII, 428) Vgl. dazu auch Gerhard Wehr, Paul Tillich, 24 (mit falschem Zitatbeleg bei Wehr). 25 Setzt man diese Reziprozität nicht an, so muss der Kritik von Gunther Wenz, Subjekt, passim, uneingeschränkt zugestimmt werden. Vgl. dazu im Detail Kap. 1.3.2.3. 26 Dies hält Tillich in seiner Berliner Vorlesung ‚Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart‘ von 1919 auch selbst in prinzipientheoretisch-methodischer Hinsicht fest: „Ich möchte für [sic!] dieses Prinzip, das einerseits auf dem Boden des Christlichen erwachsen ist, andrerseits Anspruch darauf macht, Erfüllung der religiösen Idee überhaupt zu sein, theologisches Prinzip nennen. Es werden mit dieser Bezeichnung beide Einseitigkeiten vermieden. Spräche ich vom christlichen Prinzip, so könnte es den Eindruck machen, als sollte ein historisches Urteil ausgesprochen werden; aber gerade auf das systematisch-Normative kommt es an. Nennte ich es religiöses Prinzip, so entstünde der Eindruck eines formalen religionsphilosophischen Begriffs, der jenseits jeder Normierung läge, etwa eines religiösen Apriori im Sinne der Kantianer. Die Einheit aber des normativ-Allgemeingültigen mit dem lebendig-Konkreten möchte ich in dem Wort ‚theologisch‘ wiederfinden. Denn Theologie ist meiner Überzeugung nach normativ gewandte Religionsphilosophie“ (EW XII, 40).

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chem Maße das, was sich zu realisieren anschickt, das Unbedingte selbst, muss konkret gedacht werden. Damit hat aber eine gegenläufige Bewegung statt, indem einmal etwas Bedingtes durch seinen medialen Charakter Ort des Unbedingten, und zwar – so wird nicht anders zu sagen sein – konkreter Ort des Unbedingten wird, und zum anderen das Unbedingte selbst wiederum als in irgendeiner Form vor seiner Realisierung ‚seiend‘ angesetzt werden muss, um von ihm eine Konkretisierung aussagen zu können. Inwiefern und inwieweit lassen sich diese beiden Verobjektivierungen nun aber als konstitutiv für das Prinzip selbst bewerten? Das Prinzip selbst ist als in paradoxaler Struktur vorstelliges – so wurde bereits weiter oben festgehalten – in Reinheit im Glaubensakt selbst zu verorten und beinhaltet wesensmäßig nichts anderes als das rechtfertigende Ja und Nein über das zweifelnde Subjekt. Der Zweifel selbst ist hier Modus der Sinnerfassung. Die Konkretisierung des Prinzips hingegen macht ihrerseits nichts anderes ansichtig als gleichfalls die absolute Affirmation und die absolute Negation des Konkreten bzw. Bedingten, die in der Rechtfertigung enthalten ist. Hierbei ist nun das Bedingte der Modus der Erfassung des Unbedingten. In beiden Fällen ist es der Glaube, der sich – als Vollzug der Rechtfertigung – auf das Paradox selbst richtet, das erste Mal durch den Zweifel an jedweder abstrakten Verobjektivierung hindurch, das zweite Mal durch den Zweifel an der Wahrhaftigkeit des angeschauten Konkreten hindurch. Ob das Prinzip nun in Abstraktheit oder in Konkretheit angesetzt wird, ist demnach gleichgültig für den Grad an Verobjektivierung, weil mit dem Glauben als Vollzugselement der Subjektivität ein immer enthaltenes Moment an Konkretheit bzw. Bedingtheit anzusetzen ist. In welcher Form die Objektivation auftritt, ist bestenfalls als sekundär zu klassifizieren. Entscheidend kommt hinzu, dass in der hier vertretenen Tillichinterpretation auch schon für die ‚Systematische Theologie von 1913‘ nicht von einem abstrakten, vom Subjekt selbst spekulativ – d.h. in diesem Fall: willkürlich – entworfenen Prinzip auf der einen und einer konkreten Fassung des Prinzips – zu denken ist selbstverständlich an die Christologie – auf der anderen Seite ausgegangen wurde, sondern die Momente von Absolutheit und Konkretheit auch hier bereits für beide Pole als in Anspruch zu nehmen festgestellt wurden, so dass nicht einfach das konkrete Moment seine Geltung vom absoluten Moment und auch nicht umgekehrt das absolute Moment von der reinen Positivität des konkreten Moments seine Wahrhaftigkeit erfahren kann. Es wurde daher eine Doppelpolarität von absolut und konkret in beiden Polen angesetzt, die ihre Vermittlung in Reziprozität empfangen.27 Die identische Konstellation findet sich auch in Tillichs sinn————— 27

Vgl. Kap. 1.3.2.3.

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theoretischer Explikation des Prinzips, indem die Doppelpolarität zwischen dem glaubenden Subjekt als dem genuinen Prinzipvollzug und der sekundären Form der Objektivation, die aber auch nicht anders zu denken sein wird als in Form einer konkreten, momenthaften Ausprägung des Prinzips selbst, anzusetzen ist. Mit dem Wegfall der tatsächlichen Ansetzung von absoluter wie konkreter Ausprägung des Prinzips als thetisch findet nun ein brennglasartiges Zusammenziehen der Verobjektivierungen zu ‚beiden Seiten‘ des glaubenden Subjekts – auf der einen Seite die abstrakte Absolutheit, auf der anderen Seite die konkrete Absolutheit – auf den Genesepunkt des Subjekts selbst statt.28 Das heißt nichts anderes, als dass die in jeder der beiden Objektivationen enthaltene Polarität von absolut und konkret in ihrer Doppelstruktur hinstrebt auf den Mittelpunkt zwischen den Objektivationen und dort gewissermaßen mit der Polarstruktur der anderen Objektivation verschmilzt. Dieser einzige Punkt, an dem sich Unbedingtheit vollzieht, ist damit in Tillichs sinntheoretischer Formulierung des Prinzips als solcher erkannt – die Objektivationen, die sich mit ihm verbinden, können aber ihrerseits insofern konstitutiven Anspruch erheben, als ohne sie ein Denken des Prinzips als paradoxes ausgeschlossen wäre, weil unter Wegfall der Objektivationen das Prinzip selbst wiederum zur rein spekulativen Thesis depravieren würde. Das Oszillieren zwischen Jenseitigkeit von Gegenständlichkeit und Nicht-Gegenständlichkeit auf der einen und Gegenständlichkeit auf der anderen Seite ist in seiner Polarität, die unwahr wird, sobald ein Pol als der alleinbestimmende hervortritt und ein sofortiges Umschlagen hin zum anderen Pol zeitigt, konstitutiv für das absolute Paradox, das eben in diesem Schwebezustand sein Wesen hat. Theologisch zeitigt die nie aus dem Prinzip gänzlich herauslösbare Diskussion um die Verobjektivierungen des absoluten Paradoxes zur Folge, dass aus kirchlicher Perspektive die absolute Paradoxie, mithin die „Doppelheit“ von Bejahung und Verneinung, anschaulich wird nur „im Christus, in ihm ist der Kirche die konkrete Erfüllung des absoluten Paradox gegeben“; jedoch – so fügt Tillich unmittelbar an – „steht auch er als ein Relatives, Gegenständliches unter dem Zweifel.“ (EW X, 227 Ts) Relativität als solche – und darunter ist auch die Person Jesus von Nazareth zu zählen – ist ————— 28

Zu demselben Ergebnis die Sinntheorie betreffend kommt Christian Danz, der für die Christologie dann aussagen kann, sie expliziere „nicht den Gegenstand des Glaubens, sondern ist eine reflexive Beschreibung der Selbsterfassung des inneren Selbstverhältnisses des Geistes in seiner geschichtlichen Bestimmtheit.“ (Danz, Jesus Christus, 151; Hervorhebung S.D.) Als ‚reflexive Beschreibung‘ dessen, was faktisch subjektsintern geschieht, ist der Christus somit auch bei Danz eine Objektivation dieses Vorganges. Die hier im Weiteren vorgebrachte Interpretation struktureller Art nimmt Danz zwar nicht vor, jedoch schreitet er in einer analogen Weise zur konstitutiven Funktion der Verobjektivierungen nun allerdings in geschichtsphilosophischer Perspektive fort.

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niemals Gegenstand unmittelbar subjektiver Gewissheit – was sich allein aus dem Gegenstandscharakter selbstdifferenter Relativität ergibt –, sondern steht immer unter dem Zweifel, so dass der Glaube „sich nie auf dieses Konkrete richten kann, insofern es konkret ist, sondern nur insofern es Offenbarung des Absoluten ist.“ (EW X, 227 Ts) Kriterium für prinzipielle Beurteilung bleibt somit – wie bereits 1913 – fortwährend der Rechtfertigungsbegriff. Stark an seine später so prominente Symboltheorie erinnernd kann Tillich die Funktion von Relativität bzw. Bedingtheit in theologischem Horizont dann so bestimmen: „Der Glaube richtet sich durch das Konkrete hindurch auf das Absolute.“ (EW X, 227 Ts) Dies meint jedoch nicht ein Übersehen von Bedingtheit im Sinne vernachlässigbarer – um nicht zu sagen: lästiger – Mittlerfunktion; vielmehr hat mit dem Bild des ‚durch – hindurch‘ sowohl „die Blickrichtung auf Jesus hin“ als auch „das Hinaus über ihn auf das Absolute selbst“ (EW X, 227 Ts) in Gleichzeitigkeit statt. Objektivation des Absoluten ist kein prinzipiell ausscheidbares Unterfangen, sondern im Gegenteil notwendig, um der Relativität, die mit der Hinzunahme des prinzipiellen Zweifels in das Prinzip selbst zu ihrer höchsten Ausprägung gelangt, prinzipiell Absolutes revelativ allererst zukommen zu lassen und damit die prinzipielle Bedeutung des Prinzips im Relativen bzw. Bedingten überhaupt konstituieren zu können. Dass Glaube dadurch immer im Spannungsfeld des Oszillierens zwischen Absolutheit und ihrer konkreten Anschauung zum Stehen kommt und ob dem sich im fortwährenden „Kampf um die Absolutheit Christi“ (EW X, 227 Ts) verstrickt vorfindet, der als solcher niemals einer Entscheidung zuführbar ist, hat nicht nur als nicht unstatthaft, sondern vielmehr als genuin das treffend, was der traditionelle Begriff der certitudo fidei im Gegensatz zu seiner solipsistischen Depravation in der securitats beinhaltet, beurteilt zu werden. Darum ist Glaube „in sich ruhend“ (EW X, 227 Ts) nur im Moment der gläubigen Bejahung des Absoluten durch das Konkrete hindurch, wobei die Momenthaftigkeit dieses Unterfangens in jedem Moment dem Zweifel, der mit der Gleichzeitigkeit von Bedingtheit und Unbedingtheit notwendig anhebt, abgerungen werden muss. Realiter kann von der Objektivation des absoluten Paradoxes nicht abgesehen werden, ja Verobjektivierung des Nicht-Verobjektivierbaren ist konstitutives Moment der Paradoxalität des absoluten Paradoxes selbst. Die Anschauung der erfüllten Verobjektivierung im Christus Jesus, wie es für das Christentum konstitutiv ist, stellt damit zwar theoretisch nur eine Möglichkeit des Verobjektivierungsvorgangs unter anderen dar29 – somit ist ob des Oszillierungscharakters im Glauben das Konkrete bzw. seine Relativität ————— 29

Dies war auch in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ nicht anders; vgl. 1.2.5.3.

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nicht mehr selbst Gegenstand von Reflexion, weil das Relative an sich nicht entscheidendes Faktum im Glaubensprozess ist, so dass eine „nachträgliche Reflektion […] gar nicht mehr den Glauben als solchen, sondern nur die Überzeugungsform, in der er sich ausdrücken muß“ (EW X, 227 Ts; Hervorhebung S.D.), betrifft. Da aber Verobjektivierung bzw. Konkretisierung notwendig ist zur Revelation absoluter Paradoxalität, ist die Anschauung nicht gleichgültig, sondern derart konstitutiv, dass auf ihr als dem „konkrete[n] Moment“ die systematische Theologie, mithin systematische Explikation des Prinzips überhaupt, „gründet“ (EW X, 227 Ts). Die Reziprozität von nicht-verobjektivierter absoluter Paradoxalität und ihrem anschaulichkonkreten Niederschlag, der kirchlich in Jesus Christus bzw. seinem Geist vorliegt, wird mithin anschaulich im Glauben als Vollzug von Rechtfertigung im Subjekt. Somit empfängt das konkrete Moment des absoluten Paradoxes seine Berechtigung vom absoluten Paradox her30 und gleichzeitig ist in der absoluten Paradoxie ihr Konkretwerden als notwendige Forderung gegeben, unter deren Absehung nicht vom absoluten Paradox überhaupt gesprochen werden kann. Für Tillich ist damit das erfüllt, was er sich im Rahmen seiner Sinntheorie vorgenommen hatte, nämlich „ein theologisches Prinzip zu finden, das einerseits objektive Bedeutung hat, andererseits die Subjektivität in sich trägt, das den Zweifel nicht überwindet, sondern in sich aufnimmt.“ (EW X, 228 Ts) Die Auswirkungen dieses präzisierten Prinzips auf die anderen Teile des früheren Systems Tillichs sowie die Verhältnisbestimmung von altem Prinzip und seiner neuen Fassung werden in den folgenden Kapiteln einer kritischen Analyse zugeführt.

————— 30

„Die Norm, der tragende Grund und das leitende Prinzip dieser Arbeit [sc. der kirchlichen, vom Geist Jesu Christi geleiteten Arbeit] ist das absolute Paradox, wie es in gläubiger Gewißheit bejaht und in schöpferischer Überzeugung aufgefaßt wird.“ (EW X, 228 Ts)

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2.4 Theologischer Standpunkt und absolutes Paradox 2.4.1 Konsequenzen des Konzepts vom absoluten Paradox für den theologischen Standpunkt des frühen Tillich Das Auftreten sich ihrer selbst bewusster Subjektivität, die vermittels ihres Aufbrechens im Moment prinzipiellen Zweifels zu sich kommt, schließt im Rahmen der epistemologischen Selbstbestimmung von Selbstheit – und hier ist Tillich aus postaufklärerischer Perspektive wohl kaum zu widersprechen – eine Ansetzung von Absolutheit bzw. die Definition des Gottesbegriffs als bestimmten, mithin als gegenständliche Thesis, kategorisch aus und formiert konsequent Subjektivität zum einzigmöglichen Modus religiösen Vollzugs. Die Deduktion eines bestimmten Gottesbegriffs aus dem allgemein angesetzten und dadurch unbedingten Absoluten verbietet sich daher von selbst und führt Tillich zu einem ‚Glauben ohne Gott‘ bzw. einer Form von Religion, die nicht in rein theistischer Ausprägung ihren Ort finden kann, sondern darüber hinaustreibend Religion als „Erfahrung des Unbedingten“1 (GW IX, 18) verstanden wissen möchte. Der ‚Gott des Atheisten‘ bzw. allgemeiner der ‚Gott über Gott‘ schwebt im Jenseits von Gegenständlichkeit und Nicht-Gegenständlichkeit, ohne sich auf einen der beiden Pole festlegen zu lassen, ja überhaupt innerhalb ihrer Kategorien erfassbar zu sein.2 Diese hier Präzisierung genannte Neuformulierung des frühesten Prinzips Tillichs zeitigt notwendig Konsequenzen für die frühe systematische Explikation des Prinzips, welche sich in zwei Themengebiete zusammenfassen lassen: Die Relation zwischen Absolutheit und Relativität muss einer Revision unterzogen werden, welche es erstens (1) auf das Gebiet des ————— 1

So die Religionsdefinition Tillichs in seinem ebenfalls 1919 entstandenen und vor der KantGesellschaft gehaltenen Vortrag ‚Über die Idee einer Theologie der Kultur‘. Auf die Problematik des Einbringens der Unbedingtheitserfahrung durch Tillich und die daran sich erhebende Kritik sowie Tillichs eigene Korrekturversuche verweist Lauster, Religion, 65f, und ders., Die Tiefe der Religion und ihre kulturelle Gestaltung. Paul Tillichs religions- und kulturphilosophische Grundlegung des interreligiösen Dialogs, in: Hans-Martin Gerlach/Andreas Hütig/Oliver Immel (Hg.), Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität, Frankfurt a.M. 2004, 49–61. hier: 52. 2 Insofern ist Martin Harant zwar zuzustimmen, wenn er Tillichs Ausgang vom Unbedingten auch für die Kulturtheologie nach dem ersten Weltkrieg postuliert (vgl. Harant, Religion, 126); jedoch ist Vorsicht insofern geboten, als das Absolute der Sinntheorie eben nicht in direkt gleicher Weise verfasst vorstellig zu werden hat wie das der Wahrheitstheorie. Die Hinzunahme des prinzipiellen Zweifels bewirkt just diese Präzisierung, die Harant allerdings nicht wahrnehmen kann, weil seine Analyse erst mit Tillichs Nachkriegstheologie einsetzt.

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Kulturellen in seinem Verhältnis zum Religiösen und zweitens (2) auf die Religion selbst als Prinzip und Aktualität zugleich zu beziehen gilt. Auf diese beiden Verhältnisstrukturen – einmal als externe konkrete Wirkung von Religion, einmal als innerreligiöse Selbstbestimmung ihrer Außenwirkung – lassen sich die mit dem Dahinfallen eines gegenständlichen Gottesbegriffs entstehenden Neuorientierungen reduzieren. (1) Zur Verhältnisbestimmung von Religion und Kultur ist zunächst nach Tillich darauf zu verweisen, dass auch die Konkretion von Religion, mithin das konkrete Moment des theologischen Prinzips „dem Absoluten unterstellt“ ist, weshalb es „kein Offenbarungsmedium im supranaturalistischen Sinne3 und darum keine Begrenzung des religiösen Prozesses in irgendeiner Richtung“ (EW X, 228 Ts) geben kann. Aus beidem folgt nun, dass „auch der Zwiespalt zwischen Religion und Kultur aufgehoben“ (EW X, 228 Ts) ist, weil das an keine bestimmte Gegenständlichkeit gebundene Prinzip in Form des absoluten Paradoxes nicht nur nicht einseitig entweder Religion oder Kultur zugesprochen werden kann, sondern für beide Vollzüge gleichermaßen in Geltung steht, da Subjektivität nicht mehr im Gegensatz zu potentiell heteronomer theologischer Gottessetzung positioniert ist, sondern „ein Moment des religiösen Prinzips selbst geworden“ (EW X, 228 Ts) ist. Von separierter religiöser und profaner Sphäre kann mithin unter den Bedingungen absoluter Paradoxalität nicht die Rede sein, da eine derartige Distinktion bereits Unterschiedenheit der Existenzformen und damit auch des Geneseortes der Unterschiedenheit, also des Prinzips selbst, voraussetzen würde.4 Ein gemeinsames Prinzip, wie es das absolute Paradox vorstellt, belegt damit jedwede Gegenständlichkeit mit dem Doppelurteil von Profanität und Religiosität, so dass ein partikularer Exklusivanspruch einer der beiden Sphären auf bestimmte Objektgebiete schlechterdings ausgeschlossen ist. „Dadurch aber ist der Gegensatz von profaner und heiliger Sphäre überhaupt prinzipiell aufgehoben. Es ist alles profan, nämlich auto————— 3

Mit Nachdruck ist darauf hinzuweisen, dass Tillich ein absolutes Offenbarungsmedium nur im supranaturalistischen Sinne ausschließt. Dies bedeutet, dass ein absolutes Offenbarungsmedium an sich durchaus nicht automatisch aus dem Gesamtsystem Tillichs zu verabschieden ist. Bedeutung gewinnt dieser Umstand besonders bei der Behandlung der Frage nach der Relevanz des Christusereignisses im Lichte des präzisierten Prinzips; vgl. dazu v.a. Kap. 2.4.2. 4 „Es steht nicht mehr religiöser Glaube gegen profanes Denken […], sondern auf dem gemeinsamen Boden der gläubigen Bejahung des absoluten Paradox wächst hier wie dort bedingte und doch inhaltsvolle Überzeugung.“ (EW X, 228 Ts) Problematisch erscheint dieser Zusammenhang Michael Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000, 37: „Die Bedingung der Möglichkeit eines gemeinsamen Bezugspunktes des religiösen und anderer kultureller Bereiche müßte extern beglaubigt werden, wenn die Kulturtheologie nicht nur eine mit dem Eigensinn der Kulturgebilde unvermittelte, religiöse Deutung bleiben soll. Zeigt sich die Gemeinsamkeit der kulturellen Sphäre und der Religion nur für diese, so läuft die Theologie der Kultur auf eine petitio principii hinaus.“

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nom begründet, und es ist alles religiös, nämlich unter dem absoluten Paradox stehend.“ (EW X, 228f Ts) Damit formiert sich ein detailliert zu erörternder Widerspruch zur Darstellung in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, weil hier noch von einer bestimmten religiösen Kultur – im Gegensatz zur profanen – die Rede war, welche mit der bestimmten, d.h. gegenständlich-theistischen, Gottesbegrifflichkeit einhergeht. In Tillichs System von 1913 war das Aktuellwerden von Religion vorstellig geworden in dem Heraussetzen religiöser Kultur aus der Potentialität des religiösen Prinzips.5 Kulturschöpfung ist damit abhängig vom Verhältnis des Kulturschaffenden zum Prinzip selbst, welches seinerseits wiederum den aus dem Absoluten vermittels des Religionsbegriffs gewonnenen Gottesbegriff zum Grund hat. Ohne deshalb dezidiert von religiöser bzw. heiliger oder profaner Sphäre zu sprechen, lässt sich Kultur 1913 noch entsprechend ihrer Genese, d.h. ihrem Verhältnis zum theologischen Prinzip, unterteilen in eine dezidiert unter dem Prinzip stehende religiöse und eine – etwa in reiner Selbstbestimmung gewonnene – profane Kultur.6 Dies steht jedoch nur dem Anschein nach in striktem Widerspruch zum Kulturverständnis von 1919, weil das Kulturkonzept von 1913 in seiner notwendigen Gleichzeitigkeit von Bejahung und Verneinung kultureller Schöpfung seinem Wesen nach auch 1919 identisch verfasst bleibt und nur – doch auch dieser Schritt wird im Folgenden als nur scheinbare Neuerung aufzuzeigen sein – auf alle Kultur hin generalisiert wird. Prima facie gestaltet sich Tillichs Argumentation in ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ folgendermaßen: Durch die Hinzunahme des prinzipiellen Zweifels ist ein Verlassen des Reflexionsstandpunkts schlechterdings ausgeschlossen, weshalb der theologische Standpunkt – dem es als solchem ja anwest, auf Grundlage der Reflexion zu fungieren – sich nicht von einer extern verorteten absoluten Setzung dem Gehalt nach zu speisen vermag, sondern zurückgeworfen bleibt auf die Genese von Subjektivität, in der sich das religiöse Verhältnis realisiert und offenbart. Religion ist mithin nicht angewiesen auf die Annahme eines Gottesbegriffs – auch den wissenschaftlichen Gottesbegriff gilt es nach Tillich ja ob dessen Gegenständlichkeit abzulehnen – und hat ihre prinzipiellen Grundlagen daher nicht in Unterscheidung zu jedwedem Anheben von Basis der Reflexion aus. Anders formuliert: Was der Reflexion unterliegt, kann auch nur von der gleichen epistemologischen Basis ausgehen. Alles andere ist ein unstatthafter, weil spekulativer, jedenfalls nicht ————— 5

Vgl. v.a. A §12; 296–300. Selbstverständlich sind auch 1913 die Begriffe von religiöser und profaner Kultur realiter nur als Grenzbegriffe verwendbar, weil bereits im System von 1913 ein gänzliches Stehen außerhalb der Wahrheit schlechterdings ausgeschlossen ist, was auch im Bereich der Kultur zu einer Gleichzeitigkeit von religiöser und profaner Verhaftung führen muss.

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intersubjektiv nachvollziehbarer Überstieg. Jedweder Relativität eignet dann aber auch dasselbe Ausgangsprinzip, weil selbst die höchste Ausprägung von Relativität, die Tillich im Geist erblickt, nicht über die Erkenntnis ihrer eigenen Unmittelbarkeit als vermittelte hinauskann, so dass die Grundparadoxalität der metalogischen Methode apriorisches Faktum von Reflexivität per se darstellt. Ist Relativität allerdings an sich gekennzeichnet durch Gleichheit im prinzipiellen Beginnen, so kann auch Kultur als wirkende Tätigkeit von Geist niemals differenziert in sich sein, sondern unterliegt wie alle Relativität der Gleichzeitigkeit von Absolutheit und Relativität. Letzteres traf hingegen im System von 1913 zunächst nur für die dezidiert religiöse Kultur zu, weil diese als Produkt einer distinkten prinzipiellen Ausgangsbasis vorstellig werden musste, welche sich auf den Gottesbegriff bezog. Zur weiteren Erörterung sei zunächst ein klärender Blick zurück auf die Bestimmung von Kultur in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ geworfen:7 Selbstverständlich fungiert auch hier nur ein einziges Prinzip – das theologische – im Gesamtsystem, allerdings mit dem Unterschied, dass dieses allgemeine Prinzip sich zwar in den wissenschaftlichen Gesamtkomplex zu integrieren anschickt, de facto jedoch ein Kulturleben in und außerhalb des Prinzips angesetzt ist, was zu spezieller religiöser Kultur und damit zu einem Sonderbereich führt. Bei genauer Betrachtung erweist sich dieser Sachverhalt hinwiederum auch nur als Schein bzw. polare Abstraktion, insofern Tillich zwar noch unterscheidet zwischen Kulturschöpfung auf Grundlage der Sittlichkeit, d.h. der freien Selbstbestimmung des Geistes, und der Religion, d.h. der Selbstbestimmung, die immer an Gott oder das Absolute, welches wiederum vorstellig wird im Wahrheits- und Freiheitsbegriff, gebunden bleibt; somit besteht die Möglichkeit, „Scheinkonflikte zwischen Sittlichkeit und Religion“ (A §12; 297) anzunehmen, wenn zwischen den potentiellen Kulturschöpfungen der beiden Bereiche Differenzen auftreten können. Tillichs Anliegen ist es nun aber gerade, dieses Konfliktpotential als reinen Schein zu entlarven, weil Religion und Sittlichkeit, die immer die Selbstbestimmung des Selbst meint, letztlich in einem so starken Reziprozitätsverhältnis stehen, dass beide Pole nicht unter Absehung des jeweils anderen thematisiert werden können. Genau genommen verhandelt Tillich hier die Thematik von Selbstkonstitution noch unter dem Gesichtspunkt von Religion8 als Ausdruck von Vermittlung auf der einen und Sitt————— 7

Dass Tillichs Kulturtheologie bereits in der Systematik von 1913 präfiguriert ist, ja dass Ansätze zu ihr sich bereits in Tillichs Schellingdissertationen finden lassen, betont auch Georg Neugebauer, frühe Christologie, 268. 8 Religion ist hierfür in ihrer prinzipiellen Konnotation zu betrachten; denn die „Religion als Prinzip, als substanzielle Gebundenheit der Freiheit an die absolute Wahrheit ist etwas gewisser-

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lichkeit9 als Ausdruck von Unmittelbarkeit auf der anderen Seite, welche er beide im Konzept von 1919 unter dem Begriff der Subjektivität zusammenführt. Damit ist aber letztendlich bereits 1913 ein Einheitsprinzip umschrieben, das Kultur auch nur als Einheitsbegriff verstehen kann, weil Religion und Sittlichkeit ein und dasselbe Thema umfassen, wodurch eine Distinktion von Kultur in zwei verschiedene Ausprägungen ausschließlich in sekundär-dialektischem Sinne der Reflexion zu verstehen ist, an sich jedoch nicht mit konstitutiver Bedeutung belegt ist. Für den Ansatz von 1919 bedeutet dies, dass Tillich nur bereits Expliziertes aufgreift und in leicht modifizierter Nomenklatur zusammenfasst auf den Zentralbegriff der Subjektivität, durch den die scheinbare kulturelle Differenzhaftigkeit und das Ansetzen religiöser Kultur als Sonderbereich vermieden wird.10 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Gültigkeit demnach nicht einer religiösen Kultur – die es in dieser Reinform auch 1913 für Tillich niemals gab –, sondern Kultur überhaupt zukommt, weil sie im Vollzug individueller Subjektivität entspringt, die an sich – und hier erweist sich Tillichs Konzentration auf die Subjektivität in explikativer Hinsicht als lohnend – nichts anderes sein kann als religiös, weil Selbstheit sich stets im Spannungsfeld von Unmittelbarkeit und Vermitteltsein vollzieht. Tillich verdichtet sein Kulturverständnis im Begriff der Theonomie, auf dessen Grundlage er sein prinzipielles Konzept systematisch zu einer ‚Theologie der Kultur‘ ausbauen möchte.11 Skizziert ist dieses Unternehmen ————— maßen Punktuelles, jeder Aktualität und Breite Enthobenes, absolute Innerlichkeit.“ (A §12; 297; Hervorhebung S.D.) Es mutet erstaunlich an, wie nahe Tillich hier bereits im Jahre 1913 – v.a. in der konzentrisch-punktuellen Fixierung von Religion auf Subjektivität – an seinem Konzept von 1919 argumentiert. 9 Sittlichkeit wurde von Tillich 1913 definiert als „Selbstbestimmung des Geistes als Geist“ bzw. „das tätige Bewußtsein der Freiheit um sich selbst“ (A §12; 298). In beiden Fällen tritt gegenüber dem Religionsaspekt klar die Unmittelbarkeit sittlicher Tätigkeit hervor. 10 Vgl. etwa GW IX, 17: „Das Religiöse bildet kein Prinzip im Geistesleben neben anderen […]. Sondern das Religiöse ist aktuell in allen Provinzen des Geistigen.“ 11 Zwar wirkt der Begriff der Theonomie für das, was er bezeichnen soll, von Tillich stets insofern unglücklich gewählt, als er einerseits die Sphäre des Göttlichen – die Tillich gerade 1919 problematisiert – und andererseits eine heteronome Bestimmung gesetzlicher Art evoziert, was beides nicht Anliegen ist, ja sogar wider die Intention des Theonomiebegriffs ausgerichtet ist (vgl. auch Lauster, Religion, 68, und Barth, Religion, 202). Somit muss eine direkte, etymologisch aus dem Begriffswort abgeleitete Verstehensweise des Begriffs abgelehnt werden; trotzdem bleibt auf einer indirekten Verständnisebene sowohl der Gottesbezug als auch der Gesetzescharakter dahingehend in Geltung, als Theonomie zwar nichts Heteronomes vorstellig machen will, autonome Assoziationen jedoch in gleicher Weise vom Begriff abzuwehren sind. Als Inbegriff des Vermitteltseins der Unmittelbarkeit von Subjektivität macht Theonomie damit fortwährend das geltend, was jenseits direkter autonomer Verfügbarkeit liegt bzw. – stricte dictu – Autonomiebewusstsein und autonome Verfasstheit allererst ermöglicht. Dass dies hinwiederum vom Subjekt selbst nicht mehr anders zu thematisieren ist als in irgendeiner das Göttliche betreffenden Sphäre – und sei es nur im

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in seinem Vortrag ‚Über die Idee einer Theologie der Kultur‘ von 1919,12 der also aus demselben Jahr stammt wie der Entwurf ‚Rechtfertigung und Zweifel‘, welcher gewissermaßen als vorangehende Prinziperörterung verstanden werden kann. Ist Kultur – so Tillich in seinen Ausführungen über eine Theologie der Kultur – nicht aufspaltbar in die Sonderbereiche von Religion und Profanität, so muss und darf sie sich nicht dominieren lassen von einer Heteronomiequelle außerhalb ihrer selbst, sondern hat in Autonomie zu verharren.13 Tillich fragt daraufhin berechtigterweise, wo dann der Ort von Religion überhaupt zu finden sein werde, und beantwortet die Frage mit seinem in ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ vorgestellten Glaubens- und damit Rechtfertigungsverständnis, also mit seinem theologischen Prinzip: „Religion ist Erfahrung des Unbedingten und das heißt Erfahrung schlechthinniger Realität auf Grund der Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit“14 (GW IX, 18). Damit ist der von Tillich explizierte Sachverhalt von Negation und schließlich auch Affirmation sämtlicher Relativität gegeben, der sich – wie Tillich auch jetzt betont – nur dann echter, d.h. allgemeiner, Gültigkeit zuführen lässt, sofern es sich bei der Rechtfertigungsinstanz nicht um Sein oder gar ein Seiendes handelt, sondern um eine „Sinnwirk————— Begriff des ‚Gottes über Gott‘ – führt wieder zurück zum wörtlichen Verständnis des Theonomiebegriffs, zumal das, was die Theonomie beinhaltet, vom Subjekt in potentiell heteronomer Tendenz erfahren wird, weil es – entsprechend dem Verhältnis von metalogischer Methode und Identitätsprinzip – nicht mehr unmittelbar eingeholt werden kann in die Verfügbarkeit von Subjektivität. Insofern mag die Begriffsformulierung Tillichs zwar falsche Assoziationen hervorrufen – unter Rücksichtnahme auf sein Konzept erscheint der Theonomiebegriff jedoch durchaus als systemkompatibel und stimmig. Zum Theonomiebegriff allgemein vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Theonomie. Fallstudien zum Integrationsanspruch neuzeitlicher Theologie, Gütersloh 1987 (zu Tillich insbes. 20–23). 12 Zur Kulturtheologie Tillichs allgemein vgl. Peter Haigis, Im Horizont der Zeit. Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur, Marburg 1998. 13 Jedwede heteronome Einflussnahme von Religion auf Kultur würde nämlich eine Doppelheit im Bereich der Kultur zur Konsequenz zeitigen, nämlich einmal das Kulturprodukt autonomen Kulturschaffens und andererseits das – auf die autonome Kultur folglich heteronom einwirkende – Kulturprodukt religiöser Provenienz. Dadurch aber entstünde eben eine „doppelte Wahrheit, eine doppelte Sittlichkeit, ein doppeltes Recht, von denen je eines nicht aus der Gesetzmäßigkeit der betreffenden Kulturfunktion geboren ist, sondern aus einer fremden Gesetzlichkeit, die die Religion gibt.“ (GW IX, 17f) Analog der Problematik in der Christologie und auch in der Gotteslehre führen Annahmen autonomer und heteronomer Provenienz stets über in eine Zweiheit, die sich aufgrund prinzipieller Einheit verbietet und Konflikte evoziert, die der Exklusivität von Religion geschuldet sind. 14 Zuzustimmen ist in diesem Zusammenhang Jan Rohls, der feststellt, dass Tillichs Religionsbegriff damit „weder mit HEGEL dem Theoretischen noch mit KANT dem Praktischen oder mit SCHLEIERMACHER dem Gefühlsmäßigen“ (Rohls, Protestantische Theologie, 325) zugeordnet werden könne. Religion ist daher realisierte Unbedingtheitserfahrung in allen Kulturfunktionen (vgl. ebd.). Speziell auf die Bedeutung der Erfahrung der Nichtigkeit – trotz dem, dass diese bei Tillich nur selten explizit thematisiert wird – weist zu Recht Jean-Claude Petit, Bemerkungen, 226, hin.

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lichkeit […], und zwar um die letzte, tiefste, alles erschütternde und alles neu bauende Sinnwirklichkeit.“ (GW IX, 18) Damit sind auf kulturellem Gebiet alle „spezifisch religiösen Kultursphären […] grundsätzlich aufgehoben“ (GW IX, 19), was nichts anderes meint, als dass Religion auch in ihrer kulturellen Ausprägung keinen Sonderbereich kennzeichnet – jedoch korrespondiert mit der grundsätzlichen Aufhebung religiöser Kultur nicht automatisch ihr faktisches Verschwinden und Überflüssigwerden; dies hebt Tillich hervor, indem er die weiterhin bestehende Bedeutung religiöser Kultur als der späteren Erörterung notwendig erachtet.15 Mit der Autonomie der Kultur bzw. der einzelnen Kulturwissenschaften als der konkreten Ausprägungsformen von Kultur korrespondiert nach Tillich nun die Theonomie, die unter Absehung bestimmter Formhaftigkeit Kultur im Hinblick auf ihren Gehalt, mithin auf ihre Realität bzw. präziser: ihr Realsein überhaupt hin bestimmt. Damit spricht die Theonomie nicht etwa – in sonst wiederum als notwendig heteronom zu empfindender Weise – einer rein formmäßigen Ausprägung von Kultur einen Inhalt zu,16 sondern begründet Kulturschöpfungen als geformte und inhaltliche als Realitäten im Rahmen der Sinntheorie. Dies bestätigt Tillich, indem er sagt, er möchte „den Satz aufstellen, daß die Autonomie der Kulturfunktionen begründet ist in ihrer Form, den Gesetzen ihrer Anwendung, die Theonomie aber in ih————— 15

„Die Frage welche Bedeutung ihnen [sc. den spezifisch religiösen Kultursphären] dennoch zukommen möge, kann erst nach Beantwortung der Frage nach dem Sinn einer Theologie der Kultur entschieden werden.“ (GW IX, 19) Tillich prozediert hier in gleicher Weise, wie er es schon prinzipientheoretisch tat, indem er zunächst das Prinzip in Reinheit unter Absehung jedweder Objektivation thematisiert und erst im zweiten Schritt die Verobjektivierungen untersucht – wobei auch letztere de facto nicht oder bestenfalls unter Verlust der Konkretheit resp. Wahrheit vom Prinzip bzw. – für die Kulturthematik – vom Verhältnis zwischen Kultur und Religion zu scheiden sind. 16 Dagegen verwehrt sich Tillich expressis verbis, indem er ganz eindeutig zwischen den Begriffen von Inhalt und Gehalt unterscheidet: „Unter Inhalt verstehen wir das Gegenständliche in seinem einfachen Sosein, das durch die Form in die geistig-kulturelle Sphäre erhoben wird. Unter Gehalt aber ist zu verstehen der Sinn, die geistige Substantialität, die der Form erst ihre Bedeutung gibt. Man kann also sagen: Der Gehalt wird an seinem Inhalt mittels der Form ergriffen und zum Ausdruck gebracht.“ (EW IX, 20; Hervorhebung S.D.) Indem Tillich hier wiederum auf den Sinnbegriff rekurriert, verortet er den Begriff des Gehalts bzw. auch den der Realität schlechterdings im Rahmen seiner Sinntheorie, wodurch jeder der drei identischen Begriffe – Sinn, Gehalt, Realität – letztlich nichts anderes meint, als die Anwendung der Unbedingtheit des Rechtfertigungsbegriffs auch auf kulturellem Boden, also die Bejahung relativer Kultur – wobei Kultur an sich immer relativ ist und sich somit der Begriff einer ‚absoluten Kultur‘ als contradictio in adiecto verbietet – durch ihre Bejahung und Verneinung zugleich. Indem Martin Harant, Religion, 127–132, auf eine genaue Begriffsklärung sowie die sinntheoretische Verortung der Kulturtheologie Tillichs verzichtet, droht er Gefahr zu laufen, Tillichs kulturtheologische Ansätze abstrakt in die Kategorien von Induktion und Deduktion – bzw. bei Harant: Induktion und ‚Spekulation‘ (vgl. ebd., 129 Anm. 1) – zu schematisieren. Dies muss ob der angeführten Analyse als problematisch bezeichnet werden.

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rem Gehalt, der Realität, die vermittelst dieser Gesetze zur Darstellung oder Durchführung kommt.“ (GW IX, 19) In striktester Entsprechung reproduziert Tillich mithin sein erkenntnistheoretisch durchgeführtes Sinnprinzip nun für den kulturellen Bereich. Ist Sinn bzw. Unbedingtheit epistemologisch ursprünglich zu verorten im Prozess der Selbstkonstitution von Subjektivität, realiter jedoch nicht zu denken und auch nicht zu vollziehen unter Absehung von Objektivation bzw. Objektivationen, so trifft der Analogiebefund auch für die Kultur als Ort von geistig-schöpferischer Verobjektivierung zu, ja – so wird man präzise sagen müssen – eben in der Kultur als der direkten Einwirkung sich selbst bestimmt habender Subjektivität auf jedwede Externität, wie sie in der Objektwelt des Subjekts vorstellig wird, hat Sinn allererst seinen genuinen Platz und vollzieht sich darob wesensmäßig.17 Für den in der Prinziperörterung thematisierten kirchlichen Kultus und die kirchliche Lehre, in Sonderheit die Christologie, bedeutet das zunächst, dass sie eben jeweils nur eine Form der Sinnausprägung in einem bestimmten Kulturgebiet, nämlich der institutionell verfassten Christenheit in Form der Kirche, darstellen. Ist damit aber – so schließt sich als Frage an – nicht notwendig die Unbedingtheit, die mit dem Christusereignis v.a. noch 1913 verbunden wurde, letztlich zu verabschieden und auch der Christus Jesus als ein kultureller Ausdruck – bzw. in Tillichs später regelmäßig, hier noch nicht dezidiert angewandter Nomenklatur: ‚Symbol‘ – unter anderen seiner exklusiv-konstitutiven Bedeutung beraubt? Zur Beantwortung sei nochmals ein näherer Blick auf Tillichs Konzept einer Theologie der Kultur geworfen, um dann – unter Vernachlässigung der weiteren, nicht mehr in prinzipieller Hinsicht bedeutungsvollen Konsequenzen aus Tillichs neuem Kulturkonzept – in eine Diskussion über die Bedeutung der Christologie unter besonderer Berücksichtigung der Problematik, ob sie einen exklusiven Anspruch zu erheben in der Lage ist, eintreten zu können und damit an die schon 1911 bis 1913 zentrale Problematik im Denken Tillichs anzuknüpfen.18 Kulturtheologie in Tillichs Verständnis ist – so wurde es bereits angedeutet – verortet in einem Wechselverhältnis von Autonomie der Kulturwissenschaften und der Theonomie des Gehaltes von Kultur. Dieses Spannungsfeld bringt nun hinwiederum den Ausdruck von Vermitteltsein und Unmittelbarkeit subjektiver Selbstheit auf dem Gebiet der Kultur zur direkten Ansicht, indem einerseits die Autonomie unantastbares und konstitutives, weil mit der Selbstheit von Subjektivität bzw. Kulturwissenschaft un————— 17

Damit ist eine zweite – und man kann wohl zu Recht behaupten: noch stärkere – Begründung für die konstitutive Bedeutung der Objektivation des Prinzips für das Prinzip selbst gegeben. 18 Dies wird in Sonderheit die Aufgabe von Kap. 2.4.2 darstellen.

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mittelbar gegebenes, Systemelement darstellt, dieses sich aber nicht anders sinnvoll zu explizieren vermag als unter dem Signum gehaltvoller Bestimmung. Die tendenzielle subjektive Verstärkung von Tillichs Prinzip zeitigt mithin auch Konsequenzen für dessen kulturelle Objektivation, indem 1913 Theonomie noch primär gekennzeichnet war durch ihren Synthesischarakter als Drittes neben Autonomie und Heteronomie, das eben Selbstheit als in autonomer wie heteronomer Abstraktion als notwendig unterbestimmt entlarvte und selbst den reziproken Bezug beider Größen aufeinander versinnbildlichte. Da somit Theonomie als einzig mögliche Fassung echter Selbstheit erkannt war, trat sie in ein Gegenüber zur Heteronomie jedweder Externität – paradigmatisch ist dies ersichtlich an der Problematik des historischen Jesus –, mit der sie die systemprägende Poldualität der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ konstituierte. In Tillichs Kulturtheologie von 1919 tritt nun Theonomie nicht einem heteronomen Widerpart gegenüber, sondern wird ihrerseits selbst zum potentiell heteronomen Einfluss der im prinzipiellen Zweifel sich völlig selbst gefunden habenden Subjektivität.19 Die Poldualität findet sich nun in der Zweiheit von Theonomie und Autonomie wieder, jedoch dergestalt, dass Theonomie als Gehalt nach wie vor nichts anderes meint als die Paradoxalität der Gleichzeitigkeit von Vermitteltsein und Unmittelbarkeit, Autonomie somit nicht unter Absehung der sie begründenden Theonomie thematisiert werden kann.20 Tillich expliziert die realiter aufbrechende Diastase von internaler und externer Bestimmung von Subjektivität auf dem Boden von Kultur mithin noch stärker als 1913 an seinem ursprünglichen Wahrheitsprinzip – jedoch in dessen um den prinzipiellen Zweifel präzisierten Fassung –, indem analog der Reziprozität von Wahrheit und Denken in prinzipieller Hinsicht nun auch die systematische Explikation in Theonomie und Autonomie prinzipientheoretisch durchgeführt wird. Anders formuliert: Die Problematik des Auseinanderbrechens von Autonomie resp. Theonomie auf der einen und Heteronomie auf der anderen Seite im Zustand relativer Bezüglichkeit war der unbezweifelten Exklusivität von Religion geschuldet, zu der Tillichs ursprüngliche Prinzip————— 19

Diese Verschiebung hin zu einer tendenziellen Stärkung der Subjektivität bzw. deren Autonomie im prinzipiellen Denken Tillichs – auch wenn sie der Neubestimmung von Subjektivität durch den prinzipiellen Zweifel geschuldet ist – gilt es klar zu konstatieren, wie das auch Folkart Wittekind, sinntheoretische Umformulierung, passim, unternimmt. Es sei jedoch auch hier wiederum betont, dass eine tatsächliche Neuansetzung des Prinzips nicht statthat, sondern allenfalls von einer neuen Tendenz in der Prinzipbestimmung die Rede sein kann. Dies mögen auch die im Text folgenden Ausführungen zur Änderung bzw. Konstanz in der Tillich’schen Nomenklatur belegen. 20 Die notwendige Verwiesenheit von Autonomie und Theonomie aufeinander betont auch Falk Wagner, der richtigerweise festhält, dass eine „abstrakte theonome Wissenschaft, die die Autonomie von sich ausschließt, […] in Heteronomie umschlagen“ würde (Wagner, Absolute Positivität, 177).

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fassung von 1913 neigte. Entsprechend der Zusammenziehung von externer Prinzipobjektivation auf die Genese von Subjektivität selbst, bedarf es nach dieser prinzipiellen Bestimmung nun auch systematisch nicht mehr der sekundären Diskussion um Autonomie und Heteronomie als Widerstreit zwischen Religion und Kultur, sondern die Konzentration auf Subjektivität selbst zeitigt die Notwendigkeit der Verhältnisbestimmung von Subjektivität im Rahmen von Theonomie und Autonomie auch systematisch zur Konsequenz.21 Tillich nimmt damit indirekt eine Umdefinition der Begriffe von Autonomie und Theonomie durch ihre prinzipielle Verortung vor, ohne dass dabei das Verständnis der Begriffe selbst eine Veränderung erführe:22 Was 1913 noch als theonom bestimmte bzw. sich als theonom verfasst erkennende Autonomie bzw. als Theonomie bezeichnet wurde, lässt sich beim Tillich von 1919 nicht mehr auf einen einzigen Begriff bringen; Theonomie und Autonomie bezeichnen nun die beiden Pole im in Vermittlung geschehenden Selbstkonstitutionsprozess von Subjektivität, so dass auch hier insofern keine Neubestimmung – die Begriffe von Theonomie und Autonomie bezeichnen prinzipiell das Selbe –, sondern ein Präzisierung statthat, als der einfache Begriff der theonom bestimmten Autonomie in ihre beiden konstitutiven Bestandteile von Vermittlung und Unmittelbarkeit bzw. Theonomie und Autonomie zerlegt wird.23 Gemeint ist sowohl in der Fassung von 1913 wie in der von 1919 derselbe Tatbestand, der nur einmal in einem einzigen Begriff und später in einem Begriffsdual gefasst expliziert wird. Für die kulturelle Sphäre bedeutet diese präzisierte Fassung, dass sich das prinzipiell Erkannte im systematisch Ausgeführten reproduziert, so dass Kultur per se – strikt analog zu Subjektivität selbst – bestimmt ist im Bestimmtsein durch Autonomie und Theonomie gleichermaßen. Das führt für die Auffassung des Begriffs der Theonomie tendenziell zu einer leichten Heteronomisierung,24 weil nun nicht mehr – und das ist der tatsächliche ————— 21

Vgl. ähnlich Eberhard Amelung, Die Gestalt der Liebe. Paul Tillichs Theologie der Kultur, Gütersloh 1972, 55. 22 Ähnliches stellt auch Christian Danz, Glaube, 159 (insbes. Anm. 2) fest, der Tillichs Konzept von Autonomie und Theonomie im Rahmen der Sinntheorie als modifiziert und an die Vorkriegstheologie anknüpfend zugleich charakterisiert. 23 Insgesamt geht es Tillich somit immer, um mit Christian Danz zu sprechen, um eine „Konstitutionstheorie wahrer Autonomie“ (Danz, Glaube, 160). 24 Eine Heteronomisierungstendenz in Bezug auf den Theologiebegriff Tillichs im Rahmen seiner Kulturtheologie stellt auch Peter Haigis, Horizont, 69, fest. Dass man trotz dieser Feststellung den Begriff der Theonomie nicht als problematisch betrachten muss, so wie Haigis dies vornimmt, wird sich im Folgenden zeigen. Die Möglichkeit einer Überführung der Theonomie in Heteronomie erkennt ebenfalls Falk Wagner, Absolute Positivität, 177. Gar nicht erwähnt wird die Tendenz des Theonomiebegriffs, heteronome Züge anzunehmen, bei Marc Dumas; vgl. Dumas, Die theologische Deutung der Erfahrung des Nichts im deutschen Werk Paul Tillichs (1919–1930), Frankfurt a.M. u.a. 1993, 20f. Werner Schüßler, Der philosophische Gottesgedanke im Frühwerk Paul

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Neubestand durch die Prinzippräzisierung – zwischen theonom verfasster Autonomie und potenziell extern einwirkender Kultur und vice versa, sondern zwischen autonom produzierter Kultur und theonomem Gehalt der Kultur, der das Vermitteltsein auch von Kultur ansichtig macht, geschieden werden muss. Kultur rückt somit der Subjektivität des Subjekts näher, als dies noch 1913 der Fall war.25 Die Relation zwischen Theonomie und Autonomie gestaltet sich nach Tillich – wie gesehen – also als Verhältnis von Gehalt und Form in der Kultur bzw. im einzelnen Kulturprodukt selbst. Diese Verhältnisbestimmung hat vorstellig zu werden „als eine Linie, deren eines Ende die reine Form, deren anderes der reine Gehalt bedeutet.“ (GW IX, 19) Sind die jeweiligen Enden nach Tillich’schem Verständnis demnach als reine Abstraktionen zu verstehen, so muss im Verlauf der Linie selbst immer eine Gleichzeitigkeit von Form und Gehalt konstatiert werden, wobei die Verhältnismäßigkeit je nach der Nähe zu einem der Linienenden zu bestimmen ist.26 Realiter findet Kultur demnach immer auf der von Tillich beschriebenen Linie zwischen den Polen statt, ohne dabei jemals zu Intransigenz der reinen Abstraktheit eines der Pole zu depravieren. In diesem Rahmen ist nun Tillichs Konzept einer Kulturtheologie anzusetzen, deren grundlegende Aufgabe der Aufweis der Relation zwischen Form und Gehalt in jedweder Kultur zu bestimmen ist: „Aufgabe einer Theologie der Kultur ist es, diesen Prozeß [sc. zwischen Form und Gehalt] in allen Gebieten und Schöpfungen der Kultur zu verfolgen und zum Ausdruck zu bringen. Aber nicht vom ————— Tillichs (1910–1933). Darstellung und Interpretation seiner Gedanken und Quellen, Würzburg 1986, 64–68, hinwiederum unterscheidet v.a. zwischen Theonomie und Autonomie als Geisteshaltungen und Geisteslagen. 25 Jedoch muss festgehalten werden, dass Tillich auch 1913 Kultur nicht einfach als heteronomes Gegenüber zur theonomen Autonomie zeichnet, sondern Heteronomie hier durch den später nicht mehr auftretenden Begriff der Christonomie bestimmt ist (vgl. E §8). Damit erfährt der Poldual von Autonomie und Heteronomie eine ihre Abstraktheit überwindende Entsprechung in der Doppelstruktur von Theonomie und Christonomie. Lässt sich demnach Theonomie als recht verstandene bzw. wahrhaftige Autonomie verstehen, so meint der Begriff der Christonomie die richtig verstandene bzw. wahrhaftige Ausprägung von Heteronomie. Theonomie wie Christonomie machen mithin die Gleichzeitigkeit von Vermittlung und Unmittelbarkeit ansichtig, wodurch sie begrifflich letztlich identisch fungieren, beidesmal das Selbe unter verschiedener Perspektive bezeichnen und daher wohl auch begrifflich bei Tillich zusammenfallen, so dass später nur noch der Begriff der Theonomie für die paradoxe Gestalt vermittelter Unmittelbarkeit steht. Tillichs Prinzip und seine systematische Entfaltung differenziert also noch deutlicher aus, als dies später der Fall ist und wie es auch in der oben bereits erörterten Dualität von Sittlichkeit und Religion der Fall war. Zwar bleibt die Neukonzeption des präzisierten Prinzips auf systematischem Boden nicht folgenlos, allerdings reduziert sich das tatsächlich Neue auf Tendenzen hin zur Position der Subjektivität, so dass von einer tatsächlichen Neuaufstellung des Prinzips nicht gesprochen werden kann. 26 „Auf der Linie selbst sind beide [sc. Form und Gehalt] immer in Einheit.“ (GW X, 19)

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Standpunkt der Form her“ (GW IX, 19), ansonsten wäre Theologie nun ihrerseits in die Form spezifischer Kulturwissenschaft übergegangen. Kulturtheologie argumentiert mithin vom Gehalt her und vollzieht dies in einem Dreischritt: Zuerst bedarf es der Analyse aller Kultur, zum Zweiten gilt es die Ergebnisse des Analyseschritts zu typologisieren und in den Zusammenhang einer Geschichtsphilosophie einzuordnen; zuletzt treibt die Kulturtheologie zu einer konkreten Systematisierung aller Kultur.27 Theologie findet ihre Endgestalt also in einem religiösen System von Kultur, so dass von Theologie als einer kritisch-normativen Religionsphilosophie gesprochen werden kann, die sich von reiner Religionsphilosophie in ihrem normativen Charakter und von Religionswissenschaft darin unterscheidet, dass auch eine Theologie der Kultur des Systems, ja des eigenen Systementwurfs bedarf, um ihre religionswissenschaftlichen und kulturphilosophischen Beobachtungen und Wertungen in ein Normensystem zu überführen, wobei als Richtlinie für Tillich selbstverständlich wiederum nur das theologische Prinzip per se in Frage kommt.28 Das theologische Prinzip als Urheber von Theologie wie Kultur gleichermaßen wird damit zur Beurteilungsmarke ————— 27

„Es ist also eine Dreiheit von Aufgaben, die ihr [sc. der Theologie der Kultur] zufällt, entsprechend der Dreiheit der kultursystematischen Wissenschaften überhaupt und systematischen Religionswissenschaft insbesondere. 1. Allgemeine religiöse Analyse der Kultur. 2. Religiöse Typologie und Geschichtsphilosophie der Kultur. 3. Konkrete religiöse Systematisierung der Kultur.“ (GW IX, 20) Die Konnotation des Religiösen, welche allen Schritten der Theologie der Kultur notwendig anhaftet, möchte gerade die Perspektive von Seiten des Gehalts hervorheben. Umgesetzt findet sich dieser Typologisierungsvorgang auch bei Tillich selbst etwa in der Dresdner Dogmatik-Vorlesung von 1925–1927, in der er Heidentum, Griechentum und Judentum als typologisierte Stadien der Offenbarungsgeschichte expliziert; vgl. EW XIV, 271–300. Vgl. dazu auch Hummel, Tillich’s 1913 „Systematische Theologie“, 375. Vgl. auch Tillichs im Sommersemester 1919 an der Berliner Universität gehaltene Vorlesung ‚Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart‘ (EW XII, 27–258): „Die Theologie der Kultur hat also die Aufgabe, auf Grund der drei Momente des theologischen Princips und unter besonderer Erfüllung des dritten ein religiös begründetes System der Kultur zu entwerfen. Aber dieser synthetischen Aufgabe hat eine analytische voranzugehen. Gemeinsam mit der soziologischen und pyschologischen Analyse und doch von einer ganz anderen Seite her hat die theologische die gesamten Gegebenheiten des kulturellen Lebens, die vergangenen und gegenwärtigen, auf ihren religiösen Gehalt zu prüfen.“ (EW XII, 68) 28 „Der Kulturtheologe ist nicht direkt kulturschöpferisch. […] Aber er nimmt den autonomen Produktionen gegenüber aufgrund seines konkreten theologischen Standpunktes eine kritische, verneinende und bejahende Stellung ein; er entwirft mit dem vorhandenen Material ein religiöses Kultursystem durch Ausscheidung und Vereinigung nach Maßgabe seines theologischen Prinzips.“ (GW IX, 21; Hervorhebungen S.D.) Die Gefahr, in die der Ansatz von Tillich zu geraten droht, ist die in der Kritik von Gunther Wenz herausgearbeitete Exklusivität von Religion, mithin des theologischen Standpunkts, den man als doch externe Instanz gegenüber aller Kultur behaupten könnte. Tillich versucht dem zu wehren, indem er den theologischen Standpunkt und Kultur in demselben Prinzip verortet vorstellig macht, wobei Theologie dann eben nur dieses gemeinsame Prinzip in aller Kultur zur Darstellung bringt – eleminieren lässt sich der Wenz’sche Aporieverdacht deswegen allerdings nicht vollständig.

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einer Theologie der Kultur. Da nun aber Kultur, Theologie und Relatives bzw. Bedingtes an sich notwendig unter dem Prinzip zum Stehen kommen, erweisen sich die angeführten Begriffe als insofern deckungsgleich, als sie allesamt Relativität vorstellig machen, die in ihrer Unmittelbarkeit allezeit der Vermittlung bedarf. Dies bedeutet hinwiederum nichts anderes, als dass Relativität überhaupt, Kultur im Speziellen und auch die Systemfassung einer Theologie der Kultur zwar unterschiedlich fungieren, sich de facto aber in der identischen Stellung dem Prinzip gegenüber befinden, ohne dass letzteres unter Absehung seiner systematisch-relativen Ausprägungen ansichtig oder gar realisiert werden könnte.29 Genau genommen schleicht sich in Tillichs System damit die altbekannte Unterscheidung in eine profane und eine religiöse Kultur derart wieder ein, dass die Theologie der Kultur als systematische Wissenschaft nicht umhinkann, normativ, d.h. setzend, zu verfahren und dadurch auch wiederum bestimmte Kultur nun zwar nicht hervorzubringen – das unterscheidet sie vom alten Begriff der religiösen Kultur –, sie jedoch als solche zu kategorisieren.30 Dem neuen wie dem ————— 29

Genau dies ist es allerdings, was Tillich im dritten synthetischen Moment seines theologischen Prinzips fordert, nämlich das Anheben der Aufhebung von Unterschiedenheit, ohne dass der Vollzug jemals als vollzogen zu denken ist. Damit ist auch diese Aufgabe in Bezug auf die Kultur erfüllt, weil der „Einheit, der Forderung entsprechend, die das dritte Moment des theologischen Prinzips idealiter erhebt“ (EW IX, 229 Ts) insofern Genüge getan ist, als Kultur und Religion in prinzipieller Gleichheit trotz und in ihrer permanenten Unterschiedenheit erkannt sind. Genau so aber war Tillichs Forderung an eine Theologie der Kultur gerichtet, denn: „Ihre [sc. der Einheit] unendliche Erfüllung stellt die Theologie der Kultur dar.“ (EW IX, 229 Ts) 30 Die faktische Distinktion von Religion und Kultur, die Tillich im neuen Konzept eigentlich vermeiden wollte, dringt automatisch wieder ein, wenn Tillich selbst ausführt, es gebe „die beiden Pole [sc. von Form und Gehalt] und de[n] Mittelpunkt, in dem Form und Gehalt im Gleichgewicht stehen. Daraus ergibt sich für die Typologie folgende Grundordnung: die typisch profane und formale Kulturschöpfung, die typisch religiöse und gehaltsüberwiegende Kulturschöpfung und die typisch gleichgewichtige, harmonische oder klassische Kulturschöpfung. Diese allgemeine Typologie lässt nun Raum für Zwischenstufen und Übergänge“ (GW IX, 21). Selbstverständlich spricht Tillich hier noch von der theologischen Aufgabe der Typologisierung und noch nicht von Systematisierung, jedoch kommt auch der Systematiker nicht umhin, sein System auf Grundlage der zu diesem Zwecke entworfenen Typologie unter der Leitung des theologischen Prinzips zu errichten. Religiöse Kulturschöpfung kommt der Theologie mithin nicht zu – allerdings setzt sie fest, was religiöse Kulturschöpfung ist; und damit zeichnet sie wiederum verantwortlich für das, was das Signum religiöser Kultur erhält – ob sie sie nun selbsttägig produziert oder nicht (eine ähnliche Problematik erkennt auch Harant, Religion, 131). Die nur sekundäre Bedeutung, ob Kultur nun von Religion hervorgebracht oder als religiöse Kultur bestimmt wird, ergibt sich auch aus der Vorrangigkeit, die Tillich der religiösen Kultur für eine Theologie der Kultur überhaupt zuspricht und die dem – man fühlt sich überdeutlich an das System von 1913 erinnert – Verhaftetsein auf dem Standpunkt der Relativität geschuldet ist: „Damit wir in der Kultur religiöse Werte erleben können, damit wir eine Kulturtheologie treiben können, damit wir die religiösen Elemente unterscheiden und benennen können, muß eine spezifisch religiöse Kultur vorangegangen sein. […] Der profane Pol der Kultur […] nimmt uns gänzlich in Anspruch, wenn ihm der entgegengesetzte Pol nicht ein Gegengewicht hält; eine allgemeine Profanisierung, Entweihung des Lebens wäre un-

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alten Konzeptansatz tut dies allerdings – trotz der systematischen Ungenauigkeit, die Tillich hier unterläuft – keinen Abbruch, weil es für das Verhältnis von Theologie und Kultur nicht als wesentlich angesetzt werden kann, ob von einer Unterteilung in religiöse und profane Kultur gesprochen wird oder nicht. Entscheidend ist vielmehr das gemeinsame Prinzip von Religion und Kultur, das die Distinktion zwischen verschiedenen Kultursphären ob ihrer wechselseitigen und nie trennbaren Verwobenheit hinfällig werden lässt. (2) An dieser Stelle sei die Analyse von Tillichs Programm einer Theologie der Kultur abgebrochen, da die das Prinzip Tillich’scher Theologie betreffenden Punkte erschöpfend erörtert sind. Bevor auf dieser Grundlage zu einer Diskussion der christologischen Problematik, auf die bereits mehrfach verwiesen wurde, im nächsten Kapitel übergegangen wird, sei die hilfreiche und noch ausstehende Verhältnisbestimmung von absoluter und konkreter Religion einer kurzen abschließenden Betrachtung unterzogen. Analog dem Verhältnis von Religion und Kultur kann zwar 1919 prinzipiell nicht von einer Unterscheidung von konkreter und absoluter Religion gesprochen werden, weil das absolute Paradox als in Jenseitigkeit von Gegenständlichkeit und Nicht-Gegenständlichkeit angesetzt sich jedweder Verabsolutierung wie konkreter Bestimmung gleichermaßen entzieht. Soll jedoch sinnvoll vom Prinzip die Rede sein, so muss – wie erläutert – vom Zentrum des Prinzips, der Subjektivität, aus eine Verobjektivierung zu ‚beiden Seiten‘ hin statthaben, ja die Verobjektivierungen müssen dem Prinzip selbst vorausgehen, um es zu begründen, so dass das Prinzip als solches schlechterdings nur thematisierbar ist unter der Hinzunahme seiner Objektivationen. Absolutheit auf der einen und Konkretheit auf der anderen Seite stellen mithin jeweils Abstraktionen dar, die nicht unabhängig vom Zentrum der Subjektivität zu denken sind; allerdings bilden sie die notwendige Realisationsform des zur systematischen Entfaltung drängenden Prinzips, weshalb die konkrete wie abstrakt-absolute Verobjektivierung des unkonkreten wie unabstrakten Prinzips konstitutiv für das Prinzip selbst ist und letztlich faktisch zur Explikation einer konkreten Religion führen muss.31 Absolute wie konkrete Objektivation des Prinzips sind daher identisch zu bestimmen ————— vermeidlich, wenn nicht eine Sphäre des Heiligen im Gegensatz und Widerspruch sich konstituierte. Dieser Widerspruch ist unüberwindlich, solange Form und Inhalt unterschieden werden müssen, solange wir in der Sphäre der Reflexion und nicht der Intuition zu leben gezwungen sind“ (GW IX, 27). Die „spezifisch religiöse Kultursphäre“, die das Verbleiben in der Reflexion notwendig mit sich bringt, tritt zwar nicht mit „selbständiger logischer, sondern teleologischer Dignität“ (GW IX, 28) auf, unterscheidet sich in ihrer Faktizität aber nicht vom Konzept religiöser Kultur im Jahre 1913. 31 Vgl. dazu v.a. die bereits behandelten Passagen in: EW IX, 226–229 Ts.

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wie die Ansetzung einer absoluten und einer konkreten Religion im Jahre 1913. Tillich thematisiert dies in seiner Unterscheidung von Kulturtheologie und Kirchentheologie, wobei diese Distinktion im Kern auf der bereits angerissenen Frage nach der konstitutiven Bedeutung der konkreten Objektivation des absoluten Prinzips beruht. Tillichs Position gestaltet sich als eine grundsätzliche Ablehnung „absolute[r] Wissenschaft“ (GW IX, 28), sei sie nun die Ansetzung einer bestimmten Relativitätssphäre, namentlich der Kirche als einziger Ort verwirklichter Absolutheit, oder die strikte Trennung von offenbarter Absolutheit und völliger Relativität jedweder Kultur, was Tillich mit der Bezeichnung des Supranaturalismus belegt (vgl. GW IX, 28). Positiv gewendet bedeutet dies, dass die einzig anerkannte Absolutheit dem Prinzip selbst zuzukommen hat und Relativität als solche erkannt ist, damit aber nicht uno eodemque actu abgelehnt, sondern in Bejahung und Verneinung zugleich als immer profan und religiös angenommen und aufgenommen wird. Kirchen- und Kulturtheologie unterscheiden sich nun dahingehend, wie sie ihre Stellung gegenüber der – um Tillichs spätere Nomenklatur zu verwenden – ‚zweideutigen‘ Kultur bzw. gegenüber Relativität überhaupt einnehmen. Wird die kulturelle Objektivation prinzipieller Absolutheit stärker als in einer bestimmten gegebenen Fixierung erlebbar erfahren, so tendiert das theologische Vorgehen zu einer kirchentheologischen Position. Damit meint Tillich das deutlichere Verharren auf dem vorgefundenen und als wirkungsvoll empfundenen Standpunkt, der sich als solcher zwar nicht der partiellen Revision in Anbetracht neuer kultureller Formen entzieht, seine prinzipiellen Prämissen aber stärker an den eingenommenen Standpunkt bindet. Zusammenfassend bezeichnet Tillich diese kirchentheologische Position als eher reformatorisch und weniger revolutionär. 32 Demgegenüber zeichnet sich die kulturtheologische Perspektive auf Kultur als eher revolutionär in dem Sinne aus, dass alle Kulturprägungen zwar als mehr oder weniger gehaltvolle Ausdrucksgestalten des Prinzips ansichtig werden, jedoch keine Fixierung auf eine bestimmte Kulturausprägung statthat, die in ihrer Einzelheit nur als transitorischer Punkt im religiösen Gesamtprozess ihre momenthaftige Berechtigung erfährt. Damit erweist sich die Kulturtheologie als schlechterdings untraditionell in der Art, dass Kontinuität mit dem Vorhergegangenen nicht elementarer Bestandteil ihrer Auffassung ist, auch wenn bestimmte konkrete Fixierungen und ein Ver-

————— 32

„Der Kirchentheologe ist […] grundsätzlich der konservativere, auswählende, nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts gewandte. ‚Die Reformation geht fort‘ ist sein Grundsatz, aber es ist Reformation, nicht Revolution; denn die Substanz seines konkreten Standpunktes bleibt erhalten, und die neue Formgebung auf allen Gebieten muß sich der alten anpassen.“ (GW IX, 29)

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weilen auf selbigen ein notwendiges Prozedere im Rahmen konkreter Existenzform darstellt.33 Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass Kirchentheologie ihre theologische Arbeit stärker von einer konkreten, bestimmten Objektivation des Prinzips abhängig macht, Kulturtheologie hingegen intensiver – damit aber auch abstrakter – vom Prinzip selbst her zu denken versucht und sich damit weniger an bestimmte Kultur bindet, sondern in Kultur überhaupt ihre Ausdrucksform immer wieder neu findet.34 Mit dieser Bestimmung findet bereits eine Überleitung zur noch ausstehenden Grundfragestellung der Bedeutung der Christologie in Tillichs System von 1919 statt, weil die Problematik, die den beiden Fassungen von Theologie jeweils anhaftet, dieses Themengebiet wiederum eröffnet: Kirchentheologie neigt in ihrer deutlicheren Konzentration auf die konkrete inhaltliche Fixierung prinzipieller Absolutheit zu dem von Tillich in ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ strictissime abgelehnten Werkcharakter innerhalb theologischer Selbstbestimmung, indem hier in gewisser Weise die Annahme einer bestimmten religiös besetzten Kultur oder – anders formuliert – einer heiligen Sphäre das richtige Prinzipverständnis zu begrenzen droht. Die angesetzte bestimmte Sphäre des Religiösen trägt die Gefahr in sich, zu einer extrasubjektiv-heteronomen Quelle zu depravieren, die prinzipielles Erfassen von der vorgängigen Bejahung einer bestimmten Relativität abhängig macht. Kulturtheologie hinwiederum tendiert zur Vernachlässigung der notwendigen konkreten Niederschlagsgestalt des absoluten Prinzips, so dass jede Kulturprägung letztlich als bloß relativ erfahren wird und damit ihren konstitutiven Charakter für das Prinzip selbst einzubüßen sich anschickt. In dieser Rücknahme des Prinzips auf reine Subjektivität ist jedoch unweigerlich die aporetische Gefahr solipsistischer Selbstbezüglichkeit gegeben, die letztlich – wie in der Kritik von Gunther Wenz ausgeführt – in reiner Willkür zu enden droht. Wie diese entweder heteronome oder aporetische Verfehlung des Prinzips vermieden werden kann und ob Tillich diese, in seiner Theologie selbst gestellte Forderung erfüllt, soll im nächsten Kapitel einer Interpretation zugeführt werden. ————— 33

„Der Kulturtheologe […] steht frei in der lebendigen Kulturbewegung, offen nicht nur für jede andere Form, sondern auch für jeden neuen Geist. Zwar lebt auch er auf dem Boden einer bestimmten Konkretheit, denn leben kann man nur in einem Konkreten; aber er ist jederzeit bereit, diese Konkretheit zu erweitern, zu verändern; er hat als Kulturtheologe kein Interesse an einer kirchlichen Kontinuität“ (GW IX, 29). 34 Dass Tillich die skizzierten Idealformen einer Kirchen- und einer Kulturtheologie als gewissermaßen abstrakte Position, die sich real nur in einer bestimmten Mischform durchführen lassen, verstanden wissen möchte, ergibt sich schon aus der skizzierten Polaritätsstruktur, in die die beiden Theologieformen in Tillichs Darstellung treten.

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2.4.2 Das Alte im Neuen: Das theologische Paradox als Implement des absoluten Paradoxes Wie die alte Prinzipformulierung von 1913 und ihre präzisierte Fassung von 1919 im Verhältnis zueinander stehen, entscheidet sich in der noch ausstehenden Beantwortung der Frage, welche Bedeutung das aus christlicher Perspektive zentrale Offenbarungsereignis Gottes in Jesus Christus innehat.35 Wenn Tillich 1919 formulieren kann, es gebe „kein absolutes Offenbarungsmedium“ (EW IX, 228), wodurch die „Absolutheit des Christentums“ (EW IX, 226) an sich zu verabschieden sei, und somit „Absolutheit allein dem religiösen Prinzip, aber keinem einzelnen, auch nicht dem historisch grundlegenden Moment der religiösen Kultur“ (GW IX, 29) – und damit ist unzweifelhaft auch und gerade der Christus Jesus gemeint – zukommen könne, so scheint die Absolutheit, die dem konkreten Moment des theologischen Prinzips 1913 dem Christus Jesus zugesprochen wurde, nun nicht mehr konstitutiv zu sein für die prinzipielle Verortung der Theologie Tillichs.36 Zu fragen wäre dann allerdings, wie das System Tillichs sich dem ————— 35

Dass die Christologie bei Tillich letzten Endes auf die Offenbarungsthematik reduziert ist bzw. beide Themengebiete bei Tillich unter demselben Blickwinkel zu verhandeln sind, hält schon Gunther Wenz fest, indem er die von ihm angesetzte Aporetik in Tillichs Denken im Kern anhand der Bedeutung des Christus Jesus als dem Offenbarungsereignis schlechthin thematisiert; vgl. Wenz, Subjekt, 190–215. 36 Die Bedeutung der Christologie für Tillich auch im Rahmen der Sinntheorie bzw. der Kulturtheologie versucht Russel Re Manning, The Place of Christ in Paul Tillich’s Theology of Culture, in: Peter Haigis/Gert Hummel/Doris Lax (Hg.), Christus Jesus – Mitte der Geschichte!? Beiträge des X. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/Main 2004. Christus Jesus – the Center of History!? Proceedings of the X. International Paul-Tillich-Symposium Frankfurt/Main 2004 (Tillich-Studien, Bd. 13), Berlin 2007, 33–50, aufzuzeigen. Dabei verhandelt er in Sonderheit – und sicherlich zu Recht – Tillichs Konzept einer Verzahnung von Grund- und Heilsoffenbarung, auf deren religionsphilosophisches Pendant einer Unterscheidung von absoluter und konkreter Religion auch hier nochmals zurückzukommen sein wird. Nach Manning ist für Tillich die Christusoffenbarung „the perfect revelation“, weil „in Christ is the event of breakthrough which is itself broken through.” (Ebd., 46). Insofern lasse sich gerade aussagen, dass „perfect revelation requires non-exclusivity.“ (Ebd.) Manning bringt damit den für Tillich unaufgebbaren Aspekt der Selbstüberwindung in Anschlag und versucht hiermit die Nicht-Absolutheit des Christentums, wie sie Tillich in seinem sinntheoretischen Stadium besonders artikuliert, gerade als Beleg für dessen Absolutheit einzubringen. Dieser Ansatz sowie die „inter-relation of Heilsoffenbarung with Grundoffenbarung“ (ebd., 43) sind sicherlich äußerst erhellend in Bezug auf die christologische Deutung der Sinntheorie und Kulturtheologie Tillichs aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts; ob sie allerdings das Problem des starken Zurückweichens christologischer Implikationen in diesem Stadium Tillich’scher Systemausprägung zu lösen vermögen, ist fraglich, obwohl dies gerade das erklärte Ziel Mannings ist (vgl. ebd., 33). Im Folgenden wird ein weitergehender, vermehrt auf die starke Subjektsorientierung Tillichs – die Manning in seinem Beitrag bezeichnenderweise nicht einmal erwähnt – fokussierter Lösungsansatz vorgestellt. Ebenfalls auf den Selbstüberwindungsaspekt hebt Christian Danz ab, jedoch ohne den problematischen Konsequenzen Mannings anheim zu fallen. Vielmehr integriert er die Selbstüberwindung im Christus Jesus

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Vorwurf einer rein selbstentworfenen Prinzipsetzung, ja des Versuches der Selbsterlösung erwehren sollte. Zur Lösung dieser Problematik bedarf es zunächst eines differenzierten Blickes auf das, was ‚Absolutheit des Prinzips‘ im Gegensatz zum niemals absoluten Offenbarungsmedium – erinnert sei, dass Tillich diese, das Offenbarungsmedium betreffende Absolutheit im supranaturalistischen Verständnis meint –, mithin, was Absolutheit überhaupt vorstellig macht. Seine Absolutheit bezieht das absolute Prinzip daraus, dass es als transzendentaler Grund jeglicher Realitätserfahrung fungiert, d.h. dass denkende Weltwahrnehmung nie anders wahrhaft vollzogen werden kann als unter der Voraussetzung des Prinzips als apriorisches Datum. Diese Apriorizität steht ihrerseits – darauf richtet sich Tillichs gesamte Argumentation – jenseits des Zweifels, weil auch dieser sich in jedem Moment seines Anhebens ihr verdankt und darüber hinaus die absolute Paradoxalität unmittelbar erfahren wird im Selbstvollzug von Subjektivität, so dass es sich beim von Tillich angesetzten Prinzip um ein tatsächlich apriorisches handeln soll. Insofern lässt sich sagen, dass das apriorische Prinzip als in Absolutheit verfasstes vorstellig werden kann, weil es seinerseits unbedingt fungiert. Der Tillich’sche Glaubensbegriff als Vollzug von Rechtfertigung der vermittelten Unmittelbarkeit von Selbstheit richtet sich nun auf Unbedingtheit in Reinform, die allerdings vermittels der Relativität ansichtig wird, weil dies anders unter raumzeitlichen Bedingungen schlechterdings ausgeschlossen ist. Die sich anschließende, entscheidende Frage lautet nun: Ist das Prinzip Tillichs selbst das Unbedingte oder ist das Prinzip vom ‚Gott über Gott‘ derart getrennt, dass das Prinzip zwar mit einer unbedingten Funktion belegt ist, diese Unbedingtheit hinwiederum garantiert wird durch das Unbedingte selbst, den Gott über Gott? Es dürfte sich wohl im Rahmen des Tillich’schen Denkens bewegen, diese Frage in ihrer alternierenden Exklusivität abzulehnen und ein Wahrheitsmoment beiden Teilen der Doppelfrage zuzusprechen. Präziser gefasst ist die Fragestellung in der paradoxen Feststellung, dass das Prinzip die Unbedingtheit des Unbedingten realisiert und gleichzeitig vom Unbedingten, das durch das Prinzip zum Ausdruck

————— als notwendiges Implement seines geschichtsphilosophischen Tillichverständnisses: „Jesus als der Christus ist für Tillich gerade darin die vollkommene Offenbarung, da [sic!] hier das Bewusstsein von einem Konkreten bestimmt ist, welches sich als Konkretes negiert und dadurch die Unbedingtheitsdimension des Geistes zur Darstellung bringt. Die christologische Reflexion beschreibt auf diese Weise die Konstitution eines sich in seiner Geschichtlichkeit erfassenden Sinnbewusstseins und zwar derart, dass sie die geschichtliche Bestimmtheit des Geistes expliziert.“ (Danz, Jesus Christus, 154) Zu Grund- und Heilsoffenbarung vgl. Danz, Glaube, 173 Anm. 55.

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kommt, nicht als von einer extraprinzipiellen Setzung die Rede sein kann.37 Genau das möchte Falk Wagner beschreiben, wenn er das „Grundthema der Theologie Paul Tillichs“38 zu erfassen sucht und dieses vorfindet in der schlechthinnigen Selbstgegebenheit des Unbedingten, anhand derer sich das Sich-Gegebensein realer Selbstheit erst erfassen lässt.39 Das Unbedingte ist mithin nach Wagner die „absolute[.] Positivität der Selbstgegebenheit“40, die sich zwar – darin stimmt Wagner mit der hier gebotenen Darstellung überein – nicht trennen lässt von ihrer prinzipiellen Umsetzung, die die Bedingung der Möglichkeit ihrer Rezipierbarkeit im Rahmen von Realität überhaupt darstellt, jedoch von ihr klar unterscheidbar ist. Damit ist ein Distinktionsmerkmal zwischen dem Prinzip und seinem Grund eingezogen, das allerdings derart vorstellig zu werden hat, dass Prinzip und Grund nicht getrennt werden können, also auch der Grund des Prinzips, nämlich die absolute Positivität der Selbstgegebenheit Wagners, nicht das prius gegenüber dem Prinzip selbst darstellen darf, sondern das Prinzip Darstellungsmodus des Grundes ist, der als solcher nicht abgesehen von eben jener Darstellung ist. Über dem Prinzip steht also schlechterdings nichts, auch nichts, das die Unbedingtheit des Prinzips selbst verbürgen könnte, sondern das Prinzip ist letztlich identisch mit der von Wagner so bezeichneten absoluten Positivität der Selbstgegebenheit, jedoch ohne deshalb von dieser nicht unterscheidbar zu sein. Nur wenn die Themenbestimmung der Theologie Tillichs durch Wagner so aufgefasst wird, vermag sie dem zu entgehen, was Tillich eben vermeiden möchte, nämlich die Aufspaltung des Prinzips in sich selbst und einen Grund seiner selbst, der versucht dem Rechnung zu tragen, was die Pole von absolut und konkret in ihrer paradoxen Synthesis

————— 37

Materialdogmatisch lässt sich diese Problematik in der Frage nach einer Trinität oder Quaternität in Tillichs Theologie reproduzieren, wie dies Robert P. Scharlemann, Das Sein im Wesen Gottes, in: Gert Hummel/Doris Lax (Hg.), Trinität und/oder Quaternität – Tillichs Neuerschließung der trinitarischen Problematik. Trinity and/or Quaternity – Tillich’s Reopening of the Trinitarian Problem. Beiträge des IX. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/Main 2002. Proceedings of the IX. International Paul-Tillich-Symposium Frankfurt/Main 2002 (TillichStudien, Bd. 10), Münster 2004, 332–337, unternimmt. Ob ein solches Vorgehen in Bezug auf die Interpretation der Theologie Tillichs förderlich ist, muss nicht zuletzt ob der Unklarheiten in Tillichs diesbezüglichen Aussagen, die Scharlemann selbst anführt (vgl. ebd., insbes. 334f), bezweifelt werden. 38 So der Untertitel zu Wagners Schriftfassung seiner Antrittsvorlesung in München; vgl. Wagner, Absolute Positivität, 172. 39 Vgl. ebd., 178: „Ist das Unbedingte das durch sich selbst bedingte, so erhebt die Theologie mit der Selbstgegebenheit des Unbedingten das Sich-Gegebensein autonomer Selbsttätigkeit und Sinnleistung unter den Bedingungen der Endlichkeit zum Thema.“ 40 Ebd., 181.

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vorstellen.41 Das Prinzip Tillichs aus dem Jahre 1919 möchte eben die Aufteilung in eine absolute und eine konkrete Sphäre überwinden, so dass die Paradoxalität just in dem Zusammenziehen der beiden Sphären auf den Punkt des Prinzips in der Subjektivität selbst statthat. Dies zeitigt die doppelte Konsequenz, dass es einerseits einem Rückfall in die alte Prinzipformulierung gleichkäme, zerrisse man das absolute Paradox in ein Prinzip und dessen Grund; andererseits ist die Erfüllung des Postulats absoluter Paradoxalität, nämlich schlechterdings den Kulminationspunkt in der Selbstheit von Subjektivität selbst zu finden, nur zu haben, wenn der Ort von Offenbarung des Unbedingten auch wiederum ausschließlich statthat im Genesepunkt von Subjektivität selbst. Dies würde nun eine Verschiebung der Revelation von Unbedingtheit bzw. absoluter Kategorien weg vom konkreten Moment des theologischen Prinzips – namentlich vom Christus Jesus – hin zu Subjektivität selbst bedeuten. Zu fragen ist nun allerdings, ob diese Konzeption tatsächlich dem Ansatz Tillichs entspricht, weil der skizzierte Tatbestand notwendig in die problematische Aporienähe eines letztlich unmittelbar fungierenden Prinzips, das der Willkür von Subjektivität entspringt, rücken würde. Die konstitutive Bedeutung der Verobjektivierungen des Prinzips wurde bereits eingehend erörtert und festgehalten; 42 real ist das Prinzip mithin nur im Rahmen seiner Objektivationen, die eine tatsächliche systematische Explikation allererst ermöglichen. Gesprochen wurde in diesem Zusammenhang von einer Verobjektivierung zu ‚beiden Seiten‘ des Prinzips, womit die Abstraktion vom Prinzip selbst hin zum Unbedingten, dem Gott über Gott, einerseits und zum anderen die Konkretisierung des Prinzips in Form einer realen Entität im Rezeptionsspektrum von Reflexion gemeint war. Sowohl Abstraktion als auch Konkretisierung erweisen sich insofern als der Subjektivität schlechterdings unzugänglich, als sie in jedem Moment ihres ————— 41

Die Explikation der Theologie Tillichs als die absolute Positivität thematisierend zieht bei Wagner eben das Problem nach sich, das Tillich gegen Ende des ersten Weltkrieges in seinem ursprünglichen Theologieansatz, wie er sich paradigmatisch in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ findet, selbst erkennt: die thetische Ansetzung von Absolutheit oder Unbedingtheit. Soll diese vermieden werden, bedarf es eben einer Prinzipfassung, die jedwede Externität zum denkenden Selbst zu überwinden vermag. Die von Falk Wagner gewählte Begrifflichkeit der Positivität evoziert aber gerade diese Distanz zum Subjekt selbst. Auch der glücklichere Terminus einer schlechthinnigen Selbstgegebenheit arbeitet jedoch latent mit idealistischem Handwerkszeug, wodurch es Wagner nicht überzeugend gelingt, das Anliegen Tillichs adäquat zu formulieren, indem er jedwede Form von Setzung vermeiden würde. Dass das, was Wagner intendiert, exakt auf den Kern Tillich’scher Gedankenbildung zielt und mit der in dieser Tillichuntersuchung herausgearbeiteten und noch herauszuarbeitenden Interpretation in Einklang steht, bleibt trotzdem unbeschadet. Die Annäherung an eine „Grammatik der Theologie Tillichs“ (Wagner, Absolute Positivität, 191 Anm. 34) dürfte selten so gelungen sein, wie im Falle Falk Wagners. 42 Vgl. Kap. 2.3.2.

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‚Seins‘ automatisch für die reflexive Dialektik im Rahmen des SubjektObjekt-Zusammenhanges auftreten und somit als externe Gegenständlichkeiten – ob in abstrakter oder konkreter Form – keine unmittelbare Bedeutung für die Selbstheit des Selbst gewinnen können. Lässt sich die Relation zwischen dem Prinzip und seinen Objektivationen allerdings – wie bereits für das Verhältnis zwischen dem Unbedingten und dem Prinzip selbst – nur im Rahmen dieser relativen Kategorien erfassen, so schließt sich die berechtigte Frage nach dem Verhältnis der Konkretisierung des Prinzips zum Prinzip selbst an. Dies versucht Tillich – wie gesehen – in seiner Kulturtheologie zu beantworten,43 kommt jedoch auch hierbei nicht umhin, selbst für den idealen Kulturtheologen eine konkrete Basis, von der aus seine Nähe zum Prinzip anhebt, zu konstatieren. Dabei setzt Tillich wiederum die notwendige Vorgängigkeit prinzipieller Objektivation an, um überhaupt prinzipiell prozedieren zu können. Allerdings – und hier eröffnet sich die Problematik der Christologie – bringt Tillich die Konkretionen des Prinzips als immer auf der Linie zwischen Form und Gehalt befindlich in Anschlag, weshalb sich die völlige Formwerdung des absoluten Gehalts de facto ausschließt. Demnach handelt es sich aber bei allen konkreten Objektivationen des Prinzips ausschließlich um approximative Realisierungen des absoluten Gehalts, die alle Konkretionen zwar als Symbol für die Unbedingtheit des Unbedingten ansetzen, einen echten Offenbarungsgehalt von sich aus jedoch nicht enthalten – dieser bleibt auf die Genese von Subjektivität beschränkt. In dieser Weise hat die Argumentation Tillichs zur Darstellung zu kommen und gerät damit in starke Nähe zu der aporetischen Verfasstheit, die ihr Gunther Wenz zuschreibt. Beachtet werden muss nun aber, dass Tillich selbst sein Prinzip immer als im Zustand des Oszillierens begriffen vorstellt, es also niemals in reiner Intransigenz der Punkthaftigkeit im Rahmen sich genetisierender Subjektivität erstarren lassen will. Tillichs Prinzip ist notwendig zwischen Kultur- und Kirchentheologie zu verorten und empfängt sein Leben ausschließlich von der Reziprozität beider Standpunkte, die das wesenhafte Oszillieren des Prinzips konkret verkörpern. Warum isoliert Tillich dann unter strikter Ausscheidung eines absoluten Offenba-

————— 43

Dies ist nach Christian Danz, Existenz, 340, Tillichs Antwort auf die von Ernst Troeltsch konstatierte Krise des Historismus. Tillich befindet sich Danz zufolge hier in großer Nähe zu Martin Heidegger, wobei Letztgenannter die „Aufdeckung der Geschichtlichkeit des konkreten Selbst“ im Unterschied zu Tillich nicht in der Kultur, sondern „am Paradigma der urchristlichen Religiosität“ (ebd.) aufzuzeigen versuche.

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rungsmediums seine Position auf die Selbstheit von Subjektivität?44 Geschuldet dürfte dieser Umstand zwei Ursächlichkeiten sein: Tillich möchte auch diesmal wieder auf jeden Fall die seines Erachtens größere Gefahr einer Heteronomie vermeiden,45 der gegenüber die Stärkung der Subjektivität und mit ihr die Gefahr der Willkür ihm das kleinere Übel zu sein scheint. Außerdem setzt Tillich Kultur- und Kirchentheologie zwar als idealiter in Synthese zu überführende Positionen an, bezeichnet eine „Personalunion“ von Kirchen- und Kulturtheologe in einer Person jedoch als „nicht unter allen Umständen wünschenswert“, weil „die Typen […] sich frei entfalten können“ (EW IX, 29) müssen, um ihrer jeweiligen Aufgabe nachkommen zu können. Dass sich Tillich selbst als Kulturtheologe verstanden wissen möchte, ist augenfällig, so dass der radikale Umgang mit Kulturschöpfungen in dem Sinne, dass sie in ihrer Einzelheit eben nur transitorischen Charakter haben können, in Kauf genommen wird, um stärker die Abstraktheit des Prinzips selbst verwirklichen zu können. Dass Tillich damit allerdings sein Prinzip in eine Richtung hin interpretiert, die kaum mehr mit den von ihm aufgestellten prinzipiellen Prämissen konvergiert, geschweige denn die absoluten Forderungen zu erfüllen vermag, ist der eigentliche Problempunkt Tillich’scher Theologie.46 Die Interpretation des Prinzips durch Tillich selbst stellt nun aber nicht zwangsläufig die einzigmögliche Explikation dar, die sich aus der prinzipiellen Anlage Tillichs ergibt. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, eine kurze Skizze einer Prinzipexplikation des Tillich’schen Ansatzes von 1919 vorzustellen, die den als tendenziell aporetisch erkannten Weg, den Tillich beschreitet, vermeiden und satt dessen einen prinzipnahen Systemansatz vorstellen möchte, der zwar nicht von Tillich selbst autorisiert ist, sich jedoch – nach der bisherigen, hier vorgelegten Tillichinterpretation – genetisch aus Tillichs Gedanken entwickeln lässt. Das Folgende sei deshalb als eindeutig nicht originär den Schriften Tillichs entnommene Analyse gekennzeichnet, erhebt jedoch den Anspruch, im Rahmen Tillich’schen Denkens und in enger Orientierung an ihm seinen prinzipiellen Ansatz einer systematischen Lösung zuzuführen. ————— 44

In der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ war dies, wie gesehen, noch nicht in diesem Maße der Fall, auch wenn bereits im frühesten System Tillichs die Neigung zu einer Überbewertung absoluter Prämissen gegenüber dem konkreten Moment festzustellen war. 45 Dieses Anliegen war schon treibendes Agens in Tillichs frühester Systemkonzeption; vgl. dazu Kap. 1.3.2.3. 46 Insofern trifft die Kritik von Gunther Wenz Tillich voll; jedoch wird hier die Ansicht vertreten, dass das von Tillich aufgestellte Prinzip nicht in der Weise weitergeführt werden muss, wie dies Tillich selbst unternimmt, sondern vielmehr eine Lösung denkbar ist, die eine Theologie Tillich’scher Provenienz ermöglicht, ohne auf die von Tillich selbst beschrittenen Abwege zu geraten. Dieser Lösungsansatz wird im Folgenden im Text skizziert.

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So subjektivitätstheoretisch Tillich sein Prinzip 1919 auch formuliert – er gibt niemals die bereits 1913 veranschlagte Reziprozität zweier Pole auf, die schon in seiner, von ihm durchgehaltenen metalogischen Methode in einem logischen und einem alogischen Moment enthalten sind. Für die Subjektsthematik repliziert sich dieser Befund im Stehen jedweder Subjektivität zwischen Unmittelbarkeit und Vermitteltsein; verdeutlicht wurde dies auch anhand des Bezugs von Identitätsprinzip und metalogischer Methode aufeinander.47 Innerhalb dieses epistemologischen Befundes muss es als schlechterdings unstatthaft gelten, von den transzendentalen Bedingungen von Reflexivität überhaupt derart abstrahieren zu wollen, dass das Vermitteltsein seinerseits eingeholt würde von der Selbstidentität von Subjektivität, die dann ihre eigene Unmittelbarkeit selbst vermitteln und damit in eine – was dasselbe wäre – unvermittelte Unmittelbarkeit überführen würde. Dies zu vermeiden gelingt – bei allem notwendigen und berechtigen Ernstnehmen der Subjektivität aufgrund des aufbrechenden prinzipiellen Zweifels – nur, wenn Subjektivität sich zwar als Ort von Unbedingtheit begreifen kann, diese Unbedingtheit allerdings sich nicht dergestalt einzuverleiben sucht, dass sie an die Subjektivität als Revelationsort gebunden wird. Mit anderen Worten: Das Oszillieren, das nach Tillich jedem religiösen Vollzug anwest, muss in gleicher Weise Berücksichtigung in der Prinzipexplikation erfahren wie die Unmittelbarkeit von Subjektivität; ausschließlich dann kann gewährleistet werden, dass Subjektivität sich seinem Sich-einerExternität-Verdanken nicht nur inne ist, sondern dieses Bewusstsein auch eine konkrete Rückbindung in einer Instanz erfährt, die mit dem Subjekt nicht in unmittelbarer Identität steht. Dieses Verfahren widerspricht nicht etwa dem Tillich’schen Anliegen, Subjektivität selbst zum Offenbarungspunkt von Unbedingtheit zu erheben, sondern ist stricte dictu eher notwendige Konsequenz aus dieser Prämisse, weil auch Subjektivität sich selbst logisch nur als vermittelte begreifen kann. Droht das logisch sekundäre, de facto jedoch gleichzeitige Heraustreten einer Externität aus der Selbstidentität von Subjektivität in eine Quelle heteronomen Bestimmtwerdens umzuschlagen, so gilt es diesem Vorgang aufs konsequenteste entgegenzutreten. Allerdings muss das ständige Umschlagen zwischen metalogischer Methode und Selbstidentität jederzeit als ein Ringen im Prinzip selbst um eine Vermeidung von Heteronomie und Autonomie als abstrakte Kristallisation des Prinzips vermieden werden. Just darin äußert sich der Tillich’sche Begriff des Oszillierens, wenn prinzipielle Wahrheit nur in der theonomen ‚Mitte‘ zwischen autonomer Willkür und heteronomer Bestimmung – die ihrerseits der Subjektivität insofern wider————— 47

Vgl. Kap. 2.2.1 und 2.2.2.

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spricht, als sie für die Selbstheit zum nicht übernehmbaren Werk wird – ansichtig werden kann. Dabei ist der Begriff der Mitte nicht als ein Mischverhältnis zwischen Autonomie und Heteronomie misszuverstehen, sondern soll vielmehr das ständige Umschlagen des einen Pols in den anderen versinnbildlichen; dabei stellt die theonome ‚Mitte‘ eine Mittelposition nur in der Hinsicht dar, dass weder Autonomie noch Heteronomie als Erklärungsmodelle der an sich paradoxen Situation subjektiver Selbstheit suffizient erscheinen können. Für das denkende Bewusstsein lässt sich Theonomie allerdings nur in der reflexiven Dialektik von Autonomie und Heteronomie nachvollziehen, weshalb beide Pole ihre Verobjektivierung erfahren müssen, was sich im Falle der Autonomie auf die ihr wesentliche Fixierung in Selbstidentität und bezüglich der Heteronomie zur Abstrahierung bzw. Konkretisierung des Unbedingtheitsanspruchs von Vermittlung in der Subjektivität in Form eines göttlichen Unbedingten und seines realen Verwirklichungspunktes als konkrete Entität niederschlägt. Genau genommen findet bei Tillich eine Überführung des paradoxen, als solcher zwischen Unmittelbarkeit und Vermitteltsein schwebenden Zustands sich selbst erfassen wollender Subjektivität in Religion statt, was wiederum nicht anders vorstellig werden kann als in der vom Kernpunkt subjektiver Selbstheit ausgehenden Objektivation in abstrakter und konkreter Form. Ihre Berechtigung als SoSein im Schwebezustand, mithin ihre Rechtfertigung, gründet Subjektivität dann nicht auf der reinen Unmittelbarkeit ihrer selbst und kann dies auch nicht, ja sie weiß sich auch nicht nur als nur in Vermittlung unmittelbar, sondern sie kommt nicht umhin, ihre eigene Unmittelbarkeit einer Bestimmung durch die Externität der Abstraktion wie der Konkretisierung vom Prinzip selbst zuzuführen. Dass beide verobjektivierten Fassungen des Prinzips nicht in der Lage sind, Subjektivität in einen heteronomen Sog zu ziehen – dies wäre 1913 noch die Problematik gewesen –, ergibt sich schon notwendig daraus, dass nicht nur Subjektivität, sondern auch die Verobjektivierungen als ebenfalls gleichsam in Gegenständlichkeitsform vorliegende in vermittelter Unmittelbarkeit verfasst sind, also ihre Selbstheit nicht allein aus sich selbst zu beziehen imstande angesetzt werden müssen. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass Subjektivität sowie die abstrakte und die konkrete Fassung des Prinzips in gleicher Weise dem Prinzip der Rechtfertigung als vermittelt und unmittelbar zugleich zu unterwerfen sind. Prinzipielle Objektivationen und Subjektivität erweisen sich damit als strukturgleich.48 ————— 48

Ähnlich argumentiert Falk Wagner, der allerdings nicht die Verobjektivierungen in ihrer konstitutiven Funktion zur Geltung bringt, dafür aber – und dies materialdogmatisch sicherlich zu Recht – das christologische Geschehen vermittels pneumatologischer Realisierung umgesetzt sieht: „Die

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Die sinntheoretische Präzisierung des Systemprinzips

Für die christologische Fragestellung bedeutet dies nun, dass sich selbst als nur in Vermittlung unmittelbar erkannt habende Subjektivität Externität auch im Sinne thetischer Setzung, die allerdings die Struktur von Unbedingtheit in sich trägt, anzuerkennen nicht nur bereit ist, sondern dieser Externität – die ob der Strukturgleichheit niemals als heteronom Äußeres erfahren werden kann – in selbstkonstitutiver Weise bedarf – und vice versa.49 Wie auch schon im Falle der allerdings mit dem Makel des unberücksichtigten prinzipiellen Zweifels versehenen Konzeption aus dem Jahre 1913 ist auch 1919 wiederum der Vermittlungsaspekt nicht einholbar durch ein einsträngiges Oszillieren zweier Pole, sondern nur in der in beiden Polen analog ablaufenden Doppelbewegung zwischen Vermitteltsein und Unmittelbarkeit, die das reziproke Angewiesensein beider Pole aufeinander zur Darstellung bringt. Dass im Jahre 1919 der prinzipielle Zweifel an jedweder Externität hinzutritt, tut dieser Konstellation keinen Abbruch, denn wie metalogisch expliziert auch für den Tillich aus dem Jahre 1919 nur dann von einem Paradox gesprochen werden kann, „wenn dem Logischen ein antilogisches Moment immanent ist“ (EW X, 229 Ts), so bedeutet dies für die Subjektivität selbst, dass auch hier das Paradox nur wahrhaft erfüllt ist, wenn autonome Selbstheit in sich immer schon das un-autonome oder besser: theonome Moment von Externität, wie es im aus der eigenen Selbstheit unausscheidbaren Moment des Vermitteltseins der eigenen Unmittelbarkeit statthat, in sich enthält. In christologischer Explikation heißt das nichts anderes, als dass die Selbsthaftigkeit von Subjektivität im Christus Jesus sein Strukturanalogon findet, jedoch – und darin unterscheidet sich der hier vorgestellte Lösungsweg eklatant von einem Verfahren Pannenberg’scher Provenienz – nicht so, dass im Gegenüber des Christus eine tatsächlich extern auftretende Offenbarungsgestalt vorstellig zu werden hat, die – supranatural im Tillich’schen Sinne50 – Unbedingtheit als Orientie————— pneumatologische Transformation der christologischen Selbstexplikation im Medium des individuellen und soziokulturellen Weltumgangs erfolgt selbstverständlich nicht als unmittelbare Wiederholung der christologischen Struktur. Aber die christologische Struktur der Selbstexplikation des Allgemeinen an der Stelle des Besonderen und des Besonderen an der Stelle des Allgemeinen teilt ihre kategoriale Vergleichbarkeit mit der strukturellen Verfaßtheit des individuellen und soziokulturellen Daseins. Denn sowohl das individuelle Dasein der menschlichen Subjekte als auch der objektiv-soziokulturelleWeltumgang beruhen durchgehend auf jeweils differenten Konstellationen des Verhältnisses von Allgemeinheit und Besonderheit.“ (vgl. Wagner, Christus, 250) 49 Vgl. Wagner, Christus, 251: „Denn zur Christologie gehört ihre Mitteilbarkeit für andere und anderes, die […] aus ihrer eigenen Selbstanwendung resultiert.“ 50 Auf die Problematik des Supranaturalismusbegriffs bei Tillich verweist Gunther Wenz, Blatt, 50, und ausführlich, mit einer Begriffsgeschichte sowie der Analyse der Supranaturalismuskritik Tillichs als einer rein logischen Begriffskritik ders., Tillichs Kritik des Supranaturalismus, in: Gert Hummel (Hg.), God and Being/Gott und Sein. The Problem of Ontology in the Philosophical Theology of Paul Tillich/Das Problem der Ontologie in der philosophischen Theologie Paul

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Theologischer Standpunkt und absolutes Paradox

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rungspunkt für die Relativität einbrächte, sondern derart, dass die Strukturgleichheit in der paradoxen Verfasstheit von Unmittelbarkeit und gleichzeitigem Vermitteltsein im Christus Jesus zwar idealiter und trotzdem realiter auftritt,51 im Subjekt wie im Christus Jesus jedoch ein internes Vermittlungsgeschehen initiiert, das das jeweilige Angewiesensein der beiden Pole aufeinander ansichtig macht. Dabei ist immer zu beachten, dass sowohl Subjektivität als auch der Christus Jesus ihre Berechtigung finden im absoluten Prinzip selbst, der Rechtfertigung, die garantiert wird vom zwar gleichfalls wie der Christus Jesus prinzipiell bezweifelbaren, in seiner Strukturiertheit aber unmittelbar der Selbstidentität zugänglichen und deshalb unbezweifelten Unbedingten.52

————— Tillichs. Contributions made to the II. International Paul Tillich Symposium held in Frankfurt 1988/Beiträge des II. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt 1988 (TBT 47), Berlin/ New York 1989, 3–29; vgl. zum Thema auch Oswald Bayer, Theologie (Handbuch Systematischer Theologie, hg. von Carl Heinz Ratschow, Bd. 1), Gütersloh 1994, 224, und im Anschluss an Wenz auch Schüßler, Umwendung, 128. 51 Genau diese Strukturgleichheit kann Tillich ab 1925 in seiner Dogmatikvorlesung in Dresden selbst aussagen: „Es ist das gleiche Sein der Gottverbundenheit, das in ihm [sc. dem Erlöser] und in ihnen [sc. den Erlösten] ist. In ihm principiell und in Reinheit anschaubar – aber überempirisch. In ihnen principiell wirksam, aber in der Empirie nie rein anschaubar.“ (EW XIV, 355). Dass sich das in Christus prinzipiell Geschehende trotz und in seinem überempirischen Charakter real ereignet, fasst Tillich in der Formel, dass die „Verbundenheit mit dem Sein Jesu Christi […] eine Verbundenheit in der Geschichte“ (ebd.) ist. Just dies schließe aber eine historische Lokalisierung ein, die jedoch für das prinzipielle Geschehen unbedeutend sei (vgl. ebd.). Damit reformuliert Tillich seine christologischen Prämissen, die er bereits 1911 entwickelt hatte. 52 Falk Wagner möchte dieses Unbedingte in seiner Tillichinterpretation nun aber gerade als das absolut Positive (vgl. Wagner, Absolute Positivität, passim) bzw. als die „Priorität des Sinn- und Seinsgrundes“ (Wagner, Christus, 238), die er dezidiert als „Positivität“ (ebd.) bezeichnet, eingebracht wissen. Damit entstünde aber just das Problem, das Tillich – zumindest seit seiner Sinntheorie – zu vermeiden sucht, nämlich die Bezweifelbarkeit absoluter Setzung. An den Ansatz Falk Wagners bleibt also die Anfrage bestehen, ob hier nicht eigentlich das Tillich’sche Prinzip insofern verkürzt wird, als es so zur Darstellung kommt, als gründe es letztlich auf etwas absolut Vorgegebenem. Dass das Unbedingte Tillichs letztlich eine apriorische, ja transzendentale Funktion innehat, sei deshalb nicht bestritten, sondern sogar mit Nachdruck unterstrichen – jedoch wird diese Funktion, wie zu zeigen versucht wurde, allererst dann adäquat erfasst, wenn die Verobjektivierungen prinzipiellen Geschehens in ihrer konstitutiven und auch prinzipiell absoluten Valenz Beachtung finden. Erst das Chauchieren zwischen Absolutheit und Relativität auch und gerade dessen, was Tillich als das Unbedingte bezeichnet, vermag dem Tillich’schen Prinzip völlig gerecht zu werden. Eine einfache Position des Unbedingten muss – bei aller sonst zu verzeichnenden Nähe des hier vorgestellten Ansatzes zu dem Wagners – jedenfalls zu kurz greifen. – In christologischer Hinsicht beobachtet Wagner richtig, dass menschliche Selbstkonstitution erst unter christologischer Vermittlung wahrhaft sich vollziehen kann: „Nicht die schöpfungsmäßige und ursprünglich sich gegebene, sondern die christologisch neu konstituierte Freiheit des Menschen stellt die Basis der christlich-religiösen Weltverantwortung dar.“ (Ebd., 244)

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Die sinntheoretische Präzisierung des Systemprinzips

Lässt man sich auf die problematische Spaltung des Religionsbegriffs in eine absolute und eine konkrete Religion bei Tillich ein,53 die zwar dem System in seiner Gesamtheit nicht gerecht zu werden vermag, für die Explikation des Tillich’schen Anliegens jedoch durchaus erhellend sein kann, so könnte unter Berücksichtigung der bisherigen Analyse von einer rein symbolischen bzw. damit relativen Bedeutung des Christus Jesus im Rahmen der absoluten Religion, jedoch von einer Absolutheit des Christusereignisses unter dem Blickwinkel von konkreter Religion gesprochen werden. Dies entspricht Tillichs Unterscheidung zwischen einem kultur- und einem kirchentheologischen Vorgehen, entscheidet jedoch noch nicht darüber, ob im Zusammendenken beider Sphären – was unter relativen Bedingungen notwendig der Fall sein muss – nun von einem Unbedingtheitsanspruch des Christus Jesus gesprochen werden kann oder nicht. Auch der Begriff einer ‚bedingten Exklusivität‘54 des Christentums und somit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus lässt zwar das Oszillieren in Tillichs Theologie deutlich werden, vermag jedoch keine tatsächliche Klärung des Problems zu erbringen. Der Begriff der Strukturgleichheit bezogen auf die beiden Verobjektivierungen des Prinzips, abstrakter Gott und konkreter Christus, und auf die Subjektivität selbst eröffnet hier einen differenzierteren Ansatzpunkt, indem alle drei Instanzen als prinzipiell strukturgleich verfasst vorstellig werden. Eben dadurch kann aber sowohl der Gottesbegriff als auch seine Konkretisierung im Christus Jesus insofern ihrem Bezweifeltsein enthoben werden – wobei der Zweifel damit nicht aufgehoben ist, sondern als fortwährendes Moment in jedem Augenblick voll aufbricht –, als Subjektivität sich selbst nicht in Zweifel zieht, so wie dies auch das Identitätsprinzip veranschaulicht, und daher das ihr Strukturgleiche als nicht schlechterdings Differentes zu erfassen vermag. Damit soll nicht behauptet sein, dass die Externität von Gott und Christus aufgrund der strukturellen Übereinstimmung aufgehoben wäre – ganz im Gegenteil, käme es doch sonst zu einer Vergöttlichung von Subjektivität als solcher bzw. zur Herabziehung von abstrakter wie konkreter Verobjektivierung des Prinzips in die Subjektivität. Vielmehr möchte die Strukturgleichheit die Gleichzeitigkeit ————— 53

Dies wurde im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft im Jahr 2009 in Hofgeismar als modus procedendi vorgeschlagen und findet sich in der Unterscheidung einer Erste-Person- und einer Dritte-Person-Perspektive auf den Religionsbegriff, also in der Distinktion von Religion als subjektives Empfinden und als – realiter nicht realisierbares – objektives Betrachten von Religion. Allein die Unmöglichkeit, tatsächlich von einer objektiven Warte aus auf Religion zu blicken – was Tillich auch im Jahre 1913 zu versuchen unternimmt, dann aber letztlich doch nicht, auch nicht in seinem ‚absoluten Standpunkt‘, ausführt –, zeigt, dass es sich bei dieser Unterscheidung nur um ein grobes Explikationsmodell, jedoch niemals um die differenzierte Erfassung des Tillich’schen Gedankenguts handeln kann. 54 So ebenfalls ein Schlagwort der Jahrestagung der Tillich-Gesellschaft aus dem Jahr 2009.

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Theologischer Standpunkt und absolutes Paradox

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von Vermittlung und Unmittelbarkeit, wie sie den Verobjektivierungen des Prinzips in gleicher Weise wie der Subjektivität anwest, vorstellig machen, so dass die Offenbarung des Unbedingten resp. die Erfahrung von Unbedingtheit nicht abstrakt beschränkt bleiben muss und darf auf das Zentrum sich konstituierender Subjektivität,55 sondern notwendig hinausdrängt auf die Objektivationen des Prinzips selbst. Damit ist nun ausgesagt, dass die drei strukturgleichen Instanzen per se zwar nicht als absolut bezeichnet werden können, in ihrem Wechselverhältnis aber notwendig derart aufeinander angewiesen sind, dass von den Objektivationen des Prinzips nicht abgesehen werden kann, soll Subjektivität sich nach wie vor als vermittelte Unmittelbarkeit, mithin als das, was sie wesensmäßig ausmacht, erfassen können. Soll nun in reflexiver Abstraktion – die somit eigentlich nicht Reflektierbares in die Reflexion hineinzieht – die Verhältnismäßigkeit von Unmittelbarkeit und Vermitteltsein in den drei strukturgleichen Instanzen eruiert werden, so ergibt sich – ganz analog der Relation von Gehalt und Form im Rahmen der Kulturtheologie Tillichs – aus Sicht der Subjektivität eine zur Unmittelbarkeit tendierende Fassung des Gottesbegriffs und eine von diesem Gottesbegriffe abhängige, somit unter dem Signum der Vermittlung stehende Konzeption in christologischer Hinsicht; Subjektivität selbst hinwiederum wird sich als zwischen diesen Polen ausgespanntes Moment einer Gleichzeitigkeit – die in Bezug auf die Objektivationen selbstverständlich für alle drei Instanzen statthat, nur unterschiedlich gewichtet – von Unmittelbarkeit und Vermitteltsein zu erfassen haben. Oder anders formuliert: Die in der Subjektivität erkannte Doppelstruktur von Unmittelbarkeit und Vermitteltsein erweist sich idealiter bezogen auf die Objektivationen des Prinzips als in prolongiertem Regress zu den Einzelpolen hin tendierende Dynamik. Im nie realisierten Endzustand würde dies eine Konstatierung absoluter Unmittelbarkeit für den Gottesbegriff und absoluten Vermitteltseins für den Christus Jesus zur Konsequenz zeitigen. In diesem Vermitteltsein des Christus wäre dann aber von dessen vollständiger Absolutheit zu sprechen, weil absolute Vermittlung letztlich mit absoluter Unmittelbarkeit in eins fallen muss, da in absoluter Betrachtung das vollständig in Vermittlung Stehende in Bezug auf seinen Status nicht mehr zu scheiden sein wird von

————— 55

Tillichs Unbedingtheitserfahrung darf damit eben niemals reduziert werden auf das Erfahrungsgeschehen selbst, weil sie sonst in die von Tillich selbst kritisierte Gefahr der Werkhaftigkeit des Erfahrungserlebnisses umzuschlagen droht. Unbedingtheitserfahrung ist im Tillich’schen Sinne zunächst Selbsterfahrung – bedarf aber notwendig der hinzutretenden Verobjektivierungen, um nicht zu Willkür zu depravieren.

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Die sinntheoretische Präzisierung des Systemprinzips

dem es allererst Vermittelnden.56 Ist dieser Zustand jedoch als reine Abstraktion zu klassifizieren, so trifft dies in gleicher Weise auf eine absolute Betrachtung des Prinzips in Reinheit zu, so dass beide Perspektiven für sich die realexistierende Subjektivität demnach nicht betreffs ihrer Unbedingtheitserfahrung zu umfassen vermögen. Für die Absolutheit des Christusereignisses heißt dies, dass auf dem Boden reflexiver Subjektivität von einer ‚absoluten Absolutheit‘ des Christus Jesus aufgrund seiner Differenzhaftigkeit gegenüber dem subjektiven Selbst nicht ausgegangen werden kann,57 seine prinzipielle Absolutheit58 aufgrund der Strukturgleichheit zum Subjekt und seiner Tendenz, in raumzeitlicher Sphäre zur Absolutheit erhoben zu werden, aber behauptet werden muss, möchte sich Subjektivität nicht in solipsistischer Selbstidentität verlieren.59 ————— 56

In Bezug auf das Subjekt hat dieses Zusammenfallen jedoch keine Bedeutung und kann auch nicht als aporetisches Moment dieses Gedankens veranschlagt werden, weil sich Subjektivität per se auszeichnet durch ihren Widerspruch zu dem sie konstituierenden Grund, der Christus Jesus allerdings diesem Widerspruch in und trotz seiner Relativität durch sein Stehen in unmittelbarer Einheit mit dem ihn allererst Konstituierenden niemals ausgesetzt ist und auch nicht ausgesetzt sein kann ohne Aufhebung der Paradoxalität. 57 Die mit dem Da-Sein des Christus Jesus als historisch konkrete Person gegebenen Relativitätsmomente spielen für diese Betrachtung insofern keine Rolle, als selbst unter ihrer Ausscheidung und einer reinen – bei Tillich so nicht vorhandenen – Konstatierung des ‚Dass‘ seiner Existenz die schlechterdings unüberbrückbare Differenz zwischen Subjektivität als eine sich selbst identische und dem Christus Jesus als von dieser Selbstheit differente Instanz statthat. Zur Frage nach dem historischen Jesus vgl. die Ausführungen in Kap. 1.3.2. 58 Der vorgeschlagene Begriff der prinzipiellen Absolutheit möchte mithin Zweierlei in Ansicht bringen: Einmal soll der durch die Konzeption in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ geprägte Begriff der Absolutheit unter der Perspektive von Tillichs Denken nach dem ersten Weltkrieg nicht als thetische Setzung begriffen werden, d.h. Absolutheit meint nicht ein Absolutes in der Verfasstheit idealistischer Provenienz. Vielmehr bedeutet prinzipielle Absolutheit die niemals in Abstraktion erstarrende Verortung von Unbedingtheit jenseits von Gegenständlichkeit und Nicht-Gegenständlichkeit. Zum Zweiten soll mit der Rede von der prinzipiellen Absolutheit just das vorgestellt werden, was das Prinzip Tillichs auszeichnet, nämlich die niemals auflösbare paradoxe Doppelstruktur von Unmittelbarkeit und Vermittlung, die allezeit auch für die Verobjektivierungen des Prinzips in Geltung steht und somit auch in Bezug auf deren Absolutheit in prinzipieller Hinsicht zum Ausdruck kommt. 59 Die so gefasste prinzipielle Absolutheit der Objektivationen des Prinzips wehrt auch einer tendenziell missverständlichen Auslegung der Objektivationen als letztlich nicht-konstitutiver Elemente im prinzipiellen Geschehen. Wenn etwa Christian Danz formuliert: „Wird sich das Bewusstsein hingegen nicht in der ihm eigentümlichen Reflexivität durchsichtig, dann bleibt es nicht nur hinter sich zurück, sondern es identifiziert das Unbedingte mit dem Bewusstseinskorrelat, an dem es erscheint.“ (Danz, Geschichtliche Offenbarung, 184), so depraviert die Uneinholbarkeit des Unbedingten zu purem Subjektivismus, wenn nicht dem Bewusstseinskorrelat selbst Absolutheit prinzipieller Art zugesprochen wird; freilich erliegt Danz dieser Gefahr nicht, zumal er eben ein falsches Verständnis des Bewusstseinskorrelats zu vermeiden sucht, nämlich eines, das der „Dämonisierung“ (ebd.) verfallen muss – jedoch gilt es auch – und dies scheint in der Auslegung von Christian Danz tendenziell unterbestimmt – dem entgegengesetzten Fehler entgegenzu-

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Für die Verhältnisbestimmung von Tillichs frühem theologischen Standpunkt und seinem absoluten Paradox von 1919 bedeutet dies, dass Tillich in seiner präzisierten Prinzipfassung zwar ‚früher‘, d.h. noch weiter vor der konkreten Religion, anzusetzen versucht, indem er nicht mehr von einem – wie auch immer zu fassenden – unbezweifelbaren Absoluten ausgeht, im Rahmen seiner Prinzipkonstruktion aber konstitutiv seines früheren Prinzips – jedoch ohne den thetischen Absolutheitsanspruch, zu dem Tillich noch 1913 neigte – bedarf, um überhaupt sein prinzipielles Anliegen für die Subjektivität von Bedeutung sein zu lassen, da unter Absehung konkrettheologischer Ausführungen unter relativen Bedingungen religiöse Unbedingtheitserfahrung schlechterdings nicht explizierbar ist. Tillichs Prinzip von 1919 bedient sich somit der früheren Prinzipfassung als gewissermaßen konkretes Moment, wodurch es gleichzeitig die Gleichzeitigkeit von Unmittelbarkeit und Vermitteltsein auch im Rahmen von Absolutheitsaussagen einzeichnet.

————— wirken, der eben in einer Unterbestimmung desjenigen besteht, worin sich das Unbedingte im Sich-Durchsichtigwerden der Reflexionsverhaftetheit des Selbstbewusstseins zeigt.

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Die sinntheoretische Präzisierung des Systemprinzips

2.5 Zusammenführende Betrachtung Im Laufe des ersten Weltkriegs und erstmals manifest im Briefwechsel mit Emanuel Hirsch bricht Tillich sein bisheriges System, das in Form der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ vorliegt, durch Einführung des prinzipiellen Zweifels auf. Damit ist eine Ansetzung von Absolutheit, wie das noch 1913 tendenziell möglich war, nicht mehr in thetischer Form vertretbar, weil Zweifel in seiner Tiefe auch vor Absolutem, mithin dem Gottesgedanken, nicht Halt macht und auch nicht Halt machen darf. Die so zu ihrer eigenen Bestimmung, nämlich dem Widerspruch, gelangte Subjektivität vermag den nun durch den Begriff des Unbedingten ersetzten Absolutheitsbegriff nicht mehr anders zu erfahren als in der metalogisch verorteten Gleichzeitigkeit von Unmittelbarkeit und Vermitteltsein. Subjektivität kommt daher nicht umhin, sich als nicht selbst vermittelt, sondern in jedem Moment bedingt zu erfassen. Unbedingtheit bzw. die Vorgängigkeit des Unbedingten ist damit notwendiges Faktum für sich selbst als bedingt erkannt habende Subjektivität. Gleichzeitig ist das vorausgesetzte bzw. vorauszusetzende Unbedingte jedoch ob des prinzipiell aufgebrochenen Zweifels nicht mehr einholbar in einer abstrakten oder konkreten Fassung, so dass Unbedingtheitserfahrung ihren ausschließlichen Ort findet im Zentrum der Erkenntnis eigener Bedingtheit, also im Rahmen von Subjektivitätskonstitution selbst. Was im frühesten System Tillichs noch in Form des Absoluten bzw. seiner Konkretion im Christus Jesus1 zum Ausdruck kam, reduziert und konzentriert sich nun auf die Genese von Subjektivität selbst. Tillich expliziert den Vollzug von Selbstheit dabei unter dem Gesichtspunkt einer Sinntheorie, so dass sich die Relation zwischen Unbedingtem und Bedingtem in Form von absolutem Sinn und Sinnakt repliziert. Dabei ist – wie auch schon beim Begriff des Absoluten – Sinn auch in seiner Absolutheit nicht als thetische Instanz, sondern vielmehr als notwendig jenseits von Gegenständlichkeit und Nicht-Gegenständlichkeit zu verstehen. Tillich verfährt hier also analog seiner Wahrheitstheorie – allerdings unter Hinzunahme des prinzipiellen Zweifels – und zeichnet ein Dependenzverhältnis von Sinn in seiner Vorgängigkeit und Sinn in seiner Realisation. Beide, absoluter Sinn wie Sinnakt, stellen an sich jedoch bereits wieder Abstraktionen von dem ————— 1

Dass es sich beim Christus Jesus um die Absolutheit in ihrer konkreten Form handelt, lässt sich schon daran erkennen, dass Tillich selbst im Rahmen der Erörterung des absoluten Standpunkts bei dessen konkretem Moment dezidiert christologisch prozedieren muss; vgl. Kap. 1.2.5.3.

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Zusammenführende Betrachtung

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dar, was sich im Vollzug von Subjektivität selbst ereignet. Sinn wie Unbedingtes, die von Tillich identisch konzipiert werden, stehen mithin jenseits ihrer Verobjektivierungsformen, ohne jedoch deswegen unter Absehung von ihnen überhaupt erfasst werden zu können. Tillich abstrahiert deshalb zu ‚beiden Seiten‘ der Subjektivität, indem er einmal eine Abstraktion von Sinn bzw. Unbedingtem in seiner Absolutheit und einmal eine Konkretion von Sinn im Sinnakt bzw. vom Unbedingten in Form des Konkreten bzw. des Symbols ansetzt. Obwohl Abstraktion wie Konkretisierung des Unbedingten bzw. des Sinns, mithin des Prinzips überhaupt, nicht anders erfolgen können als unter den Bedingungen der Subjekt-Objekt-Struktur, weil anders Subjektivität nicht Anteil daran zu nehmen vermag, stellen sie dennoch die einzig möglichen Ausdrucksmomente des Prinzips dar und nehmen daher eine konstitutive Funktion wahr. Für den konkreten Part seines Prinzips versinnbildlicht Tillich dies im Rahmen seiner Kulturtheologie. Dabei steht jede Kulturschöpfung in einem Verhältnisgemenge von Gehalt und Form, wobei Gehalt immer den religiösen Zuspruch unbedingter Sinnhaftigkeit und Form die der jeweiligen Kulturwissenschaft unterliegende Ausprägung meint. Religion ist damit kein Exklusivmoment eines abgegrenzten Kulturbereichs, sondern wirkt notwendig in allen Momenten der Kultur in unterschiedlicher Ausprägung – je nach Fülle an Gehalt – mit. Kultur an sich wird damit zum Ort sinnhafter bzw. unbedingter Offenbarung in konkreter Form. Betreffs der materialdogmatischen Fragestellungen ist in Sonderheit die Christologie bzw. die Offenbarungslehre näher zu betrachten, weil hier im Gegensatz zu Tillichs frühester Konzeption eine leichte Verschiebung statthat: Durch die Konzentration auf die Unbedingtheitserfahrung im Kern von Subjektivität gerät der Christus Jesus stärker noch als 1911 und 1913 in den Verdacht, als potentielle Heteronomiequelle zu fungieren. Um dies zu vermeiden, steht auch der Christus Jesus als konkrete Ausprägung unbedingter Ansprüche unter dem Prinzip selbst und ist daher gleichzeitig zu bejahen wie zu verneinen. Für den Absolutheitsanspruch des Christentums bedeutet dies, dass auch hier von einer gleichzeitigen Negation wie Affirmation ausgegangen werden muss. Vollkommene Absolutheit im Sinne einer unbezweifelbaren Setzung kann auch der Christologie nicht zukommen, weshalb hier aufgrund der Strukturgleichheit zwischen Unbedingtem und Christus Jesus gegenüber der Subjektivität durch die Gleichzeitigkeit von Unmittelbarkeit und Vermitteltsein der Begriff der prinzipiellen Absolutheit favorisiert wird. Absolut sind diesem Verständnis zufolge Sinn und Unbedingtes, Gott als abstrakter und Christus Jesus nur insofern, als sie zwar immer Objektivierungsformen des Prinzips selbst darstellen, als solche allerdings unabdingbare Fassungen oder, um einen Tillich’schen Begriff zu

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Die sinntheoretische Präzisierung des Systemprinzips

wählen, Momente des Prinzips selbst repräsentieren und somit an dessen Absolutheit partizipieren. Das Prinzip selbst bleibt gefasst als Rechtfertigung, was bei Tillich nichts anderes meint als die bejahende und darin paradoxe Gleichzeitigkeit von Bejahung und Verneinung all dessen, was der Dialektik der Reflexion unterliegt. Dass somit auch die prinzipiell absoluten Instanzen dem Prinzip selbst unterliegen, ja sich letztlich das Prinzip seinerseits sich selbst unterstellen muss, ist nicht nur als Möglichkeit, sondern sogar als Notwendigkeit in Tillichs Prinzipanlage zu behaupten. Das nie hypostasierbare Unbedingte bzw. der ‚absolute‘ Sinn bilden mithin ein vorreflexives Faktum, das Tillich selbst nur im Begriff des Erlebens ansetzen kann. Damit lässt sich aussagen, dass prinzipiell Absolutes absolut nur dergestalt ist, dass es in jedem Moment seines Gedachtseins sofort wieder aufzuheben ist, um das, was nicht mehr auf den Begriff zu bringen ist, nicht seiner Absolutheit, die jedoch nicht mehr einholbar ist in reflexive Zusammenhänge, zu berauben. Für den begrifflich gewählten Präzisierungscharakter der Prinzipfassung von 1919 besagt dies, dass Tillich sein Konzept von 1913 so umzugestalten vermag, dass er dem prinzipiellen Zweifel Rechnung trägt, indem er ihn vollständig in das Prinzip integriert, wodurch jedwede Ansetzung des vorbegrifflichen Unbedingten sofort als unter dem Rechtfertigungsgedanken stehend zu bestimmen ist; gleichzeitig gelingt es Tillich – wenn auch mit deutlichen Abstrichen in seiner eigenen Systemexplikation – prinzipiell die Absolutheit der Verobjektivierungen des Prinzips, namentlich und in Sonderheit die des Christus Jesus, zu bewahren, ohne sie in einfacher Thesis vom Prinzip samt dessen Zweifel verschlungen sein zu lassen. Glaube wird daher für den Tillich der Zeit nach dem ersten Weltkrieg zu reinem Vollzug dessen, was der Rechtfertigungsbegriff beinhaltet. Anders kann und – so muss wohl im Sinne Tillich’scher Theologie gesagt werden – darf auch Glaube nicht verfasst sein, möchte er durch den Zweifel hindurch das Unbezweifelbare erfassen. Dies geht eben nur in der paradox sich vollziehenden Anwendung des Rechtfertigungsbegriffs auf das zweifelnde Subjekt selbst.

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3. Die ontologische Gestaltung des Systemprinzips

Seine letzte und somit endgültige Ausprägungsform gewinnt Tillichs Prinzip in dessen ontologischer Fassung, die sein in der Rezeption am stärksten berücksichtigtes opus magnum, die dreibändige ‚Systematische Theologie‘ der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, bestimmt. Allerdings ist die ontologische Zugangsweise zur Theologie bei Tillich nicht erst ein Phänomen seiner amerikanischen Zeit; bereits ab dem Jahre 1927 schwenkt seine Theologie deutlich auf eine ontologisch bestimmte Struktur ein1 – genau genommen findet sich eine bereits ontologisch verfasste, allerdings noch von den Begrifflichkeiten der Sinntheorie geprägte Nomenklatur in der zwischen sinntheoretischer und ontologischer Prinzipkonzeption liegenden ehemaligen Marburger Dogmatik-Vorlesung von 1925,2 die jetzt als Dresdner Dogmatik (1925–1927)3 in neuer Edition vorliegt.4 Der sinntheo————— 1

Vgl. hierzu Georg Neugebauer, frühe Christologie, 349–353. Neugebauer setzt den Beginn der ontologischen Phase Tillichs mit dessen 1927 erschienenem Vortrag ‚Gläubiger Realismus II‘ (GW IV, 88–106) an und sieht ihn fortgesetzt in Tillichs Schrift ‚Das System der religiösen Erkenntnis‘ (EW XI, 79–174), die – unveröffentlicht – ebenfalls aus dem Jahr 1927 stammen dürfte. Darüber hinaus konstatiert Neugebauer sicherlich zu Recht ein Auftreten des Ontologischen bereits in Tillichs Dissertationen zu Schelling, so dass das ontologische Element bereits in Tillichs ersten theologischen Arbeiten zu verzeichnen ist – auch wenn es zunächst im Rahmen der Wahrheits- und Sinntheorie noch nicht zum Tragen kommt. 2 Paul Tillich, Dogmatik. Marburger Vorlesung von 1925, hg., eingel. u. mit Anm. u. Reg. vers. von Werner Schüßler, Düsseldorf 1986. 3 Paul Tillich, Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927), hg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Werner Schüßler und Erdmann Sturm (= EW XIV), Berlin/New York 2005. Auf diese zwar nur fragmentarische, aber konzise Systemdarstellung Tillichs gilt es auch im Folgenden immer wieder zurückzukommen. Vgl. zur Marburger/Dresdner Dogmatik insgesamt: Danz, Geschichtliche Offenbarung, 182–187, Schüßler, Umwendung, passim, und Uwe Carsten Scharf, Dogmatics between the Poles of the Sacred and the Profan: An Essay in Theological Methology, in: Jean Richard/André Gounelle/Robert P. Scharlemann (Hg.), Études sur la Dogmatique (1925) de Paul Tillich. Textes présentés lors d’un colloque tenu à l’Université Laval en août 1994, Québec 1997, 273–291. 4 Die Lage der Dogmatik-Vorlesung zwischen Sinntheorie und Ontologie betont auch Robert P. Scharlemann, Ontology in Tillich’s Dogmatics of 1925, in: Jean Richard/André Gounelle/Robert P. Scharlemann (Hg.), Études sur la Dogmatique (1925) de Paul Tillich. Textes présentés lors d’un colloque tenu à l’Université Laval en août 1994, Québec 1997, 105–118, hier: 107. Die weitere Bestimmung des Ontologiebegriffs und seiner Verwendung bei Tillich (vgl. insbes. ebd., 105f) muss als zutreffend jedoch bezweifelt werden. Dass Tillich in dieser Vorlesung noch nicht auf den Ontologiebegriff an sich fixiert ist, beobachtet im selben Band Peter Slater, Dialectics in Tillich’s Early Dogmatics, in: ebd., 131–143, hier: 133.

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retischen Phase Paul Tillichs ist somit ebenso wie dem wahrheitstheoretischen Zugang eine nur äußerst begrenzte Wirkzeit beschert, woraus sich auch die Prädominanz des ontologischen Konzepts in der Wirkungsgeschichte der Theologie Paul Tillichs erklären lässt. Abgesehen von der unmittelbaren Vergangenheit der letzten Jahre, die sich dank der erstmals edierten, oftmals unveröffentlichten Texte aus Tillichs frühen Schaffensphasen nun auch diesen Schriften verstärkt zuwendet, war die Tillichforschung – von Ausnahmen abgesehen – stark fokussiert auf die Fragen und Probleme der ontologischen Gestalt der Tillich’schen Theologie. Nicht zuletzt deswegen bedarf es eines kritischen Blickes auf Tillichs letzte Prinzipanlage von seinen früheren Konzeptionen herkommend. Intention und Anspruch dieser, das Systemprinzip Paul Tillichs analysierenden Untersuchung kann es freilich nicht sein, einen vollständigen Überblick über die ontologische Phase Tillichs zu geben,5 zumal die vorliegende Untersuchung nicht als Werksgeschichte verstanden sein möchte. Vielmehr gilt es, eben in prinzipieller Hinsicht das ontologische Werk Paul Tillichs zu überblicken und dabei Kontinuitäten sowie Diskontinuitäten in Ansatz, Struktur und systematischer Ausführung des prinzipiellen Vorgehens Tillichs zu eruieren. Dabei wird dergestalt prozediert, dass entgegen der bisherigen Vorgehensweise zunächst (3.1) die Kontinuitätsmomente von Tillichs früher Theologie zu seinem Spätwerk herausgearbeitet werden. Dieser methodische Wechsel, also das Vorziehen der Darstellung der großen Entwicklungslinien gegenüber dem eigentlichen neuen, nun ontologischen Ansatz, ist darin begründet, dass sich einerseits auf den ersten Blick keine derart stringente Fortentwicklung des Prinzips erkennen lässt, wie dies noch zwischen der Wahrheitstheorie und der Sinntheorie der Fall war, und somit der Bruch zwischen diesen beiden frühen Konzeptionen und der ontologischen Fassung stärker erscheint; andererseits machen es die deutlichen Änderungen und der Wechsel im begrifflichen Bereich, die durch den ontologischen Ansatz gezeitigt werden, notwendig, zunächst eine Begriffsklärung in prinzipieller und systematischer Hinsicht durchzuführen, die das Verhältnis der alten Nomenklatur zur neuen aufzeigt, um dann schließlich (3.2) zur Explikation der ontologischen Konzeption überzuleiten. Abschließend (3.3) gilt es wiederum, die verschiedenen Prinzipkonzeptionen zusammenzuführen und nach ihrem Verhältnis zueinander zu befragen. ————— 5

Dies verfolgen die meisten älteren Untersuchungen zu Tillichs Theologie. Die aktuellste, auch die ontologische Ausprägung der Theologie Tillichs einbeziehende Studie ist die von Christian Danz (Danz, Freiheitsbewußtsein, passim). Die Arbeit von Gunther Wenz befasst sich – entgegen dem damaligen Forschungstrend – zwar primär mit den frühen Werken Tillichs, unterzieht die späte ‚Systematische Theologie‘ jedoch gleichfalls einer eingehenden Untersuchung; vgl. Wenz, Subjekt, 235–330.

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Abgesehen von einigen Schriften aus den späten zwanziger Jahren wird sich das Augenmerk auf die Endfassung der Theologie Tillichs in der dreibändigen ‚Systematische[n] Theologie‘ richten, wobei für die Frage nach dem Ontologieverständnis Tillichs zusätzlich seine 1951 als Gastdozent an der Freien Universität Berlin gehaltene Vorlesungsreihe zur ‚Ontologie‘6 hinzugezogen wird, weil Tillich hier noch in feinerer Distinktion, als er dies in der ‚Sytematische[n] Theologie‘ unternimmt, seinen Ontologiebegriff entwickelt.

————— 6

Paul Tillich, Ontologie (1951), in: EW XVI: Berliner Vorlesungen III (1951–1958), hg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Erdmann Sturm, Berlin/New York 2009, 1–168. Für den wertvollen Hinweis auf die Ontologie-Vorlesung Tillichs aus dem Jahre 1951 dankt der Verfasser Herrn Prof. Dr. Christian Danz (Wien).

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3.1 Kontinuitätslinien der frühen Theologie Tillichs in seinem Spätwerk 3.1.1 Prinzipielle und systematische Aspekte Im Rahmen der vorab vorgenommenen Untersuchung prinzipieller sowie systematischer Entwicklungslinien wird nicht eine Analyse der Ontologie Paul Tillichs geboten,1 sondern es werden – unvermeidlich allerdings mit Überschneidungen zur Ontologie – die grundlegenden Parameter der Theologie Tillichs näher betrachtet, wobei der Fokus darauf liegt, die bisher in den vorangegangenen beiden Prinzipfassungen herausgearbeiteten zentralen Begrifflichkeiten nun in ihrem neuen Gewand zu betrachten und gewissermaßen eine Begriffskonkordanz herzustellen, um das Spezifikum des ontologischen Ansatzes konzis erfassen zu können. Fortschreitend vom weiten, religionsphilosophischen hin zu einem begrenzteren materialdogmatischen Spektrum erstreckt sich die begriffliche Analyse auf folgende vier Schritte: (1) Zunächst findet die für Tillich schon in seinem ersten System von 1913 charakteristische und systemlenkende Beziehung von Philosophie und Theologie aufeinander ihre Verhältnisbestimmung. Daraus leitet sich (2) die Frage nach dem Prinzip der Theologie Tillichs in näherer Betrachtung ab. Verbunden damit ist auch die Frage nach dem Bezug des Prinzips zu seinen Objektivationsformen, mithin die Verhältnisbestimmung von historischer und systematischer Theologie, die Symbollehre sowie, bereits zum nächsten Punkt überleitend und ihn mitthematisierend, die Frage nach der Stellung der Christologie im Gesamtsystem. (3) Die Lehre von Jesus als dem Christus als dem zentralen materialdogmatischen Topos beinhaltet bei Paul Tillich wie bisher automatisch auch die Revelationslehre und die mit ihr verknüpften Fragestellungen. Gleichzeitig ist an dieser Stelle näher auf den Paradoxbegriff einzugehen. (4) Zuletzt gilt es die Bedingungen der Möglichkeit von Offenbarungsrezeption zu eruieren, was zurückkommend zur Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie die Analyse dessen bedeutet, was in Tillichs Sinntheorie unter dem Stichwort der Erfahrung des Unbedingten erörtert wurde.2 ————— 1

Diesem Unterfangen sind die Kapitel 3.2.1 und 3.2.2 gewidmet. Mit der Themenexposition in dieser Reihenfolge wird zwar nicht die Gliederung nachvollzogen, die Tillich selbst in seiner Einleitung zum ersten Band der ‚Systematische[n] Theologie‘ (vgl. ST I, 9–83) vornimmt; jedoch lässt sich die Begriffsanalyse in der oben vorgestellten Abfolge besser in Orientierung an Tillichs früheren Konzeptionen vornehmen. Die theologische Methode Tillichs, die ebenfalls von elementarer Bedeutung für den prinzipiellen Ansatz sowie für dessen systemati2

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(1) Überahmen in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ Philosophie und Theologie die Funktion, denselben Sachverhalt einmal aus der Perspektive absoluter Verfasstheit, einmal unter den Bedingungen von Relativität zu explizieren, so bleibt Tillich diesem Prozedere dahingehend treu, dass er auch in seinem Spätwerk beide miteinander in Beziehung setzt, was sich in Sonderheit schon an der Thematisierung dieses Verhältnisses im ersten der fünf Teile der ‚Systematische[n] Theologie‘ unter der Bezeichnung ‚Vernunft und Offenbarung‘ erkennen lässt. Wiederum hat die philosophische Fragestellung die erste Position inne, wohingegen die Theologie als konkreter Part an zweiter Stelle zu stehen kommt. Jedoch zeigt sich auch die ‚Läuterung‘, die Tillichs Prinzip und System in seiner sinntheoretischen Präzisierung erfahren hat: Eine derart feste, ja beinahe fließend ineinander übergehende Gemeinschaft, wie sie noch 1913 zu veranschlagen ist,3 kann Tillich in den fünfziger Jahren nicht mehr behaupten. Zwischen Philosophie und Theologie ist „weder ein Konflikt nötig, noch ist eine Synthese möglich“, weil es schlechterdings „keine gemeinsame Basis zwischen Theologie und Philosophie“ gibt (ST I, 35). Dieses Urteil einer strictissime zu konstatierenden Diastase zwischen Theologie und Philosophie rührt daher, dass Tillich die Aufgabenbereiche von Philosophie und Theologie als nicht nur distinguierbar, sondern als schlechthin different verstanden wissen möchte, indem er beiden einen unterschiedlichen Standpunkt zuweist. So ist eigentlicher Gegenstand der Philosophie die „Struktur des Seins an sich“, wohingegen die Theologie den „Sinn des Seins für uns“ (ST I, 30) zu thematisieren hat. Damit entlarvt sich die oben konstatierte kategoriale Differenz zwischen Theologie und Philosophie als Schein in dem Sinne, dass beide zwar unterschiedliche Fragehaltungen bzw. Standpunkte einnehmen, de facto aber – in und trotz ihrer spezifischen Perspektive – auf das Selbe schauen, nämlich das Sein, nur einmal aus absoluter Perspektive – anders lässt sich der Zusatz, es gehe um die Struktur des Seins „an sich“, nicht erklären – und einmal aus konkreter Betrachtungsweise, wie der Beisatz des „für uns“ anzeigt.4 Genau genommen findet sich hier beim späten Tillich ————— sche Entfaltung ist, wird eigens im nächsten Kapitel (3.1.2) behandelt werden, weil es sich hierbei weniger um begriffliche als vielmehr um eben die Systemkonstruktion betreffende Data handelt. 3 Bereits im apologetischen Part seiner ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ wird von Tillich dezidiert christologisches Gedankengut behandelt und auch der Gottes- wie Religionsbegriff aus dem Begriff des Absoluten entwickelt. Gleichzeitig ist auch der materialdogmatische zweite Teil in seiner Konzeption nicht radikal getrennt vom ersten, sondern entfaltet nur das, was bereits der erste Teil zum Inhalt hatte – diesmal allerdings nicht aus absoluter, sondern aus konkreter Perspektive. 4 Dies wird auch deutlich, wenn Tillich die Haltung des Philosophen seinem Gegenstand gegenüber als „Distanz“ (ST I, 30) bezeichnet, beim Theologen hingegen von einer „Bindung an den Inhalt, den er erklärt“ (ST I, 31) spricht.

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die vollkommen identische Betrachtungsweise, wie er sie bereits in seinem ersten System eingenommen hat, allerdings mit der Substitution des Wahrheits- oder Absolutheitsbegriffs durch den Seinsbegriff. Etwas unglücklich agiert Tillich, wenn er in diesem Zusammenhang die abstrakte Erörterung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie immer wieder verlässt, indem er vom ‚theologischen Zirkel‘ spricht. Der letztgenannte Terminus bezeichnet für Tillich die konkrete Sprech- und Denksituation des Theologen, der sich immer an eine konkrete Ausprägungsgestalt von Religion gebunden weiß (vgl. ST I, 15–22 und speziell: 31). Damit ist nicht eine Determinierung theologischen Denkens auf eine prämissenhafte spezielle ‚Wahrheit‘ gemeint, von der aus der Theologe zu denken hat;5 allerdings ist theologisches Denken für Tillich immer konkretes Denken, das nicht umhinkann, sich in bestimmten Strukturen – eben jenen einer positiven Religion – zu bewegen. In der Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie ist diese Thematik allerdings insofern verwirrend, als hier prinzipiell zu scheiden ist zwischen beiden Disziplinen und somit Theologie notwendig bezogen sein muss auf die Form einer bisher als absolut bezeichneten Religion, die im Gegensatz zu ihrer konkreten Ausprägung eben nicht theistische Form annimmt, gleichzeitig aber stets ausgerichtet ist auf konkrete Zusammenhänge. ‚Religion‘ – und mithin Theologie – gibt es demnach nie unter Absehung von Konkretheit und deren Bedingungen; jedoch gilt es in dieser schematischen Distinktion den abstrakten Religionsbegriff zu veranschlagen und nicht den theistischen des ‚religiösen Zirkels‘, weil andernfalls ein Missverstehen von Theologie als einer sich spezieller Prämissen bzw. bestimmter, d.h. festgelegter, Überzeugungen bedienenden Wissenschaft – sofern sie dann überhaupt noch als eine solche zu bezeichnen wäre – unvermeidbar wäre. Kurzum: Philosophie und Theologie unterscheiden sich wesentlich in ihrer unterschiedlichen Perspektivität – die Spezifität der Theologie, immer mit einem ‚doppelten‘ Religionsbegriff operieren zu müssen, bedingt zwar diese Differenz, allerdings ist der konkrete Religionsbegriff als sekundäres Phänomen zu klassifizieren, das an dieser Stelle verwirrend wirkt, sofern es gemischt mit der absoluten Form der Religion eingebracht wird.6 ————— 5

Diese Position hat Tillich spätestens in der sinntheoretischen Ausprägung seiner Theologie vollständig aus seinem Denken ausgeschieden. Näherhin wird diese Thematik behandelt im Rahmen der Bestimmung des Gottesbegriffs; vgl. Kap. 3.2.3. 6 Damit soll nicht behauptet werden, der Religionsbegriff könne tatsächlich in zwei Formen seiner selbst aufgespalten werden; im Gegenteil liegt just dies schlechterdings jenseits des einen Religionsbegriffs. Möchte man jedoch eine in Abstraktion erfolgende Differenz zwischen Theologie und Philosophie benennen, so scheint ein theistisch verfasster Religionsbegriff – und dies ist derjenige des ‚religiösen Zirkels‘ – als Grundlage für eine Bestimmung von Theologie ungeeignet. Aus

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Schlechterdings zu scheiden sind die der Vernunft verpflichtete Philosophie und die immer aus dem Glaubensbezug heraus argumentierende Theologie7 zwar bezüglich ihres thematischen Zugangs. Allerdings weiß sich die Theologie der Philosophie immer deswegen verpflichtet, weil philosophisches Denken in seiner Dialektik die Vorfindlichkeit auch seiner eigenen Position zu transzendieren vermag und dies auch tut, so dass Theologie um ihres Wahrheits- und Wirklichkeitsbezuges nicht umhinkann, philosophisches Denken in den eigenen Bezugshorizont aufzunehmen, ja genau genommen die der Philosophie wesenhaft eigene Strukturanalyse des Seins zur Basis macht für ihre sinnvoll-konkrete Bestimmung des Seins, wie es realiter vorstellig zu werden hat.8 In Anbetracht dieser Verhältnisbestimmung drängt sich automatisch die Frage auf, ob bei einem derartigen Verfahren Theologie nicht nolens volens in die gefährliche Nähe einer sog. ‚natürlichen‘ Theologie zu geraten droht, wenn sich metaphysische Klärungen anschicken, theologischem Denken den Boden zu bereiten. Auf diesen, von Tillich immer dezidiert abgelehnten Abweg, der mit einem Missverstehen des intendierten Ansatzes Tillichs anhebt, jedoch nicht in einfacher Weise von der Theologie Tillichs fernzuhalten ist, wird noch speziell bei der Beschäftigung mit Tillichs Ontologieverständnis einzugehen sein.9 Für Tillich – und damit ist die Problematik wiederum entschärft – kann jedoch auch philosophisches Denken bei allem distanziert-abstrakten Verfahren nicht umhin, gerade in seiner Distanzhaftigkeit die eigene Betroffenheit dessen, der die Abstraktion vornimmt, mitzudenken,10 so dass auch die Philosophie fortwährend hineingezogen wird in die der Theologie eigenen Spannungen, wie sie elementar in der bisher so bezeichneten metalogischen ————— Tillichs System heraus ist dies als notwendig zu veranschlagen, auch wenn Tillich selbst die erforderliche Klarheit in der Begriffsverwendung vermissen lässt. 7 Mit diesem Theologieverständnis, das bei Tillich immer auf dem im Glauben statthabenden Vollzug der Rechtfertigung, mithin auf der in der Erfahrung des Unbedingten als Paradox vermittelten Unmittelbarkeit des Selbst, gegründet ist, bewegt sich Tillich deutlich im Denkkreis eines Theologen wie Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Zwar ist bei Tillich nicht das ‚Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit‘, sondern die Erfahrung des Unbedingten zentral – allerdings kommt in beiden Formeln dasjenige, was – wiederum in Schleiermacher’scher Diktion – als ‚unmittelbares Selbstbewusstsein‘ sich auch für Tillich zutreffend bezeichnen lassen würde, zum Ausdruck. Ob dieser Nähe ist es umso verwunderlicher, dass der Einfluss der Theologie Schleiermachers auf Tillich bzw. die Analogien im Denken beider bisher in der Forschung weitestgehend unberücksichtigt sind; vgl. aber etwa Wenz, Subjekt, 284–286. 8 „Der Theologe muss die Bedeutung der Begriffe, die er benutzt, ernstnehmen. Sie müssen ihm in ihrer ganzen Breite und Tiefe bekannt sein. Deshalb muß der systematische Theologe zum mindesten ein kritischer, wenn nicht sogar ein schöpferischer Philosoph sein.“ (ST I, 30) 9 Vgl. Kap. 3.2.1. 10 In diesem Punkt ist Tillich unmissverständlich der Aufklärung, v.a. in ihrer kantischen Ausprägung, verpflichtet.

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Die ontologische Gestaltung des Systemprinzips

Methode, also in der Frage nach der Möglichkeit der Selbstkonstitution des Selbst, zum Ausdruck kommt. Die wechselseitige Verwiesenheit von Philosophie und Theologie aufeinander deutet zugespitzt damit schon auf das hin, was in der noch zu behandelnden neuen Systematik, der ‚Methode der Korrelation‘, angelegt ist: Zwischen Philosophie und Theologie ist zwar ein Hiat kategorischen Ausmaßes zu konstatieren und dennoch lässt ihre Bezüglichkeit aufeinander bereits erkennen, dass ihr Beginnen notwendig dasselbe ist. Damit ist aber nichts anderes ausgesagt, als dass sowohl Theologie als auch Philosophie – die sich in Tillichs neuer Nomenklatur ja beide als ‚Seinswissenschaften‘ verstehen – unterschiedliche Funktionen vorstellig machen, diese Funktionen jedoch auf ein gemeinsames Prinzip zurückzuführen sind. Somit ist die Frage nach dem gestellt, was Theologie wie Philosophie thematisieren, stricte dictu jedoch nicht zum Gegenstand haben können, weil es sich um ihre Transzendentalursache handelt, die in ihrer Unvordenklichkeit nicht mehr direkt eingeholt werden kann in die Sphäre der denkenden Vernunft, die Operationsorgan beider Disziplinen ist.11 (2) Mit der Frage nach dem Prinzip jedweder Theologie ist automatisch auch gefragt nach den leitenden Ursprüngen, Quellen und Zugangsarten dessen, was prinzipiell zugrunde liegt. Deshalb verhandelt Tillich den Prinzipbegriff vornehmlich unter der zunächst sonderbar anmutenden Überschrift „Die Norm der systematischen Theologie“ (ST I, 58). Analysiert man jedoch die von Tillich vorgestellte Explikation des Normbegriffs, so zeigt sich, dass auch hier wiederum die Problematik der Vermischung der absoluten mit der konkreten Religion die Einführung des Normbegriffs initiieren dürfte, der dann eben auch aufgrund des absoluten Verständnisses von Religion relativiert wird: „Die materiale Norm der systematischen ————— 11

„Das Organ, mit dem wir den Inhalt des Glaubens aufnehmen, ist die Vernunft in all ihren Funktionen.“ (ST I, 66) Nach Tillich ist daher allerdings gleichzeitig auszusagen, „daß die Vernunft nicht die Quelle der Theologie ist. Sie erzeugt den Glaubensinhalt nicht.“ (ST I, 66; Hervorhebung S.D.) Damit ist festgestellt, dass Theologie zwar Wissenschaft im echten Sinne ist, d.h. dass sie sich nicht außerhalb dessen stellt, was dem Denken untersteht; jedoch muss uno eodemque actu hinzugefügt werden, dass das genuine Anliegen der Theologie und in gleicher Weise die von ihr vorgelegten Antworten auf ihre Fragestellung hin nicht genetisch aus dem Bestand vernünftigen Denkens abgeleitet oder extrahiert werden können. Tillichs späte Konzeption bleibt damit im Wesentlichen seinem ersten System von 1913 dahingehend treu, dass auch für die späte Systematik ein ‚Bruch‘ zwischen Denken und dem transzendentalen Grund des Denkens zu konstatieren ist, der nicht anders als durch einen ‚Sprung‘, niemals aber durch konsequente Prolongation des Denkaktes bis hin zu seiner Möglichkeitsbedingung erreicht werden kann. Mit anderen Worten: Philosophie vermag es nicht, die Fragen, die sie stellt, durch Analyse aus sich heraus einer Antwort zuzuführen. Genauso wenig kommt es der Theologie zu, potentielle Antworten auf die philosophischen Grundfragen unter Absehung nicht nur der Fragestellung, sondern auch der Bedingungen, unter denen diese Fragen gestellt werden, vorzustellen. Diese Thematik leitet jedoch bereits über in Tillichs Verständnis der Korrelationsmethode.

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Kontinuitätslinien der frühen Theologie Tillichs in seinem Spätwerk

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Theologie, die in dem vorliegenden System benutzt und als die für die gegenwärtige apologetische Situation angemessenste Norm angesehen wird, ist das ‚Neue Sein in Jesus als dem Christus‘. Wenn sie mit dem kritischen Prinzip aller Theologie verbunden wird, kann man sagen: Die materiale Norm der heutigen systematischen Theologie ist das Neue Sein in Jesus, dem Christus, als das, was uns unbedingt angeht. Diese Norm ist das Kriterium für die Handhabung aller Quellen der systematischen Theologie.“ (ST I, 62) Bezeichnend an der Definition Tillichs ist die Verwendung von ‚material‘ und ‚kritisch‘. Sie leitet direkt in die schon die wahrheits- und die sinntheoretische Ausprägung der Tillich’schen Theologie begleitende Grundproblematik über, wie Absolutheit und Konkretheit zusammengedacht werden können und wie sie in Form des Paradoxes vorstellig zu werden haben. In Sonderheit ist in der zitierten Passage der Begriff des Materialen in die frühere Nomenklatur der Konkretheit übersetzbar, weil das, was als materiale Norm bezeichnet wird, normativ allererst dadurch ist, dass es sich mit dem ‚kritischen Prinzip‘ verbindet, was aber nichts anderes bedeutet, als dass die materiale bzw. konkrete Norm ihre Berechtigung empfängt dadurch, dass sie sich der Kritik des – abstrakt-absoluten – Prinzips aussetzt, oder in Tillichs früherer Formulierung: unter das Prinzip stellt.12 Damit wird die bereits für den frühen Tillich festgestellte prinzipielle Absolutheit des Christus Jesus bestätigt, weil auch dieser nur dann und insofern als absolut bzw. nun als wahrhaft und berechtigt normativ verstanden werden kann und darf, als er selbst in und trotz seiner Absolutheit das erfüllt, was er selbst als Norm vorgibt, nämlich kritisches Prinzip für alle Relativität bzw. – in neuer Fassung – für jede Form von Existenz zu sein.13 Diese Fragestellung führt bereits in die christologische Problematik über und soll für den Moment noch hintangestellt werden, um zunächst die eigentliche Frage nach dem theologischen Prinzip zu klären. Festzuhalten bleibt aber, dass die in dieser Untersuchung veranschlagte und in Sonderheit für die sinntheoretische Gestalt der Theologie Tillichs angesetzte Formulierung einer ‚prinzipiellen Absolutheit‘ bezüglich des Christus Jesus – wie auch der Objektivationsform dessen, was klassisch-dogmatisch als Gott-Vater zu bezeichnen ist – auch in der späten Theologie Tillichs in Geltung bleibt und von dieser darüber hinaus sogar noch in ihrer Gültigkeit bekräftigt wird. ————— 12

Nichts anderes meint der spätere Tillich’sche Begriff einer theonomen Metaphysik, den Jan Rohls aufgreift; vgl. Rohls, Protestantische Theologie, 633. 13 Insofern, d.h. als Inkorporation des kritischen Prinzips, und nur insofern kann Tillich dann den Christus Jesus eben auch als ‚das, was uns unbedingt angeht‘, bezeichnen, also mit der Formel, die – wie später noch betrachtet wird – ja gerade die Unbedingtheit bzw. Absolutheit dessen deutlich macht, wovon alle Bedingtheit abhängt.

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Die ontologische Gestaltung des Systemprinzips

Kern der prinzipiellen Aussagekraft aus dem obigen Zitat ist die Formel des ‚Neuen Seins in Jesus als dem Christus‘. Genau betrachtet bringt Tillich zwei Begriffe – nämlich Sein und Jesus – in einer Relation zusammen und spezifiziert die beiden Begriffe jeweils in besonderer Form. So ist nicht vom Sein an sich, sondern vom Neuen Sein, und nicht von Jesus von Nazareth, sondern von Jesus als dem Christus die Rede. Ist die zweite Präzisierung primär Gegenstand christologischer Erörterungen und wird daher erst im nächsten Punkt verhandelt, so ist der Begriff des Neuen Seins im Rahmen der Prinzipkonstruktion näher zu betrachten.14 Tillich definiert den Begriff des Neuen Seins als „das essentielle Sein unter den Bedingungen der Existenz, das Sein, in dem die Kluft zwischen Essenz und Existenz überwunden ist.“ (ST II, 130) Allein der Aufbau des Satzes sowie der Umstand, dass er sich im Zentrum der Tillich’schen Christologie findet, verweisen schon auf ähnliche Aussagen in Tillichs frühestem System, der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘: Dort war das, was hier unter dem Begriff des Neuen Seins behandelt wird, noch nicht in eigene Begrifflichkeit gefasst, sondern wurde sogar im als philosophische Abhandlung verstandenen ersten Teil des Systems, der Apologetik, nur mit christologischen Begriffen behandelt, weil dies nach Tillich anders ob des konkreten Gegenstandes nicht möglich war.15 Die abstrakte Formulierung hierfür war das Eingehen des Absoluten in das Konkrete, dem eben die aus dem Identitätsund Differenzverhältnis von Wahrheit und Denken entspringende Gleichzeitigkeit von eigener Relativität und absolutem Bezug anweste. Ohne hier eine genaue Übersetzung der Begriffe von Essenz und Existenz in diejenigen von Absolutheit und Konkretheit geben zu müssen, dürfte die Deckungsgleichheit im Gedankengang evident sein: Wie das Absolute konkret wurde unter den Bedingungen der Relativität, so wird nun das Neue Sein verwirklicht unter den Bedingungen der Existenz. Das was vorher schlechthin geschieden war – absolut und konkret bzw. Essenz und Existenz –, ist im Anschluss an die Konkretwerdung des Absoluten bzw. an die Erscheinung des Neuen Seins prinzipiell nicht mehr als der absoluten Scheidung ————— 14

Mit dieser Scheidung soll nicht die Christologie von der Prinzipfassung geschieden werden. Dass dies schlechterdings unmöglich, ja prinzipwidrig ist, erhellt schon daraus, dass beide Termini, also das Neue Sein ebenso wie Jesus als der Christus, in Tillichs Formulierung elementar, d.h. untrennbar, miteinander verbunden sind. Die Rede vom Neuen Sein in Jesus als dem Christus ist eben nicht als kontingente Beiordnung zu verstehen, sondern macht beide Bestandteile der Formel erst zu dem, was sie wesensmäßig sind. Die demnach zu veranschlagende Reziprozität soll im Folgenden nicht abstrahierend übergangen werden, was sich schon an der immer wieder notwendigen Mit-Thematisierung der Christologie im Rahmen prinzipieller Erörterungen zeigt. Die vorgenommene getrennte Abhandlung ist mithin nur ein durch Abstrahierung ermöglichtes Unterfangen. 15 Vgl. Kap. 1.2.5.3.

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Kontinuitätslinien der frühen Theologie Tillichs in seinem Spätwerk

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unterworfen zu denken, weil eben das, was diese Trennung zu überwinden vermag, im Zustand der Trennung gegenwärtig wird. „Die Entfremdung seines [sc. dessen, der am Christus Jesus teilhat] existentiellen von seinem essentiellen Sein ist im Prinzip (Prinzip im Sinne von ‚Anfang und Kraft‘) überwunden. Der Begriff ‚Neues Sein‘, wie er hier gebraucht wird, weist auf die Kluft zwischen essentiellem und existentiellem Sein hin und ist das Prinzip, das diesem ganzen theologischen System zugrunde liegt.“ (ST II, 130; Hervorhebungen S.D.) Prinzip Tillich’scher Theologie ist mithin nicht der Christus Jesus an sich, sondern das Neue Sein selbst, das allerdings nicht das ist, was es ist, abgesehen von seiner Verbindung mit dem Christus Jesus, in dem es zur Verwirklichung kommt.16 Das allgemeine Prinzip geht seiner Allgemeinheit, mithin seiner absoluten Bedeutung, nur dann nicht verlustig, wenn es sich mit dem konkreten Part des Christus Jesus verbindet. Andernfalls depraviert der allgemeingültige Anspruch des Prinzips nur zu Abstraktheit, vermag jedoch nicht schlechthin das zu verwirklichen, was es wesensmäßig intendiert, nämlich Universalprinzip zu sein.17 Wenn Tillich also von der „Erfüllung im Prinzip“ (ST II, 130) durch die „Manifestation des Neuen Seins als Anfang und tragende Kraft“ (ST II, 130f) spricht, lässt er die Absolutheit bzw. Unbedingtheit oder Allgemeingültigkeit des Prinzips notwendig abhängig sein vom Christus Jesus oder präziser formuliert: setzt formales und materiales Moment im Prinzip in ein reziprokes Spannungs- und Konstitutionsverhältnis, wie dies bereits in seinem System von 1913 der Fall war. Damit ist das Neue Sein in seiner Erscheinung im Christus Jesus „verwirklichte Eschatologie, insofern als kein anderes Prinzip der Erfüllung mehr erwartet werden kann.“ (ST II, 131) Für das gesamte theologische System Tillichs bedeutet dies nun, dass jeder Systembestandteil, also sowohl Erörterungen in Form ————— 16

Wenn Tillich also von der ‚materialen Norm‘ spricht, die mit dem Erscheinen des neuen Seins im Christus Jesus anhebt, so bestätigt sich, dass ‚material‘ tatsächlich im oben explizierten Sinne des konkreten Moments gemeint sein muss. Die Einführung eines Materialprinzips hingegen – noch dazu neben einem dann potentiell zu veranschlagenden Formalprinzip – darf in die Theologie Tillichs nicht eingezeichnet werden. 17 Just dies, nicht in intransigenter Allgemeinheit zu erstarren, zeigt das Neue am Neuen Sein an. Unverkennbar zeichnet sich damit die Analogie zu Tillichs erstem System ab, wo zwei verschiedene Absolutheitsbegriffe Anwendung finden, von denen der erste Absolutheit als rein abstrakt fasst, der zweite jedoch durch den Eingang in die Sphäre des Relativen Absolutheit als tatsächlich absolut vorstellig macht, indem Absolutheit nun tatsächlich als Identität von Identität und Differenz fungieren kann und nicht einseitig bloße Identität im Unterschied zur Relativität darstellt. Genau derselbe Sachverhalt findet sich nun in neuem begrifflichem Gewande in Tillichs spätem System: „In doppelter Hinsicht ist es [sc. das Neue Sein] neu: Es ist neu gegenüber dem nur potentiellen Charakter des essentiellen Seins, und es ist neu gegenüber dem entfremdeten Charakter des existentiellen Seins. Es ist in der Existenz und überwindet die Entfremdung der Existenz.“ (ST II, 130)

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Die ontologische Gestaltung des Systemprinzips

von Prolegomena als auch alle dogmatischen Topoi, nicht außerhalb des allumfassenden universalen Prinzips zu stehen kommen kann. Damit ist alles, was Anspruch erhebt, unbedingt für das System in Geltung zu treten, in Sonderheit die Quellen, die Methode und die mediale Vermittlung dogmatischer Inhalte, dem einen und einzigen Prinzip zu unterstellen, nach dessen Maßgabe alles zu beurteilen ist. Damit prozediert Tillich nun aber in keiner Weise different zu seinem bereits in seiner Thesenreihe ‚Die christliche Gewißheit und der historische Jesus‘ von 1911 eingeschlagenen Vorgehen, historische Sachverhalte, worunter unter christlichen und speziell unter protestantischen Bedingungen die Bibel als Quelle hervorzuheben ist, dezidiert vom Prinzip her zu beurteilen.18 Freilich gilt es trotz der Vorrangigkeit Prinzip und historische Quellen nicht gegeneinander auszuspielen, weil andernfalls das Prinzip selbst unkorrigierter und unkorrigierbarer Willkür verfallen würde, wie dies auch schon bei einer Abstraktion des Prinzips vom Christus Jesus statthätte. Die Normhaftigkeit des Neuen Seins in Jesus als dem Christus für das historische Urteil liegt daher darin, dass biblische Schriften vom Kern theologischen Denkens her, mithin ihrem Prinzip, zu beurteilen sind und somit eben jener Kernbestand den Charakter des Normativen erhält; gleichzeitig gilt es jedoch festzuhalten, dass die Bibel als solche nicht einfach der Heteronomie prinzipieller Statuierung verfällt, sondern ihrerseits das enthält, was das Prinzip zur Norm macht: „Die Bibel als Ganze ist niemals Norm der systematischen Theologie gewesen. Die Norm war ein aus der Bibel hergeleitetes Prinzip, das in der Begegnung von Bibel und Kirche entstanden war.“ (ST I, 63) Nur unter dieser Perspektive lässt sich unmissverständlich nachvollziehen, wenn Tillich schreibt: „Die Norm entscheidet, welche Bücher zum Kanon gehören.“ (ST I, 63) Ist dies schon für den genuin christlichen Grundbestand auszusagen, so lässt sich nach Tillich, wie bereits schon in seinem früheren Denken, historische Forschung und Theologie nur in ein Wechselverhältnis setzen, ohne dass dabei theologische wie historische Erkenntnisse beeinträchtigt werden könnten, weil Historizität für die Theologie nur insofern von Bedeutung sein kann und darf, als sie vom Prinzip her beurteilt wird – jedoch so, dass historische Befunde niemals theologische Aussagen zu fundieren oder gar zu begründen vermögen. (3) Das Prinzip der Theologie ist, wie gesehen, niemals unter Absehung seiner konkreten Form, dem Jesus als dem Christus. Stricte dictu ist das Prinzip nicht nur nicht ohne den Christus Jesus, sondern es fällt unter den Bedingungen der Existenz bzw. Relativität de facto in eins mit seinem konkreten Moment, wie es bereits im frühesten System Tillichs durch den ————— 18

Vgl. besonders Kap. 1.3.2.1.

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Kontinuitätslinien der frühen Theologie Tillichs in seinem Spätwerk

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Momentbegriff, der sowohl Aspekt als auch Wesen dessen, wovon er Moment ist, beinhaltet, deutlich gemacht wurde. Unter absoluten bzw. essentiellen Bedingungen sind die Momente als im Prozess befindliche schlechterdings nicht voneinander zu trennen, so dass auch die Differenz zwischen Prinzip und seiner Verwirklichungsform nur eine sekundäre, der Reflexionsdialektik zuzugestehende ist. Letztlich koinzidieren Neues Sein und das Sein Jesu als des Christus. Als Prinzip der Theologie ist die Erscheinung Jesu als des Christus bzw. allgemein gesprochen: das Offenbarungsereignis per se bei Tillich nie anders zu thematisieren als in Form der Paradoxalität und mit rechtfertigungstheologischer Intention. Paradox gibt es nur ein einziges für Tillich, nämlich das, was im Prinzip der Theologie bereits ausgesagt wurde – die Erscheinung der Essenz unter den Bedingungen der Existenz – und in Jesus, insofern er der Christus genannt werden kann, verwirklicht ist.19 Die Paradoxalität des Paradoxen speist sich auch in der Spättheologie Tillichs aus denselben Quellen wie in seiner frühesten Konzeption: Demnach ist das Paradoxe, was sich ausschließlich fassen lässt in der Formulierung, dass die Essenz erschienen ist unter den Bedingungen der Existenz bzw. – was dasselbe ist – dass dieses Ereignis von dem konkreten Menschen Jesus ausgesagt werden kann und dieser somit zum Christus wird, „nicht dialektisch und nicht irrational, nicht absurd und nicht sinnlos“ (ST II, 102); telos und Wirkung des Paradoxen bzw. – da es Paradoxalität nach Tillich nur in der Einzigartigkeit des Christus gibt – des Paradoxes ist, von der Sphäre der Existenz anhebende Selbsterlösungsversuche alles Existierenden als bloßen Schein zu entlarven und sie des Unvermögens ihrer Unternehmung ob der Diastase zwischen Essenz und Existenz zu überführen. Insofern kann Tillich in Kierkegaard’scher Diktion auch vom „Ärgernis“ (ST II, 102) des Paradoxen in der christlichen Botschaft sprechen, das eben nicht begründet ist in einer Vernunftwidrigkeit seiner Anlage, sondern vielmehr in der Absage an jedwede Form der Selbsterlösung und damit verbunden dem Hinwenden des Subjekts auf seine tatsächliche, nicht aus eigener Kraft überwindbare Situation.20 Das Para————— 19

„Schließlich gibt es nur ein echtes Paradox in der christlichen Botschaft – die Erscheinung dessen, der die Existenz unter den Bedingungen der Existenz überwindet.“ (ST I, 71) Oder anders formuliert: „Die christliche Behauptung, daß das Neue Sein in Jesus als dem Christus erschienen ist, ist paradox.“ (ST II, 100) Doch Tillich kann auch noch die aus der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ bekannte Formulierung verwenden: „Die logische Form, in der das völlig Konkrete und das völlig Absolute eins sind, ist das Paradox.“ (ST I, 179) Damit ist die Übersetzung des Verhältnisses von Konkretheit und Absolutheit in die von Existenz und Essenz geleistet. 20 „Das ‚Ärgernis‘, das der paradoxe Charakter der christlichen Botschaft erregt, richtet sich nicht gegen die Gesetze der verständlichen Rede, sondern gegen das alltägliche Verständnis des Menschen von sich selbst, seiner Welt und dem, was beiden zugrunde liegt. Es ist ein Ärgernis, das

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dox im Tillich’schen Sinne meint mithin – wie schon von Beginn seines theologischen Denkens an – dezidiert nichts, was der Vernunft des Menschen zuwider wäre, ja es ist „von der Anwendung formaler Logik nicht befreit“ (ST II, 100); im Gegenteil ist Paradoxalität nicht nur nicht unvernünftig, sondern weist der Vernunft allererst den ihr zukommenden Rang zu, indem das Paradox als aus der Vernunft oder ihrer Struktur schlechterdings unableitbar der Vernunft ihr eigenes Prinzip, mithin ihren konstitutiven Grund, vorstellt. Das Paradox – und damit der Christus Jesus – ist allerdings nur als solches zu bezeichnen, wenn es tatsächliches Eingehen der Essenz in die Existenz ist und nicht im doketischen Sinne in nur scheinhafter Konkretheit doch der Abstraktheit anheim fällt. Tatsächlich paradox und nur und ausschließlich dann Neues Sein ist das Paradox jedoch erst, wenn es der unter existentiellen Bedingungen zu konstatierenden Trennung von Essenz und Existenz überwindend entgegenzuwirken vermag. Oder mit anderen Worten: Das Paradox ist wesenhaft es selbst nur in Verbindung mit dem Rechtfertigungsgedanken. Rechtfertigung bedeutet aber, dass die in der Existenz erscheinende Essenz die Existenz an sich, d.h. wie sie ist, also als Existenz, vom Standpunkt der Essenz aus richtet und durch ihr Urteil annimmt, was einer Überwindung dessen, was die Existenz von der Essenz trennt, gleichkommt: „Die Erscheinung des Neuen Seins unter den Bedingungen der Existenz, sie richtend und überwindend, ist das Paradox der christlichen Botschaft.“ (ST II, 102; Hervorhebung S.D.) Tillichs Insistieren auf dem Rechtfertigungsbegriff, wie es v.a. in der sinntheoretischen Ausprägung seiner Theologie hervortritt, findet damit seine Fortsetzung in der ontologischen Fassung des Systems, wobei anstelle der Überwindung von Relativität bzw. Konkretheit durch Unbedingtheit bzw. Absolutheit nun die Formulierung der Überwindung der Existenz durch echte, d.h. nicht in reiner Potentialität verharrende, Essenz, die Tillich mit dem Begriff des Neuen Seins belegt, statthat. An die Stelle der Trias ‚Wahrheit – Denken – Wahrheit‘ bzw. ‚Absolutheit – Relativität – Absolutheit‘ tritt nun die Abfolge von ‚Essenz – Existenz – Neues Sein‘.21 Damit ist aber auch ein Zweites ausgesagt: Die Momentstruktur von abstrakt, konkret und absolut, die sich ————— sich gegen das unerschütterte Vertrauen des Menschen zu sich selbst und gegen seine Versuche der Selbst-Erlösung richtet.“ (ST II, 102) 21 Selbst die nun aus drei tatsächlich verschiedenen Begriffen aufgebaute Dreierstruktur stellt nur eine scheinbare Weiterentwicklung in Tillichs Konzept dar, weil auch die die Trias jeweils beschließenden Begriffe von Wahrheit und Absolutheit nicht identisch sind mit ihren jeweils ersten Ausprägungen, sondern sich als tatsächlich absolut im Gegensatz zu ihrer rein abstrakt-kristallinen ersten Fassung erweisen. Die neue Formulierung mit drei verschiedenen Begrifflichkeiten hat allerdings den Vorteil der größeren begrifflichen Klarheit für sich.

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bereits in der Systemfassung von 1913 ausformuliert fand, setzt sich auch in ontologischer Explikation unverändert, ja sogar leicht präzisiert fort. In dieser Struktur meint Rechtfertigung, wie bereits mehrfach ausgeführt, immer die letztliche Bejahung des Relativen, Konkreten, Bedingten oder Existierenden, das eine Bejahung wie eine Verneinung in sich schließt. Damit wird Existenz als solche bejaht, wobei sie dabei dem Doppelurteil der Verneinung, die sich aus ihrem Charakter des Herausgetretenseins aus der Essenz ergibt, und der Bejahung, die daher rührt, dass die Existenz durch die allezeit notwendige und ihr vorausgesetzte Partizipation des Existierenden an der Essenz faktisch außerstande ist, den Bereich des essentiellen Seins zu verlassen, unterstellt ist. Gleichsam wie der Paradoxbegriff, mit dem er untrennbar zusammenhängt, macht auch der Begriff der Rechtfertigung die Unmöglichkeit der Selbsterlösung des Menschen vorstellig, indem er die Unfähigkeit des Existierenden, aus eigener Kraft, oder allgemeiner formuliert: aus sich selbst heraus, die ihm in der Aufnahme des Neuen Seins zugesprochene Bejahung zu initiieren oder gar zu bewerkstelligen, zur Anschauung bringt.22 Das, was bejaht wird, ist unter essentiellen Bedingungen immer nur teilweise zu bejahen und zu verneinen, kann also nicht im Sinne absoluter Gültigkeit einer Bejahung zugeführt werden; nur in der Gleichzeitigkeit beider Momente, die sich nicht aus der Relativität der Bejahungs- und Verneinungsqualität in existentieller Hinsicht speist, ist Bejahung ein völlig extrasubjektiver Zuspruch an das an sich nicht bejahbare Selbst. Das Paradox ist somit immer rechtfertigend und die Rechtfertigung immer paradox. Die Tatsächlichkeit des Paradoxes bzw. des Neuen Seins, d.h. sein Auftreten unter den Bedingungen der Existenz, ist, wie gesehen, nur möglich in Verbindung mit dem Christus Jesus. Die Christusqualität kommt Jesus zu, indem sein Sein in Identität steht mit dem Neuen Sein. Umgekehrt gilt aber auch auszusagen, dass eben das Neue Sein bzw. der Christus nicht abstrakt ist, sondern nur sein kann, indem das Neue Sein erschienen ist in Jesus, der – sofern in ihm das Neue Sein erscheint – der Christus zu nennen ist. Damit ist der Christus als Jesus aber stets und auch fortwährend notwendig zu denken als konkrete Person, d.h. als vollständig unter den Bedingungen der Existenz stehend. Verwirklicht sieht Tillich die volle Tragweite dieser Aussage darin, dass das Neue Sein in Jesus Christus in einem „personhaften Leben“ (ST II, 131) präsent ist. Erst als echte, d.h. konkrete und vollständig existierende, Person kann der Christus das sein, was er sein soll, nämlich die in die Existenz eingegangene Essenz. Andernfalls könnte die Offenba————— 22

„Rechtfertigung ist ein Akt Gottes, der in keiner Weise vom Menschen abhängt, ein Akt, in dem Gott den annimmt, der unannehmbar ist.“ (ST II, 191)

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rung des Neuen Seins in der Sphäre der Existenz nicht den Menschen betreffen – und, um mit Tillich zu formulieren, das Neue Sein in Jesus als dem Christus zu dem machen, was uns unbedingt angeht –, weil eine nichtpersonhafte Form der Erscheinung des Neuen Seins schlechterdings unterhalb der menschlichen Geistigkeit, mithin ihrem Selbstbewusstsein, oder jenseits ihres Reflexionsspektrums anzusetzen wäre, was einer Verfehlung der Rechtfertigung des Existierenden gleichkäme, weil das, was Existenz ausmacht, nämlich die durch den Hiat zwischen Essenz und Existenz evozierte Spannung, nicht vom Neuen Sein erfasst werden könnte.23 Damit ist auch die bereits oben erwähnte Gleichsetzung des Seins des Christus und des Neuen Seins expliziert, aus der Tillich jedwede biblische Aussage über den Christus ableitet, so dass Worte und Handlungen, wie von ihnen die neutestamentlichen Texte berichten, nicht per se die Qualität des Neuen Seins ausmachen, sondern nur, insofern sie dem Christus-Sein Jesu entspringen; was in Bezug auf die biblischen Schriften als ‚Mitte der Schrift‘ bestimmt wurde, gilt mithin auch und besonders für die spezifischen, konkreten Berichte über Jesu Wirken, dessen Beurteilung dem aus dem Sein Christi als dem Neuen Sein hervorgehenden Grundprinzip zu unterstellen ist.24 Vollkommene Erfüllung des Prinzips kann somit weder der Gesamtzahl der Worte noch der Summe der Handlungen des Christus Jesus zugesprochen werden bzw. präziser formuliert: dem Prinzip gemäß sind sie allererst dadurch, dass sie nicht einfach durch Jesus von Nazareth erbracht werden, sondern von Jesus von Nazareth, der der Christus ist, d.h. dessen Sein das Neue Sein anwest. Vollständig verwirklicht erkennt Tillich das Christus————— 23

„Das Neue Sein hat in einem personhaften Leben volle Gestalt gewonnen. Auf keine andere Weise hätte es sich der Menschheit ganz offenbaren können, denn nur in einem personhaften Leben ist die Macht des Seins verwirklicht. Nur die Person ist ein vollkommen entwickeltes Selbst, das der Welt, zu der es gehört, gegenübersteht. Nur in der Person sind die Polaritäten des Seins vollkommen aktuell.“ (ST II, 131) Damit ist dasselbe ausgesagt wie auch schon 1913, wo Tillich in Bezug auf das Eingehen des Absoluten in das Relative von der „Mensch-(einzelner)Werdung“ (D §9; 349) sprach (vgl. die Hinführung zu Beginn von Kap. 1.3.2), die hier wiederum mit dem Begriff des Personhaften belegt wird. So kann Tillich in analoger Weise von Jesus als dem Christus bzw. seiner göttlichen Natur als der „ewige[n] Gott-Mensch-Einheit“ (ST II, 160) sprechen, die abgesehen von dem prozesshaften Charakter des Begriffs der ‚Mensch-einzelnerWerdung‘ allein von der Struktur her diese Formulierung aufgreift. Auf die speziell ontologische Ausformulierung und den Begriff ‚Macht des Seins‘ ist noch später zu rekurrieren (vgl. Kap. 3.2) – für den Moment kann jedoch dessen ungeachtet die grundlegende Deckungsgleichheit in der Konzeption des Christus Jesus in Tillichs Früh- und Spättheologie konstatiert werden. 24 „Jesus als der Christus ist der Träger des Neuen Seins in der Totalität seines Seins, nicht in einzelnen seiner Äußerungen. Es ist sein Sein, das ihn zum Christus macht, weil es die Qualität des Neuen Seins jenseits der Spaltung zwischen essentiellem und existentiellem Sein hat.“ (ST II, 132) Analog formuliert Tillich bezüglich der Handlungen Jesu Christi: „Nicht durch sein Handeln, sondern durch das Sein, aus dem sein Handeln erwächst, wird Jesus zum Christus.“ (ST II, 134)

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prinzip im konkreten Jesus Christus im Moment des Leidens: Charakteristisch für das theologische Prinzip Tillichs war bereits in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ das Prinzip der Selbstüberwindung, das sich, kurz rekapituliert, in der Stellung jedweder Bedingtheit unter das Prinzip selbst bzw. der eigenen Absage an Absolutheit im steten Wissen um die eigene Bedürftigkeit der Rechtfertigung äußert. Just dieses zentrale Moment im Tillich’schen Prinzip nimmt auch in seiner letzten theologischen Prinzipausprägung eine Schlüsselfunktion ein, indem wiederum in der Christologie alle Momente der Relativität, Bedingtheit oder Existenz am Christus Jesus zwar gerade nicht geleugnet oder auszuscheiden versucht werden, prinzipiell jedoch eine Unterordnung dieser relativen Anteile unter die im Prinzip sich ausdrückende Absolutheit bzw. Unbedingtheit statthaben muss. Genau dies erkennt Tillich in der Selbstrelativierung Jesu Christi, die sich zugespitzt in seinem Leiden und Sterben äußert, indem „er sich als Jesus preisgibt an sich als den Christus.“ (ST II, 134) Das ist der Kern der Aussage, Jesus sei der Christus, weil durch die Selbstüberwindung selbst der Christus Jesus sich dem Prinzip derart unterstellt, dass er seine relativen Anteile der Rechtfertigung durch das Neue Sein überlässt und eben nicht in unstatthafter, weil dem Prinzip zuwiderlaufender, Weise in Eigenmächtigkeit eine Selbsterlösung zu initiieren sucht. Tillich nimmt zwar wiederum eine begriffliche Neudefinition dadurch vor, dass es der Seinsbegriff ist, der Jesus primär zum Christus macht; indem er allerdings dieses Sein mit dem Neuen Sein identifiziert, kehrt er zur prinzipiellen Thematik zurück und reproduziert in dem Dreischritt von Essenz, Existenz und Neuem Sein sein ursprüngliches Prinzip, das sich auch dezidiert in seiner christologischen Konzeption äußert. Die Diastase zwischen Essenz und Existenz, die vom Christus Jesus rechtfertigend einer Überwindung zugeführt wird, fußt auf dem Begriff des Neuen Seins, das letztlich das in Anschauung bringt, was 1913 noch das dritte, absolute Moment des theologischen Moments vorstellig zu machen vermochte, nämlich die Synthesis von Absolutheit und Konkretheit bzw. Essenz und Existenz in konkreter resp. existierender Ausprägung. Damit ist aber ausgesagt, dass die Seinsthematik in all ihren Facetten letztlich nichts anderes thematisiert als in früheren Systemen Tillichs der Prinzipbegriff.25 Ist der Christus Jesus gleichsam als das zweite, konkrete Moment des theologischen Prinzips und somit als das Prinzip selbst zu bezeichnen, so zeitigt dies in eschatologischer Perspektive die Konsequenz, dass das telos der Geschichte in ihm bereits erreicht ist, weil es durch ihn erfüllt ist. Insofern lässt sich auch bei Paul Tillich von einer Prolepse des Endes der Ge————— 25

Vgl. auch hierzu näher Kap. 3.2.

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schichte im Christus Jesus sprechen; somit trennt Tillich die auch nach der Konkretwerdung des Christus ablaufende Realzeit in zwei Phasen, die durch die Erscheinung des Christus geteilt und durch seine erneute Parusie terminiert werden, ohne jedoch dabei in der zweiten Parusie Christi etwas prinzipiell Neues zu erwarten – mit dem Erscheinen des Neuen Seins unter den Bedingungen der Existenz in Jesus als dem Christus bleibt dem ‚alten‘ Sein zwar realiter weiterhin die mit der Existenz einhergehende Spaltung erhalten, ist jedoch proleptisch bereits im Sein des Christus als konkrete Person vorweggenommen. Anteil zu haben an dem prinzipiell Neuen, mithin dem Neuen Sein, ist daher in concreto ausschließlich zu denken in der Partizipation am Sein Christi, weil es die Überwindung der Spaltung von Essenz und Existenz in der Existenz selbst ist.26 Damit bleibt das Neue Sein im Zustand sowohl der Verwirklichung – in Jesus als dem Christus – wie auch in Erwartung – als Erfüllung des Neuen Seins in der Wiederkunft Christi, wie es in der klassischen Formulierung Tillichs im dritten, absoluten oder eschatologischen Moment des Prinzips vorstellig zu werden hat.27 Die Christologie abschließend gilt es noch die Frage nach der Absolutheit der Offenbarung im Christus Jesus bzw. in Tillichs neuer Nomenklatur: nach der letztgültigen Offenbarung zu stellen. Damit hebt gleichfalls wiederum die Fragestellung nach dem Verhältnis von absoluter und relativer Religion sowie hiermit verbunden dem Charakter der Absolutheit der letztgültigen Offenbarung an. Tillich unterscheidet hierbei, wie gewohnt, zwischen einem Offenbarungsprinzip und der Offenbarung als konkretem Ereignis selbst: „Er [sc. der existentielle Charakter der Theologie] ermöglicht eine Darstellung der letztgültigen Offenbarung auf zweierlei Weise: erstens in Form eines abstrakten Prinzips, das das Kriterium jeder angeblichen und wirklichen Offenbarung ist, und zweitens in Form eines konkreten Bildes der letztgültigen Offenbarung.“ (ST I, 162; Hervorhebungen S.D.) Damit ist dreierlei ausgesagt: Erstens ist Theologie nach wie vor eine auf dem Standpunkt der Relativität operierende Wissenschaft, was in neuer Diktion mit dem existentiellen Charakter der Theologie gemeint ist. Zum Zweiten ist das Offenbarungsprinzip nicht nur materiales Moment der Offenbarung selbst, sondern ist sich gleichsam selbst Prinzip, indem Offenbarung, sofern ————— 26

„In der Periode zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen ist das Neue Sein nur in ihm gegenwärtig, nicht in der Welt. Er ist das Reich Gottes. In ihm hat sich die eschatologische Erwartung im Prinzip erfüllt. Diejenigen, die an ihm teilhaben, haben am Neuen Sein teil, wenn auch unter den Bedingungen der existentiellen Situation und daher nur fragmentarisch und in Erwartung.“ (ST II, 129f) 27 „Das Hin und Her zwischen dem ‚schon‘ und dem ‚noch nicht‘ der Erfüllung ist in der Unterscheidung des ersten und des zweiten Kommens des Christus symbolisiert. Diese Spannung gehört unabtrennbar zur christlichen Existenz.“ (ST II, 131)

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sie Anspruch darauf erhebt, eine zu sein, notwendig das Prinzip der Offenbarung erfüllen muss. Drittens kann Offenbarung – auch und gerade als prinzipgemäße – nicht sein abgesehen von ihrer konkreten Form, so dass Abstraktheit per se und auch Konkretheit als solche niemals allein imstande sind, Offenbarung zu sein, sondern allererst in Bezug aufeinander – der sich in Tillichs neuem Sprachgebrauch auch als Korrelation verstehen lässt – in Geltung treten können.28 Was den Standpunkt der Theologie anbetrifft, so ist dieser noch im nächsten Abschnitt (4) näher zu behandeln. Das Doppelantlitz des Offenbarungsprinzips, einerseits Revelation stricte dictu, andererseits abstraktes Kriterium hierfür zu sein, lässt sich wiederum nur in der ebenfalls durch Abstraktion gewonnenen Unterscheidung einer absoluten und einer relativen Religion explizieren. Was absolut betrachtet mit dem Signum der Absolutheit zu versehen ist, weil es schlechterdings das Prinzip an sich ist, kann unter realen Umständen nicht nur nicht wirksam werden, sondern in seiner Abstraktheit an sich, d.h. als solches, gar nicht in Reinheit gewonnen werden, weil dafür ein Standpunkt jenseits der Spaltung von Essenz und Existenz einzunehmen wäre, was unter Existenzbedingungen schlechterdings unmöglich ist. Trotzdem ist die Partizipation an dem, was im Prinzip vorstellig zu werden hat, nach Tillich ‚fragmentarisch‘ möglich im Ergriffensein von der Offenbarung selbst. Dies heißt nun aber nichts anderes, als dass es der Zustand der Partizipation am Neuen Sein in Jesus als dem Christus ist, der es dem Theologen ermöglicht, Aussagen über den Offenbarungscharakter der Offenbarung zu machen.29 Mit anderen Worten: Aussagen über die absolute Religion sind nur möglich im Kontext der relativen Religion30 – wobei sofort hinzuzufügen ist, dass beide – relative wie ————— 28

Dass Offenbarungsprinzip und konkrete Offenbarung aufeinander angewiesen sind, ergibt sich schon daraus, dass der Offenbarungsbegriff insgesamt immer ausgerichtet ist auf sein Objekt, mithin den Menschen samt seiner Reflexionsdialektik: „Offenbarung ist die Manifestation des Mysteriums des Seins für die kognitive Funktion der menschlichen Vernunft.“ (ST I, 154) Bzw.: „Offenbarung ist die Manifestation dessen, was uns unbedingt angeht.“ (ST I, 134) 29 „Die Frage aber ist, wie ein solcher Anspruch gerechtfertigt werden kann, ob es Kriterien gibt, die die Offenbarung in Jesus dem Christus zur letztgültigen Offenbarung machen. Solche Kriterien können nicht von etwas abgeleitet werden, was außerhalb der Offenbarungssituation liegt. Aber innerhalb dieser Situation können sie entdeckt werden. Und dies Entdecken muß die Theologie leisten.“ (ST I, 159) 30 Dies lässt sich am besten anhand des Distinktionsmerkmals zwischen der von Tillich angesetzten gewöhnlichen Form von Erkenntnis und der Offenbarungserkenntnis explizieren. Erkenntnis aus Offenbarung ist ausschließlich möglich auf dem Boden der Offenbarungssituation, die ihrerseits notwendig im Kontext von Existenz und somit ausschließlich in konkreter Ausprägung statthaben kann: „Da die Offenbarungserkenntnis nicht aus der Offenbarungssituation herausgelöst werden kann, kann sie auch nicht in den Zusammenhang der gewöhnlichen Erfahrung als etwas Zusätzliches aufgenommen werden. […] Deshalb kann die Offenbarungserkenntnis nur in der Offenbarungssituation empfangen werden, und sie kann – im Gegensatz zur gewöhnlichen Erkenntnis – nur denen vermittelt werden, die an dieser Situation teilhaben.“ (ST I, 155)

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absolute Religion – per se nicht unter den Bedingungen der Theologie, mithin in der Existenz, zu sondern sind, weil absolute Religion sich nicht aus konkreter Religion oder konkreten Religionen destillieren lässt, genauso wenig wie konkrete Religion nur ein durch Deduktion gewonnenes Zerrbild absoluter Religion darstellt.31 Für die Absolutheit bzw. Letztgültigkeit des Offenbarungsereignisses im Christus Jesus bedeutet dies, dass konkrete Offenbarung nur im Offenbarungskontext, mithin in der Erfüllung des Offenbarungsprinzips, als letztgültig erfahren werden kann, oder wie Tillich formulieren würde: Konkrete Offenbarung ist letztgültige Offenbarung nur innerhalb des theologischen Zirkels.32 Zwar ist hiermit das Verhältnis von konkreter und letztgültiger Offenbarung bzw. ihre über den Umweg von absoluter und relativer Religion vermittelte letztliche Deckungsgleichheit von Tillich bestimmt, jedoch wird dadurch wiederum die Grundfrage an die Tillich’sche Theologie reproduziert, was denn eigentlich Konstituens der Offenbarung ist: der Christus Jesus oder das abstrakte Offenbarungsprinzip, mithin das Kriterium, dem alle Offenbarung unterliegt? Tillich kann dieses Kriterium sogar benennen, wenn er schreibt: „Eine Offenbarung ist letztgültig und normgebend, wenn sie die Macht hat, sich selbst zu verneinen, ohne sich selbst zu verlieren.“33 (ST I, 159) Indem Tillich just diese normative Vorgabe an ‚echte‘ Offenbarung im Anschluss christologisch bestimmt und ausführt, indem er die Selbstüberwindung des Christus Jesus in der Selbstpreisgabe des Jesus an den Christus als diesem Kriterium wesenhaft entsprechend definiert,34 ergibt sich ein doppelter Schluss: Einerseits bekräftigt Tillich mit dieser Festlegung sowohl die Prinziphaftigkeit seines Offenbarungsbegriffs, weil er real Anwendung finden kann, und vermag es dadurch, die konkrete Offenbarung in Jesus als dem Christus als letztgültige Offenbarung zu klassifizieren; andererseits kann Tillich gemäß seinem Prinzip ————— 31

Dies macht auch Jörg Lauster deutlich, indem er für Tillich in Anschlag bringt, dass es „keine Religion an sich, sondern immer nur kulturell geprägte Ausdrucksformen dessen, wovon sich der Mensch unbedingt ergriffen weiß“, gibt (Lauster, Religion, 67). 32 „Vom Standpunkt des theologischen Zirkels aus ist die aktuelle Offenbarung notwendig letztgültige Offenbarung, denn der Mensch, der durch eine Offenbarungserfahrung ergriffen ist, glaubt, daß sie die letzte Wahrheit über das Mysterium des Seins und seine Beziehung zu ihm enthält.“ (ST I, 158) 33 Entsprechend formuliert Tillich auch schon Mitte der zwanziger Jahre in der Dresdner Dogmatik-Vorlesung: „Die vollkommene Offenbarung ist diejenige, in der die Dämonisierung der Offenbarung in sich selbst unmöglich gemacht ist dadurch, daß jeder Anspruch des Offenbarungsweges auf Unbedingtheit ausgeschlossen ist. Dieses soll aber in den konkreten Heilsweg eingehen, d.h. das Konkrete und die Negation des Konkreten sollen im Heilsweg realisiert sein.“ (EW XIV, 49) 34 „Der Gegenstand von Frömmigkeit und Theologie ist Jesus als der Christus und nur als der Christus. Und er ist der Christus als der, der alles, was nur ‚Jesus‘ in ihm ist, zum Opfer bringt. Der entscheidende Zug seines Bildes ist die ständige Selbstpreisgabe des Jesus, der Jesus ist, an den Jesus, der der Christus ist.“ (ST I, 161; zweite Hervorhebung S.D.)

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auch die mit Letztgültigkeit belegte konkrete Offenbarung im Christus Jesus nicht als absolut in der Weise bestimmen, dass vom Christusereignis her ein allgemeiner normativer religiöser Zug auszugehen vermag: „Der unbedingte und universale Anspruch des Christentums beruht nicht auf seiner eigenen Überlegenheit gegenüber anderen Religionen. Ohne selbst etwas Letztgültiges zu sein, bezeugt das Christentum die letztgültige Offenbarung. Das Christentum als Christentum ist weder letztgültig noch normgebend. Aber das, wovon es Zeugnis ablegt, ist letztgültig und normgebend.“35 (ST I, 161; Hervorhebung S.D.) Die in der Analyse der sinntheoretischen Prinzipfassung angesetzte ‚prinzipielle Absolutheit‘ des Christus Jesus sowie damit auch des Christentums als solchem, findet in Tillichs Spättheologie eine Fortsetzung, weil auch hier die Gleichzeitigkeit von Letztgültigkeit und Unmöglichkeit des Anspruchs auf Letztgültigkeit von Seiten des Christentums begründet ist in der Doppelgestalt von Religion, die nur dann ins rechte Verhältnis gesetzt ist, wenn sie sich ihrem eigenen Prinzip unterstellt. Genau dies behauptet nun Tillich vom Christentum oder, präziser formuliert, von dessen Revelationsgröße, dem Christus Jesus. Daraus lässt sich jedoch eine tendenzielle Problematik in der Konzeption Tillichs ablesen: Zwar ist die konkrete Offenbarung im Christus Jesus von Tillich deswegen – und nur deswegen – als letztgültig klassifizierbar, weil ————— 35

Wenn Robinson B. James, Tillichs „Center Of History“ Idea: Existentially But Not Objectively True, Because Tillichian Thought Is Both Pluralist and Exclusivist, in: Peter Haigis/Gert Hummel/ Doris Lax (Hg.), Christus Jesus – Mitte der Geschichte!? Beiträge des X. Internationalen PaulTillich-Symposiums Frankfurt/Main 2004. Christus Jesus – the Center of History!? Proceedings of the X. International Paul-Tillich-Symposium Frankfurt/Main 2004 (Tillich-Studien, Bd. 13), Berlin 2007, 211–233, versucht, den Gedanken des Christus Jesus als Mitte der Geschichte als existentiell, aber nicht objektiv wahr zu deuten, so ist dieses Anliegen im Kontext konkreter und absoluter Religion durchaus ein berechtigtes. Richtig sieht James, dass jedem Stehen in Offenbarungskorrelation ein, wie er es nennt, „situational exclusivism“ inhäriert. Allerdings – und dies belastet die gesamte Untersuchung von James – benennt er nicht das eben aufgewiesene Kriterium Tillichs, das jeder Offenbarung, sofern sie eine wahrhaftige sein möchte, anwest, nämlich die Selbstanwendung des Prinzips der Selbstüberwindung. Vgl. auch Jörg Lauster, der die Wahrhaftigkeit von Religion an eben diesem Kriterium festmacht: „Zum Gradmesser der Wahrhaftigkeit einer Religion wird dann […], inwieweit sie die Selbstunterscheidung ihrer konkreten Ausdrucksformen von der ihnen zugrunde liegenden Unbedingtheitserfahrung in dem ihr eigenen religiösen Bewusstsein integrieren kann.“ (Lauster, Religion, 71, ähnlich 73f) Die Formulierungen „faith“ oder „being religious“ (James, „Center Of History“, 223), die die Grundlage der Argumentation von James bilden, werden leer, sofern nicht erklärt wird, was denn eigentlich Glaube oder Religiosität überhaupt zu bedeuten haben, ja was ihr Kriterium im Kern ist. So kann der Grundthese von James, der Unterscheidung zweier Wahrheiten bei Tillich in religiöser und objektiver Hinsicht, zwar gefolgt werden, eine Begründung führt James dafür jedoch nicht an. Nimmt man nämlich dafür das Kriterium der Selbstüberwindung in jeder Offenbarung hinzu, so wird das, was James untersucht, nämlich das Zusammenspiel von absoluter und konkreter Religion bei Tillich, zwar nicht irrelevant, aber doch ein sekundäres Themenfeld, das, wie oben aufzuzeigen versucht wurde, nur für den reflexiven Nachvollzug fungiert.

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sie das Offenbarungskriterium erfüllt, sich selbst zu verneinen, ohne sich dabei selbst zu verlieren; und doch muss sich daran die Frage anschließen, ob bzw. inwieweit sich nicht eigentlich umgekehrt das scheinbar allgemeine Kriterium aus seiner eigentlichen Erfüllung in der konkreten Offenbarung in Jesus Christus konstituiert. Ließe sich Tillich auf den letztgeäußerten Verdacht festlegen, so müsste für ihn ein tendenziell aporetischer Charakter eines Zirkelschlusses konstatiert werden. Recht eigentlich betrachtet lässt sich hier just der Aporievorwurf von Gunther Wenz identifizieren, der Tillichs Theologie als letztlich in unvermittelter Unmittelbarkeit sich selbst ihren Grund geben lässt.36 Vor diesem Urteil scheint Tillich nur zu bewahren zu sein, indem man wiederum die schon mehrfach explizierte und hier nur rekapitulierte Wechselwirkung zwischen Prinzip und Prinzipat derart in Anschlag bringt, dass von beiden Polen unter Absehung des jeweils anderen nicht zu sprechen ist. Vorgeschlagen werden kann auch die Rede von einer ‚retroaktiven Wirkung‘37 der konkreten Offenbarung auf das Offenbarungsprinzip selbst, so dass das Offenbarungsprinzip an sich zwar ein allgemeines, mithin letztgültiges, ist, es gleichzeitig aber nicht anders thematisiert werden kann als unter dem Vorzeichen einer konkreten Offenbarung. Das, was prinzipiell vorgegeben ist, erstarrt dadurch nicht in heteronomer Intransigenz, sondern vermag sich selbst zum Prinzip zu werden, so dass sich Letztgültigkeit letztlich schlechterdings dem Verzicht auf sich selbst verdankt; eo ipso kann die Verfasstheit einer konkreten Offenbarung dann in gleichem Sinne als dem Prinzip entsprechende Fassung von Letztgültigkeit vorstellig werden. Kurz gesagt: Dem Offenbarungsprinzip west Unterordnung unter das eigene Prinzip an und konkreter Offenbarung ist – angeglichen an die neue Nomenklatur Tillichs – prinzipielle Letztgültigkeit zuzusprechen.38 (4) Die Offenbarungsproblematik leitet direkt über zum abschließend zu behandelnden Punkt, nämlich der Frage nach der Möglichkeit von Offenbarungsrezeption unter den beschriebenen Umständen. Tillich setzt auch hier wiederum in medialer Hinsicht den Erfahrungsaspekt als entscheidend an: ————— 36

Vgl. insbes. Wenz, Subjekt, 203–207. Der Pannenberg’sche Terminus soll nicht weitere Assoziationen zur Theologie Wolfhart Pannenbergs evozieren – allerdings scheint diese singuläre Formulierung optimal geeignet, die Verhältnisbestimmung zwischen Offenbarungsprinzip und konkreter Offenbarung zu erhellen. 38 Die Tendenz zur Aporetik bzw. zum Zirkelschluss lässt sich von Tillichs Konzeption damit nicht in Vollständigkeit abwehren, weil sie in der Grundanlage des Tillich’schen Prozedierens angelegt ist. Wie auch schon zu den vorherigen Prinzipentwürfen festgestellt, muss diese permanente Schwachstelle in Prinzip und System Tillichs jedoch nicht mit Notwendigkeit sich selbst verfallen, solange die in der Reziprozität enthaltene Spannung aufrechterhalten wird. Erst mit der Entscheidung für einen Pol des Spannungsverhältnisses lässt sich die Aporetik nicht mehr abwenden. 37

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Kontinuitätslinien der frühen Theologie Tillichs in seinem Spätwerk

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Was in der immer rechtfertigenden paradoxen Offenbarung des Unbedingten angelegt ist und sich konkret im Christus Jesus expliziert, ist dem Selbst nicht anders zugänglich als in der Unbedingtheitserfahrung selbst. Oder in Worte des frühen Tillich gefasst: Glaube ist immer Vollzug der Rechtfertigung, die sich im Offenbarungserlebnis erschließt. Damit ist Erfahrung von Offenbarung als schlechterdings passiver Akt dahingehend zu bestimmen, als durch sie nicht etwa Offenbarung inhaltlich bestimmt wird, sondern das, was Offenbarung ist, allererst vollzogen wird.39 Der klassisch-dogmatische Begriff der oboedientia passiva steht der Erfahrung von Offenbarung und dem daraus resultierenden und niemals von ihr abtrennbaren Glauben zunächst am nächsten, ohne dass eine sekundäre Aktivität deshalb verabschiedet würde. Tendiert die Offenbarungsfassung bei Tillich materialiter, wie gesehen, zu einer Überbestimmung des abstrakt-subjektiven Moments eines Offenbarungsprinzips aller Offenbarung, so wehrt dem die approximativ extrasubjektive Bedingung der Möglichkeit von Offenbarung, die Erfahrung, die ihrerseits unvermeidlich angewiesen ist auf die ihr vorgegebene konkrete Offenbarung. Zwar expliziert Tillich dieses Wechselverhältnis weniger luzide, als es die Thematik ob ihres Problempotentials erfordern würde – angelegt ist das Bollwerk gegen potentielle Fehlinterpretationen jedoch strukturell in Tillichs Prinzip. Offenbarung an sich, d.h. als letztgültige und konkrete,40 birgt in sich gleichermaßen die Komponente abstrakter Prinzipialität, wie sie vornehmlich im Offenbarungsbegriff ansichtig wird, und konkreter Objektivation, wie sie der Erfahrungsbegriff in Sonderheit vorstellt. Die Reziprozität beider Pole bezieht das Verhältnis jedoch gerade nicht aus der einfachen Zuordnung von subjektivem und extrasubjektivem Ursprung auf jeweils einen der beiden Pole. Im Gegenteil müssen, wie dies auch schon für das System von 1913 statuiert wurde, dezidiert beide Anteile für beide Pole in Anschlag gebracht werden. Erst diese doppelläufige Bewegung innerhalb der Einzelpole ermöglicht es zu erschließen, was mit Offenbarung und ihrer Erfahrung gemeint ist.41 Unter Absehung eines Pols ————— 39

„Erfahrung ist nicht die Quelle, aus der die Inhalte der systematischen Theologie genommen werden können, sondern das Medium, durch das sie existentiell empfangen werden.“ (ST I, 53) 40 Damit ist der Offenbarungsbegriff gemeint, den es allein zu denken gilt, nämlich den eines untrennbaren und doch differenten Ineinanders der Momente von Offenbarungsprinzip und konkreter Offenbarung. 41 Tillich kann diesen Sachverhalt in Kombination mit Anklängen zur Rechtfertigungslehre folgendermaßen zusammenfassen (wobei der Begriff der Norm problemlos durch den der letztgültigen Offenbarung bzw. den des Prinzips ersetzt werden kann): „Die Norm entwickelt sich im Medium der Erfahrung, ist aber zugleich Kriterium der Erfahrung. Die Norm entscheidet über das Medium, in dem sie entsteht; sie richtet das schwache, lückenhafte, verzerrte Medium der religiösen Erfahrung, obwohl nur dieses unzulängliche Medium das Existenzwerden einer Norm überhaupt ermöglicht.“ (ST I, 65)

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wird der jeweils andere unverständlich, ja ist letzten Endes schlechterdings unexplikabel, weil er zur Entfaltung notwendig seines Widerparts bedarf. So sehr Tillichs Theologie auch vom Subjekt her konzipiert bzw. nahezu konstruiert erscheint, umso mehr muss das in Tillichs Prinzip enthaltene und unausscheidbare Moment extrasubjektiven Empfangens festgehalten und betont werden.42 Dann allerdings ist eine rein subjektivistische Interpretation des Tillich’schen Prinzips ausgeschlossen, weil Subjektivität nicht sich selbst zu konstituieren droht, sondern sich als sich selbst allererst empfängt von einer begrifflich nicht mehr einholbaren, nur im Modus der Unbedingtheitserfahrung umschreibbaren Quelle.43 Diese ist fassbar ausschließlich in der Erfahrung des Unbedingten selbst und dieser notwendig vorausgesetzt. Festhalten lässt sich somit, dass trotz der Vermeidung thetischer Festlegung der Offenbarung, wie es im Offenbarungsprinzip ansichtig wird, das in der Offenbarung enthaltene Prinzip in seiner Letztgültigkeit hingeordnet ist auf seine Rezeption in konkreter Form und dem daraus entspringenden Glauben an die Offenbarung. Der Glaube seinerseits hinwiederum kann – in und trotz seiner subjektiven Struktur – ob seines Vermitteltseins, das sich im empfangenden Charakter der Offenbarungsrezeption ausdrückt, niemals der solipsistischen Selbstverabsolutierung verfallen, sofern er prinzipiell letztgültig sein möchte – und nur dann ist er Glaube zu nennen –, indem er seine prinzipielle Letztgültigkeit aus dem Ermöglichungsgrund seiner selbst, der Offenbarung, bezieht. Wie zu zeigen versucht wurde, beruft sich auch der späte Tillich auf ein Wechselspiel zwischen dem absoluten und dem konkreten Moment seines Prinzips. Wie genau dieses Verhältnis im Vergleich zu den vorherigen Prinzipfassungen zu beschreiben ist, sei vorerst verschoben hinter die Analyse der ontologischen Ausprägung von Tillichs Prinzip.44 Bereits jetzt sei jedoch schon vorgreifend aufmerksam gemacht auf die groben Tendenzen, die sich in der Prinzipkonstruktion Tillichs abzeichnen: Wich die noch stark ausgeprägte Christozentrik der Wahrheitstheorie in der Sinntheorie bedingt durch das Auftreten des prinzipiellen Zweifels hinter ein vermehrt subjekti————— 42

„Die christliche Theologie ist gegründet auf dem einzigartigen Ereignis: Jesus, der Christus, das trotz seiner unendlichen Bedeutung in seiner Konkretheit die Norm für jede religiöse Erfahrung bleibt. Dieses Ereignis ist der Erfahrung vorgegeben und nicht aus ihr abgeleitet. Deshalb empfängt die Erfahrung, aber sie schafft nicht neu. […] Der Akt der Entgegennahme beabsichtigt das Entgegennehmen und nur dies.“ (ST I, 57) 43 Diese immer notwendig einzuzeichnende Differenz von Vermitteltsein und Unmittelbarkeit im Selbst hebt Tillich für den Erfahrungsbegriff hervor, wenn er formuliert: „Die religiöse Erfahrung des Menschen könnte nur dann eine unabhängige Quelle der systematischen Theologie werden, wenn der Mensch eins wäre mit der Quelle aller religiösen Erfahrung, der Kraft des göttlichen Geistes in ihm selbst.“ (ST I, 58) 44 Vgl. Kap. 3.3.

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Kontinuitätslinien der frühen Theologie Tillichs in seinem Spätwerk

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vitätstheoretisches Modell zurück, auch wenn selbst dort die Christologie nicht unterzubestimmen ist, so scheint der ontologisch geprägte Tillich die Reziprozität zwischen Christologie und Prinzip wieder stärker herauszuarbeiten. Zwar war auch sinntheoretisch vom absoluten Sinn nicht die Rede unter Absehung von aktualem Sinnvollzug – jedoch trat das extrasubjektive Moment in konkreter Ausprägung derart zurück, dass Tillichs kulturtheologisches Konzept vom Verdacht der Willkür aufgrund Tillichs eigenen Aussagen nicht vollends befreit werden konnte. In Tillichs spätem opus magnum scheint sich nun aber wiederum eine tendenzielle Rückkehr zu einer stärker christologischen Ausprägung der Theologie abzuzeichnen, so dass bei der Besprechung des konkreten Prinzippols christologische Fragestellungen wieder vermehrt in den Fokus der Betrachtung rücken, wohingegen eine rein subjektivistische Interpretation zu vermeiden gesucht wird. – Dies sei jedoch nur als kurzer Ausblick auf die größeren Bezugslinien angeführt.

3.1.2 Methodische Konsequenzen im Systemaufbau Die sich bereits im System von 1913 explizierende Aufbaustruktur anhand dreier Teile findet nun auch bei Tillichs dreibändiger Systematik der fünfziger und sechziger Jahre in großer Ähnlichkeit Anwendung. Aufgezeigt werden sollen im Folgenden die Kontinuitätsmomente in struktureller Hinsicht sowie damit verbunden in der von Tillich angewandten Methode der Korrelation. War es 1913 noch der Grunddual eines absoluten und eines relativen Standpunkts, die sich in Hinblick auf ihre Geisteshaltung einerseits durch Intuition, andererseits durch Reflexion auszeichneten, so bleibt die irreduzible Polaritätsstruktur in der Anlage des Systems auch beim späten Tillich erhalten. Wie auch immer die Grundpolarität bezeichnet werden mag – absolut und relativ, unbedingt und bedingt, Vernunft und Offenbarung, Geschichte und Offenbarung, Prinzip und Prinzipat etc. –, stets bleibt das Tillich’sche Prinzipdenken in seiner systematischen Ausführung methodisch auf die schon explizierte metalogische Methode eingestellt. Dies bedeutet, dass Tillich immer mit einer Polarität zweier nicht synthetisierbarer Relate arbeitet, deren spannungsvolles, irreduzibles Reziprozitätsverhältnis in einem dritten Moment vorstellig zu werden hat, wodurch der Poldual letztlich zu einer Trias erweitert wird. Entscheidende Pointe dieser Denkstruktur – die nicht einfach identisch ist mit einer Dialektik Hegel’-

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scher Provenienz45 – ist, dass einer der beiden Pole doppelt fungiert, indem er einmal als Pol des Spannungsverhältnisses auftritt und trotzdem gleichzeitig konstituierender Grund des anderen Pols ist;46 zum anderen hat dieser Pol trotz seiner Eingliederung in das Polaritätsverhältnis immer auch letzten Endes als das vorstellig zu werden, was im dritten Moment der Synthesis ansichtig wird, ohne jedoch dabei direkt gleichgesetzt werden zu können mit seiner Funktion als Pol und Konstitutionselement – andernfalls würde er zu Intransigenz depravieren und ginge seines ihm wesenhaften Charakters der Dynamik verlustig. Betrachtet man Tillichs Korrelationsmethode näher, so lässt sich just dieser Aufbau auch hier identifizieren. Ausgangsbasis der Argumentation ist dabei, dass das menschliche Reflexionspotential aus sich heraus den es allererst ermöglichenden Grund nicht hervorzubringen vermag. Mit anderen Worten: Die Vernunft ist nicht in der Lage, Glaube oder gar Gotteserkenntnis zu produzieren.47 Zwischen dem, was die Reflexion via ihrer Dialektik hervorbringt, und dem, was sich im Glauben erschließt, besteht ein kategorialer Bruch, der allerdings nicht derart ist, dass zwischen beiden keine Verhältnisbestimmung möglich wäre: Genau dies versucht Tillich methodisch mit der Korrelation zu erreichen. Die Grundfrage, an der sich die Korrelationsmethode in ihrem Frage-Antwort-Schema aufbaut, ist sohin die im Menschsein des Menschen selbst beschlossene Frage nach dem Grund des eigenen Da- und Soseins. Elementar gebündelt lässt sich die Thematik auf die klassische Frage, warum überhaupt etwas sei und nicht nichts, zurückführen. In Bezug auf den Menschen bedeutet dies jedoch, dass ihm sein eigenes Sein schleierhaft wird, weil er es eben nicht vermag, aus sich heraus, die Frage nach sich selbst zu beantworten: „Der Mensch ist die Frage nach sich selbst, noch ehe er irgendeine Frage gestellt hat.“ (ST I, 76) Die Unfähigkeit des Menschen, sein eigenes Sein begründend zu bestimmen, lässt sich wiederum nach Tillich zurückführen auf die Erfahrung der Bedingtheit des eigenen Seins, mithin der Erfahrung der „Erschütterung der Vergänglichkeit“ (ST I, 76). Der sich immer schon als sich selbst gegebenes ————— 45

Vgl. dazu auch Uwe Carsten Scharf, Dogmatics, 276 Anm. 6: „However I would not agree with Thompson’s characterization of Tillich’s both-and as Hegelian but would rather call it paradoxical or dialectical in the sense of a nonclosed system. That means that in Tillich there is no Hegelian hierarchical third element that must come out of the yes and no. Tillich rather keeps the two poles in a creative tension out of which something new may break through, though not with dialectical necessity.“ 46 Dabei muss jedoch beachtet werden, dass auch der konstituierende Pol seinerseits nicht ist ohne sein polares Pendant. Dies wurde an anderer Stelle bereits als Hierarchieverhältnis bestimmt, das jedoch so verfasst ist, dass es der Reziprokstruktur keinen Abbruch tut; vgl. Kap. 1.1.2 und 1.2.4. 47 „Daraus folgt, daß die Vernunft nicht die Quelle der Theologie ist. Sie erzeugt den Glaubensinhalt nicht.“ (ST I, 66)

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Kontinuitätslinien der frühen Theologie Tillichs in seinem Spätwerk

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Selbst vorfindende Mensch kommt darob nicht umhin, aufgrund der Erfahrung seiner eigenen Bedingtheit die Frage nach der ihn bedingenden Unbedingtheit zu stellen.48 Tillich repliziert hier das schon im Rahmen der Wahrheits- und v.a. der Sinntheorie erörterte Verhältnis von metalogischer Methode und Identitätsprinzip in Form der Korrelation. Mit anderen Worten: In der Korrelationsmethode geht es Tillich darum, die beiden Momente der Gleichzeitigkeit von Vermitteltsein und Unmittelbarkeit des Selbst in ihrer Reziprozität ins Verhältnis zu setzen. Dass dabei die beiden Konstituenten des Selbst, also Vermitteltsein und Unmittelbarkeit, sich wechselseitig bedingen, tut ihrer schlechthinnigen Unableitbarkeit aus einander keinen Abbruch. Unbeantwortet geblieben ist bisher, wie die Korrelation material vorstellig zu werden hat. Hierbei prozediert Tillich – wie auch schon in formaler Hinsicht – analog der Methode seiner frühen Prinzipansätze: Frage und Antwort bzw. Situation und Botschaft (vgl. ST I, 9) entwickeln sich unabhängig voneinander dergestalt, dass die Frage aus einer Analyse des Seins bzw. des menschlichen Seins in seiner vorfindlichen Verfassung erhoben wird, die Antwort jedoch auf Basis des christlichen Kerygmas gegeben wird: „Beim Gebrauch der Methode der Korrelation schlägt die systematische Theologie folgenden Weg ein: Sie gibt eine Analyse der menschlichen Situation, aus der die existentiellen Fragen hervorgehen, und sie zeigt, daß die Symbole der christlichen Botschaft die Antworten auf diese Fragen sind.“ (ST I, 76) Dass hierbei die Aussage Tillichs nicht derart einsträngig zu verstehen ist, eine philosophische Frage einer aus der Offenbarung gewonnenen Beantwortung zuzuführen, versteht sich zuerst schon aus der sonstigen Vorgehensweise Tillichs; sodann muss die wechselseitige Bezogenheit von Frage und Antwort berücksichtigt werden, die eine schlichte Synthese von Frage und Antwort in Abrede stellen muss.49 Entscheidend ist jedoch die von Georg Neugebauer beobachtete Verkürzung in der Relation ————— 48

Somit ist Georg Neugebauer zuzustimmen, wenn er anführt, die Unbedingtheitserfahrung sei als Frage nach dem, was uns unbedingt angeht, – in Nähe zu Schleiermacher – „genau in der Spannung zwischen Frage und Antwort zu lozieren.“ (Neugebauer, frühe Christologie, 361) 49 „Die Theologie formuliert die in der menschlichen Existenz beschlossenen Fragen, und die Theologie formuliert die in der göttlichen Selbstbekundung liegenden Antworten in Richtung der Fragen, die in der menschlichen Existenz liegen. Das ist ein Zirkel, der den Menschen zu einem Punkt treibt, wo Frage und Antwort nicht mehr voneinander getrennt sind.“ (ST I, 75) Dies fußt nicht zuletzt darauf, dass Frage wie Antwort eine gemeinsame Grundbasis voraussetzen, wie es auch für Religion und Kultur in der Sinntheorie, Theologie und Philosophie in der Wahrheitstheorie bereits der Fall war. So formuliert Tillich in ‚Das Problem der theologischen Methode‘ von 1946: „Aber Antworten können nur gegeben werden, wo der Fragende und der Antwortende eine gemeinsame Basis haben.“ (Paul Tillich, Das Problem der theologischen Methode, in: EW IV, 19– 35, hier: 31)

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von Theologie und Philosophie, sofern man sie nur unter dem Spektrum von Frage und Antwort betrachtet.50 Vielmehr ist bei Tillich ein „doppelte[r] Philosophiebegriff“ festzustellen, der neben einer „Existenzphilosophie“ auch eine „formale Ontologie“51 einschließt, wobei beide denselben Gegenstand, jedoch eine differente Perspektive auf ihn haben. So bestimmt die formale Ontologie „die Struktur des Seins“52 (ST I, 30), wohingegen es Aufgabe der Existenzphilosophie ist, auf Grundlage der Arbeit der formalen Ontologie die spezifische Ausprägung des Seins unter Existenzbedingungen zu eruieren. Just dieser Differenz von Wesensstruktur und konkreter Bestimmtheit, wie sie durch die Philosophie herausgearbeitet wird, entspringt allererst die spezifische Fragestellung, die sich in dem oben explizierten Verhältnis von Vermitteltsein und Unmittelbarkeit äußert. Erst an dieser Stelle kommt die Theologie bzw. präziser gesprochen: die Offenbarung ins Spiel, weil die Bestimmung der Wesensstruktur des Seins und die konkrete Anschauung desselbigen jeweils nicht die durch sie evozierte Frage zu beantworten vermag.53 Erst der Synthesischarakter der Theologie vermag ————— 50

Vgl. Neugebauer, frühe Christologie, 357f. Ähnliches konstatierte in diesem Punkt schon Oswald Bayer, Theologie, 229. Ebenfalls der problematischen Zuordnung von Antwort und Frage auf Philosophie und Theologie zu entkommen, wenn auch auf andere Weise, versucht Dirk-Martin Grube, Kontextinvariante Wahrheit in geschichtlicher Vermittlung? Eine Analyse von Tillichs Methode der Korrelation, in: Gert Hummel (Hg.), Truth and History – a Dialogue with Paul Tillich/Wahrheit und Geschichte – Ein Dialog mit Paul Tillich. Proceedings of the VI. International Symposium held in Frankfurt/Main 1996/Beiträge des VI. Internationalen Paul-TillichSymposiums in Frankfurt/Main 1996 (TBT 95), Berlin/New York 1998, 49–68. Ob allerdings Grubes Lösung, bei einem Dual von Philosophie und Theologie zu verbleiben, dieses jedoch „in eine Metaperspektive“ einzubetten, „die theologische Züge trägt“ (ebd., 63), tatsächlich zur Erhellung der Korrelationsmethode beiträgt und sich nicht letztlich doch den Vorwurf, die Philosophie der Theologie zu subordinieren, zuzieht, muss offen bleiben. Die Richtung, in die Grubes Vorschlag geht, ist jedoch durchaus richtig, wenn er die Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie als für die Korrelationsmethode „wenn überhaupt, nur von margnialer Bedeutung“ (ebd., 53) beschreibt und im Kern ein theologisches Problem, nämlich „das positive und das rationale Element der Theologie […] einander in angemessener Weise zuzuordnen“ (ebd.) identifiziert. 51 Neugebauer, frühe Christologie, 357 52 Das Wesen selbst kann niemals der unmittelbare Gegenstand der Betrachtung werden, wie Tillich schon Mitte der zwanziger Jahre in den Prolegomena zu seiner Dresdner Dogmatikvorlesung feststellt: „Das Erkennen will ja das Wesen der Dinge erfassen, aber es erfasst durch Erkennen nur die Erkenntnisseite der Dinge zulänglich, das Wesen aber unzulänglich.“ (EW XIV, 89) 53 Hierin ist Georg Neugebauer vorbehaltlos zu folgen. Ob der Übertragbarkeit der Trias formale Ontologie, Existenzphilosophie, Offenbarung auf die Abfolge von absolutem, konkretem und theologischem Standpunkt – die Georg Neugebauer jedoch auch nur vorsichtig in einem „ähnlich gelagerten Aufbau“ erkennt (Neugebauer, frühe Christologie, 358) – gilt es jedoch besonders in einem Punkt Vorsicht walten zu lassen: Was Tillichs formale Ontologie als Ergebnis ihrer Analyse hervorzubringen vermag, dürfte wohl deutlich unterschieden sein von dem, was der Aufgabe des absoluten Standpunkts anwest. Formale Ontologie befasst sich eben mit der Struktur des Seins und arbeitet demnach gerade nicht einen Wesensbegriff des Seins heraus, der ein metaphysisches

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Kontinuitätslinien der frühen Theologie Tillichs in seinem Spätwerk

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die in der philosophischen Analyse gegebene Isolation von Strukturbegriff und konkreter Ausprägung des Seins unter Existenzbedingungen so – d.h. in Form der metalogischen Methode – zusammenzudenken, dass die Verfehlung eines Gedankengebäudes idealistischer Provenienz auf der einen und einer in Resignation endenden existentialistischen Interpretation auf der anderen Seite vermieden werden kann. Die Frage nach dem Part der Offenbarung ist durch die Bestimmung des Offenbarungsbegriffs oben schon weitestgehend beantwortet. Ergänzend sei jedoch noch auf den Mysteriumscharakter der Offenbarung verwiesen.54 Offenbarung als solche ist nicht mehr auf den Begriff zu bringen, weil sie als Mysterium eben auch in der Revelation Mysterium bleibt.55 Damit wird die kategoriale Diastase von Vernunft bzw. dem Erkenntnisvermögen des Menschen und der Offenbarung konstatiert: „Nichts, was durch einen methodischen Erkenntniszugang entdeckt werden kann, sollte Mysterium genannt werden.“ (ST I, 133) Tillich expliziert hier im Rahmen von Vernunft und Offenbarung exakt das, was die Relation von logischem und alogischem Moment der metalogischen Methode vorstellig machen möchte. Vernunft wird durch Offenbarung nicht vernichtet, es hat keine „Negation der Vernunftstruktur“56 statt, sondern Vernunft ist als solche nur denkbar in Kombination mit dem alogischen Moment ihrer selbst, so dass das, was im Mysterium offenbart wird, nichts anderes ist als der Grund der Vernunft selbst – und ihr Abgrund.57 Mit anderen Worten: In der Offenbarung er————— System zur Konsequenz zeitigt, sondern ist bloße Abstraktion von der empirischen Vorfindlichkeit des Seienden. Insofern zielt formale Ontologie zwar auf einen Wesensbegriff, erfasst ihn jedoch nur strukturell, nicht absolut. Der Tillich des Systems von 1913, der noch nicht durch die Präzisierung der sinntheoretischen Konzeption gegangen ist, setzt den absoluten Standpunkt jedoch noch tendenziell als tatsächliche – wenn schon nicht Ontologie, so doch – Metaphysik an, in der über den Wahrheitsbegriff zum Begriff des Absoluten kommend vermittels der Religion der Gottesbegriff abgeleitet werden kann. Ein solches Vorgehen dürfte Tillichs Bestreben einer formalen Ontologie nicht mehr zuzusprechen sein. Letztgenannte kann nicht mehr so weit von den Gegebenheiten abstrahieren, dass sie eine ‚absolute Realität‘ hinter die Vorfindlichkeit zu setzen vermag. Die Annahme eines doppelten Philosophiebegriffs bei Tillich ist somit zwar nicht nur statthaft, sondern sogar zu Recht zu behaupten – allerdings ist dieser Philosophiebegriff – bei allen auch in dieser Untersuchung unterstrichenen Kontinuitätslinien im Denken Tillichs – nicht direkt übertragbar auf Tillichs frühestes theologisches System. Ist man sich der Differenz von formaler Ontologie und absolutem Standpunkt jedoch in Gänze bewusst, kann ansonsten von einer direkten Parallelität der Systeme gesprochen werden. 54 Vgl. hierzu auch Neugebauer, frühe Christologie, 355f. 55 „Das Wort Mysterium sollte nicht gebraucht werden für etwas, das aufhört Mysterium zu sein, nachdem es offenbart worden ist.“ (ST I, 133) 56 Neugebauer, frühe Christologie, 356. 57 „Das echte Mysterium erscheint erst da, wo die Vernunft über sich selbst hinaus zu ihrem ‚Grund und Abgrund‘ vorstößt, zu dem, was der Vernunft ‚vorausgeht‘, […] zu der Urtatsache, daß etwas ist und nicht nichts.“ (ST I, 133)

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kennt die Vernunft das, was die beiden philosophischen Fragestellungen selbst nicht zu beantworten vermögen, nämlich die Konstituente von Vernunft selbst.58 Trieb – ontologisch gesprochen – die philosophische Frage zu auf die Lösung der Existenz, d.h. auf das Problem des Nichtseins, so ist im Horizont der Offenbarung die Begründung der Vernunft zu verstehen als „die Macht des Seins, die das Nicht-Sein überwindet.“ (ST I, 133f) Damit ist jedoch bereits der Übergangspunkt zur Analyse der Ontologie bei Paul Tillich markiert, weil die philosophische Frage letztlich immer auf den Grund der Existenz und gleichzeitig auf das unlösbare Problem des im Nichtsein des Seienden liegenden Abgrundes alles Existierenden zuläuft. Tillich findet die Antwort in Gott als der „unendliche[n] Macht des Seins“ bzw. dem „Sein-Selbst“ (ST I, 79). Zur Erörterung dieses Gottesbegriffs bedarf es jedoch einer eingehenderen Analyse des Ontologieverständnisses bei Paul Tillich.

————— 58

Damit macht bei genauer Betrachtung der Begriff des Mysteriums aber nichts anderes vorstellig als der des Paradoxes. Ebenso wenig wie das Mysterium lässt sich der Paradoxbegriff vernünftig, d.h. kraft der Vernunft, auflösen, ohne dass damit der Begriff in seinem Wesen zerstört würde. Auffallend ist, dass Tillich den Paradoxbegriff in seiner Spättheologie stärker noch, als er dies in seinen frühen Werken vornahm, exklusiv für das Christusereignis in Anschlag bringt, so dass der Mysteriumsbegriff letztlich den Allgemeinheitscharakter dessen, was im Paradox des Christus Jesus ansichtig wird, zum Ausdruck bringt. Faktisch bleiben jedoch beide Begriffe notwendig wechselseitig explikativ, weil das Mysterium unvermeidlich bestimmt ist durch seinen paradoxen Charakter, das Paradox hinwiederum stets in Form des Mysteriums rezipiert wird.

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Theologie unter der Leitung des Seinsbegriffs

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3.2 Theologie unter der Leitung des Seinsbegriffs Nicht nur die reinen Begrifflichkeiten, sondern auch das philosophische Selbstverständnis erweisen Tillich in seiner letzten theologischen Phase als ontologischen Denker. Der vielen Missverständnissen unterworfene und unterschiedlichen Definitionen zugeführte Begriff der Ontologie1 bedarf allerdings vorab einer Klärung, um verstehen zu können, in welcher Hinsicht Tillich zu Recht als Ontologe zu bezeichnen ist. Dabei wird derart prozediert, dass zunächst (3.2.1) die Frage nach dem Ontologieverständnis Tillichs im Allgemeinen gestellt wird. In einem zweiten Schritt (3.2.2) soll die Konsequenz ontologischen Zugangs auf Tillichs Prinzip und dessen systematische Explikation näher in den Blick rücken, bevor zuletzt (3.2.3) der zentrale Terminus der Tillich’schen Ontologie, nämlich der Gottesbegriff in der Fassung des Seins-Selbst, analysiert wird. Als Textgrundlage werden in erster Linie Tillichs ‚Systematische Theologie‘ sowie seine Berliner Vorlesung über Ontologie von 1951,2 also dem Jahr, in dem auch die amerikanische Ausgabe des ersten Bandes der ‚Systematic Theology‘ erschien, herangezogen.

3.2.1 Das Ontologieverständnis bei Paul Tillich Ontologie ist für Tillich im Anschluss an Aristoteles „erste Philosophie“ (EW XVI, 4, und ST I, 193) und benennt damit die Grundaufgabe von Philosophie, nämlich die klassische Frage des µO ž µO, also der Frage nach dem Sein als solchem, zu stellen. Seinslehre thematisiert damit die Frage nach dem „Sein selbst“ dergestalt, dass unter Absehung jedweder reflexiver Kategorien das, was „immer mitgedacht wird, indirekt und manchmal direkt, wenn von etwas ausgesagt wird, daß es ist“ (ST I, 193), zum Gegenstand der Philosophie wird. Damit ist aber bereits schon ein entscheidendes Charakteristikum für Tillichs Ontologieverständnis namhaft gemacht: Tillich möchte unter dem Vorzeichen der Ontologie nicht eine metaphysische Welt neben der sinnlich gegebenen konstruieren, sondern begreift die ontologische Haltung vielmehr als die Perspektive, die die allezeit mitzuden————— 1 Vgl. allgemein hierzu: Johannes Heinrichs, Art. Ontologie, in: TRE 25, 1995, 244–252, und Rainer Enskat, Art. Ontologie, in: RGG4 6, 2003, 565–568. 2 Paul Tillich, Ontologie (1951), in EW XVI: Berliner Vorlesungen III (1951–1958), hg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Erdmann Sturm, Berlin/New York 2009, 1–168.

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Die ontologische Gestaltung des Systemprinzips

kende Struktur alles Seienden in den Fokus nimmt.3 Sein ist demnach nicht ein Begriff neben dem Seienden, sondern einer, der in unvordenklicher Weise aller Erfahrung vorausgeht. Insofern ist für Tillich „unter allen Umständen Sein der erste und fundamentalste Begriff.“ (EW XVI, 4) Tillich geht es dezidiert darum, eine „supranaturalistische Missdeutung“ zu vermeiden, indem er Ontologie definiert als die „Lehre von den grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit, von denjenigen Strukturen, die in jeder Erfahrung vorhanden sind und die infolgedessen in jeder Erfahrung vorausgesetzt werden.“ (EW XVI, 4) Kurz gesagt: Tillich versteht unter Ontologie eine Transzendentaltheorie. Diese gilt es näherhin zu beschreiben. Grundlegend ist, dass Tillich den Terminus Ontologie nicht abgegrenzt wissen möchte von Metaphysik, letzteren Begriff jedoch nur ob dessen – seines Erachtens vorhandener – Unbrauchbarkeit in der Moderne vermeidet.4 Seinslehre ist für Tillich damit nichts anderes als Metaphysik, jedoch gilt es folgende Punkte zu berücksichtigen, um Fehlinterpretationen zu ————— 3

Damit ist die Verortung Tillichs im Rahmen des von Johannes Heinrichs angesetzten Spektrums eines Verständnisses von Ontologie nicht in einfacher Weise vorzunehmen. Heinrichs skizziert die Verhältnisbestimmung von Seins- und Gottesfrage folgendermaßen: „Die problemreiche Verklammerung der Seinsfrage mit der Gottesfrage zielt der meist (z.B. von Heidegger) kritisch gebrauchte, von Kant eingeführte Terminus Onto-theologie an: Wie stehen Sein und Gott zueinander? Von der Zuordnung dieser Höchstbegriffe zueinander hängt im Wesentlichen die Verhältnisbestimmung von Ontologie und Metaphysik ab. Während für scholastisch-katholisch orientierte Autoren Ontologie ‚nichts anderes als das unentfaltete Gottesproblem‘ darstellt (J.B. Lortz, Ontologie 276), soll der Terminus Ontologie bei vielen Ontologen bewußt eine Grenze zu Metaphysik und Gotteslehre ziehen“ (Heinrichs, Art. Ontologie, 245). Tillich schließt nun aber gerade weder Seins- und Gottesfrage voneinander ab, noch lässt er die Ontologie von der Metaphysik unterschieden sein. Mit Werner Schüßler zu behaupten, „Tillich, however, crossed out the one side, metaphysics as doctrine of God, and allows it validity only as a doctrine of being, as ontology“ (Schüßler, Umwendung, 129), muss damit allerdings zu kurz greifen. Wie genau demnach Ontologie und Gottesfrage aufeinander zu beziehen sind, beantwortet einerseits der zur Korrelationsmethode eingeführte Begriff der formalen Ontologie (vgl. dazu auch Rainer Enskat, Art. Ontologie, 567), die als nicht direkt auf das Wesen des Seins, jedoch umso mehr auf seine Struktur zielend vorstellig zu werden hat. Abgesehen von diesem methodischen Zugang wird andererseits erst im Rahmen der folgenden Begriffsanalyse von Tillichs Ontologie eine tatsächliche Klärung vorzunehmen sein. Erste Anhaltspunkte für Tillichs Ontologieverständnis bietet allerdings bereits der zitierte Begriff der Ontotheologie, der insbesondere in seiner Fragehaltung für Tillich von Bedeutung ist. So kann etwa auch Gunther Wenz Tillich als einen „Theontologe[n] in der Tradition Platons“ (Wenz, Non aliud, 159) bezeichnen. 4 „Die Frage nach dem Sein als Sein ist ‚Erste Philosophie‘, oder wenn dieses Wort noch gebraucht werden könnte, ‚Metaphysik‘. Da aber falsche Nebenbedeutungen das Wort ‚Metaphysik‘ belasten, ist das Wort ‚Ontologie‘ vorzuziehen.“ (ST I, 193) Gleichfalls auch: „Man hat nämlich Metaphysik mit der Statuierung einer Hinterwelt identifiziert, einfach mit ‚Supranaturalismus‘ übersetzt und also auf diese Weise das ‚meta‘ aufgefasst als die Konstruktion einer Welt, die sich der Erfahrung entzieht und die jenseits der erfahrungsgegebenen Welt liegt. […] [A]ber da das Wort [sc. Metaphysik] so verfallen ist, schlage ich vor, dass wir dafür den Begriff ‚Ontologie‘ gebrauchen.“ (EW XVI, 4) Vgl. auch: EW XVI, 11.

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vermeiden: Zunächst muss mit den Begriffen der Ontologie oder Metaphysik nach Tillich eine Methode verbunden sein, die nicht eine Abstraktion von der Vorfindlichkeit alles sinnlich Gegebenen intendiert. Vielmehr geht es Tillich bei seinem ontologischen Vorgehen darum, Seiendes einer genauen Betrachtung zu unterziehen.5 Der mit dem Entwurf eines ontologischen Systems verbundene Begriff der Spekulation ist für Tillich daher in der Weise zu fassen, dass mit ihm die eigentliche Bedeutung von Intuition zu assoziieren ist.6 Die über den Spekulationsbegriff hinausgehende Bedeutung der Intuition liegt nun gerade in ihrem nicht rein betrachtenden Charakter, sondern dem gleichzeitig hinzukommenden Moment der Teilhabe an dem, was betrachtet wird.7 Intuition sieht mithin ab von einer in der Subjekt-Objekt-Spaltung liegenden Distanz des Betrachters gegenüber dem Betrachteten, so dass damit mehr als bloßes reflexives Begreifen des Betrachteten gemeint ist, ja Intuition sogar in polaren Gegensatz zur Reflexion tritt.8 Damit greift Tillich den bereits 1913 im fundamentaltheologischen Teil seiner ersten Systematik explizierten Gegensatz von Intuition und Reflexion auf, die die Perspektivität des absoluten bzw. des relativen Standpunkts bildeten.9 Dem Begriff der Intuition kommt mithin der umfassende Aspekt, der die Subjekt-Objekt-Spaltung in Form der Partizipation zu überwinden sich anschickt, zu, wobei auch hier das Geschehen noch in Abstraktion geschehend vorstellig zu werden hat, weil die Reflexionsdialektik von sich aus nicht in der Lage ist, die ihr anwesende Spaltung zu überwinden. Reflexion hingegen ist die Funktion, die dem Subjekt kat’ exochen eignet, so dass das der Reflexion Unterzogene notwendig zum Objekt für das Subjekt wird. Das Selbst definiert sich durch Negation. Wenn Tillich nun an dieser Stelle explizit davon spricht, dass Ontologie im Modus der Intuition zu vollziehen sei, ja dass der der Intuition wesenhafte Begriff der Partizipation „in einer besonderen Weise im Zentrum der Ontologie“ (EW XVI, 5) zu stehen komme, so ist für Tillichs Ontologiebegriff ————— 5 Aufschlussreich sind die Begriffe von „genau beobachten“ und „auf etwas hinsehen“ (EW XVI, 5) bei Tillich. Genau in diesem Übergang vom Sein selbst zum Seienden sieht Michael Moxter, Kultur, 25, den von Tillich ausgeschiedenen Metaphysikbegriff wieder durch die Hintertüre in Tillichs System eindringen. 6 Der Spekulationsbegriff wird ob seiner Korruptheit, die ihm im Laufe seiner Verwendung zugekommen sei, in gleicher Weise abgelehnt, wie der Begriff der Metaphysik; vgl. EW XVI, 5. 7 „Hier ist es wieder dasselbe, dass ‚Intuition‘, intueri eigentlich bedeutet: auf etwas hinsehen, aber mit einer kleinen Nuance über speculari hinaus. Intueri heißt: in hineingucken, in die Sache hineingucken; es hat einen etwas intensiveren Sinn, etwas von dem Sinn, den ich vorhin als ‚Partizipation‘ bezeichnet habe“ (EW XVI, 5). 8 Intuition „kann dann in Gegensatz gestellt werden zu ‚reflektieren‘.“ (EW XVI, 5) 9 Vgl. etwa die ‚Skizze‘ zu Tillichs ‚Systematische[r] Theologie von 1913‘ (EW IX, 426–429, hier: 426).

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der einer formalen Ontologie, wie er auch, wie schon betrachet, von Georg Neugebauer angesetzt wird,10 der treffendste. Jedoch – und darauf sei nochmals mit Emphase hingewiesen – lässt sich für Tillich nicht einfach ein Intuitionismus oder gar ein Konstruktivismus in Anschlag bringen. Gleichwohl Tillich nämlich die Behandlung der Seinsfrage nicht unter Absehung davon vornehmen kann, dass das Seiende immer notwendig mitzuthematisieren ist, wenn nach dem Sein gefragt wird,11 so steht hinwiederum die Seinsfrage trotz dieser Verknüpfung mit dem Seienden stets am Anfang, weil es vor jeden anderen – wie auch immer gearteten – Aussagen notwendig erforderlich ist, dass „man zunächst einmal etwas aussagen muss über das Sein selbst“ (EW XVI, 13).12 Damit scheint Tillich sich gegen eine Vereinnahmung durch einen Ontologiebegriff platonischer Provenienz gleichsam zur Wehr zu setzen wie durch einen im Sinne des Intuitionismus oder Konstruktivismus.13 Wie der Ontologiebegriff dann näher zu bestim————— 10

Vgl. Neugebauer, frühe Christologie, 357f. So hält Tillich fest, „dass wir den Gegenstand der Ontologie, nämlich das Sein, nicht jenseits des Seienden suchen können – dann wäre es ja ein Seiendes neben den anderen Seienden –, sondern dass wir es mitten im Seienden selber suchen müssen.“ (EW XVI, 13; Hervorhebungen S.D.) Vgl. dazu auch Robert P. Scharlemann, Ontologie: Zur Begriffsbestimmung bei Tillich in den zwanziger Jahren, in: Gert Hummel (Hg.), God and Being/Gott und Sein. The Problem of Ontology in the Philosophical Theology of Paul Tillich/Das Problem der Ontologie in der philosophischen Theologie Paul Tillichs. Contributions made to the II. International Paul Tillich Symposium held in Frankfurt 1988/Beiträge des II. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt 1988 (TBT 47), Berlin/New York 1989, 100–107, der jedoch den Tillich’schen Ontologiebegriff in starker Orienterung an dem Heideggers zu explizieren versucht. 12 Mit der Notwendigkeit, stets vom Sein den Anfang zu nehmen, mithin bei dem transzendenttranszendentalen Ursprungsdatum, reproduziert Tillich ebenfalls einen Grundsatz aus der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, nämlich dass immer mit dem Absoluten begonnen werden müsse – selbstverständlich ist das Absolute von 1913 nicht mehr identisch konzipiert wie jetzt der Begriff des Seins-Selbst, was allein schon die aufgezeigte Verschiebung in der Bedeutung des Absolutheitsbegriffs im Rahmen der Sinntheorie erhellen dürfte. 13 Die Beantwortung der Frage, „ob die Entitäten, zu denen man den kognitiven Zugang durch Abstraktion gewinnt, unabhängig von Menschen und ihren kognitiven Leistungen existieren (sog. Platonismus) oder ob sowohl ihre Existenz wie ihre Eigenschaften Resultate von konstruktiven kognitiven Leistungen des Menschen sind (sog. Konstruktivismus bzw. Intuitionismus […])“ (Enskat, Art. Ontologie, 566), ist für Tillich deshalb nicht einfach in die eine oder andere Richtung durchführbar. Einerseits ist analog der Sinnthematik Sein selbst nicht abgesehen vom Seienden. Sein als abstrakte Entität, also im Sinne einer platonischen Idee, wird im Tillich’schen Sinne somit abzulehnen sein. Andererseits kann aufgrund der Vorgängigkeit des Seins vor jedweder konkreten Ausprägung im Seienden vom Sein selbst auch nicht als von einem Produkt des Menschen, geschweige denn von einer Hervorbringung aus dem kognitiven Vermögen des Menschen, die Rede sein. Weder Deduktion noch Induktion erlauben es, das Tillich’sche Relationsverständnis von Sein und Seiendem in Gänze auszuleuchten. Wie schon für die Sinntheorie gilt es im Rahmen des Denkens Tillichs die Notwendigkeit in Anschlag zu bringen, von Hypostasierungen jeglicher Art abzusehen und gleichzeitig die thetische Verfasstheit von Vorgängigkeit beliebiger Art zu negieren. 11

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men sein wird, erhellt ein Blick auf die Aufgabe und den eigentlichen Gegenstand, die Tillich der Ontologie zuspricht. Hat Ontologie wesenhaft das zum Thema, was in transzendentalem Sinne allem Erkennen und Erfahren zugrunde liegt, so ist es als Aufgabe der Ontologie zu bezeichnen, die Transzendentalursache selbst näher zu bestimmen. Genau hier setzt Tillich auch an, wenn er aussagt: „Ist es nicht möglich zu denken, dass es Gegenstände gibt, in denen die Reflexion sekundär ist, die jeder Reflexion vorausgehen? Wenn es so etwas gäbe, dann würde es dasjenige sein, was wir als Intuition bezeichnen müssen, und nun glaube ich allerdings, dass es so etwas gibt, dass es eine unmittelbare erfahrungsmäßige Wahrnehmung gibt von Formen, die in jeder Wahrnehmung vorhanden sind, und das wäre die Aufgabe der Ontologie.“ (EW XVI, 6; Hervorhebung S.D.) Lässt man den wohl der Vorlesungsform geschuldeten leicht inkonzinnen Satzbau beiseite, so setzt Tillich eine vorreflexive14 Dimension an, die dann auch nicht vermittels der Erfahrung, sondern direkt, d.h. unmittelbar, via Intuition erfahren werden kann. Just das, was hier mit dem Begriff der vorreflexiven Dimension bezeichnet wurde, einer näheren Untersuchung zuzuführen, wäre dann nach Tillich genuine Aufgabe der Ontologie. Dabei kann es sich jedoch nicht um ‚Gegenstände‘, wie Tillich im obigen Zitat anführt, im eigentlichen Sinne des Wortes handeln, weil der Gegenstand an sich schon das Subjekt-Objekt-Schema der Reflexion voraussetzt, um seinerseits überhaupt zum Gegenstand werden zu können.15 Gleichfalls muss der Begriff der Formen, die es nach Tillich im Zitat erfahrungsmäßig wahrzunehmen gilt, dahingehend problematisiert werden, dass darunter keinesfalls ein Verständnis von Form im Gegensatz zum Material verstanden werden darf. Ansonsten erschöpfte sich Tillichs transzendentale Größe, also das Thema der Ontologie, in rein abstrakter Formalität, was ob seines sonstigen Bemühens um Konkretisierung und in Anbetracht der weiteren Konzeption von Ontologie schlechterdings ausgeschlossen ist. Jedoch ist der Formbegriff insofern zutreffend, als er apriorisch ist, d.h. nicht der Empirie unterliegt, sondern die Bedingung der Möglichkeit empirischer Erkenntnis überhaupt darstellt. Insoweit – und nur insoweit – kann von der unvordenklichen Dimension, die Tillich der Ontologie als Aufgabe zuweist, als Wahrnehmung von Formen gesprochen werden, die dann allerdings auf dem Wege der Intuition nur erfahrungsmäßig wahrgenommen sich nicht in Erkenntnis, mithin in die Sphäre der Reflexion, überführen ————— 14

Vorreflexivität muss hier wie auch sonst bei Tillich verstanden werden in transzendentaler Bedeutung, also als das, was der Reflexion bzw. Reflexivität überhaupt vorausgeht. Ein Rückfall hinter – bzw. ‚vor‘ – die Reflexion darf in keinem Fall assoziiert werden. 15 „Immer [sc. bei allem, womit Ontologie zu tun hat] ist es nicht ein Gegenstand, den die Erfahrung erfährt“ (EW XVI, 9).

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lassen.16 Bringt der Begriff der Wahrnehmung hingegen die Intuition im Gegensatz zur Erkenntnis der Reflexion in Anschlag, so bleibt der Erfahrungsbegriff von großer Bedeutung für die weitere Explikation der Tillich’schen Ontologie. Dies muss vorerst allerdings noch zurücktreten hinter die Bestimmung des Ontologieverständnisses von Paul Tillich und wird erst weiter unten zu thematisieren sein. Was ist – so gilt es im Anschluss zu fragen – das eigentliche Feld der Ontologie, wenn diese, wie eben dargestellt, als Transzendentaltheorie konzipiert ist? Oder anders gefragt: Wie kann Ontologie überhaupt betrieben werden, wenn sich ihr Gegenstand notwendig der Gegenständlichkeit entzieht, da er Grund jeglicher Gegenständlichkeit ist? Tillich führt hierzu an, Ontologie17 beschäftige „sich mit allem, aber nicht mit allem als solchem, sondern mit allem als Manifestation dessen, was in allem erscheint, nämlich mit der grundlegenden Struktur der Wirklichkeit, mit der Struktur von Sein selbst. […] Darum kann man auch sagen, Ontologie bemüht sich um Dinge18, die nicht weniger Gegenstand der Erfahrung sind als andere, sondern mehr, es sind nämlich diejenigen Elemente, die Erfahrung möglich machen.“ (EW XVI, 9; Hervorhebungen S.D.) Damit ist nun aber ein Doppeltes festgestellt: Erstens hat es Ontologie nicht mit dem Seienden als solchem zu tun. Ontologie ist weder gleichzusetzen mit Existentialismus noch mit Intuitionismus oder Konstruktivismus. Allerdings ist das originäre Feld der Ontologie im wahrsten Sinne des Wortes ‚alles‘, jedoch eben nicht als solches, sondern nur, insofern es – und das ist es durch sein Sein unvermeidlich – die Struktur von Sein zum Ausdruck bringt. Zweitens ist es, wie schon gesehen, die Aufgabe der Ontologie, das Sein selbst einer Bestimmung zuzuführen, nur kann dies eben nicht über eine Wesensbestimmung oder Wesensschau erfolgen – dies würde eine Einreihung des Seins selbst unter das Seiende als Objekt zur Konsequenz zeitigen –, sondern hat sich an ————— 16

Tillich verfiele andernfalls dem Satze Kants, dass Gedanken ohne Inhalt leer, Anschauungen ohne Begriffe blind seien (vgl. Immanuel Kant, KrV A 51, B 75). Der Formbegriff Tillichs aus dem Zitat muss daher tatsächlich kantisch verstanden werden, und zwar als apriorischer Begriff der reinen Form, sofern er das ausdrücken soll, was Tillichs Anliegen ist. 17 Tillich spricht an dieser, im Folgenden zitierten Stelle zwar von Metaphysik, allerdings ist die generelle Austauschbarkeit der Begriffe von Ontologie und Metaphysik von Tillich selbst bereits festgehalten worden, so dass das von der Metaphysik Ausgesagte eo ipso auch für die Ontologie gilt. Des Weiteren spricht Tillich im folgenden Text nicht mehr von Metaphysik, sondern nur noch von Ontologie, obwohl die Thematik dieselbe bleibt. Dies unterstreicht die Auswechselbarkeit der Begriffe (vgl. EW XVI, 9). 18 Für den Begriff des Dings gilt dasselbe, was schon oben für den Gegenstandsbegriff ausgeführt wurde. Der nachfolgende Elementbegriff ist hingegen deutlich klarer gewählt und wehrt dem Missverstehen besser.

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der Struktur aller Wirklichkeit zu orientieren.19 Wenn Tillich von der ‚Struktur der Wirklichkeit‘ und der ‚Struktur von Sein selbst‘ spricht, so ist der Strukturbegriff zwar ein identischer, unterscheidet sich jedoch im Gebrauch darin, dass diese Struktur der Wirklichkeit anwest, das Sein selbst aber der Träger der Struktur ist. Im ersten Fall handelt es sich also um einen Genitivus objectivus, im zweiten um einen Genitivus subjectivus. Die Struktur des Seienden, die die aus dem Sein stammende Struktur ist, markiert mithin das Moment, in dem sich Sein und Seiendes treffen, ohne dass deshalb vom Seienden aufgrund der Struktur auf das Sein selbst zurückgeschlossen werden könnte. Eine theologia naturalis und damit verbunden eine analogia entis im klassischen Verständnis des Begriffs strebt Tillich nicht an. Dies geht schon daraus hervor, dass die Struktur des Seins – ob nun des Seienden oder des Seins selbst – nicht Gegenstand der Erkenntnis ist oder werden kann, sondern präsent wird ausschließlich in der Erfahrung. Indem die Seinsstruktur aber gleichzeitig Ermöglichungsgrund von Erfahrung überhaupt ist, handelt es sich bei der Ontologie Tillichs einerseits – wie bereits festgestellt – um eine Transzendentaltheorie und andererseits um eine Strukturtheorie. Da nun aber die Struktur das, was die Transzendentalität schlechterdings meint, vorstellig macht,20 lässt sich auch in Bezug auf Tillichs Ontologie von einer transzendentalen Strukturtheorie sprechen. Oder in Tillichs Definition von Ontologie umgesetzt: „Ich könnte es in einem etwas paradoxen Ausdruck so nennen, dass Ontologie begründet ist auf der Erfahrung, mit der die Erfahrung sich selbst erfährt. Immer ist es nicht ein Gegenstand, den die Erfahrung erfährt, sondern die Erfahrung erfährt sich selbst, und das macht Ontologie möglich. […] Ontologie kann definiert werden als die Erfahrung der Erfahrung selbst.“ (EW XVI, 9) Die Selbsterfahrung der Erfahrung meint nun aber nichts anderes, als dass das, was Erfahrung strukturell ausmacht, von der Erfahrung in Form der Erfahrung erfahren wird. Damit ist aber wiederum genau das ausgesagt, was eine transzendentale Strukturtheorie in Anschlag bringt. Die transzendentale Strukturtheorie Tillichs näher zu explizieren ist Aufgabe des folgenden Kapitels. Vorab muss jedoch ergänzend noch Tillichs Verhältnisbestimmung von Ontologie und Erkenntnistheorie festgehalten werden, weil diese einerseits seine Theorie weiter einer Klärung zuführt und sie zum anderen von eminenter Bedeutung für die Betrachtung der Ontologie im Vergleich mit den früheren Stadien von Tillichs Systemprinzip ist. Aufschlussreich ist Tillichs Verhältnisbestimmung von Philosophie ————— 19

Dies scheint Joachim Ringleben, Denker, 115–118, trotz seiner berechtigten Problematisierung des Begriffs vom Sein-Selbst bei Tillich zu übersehen. 20 Damit ersetzt der Strukturbegriff de facto den unklaren Formbegriff.

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und Wissenschaft, die er strictissime an seinen früheren Erörterungen zum Thema, besonders dem ‚System der Wissenschaften‘ von 1923, aber auch der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, ausrichtet. Demnach ist das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft derart zu bestimmen, dass ein Begründungsgefälle von der Philosophie zur Wissenschaft hin statthat, indem Philosophie allererst definiert, was Wissenschaft ist. So formuliert Tillich auch in seiner Ontologievorlesung von 1951: „[M]an muss sich ganz klar darüber sein, dass der Fundamentalbegriff ‚Philosophie‘ und nicht ‚Wissenschaft‘ ist. Was Wissenschaft ist, entscheidet die Philosophie und nicht umgekehrt.“ (EW XVI, 7) Damit hat Philosophie neben den beiden von Georg Neugebauer eröffneten Funktionen einer formalen Ontologie und einer Existentialphilosophie noch eine dritte Funktion inne, nämlich die der Wissenschaftstheorie. Zwar kommt ihr die dritte Funktion allererst dadurch zu, dass sie eben im Rahmen der formalen Ontologie die Frage nach dem stellt, was aller Erkenntnis vorausgeht, aber just diese Haltung zur Reflexion macht das proprium der Philosophie aus, die nur von ihr und nicht von den Einzelwissenschaften selbst geleistet werden kann.21 Diese sind in ihrem telos ausgerichtet auf Gegenständlichkeit jeglicher Art, stellen jedoch nicht die Frage nach dem Sein selbst.22 Für die Ontologie ist damit aber automatisch ausgesagt, dass sie tatsächlich ‚erste Philosophie‘ ist in der Art, dass ihr erkenntnistheoretische Ambitionen philosophischer Couleur notwendig nachgeordnet sind, weil jedwedes epistemologisches Verfahren sich selbst stets auf die Kategorien der Reflexion beschränkt, diese jedoch nur durch einen unstatthaften Überstieg verlassen könnte. Damit kommt Ontologie an erster, Erkenntnistheorie erst an zweiter Stelle zu ————— 21

„Wie könnte Wissenschaft das selbst tun [sc. sich als Wissenschaft zu bestimmen], da sie ja gerade nicht über sich, sondern über ihre Gegenstände nachdenkt und über unendlich mannigfaltige Gegenstände.“ (EW XVI, 7) 22 Damit verortet sich Tillich eindeutig in seinem Philosophie- und Wissenschaftsverständnis der zwanziger Jahre. Auch der Kontext dieser Definition von Philosophie als Wissenschaftstheorie, die in gewissermaßen einem Metastatus alle Wissenschaften und ihr eigenes Unternehmen, sofern es sich wissenschaftlich gestaltet, betrachtet und in der jeweiligen Relativität erkennt, ist ein Phänomen des beginnenden 20. Jahrhunderts und lässt sich paradigmatisch auch im Philosophiebegriff Diltheys von 1907 identifizieren; vgl. etwa Wilhelm Dilthey, Das Wesen der Philosophie (1907), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Stuttgart/ Göttingen 51968, 339–416, hier: 359: „Wenn die Erfahrungswissenschaften die einzelnen Teile oder Seiten der Wirklichkeit erforschen, so bleibt der Philosophie die Aufgabe, die innere Beziehung der Einzelwissenschaften aufeinander zu erkennen, nach welcher sie zusammen das Ganze der Wirklichkeit zur Erkenntnis bringen. Sie ist dann E n z y k l o p ä d i e d e r W i s s e n s c h a f t e n in einem höheren philosophischen Verstande.“ – Selbstverständlich sind Tillich und Dilthey ansonsten – in Sonderheit ihr Geschichtsverständnis betreffend – zu unterscheiden.

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stehen.23 In dieser Deutlichkeit war die Abgrenzung von Erkenntnistheorie und dem, was Tillich nun im Rahmen der Ontologie thematisiert, bisher in Tillichs Systembildung nicht gezogen worden. Der Begriff der Intuition hat dies zwar bereits 1913 vorstellig gemacht – benannt war die Thematik bisher allerdings nicht. Damit ist zwar nun der Intuitionsbegriff des späten Tillich nicht unterschieden von dem des frühen, allerdings hat die Möglichkeit einer präziseren Erfassung dahingehend statt, dass Intuition und Reflexion bzw. Erkenntnis, also episteme im Allgemeinen, zwar wie bisher in einem hierarchischen Spannungs- und Konstitutionsverhältnis stehen, im Rahmen ontologischen Prozedierens jedoch nur der Intuitionsbegriff in Anschlag zu bringen ist. Erst sekundär lässt sich auch der Reflexionsbegriff einbringen, nämlich dann, wenn die als Erfahrung der Erfahrung definierte Ontologie sich selbst zum Gegenstand wird – dann allerdings muss beachtet werden, dass das eigentliche Anliegen der Ontologie sich im Modus des Überschrittenwerdens befindet, weil eine reflexive Erfassung ihrer selbst schlechterdings ausgeschlossen ist. Wie schon der frühe Paradoxbegriff darf auch die Ontologie nicht der Reflexionsdialektik derart ausgesetzt werden, dass ihre intuitive Erfahrung reflexiv zerrissen wird. Die transzendentale Strukturtheorie Tillichs, als die die Ontologie identifiziert wurde, ist damit aber eindeutig in eigentlicher und erster Ausprägung ein intuitives Verfahren und nicht – wie es der Begriff vermuten lassen könnte – ein epistemologisches.24 Handelt es sich nun bei Theologie samt ihrem ontologischen Beginnen somit nur um eine Erfahrungswissenschaft im eigentlichen Sinne? Solch eine Definition von Theologie und Ontologie würde die Tillich’sche Intention gewiss verfehlen. Zwar wird Ontologie von Tillich deutlich hingeord————— 23

Tillich expliziert dies im Zusammenhang der Verhältnisbestimmung des ersten Teils seiner ‚Systematische[n] Theologie‘, der mit ‚Vernunft und Offenbarung‘ überschrieben ist, zum zweiten Teil, der den Titel ‚Sein und Gott‘ trägt, in der Einleitung zum zweiten Teil des Systems: „Das Problem Vernunft und Offenbarung ist, obwohl es zuerst behandelt wurde, dem Problem Sein und Gott nachgeordnet. Wie alles Andere hat die Vernunft Sein, partizipiert am Sein und ist logisch dem Sein untergeordnet. […] Wenn wir von der Korrelation von Vernunft und Offenbarung zu der von Sein und Gott fortschreiten, bewegen wir uns zu einer fundamentaleren Betrachtung. Wir gehen von der erkenntnistheoretischen zur ontologischen Frage über.“ (ST I, 193) 24 „In dem, was wir Ontologie nennen, was wir definiert haben als die Erfahrung, die sich selber erfährt, haben wir einen Begriff von Intuition, der einfach bedeutet: Hinzeigen auf das, was immer vor sich geht, wenn wir eine Erfahrung machen, und dies zum Gegenstand einer logischen Analyse machen. Diese Elemente sind immer da, da sie in jedem Moment gegenwärtig sind, und es ist nach meiner Meinung das Hauptverdienst der Phänomenologischen Schule seit Husserl, dass sie im Anschluss an Plato, Aristoteles, Augustin, Thomas, Kant wieder aufmerksam gemacht hat auf die Phänomene des unmittelbaren Gewahrwerdens jener Strukturen, die jenseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt liegen, die in jedem Moment vorausgesetzt sind, wo wir eine Erfahrung machen.“ (EW XVI, 10)

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net auf den Erfahrungsbegriff, jedoch kann damit nicht die Assoziation verbunden sein, wie sie im Rahmen einer Erfahrungstheologie vorstellig zu werden hat und die Tillich bereits früher dezidiert abgelehnt hat.25 Entscheidender Begriff ist vielmehr der der Intuition. Erfahrung an sich ist selbst nicht anders denkbar als unter den Bedingungen reflexiver Verfasstheit sich vollziehend, ja menschlicher Erfahrung haftet notwendig das Signum der Reflexion an, weil von letzterer im Rahmen jedweder Existenzvollzüge nicht abstrahiert werden kann. Wenn Tillich im Zusammenhang der Ontologie daher von Erfahrung spricht und Ontologie sogar als die Erfahrung der Erfahrung definiert, so muss dabei ein Erfahrungsbegriff in Anschlag gebracht werden, der nicht einfach identisch gesetzt werden kann mit einer empirischen Form von Welterleben.26 Wie auch schon Tillichs Rede von der Erfahrung bzw. dem Erlebnis des Unbedingten in sinntheoretischem Kontext nicht in eins gesetzt werden konnte mit einem landläufigen Begriff von Erfahrung, so scheint auch für die Ontologie der Intuitionsbegriff der treffendere zu sein, weil er – anders als Erfahrung – nicht den Fokus auf eine Rezeptivität bzw. ein Begegnen im Rahmen der Subjekt-Objekt-Struktur setzt.27 Vielmehr wird mit Intuition abgehoben auf ein primär mit dem Moment des Passiven zu versehendes Gewahrwerden des transzendentalen Grundes von Subjekt und Objekt, von Reflexion wie Erfahrung. Ontologische Erfahrung meint für Tillich damit schlicht den Reflexion und Erfahrung transzendierenden Zustand des Aufgehens der Möglichkeitsbedingung von beidem. Die Definition der Ontologie als Erfahrung der Erfahrung operiert damit latent mit einem doppelten Erfahrungsbegriff – oder muss als das verfehlend, was sie erreichen will, schlechterdings abgelehnt werden. Was Tillich vor einer Missinterpretation bewahren kann, ist der mit der ontologischen Erfahrung untrennbar verbundene Strukturbegriff. Wären die Strukturen des Seins analytisch und synthetisch erfahrbar – und das wären sie notwendig, wenn sie überhaupt ‚erfahrbar‘ im eigentlichen Wortsinne wären –, so wäre dies gleichbedeutend mit der Aussage, dass die Strukturen des Seins systematisch erfassbar wären. Dies käme aber einem epistemologischen Verfahren gleich und würde letztlich Tillichs Ontologie in eine ————— 25

Vgl. Kap. 2.2.2, wo Tillichs Weg aufgezeigt wird, die Erfahrungstheologie als im Rahmen der praktischen Gewissheit ad absurdum zu führen. 26 Erfahrung im Tillich’schen Sinne ist damit genauso wenig schlichtes Rezipieren des Begegnenden, wie Schleiermachers Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit mit einem rein emotionalen Verständnis des Begriffs gleichgesetzt werden darf. 27 Letztlich sind Erkenntnis und Erfahrung zwar geschieden, basieren jedoch beide auf dem, was Tillich früher als Reflexionsstandpunkt bezeichnet hat. Erfahrung kommt demnach nicht über das hinaus, was sich innerhalb der Grenzen der Reflexion befindet, sondern stellt nur eine andere Funktion im selben Bereich dar.

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Erkenntnistheorie überführen. Dadurch aber würde Theologie fundiert werden auf dem Boden eines spekulativen Systems, wäre schlichtweg natürliche Theologie. Genau dagegen verwehrt sich Tillich aber, wenn er den Begriff der Metaphysik nicht verwenden möchte. Der Strukturbegriff ist dabei insofern hilfreich, als er einerseits eine Wesensanalyse des Seins unterbindet und andererseits doch Sein an sich nicht in kategorialer Jenseitigkeit des Seienden positioniert. Das intuitive Innewerden der Strukturen des Seins meint deshalb ein Gewahrwerden des fundierenden Grundes dieser Strukturen, das aber nur im Zustand der Intuition als statthaft zu bestimmen ist,28 weil jedwede Überführung in reflexive Vollzüge sofort ein Umschlagen in metaphysische Setzung zur Folge zeitigt. Damit ist jedoch eo ipso nicht behauptet, dass das Gewahrwerden des transzendentalen Grundes schon Offenbarungscharakter an sich besäße. In der Formulierung des späten Tillich ist damit allenfalls die Frage nach der Offenbarung gestellt, mithin nach dem, was den Grund von Reflexion und Erfahrung tatsächlich in die Sphäre der Existenz überführt.29 Für die Verhältnisbestimmung von Ontologie und Erkenntnistheorie bleibt damit vorläufig festzuhalten, dass Tillich seine gewohnte Scheidung von Intuition und Reflexion, wie sie schon im System von 1913 im Ansetzen eines absoluten und eines relativen bzw. reflexiven Standpunkts enthalten war, in den Begriffen von Ontologie und Reflexion reproduziert – allerdings unterscheiden sich absoluter Standpunkt und ontologisches Vorgehen darin, dass der absolute Standpunkt das Absolute wesensmäßig erfassen zu können glaubt, die Ontologie hingegen bestenfalls aufgrund eines struktu————— 28

Hierzu lässt sich auch der Ekstasebegriff Tillichs veranschlagen, mit dem sich der Zustand der Intuition charakterisieren lässt. Es geht eben um ein Gewahrwerden dessen, was nur im Rahmen von Intuition dem Menschen zugänglich ist, unter den Bedingungen von Reflexion (vgl. dazu etwa ST I, 135–142). Besonders erhellend ist dabei die Definition von Ekstase als „Bewußtseinszustand, in dem die Vernunft jenseits ihrer selbst ist, d. h. jenseits ihrer Subjekt-Objekt-Struktur.“ (ST I, 135) Ekstatisch Erfahrenes lässt sich jedoch nicht einfach einholen in reflexive Vollzüge (vgl. ST I, 137); dabei wird allerdings nicht im gleichen Zuge die Vernunft negiert (vgl. ST I, 140). Damit fungiert der Ekstasebegriff in sehr großer Nähe zu dem der Intuition, die jedoch noch einen größeren semantischen Bereich abdecken dürfte. 29 Allerdings – und das gilt es hier kritisch festzuhalten – neigt Tillichs Konzeption der Ontologie allein durch ihre Verwandtschaft zur klassischen Metaphysik nolens volens dazu, entweder tatsächlich einer natürlichen Theologie zu verfallen, indem die Frage nach dem transzendentalen Grund so stark gemacht wird, dass sie letztlich auch uno eodemque actu die Antwort darstellt. Oder Tillichs Ontologie ist letztlich irrelevant dergestalt, dass es im Endeffekt doch die Offenbarung selbst ist, die Aufschluss zu geben vermag über den fundierenden Grund des Selbst. Dann jedoch stellt sich die Frage, wozu es überhaupt einer ontologischen Annäherung an den Sachverhalt bedarf. Beide von Tillich zu umgehen versuchte Depravationen lassen sich weitestgehend vermeiden, sofern am Intuitions- und am Strukturbegriff festgehalten wird – jedoch bewegt sich die Tillich’sche Argumentation scharf an der Grenze der aufgeführten Missinterpretationen.

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rell-intuitiven Zugangs zur Seinsfrage prozediert.30 Die genauen konzeptionellen Zusammenhänge, also das Verhältnis der ontologischen Ansatzbestimmung der Theologie zu ihren Vorläufern, gilt es später noch genauer zu betrachten.31 Wie sich die Ontologie Tillichs in ihrer Bestimmung als transzendentale Strukturtheorie systemexplikativ verhält, ist Gegenstand des sich anschließenden Kapitels.

3.2.2 Ontologie als transzendentale Strukturtheorie 3.2.2.1 Die ontologische Grundstruktur Wie das Ontologieverständnis als eine transzendentale Strukturtheorie bei Tillich angelegt ist bzw. wie es im Tillich’schen Sinne verstanden werden muss, soll ein aporetischer Zug vermieden werden, wurde bereits im Vorhergehenden aufzuzeigen versucht. Was es nun zu erörtern gilt, ist die Explikation von Tillichs ontologischem Ansatz ins System. Dabei ist besonderes Augenmerk darauf zu legen, inwiefern der Strukturbegriff in Tillichs Ontologie verstanden und umgesetzt wird. Erst dann kann im Anschluss übergegangen werden zur theologischen Fragestellung nach dem SeinSelbst. Für die Explikation der Ontologie bei Tillich wird neben den entsprechenden Passagen aus der ‚Systematische[n] Theologie‘ v.a. Tillichs bereits erwähnte Ontologie-Vorlesung aus dem Jahre 1951 herangezogen, die jüngst in erster Edition erschienen ist und gegenüber der reinen Schriftfassung in Tillichs opus magnum den Vorteil der breiteren Erörterung des ontologischen Sachverhalts bietet. Dass Ontologie im Tillich’schen Verständnis als formales Vorgehen zu bezeichnen ist, ergibt sich schon daraus, dass Tillich keinen Wesensbegriff des Seins an sich anzugeben vermag: „Man kann Sein nicht definieren“ (EW XVI, 14). Bereits beim Versuch der Erfassung dessen, was Sein wesenhaft ausmacht, hat die Ontologie also eine dem Sein anwesende Inexplikabilität zu konstatieren. Diese lässt sich aus der absoluten Begrifflosigkeit nur herausholen, indem Sein ausschließlich thematisierbar ist unter Hinzunahme des Nichtseins.32 Erst diese Konstellation, die bereits das andeutet, was Sein strukturell ausmacht, nämlich das Geprägtsein durch Polaritäten, unter deren Absehung keine Strukturtheorie errichtet werden kann, lässt die „ontologische Frage“ (ST I, 193) aufbrechen. Die Frage mithin, wie Sein zu ————— 30

Vgl. die Anmerkung zu Georg Neugebauers Analogiebefund zwischen Tillichs frühester und letzter Systematik auf S. 366f Anm. 53. 31 Vgl. Kap. 3.3 und den Epilog. 32 „Nur darum, weil wir dem Nichts begegnen können, können wir dem Sein begegnen.“ (EW XVI, 15)

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bestimmen ist, obwohl es der Bestimmung nicht zuführbar ist, ist nach Tillich das originäre Phänomen des Seins bzw. – so wird in Vorwegnahme späterer Erörterung hinzuzufügen sein – des endlichen Seins: Just in der Fragehaltung selbst drückt sich die Gleichzeitigkeit von „Dazugehören“ und „Getrenntsein“ aus, die die „fundamentale Charakteristik desjenigen Wesens, das die Seinsfrage zu stellen imstande ist“ (EW XVI, 16), darstellt. Indem der Mensch nach dem Sein fragt, zeigt sich die Doppelheit von Dazugehören und Getrenntsein, die auf das verweist, als was der Mensch als endliche Freiheit im – wie Tillich ausdrücklich betont (vgl. EW XVI, 16) – metaphorischen Sinne ist: „eine Mischung von Sein und Nichtsein“ (EW XVI, 16). Diese erklärungsbedürftige Formulierung versucht auf ontologischem Gebiet das deutlich zu machen, was Tillich bereits damit aussagen konnte, dass der Mensch die Frage nach sich selbst ist. Genau genommen rekonstruiert Tillich mit diesem Ansatz seine metalogische Methode in Verbindung mit dem Identitätsprinzip des Selbst, indem er die dadurch statthabende vermittelte Unmittelbarkeit aus einem das Sein des Menschen als ganzes betreffenden, aber primär im Modus des Geistigen explizierten Gebiet auf die Seinsebene überträgt und damit in seiner holistischen Bedeutung affirmiert. In dieser, den ganzen Menschen in seinem Sein betreffenden Fragehaltung ist nun aber bereits die Grundstruktur, die mit dem Fragen elementar verbunden ist, benannt, nämlich die Subjekt-Objekt-Struktur.33 Diese Struktur sieht Tillich wiederum allererst konstituiert durch die SelbstWelt-Scheidung, die die schlechthinnige Grundlage jedweder selbstbewussten Entität darstellt.34 Letztlich ist es also das Bewusstsein von sich selbst, das erst in untrennbarem Zusammenhang mit dem zu haben ist, was nicht das Selbst ist, mithin durch Weltbewusstsein,35 welches die Fragehaltung allererst ermöglicht: „Diese Grundstruktur [sc. von Selbst- und Weltbewusstsein] scheint mir ontologisch der einzig mögliche Beginn zu sein. Der Weg, auf dem man dazu kommt, ist die Frage nach dem Fragen selbst. Was ————— 33

„Die ontologische Frage setzt ein fragendes Subjekt und ein Objekt, nach dem die Frage gestellt wird, voraus, sie setzt die Subjekt-Objekt-Struktur des Seienden voraus“ (ST I, 195). 34 Für Lebensformen, die nicht zu einer vollständigen Ausbildung des Selbstbewusstseins vorzudringen vermögen, bringt Tillich anstelle des Weltbegriffs den Begriff der Umgebung in Anschlag. Durch das Wegfallen des Selbstbewusstseins ist auch der des Weltbewusstseins nicht mehr aufrecht zu erhalten, so dass eben im Falle von z.B. Pflanzen und Tieren nur von einem Selbst und dessen Umgebung gesprochen werden kann, an die sie unmittelbar gebunden sind (vgl. EW XVI, 34). Dem gegenüber hat der Mensch aufgrund seines Selbstbewusstseins ein seine direkte Umgebung transzendierendes Vermögen und wird somit nach Tillich zum Ich-Selbst, das einerseits Welt als polaren Gegenbegriff hat und gleichzeitig in ihm enthalten ist: „Da der Mensch ein Ich-Selbst hat, transzendiert er jede mögliche Umgebung. Der Mensch hat Welt. Wie Umgebung ist Welt ein Korrelationsbegriff. Der Mensch hat Welt, wenn er auch zugleich in ihr ist.“ (ST I, 201) 35 „Selbstbewusstsein ist möglich nur auf der Grundlage von Weltbewusstsein, ohne Weltbewusstsein würde Selbstbewusstsein keinen Inhalt haben.“ (EW XVI, 34)

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ist nötig, damit eine Frage möglich ist? Und die Antwort ist dann: die Selbst-Welt-Korrelation. Sie ist die Voraussetzung allen Fragens. Sie ist im Hintergrund und in den Fundamenten allen Fragens, und es ist die erste Aufgabe des philosophischen Denkens, diese Struktur herauszuarbeiten.“ (EW XVI, 34f) Damit kann Tillich das Selbst auch als „Urphänomen, das logisch allen Fragen nach der Existenz vorausgeht“ (ST I, 200), bezeichnen. Die daraus sich ergebende Selbst-Welt-Struktur stellt für Tillich nun die Grundstruktur des Seins dar und ist als solche vernünftig verfasst, ja letztlich sind „Struktur und Vernunft […] ein und dasselbe.“ (EW XVI, 36) Zu fragen ist somit, welchen Vernunftbegriff Tillich hat, wenn er das, womit es die Ontologie zu tun hat, nämlich die Struktur des Seins, die gleichzeitig die Struktur alles Seienden ist und sich in der Selbst-Welt-Korrelation äußert, als vernünftig bestimmt. Dafür führt Tillich den „ontologischen Begriff der Vernunft“ (EW XVI, 37) ein,36 der im Gegensatz zu seinem logischen Äquivalent37 Vernunft nicht in rein mechanischem, d.h. zweckgebundenem, Sinne meint,38 sondern Vernunft als weiter gefasstes Geistesphänomen versteht. Demnach „ist Vernunft die Struktur des Geistes, die es ihm ermöglicht, die Wirklichkeit zu ergreifen und umzuformen. Sie ist wirksam in den theoretischen und praktischen Funktionen des menschlichen Geistes. Selbst das emotionale Leben ist nicht in sich selbst irrational.“ (ST I, 88; vgl. auch EW XVI, 37) Klassisch gesprochen: Mit der ontologischen Vernunft holt Tillich das ein, was der Logos-Begriff vorstellig macht.39 Sind Vernunft und die Selbst-Welt-Struktur, mithin die Struktur des Seins, identisch gesetzt, so bleibt zu klären, wie sich diese Identitätsrelation innerhalb der Selbst-Welt-Struktur repliziert und expliziert. Tillich setzt hierfür den Begriff von Vernunft „in ihrer subjektiven und ihrer objektiven Seite“ (EW XVI, 41) an, wobei mit dieser Scheidung letztlich nichts anderes ausgedrückt werden soll als das Verhältnis von Erkennendem und zu ————— 36

In Tillichs ‚Systematische[r] Theologie‘ erscheint der Begriff der ontologischen Vernunft erstaunlicherweise nicht in diesem Zusammenhang. Allerdings wurde er in identischer Form bereits im ersten Teil des Systems entwickelt; vgl. ST I, 88–91. 37 Als solches ist die logische Vernunft bei Tillich jedoch immer auch im ontologischen Begriff der Vernunft mitgedacht. Fehlentwicklungen treten nur dann auf, wenn die logische Fassung des Vernunftbegriffs an das weiter gefasste eigentliche Vernunftverständnis tritt: „Aber der ontologische Begriff von Vernunft ist nicht vom technischen Begriff der Vernunft zu trennen, weil er ihn mitumfaßt.“ (ST I, 89) 38 So gilt es allerdings für den logischen Begriff der Vernunft: „Sie [sc. die logische Vernunft] bleibt innerhalb der Mittel-Zweck-Korrelation, kann aber niemals aus ihr herausbrechen“ (EW XVI, 39). 39 „Ontologische Vernunft ist Logos, ganz gleich, ob Vernunft mehr intuitiv oder mehr kritisch verstanden wird. Für diese Vernunft ist das Erkennen eine Sache neben der anderen, daneben ist Ästhetik, das Politische, das Gemeinschaftliche, die Liebe und sofort, all das gehört zur sinnvollen Struktur des Bewusstseins und in diesem Sinne zur Vernunft.“ (EW XVI, 38)

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Erkennendem im Erkenntnisakt bzw. allgemeiner gesprochen: von Selbst und Welt in ihrer Korrelation. Dass der Erkenntnisvorgang bei Tillich nicht ein schlechthin logischer, sondern ein im ontologischen Sinne vernünftiger zu sein hat, dürfte evident sein. Gleichfalls dürfte sich bereits abzeichnen, wohin Tillichs Argumentation strebt: Vernunft – auch und gerade als ontologische – ist fundiert in der Strukturiertheit von Selbst und Welt, bedarf allerdings zur Anwendung ihrer selbst der dieser Struktur untergeordneten Subjekt-Objekt-Konstellation,40 die nun nicht etwa eine Überführung ontologischer in logische Vernunft darstellt; vielmehr wiederholt die SubjektObjekt-Struktur für das Erkennen das, was die Selbst-Welt-Struktur fundamentaler für das Sein an sich in Anschlag brachte. Vermittels der Vernunft hat mithin ein Schritt von der unmittelbaren Grundstruktur des Seins hin zur erkenntnistheoretischen Seite dieser Struktur statt. Dieser Übergang gestaltet sich jedoch insofern komplizierter, als Vernunft nach Tillich ja bereits die Selbst-Welt-Struktur ausmacht. Wie ist sie daher in der Lage, den Übergang von der Seins- zur Erkenntnisebene zu initiieren?41 An dieser Stelle vermag Tillichs Argumentation keinen echten Aufschluss zu geben. Zwar formuliert Tillich: „Die Vernunft macht das Selbst zum Selbst, nämlich zu einer selbstbezogenen Gestalt; und die Vernunft macht die Welt zur Welt, nämlich zu einem strukturierten Ganzen.“ (ST I, 203) Jedoch erhellt daraus keineswegs – wie auch nicht aus Tillichs Ausführungen in seiner Ontologievorlesung – das Umschlagen von der Selbst-Welt- in die Subjekt-ObjektStruktur. Dafür muss im Sinne Tillichs implizit zweierlei veranschlagt werden: Erstens muss das mit dem Selbst- und Weltbewusstsein stets und fortwährend gegebene Bewusstsein um das Getrenntsein vom Grund dessen, was die Selbst-Welt-Struktur fundiert, angesetzt werden. Dies setzt wiederum, zweitens, die Scheidung von Sein an sich und endlichem Sein voraus, welche jedoch für Tillich allererst nach der – noch anzuführenden – Explikation seiner ontologischen Elemente aufgrund der menschlichen Freiheit entwickelt werden kann. Nur so lässt sich der Übergang zum Subjekt-Objekt-Schema erklären, der gewissermaßen die intuitive Verfahrensweise der Selbst-Welt-Korrelation in eine reflexive überführt, die notwendig mit der Existenz anhebt.42 Ist nun aber bereits die ontologische Vernunft ————— 40

Denn, so führt Tillich aus, es ist „innerhalb dieser Selbst-Welt-Korrelation ein Element die Subjekt-Objekt-Korrelation“ (EW XVI, 36). 41 Wobei es sich – wie schon festgestellt – streng genommen aus ontologischer Perspektive nicht um eine Vertiefung der Betrachtungsweise handelt, sondern umgekehrt ein Fortschreiten von der fundamentaleren Fragestellung zur abgeleiteten. 42 So sehr sich Tillich also gegen eine Erklärung des Subjekts vom Objekt her oder vice versa verwehrt (vgl. EW XVI, 41f) – letztlich ist es doch eine – allerdings erst sekundär einzubringende und nicht mehr im Rahmen der Ontologie klärbare – Einheit, sei sie nun idealistisch, monistisch

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per se bestimmt als die Instanz der Wirklichkeitsrezeption und -formung, so stellt sie den einzig möglichen Weg dar, um überhaupt erkennen zu können. Damit ist Erkenntnistheorie immer im Rahmen von Ontologie angesetzt, weil auch sie in der Grundstruktur von Selbst und Welt wurzelt, und gleichzeitig bedarf sie ob des Subjektseins des Selbst als Ich-Selbst und subjektive Vernunft und des Weltseins der Welt als objektive Vernunft unter Existenzbedingungen notwendig der Subjekt-Objekt-Struktur. Daraus leitet sich wiederum ein doppelter Schluss ab: Einerseits handelt es sich, wie oben hergeleitet, bei der (formalen) Ontologie um eine transzendentale Strukturtheorie, die als solche von Tillich als vernünftig bestimmt wurde. Ihre Transzendentalität erweist sich nun allerdings eben darin, dass ihre Begriffe vor jeglicher Erkenntnis zum Stehen kommen, mit anderen Worten: dass sie apriorischen Status innehaben. Und sie sind nicht nur a priori in Bezug auf Erfahrung, sondern, wie es schon in der Definition der Ontologie als Selbsterfahrung der Erfahrung anklang, Erfahrung selbst ist allererst konstituiert durch die apriorischen Begriffe der Ontologie, mithin die Selbst-Welt-Struktur.43 Tillich betont in diesem Zusammenhang, dass Apriorizität in ontologischer Anwendung nicht die metaphysische Festschreibung der Selbst-Welt-Struktur für Erfahrung und Erkenntnis meint; Sinn des apriorischen Status ontologischer Begriffe ist im Gegenteil die vorläufige, jedoch als solche zu explizierende Seinsstruktur, welche vor und in jeder Erfahrung und Erkenntnis enthalten ist.44 Andererseits ist die vernünftige Struktur von Selbst und Welt, die als solche nicht hinterfragt werden kann, da sie schiere Faktizität ist, in Form der Polarität verfasst, was bedeutet, dass beide Pole innerhalb des polaren Verhältnisses des jeweils anderen zur eigenen Konstitution und Explikation bedürfen. Da es sich bei ————— oder dialektisch verfasst, und das Getrenntsein von ihr, wovon aus der Übergang von der Seinszur Erkenntnisebene anhebt. Tillich selbst bestätigt dies, indem er auf der notwendigen Scheidung von Sein und Nichtsein insistiert, die gerade das Aufbrechen der ontologischen Frage evozieren (vgl. besonders EW XVI, 88–97, und ST I, 218–238). Darauf wird später jedoch noch genauer einzugehen sein; angemerkt sei allerdings schon, dass das Nichtsein in Tillichs System selbstverständlich nicht im Sinne eines Dualismus zwischen Sein und Nichtsein anzusetzen ist, sondern Sein den Fundamentalbegriff schlechthin darstellt. 43 „Ontologische Begriffe sind im strengen Sinne des Wortes a priori. Sie bestimmen das Wesen der Erfahrung. Sie sind gegenwärtig, wann immer etwas erfahren wird.“ (ST I, 196) 44 „[S]ie [sc. die ontologischen Begriffe] sind das Ergebnis einer kritischen Analyse der Erfahrung. Ebenso heißt a priori nicht, daß die ontologischen Begriffe eine statische und unveränderliche Struktur der Erfahrung konstituieren, die einmal entdeckt, für immer gültig ist. Die Struktur der Erfahrung kann sich in der Vergangenheit geändert haben und kann sich in der Zukunft ändern, aber wenn auch eine solche Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, so ist das kein Grund, dies als ein Argument gegen den a priori-Charakter der ontologischen Begriffe zu verwenden.“ (ST I, 197)

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einer Polarität niemals um eine Identität handeln kann,45 ist mit dem Gegebensein der Selbst-Welt-Struktur uno eodemque actu auch das Moment des Getrenntseins von Selbst und Welt mitgesetzt, das vermittels der vom Pol der Selbstheit ausgehenden subjektiven Vernunft die Selbstheit als Subjekt und Welt als Objekt bestimmt, ja bestimmen muss. So und nur so lässt sich der Übergang von der Seins- zur Erkenntnisebene einer Erklärung zuführen, was Tillich jedoch nicht in dieser ausgesprochenen Deutlichkeit unternimmt.46 Für den Begriff der Ontologie als transzendentale Strukturtheorie bedeutet dies nun, dass sie in ihrer Genesis zwar ein Phänomen der Erfahrung ist – wobei auch hier wiederum darauf hinzuweisen ist, dass der Erfahrungsbegriff in diesem Zusammenhang problematisiert werden muss;47 dadurch, dass es sich jedoch um eine transzendentale Strukturtheorie handelt, stehen Erfahrung und Erkenntnis in gleichem Verhältnis zu der sie beide allererst ermöglichenden und jeden Vollzug von Erfahrung und Erkenntnis begleitenden Struktur des Seins, weil es immer Seiendes ist, das erfährt und erkennt und dem somit notwendig die Struktur des Seins vorangeht. Ist die transzendentale Strukturtheorie des ontologischen Verfahrens mithin genuin der Erfahrung zuzurechnen, so muss für ihre anhebende Anwendung stets das epistemologische Moment hinzugezogen werden – jedoch immer in Zusammenhang mit einem Vernunftbegriff, der mit dem ontologischen ————— 45

„Die Subjekt-Objekt-Beziehung ist nicht die der Identität“ (ST I, 205). Die Frage nach der Frage (vgl. EW XVI, 20, und ST I, 195), die Tillich als Erklärungsgrund für die Subjekt-Objekt-Struktur anführt, zeigt nicht den Übergang von Selbst und Welt zu Subjekt und Objekt, sondern den umgekehrten Weg auf, führt also tiefer zurück in die ontologische Grundstruktur. Tillich kann zwar auch für den umgekehrten Weg die erkenntnistheoretische Ebene als durch die Fragehaltung initiierte Konsequenz aus der Grundstruktur von Selbst und Welt entfalten. Allerdings ist dies insofern als problematisch einzustufen, als dann die Fragehaltung gleichursprünglich wie die Struktur von Selbst und Welt sein müsste, nach Tillichs Darstellung die ontologische Grundstruktur jedoch allererst die Bedingung der Möglichkeit für den Übergang zur Subjekt-Objekt-Struktur – zu der unvermeidlich die Fragehaltung gehört – darstellt. Tillichs Argumentation dürfte demnach etwas unscharf an der schlichten Faktizität des Fragens festhalten und müsste diese als mit der Selbst-Welt-Struktur bei voll entwickeltem Bewusstsein um Selbst und Welt gegeben einführen. Genau dieses Vorgehen wurde oben in seinen Schritten nachzuzeichnen versucht, weil Tillich die exakte Veranschaulichung des Vorgangs vermissen lässt. Hinzuzunehmen ist auch die oben schon explizierte Gleichsetzung von Selbst-Welt-Struktur und Vernunft, die in letzter Konsequenz für das Auftreten der Fragehaltung und somit für die Subjekt-ObjektStruktur verantwortlich zu zeichnen hat: „Aber wo Vernunft ist, ist Selbst und Welt in gegenseitiger Abhängigkeit, ist Subjekt und Objekt.“ (ST I, 203) Die Vernunftgemäßheit der Selbst-WeltStruktur ist mithin schon die notwendige Voraussetzung für das Aufbrechen der Subjekt-ObjektStruktur, ja diese Struktur ist unvermeidliche Konsequenz, sofern die Gleichsetzung von Vernunft und der Struktur von Selbst und Welt statthat. Damit ist auch begründet, dass – wie im Folgenden gezeigt wird – der Erfahrungsbegriff realiter nicht ist unter Absehung von epistemologischen Fragestellungen. 47 Siehe S. 377-379. 46

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Vernunftbegriff zu identifizieren ist. Die von Tillich vorgestellte transzendentale Strukturtheorie ist somit näherhin betrachtet das Begründungsmodell für Erfahrung und Erkenntnis gleichermaßen, ja, so gilt es zu ergänzen, für Sein, wie es in jeder Entität begegnet, überhaupt. Darauf wird im Zusammenhang der vergleichenden Erörterung von Tillichs Stadien der Theoriebildung nochmals vertieft zurückzukommen sein.48 Was das Verhältnis von Erfahrung und Erkenntnis betrifft, so ließe sich pointiert formuliert davon sprechen, dass die Erkenntnis sich bei Tillich gegenüber der Erfahrung dergestalt bescheidet, dass Erkenntnis ihren Geneseort in einer erst und nur der Erfahrung zugänglichen Strukturiertheit findet. Allerdings ist das sich selbst vorfindende Selbst, das sich seiner bewusst ist, immer schon so verfasst, dass von seinem epistemologischen Vermögen bzw. – genauer gesprochen – seinem steten Ausgehen von der Basis der Subjekt-ObjektStruktur in keinem Moment abgesehen werden kann. Was somit in erkenntnistheoretischer Reflexion in einen in Fallrichtung ablaufenden Zweischritt von Erfahrung und Erkenntnis zerfällt, muss im Moment der zeitlichen Bestimmung dieses Vorgangs zurückgenommen werden, um unbeschadet des Hierarchieverhältnisses eine Gleichursprünglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis auszusagen. Mit anderen Worten: Die Selbst-Welt-Struktur ist zwar die ontologische Grundstruktur, aus der sich die Subjekt-ObjektStruktur ableitet, im faktischen Selbstvollzug des Subjekts sind beide Strukturen als Momente jedoch gleichursprünglich, weil Selbstbewusstsein und Subjektivität unter Existenzbedingungen zwar zu scheiden, aber schlechterdings nicht zu trennen sind.49

————— 48

Vgl. Kap. 3.3 und den Epilog. Tillich verdeutlicht dies auch im Begriff der ‚ontologischen Objektivierung‘, die er zwar von einer rein ‚logischen‘ Form unterscheidet (vgl. EW XVI, 43–46, und ST I, 202–205); indem allerdings auch in jedem logischen Akt das Moment des Ontologischen mitschwingt, ja mitschwingen muss, ist Objektivierung notwendig ein Akt des Hineinziehens in die Subjekt-ObjektStruktur: „Die Gefahr der logischen Objektivierung ist, daß sie niemals rein logisch ist. Sie führt ontologische Voraussetzungen und Implikationen mit sich. Wenn Gott in die Subjekt-ObjektStruktur des Seins gebracht wird, hört er auf, der Grund des Seins zu sein, und wird ein Seiendes unter anderen“ (ST I, 203). Ontologie macht damit namhaft, dass eine Trennung von Seins- und Erkenntnisebene im Rahmen der Wirklichkeit nicht möglich ist. Nur so lässt sich auch Tillichs Erklärung verstehen, die Selbst-Welt-Struktur bewahre die Subjekt-Objekt-Struktur davor, eines ihrer polaren Momente, also entweder das Subjekt oder das Objekt, zu verabsolutieren (vgl. ST I, 205). Dies wird verständlich daraus, dass Ontologie immer unter Existenzbedingungen arbeitet und ihre immer mitgedachte transzendentale Grundstruktur von Selbst und Welt eine rein reflexive Fixierung ausschließt. Damit ist Tillich wiederum sehr nahe an seiner Konzeption der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘.

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3.2.2.2 Die ontologischen Elemente Neben und doch abgeleitet aus der ontologischen Grundstruktur von Selbst und Welt führt Tillich drei ontologische Polaritäten an, die er als die „ontologischen Elemente“ (ST I, 206)50 bezeichnet: „Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form, Freiheit und Schicksal.“51 (ST I, 195, und auch EW XVI, 48) Diese drei Polaritäten „konstituieren die ontologische Grundstruktur“ (ST I, 195). Jedoch muss das Moment des Konstitutiven in den drei Polaritäten so verstanden werden, dass nicht etwa diese allererst die Subjekt-Objekt-Struktur hervorzubringen vermögen, sondern umgekehrt hat die „Grundstruktur Selbst – Welt […] polare Elemente in sich“ (EW XVI, 48), wie Tillich in seiner Ontologievorlesung treffender formuliert. Die drei Polaritäten der Grundstruktur verdeutlichen und explizieren mithin im Erfahrungs- und Erkenntnisakt das, was die Grundstruktur beinhaltet. Dadurch wird nicht etwa der Blick auf das Seiende als solches gerichtet, sondern die Struktur des Seins, wie sie aller Erfahrung und Erkenntnis zugrunde liegt, ist präsent in Form der drei angeführten Polaritäten.52 Dabei macht der jeweils erste Pol die Grundstruktur von Seiten des Selbst ansichtig, wohingegen der zweite Pol den Blick auf die Selbst-Welt-Struktur auf Basis der alles einschließenden Weltperspektive eröffnet.53 Wie vom Sein nicht zu reden ist abgesehen von der Grundstruktur des Seins, die Tillich im irreduziblen Verhältnis von Selbst und Welt ansetzt, so stehen die ontologischen Elemente für die die Grundstruktur fortwährend begleitenden Momente in jedem Seinsvollzug, so dass auch von ihnen Transzendentalität und dadurch auch Apriorizität ausgesagt werden kann – wie auch die Grundstruktur kommen sie jedwedem Erfahren und Erkennen zuvor, indem sie es allererst als solches konstituieren. Kurz gesagt: Die ontologischen Elemente sind die aus der Grundstruktur abgeleiteten Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung überhaupt.54 Was daher die Reihenfolge der ————— 50

In der Ontologievorlesung von 1951 bezeichnet Tillich diese Polaritäten als die „polaren Elemente“ (EW XVI, 48), kann von ihnen aber auch als „ontologische Struktur“ (EW XVI, 78) sprechen. 51 Die drei Polaritäten werden im Folgenden unter den Punkten (1), (2) und (3) ausführlich behandelt. 52 „Das ist das, was Ontologie bedeutet, nicht dass wir von etwas Seiendem reden, sondern dass wir von einer Seinsstruktur reden, die immer und überall notwendig real ist.“ (EW XVI, 48). 53 „In diesen drei Polaritäten drückt das erste Element die Selbstbezogenheit des Seienden aus, seine Macht, etwas für sich zu sein, während das zweite Element die gegenseitige Abhängigkeit des Seienden, seinen Charakter, Teil eines Universums des Seienden zu sein, ausdrückt.“ (ST I, 195) 54 Damit bestimmen die Grundstruktur und ihre ontologischen Elemente gleichfalls das Spektrum dessen mit, was überhaupt wahrgenommen werden kann. Außer bezogen auf die Polarität von Selbst und Welt ist für das erfahrende und erkennende Subjekt Wirklichkeitswahrnehmung schlechterdings ausgeschlossen.

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ontologischen Elemente anbetrifft, lässt sich keine dezidierte Hierarchie ausmachen, da alle gleichsam ursprünglich und konstitutiv für das real vorfindliche Sein sind; auch die Anzahl an Polaritäten ist nicht auf die angeführte Trias beschränkt, sondern potentiell erweiterbar. Tillich spricht zwar von der theoretischen Möglichkeit, die ontologischen Elemente im Hegel’schen Sinne zu deduzieren, allerdings hält er für unmöglich, ein „geschlossenes System der Ontologie“ (EW XVI, 84) aufstellen zu können.55 Dies liefe auch seiner Transzendentaltheorie zuwider, die gerade nicht den Anspruch auf Festschreibung ihrer – nach Tillich phänomenologisch gewonnenen – Elemente erhebt (vgl. ST I, 196–198). (1) Die erste Polarität der ontologischen Elemente, die Tillich anführt, ist die von Individualisation und Partizipation. Den Begriff der Individualisation führt Tillich zurück auf seinen lateinischen Ursprung und erblickt damit als Bedeutungskern die Unteilbarkeit des Individuums (vgl. EW XVI, 50; ST I, 206). Individualisation im Sinne von Unteilbarkeit geht notwendig einher mit dem Begriff der Selbstzentriertheit, der betont, dass das Selbst als solches rückführbar ist auf ein Zentrum des Selbst, das in sich nicht mehr teilbar ist, ohne das Selbst zu vernichten.56 Das, was Individualisation vorstellig macht, ist mithin nichts anderes als die völlig ausgeprägte Selbstheit des Selbst, wie sie auch im frühen Identitätsprinzip Tillichs bereits expliziert wurde. Der Polaritätsbegriff der Partizipation bringt die Wechselwirkung des Selbst mit seiner Umgebung bzw. im Falle des ausgebildeten Selbstbewusstseins mit der Welt zur Anschauung.57 Damit ist das namhaft gemacht, was notwendig ist, um dem Selbst die Möglichkeit der Selbstzentrierung im Unterschied zur Partizipation an der Welt überhaupt zu eröffnen. Tritt zu beiden Polen der Relation das Bewusstsein um Selbst und Welt in vollständiger Ausprägung hinzu, so ist in Bezug auf das Individualisationsmoment vom Personsein des Selbst und in Bezug auf den Partizipationsaspekt von der Gemeinschaft selbstbewusster Entitäten untereinander zu sprechen.58 Individualisation und Partizipation sind damit die der Grundstruktur von Selbst und Welt insofern am nächsten stehenden ontologischen Elemente – unbeschadet der eigentlichen Gleichrangigkeit aller Polaritäten –, als sie das, was Selbst und Welt in

————— 55

Dieser Status der ontologischen Elemente lässt sich ziemlich genau aus Tillichs Antwort auf die Frage nach der Anzahl der Polaritäten sowie deren potentielle Hierarchisierung gewinnen; vgl. EW XVI, 83f. 56 „Was selbstzentriert ist, kann zerschlagen werden, aber nicht geteilt werden. […] Es ist unmöglich, das, was ein Zentrum in sich selbst hat, zu teilen, und darum kann man sagen, Selbstheit ist notwendig Individualisation, und Selbstheit ist möglich nur, weil das Element der Individualisation vorliegt. Die beiden sind wechselseitig voneinander abhängig.“ (EW XVI, 50; vgl. auch ST I, 206) 57 „Das individuelle Selbst partizipiert an seiner Umgebung oder im Fall der völligen Individualisation an seiner Welt.“ (ST I, 207) 58 „Erreicht die Individualisation die vollkommene Form, die wir ‚Person‘ nennen, so erreicht die Partizipation die vollkommene Form, die wir ‚Gemeinschaft‘ nennen. […] Gemeinschaft ist Partizipation an einem anderen vollständig selbstzentrierten und vollständig individualisierten Selbst.“ (ST I, 208; vgl. EW XVI, 53f)

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abstrakter Begrifflichkeit in Anschauung bringen, im realen Vollzug des Selbst in seiner Welt bzw. Umgebung ausführen. (2) Anders als die Polarität von Individualisation und Partizipation löst sich die zweite, diejenige von Dynamik und Form, stärker von der Grundstruktur von Selbst und Welt. Dies hat dergestalt vorstellig zu werden, dass Dynamik und Form den phylogenetischen und in Sonderheit ontogenetischen Zusammenhang des, wie Tillich es nennt, „Über-sich-Hinausgehens“ und des „In-sich-Beharrens“ (EW XVI, 68) all dessen, was ist, mithin die Polarität von Werden und Wesen ausdrücken.59 Dabei fasst Tillich den Pol der Form genau so, wie es auch schon in den zwanziger Jahren kulturtheologisch der Fall war, nämlich als Begriff, der nicht etwa zu scheiden ist vom Inhalt, sondern mit diesem im Gegenteil wesensmäßig zusammenfällt.60 Form und Inhalt sind ein und dasselbe, nämlich das Wesen jedweder Entität an sich: „Die Form, die ein Ding zu dem macht, was es ist, ist gerade der Inhalt dieses Dinges, ist seine Essenz, sein Wesen, ist das, was ihm die Macht des Seins gibt“ (EW XVI, 58).61 Als solches ist die Form in jedem Sein derart konstitutiv für das Sein des Seienden, dass Tillich – unbeschadet der Polarität – den Pol der Form als Definition für Seiendes, also bestimmtes Sein, zu verwenden vermag: „Etwas sein heißt, eine Form haben.“62 (EW XVI, 58) Im Gegensatz dazu ist der Begriff der Dynamik eben dadurch schwerer zu fassen, weil er gerade das ist, was nicht Form ist, sondern nur die Form der Form anzunehmen vermag, im reinen Zustand der Dynamik aber noch schlechterdings ungeformt ist. Tillich spricht deshalb in Bezug auf Dynamik von dem in der Form Geformten.63 Dieses an sich Formlose, aber in der Form Geformte leitet Tillich her vom antiken Begriff des me on, also des Nichtseins, das allerdings nicht als ein Nichts im absoluten Sinne, sondern als Nichtsein im Gegensatz zum geformten Sein zu verstehen ist: „Dynamik kann daher nicht gedacht werden als etwas, das ist, noch kann es gedacht werden als etwas, das nicht ist. Es ist das me on, die Potentialität des Seins, die Nichtsein ist im Gegensatz zu Dingen, die Form haben, und Seinsmächtigkeit im Gegensatz zum reinen Nichtsein.“ (ST I, 211; zweite Hervorhebung S.D.) Als

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Vgl. dazu auch Tillichs Konzept von ‚Selbst-Integration‘, ‚Sich-Schaffen‘ und ‚SelbstTranszendierung‘ in ST III, 45–130. In diesem Rahmen bespricht die Polarität von Dynamik und Form Lasse Halme, The Polarity of Dynamics and Form: The Basic Tension in Paul Tillich’s Thinking (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 4), Münster/Hamburg/London 2003. 60 „Form und Inhalt können nicht getrennt werden, weil die Form einer Sache ihr Inhalt ist.“ (EW XVI, 58) 61 Identisch formuliert Tillich in der ‚Systematische[n] Theologie‘: „Die Form, die ein Ding zu dem macht, was es ist, ist sein Inhalt, seine essentia, seine bestimmte Seinsmächtigkeit.“ (ST I, 210) 62 Dieser deutlich pointierte Ausspruch findet sich in dieser Form nicht in Tillichs Schriftfassung seiner Systematik, sondern nur in der zitierten Passage der Ontologievorlesung. Selbstverständlich evoziert die Ineinssetzung von Seinhaben mit dem Begriff der Form die Frage, ob es der Dynamik zum Sein dadurch überhaupt noch notwendig bedarf bzw. wie der Dynamikbegriff mit dem der Form in Polarität treten kann. Darauf und warum Tillich überhaupt der Form den Primärplatz einräumt, gilt es im Folgenden noch einzugehen. 63 „Nun sprechen wir aber von dem, was in jeder Form gegenwärtig ist als das Geformte, was also selber zunächst keine Form hat.“ (EW XVI, 61)

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Noch-nicht-Form-Habendes ist Dynamik für Tillich die Potentialität des Seins, mithin das, was sein kann, ohne es bereits zu sein, was ja bedeuten würde, auch schon Form zu haben. Wiederum formuliert Tillich in seiner Ontologievorlesung präziser, wenn er bezüglich des me on nicht beim Begriff des Nichtseins stehenbleibt, sondern – Seinspotentialität mitdenkend – fortschreitet zum „Nochnichtsein“64 (EW XVI, 61). Der Begriff der Dynamik umfasst damit das, was zwar noch nicht als Sein zu bezeichnen ist, in sich jedoch die Möglichkeit birgt, ins Sein, d.h. die Formhaftigkeit, überführt werden zu können. Dynamik bzw. Nochnichtsein verhält sich somit derart polar zur Form, dass Letztgenannte das Seingewordensein des Nochnichtseins bzw. Dynamik das Geformte in der Form darstellt. Dynamik und Form sind daher echte Polaritätsbegriffe, weil Nochnichtsein, Potentialität des Seinwerdens, nur anheben kann von etwas, das ist, also Form hat; umgekehrt kann das, was noch nicht ist, reine Dynamik, nur zum Sein kommen, indem es Geformtes wird, d.h. indem es Form ist. Wie auch schon die Begriffe von Individualisation und Partizipation im Modus des Bewusstseins überführt wurden zu Person und Gemeinschaft, so nennt Tillich in Bezug auf den Menschen als der einzigen Entität, die zu vollem Bewusstsein von Selbst und Welt zu kommen vermag, die Dynamik Vitalität und die Form Intentionalität (vgl. EW XVI, 65; ST I, 212). Unter Vitalität möchte Tillich dabei im weitesten Sinne, „das schöpferische Drängen der lebendigen Substanz in allem, was lebt, zu neuen Formen“ (ST I, 212) verstanden wissen. Konstitutiv für die Anwendung des Vitalitätsbegriffs allein auf die menschliche Form des Seins ist jedoch die engere Bedeutung des Begriffs, die sich nur im Zusammenhang mit dem Pol der Intentionalität fassen und explizieren lässt. Wie auch schon bei der Bestimmung von Form und Dynamik ist der Intentionalitätsbegriff der einer Definition einfacher zuführbare: Für den Menschen „ist Form die rationale Struktur der subjektiven Vernunft, wenn sie in einem Lebensprozeß aktualisiert wird.“ (ST I, 212) In diesem Sinne ist Intentionalität eine „Gerichtetheit auf einen sinnvollen Gehalt“ (EW XVI, 65); Intentionalität ist mithin als strukturergreifender Prozess zu denken, der sich rational auf die Sinnebene richtet. Damit ist Intentionalität die Bedingung der Möglichkeit eines sinnvollen Umgangs mit Selbst und Welt, indem sie beides als strukturiertes Ganzes vorstellig macht.65 Demgegenüber ist Vitalität in der Lage über die Systembildung der Intentionalität hinauszugehen, indem sie von den intentional erkannten Strukturen transzendiert. Kraft Vitalität ist dem Menschen „keine a priori begrenzende Struktur“ (ST I, 212) vorgegeben, sondern er vermag über den Naturzusammenhang hinauszugehen, ja er transzendiert sogar die Statik der im Modus der Intention erfassten Sinnstruktur von Selbst und Welt. Polar ist dieses Verhältnis wiederum insofern, als abgesehen von einer Basis, auf der die Vitalität anzusetzen vermag, Vitalität schlechterdings

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„Dieses Nichtsein, das me on, ist das, was keine Form hat, was aber die Möglichkeit aller Form in sich trägt; es ist nicht das einfache Nichtsein, das Nichts, wie wir wohl sagen würden, sondern man kann es vielleicht so ausdrücken: Es ist das Nochnichtsein.“ (EW XVI, 61; Hervorhebungen S.D.) 65 So kann Tillich die Bedeutung von Intentionalität in der ‚Systematische[n] Theologie‘ auch folgendermaßen definieren: „Bezug haben zu Sinnstrukturen, in Universalien leben, Wirklichkeit ergreifen und umgestalten.“ (ST I, 212)

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nicht ist; umgekehrt sind Selbst und Welt als differenziertes Strukturganzes nicht ohne Vitalität intentional zu gewinnen. Beide Pole benötigen sich reziprok, um jeweils überhaupt sein zu können. In der oben aufgeworfenen Frage nach dem prius von Dynamik und Form oder – wie es hier genannt wurde – Werden und Wesen muss die Entscheidung somit weder für den einen noch für den anderen Pol ausfallen – anders könnte auch nicht von einer Polarität im eigentlichen Sinne gesprochen werden. Jedoch kann Tillich, wie auch schon in seiner ersten Systematik,66 unbeschadet der Polaritätsrelation eine Hierarchie der Pole veranschlagen, indem er dem Wesensbegriff den Vorzug vor dem Werdensbegriff gibt. Tillich begründet dieses Gefälle von Form hin zu Dynamik so, dass ohne Basis, von der ausgehend Werden stattfindet, Werden gar nicht sein kann. Mit anderen Worten: Werden setzt immer schon etwas voraus, das wird.67 „Denn das, was wird, muss zunächst einmal Sein haben im Gegensatz zum Nichtsein.“ (EW XVI, 68) Gleichzeitig muss jedoch gesagt werden, dass Sein niemals ohne Werden ist. Beide Begriffe sind also gleichursprünglich – nur, so könnte man nach Tillich sagen, dass überhaupt erst einmal etwas ist, ist die Voraussetzung für Sein und Werden, so dass dem, was Sein wesenhaft ausmacht, sein Geformtsein, prinzipielle Voraussetzung des potentiell in Form Überführbaren ist.68 Letztlich gilt es jedoch zu konstatieren: „Es gibt keine Vitalität als solche und keine Intentionalität als solche. Sie sind voneinander abhängig wie die anderen polaren Elemente.“ (ST I, 213)

(3) Die dritte Polarität an ontologischen Elementen ist nach Tillich die von Freiheit und Schicksal. Diese zeichnet sich nun in Sonderheit dadurch aus, dass sie zwar, wie die beiden anderen ontologischen Elemente auch, die Seinsstrukturen ansichtig macht, jedoch darüber hinaus den Übergangsbereich von einer Wesens- zu einer Existenzbetrachtung des Seins und des Menschen im Besonderen markiert. Ist die formale Ontologie Tillichs primär als Strukturtheorie expliziert worden und richtet sich als solche immer auf das Sein an sich, wie es in Form von Erfahrung und reflektierender Erkenntnis dem Menschen als der Bedingung der Möglichkeit von Sein ————— 66

Vgl. hierzu auch Tillichs Bezug auf Schelling, Kap. 1.1.2 und Dienstbeck, Hierarchische Reziprozität, passim. 67 Dies spiegelt sich auch in der Problematik wider, Dynamik überhaupt definieren zu können. Letztlich ist dies auch nur im Rekurs auf den Formbegriff möglich, wenn Dynamik das in der Form Geformte ist. 68 Implizit knüpft Tillich hier an seine Definition von Kirchen- und Kulturtheologie an (vgl. Kap. 2.4.1). Der Grad an Anknüpfung an eine konkrete Basis, mithin an die kulturelle Objektivation von Absolutheit variiert zwar in einem primär kirchen- bzw. kulturtheologisch geprägten Kontext; allerdings benötigt auch der sich stärker von relativen Grundlagen emanzipierende Kulturtheologe eine Basis, von der aus er ansetzt. Just in dieser Analogiestruktur lässt sich Tillichs Präferenz für den Form- bzw. Intentionalitätsbegriff erklären – tendiert doch sein sonstiges Systemverständnis eher zu einem prozessualen und somit dynamischen Ansatz. Entscheidend ist jedoch die Gleichzeitigkeit von formalem und dynamischem Moment im Vollzug jedweden Seins, so dass auch die Hervorhebung des Seinsaspekts gegenüber dem Werden nur als untergeordnete, der Reflexion geschuldete Konzession verstanden werden darf und muss.

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zugänglich ist, so stellt die Polarität von Freiheit und Schicksal die Möglichkeit der Aktualisierung des strukturell erfassten Wesens, mithin die Grenze zwischen Wesen und Existenz, dar.69 Von dieser Perspektive aus vermag Tillich sogar zu einer spezifischen Definition von Freiheit zu gelangen, die just dieses Moment des im Freiheitsbegriff angelegten Umschlagens von Wesen zu Existenz anführt: „Freiheit kann […] definiert werden als die Möglichkeit eines Wesens, aus seinem Wesen überzugehen in seine Existenz.“ (EW XVI, 72) Da nun aber Freiheit derart konstitutiv für das Menschsein des Menschen sowohl wesenhaft als auch unter Existenzbedingungen ist, reproduziert Tillich seine Definition des Menschen aus seiner Systematik von 1913 nun auch im Jahre 1951: „Der Mensch ist Mensch, weil er endliche Freiheit ist.“70 (EW XVI, 72) Entscheidend ist selbstverständlich der Zusatz der Endlichkeit zum Freiheitsbegriff des Menschen, der jedoch mit der Bestimmung der Freiheit nichts zu tun hat, sondern nur betreffs der Definition des Menschen als Mensch, mithin als endliche Freiheit zum Tragen kommt. Daher kann im Folgenden bei der Explikation des Verhältnisses von Freiheit und Schicksal von dem Endlichkeitsbegriff abgesehen werden.71 Auch für die Polarität von Freiheit und Schicksal ist es von eklatanter Bedeutung, niemals die Einzelpole in Abstraktheit einer Betrachtung zuzuführen, sondern immer die Polarität als solche im Blick zu behalten. Darob verwehrt sich Tillich auch gegen das üblichere Relatenpaar von Freiheit und Notwendigkeit, weil letztere eine „Kategorie und kein ontologisches Element“ (EW XVI, 72f) darstelle,72 die in Kombination mit dem Freiheitsbegriff in ein mechanistisch-deterministisches Verständnis umzuschlagen drohe. Die daraus resultierende Debatte zwischen Determinismus und Indeterminismus muss nach Tillich notwendig „ohne Resultat“ (EW XVI, 73; ————— 69

„In dem Augenblick, wo wir von der Freiheit reden, sind wir zwar auch noch im Wesen des Menschen, aber an der Grenze, am Wendepunkt, wo das Wesen des Menschen übergehen kann in die Existenz.“ (EW XVI, 72) Vermittels dieses Aspekts gelingt es auch Christan Danz, die Polarität von Freiheit und Schicksal geschichtsphilosophisch zu übersetzen und in seine Gesamtinterpretation von Tillichs Theologie einzuzeichnen; vgl. Danz, Jesus Christus, passim (insbes. 147–150). 70 So weit geht Tillich in den entsprechenden Ausführungen in seiner ‚Systematische[n] Theologie‘ allerdings nicht (vgl. besonders ST I, 214–218). Jedoch wird der Mensch, der dort nach Tillich Freiheit „hat“ (ST I, 214), identisch bestimmt – zu der zugespitzten Ineinssetzung von Mensch und endlicher Freiheit kommt es aber dort nicht in der oben angeführten Formulierung. 71 So prozediert auch Tillich; vgl. EW XVI, 72. 72 Als Kategorie des Seins steht nun aber auch die Notwendigkeit unterhalb der ontologischen Grundstruktur von Selbst und Welt, was hinwiederum nichts anderes besagt, als dass Notwendigkeit eine Kategorie ist, die unter dem Schicksalsbegriff, genau gesprochen: unter der Polarität von Freiheit und Schicksal zum Stehen kommen muss. Freiheit und Schicksal sind die bedingenden Möglichkeiten des Auftretens von Notwendigkeit innerhalb des Seins. Oder anders formuliert: Nur weil Freiheit und Schicksal das Sein strukturieren, ist Notwendigkeit überhaupt möglich.

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vgl. ST I, 215) bleiben, weil beide von falschen Voraussetzungen anheben, indem nämlich immer von der Willensfreiheit des Menschen ausgegangen wird. Unter Herausgreifen dieses Einzelaspekts wird der menschliche Wille als Ding behandelt, so dass aus deterministischer Sicht die völlige Bedingtheit des Willens als Ding nicht anders behauptbar ist und der Indeterminismus von einer nicht erklärbaren Kontingenz des freien Willens anzusetzen versucht. Damit ist aber die Sichtweise von vornherein zugunsten des Determinismus angesetzt, weil immer schon auf die Dinghaftigkeit des Dinges ‚Wille‘ Bezug genommen wird, so dass der Determinismus nur die „Tautologie“ ausdrücken muss, „daß ein Ding ein Ding“ (ST I, 215), also vollkommen bedingt, determiniert ist. Der Tillich’sche Freiheitsbegriff möchte nun aber gerade nicht nur nicht als Willensfreiheit verstanden sein, sondern rekurriert darüber hinaus als Pol innerhalb eines ontologischen Elements auf die Bedingung der Möglichkeit von Sein überhaupt, so dass Freiheit nicht anders ausgesagt werden kann als in Form eines holistischen, menschlich betrachtet, psycho-somatischen Phänomens.73 Freiheit ist somit zu bestimmen nicht als einen bestimmten Bereich menschlichen Seins umfassend, sondern das menschliche Sein als solches, d.h. in seiner Struktur, konstituierend. Als apriorischer Begriff verstanden macht Freiheit dann eben nicht ein Attribut des Menschen neben anderen aus, sondern versinnbildlicht – wie Individualisation, Partizipation, Dynamik und Form – eine unhintergehbare Struktur menschlichen Seins. Denn „Freiheit ist nicht Freiheit einer besonderen Funktion, nämlich des Willens, sondern die Freiheit des Menschen.“74 (EW XVI, 74) Freilich gilt es sofort hinzuzusetzen, dass diese Freiheit des Menschen, die begründet ist in seinem Menschsein, niemals ist unter Absehung vom Schicksalsbegriff, der den zweiten Teil der Polarität bildet. Diesen expliziert Tillich vom Freiheitsbegriff her dergestalt, dass er Freiheit als in der Trias von „Erwägung, Entscheidung und Verantwortung“ (ST I, 216; vgl. EW XVI, 76f) statthabend ansetzt und dies unter dem Vorzeichen von Schicksal sich vollziehend denkt. Das bedeutet, dass die Erwägung, die Entscheidung und auch die dabei übernommene Verantwortung des freien Menschen sich derart von Mensch zu Mensch unterscheiden, dass es die spezifische schicksalhafte Voraussetzung des jeweiligen Menschen ist, die zum Gebrauch und zur Art des Gebrauchs der Freiheit führt. Damit ist Schicksal „die unbestimmt breite Basis unseres ————— 73

Für die freie Entscheidungsfindung kann Tillich daher aussagen: „Es ist nicht ein erkenntnistheoretisches Selbst, das die Entscheidung trifft, sondern es ist das ganze Sein, das körperliche, das psychische und das geistige.“ (EW XVI, 78) 74 Denn es gilt: „Der Mensch ist dasjenige Sein, das eben kein Ding ist, sondern ein voll verantwortliches Selbst, eine rationale Person, die eine Welt und eine Gemeinschaft hat.“ (EW XVI, 74; sinngemäß identisch in: ST I, 216)

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selbstzentrierten Selbst, es ist die Konkretheit unseres Seins, die all unsere Entscheidungen zu unseren Entscheidungen macht.“ (ST I, 217) Schicksal ist dabei nicht zu verstehen als rein erkenntnistheoretischer Vollzug, sondern gleichsam wie beim Freiheitsbegriff auch als eine universale, weil das menschliche Sein strukturell betreffende, Verfasstheit.75 Daraus wird deutlich, wie Tillich die Polarität von Freiheit und Schicksal verstanden wissen möchte: Schicksal ist mitgestaltet durch die in Freiheit getroffenen Entscheidungen des Menschen und – vice versa – wird Freiheit nur vollzogen in schicksalhafter Bezogenheit, die jedoch nicht als deterministische Festgelegtheit zu begreifen ist. Letztlich ließe sich – ohne dass Tillich dies vornähme – analog der Bestimmung von Dynamik und Form wiederum der Schicksalsaspekt als das gewissermaßen Formhafte im Freiheitsvollzug als das logisch ursprünglichere identifizieren. Freiheit wäre demnach – in starker Nähe zum Dynamikbegriff – das, was noch nicht zum Schicksal geworden ist, dem aber die Potentialität anwest, es zu werden. War aber auch schon für das Polaritätenpaar von Dynamik und Form die prius-Frage als letztlich nicht beantwortbar eingestuft worden, weil die Polaritätsstruktur die reziproke Konstitution der Pole ansetzt, so gilt dies auch für die Polarität von Freiheit und Schicksal: „Mein Schicksal ist die Basis meiner Freiheit, meine Freiheit partizipiert an der Formung meines Schicksals.“ (ST I, 217) Sobald Freiheit die Form des Vollzugs im Sinne der Entscheidung annimmt, wird sie überführt in Schicksal, und sobald Schicksal ist, genetisiert sich daraus Freiheit von Neuem.76 Jedoch bleibt bestehen, dass entsprechend dem Verhältnis von Dynamik und Form auch Freiheit eine Basis braucht, von der sie anzuheben vermag. Schritt Tillich bei der Explikation der ontologischen Polaritäten bisher stets von einer allgemeinen Bestimmung zur spezifisch menschlichen Ausprägung fort,77 so setzen Freiheit und Schicksal bereits die vollständige ————— 75

Deshalb zählt Tillich paradigmatisch als Schicksalskomponenten auf: „Körperstruktur, psychische Strebungen, geistiger Charakter, außerdem die Gemeinschaften, zu denen ich gehöre, die nichterinnerte und die erinnerte Vergangenheit, die Umgebung, die mich geformt hat, die Welt, die mich geprägt hat.“ (ST I, 217) 76 „Wir sind frei aus unserem Schicksal heraus, aber wir können niemals frei sein jenseits unseres Schicksals. Unser Schicksal selber ist zum Teil eine Verwirklichung unserer Freiheit, der Akte der Freiheit, die vorausgehen. Aber diese Freiheit ist dann ebenso wieder begrenzt durch das Schicksal, sodass deutlich wird, […] dass Freiheit und Schicksal zueinander relativ und durcheinander bedingt sind. Sie sind echte Polaritäten.“ (EW XVI, 79f) Möchte man hingegen eine „Scheidung von Ich und Schicksal“ vornehmen, so wäre dies nach Tillichs Ausführungen in der Dresdner Dogmatikvorlesung von 1925–1927 „eine törichte Objektivierung.“ (EW XIV, 240) Diese Scheidung beruhe auf einer „Betrachtung, die auf die eine Seite die isolierte freie Persönlichkeit, auf die andere Seite das objektive Schicksal“ (ebd.) stelle. Tatsächlich gilt aber: „Schicksal ist Charakter; aber natürlich ist Charakter auch Schicksal.“ (Ebd.) 77 Gemeint sind die Polaritäten von Person und Gemeinschaft bzw. Vitalität und Intentionalität.

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Emanzipation von jedwedem Bestimmtsein durch den Faktor der Umgebung voraus, wodurch diese Polarität bereits die dem Menschen anwesende und für ihn allein typische darstellt. Deshalb ist für die, wie Tillich es nennt, „untermenschliche Natur“ (ST I, 217) bzw. „nichtmenschliche[.] Natur“ (EW XVI, 78) die Polarität von Spontaneität und Gesetz anzusetzen. Interessant ist, dass Tillich von dieser Übersetzung des Freiheits- und Schicksalsbegriffs für die außermenschliche Natur „nur in Analogie“78 (ST I, 217) sprechen möchte. Jedoch gilt zu fragen, inwiefern und inwieweit es sich dabei nur um eine reine Analogie handeln kann, ja handeln darf, sofern Freiheit und Schicksal als ontologisches Element, also als eine die Seinsstruktur an sich vorstellig machende Polarität, in Geltung bleiben sollen. Unter Gesetz versteht Tillich die Einwirkung der Umgebung, in der die außermenschliche Natur steht, unter Spontaneität die der Gesamtheit des Wesens entspringende Handlung (vgl. EW XVI, 78f; ST I, 217f). Tillich möchte daher den Freiheits- und Schicksalspol auch für außermenschliche Entitäten beibehalten, auch wenn diese nicht „frei im Sinne von Erwägung, Entscheidung und Verantwortung“ (ST I, 217) sind. Mit der Einführung eines nur analogen Aspekts läuft Tillich allerdings Gefahr, die universale Bedeutung seiner ontologischen Polaritäten ins Aporetische zu führen. Waren Individualisation und Partizipation sowie Dynamik und Form Signa jedweder Form von Sein, indem auch in anorganischen Strukturen das Verhältnis von Selbst und Umgebung in diesen Polaritäten statthat, so ist die Bestimmung von Freiheit und Schicksal als solche nicht mehr auf jedwede Seinsform in Anwendung zu bringen.79 Zu Recht spricht Tillich daher in seiner Vorlesung über Ontologie nicht von einer Analogie, sondern bezeichnet Spontaneität und Gesetz als Freiheit und Schicksal vorbereitende Momente.80 In dieser Fassung lassen sich die Begriffe von Freiheit und Schicksal zwar rechtfertigen, aber ihre Verwendung als ontologisches Polaritätenpaar erhellt nicht vollends. Zwar ist evident, dass ein Pol, Schicksal bzw. Gesetz, die formhafte Verfasstheit der Entität, der andere, Freiheit bzw. Spontaneität, das Hinausgehen über das Geformtsein im Sinne eines nicht aus dem Geformtsein ableitbaren Impulses verstanden sein möchte – allerdings ist der Gebrauch von Freiheit und Schicksal als Polaritätsbegriff ————— 78

Im Gegensatz zum bisherigen Befund argumentiert Tillich mit der Zuspitzung auf den Analogiebegriff diesmal nicht in der Ontologievorlesung, sondern in der ‚Systematische[n] Theologie‘. 79 Streng genommen ist bereits die Grundstruktur von Selbst und Welt als problematisch zu bestimmen, weil sie – in Sonderheit mit dem Weltbegriff – schon Bewusstseinsmomente assoziiert. Genau genommen setzt Tillich hier bereits zu ‚spät‘ an. 80 „Was im Menschen Freiheit ist, ist vorbereitet in der Natur als Spontaneität. Was im Menschen Schicksal ist, ist vorbereitet in der nichtmenschlichen Natur als Gesetz oder Struktur.“ (EW XVI, 78f)

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nur dann nicht höchst problematisch, wenn sie als das aufgefasst werden, was das gemeinsame Anliegen von Freiheit und Spontaneität resp. Schicksal und Gesetz ist. Anders formuliert: Es darf bei der Verwendung der Begriffe von Freiheit und Schicksal nicht in erster Linie auf die ausschließlich menschliche Verfasstheit abgehoben werden, sondern es muss der allgemeine Charakter der Begriffe zur Explikation der Seinsstruktur ergriffen werden. Dieses Verständnis ist – zumindest ansatzweise – auch von Tillich selbst autorisiert, wenn man seine Antwort auf eben eine in die Richtung der aufgeworfenen Problematik gehende Frage betrachtet (vgl. EW XVI, 85–87). Ziel des Polaritätspaares von Freiheit und Schicksal ist es demnach – wie auch schon beim Notwendigkeitsbegriff erörtert –, eine mechanistische Missinterpretation zu vermeiden, die eintritt, sobald Freiheit mit Bewusstsein, Schicksal mit Körperlichkeit verbunden wird. Soll dies vermieden werden, muss auch der nicht in voller Ausprägung des Bewusstseins ihrer selbst verfassten Entität Freiheit in dem Sinne zugesprochen werden, dass sie nicht als rein Bedingtes bloße Ableitung aus ihrer Umgebung ist. Im Gegenteil ist sie gerade durch ihr individuell geformtes Sein mit dem Charakteristikum des Selbst – wenn auch nicht des selbstbewussten Selbst – zu belegen, so dass auch das scheinbar rein Dingliche über sein absolutes Dingsein hinausragt. Just dies macht der Freiheitsbegriff vorstellig, wenn er von der Eigenmächtigkeit des Selbst gegenüber Umgebung bzw. Welt handelt. Werden Freiheit und Schicksal so gefasst und verstanden, dann können sie als ontologisches Elementenpaar verständlich Verwendung finden. Die ontologischen Elemente sind in ihrer Struktur, die sie vorgeben, dadurch allererst in Erscheinung getreten, dass – wie eingangs erwähnt81 – Sein immer nur auftritt in der Doppelform des Getrenntseins und des Dazugehörens. Polarität west dem Sein mithin an. War der Mensch nun im Rahmen der ontologischen Elemente als endliche Freiheit zu bestimmen, so gilt es nun noch den Endlichkeitsbegriff näher zu thematisieren, um die bereits explizierten Strukturen, die den ontologischen Elementen zugrunde liegen, einer eindeutigen Bestimmung zuzuführen. Die in der Freiheit potentiell offenstehende Möglichkeit, vom Wesen zur Existenz überzugehen, macht vorstellig, dass der Mensch als endlicher nicht nur nicht das sein muss, was er wesensmäßig ist, sondern dass er sogar „seinem Wesen widersprechen kann.“ (EW XVI, 88) Diese stark an die ‚Systematische Theologie von 1913‘ erinnernde und sie aufgreifende Formulierung zeigt an, dass die Gleichzeitigkeit von Dazugehören und Getrenntsein auf einem Nicht-

————— 81

Vgl. Kap. 3.2.2.1.

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Identischsein des Seins mit dem Sein selbst fußt.82 Dies heißt nun aber, dass Sein, wie es in jedweder Entität auftritt, niemals Sein im puren Sinne ist, sondern als näher zu bestimmender ‚Mischbegriff‘ aufzufassen ist. Tillich definiert demgemäß auch den Begriff der Endlichkeit, der das Sein jedweder tatsächlichen Entität ausmacht, als „Sein eingeschränkt durch Nichtsein“ oder „Sein, geeint mit Nichtsein“ (EW XVI, 96).83 Entscheidend ist nun aber, wie Tillich den Begriff des Nichtseins verwendet. Das Nichtsein lässt sich klassisch in die beiden Fassungen des ouk on und des me on einteilen. Letztgenannter Begriff bezeichnet das Nichtsein in seinem Gegenüber zum Sein, wohingegen das ouk on das absolute, beziehungslose Nichts meint. Tillich expliziert die Bestimmung des Nichtseins unter Hinzunahme schöpfungstheologischer Implikationen: Wird das me on vorstellig als eine zweite Ursache neben Gott, mithin als eine meontische Materie platonischer Provenienz, so ist es zu verwerfen, weil hier ein Dualismus eingezeichnet wird, der Sein und Nichtsein wechselseitig voneinander abhängig machen würde – diese Reziprozität ist nun zwar Signum der Endlichkeit, kann jedoch schlechterdings nicht für das veranschlagt werden, was der Endlichkeit vorausgeht. Deutlich wird dies im Begriff der creatio ex nihilo und insbesondere mit der Erweiterung: ex nihilo pure negativo, also mit der Schöpfung aus dem absoluten Nichts, dem ouk on (vgl. ST I, 220f; EW XVI, 91f). In diesem Sinne zeichnet es endliches Sein aus, „dass es aus dem Nichtsein kommt, dass es aus dem Nichtsein geschaffen ist, aus dem absoluten Nichtsein, dass es endlich ist.“ (EW XVI, 92) Gleichzeitig partizipiert das Seiende notwendig am Sein, um überhaupt sein zu können. Damit wird nochmals deutlich, was den Charakter des Getrenntseins, der allem Seienden anhaftet, ausmacht: Getrenntsein heißt, stets sowohl am Sein zu partizipieren und im Modus des Widerspruchs gegen das Sein, in Form der Trennung Anteil zu haben am Nichtsein.84 Wie ist nun aber der eigentliche Charakter des Nichtseins als tatsächliches Nichtsein und nicht nur dessen scheinbare Realität zu verstehen? Tillich rekurriert hierbei auf seinen bereits in der Explikation der ontologischen Elemente angewandte Definition von Nichtsein. Demnach ist ————— 82 Derselbe Gedankengang liegt dem Verhältnis von Denken und Wahrheit in der Systematik von 1913 zugrunde, in dem ja das Denken sich durch seinen Widerspruch der Wahrheit gegenüber auszeichnet. 83 Auf die bereits in Kap. 3.2.2.1 aufgezeigte Argumentation, dass der Mensch als vollständig selbstbewusstes Wesen einzig in der Lage ist, die ontologische Frage, also die Frage nach dem Sein, zu stellen, braucht hier nicht nochmals eigens eingegangen zu werden. 84 So führt Tillich gleichfalls aus, „dass der Mensch die Möglichkeit hat, vom Sein getrennt zu sein, und er hat sie, weil er teilnimmt nicht nur am Sein, sondern auch am Nichtsein.“ (EW XVI, 90)

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Nichtsein immer das Nochnichtsein bzw. – in hier erweiterter Form – das Nichtmehrsein: „Nichtsein erscheint als das ‚Noch nicht‘ des Seins oder als das ‚Nicht mehr‘ des Seins.“ (EW XVI, 96 und identisch: ST I, 222) Bestimmtes Sein zu sein bedeutet mithin, einer Begrenzung zu unterliegen – endlich zu sein. Endlichkeit ist – so könnte im Sinne Tillichs formuliert werden – Sein in Form der Bestimmung, der Konkretion: „Etwas sein heißt: etwas anderes nicht sein. Hier und jetzt im Prozeß des Werdens sein heißt: nicht dort und dann sein.“ (ST I, 222) Endlichkeit ist bestimmt durch das, was klassisch als Kategorien bezeichnet wird, in Sonderheit durch die raumzeitliche Verfasstheit. Nichtsein ist daher im Falle des Seienden tatsächlich nicht, weil ihm keine aktuelle Realität, mithin kein ‚Sein‘ innewohnt, sondern nur die Potentialität des Seins, also Nochnichtsein oder – negative gefasst – Nichtmehrsein. Damit ist Nichtsein aber ebenfalls bestimmt als das, was es ist, nämlich die Negation von Sein, wodurch Nichtsein nicht gleichursprünglich sein kann wie das Sein, auch wenn sich die Seinsfrage allererst unter der Hinzunahme des Nichtseins durch Einbruch des Nichtseins im Bewusstsein in der Möglichkeit, nicht zu sein, einstellt: „Sein geht dem Nichtsein ontologisch voraus, obgleich die Frage nach dem Sein möglich ist, nur weil Nichtsein erkenntnismäßig dem Sein vorangeht.“ (EW XVI, 96) Was erkenntnistheoretisch das Erste ist, wird unter ontologischer Perspektive mithin zum Zweiten. Ist nun aber Sein das ursprüngliche, so stellt sich eben die Frage nach dem Sein, nicht wie es in Form der Entitäten vorstellig wird, sondern wie es an sich ist. Genau hierauf läuft Tillichs Argumentation zu, wenn er auch einen Begriff wie Unendlichkeit nicht als Erklärung für die Endlichkeit des Endlichen ansetzen kann, weil auch Unendlichkeit nicht zur Begründung der „Existenz eines unendlichen Dinges“ (ST I, 223) führt, sondern allenfalls das Transzendierungsvermögen des Menschen, über die Endlichkeit hinauszugehen und somit seine Teilhabe an dem, was diese Transzendierung ermöglicht, vorstellig macht. Diese Frage ist nun aber nicht mehr aus den Strukturen des Seins einer Antwort zuführbar, sondern ist schlechterdings die Frage nach dem Sein-Selbst oder nach Gott.

3.2.3 Gott als das Sein-Selbst So sehr die Ontologie in ihrer Betrachtung der Seinsstruktur auch fortschreitet und letztlich sogar zur Ausbildung des Begriffs vom Sein-Selbst zu kommen vermag und kommen muss, der den Grund der Seinsstruktur darstellt, so wenig ist sie in der Lage, den Begriff vom Sein-Selbst jenseits theoretischer Analyse mit dem Vorzeichen einer Sinninstanz zu versehen, die erst wahrhaftige, weil konkrete, Antwort auf die Frage ist, die mit der

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Frage nach dem Sein-Selbst aufgeworfen ist. Diese Antwort kann in Konkretion nur die Theologie geben.85 Insofern bricht Tillichs Ontologievorlesung aus dem Jahre 1951 auch mit den Gottesbeweisen ab, die Tillich nicht als Beweise für die Existenz Gottes, sondern als die Möglichkeit, nach Gott zu fragen, anführt.86 Gotteslehre im eigentlichen Sinne des Wortes erschöpft sich nicht in theoretischer Betrachtung von Sein, sondern bedarf notwendig des konkreten bzw. existentiellen Zugangs, um das zu sein, was sie sein möchte: die Antwort auf die Frage des Menschen nach dem Sein. Wie sich diese Frage überhaupt stellt, soll im Folgenden (1) kurz angerissen werden, um dann (2 und 3) den Gottesbegriff bzw. den Begriff vom Sein-Selbst einer näheren Betrachtung zuzuführen. (1) Die Erfahrung der eigenen Endlichkeit ist für die selbstbewusste Entität der Ausgangspunkt, um kraft ihres Transzendierungsvermögens die Möglichkeit von Unendlichkeit auszubilden und damit die Frage nach dem zu stellen, was Endlichkeit nicht nur hervorbringt, sondern als Endliches auch vor dem Nichtsein zu bewahren vermag. Die durch den, wie Tillich es formuliert, ‚ontologischen Schock‘ einhergehende Angst vor dem Nichtsein, das dem Endlichen qua Endlichsein anwest, steigert sich in ihrer höchsten Ausprägung, wie sie sich nur im Menschen findet, zur „Angst der Sinnlosigkeit“ (ST I, 244). Damit ist die Endlichkeit derart zugespitzt, dass sie nicht nur an sich, also in ihrem ständigen Teilhaben am Nichtsein und der damit einhergehenden Angst vor der Bodenlosigkeit des Nichtseins, zur Frage nach dem tragenden Grund angesichts des Nichtseins fragt; vielmehr wird die Endlichkeit an diesem Zustand und der ihm entspringenden Frage derart irre, dass die Sinnhaftigkeit der Endlichkeit, als die sie sich erfährt, überhaupt in Sinnwidrigkeit, ja Sinnlosigkeit umzuschlagen droht. Dies treibt den am Rande der Verzweiflung stehenden Menschen zur Ausbildung der Frage nach dem, was Sein und Sinn zu fundieren, zu bergen und zu bewahren vermag – mit anderen Worten: zur Frage nach Gott. Dass der Mensch aus seinem endlichen Sein heraus die Frage nach Gott überhaupt zu stellen in der Lage ist, schreibt Tillich dem mit der Frage notwendig gegebenen Bewusstsein von Gott zu, das implizite Voraussetzung der Frage nach Gott ist.87 Jedoch ist dies nicht dergestalt zu verstehen, dass das Gottesbewusstsein ein nur kontingentes Datum menschlicher Verfasstheit darstellen würde, sondern im Gegenteil ist es die ontologische Struktur der Endlichkeit, die den zur Transzendierung fähigen Menschen zur Verhältnisbestimmung gegenüber dem Unendlichen antreibt. Just dieses Ausgeschlossensein von der möglichen Unendlichkeit, der der endliche Mensch vermittels seines Endlichkeitsbewusstseins gewahr wird, treibt den Menschen zur Frage nach dem, was seine angstvolle Endlichkeit zu überwinden vermag. Dem Endlichen ist

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Zusammenfassen lässt sich die Konstellation von Theologie und Philosophie in der folgenden Aussage Tillichs: „Theologie handelt existentiell von dem Sinn des Seins, Philosophie handelt theoretisch von der Struktur des Seins.“ (ST I, 267) 86 Vgl. insbes. EW XVI, 148–168. 87 „Die Frage nach Gott ist möglich, weil in der Frage nach Gott ein Bewußtsein um Gott gegenwärtig ist. Dies Bewußtsein geht der Frage voraus.“ (ST I, 240)

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mithin das, was seine Endlichkeit überwinden kann, das Unendliche, gegenwärtig, ohne dass er imstande wäre, zum Unendlichen zu gelangen. Somit stellt der Mensch die Frage nach dem Unendlichen und dem, was den Mut gibt, die Angst der Endlichkeit, die sich aus dem Getrenntsein vom Unendlichen speist, zu überwinden, „weil das Bewußtsein seiner potentiellen Unendlichkeit in dem Bewußtsein seiner Endlichkeit eingeschlossen ist.“ (ST I, 240) Das Unendlichkeitsbewusstsein des selbstbewussten Endlichen bezeichnet Tillich als das „unbedingte Element“ (ST I, 241), das es dem Menschen ermöglicht, die Frage nach Gott zu stellen. Gestellt werden kann die Frage mithin, weil die Frage selbst dieses unbedingte Element impliziert, und gestellt werden muss sie, weil nur von dort die Lösung der Angst vor dem Nichtsein bzw. der Sinnlosigkeit überhaupt möglich ist.88 Da endliches Sein sich durch die gleichzeitige Partizipation an Sein und Nichtsein auszeichnet, ist die Überwindung des Nichtseins nur von dort her möglich, wovon das endliche Sein sein Sein hat. Mit anderen Worten: Angst vor Nichtsein und Sinnlosigkeit ist nur durch Partizipation am Seinsgrund möglich – dieser wird von Tillich als die Macht des Seins bzw. das SeinSelbst, dem esse ipsum, bezeichnet. Jedwede andere Ausprägung eines unbedingten Elements, wie es theoretisch als „verum ipsum“ oder praktisch als „bonum ipsum“ (ST I, 241) in der Philosophiegeschichte ausgeprägt wurde, ist letztlich bezogen auf das Sein-Selbst: „Beides [sc. verum ipsum und bonum ipsum] sind Manifestationen des esse ipsum, des Seins-Selbst als des Grundes und Abgrundes alles dessen, was ist.“ (ST I, 241)

(2) Wie ist nun aber das Sein-Selbst zu bestimmen und inwiefern ist die Gottesfrage und die Frage nach dem Sein-Selbst als identisch zu setzen? Oder präziser gefragt: Was macht Gott zu Gott und warum ist Gott Gott als das Sein-Selbst? „Gott ist“, so Tillichs bekannte Definition, „die Antwort auf die Frage, die in der Endlichkeit des Menschen liegt, er ist der Name für das, was den Menschen unbedingt angeht.“ (ST I, 247) Gott ist mithin dann Gott, wenn er das ist, was das endliche Sein des Menschen einer Antwort zuzuführen vermag. Die Unbedingtheit, die Gott anwest, ist dabei insofern entscheidendes Moment, als die mit der Endlichkeit aufbrechende Angst und Fragehaltung vermittels der Unbedingtheit nicht einfach einer Antwort im Rahmen endlicher Kategorien zugeführt wird; Gott als das, was den Menschen unbedingt angeht, oder in anderer Formulierung: als das SeinSelbst, trägt nicht nur das in sich, was das Sein des Menschen, sondern auch das, was sein Nichtsein ausmacht. Gott ist dadurch Sein-Selbst, dass er der ————— 88

„Die Frage nach Gott kann gestellt werden, weil im Akt des Fragens ein unbedingtes Element enthalten ist. Die Frage nach Gott muß gestellt werden, weil die Drohung des Nichtseins, die der Mensch als Angst erfährt, ihn zu der Frage nach dem Sein treibt, das das Nichtsein besiegt, und nach dem Mut, der die Angst besiegt.“ (ST I, 243) Mit Norbert Ernst, Sein ist Macht. Paul Tillichs Antwort auf eine philosophische Urfrage, in: Werner Schüßler/Erdmann Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 39–52, hier: 49, kann mithin gesagt werden, am Nichtsein könne „abgelesen werden, was Sein bedeutet; Nichtsein ist für Tillich zum Verstehenshorizont des Seins geworden.“

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Spaltung von Sein und Nichtsein im Sinne einer Dialektik nicht unterliegt, sondern der Eine nicht im numerischen Sinne, sondern in gegensatzloser Einzigkeit ist. Dieses so bestimmte Sein-Selbst ist nun wiederum konstitutiver Grund endlichen Seins – und damit auch dessen Abgrund, weil außerhalb des Seins-Selbst schlechterdings nichts ist. In dieser Form lässt sich das Sein-Selbst als Seinsmächtigkeit beschreiben, die jedem Seienden sein Sein verleiht und es damit befähigt zu sein.89 Als endlich Seiendes ist der Mensch in seinem Sein mithin schlechthin abhängig vom Sein-Selbst, welches damit das ist, was ihn unbedingt angeht. Unmittelbar nach seiner Definition des Gottesbegriffs verwehrt sich Tillich sofort gegen ein Missverständnis Gottes als einer thetischen Voraussetzung. Gott ist nicht erst und daraus folgt, dass er das ist, was den Menschen unbedingt angeht, sondern umgekehrt ist das, was den Menschen unbedingt angeht, Gott.90 Mit dieser Fassung des Gottesbegriffs, der dem Unbedingten in Tillichs Sinntheorie weitestgehend entspricht, ist nun allerdings das Problem der Abstraktheit verbunden, weil Angegangensein in concreto nur möglich ist Konkretem gegenüber, der Gottesbegriff als das, was den Menschen unbedingt angeht, jedoch nur in Transzendierung des Endlichen, mithin als Universalie, zu denken ist, weil er andernfalls nicht das ist, was dem endlichen Sein vorausgeht: „Aber indem das religiöse Anliegen das Endliche transzendiert, verliert es die Konkretheit einer Beziehung zwischen endlichen Wesen. Es hat die Tendenz, nicht nur absolut, sondern auch abstrakt zu werden“ (ST I, 247). Der damit aufbrechende „Konflikt zwischen Konkretheit und Unbedingtheit“ ist das „Grundproblem jeder Lehre von Gott“ (ST I, 247) und hatte ja bereits schon die bisherigen Stadien Tillich’scher Systembildung geprägt. Das Problem der Abstraktheit west dem Gottesbegriff notwendig an, sofern von ihm auch Absolutheit ausgesagt werden soll. In seiner Nähe zur Abstraktheit kommt dem Gottesbegriff das Moment der Unbedingtheit zu, das ihn eben zum „Unbedingte[n] in Sein und Sinn“ (ST I, 248) werden lässt. Tillich versucht dabei in Explikation der nicht thetischen Setzung Gottes den Projektionsverdacht abzuwehren, indem er ————— 89

Dieses „Macht-Element“ als „Abgrund des Göttlichen“ stellt das eine Prinzip dar, das die Gottheit Gottes zum Ausdruck bringt: „Es ist die Basis seiner [sc. Gottes] Majestät, die unnahbare Intensität seines Seins, der unerschöpfliche Grund des Seins, aus dem alles entspringt. Es ist die Seinsmächtigkeit, die dem Nichtsein unbegrenzten Widerstand leistet, und allem, was ist, Macht verleiht zu sein.“ (ST I, 289) 90 „Das heißt nicht, daß es zunächst ein Wesen gibt, das Gott genannt wird, und dann die Forderung, dass es den Menschen unbedingt angehen soll. Es heißt, daß das, was einen Menschen unbedingt angeht, für ihn zum Gott (oder Götzen) wird, und es heißt, daß nur das ihn unbedingt angehen kann, was für ihn Gott (oder Götze) ist.“ (ST I, 247)

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anführt, dass „es absurd [ist], den Bildschirm, auf den das Bild projiziert wird, mit der Projektion selbst zu identifizieren.“ (ST I, 248) Das Gottesbild an sich ist mithin nie abstrakt genug im eigentlichen Sinne des Wortes, also weit genug von der Endlichkeit entfernt, um analogiefrei von Gott zu sprechen; allerdings ist Gott als die Antwort auf die in der Endlichkeit des Menschen beschlossene Frage nur, um in Tillichs Projektionsbild zu bleiben, die „Sphäre, in die die göttlichen Bilder projiziert werden“ (ST I, 248), und damit selbst nicht Projektion, sondern als Unbedingtes, das, was den Menschen unbedingt angeht.91 Zugänglich ist das Unbedingte für das Bedingte allerdings nur in der Sphäre der Bedingtheit, so dass der Gottesbegriff trotz seiner tendenziellen und notwendigen Abstraktheit überführt werden muss in Konkretion. Das meint nun freilich nicht, dass das Unbedingte selbst zum konkret Bedingten wird, sondern analog Tillichs bisherigen Konzeptionen muss das Unbedingte als solches im Konkreten als Konkretes erscheinen, um allererst von Seiten des Bedingten rezipiert werden zu können.92 Daraus ergibt sich die – an dieser Stelle nicht mehr im Detail zu explizierende93 – Differenz von Heiligem und Profanem, die sich nach der neuen Gottesdefinition derart darstellen lässt, dass das Heilige das zum Gegenstand94 hat, was von unbedingter Bedeutung für den Menschen ist,95 wohingegen das Profane nur bedingtes Angegangensein zu evozieren vermag.96 Eine Exklusivität des Heiligen ist deswegen jedoch keinesfalls zu statuieren, denn das „Heilige stellt seinem Wesen nach keine Sondersphäre neben dem profanen dar“, sondern im Gegenteil muss gesagt werden, dass das „Profane und das

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Anders Jean Richard, The Trinity as Object and as Structure of Religious Experience, in: Gert Hummel/Doris Lax (Hg.), Trinität und/oder Quaternität – Tillichs Neuerschließung der trinitarischen Problematik. Trinity and/or Quaternity – Tillich’s Reopening of the Trinitarian Problem. Beiträge des IX. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/Main 2002. Proceedings of the IX. International Paul-Tillich-Symposium Frankfurt/Main 2002 (Tillich-Studien, Bd. 10), Münster 2004, 19–30, hier: 21: „So, we might say as well that the divine images are projections from the realm of religious experience and faith.“ 92 „Das Unbedingte kann nur durch das Konkrete erscheinen, durch das, was vorläufig und vergänglich ist.“ (ST I, 254) 93 Vgl. die Erörterungen in Kap. 1.2.2.3 und 2.4.1. 94 Wobei selbstverständlich auch hier der Begriff des Gegenstandes insofern problematisch ist, als bestenfalls das zum Gegenstand werden kann, wodurch das Unbedingte erscheint. Als Konkretes bzw. Symbol ist es der Vergegenständlichung zwar notwendig unterworfen, bringt aber in Selbstverneinung das zum Ausdruck, was sich der Objektivation schlechterdings widersetzt, nämlich das, was unbedingt angeht – und somit gerade nicht im Rahmen von Bedingtheit fassbar ist. 95 „Das Heilige ist die Qualität dessen, was den Menschen unbedingt angeht. Nur das, was heilig ist, kann den Menschen unbedingt angehen, und nur das, was den Menschen unbedingt angeht, hat die Qualtität des Heiligen.“ (ST I, 251) 96 „Das Profane oder Säkulare ist die Welt dessen, was uns nur bedingt angeht.“ (ST I, 254)

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Heilige […] nicht voneinander getrennt werden“ (ST I, 254) können.97 Prinzipiell ist ja auch das Heilige als Bedingtes profan, wie umgekehrt auch das Profane als Bedingtes potentiell zum Heiligen werden kann, indem in ihm für einen Menschen das erscheint, was ihn unbedingt angeht.98 Wie bereits zu erkennen sein dürfte, reproduziert Tillich unter dem Begriff dessen, was unbedingt angeht, bzw. dem Sein-Selbst seinen Gottesbegriff der vorherigen Konzeptionen und damit seine bisherige Verhältnisbestimmung von absolut und konkret bzw. relativ oder von unbedingt und bedingt. Auf Einzelheiten resp. eine Vollständigkeit der Darstellung kann daher verlustlos verzichtet werden. Im Folgenden soll deshalb der Blick nochmals auf das spezifische Verhältnis von Sein-Selbst und Seiendem gerichtet werden, um die in Tillichs Ontologie explizierten Momente genauer zu erfassen und somit den Gottesbegriff näher zu definieren. (3) Gott als das Sein-Selbst ‚ist‘ nicht. Sein Sein lässt sich nach Tillich eben nur bestimmen als das des Seins-Selbst.99 Dies bedeutet nun aber nichts anderes, als dass Gott nicht nur nicht ist, sondern im Gegenteil das ist, was über dem Sein steht, Sein allererst zu Sein macht. Damit ist der Begriff des Seins-Selbst gleichgesetzt mit der Aussage, dass Gott „die unendliche Seinsmächtigkeit in allem und über allem ist.“ (ST I, 273) Nur so lässt sich der Begriff der „Aseität“ (ST I, 274) Gottes tatsächlich fassen, nämlich dass Gott als das Sein-Selbst das ist, was allem Sein vorausgeht und allem Seienden sein Sein gibt. Die Polaritäten, die in den ontologischen Momenten vorstellig wurden, sind mithin nicht etwa Determinanten Gottes, sondern bezeichnen gleichsam, im obigen Bild gesprochen, die Projektionsfläche, auf der sich der Gottesbegriff für das Seiende niederschlägt. Diese Strukturen allein formal einer Analyse zuzuführen, ist jedoch keineswegs hinreichend für die Erkenntnis des Seins-Selbst als Gott – dies setzt erst voraus, dass das angenommen wird, was den Menschen unbedingt angeht, was dann sekundär mit dem Gottesbegriff zu belegen ist. Ist Gott also Gott schlechterdings aus sich selbst heraus und damit echte Aseität, so steht er jenseits der in den ontologischen Elementen sich abzeichnenden und in Sonderheit im Freiheitsbegriff aktuell werdenden Spaltung zwischen Essenz

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Vgl. dazu auch Scharf, Dogmatics, 274, der richtig feststellt: „the holy and the secular are not in opposition but are complementary.“ 98 „Das Profane kann der Träger des Heiligen werden. Das Göttliche kann in ihm manifest werden. Nichts ist essentiell und unabänderlich profan. Alles hat die Dimension der Tiefe, und in dem Augenblick, in dem diese Dimension sich zeigt, zeigt sich auch das Heilige. Alles Profane ist potentiell heilig, ist offen für Weihe.“ (ST I, 254) 99 „Das Sein Gottes ist das Sein-Selbst.“ (ST I, 273)

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und Existenz.100 In Anwendung des Freiheitsbegriffs auf Gott muss dieser demnach in der Art von dessen im Menschen verwirklichter endlicher Form unterschieden werden, dass Gott unendliche Freiheit ist, was in ontologischer Ausformulierung bedeutet, dass Gott „sein eigenes Schicksal“ (ST I, 274) ist.101 In dieser Freiheit muss von Gott jede Art der Bindung an das, was ist, genommen werden, was sich darin äußert, dass von Gott weder der Begriff von Essenz noch der von Existenz direkt ausgesagt werden kann.102 Gott steht über beidem und konstituiert beides. Um der Gottheit Gottes willen muss just dies ausgesagt werden, muss Gott der „Grund von Sein und Sinn“ (ST I, 274) sein, der sich als Sein-Selbst in kategorialer Weise unterscheidet von jedwedem Seienden und als Unendliches von allem Endlichen. Zwischen Unendlichem und Endlichem, zwischen Unbedingtem und Bedingtem, schließlich zwischen Sein-Selbst und Seiendem hat ein diastatischer Bruch statt, der nicht anders zu bewältigen ist, als durch einen Sprung, der seinerseits von der endlich-bedingten Seite von selbst aus schlechterdings nicht einmal initiierbar ist: „Es gibt kein Verhältnis und keine graduellen Unterschiede zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, nur einen absoluten Bruch, einen unendlichen ‚Sprung‘.“ (ST I, 275; Hervorhebung S.D.) Damit knüpft Tillich an sein bereits 1913 verwendetes Vokabular an, dem zufolge zwischen Wahrheit und Denken bzw. Absolutem und Relativem ein schlechthinniger Bruch konstatiert werden muss, der gleichsam nicht zu überbrücken ist.103 Wie das Denken von der Wahrheit kategorisch geschieden und doch nur ist, weil es von der Wahrheit her kommt und auf sie hin ausgerichtet ist, es also zugleich wahr und unwahr zu nennen ist, so ist auch knapp vierzig Jahre später ein kategorischer Unterschied zwischen dem Seienden bzw. Endlichen und dem Sein-Selbst bzw. Unendlichen gesetzt und doch ist auch das seiende Endliche nur, weil es am unendlichen Sein-Selbst teilhat: „Andererseits partizipiert alles Endliche am Sein-Selbst und seiner Unendlichkeit. Sonst hätte es keine Seinsmächtigkeit.“ (ST I, 275) Gott als das Sein-Selbst ist mithin nicht einzuho————— 100

„Das Sein-Selbst ist jenseits der Spaltung von Essenz und Existenz, der alles Endliche unterworfen ist.“ (ST I, 274) 101 In direkter Bezugnahme auf den der Endlichkeit appropriierten Freiheitsbegriff muss Tillich deshalb sagen: „Gott hat kein Schicksal, weil er Freiheit ist.“ (ST I, 217) In analoger Anwendung des Freiheitsbegriffs auf Gott, gilt jedoch: „Wenn wir von Gott sagen würden, dass er ein Schicksal hat, dann müssten wir sagen, dass er sein eigenes Schicksal ist.“ (EW XVI, 78) 102 Existierte Gott, so könnte er nicht das sein, was den Menschen unbedingt angeht; wäre er identisch zu setzen mit dem Begriff der Essenz, so müsste er als die „Form aller Formen verstanden“ (ST I, 274) werden und würde darob seiner allem Seienden sein Sein verleihender Seinsmächtigkeit verlustig gehen. Gott wäre nicht mehr das, als was er nach Tillich ebenfalls zu bezeichnen ist: der lebendige; vgl. dazu die Ausführungen weiter unten. 103 Vgl. etwa A §3; 281.

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len in die Kategorien des Seienden, weil er sie allererst begründet. Gott ist damit nicht nur der Grund alles Seienden, sondern der Grund des Seins an sich und, weil „Gott der Grund des Seins ist, ist er auch der Grund der Struktur des Seins. Er ist dieser Struktur nicht unterworfen, die Struktur ist in ihm gegründet.“ (ST I, 276) Pointiert kann Gott deshalb von Tillich sogar mit der Struktur des Seins gleichgesetzt werden: „Er ist diese Struktur“ (ST I, 276). Nur deshalb kann von Gott gesprochen werden, weil Gott die Struktur des Seins genannt werden kann. Bereits im System von 1913 war die Wahrheit vom Denken nicht erfassbar und doch intendiert das Denken Wahrheitsvollzug, gleichsam wie in den zwanziger Jahren der Sinnakt ausgerichtet war auf den absoluten Sinn. Seinstruktur oder Denkstruktur bzw. Sinnhaftigkeit sind die Signa des Unbedingten. Jedoch darf nicht vergessen werden, dass es den schlechthinnigen Bruch zwischen dem Intendierten und dem Standpunkt dessen, der sich darauf hin ausrichtet, festzustellen und zu affirmieren gilt. Ein Rückschluss von der Struktur auf das, was die Struktur konstituiert, darf nicht einfach angesetzt werden. In diesem Punkt erweist sich das größte Problem der Tillich’schen Theologie, das bereits mit der Symboltheorie angesprochen wurde:104 Es muss fraglich bleiben, ob es Tillich tatsächlich gelingt, die Gleichzeitigkeit von absolutem Bruch und Strukturtheorie, die sich in Form der Symbollehre in einer Strukturanalogie äußert, in ihrer vollen Tiefe und aporienahen Krisis zu erfassen. Es ist sicherlich das Anliegen Tillichs, just diese Problematik zu klären – allerdings muss in Anbetracht verschiedener Aussagen Tillichs hier Vorsicht angemeldet werden: Wenn Tillich aus der Struktursetzung des Seins durch Gott die Struktur mit Gott zu identifizieren vermag, so ist dies an sich noch aus seinem Konzept heraus logisch nachvollziehbar und – bis zu einem gewissen Punkt – sinnvoll. Sobald allerdings von der göttlichen Seinsstruktur ein Rückschluss auf Gott selbst statthaben soll, müssen Bedenken derart angemeldet werden, wie sich dann zunächst methodisch Ontologie und Theologie noch unterscheiden lassen wollen und ob prinzipiell Theologie nicht letztlich in einer Subjektivitätstheorie erstarrt, sofern ihre Aussagen ausschließlich aus dem Prinzip individueller Selbstheit gewonnen werden. Diese Fragestellung spitzt sich zu in Tillichs Formulierung: „Der Satz, daß Gott das Sein-Selbst ist, ist ein nicht-symbolischer Satz. Er weist nicht über sich hinaus. Was er sagt, meint er direkt und eigentlich.“ (ST I, 277) Die Grundanlage und die Folgen dieser einzigen, von Tillich angesetzten nicht-symbolischen Aussage über Gott hat Gunther Wenz eingehend

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Vgl. Kap. 1.3.2.3.

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problematisiert, erörtert und in ihrer aporetischen Tendenz aufgezeigt.105 Gleichfalls ist die Analogielehre Tillichs aufs engste mit der Symboltheorie verknüpft. Indem Tillich dezidiert bejaht, dass auf der Grundlage empirisch vorfindlicher Seinszusammenhänge, mithin der Realität an sich, allererst die Möglichkeit der Rede von Gott gegeben sei, bewegt er sich im theologisch vertretbaren Rahmen. Genau so möchte er nach eigener Angabe seine Analogielehre – und damit auch die Symbollehre – verstanden wissen.106 Problematisch erscheint die Symboltheorie allerdings in Kombination mit der Lehre von der analogia entis dann, wenn von den Seinsstrukturen her tatsächlich eine nicht-symbolische Aussage getätigt werden kann. Präzise erfassen lässt sich die Problematik mit einem Blick auf Tillichs Verhältnisbestimmung von Philosophie bzw. Ontologie und Theologie: Ist der Begriff vom Sein-Selbst einer, der nicht nur durch philosophische Begriffe Ausdruck findet, sondern ein solcher, der letztlich von der Philosophie theoretisch ausgebildet werden kann, dann muss höchst fraglich werden, wie die Theologie Sein-Selbst und Gott ohne Analogiemoment identisch setzen kann. Selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Philosophie den Begriff vom Sein-Selbst nur als Frage hervorzubringen vermag, ohne ihn sinnvoll zu füllen, kommt eine Gleichsetzung von Sein-Selbst und Gott dennoch einer nahezu metaphysichen Setzung gleich.107 Wie soll ein derartiges Prozedere anders verstanden werden können als doch letztlich statthabender Rückschluss vom Endlichen auf das Unendliche bzw. vom Seienden auf das Sein an sich, das Sein-Selbst?108 Dass Tillich einen solchen Überstieg nicht intendiert, ja ihm zu wehren versucht, steht außer Frage – allerdings können und dürfen Tillichs aporienahe Anlagen in Symboltheorie und Analogielehre, die sich allererst aus der Kombination beider Systembestandteile speisen, nicht übergangen oder weginterpretiert werden. Tillichs System steht damit zwar nicht unbedingt automatisch – wie Gunther Wenz ————— 105

Vgl. Wenz, Subjekt, 161–180. Ähnlich auch Falk Wagner, der Gott bei Tillich als absolute Positivität ansetzt, wobei Tillich nach Wagner eben „die Unbedingtheit des Seinsgrundes bloß voraussetzt, aber nicht eigens begründet“ (Wagner, Christus, 249). Damit benennt Wagner letztlich dieselbe Problematik wie Wenz. 106 „Die analogia entis ist nicht die Eigenart einer fragwürdigen Theologie, die durch Schlußfolgerungen vom Endlichen auf das Unendliche Gotteserkenntnis zu gewinnen sucht. Die analogia entis gibt uns allein das Recht, überhaupt von Gott zu sprechen. Sie beruht auf der Tatsache, daß Gott als Sein-Selbst verstanden werden muß.“ (ST I, 278) 107 Auf dieses, bereits in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ sich abzeichnende Problem, ist später in Kap. 3.3 einzugehen. 108 Dieselbe Problematik erkennt Michael Moxter, der Tillich im Rahmen eines „naiven Realismus“ (Moxter, Kultur, 36) sieht, weil von ihm die „realistische Supposition“ (ebd., 37) letztlich nie überwunden werde. Vgl. erhellend zum Realismusbegriff im Allgemeinen und bei Tillich im Besonderen ebd., 26–38.

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in seiner frühen Arbeit zu folgern neigte109 – als Ganzes im Verdacht der Aporie, jedoch muss diese Schwachstelle im System Tillichs festgehalten werden, zumal sie – und das ist das Entscheidende – nicht als systemnotwendige Konsequenz zu klassifizieren ist: Die aporienahe Verfasstheit erhält Tillichs Symboltheorie erst, wie dargestellt, in Kombination mit der Lehre von der analogia entis. Mit anderen Worten: Es ist die ontologische Ausprägung, die Tillichs Symboltheorie in den aporetischen Sog zu ziehen droht. Erst hier erreichen Tillichs Formulierungen – trotz der ansonsten eher weniger präzisen Begriffsfassungen des späten Tillich – eine derartige Zuspitzung, dass der Wenz’sche Aporievorwurf nahezu unabwendbar ist. Dass sich Tillichs ontologische Ausprägung der Symboltheorie und die Analogielehre nicht genetisch aus seinem sonstigen Systemansatz ergeben, sondern durchaus in ihrer Missverständlichkeit vermeidbar sind, lässt sich anhand der Lehre vom ‚lebendigen Gott‘ sowie dessen Bezug zu den ontologischen Elementen explizieren, weshalb dieser Teilbereich noch zur Explikation der Gotteslehre in Tillichs ‚Systematische[r] Theologie‘ hinzugenommen werden soll. Leben definiert Tillich als „Prozeß, in dem potentielles Sein zu aktuellem Sein wird. Es ist die Aktualisierung der Strukturelemente des Seins in ihrer Einheit und ihrer Spannung.“ (ST I, 280) Leben ist damit genuin bestimmt als Gemengelage von fortwährender Trennung und Wiedervereinigung als eine im Rahmen der ontologischen Elemente statthabende Dynamik.110 Der dem Leben innewohnende Dynamikbegriff ist es auch, der Tillichs Gotteskonzept fernhalten will von jedweder Form statischen Vorstelligwerdens, das sich in Anbetracht der Gleichsetzung von Gott und Sein-Selbst einstellen könnte. Wird der Lebensbegriff auf Gott angewandt, so schließt sich ein Verständnis Gottes als „die reine Identität des Seins als Sein“ schlechterdings aus und der Begriff vom „lebendigen Gott“111 (ST I, 280) lässt damit Gott nicht nur nicht zu schierer Intransigenz depravieren, sondern überführt ihn in ein dynamisches Verständnis: „Wir behaupten, daß er [sc. Gott] der ewige Prozeß ist, in dem sich fortgesetzt Trennung vollzieht und durch Wiedervereinigung überwunden wird. In diesem Sinne lebt Gott.“ (ST I, 280) Freilich gewinnt das Gottesverständnis in Bezug auf den Lebensbegriff keine derart starke dynamische Tendenz, dass Gott gar in die Nähe des actus purus gerückt wäre – im Gegenteil setzt ————— 109 Vgl. aber die umfassendere Perspektive zum Verständnis der Theologie Tillichs in: Wenz, Metaphysischer Empirismus, passim. 110 „Das Leben hört auf, wenn Trennung ohne Vereinigung und Vereinigung ohne Trennung erfolgt. Sowohl völlige Identität als auch völlige Trennung vernichten das Leben.“ (ST I, 280) 111 Bei Tillich ist dieser Begriff des lebendigen Gottes wohlgemerkt in Anführungszeichen gesetzt, so dass selbstverständlich – wie im Folgenden noch erörtert wird – nicht in analogiefreier Weise vom Leben Gottes gesprochen werden kann.

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der stete Ablauf von Trennung und Wiedervereinigung ja etwas voraus, von dem Trennung allererst anzuheben vermag und mit dem Wiedervereinigung möglich ist. Gleichsam kann der Lebensbegriff, der von Tillich auch als „die Aktualisierung des Seins oder genauer: der Prozeß, in dem potentielles Sein zu aktuellem Sein wird“, bezeichnet werden kann, nicht in direkter Entsprechung auf Gott angewandt werden, weil es in Gott „keinen Unterschied zwischen Potentialität und Aktualität“ (ST I, 280) gibt. Gott als der Lebendige ist mithin niemals in direkter Entsprechung mit dem Lebensbegriff an sich zu verstehen, sondern muss als symbolische Redeweise in Anschlag gebracht werden.112 Somit kommt Tillich zu der Aussage, dass „Gott lebt, sofern er der Grund des Lebens ist.“ (ST I, 280) Zu fragen wäre nun allerdings, ob – analog zur analogiefreien Ineinssetzung von Gott und Sein-Selbst – auch die Bezeichnung Gottes als der Grund des Lebens als nicht-symbolische, weil direkt mit der Definition des Seins-Selbst als Gott in Identität stehende, Aussage zu gelten hat. Dies nimmt Tillich zwar nicht vor, könnte sich jedoch aufgrund seiner einen nicht-symbolischen Aussage vermuten lassen. Tillich würde dann die komplette Lehre vom lebendigen Gott auf der Basis seiner Definition Gottes als das Sein-Selbst in nichtsymbolischer Form reproduzieren, was unvermeidlich dazu führen würde, dass auch die Lebendigkeit Gottes in die Nähe aporetischer Verfasstheit rücken müsste. Möchte man jedoch von Gott als dem Lebendigen sprechen, so bedarf es der Definition Gottes als des Grundes des Lebens überhaupt nicht, sondern nur des Bewusstseins, dass der Lebensbegriff in Anwendung auf Gott immer nur ein symbolischer sein kann. Sieht man also ab von der potentiell nicht-symbolischen Gleichsetzung Gottes mit dem Grund des Seins, kann die intendierte Interpretation von Tillichs Gottesbegriff so vorgenommen werden, dass er gerade nicht-aporetischen ist und sich trotzdem im Sinne der Tillich’schen Theologie bewegt.113 Tillich verwehrt sich nochmals explizit gegen eine direkte Ableitung des Gottesbegriffs aus der Struktur des Seins; vielmehr kann das, was die Seinsstruktur ausmacht, nur Basis für die Ausbildung von Symbolen werden. Gotteserkenntnis ist somit exklusiv dem revelativen Zugang vorbehalten.114 Deshalb kann die Grundstruktur der Ontologie Tillichs, nämlich die ————— 112

„Darum ist es unmöglich von Gott als dem Lebendigen im eigentlichen, nicht-symbolischen Sinne des Wortes ‚Leben‘ zu sprechen.“ (ST I, 280) 113 Damit wird natürlich in gewissem Sinne über die vorliegende Gestalt der Tillich’schen Theologie hinausgegangen; Ziel ist es jedoch, wie angegeben, die Möglichkeit der Explikation des theologischen Ansatzes Tillichs auch ohne die starke Aporienähe aufzuzeigen. 114 „Die ontologische Struktur des Seins liefert das Material für die Symbole, die auf das göttliche Leben hinweisen. Jedoch bedeutet das nicht, daß eine Lehre von Gott aus einem ontologischen

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von Selbst und Welt, auch nicht zum direkten Symbol für das Leben Gottes werden, sondern nur vermittels der ihr entspringenden ontologischen Elemente.115 Selbst und Welt stellen ein irreduzibles Grundverhältnis dar, das schlechterdings die Verfasstheit jedweder Entität in Form eines Getrenntseins und Dazugehörens vorstellig macht. Just dies ist nun aber nicht für Gott in Anschlag zu bringen, weshalb eine Identifikation Gottes – sei es in direkter oder indirekter Weise – mit einem der Relate der Grundstruktur als unstatthaft abgelehnt werden muss. Die spannungsvolle Polarität der ontologischen Elemente, innerhalb derer sich jede bestimmte Form von Sein realiter notwendig befindet, sind demgegenüber in der Lage, zu Symbolen für das Leben Gottes zu werden, „weil sie nicht von Arten des Seins (Selbst und Welt) sprechen, sondern von Eigenschaften des Seins“ (ST I, 282; Hervorhebung S.D.). Selbst und Welt sind mithin, wie bereits oben festgehalten, die Grundstruktur des Seins, die gewissermaßen das Wesen – Tillich spricht hier von „Arten“ – des Seins in seiner konkreten Fassung vorstellig macht. Die ontologischen Elemente sind zwar nicht minder als die Grundstruktur von Selbst und Welt transzendentale Polaritäten, unter deren Absehung nicht vom Sein gesprochen werden kann, jedoch explizieren sie die Grundstruktur in einer jeweils bestimmten Gemengelage, die sich für jedwedes Seiende einstellt. Anders formuliert heißt dies, dass Selbst und Welt stets feste Konstanten sind, sobald von Sein gesprochen wird, weil hiermit die Perspektive von Sein an sich in den Blick kommt; die ontologischen Elemente hinwiederum bilden polare Strukturen, innerhalb derer sich das Sein aller Entitäten bewegt, ohne jemals in völliger Identität mit einem der Pole zum Stehen zu kommen, weil dies die Polarität aufheben und den Seinszusammenhang zerstören muss. Pointiert ließe sich sagen, dass Selbstheit ein Urphänomen von Sein darstellt, dem sich automatisch alles, was nicht Selbst ist, als Welt bzw. Umgebung gegenüberstellt. Zwar ist Selbstheit im selbstbewussten Modus der Subjektivität ins Vermögen gesetzt, sich selbst zum Objekt zu machen – doch niemals, ohne gleichzeitig Subjekt des Objektivierungsvorgangs zu bleiben. Selbst und Welt sind wechselseitige Ausschlussmomente, die in und ob ihrer schlechthinnigen Trennung nicht zum Symbol für Gottes Leben werden können.116 ————— System abgeleitet werden kann. Das göttliche Leben enthüllt sich uns im Offenbarungserlebnis.“ (ST I, 281) 115 „Die grundlegende ontologische Struktur von Selbst und Welt liefert kein symbolisches Material für die Erkenntnis Gottes. […] Beide: Selbst und Welt haben ihre Wurzel im göttlichen Leben, können aber nicht Symbole für das göttliche Leben werden.“ (ST I, 282) 116 Tillichs Erklärung für die Unmöglichkeit der Grundstruktur, zum Symbol für das göttliche Leben zu werden, ist deutlich kürzer gefasst und lässt die Begründung dieser Abweisung zwar vermuten, führt sie jedoch nicht explizit aus. Die obige Darstellung ist somit als Rekonstruktions-

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Die Differenz von Selbst und Welt, die unter den Bedingungen endlichen Seins statthat, kommt zwar doch im Rahmen der Symbolwerdung der ontologischen Elemente dahingehend in Anschlag, dass der dem Subjekt zuneigende Pol – mithin Individualisation, Dynamik und Freiheit – die Symbole für das göttliche Leben schlechthin darstellen. Dies ist jedoch nur eine mitzudenkende Bedingung des Symbolisierungsvorganges überhaupt, insofern ein Symbol allererst relevant werden kann, wenn es den Menschen als solchen anzusprechen vermag. Dadurch, dass der Mensch die vollendete Form von Selbstheit, nämlich Subjektivität, darstellt, ist Gottes Leben für ihn nicht anders symbolisierbar als unter dem Vorzeichen der subjektnahen ontologischen Elemente.117 Dies bringt jedoch nicht den Umkehrschluss hervor, dass von den objektiven Polen der ontologischen Elemente schlichtweg abgesehen werden könnte – im Gegenteil bedarf es ihrer notwendig, um nicht die Subjektseite der Polarität einem falschen Verständnis auszusetzen: persönlicher Gott und partizipierender Gott, Gott als Vitalität und Intentionalität, freier Gott und Gott, der sich selbst Schicksal ist, bedingen sich wechselseitig und konstituieren allererst das Symbol des göttlichen Lebens; in Einzelheit betrachtet gehen sie dessen verlustig, was die Stetigkeit des fortwährenden Wechsels von Wesen und Werden ausmacht. Entscheidender Faktor, der bei der Symbolisierungsleistung der ontologischen Elemente beachtet werden muss, ist jedoch, dass es sich bei allen Aussagen – auch wenn sie korrekt in ihrer Polarität wahrgenommen werden – um explizierende Symbole für das Symbol des Lebens Gottes handelt. Tillich legt hierbei Wert darauf, das prozessuale – nicht dynamische! – Moment im Leben Gottes zu betonen, wenn er schreibt: „Das Wesen des Lebens ist Aktualisierung, nicht Aktualität.“ (ST I, 284) Damit ist einer drohenden Identifikation des Lebensbegriffs in Bezug auf Gott mit der Subjektseite der ontologischen Polaritäten gewehrt. Es ist eben nicht das Moment des Übersich-Hinausgehens auszuspielen gegen das polare Pendant des In-sichBeharrens. Aktualisierung macht beides in Gleichzeitigkeit statthabend vorstellig und wehrt der Fokussierung auf einen Aspekt. Letzteres ist nach Tillich die größte Gefahr bei einem nicht-symbolischen Verständnis der ontologischen Elemente in Anwendung auf Gott; es erweist sich dann der „metaphysisch-konstruktive[.] Charakter“ (ST I, 285) einer solchen Vorgehensweise darin, dass er sich der symbolischen Rede nicht mehr bewusst ist und darob einen Aspekt im Spektrum der ontologischen Polaritäten hervor————— versuch zu betrachten, der sich – nach der hier vertretenen Ansicht – genetisch aus Tillichs Ausführungen entwickeln lässt. 117 „Darum symbolisiert der Mensch das, was ihn unbedingt angeht, in Begriffen, die seinem eigenen Sein entnommen sind. Von der Subjekt-Seite der Polaritäten nimmt er – oder genauer: empfängt er – das Material, durch das er das göttliche Leben symbolisiert.“ (ST I, 282)

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hebt. Es braucht nicht auf die drei Polaritäten an ontologischen Elementen im Detail eingegangen werden, um Tillichs Verständnis für ihren Symbolwert zu veranschaulichen. Blickt man etwa auf die Polarität von Dynamik und Form, so wird bereits in einer zusammenfassenden Aussage Tillichs deutlich, wie er den Umgang mit den ontologischen Elementen und ihrer Symbolkräftigkeit verstanden wissen möchte: „Sie [sc. die ontologischen Elemente] deuten symbolisch auf eine Qualität des göttlichen Lebens hin, die dem analog ist, was als Dynamik in der ontologischen Struktur erscheint.“ (ST I, 285; Hervorhebungen S.D.) Letztlich ist es wiederum die Verquickung von Symbol- und Analogielehre, die die ontologischen Elemente zu potentiellen Symbolen für das göttliche Leben macht. Und auch hier erweist sich wieder das grundlegende Problem als das tragende, dass nämlich auch die ontologischen Elemente ihren Grund jeweils in Gott resp. im Sein-Selbst finden und just dadurch wiederum fraglich werden muss, ob die nicht-symbolische Rede von Gott als dem Sein-Selbst auch hierfür in Geltung zu stehen hat, ob sich also die unsymbolische Rede von Gott als Sein-Selbst auch für den lebendigen Gott reproduziert. Näherhin bedeutet dies nichts anderes, als dass Tillichs unsymbolische Ineinssetzung des Gottesbegriffs mit dem des Seins-Selbst ihre Fortsetzung findet in dem bereits zitierten Satz: „Gott lebt, sofern er der Grund des Lebens ist.“ (ST I, 280) Hier würde die Überschreitung des Nicht-Symbolhaften jedoch kein Ende finden, weil Gott demzufolge auch insofern personhaft wäre, als er Grund des Personhaften wäre, oder dynamisch, sofern er der Grund der Dynamik wäre, etc. Diese aporetische Spirale lässt sich insofern durchaus als Bild ansetzen, als das ‚Sein‘ Gottes als das Sein-Selbst ja schlechterdings die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, dass Gott es vermag, Grund jedweden ontologischen Elements, ja des Lebens überhaupt zu sein. Oder anders formuliert: Wäre Gott nicht das Sein-Selbst, so wäre er auch nicht als der Grund für alles, was ist, sowie für die Struktur von allem, was ist, zu bezeichnen. Tillichs eine unsymbolische Aussage ist mithin eine zu viel, weil sie die Notwendigkeit nach sich zieht, dieses Stigma des Nicht-Symbolischen sofort in Anschlag zu bringen, sobald Gott begründende Ursache eines ontologischen Begriffs ist. Wie kann nun aber die Darstellung des göttlichen Lebens aus diesem Zusammenhang befreit werden? Betrachtet man die ontologischen Polaritäten sowie ihren Symbolcharakter für das Leben Gottes an sich, so muss die Symbolkraft und ihre Konstitution als Symbole als durchaus statthaft klassifiziert werden. Selbst das göttliche Leben als Symbol verstanden ist in seiner Symbolhaftigkeit keinesfalls als problematisch zu bestimmen. Erst die Rückführung des symbolhaft Verstandenen auf eine nicht-symbolische Aussage provoziert die Aporiehaftigkeit, weil im Rahmen der ontologischen Erörterung notwendig das Verfahren der analogia entis – auch in

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ihrem Verständnis bei Tillich – eine derartige Verknüpfung von NichtSymbolhaftem und Analogem hervorbringt, dass das, was vermieden werden soll, nicht mehr zu vermeiden ist, nämlich ein faktisch statthabender Rückschluss von dem, was ist, auf das, was Sein allererst sein lässt. Damit gilt es festzuhalten, dass die Symbollehre Tillichs in ihrer ontologischen Ausprägung, sprich: mit der dadurch statthabenden Analogielehre, ihrer aporetischen Verfasstheit nicht zu entkommen vermag, was die Kritik von Gunther Wenz an Tillichs Theologie bestätigt – allerdings explizit nur für Tillichs ontologische Phase. 118 An dieser Stelle vermag eine weitergehende Analyse des Tillich’schen Gedankenganges nur noch Detailbefunde im Rahmen materialdogmatischer Bestimmungen zu liefern. Die eigentliche Untersuchung des systematischen Ausgangspunktes Tillichs in seiner ontologischen Phase ist jedoch hiermit bereits eingehend durchgeführt und darf als abgeschlossen gelten. Im Folgenden wird daher nochmals der Bogen zurück geschlagen und das späteste Stadium der Systembildung Tillichs seinen Vorläufern kritisch gegenübergestellt.

————— 118

Dass Tillich allerdings überhaupt die Möglichkeit einer nicht-symbolischen Aussage über Gott ansetzt, verwundert schon ob seines sonstigen theologischen Vorgehens. Auch Aussagen über die Absolutheit Gottes, etwa über Gott als ‚absoluten Sinn‘, sind immer Hilfskonstruktionen für die relative Reflexionsdialektik – und von Tillich auch als solche verstanden worden. Das Einbringen eines dieses Schema durchbrechenden Musters wirkt daher durchaus befremdlich – immerhin hat es nichts anderes zu bedeuten, als dass über Gott eine konkrete Aussage getroffen werden kann, nämlich dass er – in nicht-symbolischem Verständnis – das Sein-Selbst ist. Konkretion in Anwendung auf Gott kann von Tillich ansonsten jedoch ob der Absolutheit und somit der Gottheit Gottes niemals ausgesagt werden. Konkret ist das Absolute bei Tillich ansonsten ausschließlich in Jesus als dem Christus; und auch hier ist Gott als der Absolute unbeschadet seiner Absolutheit konkret, was im Sinne einer Definition Gottes als Sein-Selbst, also einer letzten Endes statthabenden Bestimmung Gottes, nicht ausgesagt werden kann.

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Die ontologische Fassung im Verhältnis zu ihren früheren Stadien

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3.3 Die ontologische Fassung des Systemprinzips im Verhältnis zu ihren früheren Stadien Beide Unterkapitel des Kapitels 3.3 beleuchten die Bezugslinien der zuletzt vorgestellten Tillich’schen Ontologie mit den vorhergehenden Stadien der Systembildung Paul Tillichs, mithin der Wahrheitstheorie sowie der Sinntheorie. Dabei wird so prozediert, dass beide Kapitel nicht den Anspruch erheben, die Ausprägung des Systemprinzips in seinen Stadien in Vollständigkeit zu erfassen; eine Zusammenfassung im eigentlichen Sinne ist mithin nicht intendiert. Vielmehr soll der Blick fokussiert werden auf die markanten Bezugspunkte im Systembildungsprozess Tillichs, anhand derer auch nochmals auf die – wie oben vorgestellt – tendenziell aporetische Verfasstheit des ontologischen Stadiums im Rahmen der Symboltheorie und Analogielehre näher eingegangen wird. Eine abschließende Bezugnahme auf alle erarbeiteten Stadien des Tillich’schen Systemprinzips bietet abschließend der Epilog.

3.3.1 Ontologie und Wahrheitstheorie Da der Bezug zwischen Tillichs ontologischem und dem ersten, wahrheitstheoretischen Systemstadium eben nicht primär als ‚Summe‘, mithin als übergreifende Zusammenfassung – wobei resümierende Elemente sehr wohl einzubeziehen sind –, sondern in Form einer pointierenden Darstellung der systematischen Schlüsselstellen gegeben werden soll, erstreckt sich das Kapitel auf vier Teile: Zunächst (1) wird im Rahmen einer Begriffsklärung – in Anlehnung an den ersten Schritt im dritten Hauptteil dieser Arbeit – ein paradigmatischer Einblick in die Verwendung der Termini Tillichs geboten, sofern dadurch Aufschlüsse über systematische Konstellationen zu erwarten sind. Im Anschluss daran (2) wird das epistemologische Vorgehen Tillichs im wahrheitstheoretischen und ontologischen Stadium aufeinander bezogen. Es wird also untersucht, auf welchem Wege Tillich die erkenntnistheoretische Struktur seines Systems jeweils ansetzt. Daraus ergibt sich genetisch (3) die Frage nach dem Systemaufbau im engeren Sinne, d.h. es gilt die Entfaltung der erkenntnistheoretisch gewonnenen Prämissen in Systemteile in ihrem Vollzug sowie in ihrer Anordnung zu analysieren. Zuletzt (4) mündet die Darstellung in die dezidiert theologische Position und fragt nach den materialdogmatischen Konsequenzen der Systemanlage. In Sonderheit wird dabei wiederum die christologische Problematik im

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Zentrum stehen. – Alle vier Punkte intendieren in erster Linie eine Klärung teils offener, teils aporetisch anmutender Konstellationen in Tillichs Systemfassung. Die aufgewiesenen Lösungsansätze beziehen sich dabei auf das in den drei Hauptteilen der vorliegenden Untersuchung Erarbeitete, so dass in den Argumentationsgang die dortigen Ergebnisse sowie die aufgeworfenen Fragen direkt einfließen, weshalb ob der Komplexität und zur Vermeidung zu weiter Redundanzen nur im Allgemeinen auf die entsprechenden Punkte in den Hauptkapiteln verwiesen werden kann. (1) Erweist sich das späteste System Tillichs zwar als das umfangreichste, so lässt sich bezüglich der Klarheit in der Systemanlage und der Begriffsverwendung doch eine zunehmende Indifferenz wahrnehmen, die sich bereits an den vergleichbaren Parallelstellen von Tillichs ‚Systematische[r] Theologie‘ und der Ontologievorlesung von 1951 exemplarisch andeutete. Richtet man den Blick jedoch auf Einzelbegriffe und ihre systematische Einordnung, so lässt sich gegenüber Tillichs erster Systemfassung in der ‚Systmatische[n] Theologie von 1913‘ durchaus eine Entwicklung feststellen, die sich aus noch unzureichender Definition in Tillichs Frühphase ergibt. Deutlich wird dies am Polaritätenpaar von Freiheit und Schicksal, das 1913 noch in der traditionell bekannteren Fassung eines Zusammenhanges von Freiheit und Notwendigkeit expliziert wurde. Man wird zwar eine weitgehende Deckungsgleichheit im Polaritätsverständis unabhängig vom Schicksals- oder Notwendigkeitsbegriff bei Tillich annehmen dürfen, allerdings wird Notwendigkeit vom späten Tillich als kategoriale Größe vergleichbar mit Raum und Zeit und nicht als Gegenpol zu Freiheit verstanden, also nicht eingegliedert in eine Polarität, zu der sich alles Relative zu verhalten vermag (vgl. EW XVI, 72f). Notwendigkeit ist für den Tillich der dreibändigen ‚Systematische[n] Theologie‘ sowie der Ontologievorlesung eine Kategorie alles Seienden, von der – auch nicht im Rahmen einer polaren Struktur – abgesehen werden könnte. Schicksal hingegen macht den allererst im Wechselspiel mit Freiheit explizierbaren Pol an Konstanz aus, der durch Freiheit bestimmt ist, sie jedoch im Gegenzug als Basis auch allererst in konkreter Form ermöglicht. Kurz gesagt: Notwendigkeit ist ein unhintergehbares Bestimmungsmoment allen Seins, wohingegen dem Schicksal – wie auch der Freiheit – gegenüber ein, zugespitzt formuliert, Verhaltensspielraum innerhalb einer Polarität zugestanden ist – wobei die Polarität an sich selbstverständlich als gleich konstitutiv anzusetzen ist wie die Kategorie der Notwendigkeit. Nichts anderes dürfte wohl der frühe Tillich im Jahre 1913 mit seinem Freiheitsverständnis im Blick haben. Das Freisein, ja das Freiheitsein des Menschen, das letztlich zu einer Identifikation des Menschen mit Freiheit – zu ergänzen ist: im endlichen Sinne – führt (vgl. A §8; 288), ist vom späten Tillich ja zumindest in seiner Ontologievorlesung gleichfalls aussagbar

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(vgl. EW XVI, 72). Allerdings kommt Freiheit hier noch nicht in der ausgeprägten Form in Polarität zu Schicksal in Anbetracht, weil das Freiheitsein gewissermaßen als beide Pole umfassend vorstellig zu werden hat. Schicksal ist immer der Konstanzpol der Freiheit, ohne den Freiheit weder anzuheben vermag, weil es ihr der Basis ermangelt, noch tatsächlich bestimmte Freiheit werden kann, da sie dann jedenfalls von jedweden endlichen Bezügen – mithin von Selbst und Welt – abstrahieren müsste, was schlechterdings unmöglich ist. Schicksal lässt sich demnach als gewissermaßen notwendig implizites Moment auch im Freiheitsbegriff von 1913 ansetzen, ohne dass er von Tillich explizit genannt wäre. Identisch ist jedoch die Bestimmung des Notwendigkeitsbegriffs: Indem er als „Naturbegriff[.]“ (A §8; 288) angesetzt wird, ist er klar als kategoriale Größe bestimmt, die – analog Raum und Zeit – die Sphäre des Freiheitsvollzugs überhaupt konstituiert. Tillich löst in seiner späten Theologie damit nicht die Polarität von Freiheit und Notwendigkeit durch die von Freiheit und Schicksal ab; vielmehr wird das, was mit dem Freiheitsbegriff bezeichnet wird, in Tillichs späterer Systemfassung im Rahmen einer Polarität gefasst, die den Schicksalsbegriff als Pendant zur Freiheit ansetzt. Bereits im Jahre 1913 wohnt dem Freiheitsbegriff jedoch das inne, was sich erst später auch begrifflich als Polarität ausdifferenziert. Der Notwendigkeitsbegriff bleibt jedoch konstant gleich verfasst und stellt bereits 1913 eine Kategorie dar, ja wird von Tillich sogar als „unterhalb des Freiheitsbegriffes“ (A §8; 288) liegend klassifiziert und damit als Subkategorie der Freiheit bzw. der Polarität von Freiheit und Schicksal definiert. Interessant ist diese Beobachtung der Begriffspräzisierung Tillichs jedoch vornehmlich in Anbetracht ihrer systematischen Konsequenz, anhand derer sich die graduellen Abweichungen der Systemfassungen im Detail festmachen lassen. Im System von 1913 stellte sich bei der Differenzierung von Natur und Geist das Problem ein, dass Tillich trotz seiner sonstigen gleichzeitigen Bejahung und Verneinung aller Elemente im Falle von Natur und Geist – die die jeweilige Verhaltensweise zur sie konstituierenden Wahrheit abbilden – eine einläufige Bewegungsrichtung einzeichnet, die Geist als Freiheit, Natur hingegen als reines Bestimmtsein, mithin als alleinig unter der Kategorie der Notwendigkeit stehend, fasst.1 Denken im Sinne des Geistes ist mithin die einzige Form des Wahrheitsbezugs, die als frei zu bezeichnen ist, weil sie ihr Verhältnis zur Wahrheit – selbstverständlich in der Gleichzeitigkeit vom Bestimmtsein durch die Wahrheit – selbst zu bestimmen vermag. Die Option zwischen geist- oder naturhaftem Verhalten gegenüber der Wahrheit obliegt somit nur dem Geist, weshalb Letztgenann————— 1

Vgl. hierzu auch Scharf, Breakthrough, 30.

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ter als frei zu bestimmen ist. Bereits bei der Analyse der entsprechenden Textpassage im Rahmen dieser Untersuchung mutete diese Bestimmung als Fremdkörper im System Tillichs an und lief seiner eigentlichen Argumentation zuwider.2 Betrachtet man nun allerdings die Problematik unter dem Vorzeichen der präzisierten Freiheitsfassung der Spättheologie Tillichs,3 so scheint eine Auflösung der Inkonzinnität in Tillichs eigenem System durchaus möglich: Das Polaritätenpaar von Freiheit und Schicksal lässt sich zwar auch beim Tillich der beginnenden fünfziger Jahre nicht direkt auf den subreflexiven Bereich übertragen, findet seine Entsprechung jedoch in der Polarität von Spontaneität und Intentionalität. Dem, was in früherer Nomenklatur Tillichs als Natur und Geist zu bezeichnen ist, west somit nach wie vor Differenzhaftigkeit in Bezug zur Freiheit an, allerdings ist die spezifische Differenz nicht dergestalt, dass sie Naturhaftem als solchem Vollzüge abspricht, die der Freiheit im voll reflexiven Sinne analogisierbar sind. Die Differenz im Grad des Selbstbewusstseins, die Natur und Geist voneinander scheidet, ist nicht derart, dass sie beiden nicht dieselbe Struktur – nämlich eine analoge Polarität – zugrunde legen kann, ja muss. Naturhafte Spontaneität und geisthafte Freiheit sind mithin nicht identisch zu setzen, explizieren auf unterschiedlichen und zu unterscheidenden Bewusstseinsebenen jedoch dasselbe Grundphänomen. Demgegenüber fällt die Natur beim frühen Tillich als nur den Kategorien anheim gegeben aus dem Vergleichsraster: Natur und Geist sind keine gleichwertigen Phänomene, weshalb sich Tillichs frühestes System auch nur an den Fragen geisthaften Vollzugs abarbeitet. Genau betrachtet findet sich dieses Prozedere bereits im Grundprinzip der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ angelegt, wenn hierbei das Prinzip als zwischen Wahrheit und Denken konstituiert angesetzt wird. Überspitzt ausgedrückt zeichnet sich das früheste System Tillichs durch eine ‚Denkfixierung‘ aus, die – bereits ansatzweise in der Sinntheorie – im ontologischen Ansatz aufgebrochen und auf den nichtdenkerischen, ja nicht-lebendigen Bereich erweitert werden kann. Insofern und insoweit hat der Bezug auf Sein an sich im Spätwerk Tillichs durchaus seinen Wert und seine Berechtigung. Letztlich beschreibt diese Systemdif————— 2

Vgl. S. 48f. Dass es sich hierbei allerdings um eine Interpretation des Frühwerks aus dem Spätwerk heraus handeln sollte, muss dezidiert zurückgewiesen werden. Dass Tillichs Freiheitsbegriff seine spätere Polaritätsfassung bereits implizierte, ist anhand des Textes der Systematik von 1913 evident zu erweisen; allerdings zeitigt eben die noch unausgereifte bzw. nicht gänzlich ausdifferenzierte Fassung in der von ihr abhängenden Thematik von Geist und Natur die oben skizzierte problematische Bestimmung zur Konsequenz. Ansonsten wird im Gegenteil viel eher eine Interpretation der späten Systematik Tillichs aus den früheren Systemstadien heraus anzustreben sein, um auch das Spätwerk einem angemessenen und ausgewogenen Verständnis zuführen zu können. Vgl. dazu insbes. das folgende Kapitel 3.3.2 und den Epilog. 3

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ferenz, die hier anhand der Verhältnisbestimmung von Natur und Geist und ihrer Einordnung in das Gesamtsystem aufzuzeigen versucht wurde, jedoch eine epistemologische Fragestellung, nämlich wie denn prinzipiell der Ausgangspunkt bzw. der Ansatz des Systems zu bestimmen ist. Dies führt jedoch von der terminologischen Erörterung über in die erkenntnistheoretische Analyse. (2) Bei allen Parallelen, die sich bei Tillichs wahrheitstheoretischer Systemkonzeption und der ontologischen Fassung aufdrängen – erinnert sei allein an den Dreischritt von formaler Ontologie, Existenzphilosophie und Offenbarung in Entsprechung zu den drei Standpunkten von 1913 –, verwundert es beinahe, wenn Tillich im System von 1913 formuliert, es sei „unrichtig zu sagen: Die Wahrheit ist irgendwo als eine objektive Realtiät, als ein Seiendes oder das Sein selbst“ (A §2; 279; Hervorhebung S.D.). Eine Identifikation des Wahrheitsbegriffs, der als Absolutes fungiert und im Weiteren vermittels des Religionsbegriffs zum Gottesbegriff überführt wird, mit dem Sein selbst wird von Tillich hier expressis verbis ausgeschlossen. Selbstverständlich gilt es zu ergänzen, dass die Wahrheit nur dann nicht als Sein selbst zu bezeichnen ist, sofern es sich dabei eben um „eine objektive Realität“ (A §2; 279) handelt – dies möchte wohl gleichfalls der Tillich der Sinntheorie wie der Ontologie zu vermeiden suchen. War es darüber hinaus doch auch gerade das früheste Systemstadium Tillichs, das seine idealistischen Wurzeln noch am wenigsten verbergen konnte und ob dessen stark in den Verdacht kam, den Gottesbegriff bzw. den des Absoluten thetisch einzubringen, was dann in der sinntheoretischen Konzeption endgültig überwunden wurde. Und doch steht mit der unsymbolischen Gleichsetzung von Gott und dem Sein-Selbst in Tillichs ‚Systematische[r] Theologie‘ just das zur Disposition, was Tillich schon 1913 mit dem Begriff des Seins selbst verband: die Objektivierung, mithin die Setzung des Gottesbegriffs. Zu fragen bleibt also: Reproduziert Tillich in seinem Spätwerk genau die Aporie, zu der er in seinem frühesten Werk zu neigen droht, die er jedoch – wie das obige Zitat anzeigt – bewusst zu vermeiden sucht? Oder anders formuliert: Fällt die späte, dreibändige Systematik durch das unsymbolische Einbringen des Gottesbegriffs als Sein-Selbst nicht sogar hinter ihr Pendant aus dem Jahre 1913 zurück, wenn sie sich ihres aporienahen Vorgehens im Gegensatz zu Letztgenannter nicht einmal mehr bewusst ist? Tillichs Vorgehen in seinem ersten System zeichnet sich durch ein stetes Ausgehen vom Absoluten her aus. Somit wird zunächst der Wahrheitsbegriff als das Absolute definiert, um dann über den Weg der Religion(sphilosophie) das Absolute als Gott zu bestimmen. Dass Tillich dieses Vorgehen

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bereits in seinem sinntheoretischen Konzept aufbricht, wurde an entsprechender Stelle herausgearbeitet.4 Ähnlich der Sinntheorie setzt die späte Theologie Tillichs deutlich näher am Subjekt an und löst die obige Reihenfolge durch den Ansatz beim religiösen Subjekt auf, indem zunächst danach gefragt wird, was unbedingt angehe, dieses als Gott bestimmt wird, um schließlich die Gottesdefinition gleichzusetzen mit dem Sein-Selbst, das wiederum nichts anderes ist als der Absolutheitsbegriff des frühen Tillich. Kurz gesagt: Der religiöse Erkenntnisprozess läuft beim späten Tillich über die Abfolge von Religion – Gott – Absolutes/Sein-Selbst, wohingegen 1913 die Reihenfolge noch Absolutes – Religion – Gott war. Genau betrachtet ist der Erkenntnisweg in der großen ‚Systematische[n] Theologie‘ jedoch so zu bestimmen, dass das, was unbedingt angeht, Gott ist – und zwar Gott als das Sein-Selbst, weil nur der Gott, der das Sein-Selbst ist, das sein kann, was das, was ist, unbedingt angeht. Letztlich leitet sich somit der Gottesbegriff aus dem Religionsverständnis ab, jedoch nur insofern, als der Gottesbegriff in Bezug steht zum Absolutheitsbegriff, der die religiöse Frage zu beantworten vermag. Problematisch mutet dabei an, dass der Absolutheitsbegriff – ohne den Gott eben nicht ist, was er ist – stark vom religiösen Subjekt her konzipiert ist, so dass die Aporie eines Rückschlusses vom Seienden auf das Sein-Selbst zumindest nahe liegt. Hier findet sich eine Analogie zu Tillichs frühestem System, in dem ja auch Denken und Wahrheit aufeinander bezogen werden – freilich bildet der Wahrheits- bzw. Absolutheitsbegriff im System den Ausgangspunkt; allerdings ist damit nicht auszuschließen, dass dieser Ansatz nicht doch letztlich schon dem Denken geschuldet ist, das somit in starke Mitbestimmung des Absolutheitsbegriffes tritt. Zwar wird man nicht so weit gehen können, dieses Vorgehen dem Tillich von 1913 tatsächlich zuzuschreiben, zumal er doch bemüht ist, den Wahrheitsbegriff als denjenigen zu etablieren, der letztlich in echter Absolutheit ansichtig wird, wie dies auch Tillichs Verwerfung des Zweifels und das Hiearchiegefälle Schelling’scher Provenienz im Prinzipdual bestärken.5 Eine etwas andere Richtung schlägt die Sinntheorie ein, deren Bezug zur Ontologie jedoch erst im folgenden Kapitel erörtert wird. Erhellend ist weiterhin, dass – und dies unterscheidet erstes und letztes System Tillichs – in den fünfziger Jahren der Religionsbegriff nicht mehr als Vermittlungsinstanz zwischen religionsphilosophischem Absoluten und dem Gott der Theologie fungiert, sondern den Ausgangspunkt für die Gottesfrage, ja für die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt markiert. Das, was religiös im Gottesbegriff bzw. im Sein-Selbst realisiert wird, ist damit ————— 4 5

Vgl. Kap. 2.2.2. Vgl. hierzu v.a. Kap. 1.1.1 und 1.1.2.

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nicht mehr ein rein geistiger Vollzug, sondern wird universalisiert in dem Sinne, dass die religiöse Frage keine rein das Denkvermögen des Menschen betreffende ist, sondern Erfahrung miteinschließt. Nicht einfach das Denken des Menschen ist Bezugspunkt religiösen Vollzugs, sondern das Sein des Menschen als solcher, mithin sein Sich-Erfahren als Seiendes. Epistemologie muss damit verstanden werden als nicht ausschließlich vernunftmäßiges Phänomen, sondern als das, was in Tillichs metalogischer Methode ansichtig wird: als Logismus unter Inklusion eines Alogismus.6 Hierdurch wird – wie bereits weiter oben festgestellt – die Erkenntnistheorie hinausgeführt über einen rein denkerischen Prozess und vermag ob dessen auch alles nicht primär durch Denken oder gar Selbstbewusstsein Bestimmte zu erfassen: Die Universalität des ontologischen Ansatzes fußt auf ihrer epistemologischen Prämisse. Dass Epistemologie sich notwendig im Denken und damit auch im Rahmen der Kategorien des Denkens vollzieht, tut dem keinen Abbruch. Gott als das Sein-Selbst muss vom Denken bestimmt werden als absolute Seinsmächtigkeit, die allem Sein sein Sein gibt. Fraglich bleibt damit aber nach wie vor der Status des Seins-Selbst bzw. der absoluten Seinsmächtigkeit. Eine thetische Einbringung, wie sie die unsymbolische Identifikation Tillichs zu leisten droht, muss vermieden werden; gleichfalls gilt es sich von einem rein abstrakten Konstrukt7 fernzuhalten, um den Absolutheitsbegriff nicht doch letztlich wieder allein über das Denken einzuholen. Eine endgültige Lösung der Problematik ist an dieser Stelle noch nicht möglich, jedoch wird im Rahmen des Epilogs in der Gesamtperspektive eine Erklärung der Gottesproblematik beim späten Tillich aufgezeigt. Zunächst soll jedoch die epistemologische Grundlage in Tillichs frühestem und spätestem System nun auch in ihrem jeweiligen systematischen Niederschlag erhellt werden. (3) Das früheste System Tillichs gliederte sich in eine Trias von Standpunkten, die ihrerseits wiederum verstanden sein wollen als dynamisches Geschehen eines absoluten Vollzugs, der nur für das dialektische Denken in seine Momente aufgeteilt wird. Dabei ist es das letzte, dritte Moment, das in Sonderheit den Aspekt der Dynamis dadurch betont, dass es das Anheben des Aufgehobenseins der beiden ersten Momente bzw. Standpunkte in Synthesis darstellt, wobei allerdings die Einzelmomente als solche für die Dynamik notwendig in Bestand bleiben, ihre Aufhebung also ihr Zurücktreten angesichts des Prozesses meint. Dass diese Systemanordnung auch für ————— 6

Tillichs epistemologisches Vorgehen bleibt über alle Systemstadien hinweg stark an Kant orientiert, indem der Erkenntnisweg letzten Endes immer als empirischer vorstellig werden muss. Von dem, was empirisch feststellbar ist, zu abstrahieren, verbietet sich für Tillich völlig. Dies wird auch noch im Folgenden näher zu erkennen sein. 7 Die Gefahr der Abstraktheit des Gottesbegriffs erkennt Tillich selbst; vgl. ST I, 247.

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Tillichs spätes opus magnum gültig ist, wurde bereits im Anschluss an Georg Neugebauer festgehalten.8 Übertragen auf die Relation von Philosophie und Theologie bilden dabei die ersten beiden Bestandteile – formale Ontologie sowie Existenzphilosophie – den philosophischen Part, wohingegen die Theologie im engeren Sinne beide Aspekte aus der Offenbarungsperspektive zu synthetisieren sucht. Der klare Aufbau, wie ihn Tillich noch im Jahre 1913 präsentiert, weicht zwar in der Korrelationsmethode der großen Systematik einer Zweiheit von Frage und Antwort, die vordergründig Philosophie und Theologie zugeordnet werden könnten; bei genauer Betrachtung muss aber ein Festhalten Tillichs an der Standpunkttrias konstatiert werden, weil andernfalls die wechselseitige Struktur von Frage und Antwort zerstört wird. Philosophie wäre dann schlicht das metaphysische und existentialphilosophische Unternehmen, das in einem zweiten Schritt von Seiten einer positivistischen Offenbarungstheologie unterfüttert würde. Entscheidendes Moment im frühen wie im späten System Tillichs ist jedoch der Dynamikbegriff, unbeschadet dessen zwar ein Bruch zwischen Absolutem und Konkretem bzw. Sein-Selbst und Seiendem festgestellt werden muss, der allerdings diese Spaltung unter dem Aspekt der Synthesis des Unsynthetisierbaren bzw. einer Identität von Identität und Differenz in Anschlag bringt. Alle getroffenen Bestimmungen innerhalb des Systems müssen daher vom Endpunkt des Systems her, welches sich dann anschickt, aufgehoben zu werden, verstanden werden: Alles, was in Fixierung im Rahmen der philosophischen Erörterung überführt wurde, was also im reinen Sinne auf den Begriff gebracht wurde, ist theologisch als Fixation des absoluten Prozesses zu entlarven, der, sobald er seines prozessualen Charakters beraubt wird – und dies geschieht im Nachvollzug der Reflexionsdialektik –, notwendig nicht mehr wesenhaft als das erfasst wird, was er ist. Für das ontologische Konzept bedeutet dies, dass sämtliche Transzendentalia, wie sie vornehmlich in der Polarität der ontologischen Elemente9 und natürlich in der Grundstruktur von Selbst und Welt ansichtig werden, als Bestimmungen im absoluten Prozess notwendig ambivalent erscheinen müssen, weshalb sie in ihrer Bedeutung für das Konkrete eben nur Momentcharakter aufweisen dürfen.10 Anders formuliert: Aus der Perspektive ————— 8

Vgl. S. 366f Anm. 53, sowie Neugebauer, frühe Christologie, 358. Analog zu den ontologischen Elementen verhalten sich in Tillichs ‚Systematische[r] Theologie von 1913‘ die Eigenschaften Gottes; vgl. Kap. 1.3.1. 10 Nichts anderes meint Tillich, wenn er seine Ontologie eben nicht als metaphysische Setzung verstanden wissen möchte. Gerade die Apriorizität der ontologischen Begriffe, d.h. ihre fortwährende Bedeutung als Konstituenten der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt, bedeutet nicht, „daß die ontologischen Begriffe eine statische und unveränderliche Struktur der Erfahrung konstituieren, die einmal entdeckt, für immer gültig ist.“ (ST I, 197) In Einholung der kantischen Erkennt9

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eines absoluten Vollzugs ist alles nur polar Ausdrückbare letztlich nur die Anschauungsform des prozessualen Geschehens. Einzuwenden ist nun, dass die Perspektive des absoluten Vollzugs hinwiederum bereits die Einnahme des absoluten Standpunktes voraussetzt, was insofern schlechterdings negiert werden muss, als der absolute Standpunkt als reines Produkt des Transzendierungsvermögens der Reflexionsdialektik ohne Anspruch auf Realität an sich zu klassifizieren ist – ja, man wird sogar sagen müssen: dem als reines Transzendierungsprodukt Realität sogar abzusprechen ist, weil er durch seine Genese aus der Reflexion schlechterdings außerstande ist, jenseits des reflexiven Vollzugs zu liegen, da er durch ihn allererst hervorgebracht wurde. Die Falsifikation des absoluten Standpunktes durch seine Entstehung aus dem reflexiven Standpunkt erweist ihn mithin als reine Abstraktion ohne gültigen Anspruch auf konkrete Bezüge. Mit anderen Worten: Der absolute Standpunkt ist realiter nicht einnehmbar, weil er erstens nicht nur nicht ‚ist‘, sondern zweitens gar nicht von Seiten des Konkreten bzw. Reflexiven erfasst werden könnte, selbst wenn er wäre.11 Für die Ontologie bedeutet dies, dass auch sie letztlich als rein empirische bzw. phänomenologisch verfahrende Wissenschaft, eben als formale Ontologie, anzusehen ist. Damit ist es ihr zwar möglich, Aussagen über die Transzendentalbedingungen menschlicher Erkenntnis und Erfahrung zu treffen, allerdings ist sie dabei im Kant’schen Sinne limitiert und vermag es nicht, Aussagen über die von ihr gebildeten Allgemeinbegriffe hinaus zu treffen, da die von ihr hervorgebrachten Begriffe selbst abstrakt verfasst sind und nicht mehr den Anspruch auf Realexistenz erheben können. Kantisch formuliert gelangt die Ontologie in dem ihr gesteckten Rahmen bestenfalls zur Ausbildung von Postulaten, die als solche einer empirischen Kritik jedoch nicht mehr zugänglich sind. Das SeinSelbst als echten Realbegriff einzubringen wäre mithin ein unstatthafter metaphysischer Überstieg dergestalt, dass er zwar als logische Konsequenz ————— nistheorie erweist Tillich seine ontologischen Begriffe damit als gültig – aber nur im Sinne eines empirischen Vorgehens, wie es dem Menschen als unter den Bedingungen der aufgewiesenen apriorischen Bestände ermöglicht ist. Jenseits menschlicher Erfahrung kann es keine Erkenntnis geben und gibt es sie auch nicht. Jedoch ist die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung selbst ihrerseits keine festgeschriebene Größe, die nicht mit einem – freilich nicht denkbaren – Veränderungsmoment versehen werden könnte. Metaphysik ist nach Tillich mithin nicht positiv, sondern allenfalls empirisch-phänomenologisch zu vollziehen, wie er es in seiner Ontologie zu unternehmen versucht. 11 So war auch das sinntheoretische Konzept Tillichs interpretiert worden. Der absolute Standpunkt ist demnach nur ein Konstrukt für die Vorstellung; letztlich lässt sich das absolute Geschehen auf das Subjekt selbst zusammenziehen – ohne dass dabei freilich die objektivierte Vorstellung bedeutungslos würde; vgl. Kap. 2.3.2 und 2.3.3.

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gefordert und von praktischer Bedeutung ist, von ihm jedoch kein objektiver Gebrauch gemacht werden kann. Umso zweifelhafter mutet die Identifikation Gottes mit dem Sein-Selbst im unsymbolischen Verständnis bei Tillich an. Jedoch ist zunächst zu fragen, wie denn angesichts der schieren Unmöglichkeit auf reflexivem Wege zur Erkenntnis dessen zu gelangen ist, wohin Ontologie tendiert und nach was Theologie fragt. Oder mit anderen Worten: Es stellt sich die Frage nach der Möglichkeit, Zugang zu gewinnen zu den ontologischen Postulaten. Zwar muss dieser Zugriff reflexiv wahrnehmbar sein, darf aber seinerseits nicht aus der reflexiven Struktur abgeleitet, geschweige denn aus ihr generiert werden können. Entgegen der Position Kants sieht Tillich diese Möglichkeit im Paradoxbegriff gegeben, der nun allerdings nicht mehr philosophisch, sondern nur theologisch bzw. näherhin gesprochen: christologisch zu konzipieren ist. Bevor jedoch in die materialdogmatische Betrachtung übergegangen wird, gilt es noch kurz für die weitere Betrachtung der Gottesproblematik bei Tillich festzuhalten, dass die unsymbolische Identifikation von Gottesbegriff und Sein-Selbst aufgrund des bisher Erörterten nicht aus einer philosophischen Definition erwachsen kann, sondern ausschließlich theologisch zu vollziehen ist. Die Konsequenzen werden sich dann im Epilog näher formieren. (4) Der von der ontologischen Untersuchung herausgearbeiteten Seinsstruktur muss nach dem bisherigen Befund mithin jedwede unmittelbare Form der Gotteserkenntnis abgesprochen werden.12 Erst vermittels des Christus Jesus kann – dann eben von theologischer Warte aus – das, was dem Sein als Struktur zugrunde liegt, als an Gott partizipierend wahrgenommen werden und somit als Verweissymbol auf Gott fungieren. Ontologisch ist das christologische Konzept Tillichs nahezu identisch mit seinem frühesten, das sich eben dadurch auszeichnete, dass sich das Absolute unbeschadet seiner Absolutheit vollständig in das Konkrete unbeschadet dessen Konkretheit begibt. Analog lässt sich nun aussagen, dass Jesus als der Christus, mithin in seiner Absolutheit, Grund der ontologischen Struktur ist, in seinem Konkretsein jedoch unbeschadet dessen in und unter der von ihm allererst konstituierten Struktur zum Stehen kommt. Sowohl die Grundbedingung der ontologischen Struktur, Gott oder Jesus als der Christus, als auch die Konkretheit des Christus Jesus, also sein Seiender-Sein, muss dabei in vollständiger Unversehrtheit angesetzt werden. Für alle drei Systemstadien Tillichs lässt sich damit für das Phänomen des Christus Jesus allgemein und allgemeingültig – wenn man die hier vertretene Auffassung der Systemanlage Tillichs als einer transzendentalen Strukturtheorie teilt – ————— 12

Umso missverständlicher ist es auch, wenn Tillich die Seinsstruktur direkt mit Gott identifiziert.

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formulieren: Im Christus Jesus erscheint die Transzendentalursache in dem von ihr Bedingten. Damit erweist sich die Christologie Tillichs als konstantes Moment seiner Gesamttheologie, die auch in ihrer spätesten Fassung mit denselben Problemen behaftet ist, wie in den beiden anderen Stadien, nämlich dass die Frage der Historizität Jesu auf ein reines ‚Dass‘ seines Seins reduziert zu werden droht, die historischen Bestimmungsaspekte darob zurücktreten, ja nach Tillich notwendig zurücktreten müssen.13 Stellt Jesus als der Christus das Paradox der Gleichzeitigkeit von Transzendentalursache und konkret Seiendem in konkreter Form dar, so entspricht dies abstrakt-rechtfertigungstheologisch dem Umstand, dass der Mensch ontologisch gesprochen nicht seines Seins im Vollsinne mächtig ist. Zu präzisieren ist diese Aussage dahingehend, dass das Defizit des Menschen wie alles Seienden in Bezug auf die eigene Seinsmächtigkeit zunächst noch nicht als der Rechtfertigung bedürftig in Ansicht kommt, ja nicht einmal kommen darf: Seiendes zeichnet sich durch sein diastatisches Getrenntsein vom Sein-Selbst aus, oder, theologisch gesprochen: der Mensch ist schlechthin von Gott getrennt, er ist in keiner Weise Gott selbst. Der Zustand des Getrenntseins von Gott an sich bedarf mithin nicht der Rechtfertigung. Erst unter dem Vorzeichen der Sünde ist die menschliche Trennung von Gott auf Rechtfertigung angewiesen. In seiner späten Theologie belegt Tillich den Sündenbegriff mit dem der Entfremdung, die zwar nicht an sich bereits als sündhaft zu charakterisieren ist, in ihrer Ausprägung als Unglaube, hybris und Konkupiszenz aber ihr sündhaftes Signum erhellt (vgl. v.a. ST II, 52–64).14 Die Sündenlehre Tillichs bedürfte einer eigenen Untersuchung und kann hier nur schlaglichtartig abgehandelt werden; festzuhalten gilt es allerdings, dass der Mensch als seiender nicht eo ipso auch Sünder und damit auf Rechtfertigung angewiesen ist.15 Dass der Mensch jedoch de facto Sünder ist, galt es bereits für Tillich im Jahre 1913 schlicht zu konstatieren, ohne die Möglichkeit zu haben, den Sündenfall tatsächlich zu deduzieren (vgl. D §5; 337–339).16 Ontologisch gewandt bedeutet dies, dass die nicht-absolute Seinsmächtigkeit alles Seienden den Menschen vermittels der Sünde zum Bedürfnis nach Rechtfertigung seines ————— 13

Vgl. hierzu insbes. Kap. 1.3.2.3. Vgl. die Problemanzeige bezüglich der Tendenzen in der Tillich’schen Sündenlehre bei Gunther Wenz, De causa peccati. Die Lehre vom Urfaktum der Sünde in Paul Tillichs Systematischer Theologie, in: ders., Tillich im Kontext. Theologiegeschichtliche Perspektiven (Tillich-Studien, Bd. 2), Münster 2000, 265–286, und ders., Blatt, 64–66. 15 Wenngleich Tillichs Erbsündenlehre einen tendenziell fatalen Zug in die sündhafte Verfasstheit des Menschen einzeichnet, der die Unterscheidung zwischen einem ‚Naturzustand‘ des Menschen und seiner sündigen Verfasstheit weiter erschwert; vgl. dazu ST II, 64–67. 16 Vgl. auch Jean-Paul Gabus, Trinity, 63. 14

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Nicht-aus-sich-selbst-Seins führt. Psychologisch-phänomenologisch lässt sich dieser Akt nach Tillich als Angst bzw. als ontologischer Schock beschreiben. Was sich mithin abstrakt als Rechtfertigungsbedürftigkeit expliziert, findet konkret seine Entsprechung im Christusereignis. Bejahung dessen, was sündhaft von Gott geschieden ist, trotz dessen notwendiger Verneinung wird ansichtig im Paradox des Christus Jesus, der die Trennung des Unsynthetisierbaren – Sein-Selbst und Seiendes, absoluter Sinn und endlicher Sinnvollzug, absolut und konkret – in Synthesis vorstellig macht, indem er das Getrennte in stetem und ungebrochenem Bezug zu dem vorstellt, ohne den Trennung überhaupt nicht denkbar ist. Dogmatisch sagt dies das Freisein Christi von jeder Sünde aus, was bedeutet, dass die Trennung zwar sehr wohl statthat, aber nicht in der Weise, dass sie zur Entfremdung zu führen vermag. Das Paradox des Christus Jesus und die Rechtfertigung sind damit letztlich identisch, insofern Rechtfertigung immer paradox und das Paradox das Vollzogenwerden der Rechtfertigung ist. Diese Konzeption bleibt, wie gesehen, über Tillichs Systemstadien hinweg konstant, so dass Glaube als Rechtfertigungsvollzug und Offenbarung als Ansichtigwerden des Paradoxes ihre wechselseitige Entsprechung aneinander finden. – Die Frage nach der Statthaftigkeit des Tillich’schen Gotteskonzepts ist damit nach wie vor unbeantwortet. Eine Klärung dieser offenen Frage ist erst im Rahmen des Epilogs möglich, wo die Systemstadien Tillichs aufeinander bezogen werden. Zunächst gilt es jedoch noch Tillichs sinntheoretisches Konzept mit seinem ontologischen in Beziehung zu setzen.

3.3.2 Ontologie und Sinntheorie Bereits der zweite Hauptteil dieser Untersuchung bestimmte das Verhältnis der Sinntheorie Tillichs, die sich gegen und v.a. nach dem Ende des ersten Weltkrieges herausbildet, zu seinem früheren wahrheitstheoretischen Stadium als Präzisierung.17 Daran anknüpfend bedarf es nach der Erörterung der Relation zwischen Ontologie und Wahrheitstheorie Tillichs nun das Verhältnis von ontologischem und sinntheoretischem Stadium betreffend eher einer Ergänzung des vorhergehenden Unterkapitels denn eines kompletten Neuansatzes. In Sonderheit gilt es deshalb das Charakteristikum des sinntheoretischen Systemansatzes Tillichs, namentlich den prinzipiellen Zweifel und die aus ihm resultierende, zu ihrer eigentlichen Vollendung gelangte Subjektivität, näher zu betrachten. Verbunden mit dieser epistemologischen ————— 17

Vgl. die Überschrift zu Kap. 2.

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Modifikation ist theologisch eine Präzisierung des Gottes- sowie des Glaubensbegriffs, die beide in ihrem Verhältnis zur Ontologie des späteren Tillich zu erörtern sind. Bereits im Briefwechsel mit Emanuel Hirsch aus den Jahren 1917 und 1918 zeichnet sich die Unhintergehbarkeit des prinzipiellen Zweifels ab, der im System von 1913 noch als Randphänomen behandelt tendenziell im Wahrheitsbegriff aufgehoben vorstellig wurde. Manifest wird dieser Ansatz einer Unausscheidbarkeit des Zweifels aus dem Prinzip selbst in den systematischen Ausführungen in Tillichs Schrift ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ von 1919. Zweifel an jedweder extrasubjektiven Instanz ist Tillich seit dieser Zeit nicht nur nicht ausscheidbares Element jedweder theologischen Bemühung, sondern sogar Zentrum jeglicher ernstzunehmender Theologie, die den Menschen als solchen, mithin als Subjekt, in den Blick nimmt. Die durch den ins Prinzip aufgenommenen und damit prinzipiellen Zweifel zu ihrer höchsten Ausprägung gelangte Subjektivität der Selbstheit führt Tillich zu dem Konzept eines ‚Glaubens ohne Gott‘, womit nichts anderes bezeichnet ist als das konsequente Ernstnehmen der Verfasstheit des Menschseins, was noch 1913 als relativer Standpunkt eingeführt wurde. Damit kommt nun auch das zur Vollendung, was in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ als notwendige Konsequenz des Reflexionsstandpunkts ob seines schlechthinnigen Geschiedenseins vom Absoluten und der Unmöglichkeit, aus eigenem Vermögen diese Diastase zu überwinden, für den Standpunkt konstatiert wurde, nämlich der konsequente Atheismus.18 Dabei ist ein atheistischer Ansatz nicht so zu verstehen, als wäre damit eo ipso Gottlosigkeit verbunden; im Gegenteil ist das atheistische Vorgehen der Theologie insofern von Nutzen, als sie von jeglichem verobjektivierten Gottesbegriff – das ist das ‚a-theistische‘ an Tillichs Ansatz – gereinigt wird, wodurch einerseits Denken sich selbst treu bleibt und andererseits die Gottheit Gottes nicht herabgezogen wird in und somit unter die Denksphäre.19 Atheismus ist für Tillich demnach die sich aus dem Identitätsprinzip des Denkens ergebende Konsequenz – bei der natürlich als solcher nicht stehengeblieben werden darf, auch und gerade nicht vom konsequenten ————— 18

Vgl. A §20; 314. Vgl. Carl Heinz Ratschow, Protestantisches Prinzip und religiöser Atheismus bei Paul Tillich, in: Bernd Jaspert/Carl Heinz Ratschow, Paul Tillich. Ein Leben für die Religion, Kassel 1987, 57– 81, hier: 77: „Letztlich geht es Paul Tillich […] um die deutliche Markierung der Ungegenständlichkeit Gottes. Gott ‚ist‘ nicht, denn er ist kein Ding unter Dingen.“ Ratschow (ebd., 78) beruft sich dabei zu Recht auf Tillichs Schrift ‚Das religiöse Symbol‘ von 1930 (in: GW V, 196–212), wo Tillich aussagt: „Es ist die religiöse Funktion des Atheismus, immer wieder daran zu erinnern, daß es im religiösen Akt um das Unbedingt-Transzendente geht und daß die Vertretungen des Unbedingten nicht Gegenstände sind, über deren Dasein oder Nichtdasein eine Diskussion möglich wäre.“ (GW V, 207) 19

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Denken. Seine Berechtigung speist der Atheismus, der damit in dem angeführten Verständnis immer momenthaftes Element von Theologie ist und sein muss, durch die Abwehr eines sacrificium intellectus sowie einer pseudoreligiösen Ansetzung des Gottesbegriffs. Wird nun jeglicher objektive Bestand, mithin alle Positivität, aus dem Gottesbegriff ausgeschieden,20 so sind religiöse Bezüge allenfalls einholbar über das immer als solches erfahrene Vermitteltsein subjektiver Unmittelbarkeit in der Genese von Subjektivität selbst. D.h. der Gottesbegriff lässt sich zwar nicht rein rational herleiten – davon nimmt Tillich durch sein Atheismuskonzept eben deutlich Abstand –, jedoch taucht das religiöse Moment bereits im Vollzug von Selbstheit, ja genau genommen im Nachvollzug ihrer Konstitution auf, so dass Religion zunächst ansichtig wird im Faktum des steten und fortwährenden Vermitteltseins subjektiver Unmittelbarkeit. Für den Tillich der ontologischen Phase wird – wie auch schon in Bezug auf die Wahrheitstheorie gesehen – diese epistemologische Beschränkung dahingehend aufgebrochen, dass nicht mehr Subjektivität an sich, sondern die schiere Faktizität des Seins bzw. präziser gesprochen: des Seinsvollzugs als stetes und fortwährendes Sich-Gegebensein das Vermitteltsein unmittelbaren Seins evoziert. Dass dieser Religionsansatz, um nicht in Abstraktheit zu depravieren und in Intransigenz zu verharren, überführt werden muss in eine konkrete Fassung, die dann wiederum mit Objektivationen arbeitet, wurde bereits im Rahmen der Sinntheorie Tillichs eingehend erörtert und braucht deshalb hier nicht wiederholt zu werden.21 Zu fragen ist allerdings in Bezug auf Tillichs ontologische Systemausprägung, welcher Status den Objektivationen, die von der ‚Vermittlungsinstanz‘ im Seinsbzw. Sinnvollzug anheben, also der ‚absoluten Seinsmächtigkeit‘ bzw. dem Sein-Selbst, zuzusprechen ist. Im Jahre 1919 setzt Tillich das Unbedingte nicht als Sein oder gar Seiendes, sondern als Sinn bzw. genau genommen als das die Sinnsphäre Setzende an. Gleiches lässt sich für den Gottesbegriff im ontologischen Konzept aussagen, wenn das Sein-Selbst ebenfalls transzendental verstanden wird als die Instanz, die allererst die Seinsebene als solche konstituiert. Problematisch bleibt allerdings nach wie vor die unsymbolische Ineinssetzung von Gott und Sein-Selbst, die Tillich in seiner ‚Systematische[n] Theologie‘ vornimmt. Tendenziell mutet der Ansatz von 1919 zwar ähnlich an, wenn Tillich das Unbedingte mit dem absoluten Sinn und letztlich mit Gott identifiziert – allerdings werden diese Identifikationen bereits dezidiert unter dem Vorzeichen der Objektivationen ausgesagt, ————— 20

Würde ein solch objektiver Bestand angesetzt, so käme es just zu dem, was Tillich eben als ‚Werk‘ im Glauben schlechterdings verabschieden muss; vgl. Kap. 2.2.2. 21 Vgl. besonders Kap. 2.3 und 2.4.

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was aber bedeutet, dass eine direkte Bezugnahme von absolutem Sinn und Gott für Tillich in seinem Sinnkonzept noch als unstatthaftes Unterfangen abzulehnen ist. Jedoch zeichnet sich der Gottesbegriff des ‚Gottes über Gott‘ aus Tillichs Sinntheorie gerade dadurch aus, dass er zwischen Anschauung und Begriff oszilliert, damit jenseits von Gegenständlichkeit und Nicht-Gegenständlichkeit zu verorten ist und somit weder in reiner Abstraktheit noch in seiner konkret verobjektivierten Form einzuholen ist, sondern sich beidem in Form eines ‚weder – noch‘ und eines ‚sowohl – als auch‘ entzieht.22 Gerade hierin eröffnet die unsymbolische Identifikation des Gottesbegriffs und des Begriffs vom Sein-Selbst beim späten Tillich ein eklatantes Problemfeld. Bevor also der Status der Objektivationen bei Tillich geklärt werden kann, muss ein Doppeltes einer Antwort zugeführt werden: Wie ist die unsymbolische Identifikation von Gott und Sein-Selbst zu verstehen? Dies ist jedoch nur eruierbar unter der Klärung einer zweiten Frage: Was ist überhaupt Objektivation in Tillichs später Theologie und was die Instanz, von der die Objektivation ausgeht? Oder anders formuliert: Fungiert das Sein-Selbst als Objektivation der Vermittlungsinstanz von Sein oder ist es als diese Instanz selbst gedacht? Da Unbedingtheitserfahrung bei Tillich ausschließlich vermittels des Glaubensbegriffs eingeholt werden kann, bedarf es zur Klärung der aufgeworfenen Fragen zunächst eines Blicks auf das Glaubenskonzept Tillichs in seinem sinntheoretischen und in seinem ontologischen Stadium. Für die Sinntheorie wurde im Anschluss an Folkart Wittekind Glaube bei Tillich nicht als Glaube an etwas,23 sondern als Vollzug der Rechtfertigung verstanden, d.h. als nicht nur, aber auch reflexiv verfasstes Aufgehen des Vermitteltseins des Selbst; oder von der anderen Seite aus betrachtet: Unter Absehung vom eigenen Vermitteltsein erkennt sich Selbstheit notwendig in ihrer schlechthinnigen Nichtigkeit. In seiner ‚Systematische[n] Theologie‘ der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts unterscheidet Tillich eine formale und eine materiale Definition des Glaubens: Formal, d.h. „jede Art von Glauben in allen Religionen und Kulturen“ umfassend, ist Glaube „der Zustand des Ergriffenseins durch das, worauf sich die SelbstTranszendierung richtet: das Unbedingte in Sein und Sinn. Auf eine kurze ————— 22

Vgl. dazu Tillichs Ausführungen von 1930 in ‚Das religiöse Symbol‘: „Die göttlichen Wesen und das höchste Wesen, Gott, sind Vertretungen des im religiösen Akt Letztgemeinten. Sie sind Vertretungen; denn das Unbedingt-Transzendente geht über jede Setzung eines Wesens, auch eines höchsten Wesens, hinaus. Sofern ein solches gesetzt ist, ist es im religiösen Akt auch wieder aufgehoben.“ (GW V, 206f) 23 Die Tendenz des Glaubens an das Absolute haftet – bei allen entgegenstehenden Momenten – noch der Systematik von 1913 an, die dann ab 1917/18 durch die Einführung des prinzipiellen Zweifels überwunden wird.

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Die ontologische Gestaltung des Systemprinzips

Formel gebracht, kann man sagen: Glaube ist Ergriffensein durch das, was uns unbedingt angeht“ (ST III, 155). Material betrachtet ist Glaube für Tillich „der Zustand, in dem der Mensch vom göttlichen Geist ergriffen und für die transzendente Einheit unzweideutigen Lebens geöffnet ist.“ (ST III, 156) Lässt sich die materiale Definition des Glaubens zwar beziehen auf das Ereignis des Christus Jesus, so ist dieser Schritt zwar christlich notwendig, jedoch macht auch die materiale Definition letztlich eine allgemeinreligiöse Größe ansichtig.24 Beide Glaubensdefinitionen sind somit von Tillich als mit Allgemeingültigkeit, d.h. nicht mit spezifisch christlichen Elementen konnotiert, bestimmt, woraus sich schließen lässt, dass die Glaubensdefinition Tillichs hier aus der Perspektive einer absoluten Religion, ähnlich derjenigen in den Prolegomena der Glaubenslehre Schleiermachers, vorgenommen ist. Die noch ausstehende Klärung der Begriffe in Tillichs Glaubensdefinitionen verrät zugleich den Bezug zur Definition von 1919: Transzendente Einheit unzweideutigen Lebens meint nun nichts anderes als das, was früher unter einem gerechtfertigten Leben vorstellig zu werden hat, weil Zweideutigkeit in Anwendung auf den Lebensbegriff dessen stetes Rechtfertigungsbedürfnis, mithin die Gleichzeitigkeit von Bejahung und Verneinung, vorstellig macht. Einheit in transzendenter Dimension bezeichnet also gewissermaßen die Identität von Identität und Differenz, die unter Differenzbedingungen relativer Verfasstheit niemals statthaben kann – außer im als Rechtfertigungsvollzug verstandenen Glauben, der eben die absoluten Kriterien in Anschlag bringt auf das, was schlechterdings relativ ist. Mit anderen Worten: Der Begriff des Transzendenten macht die Absolutheit des Geschehens,25 der der Einheit die ebenfalls absolute Synthesis des Unsynthetisierbaren ansichtig. Konsequenz daraus ist die Unzweideutigkeit des Lebens, das als solches damit seiner relativen – immer zweideutigen – Bezüge enthoben ist und aus absoluter Warte betrachtet wird. Kurz gefasst: Glaube ist immer paradox, weil er das Absolute in Anwendung oder präziser gesprochen: in anhebender Anwendung auf das Konkrete vorstellt. Dass es sich hierbei jedoch um nichts anderes handelt als den Vollzug der Rechtfertigung, als welcher der Glaube 1919 von Tillich defi————— 24

„Glaube als der Zustand, vom göttlichen Geist geöffnet zu sein für die transzendente Einheit unzweideutigen Lebens, ist eine allgemeingültige Definition und nicht auf das Christentum beschränkt.“ (ST III, 156) 25 Als transzendent bzw. absolut oder transzendental, also die Struktur des Selbstvollzugs allererst konstituierend, verfasst ist der Glaubensbegriff bei Tillich eindeutig angelegt. Deshalb will er ihn gerade nicht herabgezogen wissen in die relative Sphäre der Reflexion: „Glaube als Überwindung der Konflikte und Zweideutigkeiten im Leben des Geistes durch den göttlichen Geist darf nicht mit intellektueller Zustimmung zu Aussagen verwechselt werden, die sich auf Vorgänge im Bereich der Subjekt-Objekt-Struktur der Wirklichkeit beziehen.“ (ST III, 156)

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niert wurde, dürfte evident sein. Glaube ist damit – und dies lässt sich durchaus auch für Tillichs Theologie nach dem ersten Weltkrieg veranschlagen – punktuelle und nicht vollendete Prolepse dessen, was in Tillichs Nomenklatur für das ‚Neue Sein‘ zutrifft, welches eben eine Überwindung der Zweideutigkeit des Lebens bzw. der Relativitäten von Seinsvollzügen in der Identität von Identität und Differenz vorstellig macht. Woher nun der Glaube allererst anzuheben vermag, was mithin die Quelle seines Ursprungs realiter ist, wird im Konzept zu einer sekundären, die Objektivationen des Unbedingten einschließenden und somit durchaus konstitutiven Fragestellung, die nur vom konkreten Moment, dem Jesus als der Christus, aus beantwortet werden kann.26 Als vollkommene Prolepse der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens, mithin als das Neue Sein selbst, ist der Christus Jesus glaubenskonstituierend trotz und in seinem mit seiner Konkretheit notwendig gegebenen Vermitteltsein und seiner daraus resultierenden prinzipiellen Absolutheit, wie sie in dieser Untersuchung benannt wurde. Das, was im Glauben antizipiert wird, ist dasselbe wie das, was im Neuen Sein des Christus Jesus zum Ausdruck kommt: die transzendente Einheit unzweideutigen Lebens oder: die Rechtfertigung des Relativen. Glaube ist daher die Antizipation dessen, was in Jesus Christus proleptisch konkret wurde und in der Hoffnung zur Vollendung kommt, nämlich die Überwindung der Diastase des in-Identität-stehenden Getrennten. Damit ist nun aber die Frage nach dem Status des Seins-Selbst bzw. danach, ob es sich bei ihm um eine Objektivation handelt oder nicht, aus dem Glaubensbegriff nahezu gegeben: Auch in der ‚Systematische[n] Theologie‘ ist der Glaubensbegriff als objektloser konzipiert, so dass er sich schlechterdings auf nichts zu richten vermag außer auf das, was er ist, nämlich Vollzug der Rechtfertigung. Der konkrete Christus Jesus sowie das zur – wie Tillich selbst zugibt – Abstraktheit neigende Konzept eines SeinsSelbst muss mithin denselben Status einnehmen, wie es jedwede Form von Absolutheit im Rahmen der Sinntheorie tat, um nicht aporetisch zu werden. Demnach ist der Christus Jesus wie auch das Sein-Selbst als Objektivation dessen zu bestimmen, was im Glauben die Vermittlungsinstanz jedweder Entität vorstellig macht. Aussagen über das Sein-Selbst – für den Christus trifft derselbe Befund schon seit 1911 gleichbleibend zu – sind damit immer ————— 26

Auf die Frage hin, was der Glaube verbürge, kann Tillich dann auch nur antworten, „daß der Glaube nur sein eigenes Fundament verbürgen kann, nämlich das Erscheinen jener Wirklichkeit, die den Glauben erzeugt hat.“ (ST II, 124) Dass Tillich damit nicht einem Schluss von der Wirkung auf die Ursache stattgibt, wurde bereits eingehend anhand der Relation von Glaube und Offenbarung diskutiert, weshalb dafür auf die Kapitel 1.3.2.1, 1.3.2.3 sowie 2.4.2 verwiesen sei, wo der Lösungsvorschlag für Tillichs Systementwurf im Rahmen einer Strukturanalogie eingeführt wird.

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getroffen aus der Perspektive konkreter Religion.27 Dieses Ergebnis gilt es nun dezidiert als Zwischenergebnis festzuhalten, das im nachfolgenden Epilog noch eine weitere Ausdifferenzierung und Problematisierung erfahren muss. Trotz des eben Konstatierten scheint sich die späte Systematik Tillichs doch näher zu seinem frühesten ausgeführten Konzept zurückzubewegen, als dies noch im Rahmen der Wahrheitstheorie möglich war. Die wieder deutlicher statthabende Konzentration auf die Christologie – die bezeichnenderweise die Mitte seiner fünfteiligen Systematik bildet und den zweiten der drei Bände umfasst – als dem konstituierenden Moment für Glaube überhaupt steigert die Bedeutung des Christus Jesus über eine tendenziell exemplarische Funktion in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg hinaus. Allerdings hat dies auf der dezidierten Grundlage des Ertrags der Sinntheorie statt, insofern die Aufnahme des prinzipiellen Zweifels ins System weiterhin konstitutiver Bestandteil desselben ist und bleibt; gleichfalls ist das damit für den Gottesbegriff festgestellte Oszillieren zwischen Unbedingtheit und abstrakter wie konkreter Objektivation weiterhin Charakteristikum der Systemanlage auch nach dem zweiten Weltkrieg. Pointiert gesprochen bewegt sich Tillich bei seiner Systembildung innerhalb zweier aporetischer Pole: Auf der einen Seite ist dies die Tendenz zur metaphysischen Setzung, wie sie noch im System von 1913 im Rahmen idealistischer Gedankenbildung zumindest ansatzweise in Geltung steht, auch wenn – wie gesehen – selbst dieses System nicht direkt mit dem Vorwurf einer neuen, nachkantischen Metaphysik belastet werden darf, weil es ihm ja gerade darum zu tun ist, diesen Fehler zu vermeiden – wenn auch mit nicht ausreichendem Erfolg. Auf der anderen Seite neigt Tillichs Systemkonzeption zur subjektivistischen Willkür, was sich am deutlichsten in den ab dem ersten Weltkrieg anhebenden Ansätzen seiner Sinntheorie und in Sonderheit der Ausarbeitung einer Theologie der Kultur abzeichnet.28 Selbst hier wird zwar nicht ————— 27

Dies erhellt nicht zuletzt auch daraus, dass Tillich die problematische Identifikation Gottes mit dem Sein-Selbst im Rahmen einer phänomenologischen Beschreibung (vgl. die Überschrift in ST I, 247) vollzieht, Phänomenologie aber niemals den Anspruch auf die Absolutheit ihres Befundes zu erheben vermag. 28 Falk Wagner umschreibt diese Annäherung Tillichs an eine subjektivistisch-solipsistische Position im Rahmen der Sinntheorie als Aporiequelle, die Tillich gerade zu vermeiden suche: „Die auf die Spitze getriebene Autonomie suspendiert also gegebenen Sinn zugunsten rational konstruierten Sinnes; sie ist Sinnformung um der Formung, das Geltendmachen von Selbständigkeit um ihrer selbst willen. Als Selbstkonstitution um ihrer selbst willen erschöpft sie sich im reproduktiven Umgang mit sich selbst; sie ist daher leeres Kreisen um sich selbst.“ (Wagner, Absolute Positivität, 176) Just dies führe nach Wagner hinein in eine „Haltung der Heteronomie“ (ebd.), die eine Hypostasierung konkreter Sinnformung vornehme. Damit verfehle die Autonomie aber ihr genuines Ziel, das sich gerade nicht in einem reproduktiven, sondern in einem „produktiven Umgang der Autonomie mit sich selbst“ (ebd., 179), also im steten sich selbst durchsichtigen

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abgesehen von den Objektivationen dessen, was sich der Verobjektivierung schlechterdings entzieht, ja den Objektivationen ist sogar konstitutive Funktion zuzusprechen; allerdings vollzieht der sich als Kulturtheologe verstehende Tillich der beginnenden zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts letzteres eben nicht in der gewünschten und notwendigen Klarheit,29 so dass seine an sich unproblematische Systemanlage in der von Tillich vorgenommenen Entfaltung dem zweiten Aporiepol nicht völlig zu entkommen vermag. Die späte, ontologische Systemanlage scheint nun beide Extreme vermeiden und sich vielmehr in der ‚Mitte‘ zwischen der Skylla idealistischer Provenienz und der Charybdis einer subjektivistischen Willkür bewegen zu wollen. Allerdings ist es gerade die späteste Systemkonzeption Tillichs, der aufgrund ihrer Mittelposition die größte Begriffsunschärfe innewohnt, so dass das Unternehmen, beide Aporiepole zu vermeiden, in Anlage seiner Begriffe – aufgezeigt wurde dies in Sonderheit am Begriff des Seins-Selbst – zu neuen, unnötigen Missverständnissen führt, die nur durch eine Interpretation des Tillich’schen Textes ausgeräumt werden können. Nach dieser tendenziellen Problematisierung des sonst hier im Aufzeigen der groben Systemlinien eher harmonisierenden Ansatzes der Tillichinterpretation sollen nochmals einige zentrale Anfragen an das ontologische Konzept Tillichs aus der Perspektive der Sinntheorie gestellt und wiederum auf die Strukturtheorie als Lösungsansatz verwiesen werden, bevor im Epilog alle Linien zusammengeführt werden. Da der Zweifel in Tillichs System auch bis hin zu seiner letzten Ausprägung integrales Moment bleibt, ist auch der Glaubensbegriff so verfasst, dass sein Depravieren zu einer solipsistischen Form der securitas nicht anzusetzen ist. Statt des Zweifelsbegriffs – der jedoch gleichfalls in Bestand und Verwendung bleibt – übernimmt in ontologischer Nomenklatur der Begriff der Angst nahezu dieselbe Funktion, indem es nun nicht mehr allein Zweifel am Sinn ist, der die Selbstheit des Selbst gefährdet, sondern darüber hinaus die schlichte Nicht-Aseität jedweder Entität, die alles Seiende im Rahmen des ontologischen Schocks zur Konstatierung der eigenen, nur bedingten Seinsmächtigkeit treibt. Das Ansetzen einer absoluten Seins————— Vollzug ihres Sich-Gegebenseins äußere. Damit ist aber letztlich Theonomie bezeichnet, die Wagner definiert „als Entfaltung der Selbstgegebenheit“, die als solche „Ausdruck für das SichGegebensein der Autonomie“ ist (ebd.). 29 Martin Harant spricht von einer „Leere dieses [sc. des absoluten] Glaubens“ (Harant, Religion, 185) in Tillichs kulturtheologischem Konzept. Allerdings beobachtet er diese Leere in Sonderheit die späte Fassung in ‚Der Mut zum Sein‘ betreffend. Harant geht davon aus, dass Tillich tatsächlich der angesprochenen aporetischen Tendenz anheim falle (vgl. ebd.), würdigt jedoch Tillichs grundsätzliche Einsicht (vgl. ebd., 186).

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mächtigkeit in der Form, wie es noch 1913 möglich war, muss als der Angst bzw. dem Zweifel an einer solchen Setzung unterliegend systematisch verabschiedet werden, so dass auch das Angstmoment unausscheidbares Element gläubigen Vollzugs bleibt. Offen bleibt jedoch weiterhin, wie dies mit Tillichs Begriff des Seins-Selbst tatsächlich vereinbar ist. Zwar ist er – wie oben festgestellt – sicherlich nicht in Gestalt einer rein unbedingten Form, sondern in Richtung auf eine Objektivierung hin zu verstehen, jedoch eignet ihm nicht die begriffliche Klarheit des Konzepts von 1919, so dass ein letztgültiges Urteil nicht zu fällen ist – zumal Tillich in ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ einen ontologischen Schluss auf Gott aufgrund des damit verbundenen notwendigen Realismus des Gottesbegriffs ausschließen möchte (vgl. EW X, 205 Ts). Freilich ist das Ontologieverständnis Tillichs in der späten Systematik nicht ein derart metaphysisch aufgeladenes wie das des Tillich im Jahre 1919, nichtsdestoweniger neigt der Ansatz seiner Spättheologie in diese problematische Richtung. Was für die Sinntheorie Tillichs nur in eigener, von Tillichs selbst durchgeführter Explikation abweichender Lösung in Form einer Strukturanalogie durchzuführen versucht wurde,30 findet nun allerdings in der späten ‚Systematische[n] Theologie‘ dahingehend eine von Tillich selbst angesetzte Bestätigung, dass die Christologie nahezu unverändert angelegt ist wie schon in den Jahren 1911 und 1913. Die Strukturanalogie der beiden Verobjektivierungen abstrakter wie konkreter Art weisen mithin dieselbe Struktur auf, wie die eigene Selbstheit bzw. – in ontologischer Erweiterung gesprochen – wie die jeder Entität anwesende und ihr zugrundeliegende Seinsstruktur, innerhalb derer sie sich zu entfalten vermag. Was sinntheoretisch also noch einer rein selbstinternen Explikation zugeführt wurde, ist nun auch für alles Seiende an sich behauptbar, nämlich dass die Objektivationen dessen, was transzendentaler Grund der Objektivationen wie der Selbst-Welt-Struktur ist, in derselben Weise gleichzeitig vermittelt und unmittelbar sind, wie dies auch das Selbst bzw. alles Seiende ist. Konkret angewandt auf den Christus Jesus bedeutet dies, dass er als Seiender zwar völlig konkret und mithin stetig vermittelt in seiner Unmittelbarkeit als seiendes Selbst ist, dass er aber gleichzeitig als transzendentale Ursache dessen, worin er sich konkret befindet, jenseits von Vermittlung und Unmittelbarkeit steht, ihm mithin prinzipielle Absolutheit zuzusprechen ist. Im Christus Jesus hat selbstverständlich das Vermittlungsmoment insofern besonders bestimmt zu werden, als es als stetiges gedacht werden muss, ja der Christus trotz und in seinem Jesussein immer als der in seinem Vermitteltsein Stehende vorstellig wird. Gleiches gilt in Bezug auf die Unmittel————— 30

Vgl. Kap. 2.4.2, wo der Ansatz in Ausführlichkeit vorgestellt wird.

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barkeit auszusagen für das Sein-Selbst, das schlechterdings in die Nähe des Pols absoluter Unmittelbarkeit zu rücken sich anschickt, ihn als Objektivation jedoch nicht erreicht. Unklar bleibt aber noch, ob Tillich den Begriff des Seins-Selbst tatsächlich in der eben explizierten Form verstanden wissen möchte. Dass dies zur Aporievermeidung seines Ansatzes notwendig ist, dürfte unbestreitbar sein; offen ist allerdings, ob das Sein-Selbst tatsächlich von Tillich als reine Verobjektivierung des transzendentalen Grundes von Selbst und Welt, mithin dem, was – sinntheoretisch gesprochen – sich wesenhaft der begrifflichen Fixierung entzieht, entspricht. – Näherhin sei das bereits Konstatierte nicht wiederholt. Der die Untersuchung beschließende Epilog widmet sich nun der Zusammenführung der Linien, die sich in den drei Stadien abzeichneten sowie einer erneuten, abschließenden Diskussion des Begriffs vom Sein-Selbst, nun jedoch aus der weiteren Perspektive aller drei Systemstadien.

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Epilog: Tillichinterpretation im Rahmen einer transzendentalen Strukturtheorie

Dieser Epilog, welcher die gesamte Untersuchung der Systemstadien Tillichs beschließt, versteht sich – wie schon die Kapitel 3.3.1 und 3.3.2 – nicht als Fazit in dem Sinne, dass resümierend die Ergebnisse der einzelnen Hauptabschnitte wiederholt würden. Vielmehr ist es Anliegen dieser Schlussbemerkungen, die Perspektive zu erweitern und aus dem Gesamt der Tillich’schen Theologie einen Blick auf die Bedeutung der jeweiligen Systemstadien in der Theologie Tillichs zu werfen. Dass es sich dabei um eine pointierende Darstellung handelt, die auf den Erkenntnissen der drei Hauptteile der Arbeit fußt, diese jedoch ungenannt voraussetzt und somit nicht erneut ins Detail geht, dürfte ob der Stofffülle ein nachvollziehbares und sinnvolles Vorgehen sein. Prozediert wird dergestalt, dass zunächst (1) ein Blick auf alle drei Stadien der Systembildung Tillichs geworfen wird. Sodann wird (2) eine Theorie der Tillichinterpretation vorgestellt, die gerade die aporetischen Momente der Einzelstadien aufgrund ihrer speziellen Perspektivität als unvermeidlich, ja als systemkonstitutiv zu erweisen sucht. Im Anschluss daran (3) gilt es aus diesem globalen Spektrum heraus die noch nicht befriedigend beantwortete Frage nach dem Status des Seins-Selbst in der späten ‚Systematische[n] Theologie‘ Tillichs einer Antwort zuzuführen. Nach dieser Klärung (4) werden die Stadien nochmals ins Verhältnis gesetzt, um trotz und in ihrer Verschiedenheit ihr gemeinsames Anliegen zu bestimmen. (1) Zunächst seien rekapitulierend die einzelnen Systemstadien Tillichs charakterisiert: Tillichs erstes ausgeführtes System, die ‚Systematische Theologie von 1913‘, zeichnet sich durch einen stark metaphysisch geprägten Ansatz idealistischer Provenienz aus. Dabei ist jedoch der Fokus auf eine Systemanlage gerichtet, die rein epistemologisch aufgebaut ist, d.h. die sich primär auf den abstrakten Tatbestand richtet und diesen zum leitenden Moment des Gesamtkonzepts erhebt.1 Der sinntheoretische Ansatz hinwie————— 1

Zwar ist Georg Neugebauer darin zuzustimmen, dass Tillich schon in seinen Thesen von 1911 „die Konstitution der Gottesbeziehung nicht intellektualistisch begreift“ (Neugebauer, frühe Christologie, 225), weshalb Religion für Tillich weder intellektualisierend, noch ethisierend, noch ästhetisierend verstanden werden dürfe. Jedoch neigt Tillich in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg stark zu einer primär abstrakten Zugangsweise, welche sich in seiner Fokussierung auf

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Epilog

derum, dessen man v.a. in den Schriften des Jahres 1919 ansichtig wird, weist eine deutlich ausgeprägtere Distanz gegenüber dem spekulativen Absoluten auf, das durch das Aufbrechen des prinzipiellen Zweifels samt seinem konkreten Pendant in den Status einer – allerdings notwendigen – Objektivation überführt wird. Damit erhält auch die Christologie als mit objektivierten Sachbeständen arbeitend eine andere Stellung im System, als dies noch 1913 der Fall war, ohne dass dabei jedoch das christologische Konzept Tillichs eine Veränderung erfahren würde. Mit der einhergehenden Konzentration auf das Subjekt als Medium jeglichen theologischen Verfahrens bleibt Tillich zwar einer Erkenntnistheorie treu, stellt diese jedoch stärker auf den Erfahrungs- bzw. Erlebnisbegriff des Unbedingten um. Demgegenüber setzt das ontologische Stadium mit der universaleren Kategorie des Seins an. Damit gilt es nicht nur reflexive und selbstbewusste Entitäten zu erfassen, so dass nicht schlicht die Erkenntnisfähigkeit, sondern das Verfasstsein als Seiendes den modus procedendi vorgibt. Ziel wird somit der Versuch, Episteme und Erfahrung zusammenzudenken im Seinsbegriff selbst, der sich in der allem Seienden anwesenden Seinsstruktur expliziert. Allen Systemstadien gleich ist ihr Aufbau aus drei Momenten, der in dieser Untersuchung eingehend herausgearbeitet wurde und wofür im Einzelnen auf die jeweiligen Hauptkapitel zu verweisen ist. So haben alle drei Stadien der Systemkonzeption Tillichs trotz ihrer identischen Struktur einen eigenen Schwerpunkt, wie im Rahmen der Kurzcharakteristik nochmals deutlich wurde: Die Wahrheitstheorie hat es vornehmlich mit abstraktobjektiven Belangen zu tun, wohingegen die sinntheoretische Systemausprägung den Fokus in Sonderheit auf die konkret-subjektive Position legt. Die Ontologie hinwiederum strebt eine korrelative Verbindung beider Punkte an und sucht sie in ihrer Differenz ins Absolute zu überführen.2 Die Untersuchungsergebnisse zu den Einzelstadien laufen somit auf einen Punkt zu, nämlich dass das, was jedes Systemstadium intern expliziert, auch prinzipiell auf die Theologie Tillichs übertragen werden muss. Zugespitzt als These formuliert heißt das: Die Stadien der Systembildung Tillichs müssen selbst als Momente seiner Theologie verstanden werden. Andernfalls ist eine adäquate Interpretation der Einzelstadien, ja der Einzelsysteme nicht möglich. ————— denkerische Vollzüge niederschlägt. Gleichsam ist dies dahingehend zu relativieren, dass sich Erkenntnistheorie für Tillich niemals in der reinen ratio erschöpft. 2 Trotz der jeweiligen Spezifikation der Einzelstadien behandeln sie allerdings immer auch die anderen beiden, für sie nicht im Fokus stehenden Momente mit – jedoch eben dezidiert von einer bestimmten Position aus.

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Tillichinterpretation im Rahmen einer transzendentalen Strukturtheorie

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(2) Von entscheidender Bedeutung für diese These ist der Zentralbegriff des Momentes, den es in streng Tillich’schem Verständnis aufzugreifen gilt: Werden somit die Stadien als Momente verstanden, so bedeutet dies, dass sie nicht additive Elemente eines übergeordneten ‚Systemsystems‘ sind, das erst in summarischer Einheit zu seiner Vollendung gelangt; vielmehr im Gegenteil steht hinter den Einzelstadien kein weiteres System, sondern die Stadien sind jeweils das ganze System – jedoch immer unter einer bestimmten Perspektive betrachtet. Fragt man nach der Notwendigkeit, die Einzelstadien als Momente zu begreifen, so liegt diese im Ansatz der Theologie Tillichs selbst begründet: Theologie muss notwendig vom Konkreten, von der Reflexion her ihren Beginn nehmen; der reflexive Standpunkt ist unhintergehbare Operationsbasis theologischen Bemühens für Tillich.3 Jedweder andere Beginn opfert gerade das, was Menschsein in höchster Ausprägung ausmacht, nämlich das Geistsein in reflexiver Verfasstheit. Ist der Standpunkt für Tillich somit ausgemacht, so ist das, was von ihm aus betrachtet wird, das eigentliche Thema der Theologie, schlechterdings nicht mehr durch reflexiven Vollzug einholbar. Die Standortverhaftetheit theologischen Agierens zwingt nun aber dazu, das, was nicht in die konkrete Verortbarkeit einholbar ist, weil es sich schlechterdings der Verobjektivierung entzieht, trotz dieses Widerstreits von bestimmten Perspektiven aus zu betrachten, die somit fortwährend um ihre Begrenztheit wissen, ihre punktuelle Perspektivität aber ob ihres eigenen konkreten Wesens einnehmen müssen.4 Dies bedeutet aber nun, dass die Einzelstadien tatsächlich das Ganze in Ansicht bringen – dem steht auch nicht ihre begrenzende Perspektivität entgegen –, für diese Vorstellung des Ganzen jedoch nicht unmittelbar Absolutheit beanspruchen können, da sie ja eben perspektivisch verfasst sind. Jedes Stadium ist somit als solches vollständig und bedarf doch allezeit, d.h. in jedem Moment seiner Ausprägung, der anderen Stadien als Korrektivinstanzen der eigenen perspektivischen Verfasstheit, von der loszukommen jedoch schlechterdings unmöglich ist, ja die sogar – so weit muss die Interpretation gehen – zwingend notwendig ist, damit überhaupt systematische Aussagen getroffen werden können. Sieht man also die Stadien als Analoga der Systemmomente an, so ergibt sich ein geradezu trinitätstheologisches Bild: Entsprechend der immanenten ————— 3 Nur in anderen Worten, der Sache nach aber identisch formuliert es Falk Wagner, der anführt, „daß sich die Autonomie unter der Bedingung der Endlichkeit selbst zum Thema wird.“ (Wagner, Absolute Positivität, 178; Hervorhebung S.D.) Die Akzeptanz von Endlichkeitsbedingungen meint aber nichts anderes als die Notwendigkeit, auf dem reflexiven Standpunkt zu agieren. 4 Vgl. die Aussage Falk Wagners, der feststellt, dass „jede bestimmte Gestalt […] im Angesicht der absoluten Positivität der Selbstgegebenheit überholbar“ ist (ebd., 181). Dies gilt auch für die verschiedenen Perspektiven auf das Tillich’sche Prinzip.

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Epilog

Trinität machen die hypostatischen Ausprägungen besondere Spezifika ansichtig, ohne dass dabei Wesensdifferenz zwischen ihnen bestünde. Dasselbe lässt sich nun insofern auch übertragen für die als Momente begriffenen Systemstadien aussagen, als sie alle wesenhaft gleich und nur in ihrer Perspektivität, die ja nichts anderes meint als ihr Momentsein, different sind. Auch hier herrscht somit die Einheit im Wesen bei gleichzeitiger Unterschiedenheit in der hypostatischen bzw. momenthaften Ausprägung vor.5 Wie auch hinter den immanent-trinitätstheologisch verstandenen göttlichen Hypostasen nichts ‚Höheres‘ steht, sondern die Gottheit Gottes gerade in ihrer hypostatischen Ausprägung eine und in sich absolut ist, so bedeutet dies auch für die Momenthaftigkeit der Systemstadien Tillichs, dass sie einerseits Ausdruck des Ganzen, mithin des Wesenhaften, sind, andererseits jedoch nicht wieder eingeholt werden können in eine sie übergreifende Systemfassung, die hinter bzw. über ihnen stünde. Das, was im Moment bzw. in der Hypostase betrachtet wird, ist in Vollständigkeit darin ansichtig – trotz und gerade der Relativität wegen, die der momenthaften Zugangsweise anwest. Das Moment gibt es somit ebensowenig wie das Stadium oder – trinitätstheologisch gesprochen – die Hypostase. Trotz und unbeschadet der Autarkie des Einzelmoments ist der unverzichtbare Bezug zu den anderen momenthaften Ausprägungen konstitutiv für den Aussagegehalt aller Momente. Gemeinsames Ziel der Einzelstadien ist eben die Erfassung des Gottesbezugs trotz seiner schlechthinnigen Ineffabilität. Genau dies möchte die Momentkonzeption als Interpretationsmodus der Theologie Tillichs vorstellen. Diese Momentinterpretation der Tillich’schen Theologie gelangt aber – entsprechend der aufgestellten These – erst zu ihrer Bestimmung, wenn das systemintern Gültige auch für die Systemausprägungen selbst, mithin für ihre Stadien, Bedeutung zu erlangen vermag. Ausgangspunkt der Betrachtung muss dabei die Aporienähe aller Einzelstadien sein. Tillichs frühestes Stadium zeichnete sich dabei besonders durch die abstrakte Fassung des Gottesbegriffs, ja des Systemkonzepts überhaupt aus, das jedoch in der fortwährenden Gefahr steht, thetischen Charakter anzunehmen und somit in die Aporie metaphysischer Setzung umzuschlagen. Dem steht Tillichs zweites Systemstadium konträr gegenüber, das sinntheoretisch auf einen konkre————— 5

Eine ähnliche Verfasstheit von Tillichs Systemkonzeptionen erblickt auch Christian Danz – wenn auch nicht so wie in der hier vorgeschlagenen Moment- bzw. Stadientheorie –, wenn er für die drei Systemausprägungen in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, im Entwurf ‚Rechtfertigung und Zweifel‘ von 1919 und der Dresdner Dogmatik-Vorlesung Tillichs Mitte der zwanziger Jahre letztlich die späten Gedanken Tillichs bereits im frühesten Konzept angelegt findet und dabei den wesentlichen Aufbaurhythmus der Theologie Tillichs als sich durchhaltend feststellt; vgl. Danz, Geschichtliche Offenbarung, 186f (insbes. Anm. 22).

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Tillichinterpretation im Rahmen einer transzendentalen Strukturtheorie

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ten Zugang fixiert ist, woraus sich die Gefahr eines subjektivistischen Solipsismus ergibt. Der letzte, ontologische Darstellungsversuch scheint ob seines synthetischen Charakters zunächst aporetische Sphären zu vermeiden, gerät aber mit der unsymbolisch verstandenen Ineinssetzung des religionsphilosophischen Postulats des Seins-Selbst mit dem theologischen Gottesbegriff wiederum in die Nähe einer abstrakten Absolutsetzung. Dass sich dabei erstes und letztes Stadium der Theologiebildung Tillichs darin nahestehen, dass sie derselben aporetischen Richtung zu verfallen drohen, ist nicht zufällig, sondern lässt sich ebenfalls im Rahmen der Momenttheorie einer Erklärung zuführen. Bereits in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ fungierte der Wahrheitsbegriff doppelt, nämlich einmal als abstraktes Urphänomen und einmal als absolutes Synthesismoment. Beide Fassungen tendieren mithin zu einem identischen Punkt, nämlich einer Verfasstheit absoluter Provenienz. Somit stehen sich erstes und drittes Moment des Tillich’schen Prinzips in besonderer Weise nahe und sind weniger scharf untereinander als zum zweiten Moment abgegrenzt, das besonders die Konkretheit vorstellig macht. Die trotzdem distinkte Verfassung von erstem und drittem Moment leitet sich vielmehr aus der Integration des widerstreitenden zweiten Moments im dritten Moment ab, das somit über das erste Moment – wie auch über das zweite – hinauszuführen vermag. Diese Struktur hatte sich bereits innerhalb der Systemstadien aufzeigen lassen und repliziert sich nun bezeichnenderweise auch bei der Ansetzung der Systemstadien selbst in der Weise von Momenten. Auf diesen Dynamikaspekt innerhalb der Momentenabfolge gilt es zurückzukommen. Zunächst sei noch abstrakt beim Ansetzen der Stadien als Momente verweilt, indem die Verschiedenheit der Einzelstadien betont wird. Verständlich wird diese Verschiedenheit bei prinzipieller Gleichheit des Ansatzes nämlich allererst, wenn man Tillichs Systembildung im Rahmen einer pointierenden, typologischen Stadieneinteilung als in Momenten strukturierte begreift. Nur unter dieser Perspektive werden die jeweiligen Stadienspezifika und die prinzipielle Wesensgleichheit der Stadien gleichsam deutlich. Fällt die konzentrierte Betrachtung nur auf ein einziges Stadium, so muss sie zwangsläufig der jeweiligen Schwäche der Systemausprägung – gemeint sind selbstverständlich die eben angesprochenen Aporietendenzen – verfallen und die Gesamtintention Tillich’schen Denkens verfehlen; eine solche Missinterpretation stellt sich bei einer Fixierung auf ein Stadium automatisch ein, weil sie eben nur eine Facette, nur eine momenthafte Ausprägung des Prinzips Tillichs kennt, die zwar – dem Momentbegriff entsprechend – das Ganze des Prinzips umfasst – dieses jedoch in verobjektivierender Fixation vorstellt, die aufzuheben bzw. als

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Epilog

falsch zu erweisen, gerade das genuine Anliegen Tillich’scher Theologie darstellt.6 Angenommen werden kann nun aber gerade nicht, dass die Dreimomentigkeit seines theologischen Gesamtkorpus von Tillich selbst erkannt oder gar bewusst als solche konzipiert ist – dagegen spricht nicht nur die große Zeitspanne, die sich von seiner frühesten Systemform im Jahre 19137 bis hin in die sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erstreckt; vielmehr steht bereits ein systematisches Argument gegen diese Annahme: Die Verfasstheit der Einzelstadien und ihre Abfolge sind nämlich nur aus ihrem spezifischen Hervorgehen aus einander erklärbar. Dies sei jedoch einstweilen aus argumentativen Gründen lediglich angerissen und erst später vertieft. Trotz der Unwahrscheinlichkeit, dass Tillich sein Gesamtwerk bewusst dreimomentig aufgebaut hat, sieht sich die Momentinterpretation der Gesamttheologie Tillichs darin begründet, dass sie just das in Ansicht bringt, was genuines Anliegen Tillichs in all seinen Schriften ist. Ein Einzelsystem ist nach Tillich nämlich erst und gerade dann als angemessen zu bezeichnen, wenn es sich als System, d.h. in seiner bestimmten, konkret ausgeprägten Zugangsweise, selbst zu verneinen, mithin in sich den steten Aspekt der Selbstrelativierung zu tragen vermag. Ein Einzelsystem kann demnach das, was es systematisiert, nicht nur nicht adäquat erfassen, nein, es muss sogar zwangsläufig hinter dem zurückbleiben, was es intendiert, um – und das ist Tillichs Ziel in allen Stadien – die Wahrheit seines Aussagegehalts verbürgen zu können. Der Aspekt der Selbstüberwindung, der bereits zu Beginn des theologischen Schaffens Tillichs auftaucht, greift mithin nicht nur innerhalb eines Systems, sondern muss auf es selbst angewandt werden.8 Daraus erhellt aber auch, dass ein Metasystem, das – wie ————— 6

Insofern ist das Anliegen Falk Wagners, eine „Grammatik der Theologie Tillichs“ erstellen zu wollen, die „in allen Einzelthemen“ identifiziert werden kann (Wagner, Absolute Positivität, 191 Anm. 34), durchaus berechtigt – freilich darf nicht, wie dies bei Wagner tendenziell der Fall ist, bei der Konstatierung dieser grammatischen Struktur stehen geblieben werden, da ansonsten die Notwendigkeit momenthafter Explikation zur Nebensächlichkeit depraviert, die allerdings wiederum zum Verlustiggehen des Prinzips selbst führt. Vgl. dazu weiter unten zu Punkt (4). 7 Dazu kommt in Sonderheit, dass Tillich sein frühestes System nicht nur nie erwähnt, sondern wohl auch niemals zu publizieren gedachte; vgl. hierfür einen der Herausgeber der Systematik von 1913: Gert Hummel, Tillich’s 1913 „Systematische Theologie“, 363. 8 In der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ ist dieses Vorgehen von Tillich noch expressis verbis selbst autorisiert. Man vergleiche dazu nur die Aussagen im Schlussparagraphen der frühen Systematik: „Das theologische Prinzip ist größer als jede kirchliche, kultische, ethische und auch wissenschaftliche Darstellung von ihm; das ist die Macht der theologischen Paradoxie, daß sie auch von der Wissenschaft befreit, durch die sie begründet ist, daß sie alles Relative negiert, auch das theologische System, damit Gott allein absolut bleibe und auch alle Lehre von Gott relativ und zugleich Gott allein gewiß und seine Gnade, und alle Lehre von ihm und seinem Tun ungewiß.

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hier vorgestellt – die Einzelsystemstadien als Momente begreift, deshalb selbst gerade eines dem eigentlichen Wortsinne gemäß nicht sein darf: System. Andernfalls käme es zu dem, was der fortwährende und größte Einwand Tillichs gegen Hegels Philosophie ist, nämlich zum absoluten System, das für Tillich schlechterdings nicht absolut sein kann, eben weil es sich als absolut begreift, also absoluten Anspruch auf seine konkrete Systematik erhebt. Metasystematische Überlegungen zu Tillichs Theologie ermöglichen es daher gerade nicht, über die Einzelstadien der Systembildung bzw. über die spezifische Gestalt und Ausprägungsform eines theologischen Systems hinauszugehen, sondern vermögen nur den Wahrheitsanspruch des jeweiligen Einzelsystems bzw. Moments als Systemstadium durch dessen Selbstrelativierung unter Eingliederung in eine Momententrias zu begründen, die als solche aber nicht mehr dem objektiven Zugang offensteht. Mit anderen Worten: Das, was hier als Metasystem aus den Systemstadien Tillichs vorgestellt wird, fungiert nicht anders als der Unbedingtheitsbegriff in Tillichs Sinntheorie, der als Objektivation des Unbedingten zwar verfälscht wird, aber trotzdem konstitutive Funktion derart innehat, dass er ein wahres Verständnis des in den Momenten angeschauten Prinzips allererst ermöglicht.9 Gegen das bisher Vorgestellte lässt sich allerdings ein entscheidender Einwand vorbringen, selbst wenn man der Momenttheorie als dem Tillich’schen Gedankengut entsprungen folgen kann und möchte: Wie lässt sich die Dreizahl der Stadien erklären, ja noch fundamentaler gefragt: wie lassen sich überhaupt Stadien der Systembildung Tillichs unterscheiden? Die bisherige Tillichforschung bietet hierfür keine allgemein akzeptierte Lösung an, geschweige denn, dass einheitlich eine Festlegung potentieller Phasen in Tillichs Denken angesetzt würde.10 Auch die vorgestellte Tillichinterpreta————— Das ist die höchste Tat des Paradox, daß es auch von sich in jeder seiner Formen befreit.“ (EW IX, 425) 9 Vgl. hierzu insbes. Kap. 2.4.2. 10 Nahezu ein Kriterium für eine Stadieneinteilung bietet Falk Wagner, der für die Theologie Tillichs drei Axiome ansetzt, die sich für die hier vorgeschlagene Stadieninterpretation fruchtbar machen lassen: „Die Verbindung dieser drei Axiome: die Priorität des Sinn- und Seinsgrundes, die Asymmetrie von Gehalt und Form und das Hervortreten des Sinngrundes als von der Formtätigkeit uneinholbare Positivität und die Formtätigkeit überholende Negativität verleiht der Tillichschen Theologie ihren dynamischen Charakter.“ (Wagner, Christus, 238f) Zugespitzt formuliert beobachtet Wagner in Tillichs Theologie die Dreimomentigkeit von Positivität, Negativität und der Verbindung von Positivität und Negativität, die in ihrem Zusammenspiel die Dynamik des Systems begründen. Lässt sich diese Trias von Wagner aus Tillichs Theologie insgesamt destillieren, so verdankt sie sich doch offensichtlich verschiedener Phasen Tillich’schen Denkens, indem sie zumindest auf sinntheoretische und ontologische Formulierungen Tillichs rekurriert. Wie das Prinzip Tillichs nun über die Entwicklung seines Denkens hinweg zu betrachten ist, kann Wagner damit allerdings auch keiner Erklärung zuführen.

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tion als Momenttheorie ist nicht in einsträngig-verbindlicher Form in der Lage, eine Lösung für diese Problematik zu offerieren. Sehr wohl lässt sich allerdings die hier vorgenommene Stadieneinteilung und die damit verbundene Typologisierung, aus der sich dann die Momentzuordnung ergab, aus der Tillich’schen Denkart heraus begründen: Tillich selbst setzt seine systeminternen Momente als Ideale an. Dies wurde im Rahmen der Untersuchung der Einzelstadien Tillichs deutlich; so existiert etwa der absolute Standpunkt realiter genauso wenig wie der konkrete oder theologische. Es handelt sich in jedem Fall um Abstraktion von der oder auf die vorfindliche Realität, die nicht als solche, sondern in typenhaft-pointierter Ausprägung idealiter gezeichnet wird.11 Der Momentbegriff Tillichs beinhaltet damit wesentlich einen Typologisierungsaspekt, der über das Vorfindliche hinaustreibt, um die Pole, innerhalb derer sich das System ausspannt, einer abstrakten Phänomenologie zuzuführen. Ist der Momentbegriff bei Tillich aber in dieser Weise zu verstehen – und das ergibt sich eindeutig aus der Verwendung des Begriffs bei Tillich –, so sind es nicht die einzelnen erhaltenen Schriften Tillichs, die in exakter Abbildung in ein System eingezeichnet werden wollen. Vielmehr gilt es die dem Momentbegriff innewohnende Typologisierung gleichfalls auf das Werk Tillichs zu übertragen, um aus ihm in Abstraktheit Stadien herauszuschälen, die dem gerecht werden, was die Schriften Tillichs – nun jedoch im Einzelnen verstanden – beinhalten. Es handelt sich hierbei mithin nicht um ein willkürliches Vorgehen, sondern um eines, das sich der Intention Tillichs verpflichtet weiß. Exakte, etwa durch Jahreszahlen belegbare und abgrenzbare ‚Epochen‘ im Denken Tillichs lassen sich bei dieser Methode zwar nicht ermitteln – dies ist aber auch gar nicht beabsichtigt, ja kann es gar nicht sein, sofern das mit dem Momentbegriff verbundene Anliegen Tillichs ernst genommen wird. Der Stadienbegriff, der weniger scharf kategorisierend als der der Phase oder der Epoche ist, möchte sich daher als dezidiert nicht werkshistorischer, sondern abstrakter verstanden wissen, der jeweils das zu destillieren versucht, was innerhalb eines Stadiums selbst für sein Wesen typisch ist. In diesem Verständnis dürfte die Momentexplikation der Theologie bzw. der Einzelstadien Tillichs plausibel und begründet sein – selbst wenn man nicht exakt der Stadieneinteilung folgen kann, wie sie die vorliegende Untersuchung zu erarbeiten versucht.12 Dass man allerdings typologisieren, also ————— 11

Besonders deutlich wird dies darin, dass Tillich in seinen Momenten genau genommen schlechterdings differente Pole abstrakt betrachtet und zu einem idealen Standpunkt ausbaut, der an sich nicht als real vorstellig werden kann, weil Tatsächliches sich für Tillich immer zwischen den Polen einer Polarität abspielt, jedoch niemals mit einem einzigen Pol zusammenfallen kann. 12 Im Gegenteil stellt die Möglichkeit einer differenten Stadienansetzung gerade nicht eine Falsifikation der Momenttheorie dar, sondern bestätigt das hier eingeschlagene Vorgehen dergestalt, dass

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Stadien ansetzen, muss, darin besteht für den Interpreten keine Wahl: Dies gibt das Systemdenken Tillichs selbst vor. Genauso weiß sich jedoch jede Formwerdung des von Tillichs Denken ausgehenden Typologisierungspostulats schon im Augenblick ihres Anhebens als nur relativer Ausdruck, der als solcher zwar wahr, jedoch niemals absolut sein kann. Dass auch im Rahmen eines Typologisierungsverfahrens der Rückbezug der Stadien zum konkreten Schaffen Tillichs gewährleistet bleiben muss und im vorliegenden Konzept auch gewährleistet wird, wird sich an späterer Stelle erweisen, wenn es um den Bezug der Einzelstadien aufeinander geht. Bereits hier kann jedoch schon festgehalten werden, dass typologisierte Stadieneinteilung und ihr Begreifen als Momente wahr immer nur sein können im Verbund mit dem, was sich in concreto in Tillichs Schriften findet. Es hat also immer ein Oszillieren zwischen den Momenten, als welche die Stadien zu begreifen sind, und ihren konkreten Ausprägungen in Form der Einzelsysteme Tillichs statt. (3) Zunächst sei jedoch von der vorgestellten Momentsicht auf Tillichs Theologie aus ein Blick auf das bisher ungelöste Problem der unsymbolischen Ineinssetzung von Sein-Selbst und Gott in Tillichs letztem Systemstadium geworfen: Wie die Aporietendenzen der ersten beiden Systemstadien Tillichs einer Lösung zugeführt werden können, haben bereits die ersten beiden Hauptteile dieser Untersuchung aufzuzeigen versucht.13 Bringt man die eben aufgestellte These in Anwendung auf die noch zu erörternde Aporie der unsymbolischen Identifikation von Sein-Selbst und Gott, so stellt sich eine zweifache Erklärungsmöglichkeit ein: Der erste Lösungsansatz hat sich bereits in der Vorstellung der unsymbolischen Identifikation von Gottesbegriff und dem des Seins-Selbst im Rahmen der Beschäftigung mit der Sinntheorie angedeutet, nämlich dass die Aussage Tillichs als eine abstrakte, religionsphilosophische, nicht unmittelbar theologische aufgefasst wird. Damit ist das Problem zwar nicht einer echten Lösung zugeführt, ————— jedwede Formfassung im Rahmen eines Systems sofort der allgemeinen Prinzipialität unterstellt werden muss. Festlegung bzw. Fixierung von Stadien ist mithin nicht das Ziel der Momenttheorie und kann es auch nicht sein. Formelle Offenheit unter prinzipieller Leitung ist das Signum Tillich’scher Theologie und jeder ihrer Interpretationen, die ein echtes Tillich-Verständnis für sich beanspruchen. 13 Vgl. Kap. 1 und Kap. 2. In beiden Kapiteln wird jeweils eine Lösung für die Aporietendenzen vorgeschlagen, die sich zwar von Tillichs direkter Fassung des Systemstadiums ein wenig entfernt, aber beansprucht, im Rahmen Tillich’scher Gedankenbildung zu agieren. Nichts anderes ist damit letztlich gemeint als das Begreifen der Systemstadien als Momente, die nur dann unwahr werden, sofern man von den ihnen konstitutiv und reziprok korrespondierenden Momenten absieht. Wird nun also im Folgenden das Problem des ontologischen Stadiums kraft der vorgeschlagenen Perspektive für die Tillichinterpretation zu lösen versucht, ist implizit das gleiche Prozedere bereits in den entsprechenden Teilen der Kapitel 1 und 2 angewandt.

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jedoch wird das Gewicht von der Aporietendenz insofern genommen, als die Momenthaftigkeit der Aussage innerhalb des ontologischen Systems sie als rein abstraktes Bestimmungsmoment erweist, dem keine exklusive Konstitutionsbedeutung für die gesamte Gotteslehre, ja für den Ansatz der Theologie überhaupt innewohnt. Oder anders formuliert: Tillich ist in einem Punkt aporetisch – dieser lässt sich allerdings als nicht direkt systemrelevant entlarven. Die zweite und eigentliche Lösung lässt sich nur über die Beantwortung der Frage einholen, was denn nun eigentlich mit dem SeinSelbst gemeint ist. Gleichfalls wurde hier in Bezugnahme auf die Sinntheorie als Zwischenergebnis festgehalten, dass sich das Sein-Selbst als Verobjektivierung verstehen lässt, so dass alle mit ihm verbundenen Aussagen – eben auch die unsymbolische Ineinssetzung mit dem Gottesbegriff – auf dem Boden der konkreten Religion getroffen sind, die niemals Absolutheit im direkten Sinne einzubringen vermag. Mithin wurde das Sein-Selbst als die abstrakte Objektivationsform des Unbedingten bestimmt. Dabei darf aus der oben als Thesis aufgestellten Perspektive auf Tillich jedoch nicht stehen geblieben werden: Demnach macht das ontologische Stadium Tillichs gerade das dritte Moment namhaft, dem also charakteristisch die Synthesisfunktion anwest.14 Lässt sich der Begriff des Seins-Selbst also ebenfalls mit der Funktion des dritten Systemmoments erklären, so kommt eine weitere Differenzierung mit ins Spiel, weil das Sein-Selbst dann nicht einfach in abstrakter Unterschiedenheit vom Seienden angesetzt werden kann, sondern die Synthesis seiner selbst und des Seienden vorstellig macht. Damit ist aber das Sein-Selbst nicht einfach als Objektivation des Unbedingten zu bezeichnen – wobei es auch Objektivation zu nennen ist, nur nicht in Ausschließlichkeit. Mit anderen Worten: Ist das Sein-Selbst nicht einfach das Absolute der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘, sondern steht vielmehr anstelle des ersten für das dritte Moment des Systems, dann erscheint die unsymbolische Identifikation Gottes mit dem so angesetzten Sein-Selbst insofern als unproblematisch, als dessen Status kein anderer wäre als der des nicht auf den Begriff zu bringenden Unbedingten der Sinntheorie. Wenn Tillich allerdings das Unbedingte bzw. Gott auf den Begriff bringt – wie er es mit der unsymbolischen Identifikation mit dem Sein-Selbst ja de facto vollzieht –, so hat dies wiederum nur insofern statt, als sich die Ineinssetzung der Begriffe auf das Sein-Selbst als die Objektivation seiner selbst bezieht. Der Begriff des Seins-Selbst fungiert demnach wiederum doppelt, ————— 14

Die große Nähe der dreibändigen ‚Systematische[n] Theologie‘ zum dritten Moment des Systems lässt sich schon rein quantitativ daran erkennen, dass der dritte und umfangreichste Band des Systems der Pneumatologie sowie der Geschichtstheologie gewidmet ist, die beide das Anliegen des dritten Moments personifizieren.

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einmal als tatsächliches Unbedingtes, das sich der Identifikation, ja dem Begriffwerden bzw. damit – noch präziser – dem Begriffenwerden gänzlich entzieht und entziehen muss;15 und einmal als Objektivation seiner selbst, mithin als Abstraktion dessen, wovon schlechterdings nicht abstrahiert werden kann, weil es in der Gegenständlichkeit, die jeder Abstraktion zugrunde liegt, nicht einholbar ist.16 Verwirrend gestaltet sich die Darstellung bei Tillich nur ob der Begriffsunschärfe17 des Seins-Selbst sowie dem Umstand, dass er die unsymbolische Identifikation in dem Zusammenhang (Gotteslehre) einbringt, in dem das erste Moment des Prinzips verhandelt zu werden pflegt. Dies wehrt jedoch nicht dem vorgestellten Lösungsansatz. Freilich muss offen und fraglich bleiben, ob Tillich das Sein-Selbst tatsächlich in der vorgestellten Form versteht. Das eben Ausgeführte treibt mithin wiederum über die direkte Systemexplikation Tillichs hinaus, vermag aber, indem es sich an den Grundpfeilern Tillich’scher Systembildung orientiert, die in der Momentperspektive deutlich wird, eine Berechtigung innerhalb Tillich’scher Gedankenbildung zu beanspruchen. – Setzt man die eben vorgeschlagene Explikation des Begriffs vom Sein-Selbst in Bezug zu dem im Christus Jesus vorstellig werdenden Neuen Sein, so lässt sich für den letztgenannten Begriff das Gleiche konstatieren wie für das Sein-Selbst: Neues Sein wie Sein-Selbst stellen – einmal eher konkret, einmal eher abstrakt gefasst – das vor, was originär mit dem dritten Moment des Prinzips verbunden wird, nämlich Unbedingtheit in einer Form, die sich zwar als Synthesis des Unsynthetisierbaren artikuliert, als solche jedoch nur im Anheben gedacht werden kann, eben in dieser Ausprägung und in ihrem Vollzogensein aber nicht mehr auf den Begriff zu bringen ist.18 Damit fungieren Sein-Selbst und Neues Sein – sowie letztlich auch dasjenige, was im Geist ansichtig wird – vollkommen identisch, und machen als Begriff nur ————— 15

Darin entspricht das Sein-Selbst dem dritten Moment in Tillichs System. Als Objektivation ist das Sein-Selbst im System Tillichs primär als dessen erstes Moment anzusetzen. 17 Diese unterscheidet sich signifikant von der in der Sinntheorie konstatierten, weil die dort verwendete notwendiges Implikat des Unbedingten war, das eben zwischen Anschauung und Begriff oszilliert (vgl. Kap. 2.2.3). Indem Tillich jedoch in seiner späten Systematik diesen Umstand nicht erläutert, ist die Doppelfunktion des Seins-Selbst systemintern schlechterdings nicht ableitbar. Erst die Momentperspektive ermöglicht diese Interpretation. 18 Im Rahmen der Momenttheorie sind somit eine klare Funktion und auch ein eindeutiger Aussagegehalt der Begriffe vom Sein-Selbst sowie vom Neuen Sein präzise bestimmbar, so dass es nicht der Aufgabe der ontotheologischen Nomenklatur bedarf, um dies allererst zu bewerkstelligen, so wie dies Jaci Maraschin behauptet (vgl. Jaci Maraschin, Christology Without Center: New Being and Nothingness, in: Peter Haigis/Gert Hummel/Doris Lax [Hg.], Christus Jesus – Mitte der Geschichte!? Beiträge des X. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/Main 2004. Christus Jesus – the Center of History!? Proceedings of the X. International Paul-TillichSymposium Frankfurt/Main 2004 [Tillich-Studien, Bd. 13], Berlin 2007, 113–118). 16

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die unterschiedliche Perspektivität deutlich, die ihrer Momenthaftigkeit im Gesamtsystem entspricht. Anders formuliert: Jedes Moment macht nichts anderes vorstellig als das andere; dass allerdings trotzdem Unterschiedliches – das Momenthafte – mit ihnen assoziiert wird, ja assoziiert werden muss, ist dem verobjektivierenden Denken geschuldet, das die Momente eben nur in ihrer Singularität und nicht in ihrer Dynamik zu erfassen vermag. Allen drei Momenten haftet deshalb unausscheidbar Duplizität im Sinne eines Chauchierens zwischen vollständiger Prinzipausprägung im Moment und verobjektivierter Fassung an. Wird das Sein-Selbst – und die beiden anderen Momente ebenfalls – als in diesem Oszillierungsprozess stehend erfasst, löst sich die durch Tillichs unsymbolische Einbringung des Begriffs vom Sein-Selbst aufgebaute Spannung – und wird als solche für das System praktisch irrelevant. Ermöglicht ist diese Interpretation der ‚Systematische[n] Theologie‘ durch die Momenttheorie derart, dass damit eine doppelte Möglichkeit eintritt: Einerseits wird, wie gezeigt, der Begriff des Seins-Selbst in seiner Problematik entschärft, weil er nicht strictissime festgelegt bleibt auf die Fassung, die ihm aufgrund seiner Verortung in der Gotteslehre – also innerhalb der Tillich’schen Systematik: die des ersten Momentes – eigentlich zukommen müsste. Dieses Herauslösen des Begriffs bzw. des gesamten Problemkomplexes aus seiner unmittelbaren dogmatischen Positionierung stellt sich als Möglichkeit, ja genau genommen: als Forderung jedoch erst ein, wenn die Systeme nicht nur intern als offene Momentkonstrukte verstanden werden, sondern auch die Systeme selbst untereinander in momenthafter Beziehung stehen. Das dem ontologischen Stadium in Sonderheit appropriierte Charakteristikum der synthetisierenden Absolutheit eröffnet daher für den Zentralbegriff des Seins-Selbst seine Ansetzung auch als der Sphäre des dritten Momentes zugehörig und fixiert ihn nicht fälschlich auf eine rein abstrakte Warte. Zum anderen ist vermittels der Momenttheorie das Sein-Selbst gleichsam nicht als drittes Moment festgeschrieben, sondern kann und muss durchaus auch als erstes Moment innerhalb der Gotteslehre fungieren; dann gilt es jedoch wiederum die Stärke des Momentbegriffs, sich allezeit als nicht-absolut zu begreifen, derart in Anschlag zu bringen, dass der Begriff vom Sein-Selbst als Gottesbegriff immer auch mit der Konnotation des zweiten Moments, wie es von Tillich in seiner Sinntheorie paradigmatisch ausgeführt wurde, zu versehen ist. Dies bedeutet hinwiederum, dass der Begriff des Seins-Selbst nicht einsträngig als Synthesismoment, sondern gleichfalls als Verobjektivierung dessen, was nicht mehr verobjektiviert werden kann, mithin als das abstrakte erste Moment angesetzt werden kann. Dass es damit aber nicht als rein dem Zweifel überantwortete extrasubjektive Setzung zu verabschieden ist, sondern konstitutive Funktion für das Gesamtsystem innehat, wurde im Rahmen der

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Sinntheorie bereits ausführlich erörtert.19 Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass die Momenttheorie nicht nur das Systemverständnis bei Tillich erhellt, weil sie schlicht alle dogmatischen Topoi aus der jeweiligen stadienspezifischen Perspektivität heraus betrachtet, sondern auch und gerade, weil die anderen Stadien als Momente fruchtbar gemacht werden können und müssen für das Verstehen des gerade in Betrachtung stehenden Systems. Dass dies im Sinne der Tillich’schen Theologie ein durchführbares Unternehmen ist, dürfte die Interpretation des Begriffs vom Sein-Selbst aufgezeigt haben. (4) Betrachtet man die Systemstadien Tillichs in ihrer hier jeweils explizierten und interpretierten Form, so lässt sich Tillichs Theologie allgemein als transzendentale Strukturtheorie beschreiben, d.h. Tillich ist es in seinem theologischen Bemühen darum zu tun, die Bedingungen der Möglichkeit von Selbst- und Weltvollzug bzw. allgemeiner gesprochen: von Seinsvollzug zu bestimmen.20 Dies ist jedoch letztlich nur in religiöser Form möglich,21 wobei die verschiedenen Systemstadien jeweils eine Erweiterung des untersuchten Spektrums die transzendentalen Voraussetzungen betreffend darstellen: Das früheste System Tillichs von 1913 hat es vornehmlich mit dem Denken zu tun, womit eine starke Fixierung auf einen rein epistemologischen Vollzug statthat, den es gilt mit dem Glauben bzw. in konkreter Ausprägung mit dem Christusereignis in Bezug zu bringen. Leitendes religiöses Prinzip dabei ist die vom Denken nicht selbst initiierte und hervorgebrachte Selbstüberwindung des Denkens, so dass sich die Systemexplikation zwischen dem – wie das eben bestimmte Sein-Selbst – einmal abstrakt, einmal absolut fungierenden Wahrheitspol auf der einen und dem konkreten Pol des Denkens auf der anderen Seite erstreckt. Das, was sich vollziehendes Denken allererst zu dem werden lässt, was es ist, macht Tillichs sinntheoretisches Stadium im Sinn namhaft. Dieser geht der Wahrheit insofern voran bzw. bildet mit ihr selbst ein Polaritätsverhältnis, als er den Bezug des Denkens zur Wahrheit aus der für das Denken statthabenden reinen Alogizität befreit und einer im wahrsten Sinne des Wortes sinnvollen Relation zuführt. Das Problem des Zweifels am Fundierungsgrund des ————— 19

Vgl. Kap. 2.4.2. Nichts anderes beschreibt der Begriff der schlechthinnigen Selbstgegebenheit bzw. der ihrer absoluten Positivität bei Falk Wagner, Absolute Positivität, passim. Als das sich schlechthin selbst Gegebene ist das Unbedingte transzendentaler Grund all dessen, was sich nicht schlechthin selbst gegeben ist, sondern sein Sich-Gegebensein immer nur in Vermittlung, mithin in Selbstüberwindung seiner selbst und damit vermittels der schlechthinnigen Selbstgegebenheit selbst einzuholen vermag. Im Gegensatz zu Wagner wird in der vorliegenden Untersuchung jedoch der Begriff des Transzendentalen bzw. der Transzendentalursache favorisiert, um ein mögliches rein setzendidealistisches Missverstehen, das der Terminologie Wagners inhäriert, zu vermeiden. 21 Siehe dazu weiter unten. 20

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Denkens wird nicht dadurch behoben, dass der Zweifel nahezu direkt in der Selbstüberwindung des Denkens übergangen würde; im Gegenteil: er wird in das System selbst integriert, so dass Subjektivität und ihr Vollzug schlechterdings nur möglich sind unter dem Vorzeichen zweifelnder Selbstheit. Die dadurch statthabende Reduktion auf das denkende Subjekt selbst führt religiös zu einem Glauben des Atheisten, d.h. die Sinnthematik ist nur im Rahmen des Reflexionsstandpunktes als unhintergehbares Element explizierbar, wenn auch nicht lösbar. Dies leitet letztlich über zu einer Selbstüberwindung nun allerdings des Zweifels, die sich in dessen Integration in den Sinn selbst äußert, dessen Vollzug relativ nur im Modus des zweifelnden Subjekts möglich ist. Das System selbst erstreckt sich damit zwischen den verobjektivierten Polen von absolutem Sinn und endlichem Sinnvollzug. Die universale Kategorie des Seins nimmt Abschied von der rein subjektiven Position und erweitert das Spektrum auch auf die nichtselbstbewusste Sphäre, mithin auf all das, was ist. Damit wird insofern früher angesetzt als in der Sinntheorie,22 als Subjektivität, ja Selbstheit an sich nur aussagbar ist in Wechselbeziehung zu dem, was nicht das Ich bzw. das Selbst ausmacht, also im Gegenüber zum Weltbegriff. Individualität des Selbst ist mithin nicht abgesehen von seinem Zustand als Seiendes. Oder anders gesagt: Dass etwas ist, ist die schlechthinnige Voraussetzung für denkenden Vollzug im Rahmen sich ihrer selbst bewusster Selbstheit. Dies vermittels der Seinsstruktur alles Seienden reflexiv nachzuvollziehen, ist nun allerdings erkenntnistheoretisch der selbstbewussten Sphäre des Geistes vorbehalten, so dass dessen höchste Explikationsstufe, der Sinn, nicht zu verabschieden ist, sondern vielmehr elementarer und unausscheidbarer Bestandteil ontologischen Ansetzens ist und bleibt. Mit anderen Worten: Es muss eine Integration der Sinntheorie in die Ontologie statthaben,23 ohne ————— 22

Tillich bewegt sich mit der Ontologie wieder mehr in die Gefilde der Systematik von 1913, wobei stärker noch als damals der Intuitionsbegriff von Bedeutung ist. Zwar war dieser Ausdruck auch schon im Jahre 1913 das zentrale Anliegen Tillichs, jedoch ist das Problem der absoluten Setzung im Rahmen des absoluten Standpunktes gegeben, wodurch die Reflexionslastigkeit des gesamten Systems evoziert wird. In der späten ‚Systematische[n] Theologie‘ hingegen ist mit dem Seinsbegriff die Reflexion nicht mehr derart tragender Systembestandteil, dass das, was bereits 1913 im Konzept der Intuition angelegt war, deutlicher zum Ausdruck kommt. Somit stehen sich erstes und letztes System Tillichs näher, als dies in ihrem Verhältnis zum zweiten Systemstadium der Fall ist. Dies bestätigt auch die Momenthaftigkeit der Stadien Tillichs, weil erstes, abstraktes und drittes, absolutes Moment sich – überspitzt gesprochen – näherstehen als das zweite Moment, das in erster Linie die konkrete Perspektive einnimmt. 23 Dass Tillich de facto seine sinntheoretischen Ansätze nicht aufgibt, sondern sie in sein ontologisches Konzept übernimmt, wird schon daran deutlich, dass die Nomenklatur stark an der der Sinntheorie orientiert bleibt. Ohne gesonderte Einführung des Sinnbegriffs bedient sich Tillich seiner besonders in Bezug auf das Sein-Selbst. Dafür sei nur kurz ohne weitere Systematisierung auf vier Begriffe verwiesen, die in der ‚Systematische[n] Theologie‘ die Kombination von Sinn-

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dass dabei die Sinntheorie ihres eigenen Charakters verlustig ginge, damit Ontologie nicht einfach Seinslehre bleibt, sondern auch religiös erfasst werden kann. Der ontologische Schock als Ausgangspunkt des Sich-seinerselbst-Bewusstwerdens des reflexiven Seienden führt zur Erkenntnis der Endlichkeit all dessen, was ist, und leitet damit über zur Selbstüberwindung bzw. der Negation der eigenen Seinsmächtigkeit, was sich im Gefühl schlechthinniger Nichtigkeit verdichtet. Damit ist das System ausgespannt von der – wiederum absolut wie verobjektiviert verstandenen – absoluten Seinsmächtigkeit oder dem Sein-Selbst hin zum endlichen Seienden. Lässt sich also für die fortschreitenden Stadien jeweils ein immer weiteres Spektrum dessen, was in den transzendentalen Bezug eingeschlossen wird, konstatieren, so hat gegenläufig die Bewegung statt, dass jedes Stadium immer nur durch das ihm jeweils vorangehende explizierbar ist und verstanden werden kann, weil es anderenfalls zu Missverständnissen kommt, die sich aus einer einseitig fixierten Sicht auf ein Einzelstadium herleiten. Von Bedeutung ist dabei, dass die Stadien aus einander hervorgehen und zwar insofern, als einerseits die eben explizierte Erweiterung in ————— theorie und Ontologie vorstellig machen: Tillich kann sprechen vom „Grund und Sinn des Seins“ (ST I, 157 u.ö.). Gott wird dabei als „Grund von Sein und Sinn“ (ST I, 274; 311 u.ö.) vorgestellt. In direkter Parallelisierung treten ontologische und sinntheoretische Begrifflichkeit in der Formel „das Unbedingte in Sein und Sinn“ (ST I, 248 u.ö.) auf, welche die Koexistenz der Seins- und der Sinnebene am besten zum Ausdruck zu bringen vermag. Schließlich ist die „Angst der Sinnlosigkeit“ (ST I, 244) die höchste Steigerungsform der ontologischen Angst, der Angst vor dem Nichtsein, und führt das Selbst bis an den Rand der Verzweiflung. Dass Sein und Sinn unaufgebbare Elemente seiner Theologie sind, macht Tillich auch in seiner Dogmatikvorlesung zwischen 1925 und 1927 in Dresden und Leipzig (vgl. EW XIV) deutlich: Diese Vorlesung befindet sich systemkonzeptionell gewissermaßen in der Übergangsperiode von der Sinntheorie zur Ontologie, was sich daran erkennen lässt, dass die Begrifflichkeiten bereits ontologischen Charakter annehmen, aber trotzdem noch stark mit dem Vokabular der Sinntheorie verbunden bleiben. Exemplarisch sei nur auf den Zwitterbegriff des Unbedingt-Seienden verwiesen (vgl. etwa EW XIV, 148 u.ö.), der später durch das Sein-Selbst substituiert wird. Seine Gliederung teilt Tillich im materialdogmatischen Teil in drei Hauptabschnitte ein, die eine „theologische Seinsdeutung“, eine „theologische Geschichtsdeutung“ sowie eine „theologische Sinndeutung“ (vgl. dazu die Gliederung zur Vorlesung in: EW XIV, VII–X) beinhalten. Auch wenn das Manuskript inmitten des zweiten Abschnitts abbricht und nur die Gliederung auf die projizierte Sinndeutung verweist, welche die Vollendung des Seienden, mithin die Synthesis von Sein und Geschichte, beinhalten sollte, lässt sich daraus die Notwendigkeit einer Sinntheorie auch in einem ontologisch ansetzenden Werk ausmachen. Bereits hier ist andeutungsweise erkennbar, dass Tillich seine eigenen früheren Systemstadien nicht als ‚erledigte‘ und somit ausscheidbare Durchgangsstationen seiner Systementwicklung betrachtet wissen möchte; vielmehr ist der Momentbegriff auch hier als positiver, d.h. konstitutiver und unaufgebbarer, einzubringen. Die Möglichkeit der Integration seiner früheren Stadien – in Sonderheit und namentlich der Sinntheorie – in die abschließende ontologische Fassung seines Systems erkennt der Tillich der späten zwanziger Jahre also bereits selbst. Dass er sie – auch und gerade später – nicht expressis verbis zu einem ‚Metasystem‘ fusioniert, mag dem Bestreben um ein einheitliches System geschuldet sein, dessen Möglichkeit Tillich jedoch bereits in frühesten Jahren für nicht gegeben hält.

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transzendentaler Hinsicht statthat, andererseits jedoch ein systematischer Gesichtspunkt Leitlinie des Stadienübergangs ist. Versteht man nämlich die Stadien analog zu den Systemmomenten, so ist ein Verharren auf einem einzelnen Stadium schlechterdings ausgeschlossen; jedes Einzelstadium ist nämlich untrennbar mit einer spezifischen Problematik verbunden, die sich aus der jeweiligen bestimmten Perspektive der Systemexplikation innerhalb eines Stadiums herleitet, so dass jedes Stadium zu einem Wechsel in der Prinzipdarstellung treibt, seinerseits jedoch in dem Moment, wo die Darstellung systematische Form annimmt, sich wiederum selbst als problembehaftet entlarvt. Stadienbildung ist mithin untrennbar verbunden mit einem Fortschreiten zu einem neuen Stadium, das sich bereits angelegt findet, sobald ein Stadium zu seiner systematischen Ausprägung gelangt. Im Falle Tillichs wurde diese Stadienabfolge in der Prinzipexplikation als Fundierung, Präzisierung und Gestaltung beschrieben. Dies gilt es im Folgenden nun rückblickend aufgrund der Ergebnisse der Einzeluntersuchungen nochmals näher zu begründen. Fundierung meint die tatsächliche Erstansetzung des Prinzips in seiner Dreimomentigkeit, wie Tillich dies in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ vornimmt. Bereits begrifflich schwingt hier das Problem der absoluten Thesis mit, die Tillichs frühestes System noch tendenziell auszeichnet. Dies hat jedoch zunächst nicht als Negativum klassifiziert zu werden, denn genau darum geht es dem ersten System Tillichs, das paradigmatisch für das erste Stadium seiner Systembildung steht, ja gerade, nämlich ein System aufzubauen, das konsequent vom Punkt der Absolutheit her denkt und dezidiert den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, mithin auf Wahrheitserkenntnis, erhebt. Wahrheitstheorie ist für Tillich damit auch immer gleich Absolutheitstheorie. Der wissenschaftliche Zielpunkt der theologischen Argumentation Tillichs ist damit durchweg richtig gesetzt, nämlich auf den Wahrheitsgedanken und die Möglichkeit seiner reflexiven Realisierung. Dies bleibt auch noch bis hinein ins späte Denken Tillichs tragendes Element, auch wenn der Wahrheitsbegriff stärker dem des Normativen weicht, der jedoch implizit immer die Wahrhaftigkeit voraussetzt, vermittels derer er allererst in die Lage versetzt ist, normative Entscheidungen zu fällen. Normativität setzt – sofern sie nicht Willkür ist – den Anspruch auf Wahrheit oder abgeschwächt formuliert: auf Richtigkeit voraus. Ist somit die Ausrichtung des Systems von 1913 als richtig – bzw. in Tillichs Nomenklatur: als wahr – zu bestimmen, so inhäriert ihr durch die absolutheitstheoretische Einbringung die Gefahr, ob der Absolutheitsfixierung zu abstrakter Intransigenz zu depravieren. Gegen diese Problematik versucht sich Tillich zwar vehement zu wehren – und sein System verfällt dieser Aporie ja auch

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nicht zwangsläufig24 –, allerdings bleibt eine signifikante Schlagseite in diese Richtung hin bestehen, die stark an idealistisches Gedankengut, insbesondere Schelling’scher Provenienz, erinnert. ‚Fundiert‘ ist das Prinzip in der wahrheitstheoretischen Fassung mithin – jedoch mit der Gefahr ob dieser Basis der Dynamik verlustig zu gehen. Interpretiert man Tillich aber im Rahmen einer Momenttheorie, so ist diese aporetische Nähe, in der sich die Systematik von 1913 bewegt, nicht nur nicht vermeidbar, sondern – wie bereits erläutert – schlechterdings notwendiges Implikat jedweder Systemausprägung, weil sie andernfalls als absolut, mithin nicht mehr der Selbstüberwindung bedürfend, vorstellig zu werden hätte; dies hinwiederum ist jedoch mit dem Systembegriff als solchem nicht vereinbar, da er ob seiner stets konkreten Operationsbasis, die gerade die Bestimmung zum Organ ihres Vorgehens macht, niemals mit Absolutheitsassoziationen ausgezeichnet werden kann. Der Begriff der Präzisierung, der für das sinntheoretische Stadium in Anschlag gebracht wird, macht nun den fortschreitenden Charakter vom ersten zum zweiten Moment des Prinzips deutlich: Die thetische Tendenz der Wahrheitstheorie evoziert den Zweifel an dem, was absolutheitstheoretisch als leitendes Prinzip dem denkenden Subjekt auferlegt wird. Der Zweifel seinerseits führt auf direktem Wege weiter zu einer stärker subjektiven Prinzipfassung, um den aufbrechenden Zweifel an absoluten Setzungen einzuholen in der Unhintergehbarkeit subjektiven Selbstbewusstseins.25 Damit bezeichnet aber der Begriff der Präzisierung nicht schlicht die Erweiterung innerhalb des Prinzips auf ein zweites Moment, sondern macht das Sich-selbst-Durchsichtigwerden des Prinzips deutlich, das ob seiner in der Fundierung gewonnenen tendenziell aporetischen Gestalt einer ausgleichenden Näherbestimmung bedarf, die der absolutheitstheoretischen Schlagseite entgegenwirkt. Dass dieses Phänomen nun als notwendiges zu beschreiben ist, ergibt sich mithin prinzipintern, nämlich dergestalt, dass das Prinzip in Selbstanwendung auf sich selbst das realisierte Moment seiner selbst – ansichtig in der Wahrheitstheorie – als nur relativen, d.h. zugleich berechtigten und defizitären, Ausdruck prinzipiellen Gehalts gleichzeitig bejahen und verneinen muss. Mit anderen Worten: Das Prinzip selbst lässt sich entsprechend seinem eigenen Wesen nicht festlegen auf die Fassung innerhalb eines Moments, wodurch die Momentfassung als adäquater Ausdruck des im Prinzip Prinzipiierten immer auch abgelehnt wer————— 24

Dies zu erweisen bemüht sich in Sonderheit Kap. 1.3.2.3. Vgl. Danz, Geschichtliche Offenbarung, 180, der in Tillichs Sinntheorie ebenfalls eine „andere Fassung des Theologiebegriffs“ erblickt: „Er [sc. der Theologiebegriff] wird dem zweiten Moment des theologischen Prinzips zugeordnet.“ (Ebd.)

25

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den muss, was den Aspekt des Hinaustreibens über eine bestimmte momenthafte Ausprägung des Prinzips initiiert. Das Hinaustreiben über die Wahrheitstheorie, wie es in der Sinntheorie geschieht, fällt damit ein Doppelurteil über die Wahrheitstheorie: Als defizitär, mithin als das Prinzip nur partiell, d.h. in einem seiner Aspekte, nämlich in seiner abstrakten Absolutheit, darstellend, ist es schlechterdings zu negieren. Gleichzeitig wird die Prinzipdarstellung der Wahrheitstheorie durch die Sinntheorie nicht derart abgelehnt, dass die vorgestellte Form des Prinzips als solche zurückgewiesen würde; vielmehr wird sie kraft eines konkreten Perspektivenwechsels präzisiert, indem just der in der Fundierung unterbelichtete Aspekt nun konstitutiven Anteil innerhalb der Prinzipkonstruktion gewinnt.26 Das Prozedere des Hervorgehens der Sinntheorie aus einer präzisierten Wahrheitstheorie und die damit einhergehende Betonung des subjektivkonkreten Moments gegenüber dem abstrakt-absoluten bewirkt nun allerdings gewissermaßen ein ‚Übersteuern‘ in der Sinntheorie. Damit ist jedoch nicht – wie man assoziieren könnte – ein zu weites Ausschlagen der Sinntheorie gegenüber der als partiell defizitär erkannten Wahrheitstheorie gemeint; würde sich nämlich der Aspekt des Übersteuerns darin ausdrücken, so wäre zu fragen, weshalb Tillich die präzisierte Systemfassung in dieser Radikalität vornimmt und nicht auf eine ‚Mitte‘ hinarbeitet, die eine Gefahr, nun dem gegenteiligen Pol zu verfallen, vermeiden könnte. Die Übersteuerung in der Sinntheorie bezeichnet mithin nicht die Art und Weise der Distanzierung von der Wahrheitstheorie. Dass allerdings überhaupt eine neue Perspektive eingenommen wird, dass also auch die Erkenntnis thetischer Fixiertheit selbst wieder hintreibt zu einer Ausprägung der Prinzipexplikation, die perspektivisch verfasst ist und somit zu erneuter Abstraktheit des Ansatzes, auch in der Sinntheorie, führt, macht das Übersteuernde in der durch die Sinntheorie vorgenommenen Präzisierung aus. Von Abstraktheit ist auch hier zu sprechen, obwohl diese in der Sinntheorie nun völlig gegensätzlich gelagert ist zu der in der Wahrheitstheorie. Perspektivität an sich zieht notwendig eine Fixierung auf den Standpunkt, von dem her die Perspektive eingenommen wird, nach sich, so dass konkrete Bestimmtheit Bestimmungsmoment von Perspektivität überhaupt ist.27 Damit hat hinwie————— 26

Nachvollzogen wurde dieser nicht nur systematische, sondern auch realiter geschehende Präzisierungsprozess im Briefwechsel Tillichs mit Emanuel Hirsch in den Jahren 1917/18. Vgl. dazu insbes. Kap. 2.1. 27 Von hier her erhellt auch nochmals genauer die oben getroffene Definition der Stadien als dezidiert ideal gefasste. Abstraktion – und diese findet sich unvermeidbar in jedem Stadienansatz – führt immer zu Idealität, niemals zu rein konkreter Verfasstheit, die in eine abstrahierte Stadieneinteilung, d.h. in die Formung idealisierter Standpunktbezogenheit, in keiner Weise überführbar ist.

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derum auch das sinntheoretische Stadium als präzisierendes fundierenden Charakter gerade darin, dass es keinerlei Fundierung mehr zulassen will, sondern alle Prinzipfragen in Richtung auf das selbstbewusste Subjekt hin verschiebt. Genau in dieser Fixierung erweist sich aber die Perspektivität und damit Abstraktheit der Sinntheorie. Sinntheorie und Wahrheitstheorie fungieren mithin in gleicher Weise, indem sie beide die Einnahme von Standpunkten voraussetzen, mithin perspektivisch verfasst sind. Präzisierung in der Prinzipansetzung hat somit durchaus statt – allerdings nicht derart, dass diese über die momenthafte Verfasstheit des Ansatzes hinauszuführen vermag. Just ein Übersteigen der Momenthaftigkeit ist aber gar nicht intendiert, weil es der Perspektiveneinnahme notwendig bedarf, um überhaupt reale, d.h. konkret-wirkkräftige, mithin wahre, Aussagen über das Prinzip treffen zu können.28 Diesem Dilemma vermag kein Systemstadium zu entkommen – eben weil sie allesamt momenthaft fungieren. Auch das letzte, als ontologische Gestaltung bezeichnete Stadium der Systembildung Tillichs bleibt in dieser ambivalenten Sphäre des Momenthaften begriffen. In diesem dritten Stadium wird nun versucht analog der Funktion des dritten Systemmoments eine Synthesis der Pole reflexiven Vollzugs – von rein abstrahierend-idealistischer Warte aus bis hin zur selbstbewussten, ja die Gefühlsdimension umfassenden Subjektivität – zu bewerkstelligen. Auch für dieses Vorgehen ließe sich zwar der Begriff der Präzisierung einbringen, mithin das Geschehen als weiterer Präzisierungsvorgang beschreiben; der Terminus der Präzisierung wäre an dieser Stelle jedoch insofern deplaziert, als nicht einfach die Prinzipfassung durch das Einbringen einer weiteren Perspektive erweitert und damit direkt über das vorhergehende Stadium der Sinntheorie hinausgeführt werden würde. Im Gegenteil ist es ja der Tillich’schen Bestimmung gemäß gerade Charakte————— 28

Diese Notwendigkeit macht auch Falk Wagner zum eigentlichen Hauptanliegen seiner Tillichinterpretation, wenn er den Fokus auf die „produktive Entfaltung der Freiheit“ (Wagner, Absolute Positivität, 190) setzt, die als solche nur in Form von in Vermittlung freiem und befreitem SichGegebensein von Selbstheit ansichtig wird. Genau darauf hin zielt ja Wagners „unbedinge Theorie des Sich-Gegebenseins“ (ebd., 180), nämlich gerade nicht beim puren Konstatieren prinzipiellen Ansichtigwerdens im Moment reproduktiv stehen zu bleiben, sondern von dem Sich-Gegebensein Gebrauch zu machen, mithin produktiv oder in anderen Worten: wahrhaft Moment zu sein. Damit formuliert Wagner aber nur das abstrakte Postulat nach einem Umgang mit Tillichs Werk. Die vorgestellte Momenttheorie in Verbindung mit ihrem transzendentalen Pendant beansprucht hingegen, über die reine Strukturbeschreibung hinauszugehen und auch die Einzelstadien Tillichs für die Interpretation seines Gesamtwerks fruchtbar zu machen. Dies dürfte durchaus auch im Sinne der Wagner’schen Tillichinterpretation liegen, da er die „Aufgabe der zukünftigen TillichInterpretation“ darin sieht, „danach zu fragen, warum Tillich zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils besondere Themen in den Vordergrund seines Interesses gerückt hat.“ (Ebd., 191 Anm. 34) Dies systematisch einer Erklärung zuzuführen ist das genuine Anliegen der vorliegenden Untersuchung im Ganzen.

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ristikum des dritten Moments, nichts Neues in die Prinzipdarstellung einzuführen, sondern vielmehr die explizierten ersten beiden Momente so vorstellig zu machen, dass sie sich im Begriff befinden, in Synthesis aufgehoben zu werden ins Absolute. Damit ist die Aufgabe des dritten Stadiums jedoch nicht als Präzisierung zu beschreiben, weil am Vorfindlichen keine Korrektur vorgenommen wird. Zielpunkt ist hingegen die Gestaltung der bisher benannten Perspektiven im Rahmen einer dynamischen Gesamtschau, die unter dem Begriff des Seins vollzogen wird. Da sich die Prinzipfassung damit ihrer absoluten Gestalt annähert, böte sich auch der Begriff der Vollendung für dieses Stadium an, der jedoch gleichfalls wie der der Präzisierung als nicht völlig zutreffend ausscheidet, weil das Vollendungsgeschehen im letzten Stadium ja erst im Anheben begriffen angeschaut wird und nicht die Vollendung einer Synthesis von Abstraktheit und Konkretheit thematisiert. Genau Letzteres würde nämlich der Vollendungsbegriff implizieren, der unweigerlich die Vorstellung einer Klimax evoziert, die mit dem Momentbegriff, der auch für das dritte Systemstadium anzusetzen ist, schlechterdings nicht harmonisieren könnte. Aber auch die absolute Gestaltung des Prinzips ist konkrete Perspektive, selbst wenn sie vorstellig zu machen sucht, was sich dem reflexiven Vollzug zu entziehen beginnt, nämlich die Synthese von abstrakt und konkret in und trotz ihrer polaren Differenz. Genau dies ansichtig zu machen, ist nun aber die Perspektivität des ontologischen Stadiums. Dabei bewegt es sich gleichsam weg von der Subjektivität des zweiten wie von dem abstrakten Zugang des ersten Stadiums bzw. Moments, um die lebendige, d.h. dynamische, Einheit beider zu schauen. Auch wenn sich die Perspektivität der ontologischen Gestaltung dadurch im Oszillieren zwischen den beiden ersten Systemmomenten ausmachen lässt, bleibt auch dieses dritte Stadium an die Abstraktheit der beiden ersten gebunden und entkommt damit der Perspektiveneinnahme nicht, dehnt den Perspektivenbegriff jedoch am weitesten aus: Perspektivität aufzuheben bzw. genauer gesprochen: das gesamte Feld der Perspektiveneinnahme, mithin die Polarität von allgemein-abstrakt und subjektiv-konkret, in absoluter Synthesis zusammenzuführen, ist eben die Perspektivität des dritten Stadiums. Dieses zeichnet sich damit genau darin aus, das, was es selbst ist, nämlich momenthafte Betrachtungsinstanz, prinzipiell zu negieren, wobei diese Negation selbst immer nur im Rahmen konkreter Betrachtung, mithin unter momenthafter Ausprägung von Perspektive, möglich ist. Vollendungscharakter kommt dem dritten Stadium somit eben nicht zu, weil erstens die anderen beiden Momente nicht einfach Vorstufen oder Durchgangspunkte für das dritte Moment sind – dies sind sie – als Stadien – zusammen mit dem dritten Moment nur für das Prinzip selbst! Die ersten beiden Momente stehen nämlich zweitens mit dem dritten vielmehr in reziprokem Bezug, indem sie es – wie alle Momente bzw. Stadien sich unter-

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einander – allererst mitkonstituieren. Dies bedeutet jedoch nichts anderes, als dass das dritte Stadium der beiden anderen unaufhörlich und v.a. – dies ist für die Einzelwertigkeit der Stadien von Bedeutung – in Gänze, d.h. in nicht substituierbarer Notwendigkeit, bedarf – und vice versa. Die prinzipielle Dynamik ‚endet‘ mithin nicht im dritten Stadium, sondern bewegt sich durch es in gleicher Weise hindurch wie durch die anderen beiden. Würde man nämlich mit dem dritten Stadium einen Endbegriff assoziieren können, so müsste wiederum von ihm als einem absoluten System gesprochen werden, das in der Lage ist, das Prinzip tatsächlich vollständig in seinen Ansatz einzuholen; solches vorzunehmen steht dem Tillich’schen Denken jedoch schlechterdings fern, wie sich aus der Analyse aller Stadien entnehmen lässt. Die Tendenz zum Absoluten, die das dritte Stadium in Sonderheit auszeichnet, führt, wie gesehen, wiederum in die Richtung einer Abstraktheit, die dem ersten Stadium ähnelt, weil gleichfalls vom direkt subjektiven Bezug abstrahiert wird. Freilich unterscheiden sich erstes und drittes Stadium in ihrer Art der Abstraktion,29 indem das erste Stadium eben einer thetischen Absolutsetzung, das letzte Stadium hingegen einer die Perspektivität als solche übersteigenden absoluten Synthesis zuneigt. Beides bewegt sich jedoch von der unmittelbaren Konkretheit des zweiten Stadiums weg, so dass die aporetischen Tendenzen von erstem und drittem Stadium größere Verwandtschaft aufweisen als dies in ihrem Verhältnis zum zweiten Systemstadium der Fall ist. Jedoch steht das dritte Stadium – und hierin unterscheidet es sich vornehmlich von dem ersten Stadium – in besonderer Weise mit den beiden ersten momenthaften Stadienausprägungen in Beziehung, insofern es aus dem Zusammenbringen beider seine Spezifität allererst gewinnt. Die ersten beiden Stadien bzw. Momente hingegen sind in ihrem Verhältnis gerade durch ihre Opposition unter- und gegeneinander bestimmt. Gleichzeitig zu dieser Grundbestimmung der Relation hat allerdings ein Widerspruch des ersten und zweiten Stadiums gegen das dritte statt, weil letzteres gerade darin die jeweiligen Perspektiven der ersten beiden tendenziell zu verschmelzen droht, was auf eine Aufhebung, mithin auf ein Verlustiggehen der Eigenwertigkeit der beiden ersten Stadien zulaufen würde; sich dem zu widersetzen, ist notwendiges Implement der beiden ersten Stadien als solcher – und damit auch gewissermaßen ‚im Sinne‘ des dritten Stadiums, das ob seiner spezifischen Perspektivität, die gerade Perspektivität aufzuheben sich anschickt, im Begriff steht, sich selbst aufzuhe————— 29

Auch bezüglich des zweiten Stadiums als des subjektiv verfassten ist ja von einer Form der Abstraktion gesprochen worden, die sich durch die Perspektivität und die damit untrennbar verbundene Standpunkteinnahme ergibt.

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ben, was ob des Stadium- und damit Momentseins auch des dritten Stadiums schlechthin unmöglich ist. Genau daran lässt sich der aporetische Punkt des dritten Stadiums in Tillichs Systembildung ablesen, dass es nämlich seinem eigenen Wesen zu widersprechen droht, sofern es verwirklicht, was seine Perspektive ist.30 Dem zu widerstreiten ist genuine Aufgabe und Funktion der ersten beiden Stadien, die dies durch ihr unaufgebbares Momentsein in fortwährendem Selbstanspruch vorbringen, so dass das dritte Moment nicht zum Koinzidenzpunkt prinzipieller Vorgaben wird, wodurch das dritte Moment selbst vernichtet und damit die Realität jedweder Prinzipexplikation verunmöglicht wäre – das Prinzip würde letztlich in kristalline Intransigenz zusammenfallen. Um diesen Ausgleich zwischen momenthafter Selbstbehauptung, die in ihrer möglichen Polarität die ersten beiden Momente umfasst, und wesenhafter Einheit bzw. Vereinbarkeit in und trotz Differenz, wie es das dritte Moment vorstellt, bemühen sich in wechselseitigem und konstitutivem Bezug alle drei Momente, die nach der vorgestellten Momenttheorie auf die Stadien der Systembildung Tillichs selbst Anwendung finden können und müssen. Machte der Stadienbezug untereinander eher immanent-trinitätstheologische Assoziationen namhaft, so ist die Stadienabfolge durchaus mit einem ökonomischen Aspekt zu zeichnen: Damit ist nicht in modalistischer Weise ein Verständnis bezeichnet, dem zufolge die drei Systemstadien nacheinander ihre Wirkung entfalten, sich die Stadien mithin in Aneinanderreihung gegeneinander abgrenzen. Vielmehr meint das Auftreten des Prinzips Tillichs in drei momenthaften Stadien gerade die Realisierung dessen, was wesensmäßig sich der Realisierung entzieht, weil es als schlechterdings absolut vorstellig zu werden hat, nämlich das Mysterium Gottes, das in der Offenbarung anschaubar wird. Die Momenthaftigkeit der Stadien unterstreicht dabei ihre eben konstatierte Wertigkeit im Einzelnen. Anders formuliert: Prinzipielle Vollkommenheit ist nur garantiert, sofern und soweit das Prinzip nicht seiner Momente verlustig geht, die allesamt offenbarerische Qualität in der Weise besitzen, dass sie Perspektiven auf das NichtEinholbare – theologisch gesprochen: Gott, systematisch gesprochen: das Prinzip – darstellen und auch allererst eröffnen. Das Prinzip ist mithin nicht abgesehen von seinen Momenten. Jedoch muss in gleicher Bestimmtheit ausgesagt werden, dass die Momente des Prinzips qua Momentsein immer nur Objektivationen – nichts anderes meint der Perspektivenbegriff – dar————— 30

Die zweite Gefahr neben einer Selbstaufhebung des dritten Stadiums, sofern es seine Intention realisierte, wäre die unstatthafte Selbstverabsolutierung. Würde das dritte Stadium wesensmäßig zur Geltung kommen und gleichzeitig an seiner Form festhalten, so würde es sich letztlich mit dem Prinzip als solchem identisch setzen und sich damit zum absoluten System erklären. Auch dem wehren die beiden ersten Momente durch ihren Eigenanspruch.

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stellen, die in ihrem verobjektivierenden Charakter niemals direkt in eins fallen können mit dem Prinzip, das sich der Verobjektivierung schlechterdings entzieht, ja gänzlich außerhalb der Subjekt-Objekt-Struktur zu verorten ist. Als Objektivationen sind sie jedoch die einzig mögliche Realisierungsgestalt des Prinzips, weshalb vom Prinzip nicht anders gesprochen werden kann als unter seiner Anschauung in den Momenten. Genau dieser Punkt erweist sich als deutliche Parallele zur ökonomischen Vorstellung der Trinität. Pointiert gesprochen bedeutet dies: Das, was die Momente vorstellen, das Prinzip, ist in ihnen vollständig angeschaut und anschaubar, wenn auch nicht in absoluter Fassung, der sich die Perspektivität, mithin die Verobjektivierung des Prinzips, widersetzt, die jedoch von unhintergehbarer Notwendigkeit für die Realisierung des Prinzips selbst ist. Demnach ist aber klar zu trennen zwischen einem Fortschreiten in der Stadienbildung, wie dies ganz konkret in der Werksgeschichte Tillichs vorliegt, und dem nahezu immanent-theologischen systematischen Hervorgehen der Stadien aus einander. Im ersten Fall lösen sich nämlich Systemkonzepte realiter gegenseitig ab, d.h. es finden Substitutionen theologischen Beginnens, mithin ein Fortschreiten im eigentlichen Sinne, statt. Betrachtet man die Abfolge allerdings dezidiert unter einem systematischen Gesichtspunkt, so kann von einer Verabschiedung dessen, woraus ein Weitergehen zu einem anderen Systemstadium anhebt, schlechterdings nicht die Rede sein. Der Fortschrittsbegriff und -gedanke an sich ist damit für die Stadien in ihrer systematischen Funktion auszuscheiden und eben durch den vorgeschlagenen des Momentes zu ersetzen, der die Relativität jedes Stadiums bei dessen gleichzeitiger Konstitutivität hervorhebt. Von einem tatsächlichen Fortschritt kann schon deshalb nicht die Rede sein, weil dies eben eine Vervollkommnungstendenz innerhalb des Prozedierens über die Stadien hinweg, also gewissermaßen eine Stufentheorie beinhalten würde. Genau dies steht jedoch der Momenttheorie diametral entgegen, die gerade die Einzelbedeutung jedweder Stadien in ihrer Unaufgebbarkeit für das Prinzip betont. Berechtigt ist dieses Vorgehen im Rahmen der Momenttheorie als adäquate Interpretation des Tillich’schen Werkes schon darin, dass Tillich selbst de facto seine früheren Systemüberlegungen und -stadien nicht übergeht oder gar auslässt, sondern sie immer als notwendiges Implement der Folgestadien begreift; dass dabei gerade jeder Stadienausprägung ein stadienspezifisches Defizit innewohnt, verstärkt diesen Befund weiterhin dahingehend, dass Systemfassung im Rahmen von Stadien prinzipiell als eine Form der Relativität zu betrachten ist. Deutlich wurde dies anhand der jeweiligen aporetischen Tendenzen, die sich bei jedem Stadium untrennbar mit dem jeweiligen Ansatzpunkt verbanden. Es käme mithin einem Missverstehen der Momenttheorie gleich, wollte man sie als Aufarbeitung der tatsächlichen Schriften Tillichs noch dazu in ihrer chronologischen Anordnung

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verstehen – dem versuchte schon der Begriff der Typologisierung weiter oben zu wehren. Gleichzeitig gilt es aber auszusagen, dass die Systemstadien bei Tillich kein systematisches Konstrukt darstellen, sondern sich genetisch aus den Schriften selbst ergeben, wenn das, was in den Texten intendiert ist, prinzipiellen Wahrheitsgehalt beanspruchen möchte. Schriftliche Fixierung prinzipiellen Wahrheitsstrebens in systematischer Form weiß sich damit immer gebunden an den eigentlichen Darstellungsgrund, das Prinzip selbst, wodurch die Selbstüberwindung in Form einer Selbstrelativierung notwendiges Moment innerhalb jeder Systemfassung für Tillich sein muss. In gleicher Weise ist jedoch der prinzipielle Gehalt niemals ohne seine konkrete Form, die ihm allererst Ausdruck und Ansichtigkeit zu verleihen vermag, so dass eine fortwährende wechselseitige Relation statthat, die weder systematisch aufgelöst noch prinzipiell bezweifelt werden kann. Was der reflexive Vollzug immer in zwei Schritte aufteilen muss, gilt es mithin – jedoch eben ohne es erneut systematisch zu fassen – zusammenzudenken in die für Tillich evidente Identität von Prinzip und System.31 Dieser unhintergehbaren Konstellation versuchte die vorliegende Untersuchung dahingehend Rechnung zu tragen, dass einerseits die systematischen Spezifika im Denken Tillichs herausgearbeitet, typologisiert und ins Verhältnis zueinander gesetzt wurden; dies lässt sich an der Dreigliedrigkeit der Arbeit ablesen, die in Sonderheit den systematischen Aspekt widerspiegelt. Das jeweilige Erkennen der aporetischen Tendenzen des Ansetzens Tillichs in einem bestimmten Stadium leitete dann über zu der verstärkt prinzipiellen Betrachtung, die metasystematisch – im oben explizierten Sinne verstanden – Lösungsansätze für die problematischen Punkte im jeweiligen Konzept anhand einer Orientierung am Prinzip Tillichs, mithin durch eine Synopse aller drei Stadien Tillichs, aufzuzeigen suchte, die allesamt beanspruchen, genuin entlang dem Tillich’schen Denken zu agieren, eben weil sie das Gesamt der Systeme Tillichs in den Blick nehmen – dass dabei über den jeweiligen stadienverhafteten Standpunkt hinausgegangen wurde, ist nicht nur nicht unstatthaft, sondern schlechterdings unvermeidbar, weil andernfalls die stadienspezifische Fixiertheit nicht prinzipiell aufbrechbar wäre.32 Es geht mithin nicht darum, System bzw. Systeme oder genau genommen deren stadienhafte Ausprägung gegen das ihnen immanente Prinzip auszuspielen; im Gegenteil kann dem reziproken und konsti————— 31

Vgl. dazu in der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ die Aussage Tillichs, „daß Prinzip und System nur für die darstellende Reflexion zweierlei sind, in Wahrheit aber das gleiche, einmal abstrakt, das andre Mal konkret aufgefaßt, faktisch dem Gegensatz von abstrakt und konkret enthoben.“ (A §4; 282) Hiermit ist exakt benannt, was in der Momenttheorie vorgestellt wird. 32 Zu den Lösungsansätzen für die Einzelstadien vgl. inbesondere die Kapitel 1.3.2.3, 2.4, 2.5 sowie 3.3.

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tutiven Wechselbezug von Prinzip und systematischer Ausformung nur angemessen begegnet werden, wenn beide in der Betrachtung immer wieder in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit aufeinander in Anschlag gebracht werden. Dies zu erhellen, aufzuzeigen und auch in systematischem Nachvollzug aufzuweisen, ist der Anspruch dieser Arbeit, die mithin in der Momenttheorie zwar die ‚Summe‘ ihrer Erkenntnisse vorstellt, die aber falsch, weil verkürzt verstanden wäre, ließe sie die Einzeluntersuchungen der Stadien mit ihren jeweiligen berechtigten und notwendigen Besonderheiten außer Acht. Es muss somit immer von der Momenttheorie weg hin auf die systematische Einzelgestalt verwiesen werden, wie sie jeweils in den Hauptteilen expliziert wird. Mit anderen Worten: Die Summe ist gerade die, dass sich das Verhältnis von Prinzip und System zwar metasystematisch bestimmen, jedoch niemals als Summe tatsächlich einholen lässt, sondern immer zurückverweist auf die systematische Einzelform. Anders lässt sich der Wahrheitsanspruch in Tillichs Theologie nicht begreifen, als dass niemals Wahrheit im Sinne absoluten Ergreifens in der Einzelform möglich ist. Zu beantworten ist in diesem Zusammenhang noch die Frage nach der Bestimmtheit der Abfolge der Stadien. Oder anders formuliert: Ist die Stadienabfolge beliebig oder hat eine Form der Invarianz statt? Entsprechend dem bisher Explizierten ist eine doppelte Scheidung anzusetzen: Zunächst muss im Rahmen der Systembildung Tillichs, so wie sie sich in der chronologischen Reihenfolge konkret darbietet, eine Invarianz angesetzt werden. Der hier noch zu veranschlagende Begriff des Fortschreitens impliziert genau dies, nämlich dass es die jeweiligen Charakteristika der Stadien sind, die den Systemansatz über sich hinaus zum jeweils nächsten treiben. An dieser Stelle eine Beliebigkeit in der Abfolge einzubringen, wäre unstatthaft. Nimmt man jedoch nicht den werkshistorischen, sondern den systematischen Standpunkt ein, so gestaltet sich das Bild stärker ausdifferenziert: Von den Systemausprägungen bzw. den unterschiedlichen Stadien aus betrachtet, lässt sich – wie dies oben bereits vorgenommen wurde – eine deutliche Interdependenz der Stadien ausmachen. Diese ist als gerade nicht willkürliche zu beschreiben, weil das spezifische Element, mithin der charakteristische Wesenszug, jedes Systemstadiums notwendig eine Bestimmtheit in der Relation zu den beiden anderen Stadien zur Konsequenz zeitigt. Besonders deutlich lässt sich dies im Verhältnis der beiden ersten Stadien untereinander und dem Bezug dieser beiden Stadien zum letzten, dritten Stadium aufweisen, braucht hier jedoch nicht wiederholt zu werden. Zwar gibt es, wie festgehalten, keinen Beginn und kein Ende innerhalb der Momentenkonstellation, weil es sich eben um ein dynamisches Verhältnis handelt, weshalb auch die Assoziation zur immanenten Trinität geweckt wurde; gleichzeitig kann eine Invarianz jedoch nicht in der Weise behauptet werden, dass die Beziehungsaspekte unter den Momenten beliebig wären.

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Betrachtet man die Systemstadien hingegen stärker von prinzipieller Warte aus – dies ist der zweite Betrachtungsaspekt – in ihrer Momenthaftigkeit, so tritt die Relation zwischen den Einzelstadien zurück hinter die Ansicht der Stadien als Momente, die wesensmäßig dasselbe in Ansicht bringen mit nur jeweils differenter Perspektive, so wie es auch der Begriff der Ökonomie vorstellt. Hierbei ist jedoch von einer schlechthinnigen Invarianz der Einzelstadien in ihrem Momentcharakter auszugehen, weil andernfalls die momenthafte Verwirklichung des Prinzips an konkrete Abfolgezusammenhänge gebunden werden müsste, was als schlechterdings dem Prinzip widersprechend auszuscheiden ist. Kurz gesagt: Als Momente sind die Stadien in ihrer Funktion variabel, in ihrem Bezug untereinander jedoch nicht. Die Verknüpfung der Stadien untereinander macht gleichfalls deutlich, weshalb die Gefahr eines perennierenden Durchlaufs der Momente im System verneint werden muss: Der Relation der Einzelmomente west ein eindeutig teleologischer Zug an, der sich in Sonderheit am Bezug der ersten beiden Momente zum letzten hin erkennen lässt. Es hat mithin eine klare Hinordnung der Momente – und auch Stadien – aufeinander statt. Eine Iteration des ewig Gleichen, die notwendig ohne Gewinn ablaufen müsste, ist deshalb bei Tillich auszuschließen. Oder anders formuliert: Tillichs Momente weisen untereinander zwar eine gewisse Invarianz auf; diese ist jedoch nicht von der Art, dass sie auf die beliebige Wiederholung ihres Aufeinanderfolgens hinausliefe. Der Momentenkonstellation wohnt im Gegenteil eine eindeutige Zielorientierung inne, die im dritten Moment zwar nicht in tatsächlicher Realisierung, jedoch in deren Anheben begriffen ist. Unbeschadet der teleologischen Orientierung der Momente und Stadien ist diese allerdings nicht als fixiert zu denken. Genau dies widerspräche ja der genuinen Bedeutung des Momentbegriffs. Deshalb eignet den Momenten und Stadien bei Tillich zwar ein eindeutiger Duktus; dieser schließt jedoch die Offenheit des Systems für den Neuansatz nicht aus, ohne dass es zu einer Iteration des Systems in gewissermaßen ‚schlechter‘ Unendlichkeit käme. Wiederholung hat in Tillichs System durchaus einen Platz – allerdings handelt es sich dann um Subkategorien, in denen die Dreimomentigkeit in Bezug auf einen bestimmten Themenbestand in Anwendung gebracht und deshalb repliziert wird. Insgesamt betrachtet bleiben die Dreimomentigkeit sowie die Stadienstruktur dadurch in ihrer Ausrichtung unangetastet. Oder pointiert gesprochen: Systemintern ist Iteration möglich,

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prinzipiell ist sie ob der teleologischen Ausrichtung des Prinzips und seiner Momente unmöglich.33 Für das Verständnis der Systemstadien an sich ist jedoch entscheidend, dass jeder Systemansatz Tillichs als eine transzendentale Strukturtheorie angelegt ist, was bedeutet, dass das Denken sich – v.a. dem System von 1913 zufolge – als Grenze seiner selbst versteht und damit alles, was über es selbst hinausführt, als schlechterdings nicht von sich selbst erfassbar konstatieren muss.34 Diese Selbstbescheidung des Denkens auf das Feststellen von Transzendentalia, die das Denken zwar allererst bedingend ermöglichen, selbst aber nicht mehr von ihm eingeholt werden können, rührt von Tillichs metalogischer Methode her. Damit ist nichts anderes festgehalten, als dass jedem logischen bzw. rein reflexiven Vollzug notwendig ein alogisches Moment inhäriert, dessen die Reflexion zum Vollzug ihrer selbst bedarf, das sie jedoch nicht aus sich abzuleiten vermag – denn andernfalls wäre es ja wiederum rein logisch. Just dies umschreibt aber die Selbstkonstitution des Selbst, in deren Genese das Nicht-aus-sich-selbst-Sein des Selbst nicht anders begriffen werden kann als im Rahmen eines Vermitteltseins des Denkens, das an sich unmittelbar ist, sich jedoch immer schon als sich gegeben vorfindet. Weiter als zur Konstatierung dieses Vermitteltseins eigener Unmittelbarkeit kann reflexiver Vollzug nicht fortschreiten – und darf es auch nicht, möchte er sein empirisches Vorgehen nicht aufgeben und nicht auf metaphysische Abwege – seien sie vorkantischer oder nachkantisch-idealistischer Provenienz – gelangen. Das Sich-in-Bezug-Setzen zur Transzendentalursache von Selbstheit hat nun vorstellig zu werden als religiöser Vollzug, der zwar nicht Denken als überwunden verabschiedet und irrationale Wege beschreitet, jedoch in seinem transreflexiven Vorgehen Denken dahingehend überschreitet, dass es sich im Rahmen der Selbstüberwindung auf sich selbst bescheiden muss.35 Diese Doppelheit religiösen Vollzugs, einerseits Denken zu überschreiten, andererseits seine Kategorien als für das religiöse Subjekt nicht verlassbar zu konstatieren, macht Tillich ansichtig in dem neben dem Paradox wohl zentralsten Begriff seiner Theologie, der Rechtfertigung. Diese stellt das Doppelurteil über alles Seiende heraus, nämlich dass es als solches nur in Vermittlung ist, kraft seines Ei————— 33

Darin erweist sich auch die bleibende Bedeutung des ersten, wahrheitstheoretischen Stadiums der Systembildung Tillichs. Bereits dort ist eine eindeutige Richtung des Prinzipablaufs aufgezeigt, weshalb eine schlichte Wiederholung schlechterdings auszuschließen ist; vgl. Kap. 1.1.1. 34 So auch Christian Danz bereits für die ‚Systematische Theologie von 1913‘, die auch nach Danz „eine Verschränkung von transzendentalphilosophischen, religions-, kultur- und geschichtstheoretischen Reflexionen“ auszeichnet (Danz, Geschichtliche Offenbarung, 176). 35 Daher auch Tillichs Insistieren auf dem Prinzip der Selbstüberwindung, das als Konstante in die obige Explikation aller Systemstadien eingezeichnet wurde.

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genanspruchs sich dieser jedoch in jedem Moment zu widerstreben anschickt, weshalb es – allerdings nur dann, wenn die Selbsterhebung im Rahmen einer Abtrennung vom sie erst ermöglichenden Grund, Gott, stattfindet – der Rechtfertigung bedarf, die das leistet, was das Individuum zu leisten schlechterdings außerstande ist, nämlich die Selbstüberwindung zu bewerkstelligen, die eben nicht als vom Selbst selbst initiiert, sondern ihm in schierer Faktizität zugesprochen vorstellig zu werden hat. Eine Selbstüberwindung im einfachen Wortsinn ist somit gänzlich ausgeschlossen und nur im Rahmen von Vermittlung statthaft. Die Bezugnahme bzw. genauer: das In-Bezug-Setzen des Selbst zur Rechtfertigungsinstanz ist gleichbedeutend mit dem Vollzogensein-Lassen der Rechtfertigung an sich, was in Tillichs Nomenklatur in Identität steht mit dem Glaubensbegriff. Just in diesem Feld hat der Übergang zur konkreten Religion statt, die freilich nicht direkt auf den Glaubensvollzug beschränkt ist und sein darf, weil ob der Konkretheit alles dessen, was religiös sein kann, absolute Religion niemals als Phänomen zu eruieren ist, sondern immer nur in Paarung mit konkreter Religion auftritt. Der Christus Jesus schließlich repräsentiert das konkrete Pendant des Glaubens, das das paradoxe Rechtfertigungsgeschehen nun in concreto und nicht in abstraktem Selbstvollzug vorstellig macht, weshalb von einer Gleichursprünglichkeit von Glaube und Offenbarung gesprochen werden muss, auch wenn die beiden Pole unter Reflexionsbedingungen klar voneinander scheidbar sind. Auf dieser Grundlage gilt es noch, den näheren Bezug von Momenttheorie und transzendentaler Strukturtheorie zu erhellen: Das, was sich offenbart resp. dem Glauben als Rechtfertigungsvollzug sein Fundament verleiht, ist eben nicht anders denkbar als in Form verobjektivierter Instanzen, die für Tillich im Christus Jesus in konkreter Fassung und im trinitarischen Gott in seiner Absolutheit vorstellig werden. Das fortwährende Vermitteltsein unmittelbarer Selbstheit lässt sich mithin nicht durch die Konstatierung des Vermittlungsgeschehens im religiösen Akt beruhigen, sondern bedarf im konkreten Kontext einer Instanz, die dieses Vermittlungsgeschehen einerseits bewerkstelligt und andererseits garantiert. Selbstheit kommt also nicht umhin, ihre eigene Genese bzw. ihr immer schon statthabendes SichGegebensein in Form der eigenen Selbstheit, mithin als Objekt, zu betrachten. Um sich selbst zu vollziehen und nachzuvollziehen bedarf Subjektivität stets des eigenen Operationsmodus der Subjekt-Objekt-Struktur, die das Vermittlungsgeschehen eben nur anschauen kann in verobjektivierter Fassung, die sich im Feststellen von Vermittlungsinstanzen äußert. Die möglichen Formen des Vorstelligwerdens sind für die Reflexion in der Polarität von Abstraktion und Konkretion gegeben. Der Garant des im Prinzip angeschauten transzendentalen Grundes muss also unter der Doppelheit des Reflexionsspektrums aufgespalten werden, weshalb Verobjektivierung stets

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Tillichinterpretation im Rahmen einer transzendentalen Strukturtheorie

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ein Doppelphänomen – einmal abstrakt, einmal konkret – beinhaltet. Lässt sich daher die Momenttheorie als Transzendentaltheorie fassen, weil sie in ihren Momenten das vorstellt, was allererst bedingende Ursache der Momente ist, so ist sie dies erst im Rahmen einer Strukturtheorie, die das, was transzendental grundgelegt ist, für das reflexive Bewusstsein in das Nachund Nebeneinander der Momente zerlegt. Das Anliegen einer transzendentalen Strukturtheorie kommt somit gewissermaßen noch vor dem der Momenttheorie zum Stehen, weil die transzendentale Strukturtheorie den momenttheoretischen Gehalt erkenntnistheoretisch zu erfassen sucht. Wird die Momenttheorie demnach als transzendentale Strukturtheorie expliziert, dann bedeutet dies nichts anderes, als dass das Verhältnis von Prinzip und System in die epistemologische Dimension übersetzt wird. Benannt ist damit näherhin, dass sich das Verhältnis von Prinzip und System in der Relation von erkennendem Subjekt und dessen Transzendentalursache reproduziert. Von immenser Bedeutung ist dieses Translationsunternehmen deshalb, weil abgesehen vom erkennenden Subjekt momenttheoretisches Denken zu einem rein abstrakten Spiel metasystematischer Couleur zu depravieren droht, also genau dem zu verfallen anhebt, was die Momenttheorie gerade vermeiden möchte. Der Aspekt der Strukturanalogie ist nun hierbei jedoch – eben aufgrund des reflexiven Verobjektivierungsgeschehens – nicht direkt, also in Anwendung auf den transzendentalen Grund selbst, sondern in der Beziehung selbstbewusster Subjektivität zu den Verobjektivierungen von Transzendentalität einzubringen. Was in der Momenttheorie somit in abstracto in seiner systematischen Bedeutung aufgezeigt wurde, tritt nun in seiner konkreten Relevanz für das Einzelselbst zutage. Oder anders formuliert: Die Abstraktheit momenttheoretischer Überlegungen wird in der transzendentalen Strukturtheorie mit dem erkennenden Subjekt in Beziehung gesetzt. Dabei bezeichnet die Strukturtheorie die strukturelle Analogie zwischen erkennendem Selbst und den Objektivationen der Transzendentalursache bzw. systematisch gesprochen: des Prinzips. In polarer Fassung stellt in diesem Rahmen die abstrakte Verobjektivierung materialiter den Unmittelbarkeitspol, die konkrete Objektivation den Vermittlungspol dar. Dies ist so zu verstehen, dass abstrakter Absolutheit Unmittelbarkeit dergestalt eignet, dass sich die Gleichzeitigkeit von Vermittlung und Unmittelbarkeit im abstrakten Pol auf die Unmittelbarkeit hin verschiebt. Primärer Aspekt abstrakter Objektivation ist damit das Nicht-Angewiesensein auf Vermittlung kraft Prävalenz der Unmittelbarkeit; damit wird der Pol zwar zu dem, was er ist, nämlich einer Fixierung, veranschaulicht aber die Unmittelbarkeit in absolut-abstrakter Ausprägung. Demgegenüber versinnbildlicht der konkrete Pol nahezu in Ausschließlichkeit das Vermitteltsein seiner selbst. Er zeigt sich mithin nur so als er selbst, insofern er in Vermittlung steht mit

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dem schlechterdings Unmittelbaren. Diese polare Bestimmung führt nun aber so weit, dass Unmittelbarkeit aufgrund permanenten Vermitteltseins praktisch nicht mehr zu scheiden ist von reiner Unmittelbarkeit, weil das Moment der Unmittelbarkeit ein und dasselbe ist – im ersten Fall durch direkte Unmittelbarkeit, im zweiten durch schlechthinniges Vermitteltsein. De facto stellen daher beide Pole dieselbe Unmittelbarkeit vor, nur einmal im Abstrakten, einmal im Konkreten. Theologisch betrachtet lässt sich dies in die Relation von trinitarisch-absolutem Gott und konkretem Christus Jesus übersetzen, wie es in Sonderheit für die Sinntheorie Tillichs aufgezeigt wurde und hier nur nochmals in Erinnerung gerufen sei.36 Als Objektivationen west diesen insofern Strukturanalogie zum erkennenden bzw. glaubenden Subjekt an, als beide erst in ihrer Beziehung zueinander tatsächlich in Vermittlung stehen und ihnen somit prinzipielle Absolutheit zugesprochen werden kann, so wie auch dem Subjekt durch sein Stehen inmitten dieses Vermittlungsgeschehens, also zwischen beiden Polen, erst kraft dieser Vermittlung, d.h. wiederum prinzipiell, Unmittelbarkeit eignet. Als Objektivationen sind sie allerdings ausschließlich perspektivische Fixierungen, die entsprechend dem Momentbegriff fungieren, weshalb ihr Absolutheitsanspruch immer ein ‚nur‘ prinzipieller sein kann, also einer, der sich erst durch seine dem Prinzip sich unterstellende Selbstüberwindung einzustellen vermag. Soll nun aber Erkenntnis stattfinden, so hat diese immer an den Strukturanaloga subjektiver Verfasstheit, mithin den Objektivationen der Transzendentalursache, anzusetzen, weil die Letztgenannte selbst nicht mehr einholbar ist in den epistemologischen Schluss, sondern diesen samt seiner Strukturiertheit allererst konstituiert – nur so ist die Transzendentalursache nicht wie etwa im kosmologischen Gottesbeweis als erster Beweger und somit im Rahmen des Bedingten selbst, sondern schlechterdings außerhalb und über diesem stehend ansiedelbar. Erkennendes Subjekt sowie Objektivationen als solche gleichen sich mithin strukturell darin, in ihrer Bestimmtheit niemals mit der Transzendentalursache zusammenzufallen, in ihrem Bezug untereinander jedoch das gesamte Spektrum des transzendental Ermöglichten zu erfassen. Damit hat freilich keine Erkenntnis des Transzendentalen selbst statt – dies wäre ja auch eine contradictio in adiecto. Erkannt wird vielmehr, dass reflexiver Vollzug bis hin zum Alogismus stets in Vermittlung zu verstehen ist, die Unmittelbarkeit des Selbst also keine Selbstkonstruktion ist – obwohl sie das in einem zweiten Schritt kraft ihrer ihr gegebenen Unmittelbarkeit auch ist –, sondern sich selbst nur als in Vermittlung unmittelbar erfährt. ————— 36

Vgl. insbes. Kap. 2.4.2.

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Tillichinterpretation im Rahmen einer transzendentalen Strukturtheorie

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In Anbetracht dessen bleibt die transzendentale Strukturtheorie ohne die Momenttheorie als ihrem systematischen Überbau unverständlich, weil sie die Wechselwirkung von Prinzip und System allezeit voraussetzt, und gleichzeitig die Momenttheorie ohne die transzendentale Strukturtheorie beziehungslos ohne Wirkung auf das erkennende Subjekt. Erst die reziproke Beziehung beider, die dann allerdings die transzendentale Strukturtheorie als Kernanliegen der Momenttheorie aufzeigt,37 ermöglicht daher das adäquate Verständnis von Tillichs Prinzip der Theologie. In der Theologie Tillichs ist somit alles abhängig von einer Transzendentalität, die als solche nicht begrifflich einholbar ist, ja nicht eingeholt werden darf, soll sie nicht ihres transzendentalen Charakters verlustig gehen. Als solche steht Transzendentalität immer in direktem Bezug zum Begriff des Transzendenten, weil das Transzendentale als jenseits von Gegenständlichkeit und Nicht-Gegenständlichkeit begriffenes für Tillich das schlechthin Transzendente darstellt. Dies meint, dass Transzendenz bei Tillich mit dem Absolutheitsbegriff koinzidiert; jedoch ist hier Absolutheit im Sinne des dritten Moments zu verstehen, also als eine, die die Identität von abstrakter Absolutheit und konkreter Relativität vorstellt. Nur in diesem Verständnis ist nach Tillich überhaupt von Absolutheit zu sprechen, nämlich in Bezug auf die uneinholbare Transzendentalität, die als solche das Transzendente darstellt. Entsprechend dem Verständnis von Transzendentalität stehen die Momente in Tillichs System immer selbst dergestalt unter dem Prinzip selbst, dass sie zwar fixierte Perspektiven des Prinzipvollzugs zu explizieren versuchen, dies jedoch ob der uneinholbaren Dynamik des im Prinzip Prinzipiierten niemals in rein reflexivem Nachvollzug vermögen. Dasselbe ist auszusagen für die Stadien der Systembildung Paul Tillichs, insofern auch ihnen Momenthaftigkeit dergestalt eignet, dass sie als Fixationen an sich betrachtet aporetisch werden, ja aporetisch werden müssen, da sie perspektivisch das zum Ausdruck bringen wollen, was sich jeglicher Perspektivität wesenhaft entzieht, weil es als Dynamik verfasst ist. Ihre Berechtigung erfahren die Systemstadien Tillichs jedoch darin, dass es ihrer bedarf, um für den reflexiven Nachvollzug – und ein anderer ist im reinen Wortsinne nicht denkbar – das Nicht-Nachvollziehbare in paradoxer Fassung rezipierbar zu machen. Die Stärke Tillich’scher Theologie erweist sich mithin gerade in ihrer vermeintlichen Schwäche: Dadurch, dass jedes Stadium in der Systembildung Tillichs an sich defizitär bzw. einer Form der ————— 37

Insofern lässt sich – sämtliche aufgestellten Prämissen berücksichtigend – die transzendentale Strukturtheorie zugespitzt als das ausmachen, was in der Momenttheorie als – trinitätstheologisch gesprochen – Wesen fungiert, das in allen Stadien in Gänze, jedoch perspektivisch fixiert realisiert ist.

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Aporie nahestehend ist, sich aber als solches erkennt, vermag es sich unter sein eigenes Prinzip zu stellen, dem als Moment zu dienen seine eigentliche Aufgabe ist.

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Hinweise zur Zitation

Im Allgemeinen folgen die Abkürzungen der Titel dem Abkürzungsverzeichnis der TRE (= Siegfried M. Schwertner, Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, Berlin/New York 21994). Die angeführte Literatur wird immer bei ihrer ersten Nennung vollständig zitiert und im Folgenden dann mit Kurztiteln wiedergegeben, die im Literaturverzeichnis im Anschluss an die jeweilige Literatur in eckigen Klammern angegeben werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses wird Literatur in Sammelbänden mit einer Kurzform des Sammelbandes, die nur Herausgeber und Haupttitel nennt, angeführt. Die vollständigen bibliographischen Daten zum Sammelband sind dann unter dem ersten Herausgebernamen zu finden, wo das Werk vollständig zitiert wird. Dieses Verfahren kommt allerdings nur zum Tragen, sofern mehr als ein Beitrag aus einem Sammelband zitiert wird. Die bei Mehrfachnennungen verwendeten Kurztitel der Forschungsliteratur sind im Literaturverzeichnis durch Kursivierung kenntlich gemacht. Die etwas komplizierte Zitation der Paragraphen der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ erfolgt nach der im fortlaufenden Text der Edition in EW IX angegebenen Zählung, nicht nach dem nachträglichen ‚Inhaltsverzeichnis‘, der ‚Skizze‘ (EW IX, 426–429). Da sich durch die dreifache Gliederung der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ die Paragraphennummern wiederholen, wird zwischen den Paragraphen der Apologetik, der Dogmatik und der Ethik durch ein Voranstellen des Anfangsbuchstabens des entsprechenden Teils der ‚Systematische[n] Theologie von 1913‘ vor die Paragraphenzählung unterschieden; etwa „A §10“ für den zehnten Paragraphen der Apologetik oder „D §2“ für den zweiten Paragraphen der Dogmatik. Nach einem Semikolon wird daraufhin die entsprechende Seitenzahl angeführt. Bei Hervorhebungen in Zitaten wird durchgängig so verfahren, dass durch den jeweils zitierten Autor vorgenommene Hervorhebungen im Zitat übernommen werden und nur speziell durch den Verfasser dieser Untersuchung eingefügte Hervorhebungen mit Hilfe eines Vermerks am Ende des Zitates („Hervorhebung[en] S.D.“) kenntlich gemacht werden. Wird eine im Text vorgefundene Hervorhebung beim Zitieren nicht übernommen, so wird darauf ebenfalls verwiesen. Sind keinerlei Vermerke angeführt, so hat der

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Hinweise zur Zitation

Leser also die Fassung des Textes vor sich, wie sie sich in der Vorlage findet (ausgenommen sind davon jedoch Konjekturen durch den Verfasser).

Siglen- und Abkürzungsverzeichnis GW

Paul Tillich, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959ff.

EW

Paul Tillich, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken, Stuttgart u.a. 1971ff.

MW/HW

Paul Tillich, Main Works/Hauptwerke, Bd. I–VI, hg. von Carl Heinz Ratschow, Berlin/New York 1987–1998.

ST

Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. I–III.

SW

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämtliche Werke, hg. von K.F.A. Schelling, I. Abteilung, Bd. 1–10, II. Abteilung, Bd. 11– 14, Stuttgart 1856–1861; zitiert wird nur der jeweilige Band in römischer Ziffer samt der entsprechenden Seitenzahl. Der Text richtet sich nach den im Literaturverzeichnis aufgeführten Editionen.

KrV

Imanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (A: 1. Aufl.; B: 2. Aufl.).

[…]

Auslassung in der zitierten Passage.

[]

In eckigen Klammern werden Konjekturen oder Anpassungen des zitierten Textes vermerkt. Auf Emendationen, die sich bereits in der Vorlage befinden, wird gesondert verwiesen.

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Literatur

Schriften von Paul Tillich Auf der Grenze, in: GW XII: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1971, 13–57. Briefwechsel mit Emanuel Hirsch (1917/1918), in: EW VI: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, hg. von Renate Albrecht und René Tautmann, Frankfurt a.M. 1983, 95–136. Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, in GW V: Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart (11964) 21978, 51–98. Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart (Sommersemester 1919), in: EW XII: Berliner Vorlesungen I (1919–1920), hg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Erdmann Sturm, Berlin/New York 2001, 27–258. Das Problem der theologischen Methode, in: EW IV: Korrelationen. Die Antworten der Religion auf die Fragen der Zeit, hg. und übersetzt von Ingeborg C. Henel, Stuttgart 1975, 19–35. Das religiöse Symbol, in: GW V: Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart (11964) 21978, 196–212. Das System der religiösen Erkenntnis, in: EW XI: Religion, Kultur, Gesellschaft II. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933). Zweiter Teil, hg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York 1999, 76–174 (1. Version [Fragment]: 76–116; 2. Version: 116–174). Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, in: GW I: Frühe Hauptwerke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959, 109–293. Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität, dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher, in: EW IX: Frühe Werke, hg. von Gert Hummel und Doris Lax, Berlin/New York 1998, 435–588. Der Mut zum Sein, in: GW XI: Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie, Stuttgart 1969, 13– 139. Die Bedeutung der Religionsgeschichte für den systematischen Theologen (1965), in: EW IV: Korrelationen. Die Antworten der Religion auf die Fragen der Zeit, hg. und übersetzt von Ingeborg C. Henel, Stuttgart 1975, 144–156. Die christliche Gewißheit und der historische Jesus, in: Paul Tillich, Main Works/Hauptwerke, hg. von Carl Heinz Ratschow, Vol./Bd. 6: Theological Writings/Theologische Schriften, hg. von Gert Hummel, Berlin/New York 1992, 21–37. Die christliche Gewißheit und der historische Jesus. Vortrag auf der Kasseler Pfingstkonferenz 1911, in: EW VI: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, hg. von Renate Albrecht und René Tautmann, Frankfurt a.M. 1983, 50–61. Die Kategorie des ‚Heiligen‘ bei Rudolf Otto (1923), in: GW XII: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1971, 184–186. Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, in: EW IX: Frühe Werke, hg. von Gert Hummel und Doris Lax, Berlin/ New York 1998, 154–272. Die religiöse Lage der Gegenwart, in: GW X: Die religiöse Deutung der Gegenwart. Schriften zur Zeitkritik, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1968, 9–93.

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Literatur

Die sozialistische Entscheidung, in: GW II: Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum religiösen Sozialismus, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1962, 219–365. Dogmatik. Marburger Vorlesung von 1925, hg., eingel. u. mit Anm. u. Reg. vers. von Werner Schüßler, Düsseldorf 1986. Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927), hg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Werner Schüßler und Erdmann Sturm (= EW XIV), Berlin/New York 2005. Gläubiger Realismus II, in GW IV: Philosophie und Schicksal. Schriften zur Erkenntnislehre und Existenzphilosophie, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1961, 88–106. Grenzen. Rede bei der Verleihung des „Friedenspreises des Deutschen Buchhandels“ in Frankfurt am 23.9.1962, in: GW XIII: Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1972, 419–428. Kirche und Kultur, in: GW IX: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart (11967) 21975, 32–46. Kriegsbriefe an eine Studentin, in: EW V: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, TagebuchAuszüge, Bericht, hg. von Renate Albrecht und Margot Hahl, Stuttgart 1980, 111–123. Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, in: GW I: Frühe Hauptwerke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959, 11–108. Ontologie (1951), in: EW XVI: Berliner Vorlesungen III (1951–1958), hg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Erdmann Sturm, Berlin/New York 2009, 1–168. Rechtfertigung und Zweifel (1919), in: EW X: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der Deutschen Zeit (1908–1933). Erster Teil, hg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York 1999, 127–230 (1. Version: Manuskript: 128–185 [zit. als „Ms“]; 2. Version: Typoskript: 185–230 [zit. als „Ts“]). Rechtfertigung und Zweifel (1924), in: GW VIII: Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1970, 85–100. Religionsphilosophie, in: GW I: Frühe Hauptwerke, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959, 295– 364. Religionsphilosophie (Sommersemester 1920), in: EW XII: Berliner Vorlesungen I (1919–1920), hg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Erdmann Sturm, Berlin/New York 2001, 333–575. Systematische Theologie, Bd. I–III, Berlin/New York 1987 (Bd. I und Bd. II: unveränderter Nachdruck der 8. Aufl., Frankfurt a.M. 1984; Bd. III: unveränderter Nachdruck der 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1984). [zit. als „ST I“, „ST II“ und ST III“] Systematische Theologie von 1913, in: EW IX: Frühe Werke, hg. von Gert Hummel und Doris Lax, Berlin/New York 1998, 278–434. Systematische Theologie (1913/1914), in: Paul Tillich, Main Works/Hauptwerke, hg. von Carl Heinz Ratschow, Vol./Bd. 6: Theological Writings/Theologische Schriften, hg. von Gert Hummel, Berlin/New York 1992, 63–81. Theodicee, in: EW X: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der Deutschen Zeit (1908–1933). Erster Teil, hg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York 1999, 101–113. Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: GW IX: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart (11967) 21975, 13–31. Wesen und Wandel des Glaubens, in: GW VIII: Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1970, 111–196.

Weitere Primärtexte Dilthey, Wilhelm, Das Wesen der Philosophie (1907), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Stuttgart/Göttingen 51968, 339–416.

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Literatur

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Kähler, Martin, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, Leipzig 1892. –, Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt, 3. Aufl. sorgfältig überarbeitet und durch Anführungen aus der Heiligen Schrift vermehrt, Leipzig 1905 (11883, 21893). Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Bd. III und IV, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1968. Kierkegaard, Sören, Die Krankheit zum Tode, übersetzt, mit Einleitung und Kommentar hg. von Hans Rochol, Hamburg 1995. Lütgert, Wilhelm, Wilhelm Lütgert an Paul Tillich: Kritik an der Habilitationsarbeit, in: Paul Tillich, EW V: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, Tagebuch-Auszüge, Berichte, hg. von Renate Albrecht und Margot Hahl, Stuttgart 1980, 101–103. Otto, Rudolf, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, (11917) München 2004 (Nachdruck der ungekürzten Sonderausgabe von 1979). Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Philosophie der Offenbarung (= ders., SW XIII und XIV), Stuttgart/Augsburg 1858. –, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, hg. von Thomas Buchheim, Hamburg 1997. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), 2. Aufl., hg. von Martin Redeker, Berlin/New York 1999. Schweitzer, Albert, Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 6. Aufl. (1. Aufl.: Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben Jesu Forschung, 1906) (= ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 3, München o.J.). Simmel, Georg, Rembrandt, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 15, Frankfurt a.M. 2003, 305–515.

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Literatur

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–, ‚Sinndeutung der Geschichte‘. Zur Entwicklung und Bedeutung von Tillichs Geschichtsphilosophie, in: Christian Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie, 135–172. Zahrnt, Heinz, Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, München/ Zürich 81988.

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Register

Personenregister (Paul Tillich und Namen, die nur in Literaturangaben genannt werden, sind nicht aufgeführt.) Adorno, Theodor W. 29 Anselm von Canterbury 190 Aristoteles 131, 369, 377 Augustinus, Aurelius 143, 377 Barth, Karl 14, 30, 90, 210, 212, 221, 236 Barth, Ulrich 236, 238, 244 Bayer, Oswald 172, 240, 366 Buber, Martin 284 Bultmann, Rudolf 28, 171, 236

Heidegger, Martin 28, 294, 326, 370, 372 Heim, Karl 111, 269, 273–278, 282 Heimann, Eduard 27 Herrmann, Wilhelm 162f Hirsch, Emanuel 15, 20, 27, 32f, 37, 205, 235, 237–240, 242, 244, 246f, 250, 281, 285f, 293, 336, 425, 452 Holl, Karl 253f Horkheimer, Max 29 Hummel, Gert 24, 44, 46, 118 Husserl, Edmund 238, 377

Christophersen, Alf 235 Cornelius, Hans 29

James, Robinson B. 359

Danz, Christian 16, 27, 38, 46, 50, 82, 105, 164, 173f, 201, 205, 223, 235, 253f, 294, 298, 303, 315, 322f, 326, 334, 340f, 392, 438, 461 Dilthey, Wilhelm 13, 376 Dumas, Marc 315

Kähler, Martin 23f, 26, 106f, 118, 161, 163, 171, 240 Kant, Immanuel 13, 28, 73, 87, 237, 240, 306, 311, 370, 374, 377, 419, 421f Kierkegaard, Sören 29, 63, 192f, 351 Kolar, Heinz 217f

Eliade, Mircea 15, 30 Ernst, Norbert 400

Lask, Emil 238 Lauster, Jörg 236, 244, 297, 306, 358f Lax, Doris 19, 42, 49, 115, 200 Lotze, Hermann 238 Löwe, Adolf 27 Lütgert, Wilhelm 23f, 26 Luther, Martin 118, 254

Feuerbach, Ludwig 71, 139 Fichte, J.G. 23, 51, 165, 247, 272 Friedrich Wilhelm IV (Preußenkönig) 12 Gabus, Jean-Paul 142, 180, 231 Gottschow, Albert 28 Graf, Friedrich Wilhelm 236 Grube, Dirk-Martin 366 Haigis, Peter 315 Halme, Lasse 389 Harant, Martin 236, 306, 312, 318, 431 Harnack, Adolf von 181 Havelka, Milos 238 Hegel, G.W.F. 12f, 29, 67, 87, 193, 203, 253, 272, 286, 311, 363f, 388, 441

Manning, Russel Re 322 Maraschin, Jaci 445 Medicus, Fritz 23 Melanchthon, Philipp 171 Mennicke, Carl 27 Mokrosch, Reinhold 51, 217f Moxter, Michael 236, 240, 297, 307, 371, 406 Neugebauer, Georg 16, 19f, 32, 37, 53, 116, 162, 165, 171f, 193, 196f, 236, 309, 339, 365f, 372, 376, 420, 435

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-56364-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-56364-0

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Register

Otto, Rudolf 28, 260f, 284, 286 Pannenberg, Wolfhart 173, 208, 212, 218f, 221f, 330, 360 Petit, Jean-Claude 268, 273, 311 Platon 370, 372, 397 Ratschow, Carl Heinz 425 Rendtorff, Trutz 284 Ringleben, Joachim 193, 375 Ritschl, Albrecht 180, 255 Rohls, Jan 311, 347 Rosenzweig, Franz 284 Rüstow, Alexander 27

Schwarz, Hans 118, 130, 207, 211 Schweitzer, Albert 161 Sigwart, Christoph von 238 Simmel, Georg 244–246, 270 Slater, Peter 339 Sturm, Erdmann 27, 34, 51, 151, 244–246 Thomas von Aquin 377 Tillich, Erdmuthe 29 Troeltsch, Ernst 13, 165, 284, 326

Scharf, Uwe Carsten 48, 115 Scharlemann, Robert P. 324, 339, 372 Scheliha, Arnulf von 236 Schelling, F.W.J. 12f, 15f, 20, 23f, 26, 29, 32, 35, 37, 49–59, 63–65, 68, 79, 83, 94f, 104, 131, 139f, 142, 173f, 185, 201–204, 206, 210f, 213, 229, 231, 238, 286, 309, 339, 391, 418, 451 Schleiermacher, F.D.E. 26, 67, 130, 171f, 311, 345, 365, 378, 428 Schopenhauer, Arthur 88, 90 Schüßler, Werner 27, 125f, 244, 246, 315f, 370 Schütte, Hans-Walter 235, 247

Wagner, Falk 16, 145, 201, 224, 249f, 314f, 324f, 329, 331, 406, 430f, 437, 440f, 447, 453 Weber, Max 284 Wegener, Richard 24–27, 91, 190 Wenz, Gunther 16, 20, 32, 159, 161, 163–165, 167, 169–175, 179, 201–218, 220–222, 240f, 243, 252, 276, 297, 301, 317, 321f, 326f, 330f, 340, 360, 370, 405–407, 412, 423 Werner, Hanna 28f Wever, Margarethe 25, 27 Windelband, Wilhelm 238 Wittekind, Folkart 165, 235f, 252–254, 256– 258, 274, 298, 314, 427 Wolfers, Arnold 27 Zahrnt, Heinz 125

Sachregister Abgrund/Abgründigkeit 11, 186f, 250, 278, 280, 286, 367f, 400f Abhängigkeitsbewusstsein siehe unter: Bewusstsein Absolutes 64–79, 82–84, 86–88, 90–95, 97– 100, 103f, 106, 108–111, 113–115, 120– 123, 126, 131–134, 156–160, 163, 168, 180f, 184, 186f, 189f, 197f, 200, 205, 215, 227, 229, 239–243, 246–248, 251f, 258– 261, 267, 269, 273f, 278, 280, 282f, 291, 295, 297, 299, 301, 304, 306–309, 334– 336, 338, 343, 348, 351, 354, 367, 372, 379, 404, 412, 417f, 420, 422, 425, 427f, 436, 444, 454f

Absolutheit – allgemein 41f, 44, 64, 70–72, 76, 79–81, 84, 86, 88, 90, 93f, 97–99, 103, 107–110, 113, 120, 130–134, 138, 146, 152, 155–158, 160, 163f, 166, 168, 175, 177, 180–188, 190, 192, 194–198, 223f, 229, 232f, 238, 240, 242–244, 246f, 250f, 254f, 260–263, 267, 271, 275–277, 280, 282–284, 294– 300, 302–304, 306, 309, 319–323, 325, 331–338, 344, 347–349, 351f, 355–358, 372, 391, 401, 412, 418f, 422, 428–430, 437, 444, 446, 450–452, 462–465 – Absolutheitstheorie 20, 32, 43, 238, 267, 289, 450f – prinzipielle Absolutheit 320f, 334, 337, 347, 359, 429, 432, 464

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Sachregister Abstraktheit 42f, 47, 66, 71, 76, 84, 99, 104, 110, 113, 120, 131–133, 147, 156, 163, 179, 181f, 186, 195, 220, 227, 229–231, 248, 251, 253, 277, 286, 292, 295, 300, 302, 316, 327, 349, 352, 357, 392, 401f, 419, 426f, 429, 442, 452–455, 463 actus purus 76, 94, 131, 407 Aktualisierung 75–78, 251f, 262, 390, 392, 407f, 410 Allgegenwart 137f Allgemeinheit 26, 44, 51, 55, 103–106, 113, 117, 119, 149, 166, 170, 172, 177, 185, 192, 196, 203, 209, 226f, 230f, 252, 268, 272, 306, 309, 311, 317f, 330, 349, 359f, 368, 394, 396, 421f, 428, 443, 454 Allmacht 132–142, 146–148, 150 Alogismus/alogisches Moment 203, 206f, 209, 219, 248–250, 258, 261, 328, 367, 419, 461, 464 Altes Testament 118 Analogielehre – allgemein 173, 205f, 208, 395, 402, 406– 408, 411–413 – analogia entis 209, 375, 406f, 411 – analogia imaginis/Bildanalogie 209 Anderer Gottes 133, 176, 232 Angegangensein, unbedingtes siehe: Was uns unbedingt angeht/Angegangensein, unbedingtes Angst 399f, 424, 431f, 449 Anorganisches 85, 192, 231, 395 apokatastasis panton 234 Apologetik 25f, 38, 57, 98, 106f, 128f, 156– 158, 174f, 218, 263, 268–273, 278, 343, 347f Aporie 32, 50, 60–63, 65, 83, 85, 92, 100, 103, 112, 115, 125, 142, 150, 163, 170, 172–174, 179, 206–208, 210–216, 218f, 221f, 227, 243, 250, 252, 301, 317, 321f, 325–327, 334, 360, 380, 395, 405–408, 411–414, 417f, 429–431, 433, 435, 438f, 443f, 450f, 455–458, 465f Aposteriorizität 205 Apostolizität 226 Apperzeption 270 Apriorizität/apriori 49, 87, 92, 162, 205f, 211, 269f, 274, 277, 301, 309, 323, 331, 373f, 384, 387, 390, 393, 420f Ärgernis 192f, 351 Aseität 93f, 137, 403, 431 Ästhetik 82, 90, 240, 382, 435 Atheismus 27, 92, 284, 306, 425f, 448

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Auferstehung/Einzelauferstehung 115, 122, 175, 195–198, 200, 223–226, 230–233 Aufklärung 240, 275, 306, 345 Autonomie 74, 164, 166–171, 202–204, 207, 210, 212–216, 219f, 249f, 277f, 310–317, 324, 328–330, 430f, 437 Bedingtes 257, 280, 282, 299–302, 304, 318, 336, 353, 396, 402–404, 423, 464 Begriff (Begriff des Begriffs) 44–46, 75f, 79, 84–86, 89, 144 Bejahung/Ja 66, 75f, 78, 84, 96–98, 108f, 114f, 121, 146f, 150, 152, 154, 165, 176f, 181, 184, 186, 188f, 198f, 214, 231–234, 252, 255–259, 264, 268, 274, 277, 279– 283, 288f, 292f, 295, 299–305, 307f, 312, 317, 320f, 337f, 353, 415, 424, 428, 451 Bekehrung 278 Bergpredigt 181 Besonderheit 169, 177, 207, 330, 459 Bewusstsein – allgemein 13, 58, 66, 69f, 74f, 82f, 92, 100, 112, 119, 129, 136, 161, 165, 205, 211, 215, 217, 242–244, 248, 251, 259, 263– 266, 269–271, 273, 275, 278–280, 296, 299f, 310, 323, 328f, 334, 359, 379, 382, 390, 395f, 398–400, 408, 416, – Abhängigkeitsbewusstsein 67, 69, 74f, 77f, 80, 91, 99, 243 – Freiheitsbewusstsein 67, 69, 74, 77f, 80, 91, 243 – Gottesbewusstsein 242, 259, 264f, 271, 399 – Ichbewusstsein 246, 273 – Selbstbewusstsein, allgemein 99, 136, 166, 182, 201, 217, 241, 250, 259, 335, 345, 354, 381, 383, 385f, 388, 390, 396, 416, 419, 451, 463 – Selbstbewusstsein, messianisches 181f – Weltbewusstsein 381, 383, 385, 388, 390 Bibel/heilige Schrift 24, 117f, 137, 166, 174, 181–183, 213, 227f, 299, 350, 354 Breite 75, 114, 276f, 310, 345 Bruch 39, 42, 87, 102, 159, 236, 253, 256, 259, 261–263, 340, 346, 364, 404f, 420 Buddhismus 88 certitudo fidei 173, 210f, 304 Christentum/Wahrheit bzw. Absolutheit des Christentums 13f, 111, 171, 200, 209, 211, 299, 304, 322, 332, 337, 359, 428 Christonomie 167, 316

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Register

Christusereignis 112, 178, 197, 210, 221f, 230, 307, 313, 332, 334, 359, 368, 424, 447 Christusprinzip 161, 171, 173, 209f, 214, 216 Christus über Christus 168 coincidentia oppositorum 203 Confessio Augustana 227f creatio continua 134f creatio ex nihilo 397 Dämonisierung/Dämonisches 145, 299, 334, 358 Dazugehören 381, 396, 409 Deduktion 86f, 90, 112f, 146, 166, 203, 206, 243, 298, 306, 312, 358, 372 Deismus 69 Determinismus 48, 86, 89f, 124, 191, 344, 392–394 deus absconditus 155 Dialektische Theologie 181 Doppelfunktion 95, 283, 445 Doppelstruktur 138, 146f, 153, 179, 303, 316, 333f, Doppelurteil 149, 153, 257f, 293, 307, 353, 452, 461 Dualismus 47, 51f, 56, 68, 150, 251, 384, 397 Dynamik 57, 83, 104, 115, 131, 145, 157, 164, 170f, 184, 202, 221f, 244, 333, 364, 387, 389–391, 393–395, 407, 410f, 419f, 439, 441, 446, 451, 454f, 459, 465 Ebenbild Gottes/Gottebenbildlichkeit 53, 138f Einheit 31, 39f, 42, 44, 46f, 52, 54, 65, 76, 81, 84f, 89, 95, 103f, 115, 120, 122f, 127f, 130–135, 137, 139–141, 143, 147, 151– 155, 157, 175–180, 182, 185, 187, 190f, 195f, 198–200, 223–227, 229–232, 258, 275, 289, 296f, 301, 310f, 316, 318, 334, 354, 383, 407, 428f, 437f, 454, 456 Einzelheit 41, 44, 79, 84f, 87–89, 95, 109f, 135, 137, 142f, 153–155, 176f, 185, 187f, 192, 225f, 231–233, 299, 320, 327, 403, 410 Einzelnerwerdung 143, 177f Ekstase 379 Empirie 37f, 49, 144, 161f, 165, 169, 222, 252, 258, 270, 276, 287, 296, 331, 367, 373, 378, 406f, 419, 421, 461 Endlichkeit/Endliches 170, 249, 301, 324, 381, 383, 392, 396–402, 404, 406, 410, 414f, 424, 437, 448f Entfremdung 145, 176f, 187, 349, 423f

Epistemologie 28, 34, 42, 68, 106, 128, 165f, 274, 284, 286, 292, 295, 306, 308, 313, 328, 376–378, 385f, 413, 417, 419, 424, 426, 435, 447, 463f Erbsünde 143, 146, 148f, 423 Erfahrung – allgemein 11, 13, 18, 38, 136, 203, 242, 268, 271–273, 276, 287, 289, 323, 357f, 360– 362, 364f, 370, 373–375, 377–379, 384– 387, 391, 399, 419–421, 436 – Erfahrung der Erfahrung 375, 377f, 384 – Erfahrung des Unbedingten siehe unter: Unbedingtes – Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit 311 – Erfahrungstheologie 271, 378 Erhöhung 115, 162f, 174f, 195–198, 200, 223f, 227, 232f Erkenntnistheorie 39, 165, 169f, 239, 241f, 247–249, 260, 263–267, 270, 283–288, 313, 375–377, 379, 383–386, 393f, 398, 413, 417, 419, 436, 448, 463 Erleben/Erlebnis 78, 81f, 88, 225, 244–247, 249, 260, 269–271, 278, 286, 288, 292, 296, 318, 320, 333, 338, 361, 378, 409, 436 Erlösung/Erlöser 97, 115, 121–123, 149, 152, 154, 176, 179, 181, 183, 186, 189–191, 198, 203, 225, 227, 254, 277–279, 323, 331, 351–353, 355 Erniedrigung 175, 179, 184, 187, 198 Eschatologie 31, 81, 120, 129, 140, 152, 176, 182, 198, 200, 226, 229–231, 349, 355f Essentifikation 231 Essenz 205, 348, 351–357, 389, 403f Ethik 19, 26, 38, 49f, 57, 60, 74, 81, 90f, 106, 119, 126–128, 180, 217, 229, 242, 254f, 257, 263f, 268, 278, 364, 435, 440 Evangelium 90, 106, 149f, 155, 160–163, 174, 180f Evidenz 13, 20, 140, 160, 161, 203, 206, 208, 210, 219f, 229, 240, 248f, 254, 259, 268– 272, 282, 289f, 348, 383, 396, 416, 429, 458 Ewigkeit 53, 132f, 137f, 141, 151, 153, 176, 198, 200, 223f, 231–234, 255, 354, 407, 460 Existentialismus 284, 367, 374 Existentialphilosophie 30, 376, 420 Existenz/Nichtexistenz 24, 51–53, 61, 75, 84, 88, 94, 96, 129, 145, 152, 157, 159, 161, 167, 205, 230, 232, 240, 258, 264, 267, 269, 289, 307, 321, 334, 347–358, 361,

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-56364-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-56364-0

Sachregister 365–368, 372, 378f, 382–384, 386, 391f, 396, 399, 404, 421 Existenzphilosophie 366, 417, 420 Exklusivität 170, 203, 206, 208, 225, 246, 307, 311, 313f, 317, 323, 332, 337, 368, 402, 408, 444 Externität 128, 240, 243, 247, 249, 261f, 266, 271–273, 276, 280, 283, 287, 289f, 294, 307f, 313–317, 325f, 328–330, 332 fiducia 199, 296 Fixierung/Fixation 15, 20f, 44f, 57, 75, 77f, 81, 84–87, 89–91, 103, 105, 114, 124, 132, 134, 140, 149, 163, 211f, 215f, 219, 236, 242, 255, 268, 274–277, 292, 310, 320f, 329, 339, 386, 416, 420, 433, 439, 443, 446f, 449f, 452f, 458, 460, 463–465 Formalprinzip/Formalmoment 106, 110, 116, 122, 126, 167, 179, 251f, 255, 261, 349 Fragmentarität 141, 146, 199, 339, 356f Freiheit – allgemein 47–51, 53–56, 58, 66–68, 70–75, 77f, 82, 84–86, 88–91, 99, 108f, 121, 134f, 138–145, 148f, 153, 158, 173f, 190f, 201, 204f, 214, 217, 219f, 231, 233, 272, 309f, 321, 327, 331, 383, 387, 391–396, 403f, 410, 414–416, 453 – absolute Freiheit 49, 67f, 82, 88f – endliche Freiheit 201, 381, 392 – Freiheitsbewusstsein siehe unter: Bewusstsein – relative Freiheit 89 Fundamentaltheologie 57, 94, 98, 103, 124, 128, 130, 140, 153, 157f, 175, 181, 183, 188f, 371 Fundierung 31f, 450–453 Gefühl 67, 191, 270, 296, 311, 345, 378, 449, 453 Gegenständlichkeit 242f, 245, 260, 262f, 266, 268f, 272, 281f, 284f, 287f, 291–293, 295f, 303, 306–308, 312, 319, 326, 328f, 334, 336, 374, 376, 427, 445, 465 Gehalt 103, 160, 165, 170, 172, 246, 285, 308, 312–314, 316–318, 326, 333, 337, 390, 441, 451, 458, 463 Geist – allgemein/menschlicher Geist 46–50, 54–56, 58f, 61, 63f, 66–76, 80–82, 85f, 88, 94, 99, 101–103, 110, 125, 136, 141f, 144, 158, 165f, 168–170, 172, 178, 187, 201f, 221, 227, 239, 241f, 245, 247, 249, 254, 262, 265, 272, 298, 303, 309f, 312f, 316, 321,

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323, 354, 363, 381f, 393f, 415–417, 419, 428, 437, 448 – Geistesfunktion 73, 75, 78, 85f, 99, 101– 104, 113, 215, 219 – Heiliger Geist 128f, 134, 136, 153, 157, 162, 176, 180, 183, 200, 223–225, 230f, 305, 362, 428, 445 Gemeinschaft 74, 142, 151f, 167f, 171, 191f, 198, 209, 213, 225–228, 230, 232, 255, 343, 382, 388, 390, 393f Gericht Gottes 230, 232–234 Geschichtsphilosophie 79, 166, 174, 238, 257, 265, 303, 317, 323, 392 Gesetz 78, 90, 149f, 155, 162, 168, 212, 292, 310, 311–313, 351, 395f Gesinnung Gottes 264 Gestaltung 13, 22, 31, 33, 129, 450, 453f Getrenntsein 381, 383–385, 396f, 400, 409, 423 Gewissen 259, 265f Gewissheit – allgemein 112, 119, 161f, 165f, 169, 171f, 192, 200, 209f, 268–273, 276, 286f, 304, 378 – Glaubensgewissheit 166, 168, 172, 211, 238, 241f, 247, 255, 268, 305 – Gottesgewissheit 271 – Heilsgewissheit 259, 264f – religiöse Gewissheit 240, 243, 269–271 – Selbstgewissheit 169, 211, 270f – Wahrheitsgewissheit 171, 262, 264f, 277, 279 – Ungewissheit 161, 168, 209, 211, 239, 250, 255, 259, 262, 270f, 276 Glaube – doppelter Glaube 168, 213, 255, 263 – Glaube als Zweifel 281 – Glaube ohne Gott 27, 72, 248, 268, 281, 284, 306, 425 – Glaubensexperiment 273, – Glaubensgewissheit siehe unter: Gewissheit – Unglaube 273, 287, 423 Gnade 150, 152, 156, 164, 184, 199, 233f, 440 Gott – Gottesbeweise 72f, 399, 464 – Gottesbewusstsein siehe unter: Bewusstsein – Gottesferne 150, 177 – Gottesgewissheit siehe unter: Gewissheit – Gotteslehre 51, 54, 56, 94, 128–130, 139f, 148, 150, 152, 155–157, 174f, 178, 223, 311, 370, 399, 407, 444–446 – Göttlichkeit 180–182, 285

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Register

– Gott über Gott 168, 284–286, 296, 306, 323, 325 – Gottverlassenheit 175, 187–189, 192 – Leben Gottes/lebendiger Gott siehe unter: Leben Grund 41, 52–58, 65, 79, 88, 95f, 141, 143, 145, 149, 178, 205, 211, 221, 232, 239, 255, 259, 275, 305, 324f, 334, 346, 352, 360, 364, 367f, 374, 378f, 383, 386, 398– 401, 404f, 408, 411, 422, 432f, 447, 449, 462f Harmatiologie 56, 58, 136, 142, 148, 151f, 186 Heil 97, 182, 189f, 192, 224, 227f, 255, 258– 260, 263–265, 279, 322f, 358 Heiligkeit/Heiliges 77f, 80, 101f, 121, 124, 126, 147f, 150–152, 155, 162, 176, 185, 187–189, 191, 197, 226f, 268, 307f, 319, 321, 402f Herrlichkeit 174, 179–182, 184–186, 195 Heteronomie 74, 166–168, 204, 207, 210, 212–216, 219–221, 277, 279, 307, 310– 312, 314–316, 321, 327–330, 337, 350, 379, 430 Hierarchie 51–53, 55, 59, 65, 185f, 190, 229f, 264, 377, 386, 388, 391 Hypostase 129f, 176, 232, 297, 438 Hypostasierung 296f, 338, 372, 430 Ich – allgemein 85, 165, 169, 270, 272f, 278, 284, 287, 292, 394, 448 – absolutes Ich 272, 292 – erkenntnistheoretisches Ich 270 – ich = ich 165, 169, 249, 263 – Ichbewusstsein siehe unter: Bewusstsein – Ichhaftigkeit 262, 272 – Ichheit 269 – Ichsein 292 – Ich-Selbst siehe unter: Selbst – Nicht-Ich 272, 284 – psycho-physisches Ich 270f Idealismus 13, 20, 23, 27, 29, 37, 50–52, 65, 67, 89f, 131, 137, 159, 165, 173, 202f, 238, 240, 253, 277, 325, 334, 367, 383, 417, 430f, 435, 447, 451–453, 461 Identitätsprinzip 26, 56, 67f, 72, 167–170, 172, 207, 214, 248–251, 262, 265, 311, 328, 332, 365, 381, 388, 425 Identität von Identität und Differenz 69, 72, 83, 119, 134, 137, 155, 177, 202, 207, 243, 250, 289, 349, 420, 428f

Imagolehre 173 Indeterminismus 86, 89f, 392f Individualisation 387–390, 393, 395, 410 Individualität/Individuum 48, 62f, 71, 74, 85, 88, 90, 108, 111, 115, 119, 136, 142–146, 153f, 162–170, 173, 179, 181, 188, 192, 194, 201, 220, 232, 272, 275, 294, 310, 330, 387f, 396, 405, 448, 462 Induktion 86f, 90, 112f, 166, 298, 312, 372 Inhalt 12, 64, 80, 108, 111, 116, 119, 126, 147, 156, 183, 186, 189, 224f, 227f, 251, 268f, 271, 280, 284, 312, 319, 343, 346, 350, 361, 374, 381, 389 Inkarnation 98, 111, 158, 176f, 179, 182, 186, 195, 223, 232f In-sich-Beharren 389, 410 Intentionalität 390f, 394, 410, 416 Intuition 57, 66, 79, 84, 86, 95–100, 102, 112, 146, 154, 177, 179, 193, 231, 246, 319, 363, 371, 373f, 377–380, 382f, 448 Intuitionismus 372, 374 Invarianz 459f Irrealität 93, 110, 113 Kategorien – allgemein 48, 63, 65, 71, 86–88, 90, 107, 109, 119, 166, 168f, 171f, 201, 254, 257, 269, 274f, 277f, 288, 290, 306, 312, 392, 398, 405, 414–416, 436, 448, 460f – absolute 88, 90, 108, 110, 116, 122, 131, 142, 153, 160f, 174, 179–182, 186f, 194, 199, 227, 229f, 233f, 274–276, 294, 325 – relative/reflexive 82, 107–112, 131, 134, 137f, 142, 148, 155, 168, 186f, 199, 326, 369, 376, 400, 419 Katholizismus 13, 200, 255, 257, 278, 299, 370 Kirche 25, 81, 137, 143, 160, 180, 182, 188, 197, 225–230, 246, 299, 303, 305, 313, 320f, 350, 440 Kirchengeschichte 117–119, 229f Kirchentheologie/Kirchentheologe 320f, 326f, 332, 391 Konstituens 207, 216, 221, 260, 274, 279– 281, 290, 358 Konstruktivismus 372, 374 Korrelation/Methode der Korrelation 69, 78, 174, 334, 346, 357, 359, 363–366, 370, 377, 381, 420, 436 Kreuz Jesu Christi/Kreuzesgeschehen 106, 111, 114–117, 121f, 150, 164, 175, 182– 199, 206–208, 210, 223–227, 230, 232

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Sachregister Kultur – allgemein 16, 26, 28, 30, 49f, 60, 72–79, 81f, 86, 89–91, 98f, 111, 115, 118f, 152, 182, 205f, 226, 277, 298, 307–321, 326, 330, 337, 358, 365, 391, 461 – Kulturschöpfung/Kulturschaffen 75, 308f, 311, 316, 318, 327, 337 – Kulturtheologie/Kulturtheologe 21, 27–29, 33, 247, 306f, 309–322, 326f, 332f, 337, 363, 389, 391, 430f – profane/relative Kultur 308, 312, 318f – religiöse Kultur 74f, 81, 308–310, 312, 318f, 322 Leben – allgemein 14, 76, 126, 129, 146, 163, 177, 187, 200, 213, 223, 229f, 241, 244–246, 262, 270, 306, 309f, 317f, 321, 326, 381f, 390, 407f, 410f, 428f – Lebendigkeit 43–45, 47, 51, 54, 76, 85, 89f, 93f, 105, 123, 127, 130, 149, 157, 212, 227, 292, 297, 299–301, 321, 390, 404, 416, 454 – Leben Gottes/lebendiger Gott 130–135, 137, 139–143, 146f, 151, 153–157, 176f, 191, 231–233, 407–411 – Leben-Jesu-Forschung 25, 161 – Lebensphilosophie 244, 246, 270 – Lebensstrom 270 – personhaftes Leben 353f – Transzendentale Einheit unzweideutigen Lebens 199, 428f Letztgültigkeit 188, 243, 356–362, 432 Liberale Theologie 13, 25, 180f Liebe 132–142, 147–155, 164, 184f, 187, 189, 191, 199f, 382 Logismus/logisches Moment 203, 206f, 216, 248, 258, 261, 289, 328, 330, 419 Lokalisation, historische 166, 169, 171, 210, 331 Lutherische Theologie 118, 149, 155 Macht 88, 132, 138, 205, 232, 354, 358, 368, 387, 389, 400f, 423, 440 Mannigfaltigkeit/Mannigfaltiges 44, 89, 177, 185, 230, 297, 376 Materialprinzip/Materialmoment 106, 110, 116, 122, 126, 167, 179f, 251, 255–257, 349 Mechanismus 190f, 194, 255, 382, 392, 396 media salutis 225, 227

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Metaphysik 13, 18, 27, 257, 272, 296, 345, 347, 366f, 369–371, 374, 379, 384, 406, 410, 420f, 430, 432, 435, 438, 461 Mensch – Mensch-(einzelner)-Werdung 158, 177, 354 – Menschensohn 182 – Menschheit 152, 155, 163, 178, 183, 187, 189, 191, 194f, 200, 276, 354 – Menschheitsgeschichte 152, 155, 158, 166 – Menschwerdung siehe: Inkarnation me on/Meontik 389f, 397 Metasystem 440f, 449, 458f, 463 Methode, metalogische 203, 206f, 209, 221, 248–250, 257, 261, 265, 289, 309, 311, 328, 330, 336, 345, 363, 365, 367, 381, 419, 461 Mitte der Geschichte 178, 252, 359 Mitte der Schrift 118, 174, 183, 213, 226, 228, 354 Moment – Momenthaftigkeit 34, 116, 120, 128, 130, 134, 140, 151, 175, 184, 200, 219, 232f, 261, 283, 303f, 320, 426, 438–440, 444, 446, 448, 452–456, 460, 465 – Momenttheorie/Momentinterpretation 438f, 440–443, 445–447, 451, 453, 456–459, 462f, 465 Monismus 47, 51f, 68, 150, 240, 248, 251, 293, 383 Mysterium 177, 357f, 367f, 456 Mystik 62, 71, 81–84, 91f, 94, 97, 105f, 119f, 153f, 157, 163, 239, 286 Nachfolge Jesu 180 Natur – allgemein 46–49, 52, 54f, 58f, 63f, 73, 81f, 86, 98, 136, 141, 158, 167, 170f, 178f, 187, 230–232, 276, 286, 354, 390, 395, 415–417, 423 – Natur in Gott 52, 131, 231 Naturalismus 81 Neues Testament 112, 115, 117f, 183, 213, 354 Neukantianismus 240, 297 Nicht-Gegenständlichkeit 266, 282, 290, 295, 303, 306, 319, 334, 336, 427, 465 Nicht-Ich siehe unter: Ich Nichtigkeit 96, 153, 311, 427, 449 Nichtmehrsein 398 Nichts 92, 169, 268, 293, 380, 389f, 397 Nichtsein siehe unter: Sein Niedrigkeit 174, 179, 183, 186f, 195 Nihilismus 284

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Register

Nochnichtsein 390, 398 Nominalismus 269 Norm/Normierung 73–75, 301, 305, 317, 346f, 349f, 361f norma normans/norma normata 213 Normativität 73f, 118, 139, 301, 317f, 347, 350, 358f, 450 Objektivation 244f, 249, 257, 262, 267, 270f, 274, 280f, 285, 300, 302–304, 312–315, 319–321, 325f, 329, 333f, 342, 347, 361, 391, 402, 426f, 429–433, 436, 441, 444f, 456f, 463f oboedientia passiva/Glaubensoboedienz 256, 361 Offenbarung – allgemein 16, 78, 80, 101, 149f, 155, 157– 159, 168, 172, 174, 178, 180, 185, 200, 204–217, 219–222, 224, 228, 240, 259, 292f, 297, 304, 307f, 320, 322f, 325f, 328, 330, 332f, 337, 342f, 351, 354, 356–363, 365–368, 377, 379, 409, 417, 420, 424, 429, 456, 462 – Grundoffenbarung 322 – Heilsoffenbarung 322 – konkrete Offenbarung 204, 357–361 – letztgültige Offenbarung 356–359, 361 – Offenbarungsgeschichte 155, 166, 176, 178, 317 – Offenbarungsprinzip 224, 355–358, 360– 362 – Offenbarungssituation 357 – Offenbarungsträger 299 Ontologie – allgemein 21f, 28, 30f, 33f, 72, 223, 265, 269, 286, 339–342, 345, 352–354, 362f, 367–390, 395, 397–399, 403–409, 411– 414, 416, 420–427, 431f, 436, 439, 441, 443f, 446, 448f, 453f – formale Ontologie 366f, 370, 372, 376, 384, 391, 417, 420f – ontologische Begriffe 384, 411, 420f – ontologische Elemente 383, 387f, 391–393, 395–397, 403, 407, 409–411, 420 – ontologische Grundstruktur 385–387, 392 – ontologische Objektivierung 386 – ontologischer Schock 399, 424, 431, 449 Ontotheologie 370, 445 Organisches 85, 88 Oszillieren 127, 284, 297, 303f, 326, 328, 330, 332, 427, 430, 443, 445f, 454 ouk on 397

Panentheismus 136 Pantheismus 12, 50f, 69, 291 Papst 166f, 212, 299 Paradox – allgemein 27, 48, 63, 65, 96, 98–105, 108, 110–117, 121–123, 129–131, 133, 136– 138, 147, 149, 151, 155, 157, 159–161, 163f, 168, 174–176, 178, 181, 183–185, 187–189, 191–200, 203, 206, 224, 227– 229, 232f, 245, 248, 252–259, 265–269, 282f, 289, 292, 296f, 302f, 309, 316, 323f, 329–331, 334, 338, 342, 345, 347, 351– 353, 361, 364, 368, 375, 377, 422–424, 428, 440f, 461f, 465 – absolutes 27, 196, 251, 253, 262, 267, 274, 277, 279f, 289, 292f, 295–297, 299f, 303– 305, 307f, 319, 323, 325, 335 – konkretes 101, 104, 110f, 113, 179f, 182– 186, 191, 194f, 269, 273–278, 282 – Paradoxalität 100f, 112, 147, 187, 197, 229, 245, 254f, 257, 282f, 302, 304, 309, 314, 325, 334, 351f Partizipation 57, 105, 110, 226f, 338, 353, 356f, 371, 377, 387–390, 393–395, 397, 400, 404, 410, 422 Parusie 122f, 356 Paulinische Theologie 278 Person/Personhaftigkeit 70–72, 77, 110, 114, 130, 156–159, 162, 171, 180f, 191, 195, 199, 210, 214, 230, 232f, 252, 256–258, 278, 292, 295–297, 303, 327, 332, 334, 353f, 356, 388, 390, 393f, 410f, 444 Persönlichkeit 71, 74, 162, 230, 232f, 296, 394 Phänomenologie 49, 206, 227, 240, 257, 297, 377, 388, 421, 424, 430, 442 Pietismus 255, 278 Platonismus 372, 397 Pneumatologie/Geistlehre 31, 128f, 133, 174, 176, 183f, 200, 223–227, 229–231, 329f, 444 Positivität 153, 274, 294, 302, 324f, 331, 406, 426, 437, 441, 447 Potentialität 75f, 78, 182, 231, 233, 308, 352, 389f, 394, 398, 408 Pragmatismus 369f Präzisierung 31–33, 128, 137, 205, 237, 258, 261, 263, 289, 291, 305–307, 314–316, 322, 335, 338, 343, 348, 353, 367, 415f, 423–425, 450–454 Predigt Jesu 181

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Sachregister

487

prius/Primat/Priorität 48, 52f, 56, 58, 63–65, 68, 90, 94, 128, 170f, 174, 185, 208, 222, 260, 324, 331, 391, 394, 441 Produktivität 125, 201, 204, 211, 219, 221, 273, 430, 453 Profanität 117, 307f, 311, 318–320, 402f Protestantismus 13, 167, 200, 253, 450 Psychologie 29, 161, 255, 257, 260f, 269f, 286, 293, 406, 424

Reziprozität 52, 55, 63, 68f, 93–95, 106, 111, 113, 126, 128, 132f, 139f, 154f, 185, 188, 203, 205f, 209f, 220, 223, 228, 232, 249f, 290, 297–299, 301f, 305, 309, 314, 326, 328, 330, 348f, 360f, 363–365, 391, 394, 397, 443, 454, 458, 465 Rückkehr 47, 59, 76, 81, 94, 99, 111, 121, 128, 133, 138, 143, 149, 156f, 176, 180, 183, 198, 224, 230f, 363

Quaternität 324

sacrificium intellectus 101f, 104, 114, 218, 241, 247, 266, 426 Sakrament 78, 80, 101, 225, 227f, 246, 255 Schicksal 136, 144, 146, 149, 387, 391–396, 404, 410, 414–416 Schöpfer 135–138 Schöpfung 135–140, 142–146, 151f, 156f, 175–177, 231, 281, 331, 397 Schriftverständnis 118, 227f securitas 173, 211, 219, 431 Sein – aktuelles Sein 407f – endliches Sein 381, 397, 399–401, 410 – essentielles Sein 348f, 353 – existentielles Sein 349, 354 – Grund des Seins 331, 386, 400f, 404–406, 408, 441, 449 – Macht des Seins 354, 368, 389, 400 – Neues Sein 211, 347–357, 429, 445 – Nichtsein 272, 368, 380f, 384, 389–391, 397–401, 449 – ontologisches Sein 292 – potentielles Sein 407f – Seiendes 39f, 138, 267, 285f, 291f, 311, 367f, 370–372, 374f, 379, 381f, 385–387, 389, 397f, 401, 403–406, 409, 414, 417– 420, 422–424, 426, 431f, 436, 444, 448f, 461 – Sein-Selbst 34, 39, 173, 208, 267, 368f, 372, 375, 380, 398–401, 403–408, 411f, 417– 424, 426f, 429–433, 435, 439, 443–449 – Seinslehre siehe: Ontologie, allgemein – Seinsmächtigkeit 389, 401, 403f, 419, 423, 426, 431, 449, – Seinssphäre 272, 293 – Seinsstruktur 343, 366, 374f, 378f, 382–387, 391, 395f, 398f, 405–409, 422, 432, 436, 448 – Seinsvollzug 387, 426, 429, 447 – Seinswissenschaft 346 – Selbstsein 143, 154, 220, 232, 248, 279 Selbst – Ich-Selbst 381, 384

Raum 40, 63f, 81, 87f, 97, 137f, 158, 192, 296, 323f, 398, 414f Realismus 51f, 89f, 244, 293, 406, 432, Realität 39, 53, 94, 109, 112, 122f, 126, 162f, 171, 177, 182, 192f, 204f, 244, 246, 252, 267, 270f, 289, 292f, 311–313, 321, 323– 325, 331, 358, 367, 387f, 397f, 406, 417, 421, 442, 456 Rechtfertigung/Rechtfertigungslehre 23, 26f, 33, 58, 82, 106–110, 113–117, 121f, 125, 150, 152, 154–157, 164, 168, 179, 181, 184–186, 188–192, 194–196, 210, 223, 227, 234–237, 245f, 248, 252–268, 274, 277–279, 281, 283, 285f, 288, 292f, 295f, 299–302, 304f, 311f, 323, 329, 331, 338, 345, 351–355, 357, 361, 395, 423f, 427– 429, 461f Reflexionsdialektik 100f, 113, 122, 146, 149, 153, 250, 338, 351, 357, 371, 377, 412, 420f Reich Gottes/Himmelreich 122, 180, 182, 200, 230, 232, 356 Relativer Standpunkt/Reflexionsstandpunkt 83–101, 103, 106–110, 115–117, 120, 126, 129, 131, 145–147, 153, 160, 177, 199f, 203, 229, 281, 308, 363, 371, 378, 425, 448 Relativismus 90, 287 Religion – absolute 76, 99, 319f, 322, 332, 346, 357– 359, 428, 462 – konkrete 14, 77f, 80f, 98–103, 111, 113, 124, 129, 131, 319f, 322, 332, 335, 344, 346, 358f, 430, 444, 462 – Religionsphilosophie, allgemein 27, 29f, 50, 61, 69, 90, 94, 98, 103, 107, 109, 111, 124f, 129, 131, 140, 174, 231, 239f, 245, 257, 260, 301, 317, 322, 342, 418, 439, 443 – Religionsphilosophie, normative 301, 317 – Religionswissenschaft 28, 243, 317

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-56364-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-56364-0

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Register

– Selbstbehauptung 42, 46, 71, 74, 82, 88, 97, 99, 140, 142f, 145, 148, 151, 164, 176f, 179, 188, 225, 231, 250, 260, 456 – Selbstbestimmung 48, 50, 55, 62–67, 73f, 80, 82, 85–89, 91f, 95, 142, 144, 164, 177f, 242, 289, 294, 306–310, 313, 321 – Selbstbewusstsein siehe unter: Bewusstsein – Selbsterhebung 96, 255, 462 – Selbsterlösung 97, 115, 152, 154, 203, 323, 351–353, 355 – Selbstgegebenheit 324f, 431, 437, 447 – Selbstgewissheit siehe unter: Gewissheit – Selbstheit 55, 58, 102, 152, 154, 164, 167, 202, 232, 265f, 272, 276, 287, 294, 306, 310, 313f, 323–327, 329f, 334, 336, 385, 388, 405, 409f, 425–427, 431f, 448, 453, 461f – Selbstidentität 203, 212, 248, 250, 265, 287, 290, 299, 328f, 331, 334 – Selbst-Integration 152, 389 – Selbstkonstitution des Selbst 173f, 210, 218, 221, 242, 260, 264f, 283, 346, 361 – Selbstmächtigkeit 206f, 300 – Selbstpreisgabe 358 – Selbstsein siehe unter: Sein – Selbstsetzung 165, 177f, 201f, 231, 240, 242, 246–250, 294 – Selbsttätigkeit 201, 204, 207, 211f, 214, 217, 219–221, 324 – Selbst-Transzendierung 100, 204, 244, 389, 427 – Selbstüberwindung/Prinzip der Selbstüberwindung 42, 62f, 65, 67f, 78, 100–102, 104f, 111, 113–115, 118, 124, 126f, 142– 144, 154, 164, 179, 182, 184, 193, 198, 213f, 217–219, 222, 225, 322, 355, 358f, 440, 447–449, 451, 458, 461f, 464 – Selbstverabsolutierung 48, 113, 177, 220, 362, 456 – Selbstvollzug 56, 62, 74, 144, 146, 219, 247, 249, 266f, 283, 294, 296, 323, 386, 428, 462 – Selbst-Welt-Korrelation 382f – Selbst-Welt-Struktur 382–387, 432 – Selbstzentrierung/Selbstzentriertheit 232, 388, 394 Semipelagianismus 140, 143, 264 Sich-Gegebensein 217f, 249, 324, 426, 431, 447, 453, 462 Sich-Schaffen 389 Sinn – allgemein 14, 145, 149, 232, 238, 240, 244, 271f, 275, 285–300, 302, 311–313, 323f,

331, 336f, 343, 372, 390, 398f, 401, 404, 426f, 430f, 441, 447–449 – absoluter Sinn 89, 293, 298, 336, 338, 363, 405, 412, 424, 426f, 448 – Sinnakt 293, 336f, 405 – Sinnhaftigkeit 287, 290, 293, 337, 399, 405 – Sinnlosigkeit 287f, 351, 399f, 449 – Sinntheorie 21, 32, 205, 235–237, 244, 289, 291, 303, 305f, 312, 315, 322, 331, 336, 339f, 342, 362, 365, 372, 401, 413, 416– 418, 424, 426f, 429–432, 441, 443–449, 451–453, 464 – Sinnvollzug 89, 293, 295f, 298, 363, 424, 426, 448 – Sinnwidrigkeit 287f, 290, 399 – Sinnwidrigkeit der Sinnwidrigkeit 287, 290 – unbedingter Sinn 293, 337 Sittlichkeit 49, 62, 72–76, 78, 82, 86, 90f, 101, 102, 190, 200, 215, 218, 241–243, 247, 254, 259, 263–266, 309–311, 316 Skepsis 87, 89, 239–241, 244, 283, 285 Sohn Gottes 133, 137, 175–178, 181f, 185, 187f, 194f, 197f, 227, 232 sola fide 256, 280 Solipsismus 68, 164, 167, 173, 179, 287, 304, 321, 334, 362, 430f, 439 Soteriologie 56, 183f, 196, 223, 229f, 232 Soziologie 29, 317 Spekulation 13, 121, 134, 178, 269, 282, 299f, 302f, 308, 312, 371, 379, 436 Spontaneität 395f, 416 Sprung 178, 346, 404 Stadium/Systemstadium 15, 17f, 21f, 31–34, 174, 268, 317, 322, 375, 386, 401, 412f, 416f, 419, 422–424, 427, 433, 435–444, 446–461, 465 Stellvertretung 165, 189f, 192, 194f, 254 Struktur – allgemein 18, 31, 41, 51, 62, 89, 108, 116, 134f, 137–139, 146–150, 153, 155, 179, 186, 192, 195, 205, 207, 221–223, 226, 229, 233, 250, 255, 265, 269f, 278f, 283f, 302f, 307, 316, 321, 330f, 332–334, 339f, 343–345, 352–354, 361–364, 366f, 370, 374f, 377–396, 398f, 403, 405f, 408f, 411, 413f, 416, 420, 422, 428, 432, 436, 439f, 448, 453, 460, 463f – Seinsstruktur siehe unter: Sein – Strukturanalogie 289, 330, 391, 405, 429, 432, 463f – Strukturelement 206, 253, 263, 279, 407 – Strukturgleichheit 329–334, 337

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Sachregister – Strukturtheorie, allgemein 375, 380, 391, 405, 431, 463 – Strukturtheorie, transzendentale 18, 34, 375, 377, 380, 384–386, 422, 447, 461–463, 465 – Subjekt-Objekt-Struktur siehe unter: Subjekt Subjekt – Subjektivität 38, 40, 58, 70, 85, 89, 96, 101, 161, 164, 192, 201–205, 218f, 221, 241, 244f, 247, 250–254, 256–258, 260–267, 269, 271f, 274, 279, 281–284, 291, 294f, 297f, 300, 302, 305–308, 310f, 313–316, 319, 321, 323, 325–337, 362, 386, 409f, 424–426, 448, 453f, 462f – Subjektivitätstheorie 33, 269, 294, 298, 328, 405 – Subjektivismus 246f, 334, 271f, 362f, 430f, 439 – Subjekt-Objekt-Spaltung/-Trennung 272, 282f, 371 – Subjekt-Objekt-Struktur 84–86, 249, 262, 291, 294, 296, 298, 337, 378f, 381, 383– 387, 428, 457, 462 Sünde/Sünder 78, 90, 107, 142–155, 164, 178f, 186–188, 190–192, 223, 225, 232, 241, 254f, 265, 279, 287, 423f Sündenfall 144–146, 152, 177, 423 Sündhaftigkeit/Standpunkt der Sündhaftigkeit Supranaturalismus 20, 81, 101, 161, 210, 307, 320, 323, 330, 370 Symbol/Symboltheorie 173, 196, 205–210, 246, 257, 277, 297, 300, 304, 313, 326, 332, 337, 342, 356, 365, 402, 405–413, 417, 419, 422, 425–427, 439, 443–446 Synergismus 199 Teleologie 47, 64, 93f, 98f, 114, 121, 134, 151f, 157, 184, 255, 290, 296, 319, 460f telos 56, 63, 87, 121, 127, 133, 141, 143f, 178f, 190, 198, 224, 230, 250, 255, 290, 351, 355, 376 Theismus 77, 168, 285, 306, 308, 344 Theodizee 52, 150f, 155, 189 theologia naturalis/natürliche Theologie 13, 18, 155, 345, 375, 379 Theonomie 167, 169, 204, 207, 210, 213, 220f, 241, 310–316, 328–330, 347, 431 Theopaschitismus 151, 255 Tiefe 60, 76, 88, 103, 131, 137, 150, 153, 156, 187f, 244, 246, 254, 260, 265, 275, 278, 281, 287, 312, 336, 345, 385, 403, 405 Tod 88, 150, 184, 191–193, 197, 231

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Transzendentalität 18, 145, 159, 167, 176, 203, 239, 260, 270, 289–291, 293–295, 298, 323, 328, 331, 346, 372f, 375, 378f, 384, 386f, 409, 420f, 423, 426, 428, 432f, 447, 449f, 453, 461–465 Transzendentalphilosophie 174, 461 Transzendentaltheorie 38, 46, 248, 370, 374f, 388, 463 Transzendenz/Transzendierung 14, 103, 144– 146, 158, 244–246, 292, 294f, 298, 345, 372, 378, 381, 390, 398f, 401, 421, 425, 427f, 465 Trinität – allgemein 128–130, 156–158, 176, 180, 197, 200, 223f, 437f, 462, 464f – immanente Trinität 132f, 137, 145, 176, 189, 194, 197, 437f, 456, 459 – ökonomische Trinität 106, 176, 194, 197, 456f Typologisierung 17, 22, 317f, 442f, 458 Über-sich-Hinausgehen 389 Überzeugung 268, 272f, 305, 307, 344 Umgebung 381, 388f, 394–396, 409 Unbedingtes – allgemein 206, 246, 257, 268, 280, 282–286, 288, 291–297, 299–302, 306, 323–326, 329, 331, 333–338, 361, 378, 401f, 404f, 425–427, 429, 436, 441, 444f, 447, 449 – Erfahrung des Unbedingten 306, 311, 333– 337, 342, 345, 359, 361f, 365, 378, 427, 436 – Richtung auf das Unbedingte 257, 284 Unbedingtheit/Unbedingtheitserfahrung 181, 246, 258, 260, 282, 283, 288, 294, 299– 301, 303f, 306, 311–313, 323–326, 328– 330, 332–337, 347, 349, 352, 355, 358f, 361f, 365, 400f, 406, 427, 430, 441, 445 Unbegründbarkeit 282f Uneigentlichkeit 206f Unendliches 301, 399f, 404, 406 Unendlichkeit 11, 47, 81, 92, 118, 132, 152, 180, 183, 229, 243, 248, 252f, 262f, 266, 276, 298f, 301, 318, 362, 368, 376, 398– 400, 403f, 460 Ungewissheit siehe unter: Gewissheit Unglaube siehe unter: Glaube Universalie 390, 401 Universalität 55, 122, 293, 350, 359, 394f, 419, 436, 448 Unmittelbarkeit – unvermittelte 68, 75, 164, 174, 179, 202, 212, 221, 328, 360,

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Register

– vermittelte 142f, 173, 190f, 193, 201f, 217– 219, 233, 240, 248f, 261, 265, 278f, 282, 289, 294, 310, 313–316, 318, 323, 328– 331, 333–337, 345, 362, 365f, 381, 426, 432, 461, 463f Unwahrheit 41–45, 57, 59f, 62–64, 66–70, 72, 80, 95f, 102, 104, 107f, 122, 153, 190, 280, 303, 404, 440, 443 Vater/Gott-Vater 128, 134, 139, 157, 176, 181, 194, 254, 347 Verabsolutierung 48, 67f, 87f, 102f, 113, 115, 155, 177, 195, 202, 220, 277, 287, 295, 299, 319, 362, 386, 456 Verdammnis 153, 234 Vergänglichkeit 14, 255, 364, 402 Vergebung 164, 191, 255 Vergegenständlichung 267, 286, 300, 402 Vergöttlichung 332 Verkündigung 181f, 227f, 280 Vermitteltheit 68, 143, 149, 179, 193, 201f, 211, 217, 221, 283, 287 Vermitteltsein 142, 164, 201, 204, 211, 215, 217–219, 221f, 243, 246, 248–250, 261, 267, 282f, 294, 310, 313f, 316, 328–331, 333, 335–337, 362, 365f, 426f, 429, 432, 461–464 Vermittlung 18, 80, 126, 129, 176, 181–184, 191, 193, 195, 199, 203, 214, 216–222, 225, 227f, 242, 249f, 255, 265, 267, 269, 273, 289, 292, 294, 301f, 309, 315f, 318, 329–331, 333f, 350, 366, 418, 426f, 429, 432, 447, 453, 461–464 Vermittlungstheologie 269 Verneinung/Nein 76, 82, 84, 96–98, 108, 110, 147f, 150–152, 154, 164, 176f, 181, 184, 186–189, 192, 197, 229, 234, 257–259, 264, 268, 272, 279–281, 289f, 292f, 299, 301–303, 308, 312, 317, 320, 337f, 353, 358, 360, 402, 415, 424, 428, 440, 451, 460 Vernunft – allgemein 12, 25f, 28, 129, 131, 162, 240, 256, 275, 277, 279, 282, 343, 345f, 351f, 357, 363f, 367f, 377, 379, 382–386, 419 – logische Vernunft 382f – objektive Vernunft 384 – ontologische Vernunft 382f, 385f – subjektive Vernunft 384f, 390 – Vernunftstruktur 367, 382 Verobjektivierung 13, 89, 245f, 267, 283f, 288, 293, 295, 297–305, 312f, 319, 325,

329, 331–334, 337f, 425, 427, 431–433, 437, 439, 444, 446, 448f, 457, 462f Versöhnung 164, 174, 183–185, 189–194, 196–199, 223–225, 230 Verstand 53f, 98 Verzeihung 255 Verzweiflung 175, 187f, 265, 280–282, 286– 288, 399, 449 Vitalität 390f, 394, 410 Vollendung 81–83, 105, 176, 179, 184, 188, 194f, 197–199, 223–225, 229–233, 240, 273, 424f, 429, 437, 449, 454 Wahrheit – absolute Wahrheit 40–42, 47, 49, 57, 62, 66f, 69, 77, 83, 107, 239, 254, 277, 289, 309 – Wahrheitserkenntnis 39f, 86f, 239, 267, 287, 289, 450 – Wahrheitsgewissheit siehe unter: Gewissheit – Wahrheitstheorie 31f, 37f, 43, 236–238, 288, 291, 295, 306, 336, 340, 362, 365, 413, 417, 424, 426, 430, 436, 450–453, 461 Wahrscheinlichkeit 24, 159, 166, 171, 276, 440 Was uns unbedingt angeht/Angegangensein, unbedingtes 208, 268, 347, 354, 357, 365, 400–404, 410, 418, 428 Welt 13f, 18, 40, 45, 85, 107, 126, 128, 130, 134f, 137, 145f, 151, 157, 170, 176–180, 190f, 198, 200, 203, 224, 229f, 245, 249, 271f, 285–287, 313, 323, 330f, 351, 354, 356, 369f, 376, 378, 381–396, 402, 409f, 415, 420, 433, 447f Weltkrieg – erster 15, 17, 20f, 25f, 28, 37, 202, 235f, 238, 247, 265, 276f, 282, 297, 306, 325, 334, 336, 338, 424, 429f, 435 – zweiter 17, 29, 430 Werke – Werke des Menschen 107, 200, 233, 241, 257f, 266, 269, 271, 273, 277–280, 292, 321, 329, 333, 426 – Werk Jesu Christi 162–164, 174, 180, 182f, 195, 223 Wert 74, 243, 245, 272, 278, 292, 296, 318, 411, 455f Widerspruch 39–42, 44, 46–48, 53, 56–60, 62, 64–67, 79, 83–85, 89, 93–95, 98, 102f, 105, 118, 120, 128, 144f, 153, 157, 159, 164–167, 210, 214, 233, 240f, 251, 254,

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Sachregister 282, 295, 328, 354, 284, 289f, 294f, 308, 319, 334, 336, 396f, 455f, 460 Wiedergeburt 174, 196–200, 277 Willkür 113, 139, 141, 165, 211, 220, 247, 275, 301f, 321, 325, 327f, 333, 350, 363, 430f, 442, 450, 459 Wirklichkeit 18, 51, 81, 122, 131, 162f, 170, 204, 230, 241, 247, 249, 268f, 271, 276f, 287, 312, 345, 370, 374–376, 382, 384, 386f, 390, 428f Wunder 178 Zeit/Zeitlichkeit 40, 63f, 78, 80, 87f, 94, 97, 119, 137f, 145f, 151, 155, 158, 164, 192, 224, 226, 229, 231, 234, 245, 249, 251, 296, 323, 334, 356, 386, 398, 414f Zeugung 53, 133, 137f, 176 Zirkel, theologischer 208, 344, 358 Zorn Gottes 147–151, 155, 164, 184, 189f, 197

491

Zweideutigkeit 320, 428f Zweifel – allgemein 13, 26f, 87, 163, 192, 219, 238– 244, 247–251, 253f, 256, 258–271, 273– 283, 285–295, 298–300, 302–305, 323, 331f, 335–338, 418, 425, 431f, 446–448, 451 – denkender 249, 288, 290 – prinzipieller 32f, 87, 239, 249f, 252, 256, 258, 260–263, 266, 269, 271f, 275f, 278f, 281, 283, 285–290, 304, 306, 308, 314, 328, 330f, 336, 338, 362, 424f, 427, 430, 436, 458 – theoretischer 238f, 241–243, 246, 248–250 Zweifler 33, 188, 265f, 269, 271, 275, 279f, 284, 287f, 292 Zweinaturenlehre 160, 180, 182, 197

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-56364-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-56364-0

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