Beckmann
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Seite 4: Selbstbildnis auf gelbem Grund mit Zigarette, 1923 Öl auf Leinwand, 60,2 x 40,3 cm The Museum of Modern Art, New York Autor: Ashley Bassie Layout: Baseline Co. Ltd 61A-63A Vo Van Tan Street 4. Etage Distrikt 3, Ho Chi Minh City Vietnam © Confidential Concepts, worldwide, USA © Parkstone Press International, New York, USA Image-Bar www.image-bar.com © Max Beckmann Estate, Artists Rights Society (ARS), New York / VG Bild-Kunst, Bonn Weltweit alle Rechte vorbehalten. Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen, den betreffenden Künstlern selbst oder ihren Rechtsnachfolgern. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung. ISBN: 978-1-78042-702-7

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„Kunst dient der Erkenntnis, nicht der Unterhaltung, der Verklärung oder dem Spiel.” – Max Beckmann, 1938

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Biografie 1884

Max Beckmann wird am 12. Februar in Leipzig geboren. Seine Eltern, Antonie und Carl Beckmann, entstammen einer Bauernfamilie aus der Umgebung von Braunschweig.

1894

Er fertigt seine ersten Zeichnungen an: Porträts und Landschaften.

1900

Er besteht die Aufnahmeprüfung der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule in Weimar und studiert dort bis 1903.

1903-1904

Studienreise nach Paris.

1905

Übersiedlung nach Berlin, wo er sich der Berliner Secession anschließt.

1913

Paul Cassirer organisiert die erste große Beckmann-Retrospektive. Beckmann tritt aus der Berliner Secession aus und begründet 1914 die Freie Secession mit.

1914

Der Künstler dient als Freiwilliger im Sanitätsdienst in Flandern. Er hält seine harten Kriegserfahrungen in Zeichnungen fest.

1915

Nervenzusammenbruch und Entlassung aus dem Militärdienst. Seine Kunst wird von diesem Zeitpunkt an expressiver und sozialkritischer. Aufenthalt in Frankfurt am Main.

1925

Übernahme des Meisterateliers der Städel-Kunstgewerbeschule in Frankfurt am Main.

1929

Ernennung zum Professor in Frankfurt am Main. Bis 1932 wohnt Beckmann jeweils von September bis Mai in Paris.

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1931

Beckmann wird zunehmend von nationalsozialistischer Seite angegriffen.

1932-1933

Mit der Entstehung des ersten von neun monumentalen Triptychen fängt eine neue Schaffensperiode an. Das bisher Formale und Koloristische verbindet sich nun mit Deutungen der politischen Aktualität.

1933

Entziehung seines Lehrauftrags.

1937

Werke Beckmanns werden in der von den Nazis organisierten Ausstellung Entartete Kunst in den Münchner Hofarkaden gezeigt. Nach der Rundfunkübertragung von Hitlers Rede zur Eröffnung der gleichzeitigen Großen Deutschen Kunstausstellung in München emigriert Beckmann nach Paris und später Amsterdam.

1940

Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Niederlande verbrennt Beckmann seine seit 1925 geführten Tagebücher.

1947

Übersiedlung in die Vereinigten Staaten, wo er an der Washington University Art School (St. Louis) eine Gastprofessur annimmt.

1948

Umfassende Beckmann-Retrospektive im City Art Museum (St. Louis), die anschließend noch in Detroit, Los Angeles, San Francisco und Cambridge/Massachusetts gezeigt wird.

1949

Beckmann unterrichtet an der Brooklyn Museum Art School (New York).

1950

Der Künstler stirbt am 27. Dezember in New York, nachdem er selbst nach 1945 niemals aus seinem Exil nach Deutschland zurückgekehrt war.

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ax Beckmann wurde 1884 in Leipzig geboren. Während seiner Studentenzeit in Weimar, der Wiege der deutschen

Aufklärung, las er voller Begeisterung die Schriften Schopenhauers und interessierte sich auch für Kant, Hegel und Nietzsche. Nach seinem Examen im Jahr 1903 malte er in Paris seine ersten Bilder. Cézanne beeindruckte ihn ganz besonders. Beckmanns Bilder wiesen einen impressionistischen Stil auf und waren in ihrer Komposition und Behandlung historischer

Kleine Sterbeszene 1906 Öl auf Leinwand, 100 x 70 cm Neue Nationalgalerie, Berlin

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monumentaler Motive recht traditionell. Beckmann erhielt sich während seines gesamten Lebens ein instinktives Gespür für die Kunst der Vergangenheit und war besonders an Epochen interessiert, die sich kraftvoller und einfacher Ausdrucksmittel bedienten. Während der Entwicklung seines eigenen charakteristischen Stils studierte er besonders die Kunst des Mittelalters und der nordeuropäischen Renaissance. Beckmann hielt zu den Kerngruppierungen des Expressionismus und ihren idealistischen Programmen

Auferstehung 1907 345 x 497 cm Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart

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eine gewisse Distanz und war in vielerlei Hinsicht niemals ein typischer Expressionist. Sein Werk aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Mitte der 1920er Jahre stellt allerdings unbestreitbar einen wesentlichen Beitrag zur avantgardistischen deutschen Kunst sowie zur Entwicklung und zum Niedergang des Expressionismus dar. Wie

bei

Expressionismus

mehreren

anderen

assoziierten

mit

dem

Künstlern,

wie

beispielsweise Dix, Kirchner, Schiele und Kokoschka,

Unterhaltung 1908 Öl auf Leinwand, 179 x 169 cm Neue Nationalgalerie, Berlin

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bilden Selbstporträts einen wichtigen Bestandteil von Beckmanns bedeutenderen Werken. Das naturalistisch anmutende Selbstbildnis als Krankenpfleger, das er im Kriegsjahr 1915 malte, während er für das Rote Kreuz arbeitete, ist ein frühes Beispiel dafür. Die Briefe an seine erste Frau Minna zeigen, dass er von dem Kommen und Gehen im Krankenhaus und von der Menge der Eindrücke und Erfahrungen, die seine Kunst „verschlingen“ sollte, überwältigt war. Im Juli 1915 überforderte die

Szene aus dem Untergang von Messina 1909 Öl auf Leinwand, 253,5 x 262 cm The Saint Louis Art Museum, Saint Louis

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Intensität des Krieges Beckmann jedoch, sodass er einen Nervenzusammenbruch erlitt und entlassen wurde. Im März 1919, und damit auf dem Höhepunkt der Straßenkämpfe zwischen Freikorps und Revolutionären, besuchte Beckmann Berlin. Seine Eindrücke vom Chaos und der Gewalt in den deutschen Städten verewigte er in zwei seiner wichtigsten Werke jener Zeit: dem Gemälde Die Nacht und der Sammlung großformatiger Lithografien mit dem Titel Die Hölle. Die Düsterkeit

Untergang der Titanic 1912 Öl auf Leinwand, 265 x 330 cm The Saint Louis Art Museum, Saint Louis

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seiner Vision und die Schwärze seines Humors im Angesicht der damaligen Situation sind in beiden Werken unübersehbar. Die Titelseite von Die Hölle zeigt den eine Art Narrenkragen tragenden Beckmann in einer Kirmesbude. Ein Schild informiert darüber, dass Die Hölle „Großes Spektakel in zehn Bildern“ verspricht. Unterhalb von Beckmanns Bude ist zu lesen„Wir bitten das geehrte Publikum näher zu treten. Es hat die angenehme Aussicht, sich vielleicht 10 Minuten nicht zu langweilen. Wer nicht zufrieden ist, bekommt sein Geld zurück.“

Die Straße 1914 Öl auf Leinwand, 171 x 72 cm Berlinische Galerie, Berlin

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In dieser Serie ist Berlin ein höllischer und geschmackloser Zirkus des Makabren geworden. Der erste Druck aus der Serie ist Der Nachhauseweg. Man sieht hier den von einem großen schwarzen Hund begleiteten Beckmann auf einer nächtlichen Straße im Gespräch mit einem entstellten Soldaten. Wie auch auf anderen Bögen ragen hier einige Bildelemente (seine Schulter, die baumelnde Zunge des Hundes) über die Bildränder hinaus. Dies verstärkt den Eindruck, dass es sich bei dieser Vignetten-Serie um eine Art Blick aus dem Fenster

Christus und die Sünderin 1917 Öl auf Leinwand, 149,2 x 126,7 cm The Saint Louis Art Museum, Saint Louis

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auf eine moderne Hölle handelt. Weitere Drucke stellen die Stadt als einen Ort des Kampfes, des Hungers, der Folter und des Chaos dar. Der herausragende Fotograf der Weimarer Republik, Hugo Erfurt, nahm 1928 ein berühmtes Porträt von Beckmann auf. Die starken, charakteristischen und an eine Bulldogge erinnernden Gesichtszüge sind auch in seinen Selbstporträts zu erkennen. In vielen dieser Bilder nimmt Beckmann jedoch eine Rolle ein, etwa die eines Zirkus-Ausrufers, eines Führers durch die „Hölle“ oder des traditionellen Narren der

Selbstbildnis mit rotem Schal 1917 Öl auf Leinwand, 80 x 60 cm Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart

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mittelalterlichen Welt, der mit seinen Späßen auf die Ernsthaftigkeit der moralischen Verderbtheit des Menschen hinwies. Ein solches Bild ist Beckmanns Selbstbildnis als Clown von 1921. Beckmann hält hier eine Maske, die seine künstlerische Rolle als Clown oder Narr und gleichzeitig die demaskierende Zielsetzung des Werks selbst symbolisiert. Die Verkleidung als Clown und die uns in vielen seiner Werke begegnende verkehrte Welt des Karnevals gaben Beckmann die Möglichkeit, die Welt als ein billiges Spektakel darzustellen.

Kreuzabnahme 1917 Öl auf Leinwand, 151 x 129 cm The Museum of Modern Art, New York

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Spielereien und Späße treffen in Beckmanns Werk auf tödliche Ernsthaftigkeit. Beide Elemente finden sich in diesem Selbstporträt. Beckmann gab nur selten öffentliche Kommentare zu seinem Werk ab und zog es vor, sich durch seine Malerei zu artikulieren. Gerade auf Grund dieser Tatsache ist seine Schöpferische Konfession zu einem so zentralen Dokument geworden. Besonders eine Passage wirft Licht auf die scheinbar kalte, gefühllose, als strenger Kontrollmechanismus für das ausbrechende Chaos in Beckmanns Werk fungierende Oberfläche:

Die Nacht 1918-1919 Öl auf Leinwand, 133 x 154 cm Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

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Ich glaube, dass ich gerade die Malerei so liebe, weil sie einen zwingt, sachlich zu sein. Nichts hasse ich so wie Sentimentalität. Je stärker und intensiver mein Wille wird, die unsagbaren Dinge des Lebens festzuhalten, je schwerer und tiefer die Erschütterung über unser Dasein in mir brennt, um so verschlos-

Badende Frauen 1919 Öl auf Leinwand, 97 x 65 cm Staatliche Museen zu Berlin, Berlin

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sener wird mein Mund, um so kälter mein Wille, dieses schaurig zuckende Monstrum von Vitalität zu packen und glasklare scharfe Linien und Flächen einzusperren, niederzudrücken, zu erwürgen. Ich weine nicht, Tränen sind mir verhasst und Zeichen der Sklaverei. Ich denke immer an die Sache.

Die Synagoge in Frankfurt am Main 1919 Öl auf Leinwand, 90 x 140 cm Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main

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Ein Gemälde von 1921, Der Traum, enthält viele ikonografische und kompositorische Elemente, die schon Bestandteil von Beckmanns charakteristischen Arbeiten waren oder es werden sollten: in ein zweideutiges Interieur gezwängte Figuren, Musikinstrumente, der Narrenkragen, ambivalente Körperhaltungen und Gesten, Fragmente von Zeichen und Schildern, Fische. Die Zick-ZackKomposition bedient sich der steilen, subjektiven bildlichen Räume und der Eckigkeit der Formen, die aus der gotischen Kunst bekannt sind. In einer

Fastnacht 1920 Öl auf Leinwand, 186,5 x 91,5 cm Tate Gallery, London

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detaillierten Analyse des Gemäldes verglich der Kritiker Wilhelm Fraenger im Jahr 1924 Beckmanns ausgezeichnete Fähigkeit, in seinem Bild die Fülle der Bewegungen organisch zu ordnen, mit der Kunst des alten flämischen Meisters Pieter Bruegel, den Formen der Unordnung eine Ordnung aufzuerlegen. Beckmann selbst sprach einmal von „dieser Mischung von Somnambulismus und fürchterlicher Bewusstseinshelle“ in seiner Kunst. Dies beschreibt sehr gut den hier abgebildeten Traum – gleichzeitig

Stillleben mit Gänseblümchen 1921 Öl auf Leinwand, 49,5 x 35,5 cm Privatsammlung

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schmerzhaft lebhaft und obskur. Die asketischen kreidigen Farben und die von bunten Attributen betonte Blässe der Haut sind ebenfalls charakteristisch für diese von etwa 1917 bis 1925 reichende Periode in Beckmanns Werk. Nach dieser Zeit finden sich verstärkt die für sein späteres Werk so typischen starken Bildbereiche aus Schwarz und intensiven Farben. Im Jahr 1925 organisierte Gustav Hartlaub, der Direktor der Mannheimer Kunsthalle, die Ausstellung, die den wenig perfekten Ausdruck Neue Sachlichkeit

Der Traum 1921 Öl auf Leinwand, 182 x 91 cm The Saint Louis Art Museum, Saint Louis

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als einen kritischen Fachbegriff für die Malerei „nach dem Expressionismus“ einführte. Die Ausstellung wurde von Werken Beckmanns dominiert. Sie enthielt Bilder der modernen Entfremdung inmitten des Chaos – das 1923, auf dem Höhepunkt der Hyperinflation, gemalte Bild Tanz in Baden-Baden ist ein Beispiel dafür. Durch diese Verbindung mit der Sachlichkeit, von der er so häufig gesprochen hatte, wurde Beckmann in die Rolle eines Fackelträgers der Zukunft der deutschen Kunst nach dem Niedergang des Expressionismus gedrängt.

Selbstbildnis als Clown 1921 Öl auf Leinwand, 100 x 59 cm Von der Heydt-Museum, Wuppertal

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er Begriff „Expressionismus“ hatte zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Bedeutungen. In dem Sinn, in dem wir ihn

heute gebrauchen, wenn wir vom „deutschen Expressionismus“ sprechen, bezieht er sich auf eine am Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich entstandene breite kulturelle Bewegung. Doch der Expressionismus ist komplex und widersprüchlich. Er umfasst die Befreiung des Körpers ebenso wie die Entdeckung der Psyche.

Das Nizza in Frankfurt am Main 1921 Öl auf Leinwand, 100,5 x 65,5 cm Öffentliche Kunstsammlung Basel, Basel

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Und innerhalb seiner vielfältigen Mischung fanden sich politische Apathie und Chauvinismus ebenso wie eine revolutionäre Gesinnung. Der erste Teil dieses Buches ist eher thematisch als chronologisch strukturiert, um einige der wichtigsten charakteristischen Gemeinsamkeiten und Anliegen der Bewegung herauszuarbeiten. Der zweite Teil besteht aus kurzen Essays über eine Reihe einzelner Expressionisten, mit denen die unterschiedlichen Aspekte im Werk der jeweiligen Künstler herausgestellt werden.

Der eiserne Steg 1922 Öl auf Leinwand, 120,5 x 84,5 cm Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

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Die tieferen Wurzeln des Expressionismus reichen weit in die Geschichte zurück und sind geografisch ebenso weit verzweigt. Zwei der wichtigsten Quellen sind weder modern noch europäisch: die Kunst des Mittelalters und die Stammeskunst bzw. Kunst der sogenannten „primitiven“ Völker. Eine dritte hat im Grunde kaum mit visueller Kunst zu tun – die Philosophie Friedrich Nietzsches. Noch komplizierter wird das Ganze dadurch, dass das Wort „Expressionismus“ ursprünglich eine ganz andere Bedeutung hatte.

Selbstporträt mit Naïla als Zirkusartisten mit Masken auf einem Seeungeheuer um 1923 Holzstock, Kreide in Schwarz, unvollendet, 50 x 39,3 x ca. 3 cm National Gallery of Art, Washington 44

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Etwa bis 1912 wurden damit ganz allgemein alle sich deutlich vom Impressionismus unterscheidenden bzw. mehr noch „anti-impressionistisch“ wirkenden progressiven Kunstrichtungen in Europa – und hier vor allem in Frankreich – bezeichnet. Ironischerweise galt der Begriff damit zunächst vor allem nichtdeutschen Künstlern wie Cézanne, Gauguin, Matisse und van Gogh. Tatsächlich war „Expressionismus“ noch bis nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs der Oberbegriff für die aktuelle moderne – fauvistische, futuristische oder kubistische – Kunst.

Selbstbildnis auf gelbem Grund mit Zigarette 1923 Öl auf Leinwand, 60,2 x 40,3 cm The Museum of Modern Art, New York

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Die bedeutende Kölner Sonderbund-Ausstellung des Jahres 1912 verwendete beispielsweise den Begriff in Bezug auf die aktuelle deutsche Malerei und auf internationale Künstler. Hier zeichnete sich jedoch bereits eine Verschiebung ab. Die Ausstellungsveranstalter und die meisten Kritiker betonten die Nähe des Expressionismus der deutschen Avantgarde zu der des Holländers van Gogh und der des Ehrengastes der Ausstellung, des Norwegers Edvard Munch. Damit nahmen sie französischen Künstlern wie

Das Trapez 1923 Öl auf Leinwand, 196,5 x 64,5 cm The Toledo Museum of Art, Toledo

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Matisse einen Teil ihrer früheren Bedeutung und lenkten das Konzept des Expressionismus bewusst in eine nördliche Richtung. Munch selbst war tief beeindruckt, als er die Ausstellung besuchte. „Hier findet sich eine Sammlung der wildesten Malerei in Europa“, schrieb er einem Freund, „der Kölner Dom ist in seinen Grundfesten erschüttert.“ Mehr noch als eine geografische Dimension verdeutlichte die genannte Verschiebung jedoch, dass expressionistische

Qualitäten

weniger

in

innovativen

Ausdrucksformen zur Beschreibung der physischen

Tanz in Baden-Baden 1923 Öl auf Leinwand, 100,5 x 65,5 cm Pinakothek der Moderne, München

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Welt als vielmehr in der Kommunikation einer besonders sensiblen, bisweilen sogar leicht neurotischen Wahrnehmung der Welt zu finden waren, die über die bloße Erscheinung hinausging. Wie in den Werken Munchs und van Goghs stand die individuelle,

subjektive

menschliche

Erfahrung

im

Mittelpunkt. Als der Expressionismus an Bedeutung gewann, wurde eines mehr als deutlich: er war kein bloßer „Stil“. Dies erklärt, warum unter Händlern, Künstlern, Kritikern und Kuratoren nur selten Einigkeit über die Verwendung oder Bedeutung des Begriffs bestand.

Lido 1924 Öl auf Leinwand, 72,5 x 90,5 cm The Saint Louis Art Museum, Saint Louis

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Dennoch nahm der Expressionismus in der Kunst Deutschlands und Österreichs eine wichtige Position ein. Zunächst umfasste er Malerei, Skulptur und Druckgrafik, wenig später dann auch den Tanz, das Theater und die Literatur. Es heißt, der Einfluss des Expressionismus auf die bildenden Künste sei zwar erfolgreich, sein Einfluss auf die Musik aber am radikalsten gewesen, indem er – etwa bei Alban Berg, Gustav Mahler und Arnold Schönberg – insbsondere in Wien Elemente wie Dissonanz und Atonalität hervorbrachte. Schließlich durchdrang der

Bildnis Minna Beckmann-Tube 1924 Öl auf Leinwand, 92,5 x 73 cm Pinakothek der Moderne, München

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Expressionismus auch die Architektur und machte seinen Einfluss selbst im jüngsten, modernsten Medium geltend – dem Film. Historiker sind sich nach wie vor uneinig darüber, was eigentlich unter „Expressionismus“ zu verstehen ist. Viele Künstler, die heute als „die“ Expressionisten gelten, lehnten das Etikett selbst ab. Angesichts des antiakademischen Geistes und dezidierten Individualismus, der einen Großteil des Expressionismus durchzog, kann dies nicht überraschen. In seiner Autobiografie schrieb Emil Nolde

Stillleben mit Grammophon und Schwertlilien 1924 Öl auf Leinwand, 114,5 x 55 cm Privatsammlung

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von seinem Unbehagen darüber, von intellektuellen Kunstkritikern „Expressionist“ genannt zu werden; eine Bezeichnung, die er als Einschränkung empfand. Zwischen den Werken einiger der bedeutendsten Vertreter des Expressionismus liegen große Unterschiede. Der Begriff ist so dehnbar, weil er so unterschiedliche Künstler umfasst wie Paul Klee, Ernst Ludwig Kirchner, Egon Schiele und Wassily Kandinsky. Viele deutsche Künstler, die ein hohes Alter erreichten, wie Otto Dix, George Grosz, Max Beckmann oder Oskar Kokoschka,

Selbstbildnis als Krankenpfleger 1925 Öl auf Leinwand, 55,5 x 38,5 cm Von der Heydt-Museum, Wuppertal

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beschäftigten sich nur wenige Jahre ihres produktiven Künstlerlebens – und in unterschiedlich starker Ausprägung – mit „expressionistischen“ Ausdrucksformen. Anderen war ein tragisch kurzes Dasein beschieden, das uns nur eine vage Vorstellung davon geben kann, wie sich ihre Arbeit weiterentwickelt haben könnte. Richard Gerstl und Paula Modersohn-Becker starben, noch bevor dieser Begriff des Expressionismus allgemein gebräuchlich wurde. Noch vor Ende des Jahres 1914 fielen der Maler August Macke und die

Doppelbildnis Karneval Max Beckmann und Quappi 1925 Öl auf Leinwand, 160 x 105,5 cm Museum Kunstpalast, Düsseldorf

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Dichter Ernst Stadler und Alfred Lichtenstein auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Ein anderer Dichter, Georg Trakl, nahm eine Überdosis Kokain, nachdem er unter dem Trauma seines Dienstes in einer Sanitätseinheit in Polen zu Grunde ging. Franz Marc fiel 1916, in Wien überlebte der junge Egon Schiele die vernichtende Grippeepidemie von 1918 nicht und Wilhelm Lehmbruck

war

so

traumatisiert

von

den

Erfahrungen des Krieges, dass er sich 1919 in Berlin das Leben nahm.

Galleria Umberto 1925 Öl auf Leinwand, 113 x 50 cm Privatsammlung

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Es

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fällt

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leichter,

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festzustellen,

was

der

Expressionismus nicht war, als was er war. Ganz sicher war der Expressionismus keine kohärente, zusammenhängende Einheit. Im Gegensatz zu Marinettis Futuristen in Italien, die ihre Identität als Gruppe fanden und lautstark verkündeten, gab es keinen geeinten Zusammenschluss der Expressionisten; jeder ging seinen eigenen Weg. Doch anders als die kleinen Gruppen der als Fauvisten und Kubisten bezeichneten Maler in Frankreich waren die Expressionisten der einen

Fastnacht 1925 Öl auf Leinwand, 160 x 100 cm Städtische Kunsthalle, Mannheim

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oder

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anderen

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Schattierung

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quer

durch

alle

Kunstrichtungen so zahlreich, dass die Epoche in der deutschen Kulturgeschichte bisweilen als die einer ganzen „expressionistischen Generation“ bezeichnet wurde. Der Zeit des deutschen Expressionismus wurde schließlich 1933 mit der Diktatur der Nazis ein Ende gesetzt. Doch seine fruchtbarste Phase von 1910 bis 1920 hinterließ ein Erbe, das seitdem immer wieder für Nachhall gesorgt hat. Es war eine von intellektuellen Abenteuern, leidenschaftlichem Idealismus und

Stillleben mit Saxofon 1926 Öl auf Leinwand, 85 x 195 cm Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt am Main

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einer tiefen Sehnsucht nach geistiger Erneuerung geprägte Zeit. In dem Maße, in dem einige Künstler die politische Gefahr der für den Expressionismus charakteristischen Innerlichkeit erkannten, machten sie sich verstärkt daran, sein Potenzial für ihr politisches Engagement und eine tief greifende gesellschaftliche

Erneuerung

auszuschöpfen.

Doch

utopische Ziele und ein hoher Einsatz, die damit einhergehen, der Kunst eine erlösende Funktion zuzuschreiben, bedeuten, dass dem Expressionismus auch ein immenses Potenzial an Verzweiflung,

Die Barke 1926 Öl auf Leinwand, 180,5 x 90 cm Sammlung Richard L. Feigen, New York

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Desillusion und Atrophie innewohnte. Neben Werken mit treffender Schärfe brachte er auch eine Flut pseudoekstatischer Ergüsse und ein nicht unbedeutendes Maß an sentimentaler Nabelschau hervor. Einige der erstaunlichsten Werke, die der deutsche Expressionismus hervorgebracht hat, entstammten ebenso formaler öffentlicher Zusammenarbeit wie engen freundschaftlichen Arbeitsbeziehungen. In den Gruppen, die den Expressionismus der Vorkriegszeit beherrschten, etwa der Brücke und dem Blauen Reiter, fand sich beides. Es gab heftige Auseinandersetzungen,

Stillleben mit violetten Dahlien 1926 Öl auf Leinwand, 70 x 36 cm Privatsammlung

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und in Zeitschriften wie Der Sturm und Die Aktion wurden ebenso wie vor dem Hintergrund zahlreicher Gruppenausstellungen gemeinsame Standpunkte veröffentlicht. Daneben gab es die relativ isoliert arbeitenden introvertierten Einzelgänger. Vor allem war es auch eine von Verzweiflung über das zerstörerische Potenzial der Technologie und deren verheerende Folgen für Deutschland geprägte Zeit. Ihre Konflikte und Traumata sind untrennbar verbunden mit den vom Expressionismus angenommenen Formen, und schließlich auch mit dessen Ablösung.

Bildnis Quappi in Blau 1926 Öl auf Leinwand, 60,5 x 35,5 cm Pinakothek der Moderne, München

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ie Kunst im wilhelminischen Deutschland des späten neunzehnten Jahrhunderts war beherrscht von Institutionen wie der

Akademie und künstlerischen Konventionen wie der Betonung historischer und literarischer Sujets, die als besonders geeignet für den Blick der Öffentlichkeit galten. Die Mischung aus vielschichtigem Realismus, Patriotismus und beschaulicher Sentimentalität in Anton von Werners Im Etappenquartier vor Paris ist

Großes Stillleben mit Fernrohr 1927 Öl auf Leinwand, 141 x 207 cm Pinakothek der Moderne, München

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ein gutes Beispiel für den „offiziellen“ Geschmack der 1890er Jahre. Unmittelbar nach seiner Fertigstellung wurde es von der Nationalgalerie aufgekauft. Das Gemälde zeigt eine Gruppe von Soldaten, die sich beim von zwei Ulanen gesungenen Klang von Schumanns Das Meer erglänzte weit hinaus entspannen. Den Hintergrund bildet ein Schloss unweit von Versailles während des französisch-preußischen Krieges von 1870 bis 1871. Die ostentative Männlichkeit – schlammige Stiefel und

Luftakrobaten 1928 Öl auf Leinwand, 215 x 100 cm Von der Heydt-Museum, Wuppertal

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rote Wangen – und ihre Liebe zur deutschen Kultur wird absichtlich mit der verweichlichten, rokokohaften Anmutung der französischen Zivilisation ihrer Umgebung in Kontrast gesetzt. Von Werner war Direktor der Berliner Akademie und die mächtigste Figur in der Welt der institutionellen deutschen Kunst seiner Zeit. Er war auch ein bevorzugter Künstler Kaiser Wilhelms II., der für seine so dezidierten wie konservativen und stets unverhohlen geäußerten Meinungen zum Thema Kunst bekannt war.

Die Loge 1928 Öl auf Leinwand, 121 x 85 cm Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart

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Zu dieser Zeit standen Diskussionen um die moderne Kunst oft im Zusammenhang mit der Sorge um die nationale Identität Deutschlands. Julius Langbehns 1890 veröffentlichte nationalistische Schrift Rembrandt als Erzieher wurde sofort zum Bestseller. Langbehn zögerte nicht, Rembrandt als Deutschen zu vereinnahmen, den er an der Seite von Goethe und Luther als Verkörperung der „Kultur“ sah, die „zur wahren Befreiung der Deutschen“ führen würde. In seinem Buch beschied er dem zeitgenössischen Deutschland eine im Niedergang begriffene, von allen Seiten – Demokratie,

Zigeunerin 1928 Öl auf Leinwand, 136 x 58 cm Hamburger Kunsthalle, Hamburg

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Wissenschaft, Internationalismus, kurz: die Moderne – bedrohte Kultur. Der Gegenschlag aus dem pro-modernistischen Lager progressiver Künstler, Sammler und Schriftsteller – eine leidenschaftliche öffentliche Verteidigung mit dem Titel Im Kampf um die Kunst – ließ nicht lange auf sich warten. Zu den Verfassern gehörten der Kunsthistoriker Wilhelm Worringer, Mitglieder aus dem eben erst entstandenen Kreis des Blauen Reiters und Max Beckmann. Obgleich die expressionistische Kunst selbst oft genug ausgesprochen unpolitisch war,

Stillleben mit umgestürzten Kerzen 1929 Öl auf Leinwand, 55,9 x 62,9 cm Detroit Insitute of Arts, Detroit

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machte dieser Konflikt zu einem solch frühen Zeitpunkt ihrer Geschichte die kulturpolitische Dimension der Frage des Expressionismus vor dem deutschen Hintergrund deutlich. Dies wurde in den 1930er Jahren umso deutlicher, als die Theoretiker der Linken rückblickend über Erfolg und Versagen des Expressionismus diskutierten und die Kampagne gegen den Modernismus, Internationalismus und

Expressionismus

mit

dem

Kampf

der

Nationalsozialisten gegen die sogenannte „Entartete Kunst“ mit verstärkter Heftigkeit wieder aufflackerte.

Blick auf den Eiffelturm aus einem Fenster 1930 Farbige Kreide, 64,9 x 50,2 cm Museum Ludwig, Köln

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Der Expressionismus im heutigen Sinne nahm in den ersten Tagen des neuen Jahrhunderts seinen Anfang. In Dresden begann eine Gruppe junger Architekturstudenten der Technischen Universität, sich in Ernst Ludwig Kirchners Studentenwohnung zu treffen, um gemeinsam zu lesen, zu diskutieren und zu arbeiten. Unzufrieden mit der konventionellen akademischen Kunstausbildung, organisierten sie informelle Sitzungen zum Aktzeichnen, bei denen eine junge Frau Modell saß, aber immer

Atelier (Nacht) 1938 Öl auf Leinwand, 110 x 70 cm Deutsche Bank, Frankfurt am Main

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nur für kurze Momentaufnahmen ihre Posen einnahm, die nur in raschen, entschlossenen und „mutigen“ Linien erfasst werden konnten, wie einer der Teilnehmer, Fritz Bleyl, es ausdrückte. Diese Art des Arbeitens befreite sie von der akademischen Praxis, detaillierte Zeichnungen von staubigen alten Gipsfiguren oder von Modellen in ewig gleichen steifen Posen anzufertigen oder peinlich genau die Alten Meister zu kopieren.

Departure, Triptychon 1932-1935 Öl auf Leinwand, Mitteltafel: 215,3 x 115,2 cm Linker und rechter Flügel: je 215,3 x 99,7 The Museum of Modern Art, New York

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Auch der Jugendstil als Reformbewegung der Jahrhundertwende beeinflusste die in der Entstehung begriffene Brücke. Die kurvenreichen Konturen der Jugendstil-Ästhetik tauchen in einigen frühen Brücke-Drucken auf. Grundsätzlichere Prinzipien der Bewegung wie der Wunsch, die Kunst zu erneuern und traditionelle Schranken zwischen bildender und angewandter Kunst niederzureißen, finden sich ebenfalls in einigen Idealen der entstehenden expressionistischen Bewegung wieder.

Selbstbildnis im Hotel 1932 Öl auf Leinwand, 118,5 x 50,5 cm WestLB, Düsseldorf

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Wie viele Künstler der europäischen Avantgarde entdeckte die Brücke in den Formen, Materialien, Bildern und Symbolen der Kunst nicht-westlicher Kulturen eine neue Welt. Ihre ikonografische Antwort auf die afrikanischen und ozeanischen Kulturen war Teil

eines

weitreichenderen

Phänomens,

des

„Primitivismus“, der seine Wurzeln häufig in den nach Exotik strebenden westlichen Fantasien hatte. Bei den deutschen Expressionisten ging es jedoch auch um die Suche nach dem gemeinsamen „Ursprung“, die Rückkehr zum flüchtigen Wesen der

Der König 1933-1937 Öl auf Leinwand, 135,5 x 100,5 cm The Saint Louis Art Museum, Saint Louis

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menschlichen Kreativität. Viele der idealisierten Vorstellungen von Direktheit, Instinktivität und Authentizität im Kern der expressionistischen Ideologie stehen im Zusammenhang mit dem Interesse der Brücke und anderer Expressionisten an den Spuren der sogenannten primitiven Kulturen, die sie in den Medien der Ethnografie abgebildet fanden. Schließlich kam es beim Expressionismus zu einer einzigartigen und komplexen Konfrontation mit einer anderen mächtigen Quelle, nämlich der künstlerischen Vergangenheit Deutschlands.

Odysseus und Sirene 1933 Aquarell, 101 x 68 cm Privatsammlung, New York

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Zwischen dem deutschen Expressionismus und der Kunst des Mittelalters bestehen enge Verbindungen. In gewisser Weise stand die Wiederentdeckung der mittelalterlichen Gotik durch die Expressionisten im Zusammenhang mit dem primitivistischen Anliegen im weiteren Sinne – der Suche nach dem, was sie als reine, authentische, lebendige Kunst sahen. Für viele von ihnen besaß die Kunst des Mittelalters eine starke Integrität. Im Geiste der deutschen Romantiker des frühen neunzehnten Jahrhunderts fühlten sich viele Angehörige der

Reise auf dem Fisch 1934 Öl auf Leinwand, 134,5 x 115,5 cm Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart

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expressionistischen Generation durch die rationalistische Aufklärung von den geistigen Traditionen der Vergangenheit abgeschnitten. Verklärt durch den Blick des Romantizismus, erweckte die Vorstellung gemeinschaftlich organisierter Bruderschaften namenloser Kunsthandwerker, die in kollektiver Arbeit die großen Kathedralen Europas errichteten, utopische Sehnsüchte nach einer ähnlich gesinnten altruistischen Zusammenarbeit unter Künstlern – auch die Gründer des Bauhauses nahmen sich 1919 diese Vorstellung zum Vorbild.

Frühe Menschen - Urlandschaft vor 1936, 1947/1948 Aquarell, Gouache und Tusche auf Bütten 49,8 x 64,5 cm Privatsammlung, Deutschland

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Viele Expressionisten wollten nicht nur die Kunst als solche zu neuem Leben erwecken, sondern ganz besonders die deutsche Kunst. So war es nur logisch, dass sie auf der Suche nach Inspiration und einer Art Selbstfindung nach Nordeuropa blickten. Künstler wie Cranach, Dürer und Grünewald wurden als Meister

der

Spätgotik

herausgestellt.

Diese

Kategorisierung betonte ihr deutsches Erbe und hob sie von der italienischen Renaissance ab. Für viele Zeitgenossen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts war Grünewalds Isenheimer Altar mit seiner

Versuchung 1936-1937 Öl auf Leinwand, Mitteltafel: 200 x 170 cm Flügel: je 215,5 x 100 cm Pinakothek der Moderne, München

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erschütternden Darstellung der Kreuzigung Christi der Inbegriff einer charakteristisch ausdrucksstarken „deutschen“ Kunst. Viel gelesene Bücher wie Wilhelm Worringers Formprobleme der Gotik von 1912 bezeugten ein Kunstwollen der deutschen Gotik, das im Geist des Expressionismus seinen Widerhall fand. Kirchner bewahrte die meiste Zeit seines Lebens eine Ausgabe von Dürers Zeichnungen in Reichweite

auf.

Für

Künstler

wie

Kirchner,

Nolde und viele andere besaßen diese Vorfahren des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts

Selbstbildnis mit Glaskugel 1936 Öl auf Leinwand, 110 x 65 cm Privatsammlung

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Qualitäten, die sie in ihren eigenen radikalen neuen Werken anstrebten. Die Faszination des deutschen Expressionismus an der Kunst des Mittelalters fand sich in einer Ausdrucksform wieder, die als die größte ästhetische Errungenschaft der Bewegung gelten mag: die beeindruckende Wiederbelebung des Holzschnitts. Die Technik des Holzschnitts, die in der Gotik ihren Gipfel erreichte und von Dürer so meisterlich beherrscht wurde, war lange von anderen Techniken wie Stich, Radierung und Lithografie abgelöst worden.

Geburt 1937 Öl auf Leinwand, 121 x 176,5 cm Neue Nationalgalerie, Berlin

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Die Brücke-Künstler entdeckten mit dem Holzschnitt das ideale Medium, um einer rohen, expressiven Körperlichkeit, kraftvollen Zeichnung und der Unmittelbarkeit ihrer Arbeit Ausdruck zu verleihen. Teilweise führten sie Farbblöcke ein. Indem sie einem lange vernachlässigten Druckverfahren in der Moderne neue Priorität verliehen, stellten sie die konventionelle hierarchische Einteilung der Künste in Frage. Zahlreiche andere Künstler dieser Zeit, von Kollwitz

bis

Kandinsky,

arbeiteten

viel

mit

Holzschnitten. Arbeiten wie Noldes Prophet von

Der Befreite 1937 Öl auf Leinwand, 60 x 40 cm Schlossmuseum, Murnau

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1912 machen eindrucksvoll deutlich, wie mit einem kleinen, monochromen Bild eine überwältigende Wirkung erzielt werden kann: Ausdrucksstark ist nicht nur das Motiv – der hagere Kopf eines alten Sehers – sondern auch die harte, hölzerne Körperlichkeit der Druckvorlage. In Anspielung an den messianischen Aspekt des Propheten schrieb 1927 der Kritiker Gustav Schiefler „alles an ihm, sein Bart, sein Haar und selbst die Linien im Hintergrund schienen wie aus einem inneren Feuer herzurühren.“

Tod 1938 Öl auf Leinwand, 121 x 176,5 cm Neue Nationalgalerie, Berlin

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Von allen literarischen und philosophischen Quellen, die die Entwicklung des Expressionismus beeinflussten, besaßen Nietzsches Schriften und Ideen die stärkste Anziehungskraft. Es heißt, kein anderer deutscher Denker des 19. Jahrhunderts mit Ausnahme von Karl Marx habe einen größeren Einfluss auf die Entwicklung des deutschen Denkens ausgeübt (und Nietzsches Werke wurden auch von vielen Nicht-Deutschen begierig verschlungen). Einer der für bildende Künstler anziehendsten Gedanken war seine Diagnose des Untergangs der zeitgenössi-

Selbstbildnis mit Trompete 1938 Öl auf Leinwand, 110 x 101 cm Neue Galerie New York (Leihgabe)

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schen Kultur und seine Begeisterung für die Kreativität als Kraft mit dem Potenzial zur Erlösung. Er zog den Instinkt der Moral vor. In seinen Schriften fand sich die Vorstellung höher gestellter Menschen der Tat, die sich über die Masse erheben könnten. Seine Vitalität und ekstatische, „dionysische“ Lebensbejahung, mit der er beide Extreme – Freud und Leid – willkommen hieß, befeuerte die Leidenschaft der Expressionisten, ihre Verurteilung konventioneller Moralvorstellungen und ihren Sinn nach Rebellion.

Traum von Monte Carlo 1939-1940 Öl auf Leinwand, 160 x 200 cm Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart

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Die expressionistischen Künstler und Dichter arbeiteten in einer Zeit, in der der Nietzsche-Kult seinen Höhepunkt erreichte. Beliebte Darstellungen des Philosophen erzielten (im Wortsinn!) wahre Höhenflüge; wie etwa das Bild eines muskulösen, heroisch überhöhten Nietzsche auf dem Gipfel eines Zarathustra-Berges aus dem Jahr 1915. Gottfried Benn, einer der ersten Dichter des Expressionismus, schrieb 1950:

Im Artistenwagen (Zirkus) 1940 Öl auf Leinwand, 86,5 x 118,5 cm Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt am Main

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Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte,

innerlich

sich

auseinander

dachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen, breittrat – alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitiv Formulierung gefunden, alles Weitere war Exegese. […] Er war, wie sich immer deutlicher zeigt, der weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche.

Großes Variété mit Zauberer und Tänzerin 1942 Öl auf Leinwand, 115 x 150 cm Von der Heydt-Museum, Wuppertal

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Als der junge Paul Klee 1899 nach München kam, schrieb er in sein Tagebuch, Nietzsche läge förmlich in der Luft; die Glorifizierung des Selbst und der Instinkte, grenzenloses sexuelles Verlangen. München war der zweite Ort, an dem der Expressionismus der Vorkriegszeit seine Blüte erlebte. Hier, in der vormaligen Hauptstadt des deutschen Jugendstils, gab es andere Künstlergruppen in wechselnder Zusammensetzung, die in der an Kultur reichen Stadt – bzw. genauer gesagt in dem berühmten Künstlerviertel Schwabing – gemeinsam arbeiteten, ausstellten und Ideen austauschten.

Traum des Soldaten 1942 Öl auf Leinwand, 90 x 145 cm Hilti Art Foundation, Schaan, Fürstentum Liechtenstein

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Wassily Kandinsky hat das Vorkriegsmilieu des Bezirks in einem lebendigen Bild geschildert, als er das seltsame, recht exzentrische und selbstbewusste Schwabing beschrieb, in dessen Straßen jeder – egal ob Mann oder Frau – sofort auffiel, der ohne Palette, Leinwand oder zumindest eine Mappe unterm Arm herumlief. Wer nicht malte, schrieb Gedichte oder machte Musik oder fing an zu tanzen. Unter jedem Dach gab es mindestens zwei Ateliers, in denen genau genommen manchmal nicht besonders viel gemalt, aber immer viel diskutiert,

Café Bandol 1944 Öl auf Leinwand, 66 x 70,5 cm Privatsammlung

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debattiert, philosophiert und getrunken wurde (wobei letzteres mehr von der Geldbörse als von der Moral des Einzelnen abhing). Kandinsky war ein dreißigjähriger Russe, der sich im Künstlermilieu wiederfand, nachdem er eine viel versprechende Karriere als studierter Rechtsanwalt in Moskau hinter sich gelassen hatte. Er stürzte sich 1896 in das Künstlerleben und wurde innerhalb kurzer Zeit vom Schüler des Malers Franz von Stuck zu einer wichtigen Figur der Münchner Avantgarde. Er war Mitbegründer und Vorsitzender

Schwimmbad Cap Martin 1944 Öl auf Leinwand, 60 x 95 cm Hamburger Kunsthalle, Hamburg

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der Phalanx-Schule und Ausstellungsgruppe (19011904) sowie der Neuen Künstlervereinigung München oder NKVM (1909). Mit diesen Aktivitäten erwarb er sich einen Ruf als effizienter Organisator und arbeitete mit vielen anderen russischen Emigranten und deutschen Künstlern zusammen, mit denen er auch gemeinsam ausstellte, darunter Gabriele Münter, die in den prägenden Jahren seines Künstlerlebens zu seiner Begleiterin wurde.

Prunier, Paris 1944 Öl auf Leinwand, 100 x 77 cm Tate Gallery, London

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Stilistisch begannen Kandinsky und seine Kollegen im Spätsommer 1908 die Grenzen ihrer Malerei zu erkunden. Vier von ihnen – Münter, Kandinsky, Jawlensky und Marianne von Werefkin – unternahmen eine Malerreise nach Murnau am Fuße der bayrischen Alpen. Im darauf folgenden Sommer kauft Münter dort ein Haus. Schon bald wird es als Russisches Haus bekannt und dient als Basislager, von dem aus das Paar und ihre Künstlerfreunde Murnau und seine Umgebung in einer Reihe farbenfroher und immer innovativerer Gemälde festhalten.

Die Reise 1944 Öl auf Leinwand, 90 x 145 cm Privatsammlung

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Der Blaue Reiter entstand aus einem 1911 von Kandinsky und seinem jüngeren Kollegen Franz Marc initiierten Projekt. Sie teilten den Wunsch, eine neue Art von Zeitschrift herauszugeben. Bevor sie erstmals veröffentlicht wurde, veranstalteten sie eine eher eilig zusammengestellte Gruppenausstellung, die 1. Ausstellung der Redaktion des Blauen Reiters in der Münchner Galerie Thannhauser (Dezember 1911 - Januar 1912). Es handelte sich um eine bunte Mischung verschiedener Werke: unter anderem von

Abtransport der Sphinxe 1945 Öl auf Leinwand, 130,5 x 140,5 cm Staatliche Kunsthalle, Karlsruhe

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Franz Marc, August Macke, Wassilij Kandinsky, Gabriele Münter, Henri Rousseau, Robert Delaunay und dem Komponisten Arnold Schönberg. Sie ging nach Berlin, wo Herwarth Walden Werke von Klee, Kubin, Jawlensky und Werefkin hinzufügte, bevor er sie als die erste Sturm-Ausstellung präsentierte. Eine zweite Ausstellung des Blauen Reiters mit Grafiken internationaler Künstler – darunter von Picasso und dem Russen Malewitsch – fand unmittelbar danach im März und April 1912 in der Galerie Hans Goltz statt.

Bildnis Curt Valentin und Hanns Swarzenki 1946 Öl auf Leinwand, 131 x 75,5 cm Museum of Fine Arts, Boston

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Von der geplanten Zeitschrift erschien nur eine einzige Ausgabe, und zwar im Jahr 1912, doch handelt es sich dabei um das wohl wichtigste Dokument des Vorkriegs-Expressionismus, den Blauer Reiter-Almanach. Einerseits eine Text- und Bildquelle für Künstler, kann der Almanach insgesamt jedoch auch als ein einziges Argument für eine radikale Neufassung der Kunst und unsere Art, sie zu sehen, gelesen werden. Rückblickend beschrieb Kandinsky die Motivation, die hinter dem Blauen

Begin the Beguine 1946 Öl auf Leinwand, 177 x 121 cm University of Michigan Museum of Art, Ann Arbor

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Reiter stand, als „eine Zeit, in der in ihm der Wunsch reifte, ein Buch oder eine Art Almanach zusammenzustellen, in dem die Künstler die einzigen Autoren wären – vor allem Maler und Musiker“. Die Trennung der Künste voneinander empfand er als destruktiv; die „Kunst“ von der Kunst der Naturvölker und die Kunst der Kinder von der sogenannten Ethnografie zu trennen, ließ in seinen Augen Wände entstehen zwischen Phänomenen, die für ihn eng verwandt und oft sogar identisch waren; ihre Synthese ließ ihm keine Ruhe.

The Beginning, Triptychon 1946-1949 Öl auf Leinwand, Mitteltafel: 175 x 150 cm Linker und rechter Flügel: je 165 x 85 cm The Metropolitan Museum of Art, New York

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Der

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Name

Der

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Blaue

Reiter

steht

im

Zusammenhang mit einem Motiv eines KandinskyGemäldes aus seiner Münchner Zeit; einem Reiter auf dem Rücken eines Pferdes. Auch unter den im Almanach reproduzierten Objekten und Bildern taucht auffallend häufig ein hoch zu Ross sitzender Reiter auf. Die Farbe Blau schätzten sowohl Kandinsky als auch Marc ganz besonders, weil sie ihr eine besondere „spirituelle“ Qualität zuschrieben.

Junge Frau mit Glas um 1947/1949 Feder in Schwarz, Aquarell, Gouache, 42,2 x 30,2 cm Privatsammlung

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Der Kreis des Blauen Reiter umfasste einige sehr enge Freunde, doch war er weniger eine „Gruppe“ als beispielsweise 1910 die Brücke. Ihre Stile, Sujets und theoretischen Anliegen waren sehr viel unterschiedlicher. Sie waren sich nicht immer über grundsätzliche Fragen einig – insbesondere, wenn es um die Natur und die Rolle des „Geistigen“ in der Kunst ging, doch erwies sich ihr Milieu als eines der fruchtbarsten in der Zeit des Vorkriegs-Expressionismus.

Die Hunde werden größer 1947 Aquarell, Feder in Schwarz und Braun über Kohle und Bleistift, 34 x 25 cm Privatsammlung

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er Expressionismus war so sehr mit Dynamik, intensiven Erlebnissen, widerstreitenden Kräften und Widersprüchen

beschäftigt, dass seine Künstler zugleich angezogen und abgeschreckt, fasziniert und angewidert von der Stadt waren. Die Erfahrung der modernen Großstadt wurde zum Thema und zur Inspiration für weite Bereiche der expressionistischen Kunst und Literatur. Einige stimmten ekstatische Hymnen auf die pulsierende Macht und Dynamik der Großstadt an.

Nachtclub in New York 1947 Feder in Schwarz über Bleistift, Aquarell, 26 x 36,3 cm The Pierpont Morgan Library, New York

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Andere

klagten

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über

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die

Vergiftung

und

Verfremdung, mit der sie sich auf Körper und Geist auswirke.

Nüchterner

betrachtet,

waren

die

Großstädte auch die Orte, an denen sich Händler, Kritiker,

Galerien,

Verleger,

Künstlerkollegen,

Herumtreiber und die Cafés fanden, die für das Künstlerleben

eine

Anziehungspunkte

so der

große Künstler

Rolle

spielten.

waren

Köln,

Frankfurt, Hamburg, München, Düsseldorf und andere Städte, doch kamen sie vor allem nach Berlin.

Selbstbildnis mit Zigarette 1947 Öl auf Leinwand, 63,4 x 45,5 cm Museum Ostwall, Dortmund

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Zweifellos gibt es auch zahlreiche bedeutende expressionistische Darstellungen kleiner Provinzstädte. Denken

wir,

um

uns

über

die

Reichweite,

Komplexität und Bedeutung des expressionistischen Kleinstadtmotivs klar zu werden, nur an die üppigen, farbenprächtigen Ansichten von Murnau, die Kandinsky und Münter schufen oder an die versteinerten Häuser und verlassenen Straßen von Krumau, die Stadt, die Schiele zur gleichen Zeit (um 1910) malte und als „Totenstadt“ bezeichnete. Selbst in den Großstädten zog es einige Künstler in die Grünanlagen, wo die kultivierte Natur blühte.

Stillleben mit zwei großen Kerzen 1947 Öl auf Leinwand, 109,3 x 78 cm The Saint Louis Art Museum, Saint Louis

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August Macke vom Blauen Reiter schuf zahlreiche Ansichten eines modernen Paradieses in der Stadt, ausgehend von seinen Ausflügen zum Skizzieren beispielsweise in den Kölner Zoologischen Garten. Hier treten die Spaziergänger mit der exotischen und kraftspendenden Natur in einen Dialog. In Werken wie diesen finden sich Anklänge an die Interpretation der Stadt durch den impressionistischen Flaneur, die Charles Baudelaire mit seiner Aufforderung eingeleitet hatte, das moderne Leben zu malen, und die in Deutschland über mehrere

Bildnis Euretta Rathbone 1947 Öl auf Leinwand, 94,5 x 78,5 cm Privatsammlung

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Jahrzehnte hinweg von älteren Malern wie Max Liebermann und Max Slevogt aufrecht erhalten worden war. Die Metropole Berlin, und insbesondere ihre freche

und

ungestüme,

neureiche

deutsche

Quintessenz schlug viele Dichter und Künstler in ihren

Bann.

Sie

reagierten

entweder

mit

überschwänglicher Begeisterung oder Abscheu. Einmal mehr bestätigt sich hier die ernorme Reichweite

der

Praxis

und

Vielfalt

in

der

Weltanschauung innerhalb des Expressionismus: Zwischen George Grosz’ grellen nächtlichen

Dream of Weltkarte (Universum) 1947/1949 Feder in Schwarz über Bleistift und Aquarell auf Ingres-Bütten, 50 x 35,3 cm Privatsammlung, Deutschland

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Visionen von Sex und Tod in der Metropole zur Zeit

des

Krieges

und

Mackes

zufriedenen

Spaziergängern liegen Welten. Der Dichter Georg Trakl sah den tödlichen „Wahnsinn der großen Stadt“, doch wenn man ihn fragte, warum er nicht aufs Land zog, antwortete er: „Ich habe kein Recht, mich der Hölle zu entziehen.“ Auch Max Beckmann sah Berlin in der Nachkriegszeit als „Hölle“. Der kühle, urbane Blick der Impressionisten auf die Stadt wurde von den Expressionisten sowohl

Frau in weißem Hemd (lesend) 1947 Öl auf Leinwand, 109 x 79 cm Kunstmuseum Winterthur, Schweiz

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intensiviert als letztendlich auch zurückgewiesen. Die Visionen der jüngeren Deutschen haben mit der Distanz der impressionistischen Flaneure nichts gemein. Sie neigen zur Dunkelheit, zur Nacht, der abwegigen und authentischen Erfahrung in den Gossen des Großstadtdschungels. Sie konfrontieren den Betrachter und versetzen ihn in das chaotische Leben der Großstadt. Zur Zeit der Expressionisten war Berlin eine überbordende industrielle Weltstadt. Erst kurze Zeit vorher, nämlich mit der Einigung im Jahr 1871, war sie zur Hauptstadt Deutschlands geworden.

Luftballon mit Windmühle 1947 Öl auf Leinwand, 137,8 x 128 cm Portland Art Museum, Portland

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In den letzten drei Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts verstärkten sich Politik und Industrie gegenseitig in ihrer Wirkung, Arbeiter aus ganz Deutschland und Europa anzuziehen und einen gewaltigen Bauboom auszulösen. Die Geschwindigkeit, mit der die Industrialisierung in Berlin voranschritt, war drastisch im Vergleich zu anderen europäischen Hauptstädten. Im Jahr 1871 zählte Berlin 800.000 Einwohner. Um 1900 waren es, mit steigender Tendenz, deutlich mehr als zwei Millionen. Die Innenstadt wurde dichter, mit vollge-

Sitzende 1947 Bleistift auf Bütten, 47,4 x 31,9 cm Privatsammlung

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stopften, für die Massen gebauten sechsstöckigen Häusern, während sich zugleich in den Vorstädten luxuriöse Villenviertel ausdehnten. Nolde begegnete Berlin, als er die Stadt im Winter 1910-11 besuchte, recht ungezwungen: „Und weiter ging es hinein in den Zigarettendunst der Cafés in den Morgenstunden, wo Neulinge aus der Provinz, harmlos mit Straßendirnen sitzend, im Sektrausch halb hinschliefen“. Er war fasziniert vom Berliner Nachtleben, dessen Szenen, Klänge und Gerüche ihn zu zahlreichen Ölgemälden und Hunderten von Bildern in Wasserfarben, Holzschnitten, Radierungen

Selbstbildnis 1948 91,5 x 79 cm Privatsammlung

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und Lithografien anregten. Er und seine Frau machten sich zurecht und besuchten Maskenbälle, Tanzveranstaltungen und Kabarettvorführungen. Er schrieb: Ich zeichnete und zeichnete, das Licht der Säle, den Oberflächenflitter, die Menschen, alle, ob schlecht oder recht, ob Halbwelt oder ganz verdorben, ich zeichnete diese Kehrseite des Lebens mit seiner Schminke, mit

seinem

glitschigen

Schmutz

und

Verderb. Viel Augenreiz war allenthalben.

Rettung 1948 Öl auf Leinwand, 63,5 x 114 cm Sammlung Richard L. Feigen, New York

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Schwül war es manchmal in dieser Tiefe zwischen all den leichtsinnig glücklichen oder unglücklichen Menschen. Ich zeichnete und zeichnete… Zu dieser Zeit war die führende Lichtgestalt des modernen deutschen Theaters in Berlin der Regisseur Max Reinhardt am Deutschen Theater. Nolde suchte ihn auf und bat ihn um Erlaubnis, im Theater zu zeichnen. Zusammen mit seiner Frau verbrachte er einen Abend nach dem anderen im Dunkeln und schuf dabei zahllose rasch hingeworfene Studien. Auf einem seiner mit Wasserfarben gemalten Bilder ist

Bildnis Walter Barker 1948 Öl auf Leinwand, 114 x 63,5 cm Milwaukee Art Museum, Milwaukee

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eine Szene aus Reinhardts Inszenierung von Goethes Faust zu sehen, mit dem Schauspieler Bassermann als Mephisto im roten Kostüm auf der Bühne. Berlin stand nicht nur im Mittelpunkt der expressionistischen Antwort auf die Stadt, sondern war auch als Ort geradezu ein Muss für sie. Das Gefühl der Trennung, Entwurzelung und Entfremdung in der Stadt stand im Ursprung vieler expressionistischer Visionen des modernen Lebens. Als Reaktion auf die Erfahrung der Straße mit ihren Horden von Einkäufern, Pendlern, Spaziergängern und Prostituierten produzierte Kirchner einige seiner

Die Walküre 1948 Öl auf Leinwand, 109 x 79 cm Privatsammlung, Meerbusch

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bleibendsten Bilder des städtischen Lebens am Vorabend des Krieges. Er malte die Straßenlampen, Straßenbahnen und Züge, die der Stadtlandschaft Dynamik verliehen. Der expressionistische Dichter Alfred

Lichtenstein

sprach

von

der

giftigen

Künstlichkeit einer demütigenden Stadt und dem Gefühl der Zerrissenheit des Einzelnen in ihr: Die Nacht verschimmelt. Giftlaternenschein Hat, kriechend, sie mit grünem Dreck beschmiert. Das Herz ist wie ein Sack. Das Blut erfriert. Die Welt fällt um. Die Augen stürzen ein.

Begegnung 1948 Feder in Schwarz über Bleistift auf geripptem Bütten 31,8 x 49,8 cm Privatsammlung, Deutschland

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Kirchner hatte schon 1908 Prostituierte und Bordellszenen gemalt. In den Jahren 1913 und 1914 schuf er jedoch eine Reihe von Straßenszenen, die die „Kokotten“ der Stadt – Prostituierte auf dem Straßenstrich – verewigten. Während die Dresdner Bilder der Brücke den Körper, die Natur und die natürliche Sexualität von Männern, Frauen und Kindern feierten, verleihen Kirchners Berliner Straßenszenen dem Sex in der Stadt eine zynische, gotisch-moderne Form; einer Ware mehr in der Nachtwirtschaft der Stadt, bewacht vom Pack der Masken tragenden haute-couture-Geier.

Cabins 1948 Öl auf Leinwand, 140,5 x 190,5 cm Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

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Im größeren Zusammenhang der Avantgarde ist es

interessant

festzustellen,

dass

Kirchners

Straßenszenen den sozio-dynamischen Kontext des Bordells umkehren, den Ort, der für die Generation der französischen Avantgarde vor ihm eine so reiche Quelle der Inspiration gewesen war. Eine Reihe Pariser Bordell-Monotypien von Edgar Degas beispielsweise zeigt einen einsamen Mann, dem ein Angebot fleischlicher „Ware“ gegenüber steht. Er besitzt die wirtschaftliche und sexuelle Macht. Kirchner dreht dieses Bild der Prostitution um –

Bildnis Perry T. Rathbone 1948 Öl auf Leinwand, 165 x 90 cm Museum of Fine Arts, Boston

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im Grunde eine modernistische Variante des beliebten Themas orientalistischer Harems- oder Sklavenmarktdarstellungen. In Zeichnungen stellte er Frauen dar, die sich Männern auf der Straße nähern. Indem er die wilde, unkontrollierte, oft „zufällige“ Straßenprostitution und die soziale und sexuelle Transgression zeigt, die mit der Dynamik der Straße einherging, wird die traditionelle Beziehung bei Kirchner zweideutig und instabil. Damit verleiht er dem Punkt, an dem sich Sexualität, Handel und die Stadt begegnen, zugleich eine bitterböse Note.

Frau mit Fisch 1948 Lithografie auf hellgrün gestrichenem Papier 14,8 x 20,5 cm / 20,5 x 28,3 cm Max Beckmann Archiv

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Weil sie die mit der Prostitution verbundene Armut, Gefahr und Ausbeutung oft vollkommen ausblendeten, sahen oder projizierten viele Expressionisten – Künstler und Schriftsteller – in der Figur der Prostituierten eine Art befreite Sexualität und lebendige Authentizität. Sie verkörperte die instinktiven Kräfte, gegen die die bürgerliche Moral sich verschworen hatte und die sie mit den Institutionen Heirat, Familie und erzieherische Orthodoxie im Zaum hielt, die keinen Platz für einen natürlichen Ausdruck der Sexualität ließen.

Christus in der Vorhölle 1948 Öl auf Leinwand, 78,5 x 109 cm National Gallery of Art, Washington

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So schrieb Richard Huelsenbeck, der sich, bevor er zum Dadaisten wurde, in den expressionistischen Kreisen bewegte: „Wir huren hier herum, um die Tauentzienstraße […] [und] [d]anken Gott für die Huren und ihre freie Lebensart, sie sind die wirklichen Menschen. Sexualität, haben wir herausgefunden, ist […] dem Expressionismus sehr verwandt.“ Im weiteren Verlauf distanziert sich das Manifest explizit von der impressionistischen Sicht der Stadt. Am Ende steht ein Aufruf an die anderen Künstler, der von ihnen nichts Geringeres als eine neue

Kleines Monte Carlo Felsenstadtbild 1948 Öl auf Leinwand, 80,5 x 36 cm Museum Ludwig, Köln

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Ästhetik der urbanen Landschaft verlangt. Meidners explosive Beschreibung der Stadt, in der von einem „Bombardement“ der Sinne und ihrer „monströsen und dramatischen“ Art die Rede ist, findet ihre malerische Entsprechung in einer Reihe von Stadtlandschaften, die er in den Jahren 1912 bis 1914 malte, und die als „apokalyptische Landschaften“ bekannt wurden. Der Betrachter ist geneigt, die Bilder als Vorahnungen des Krieges zu sehen, der sich in Europa zusammenbraute, als Meidner sie malte. Die heftige Multiplizierung

Vampir 1948 Öl auf Leinwand, 55 x 85 cm Museum Ludwig, Köln

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der frenetischen Energien der Stadt bis zum Punkt der Zerstörung scheint aus dem Kosmos zu kommen. Das Firmament über seiner Apokalyptischen Stadt explodiert im Feuer von Kometen (oder Bomben?), die herabstürzen und verbrennen. Im Hintergrund links der leichenhaften Figur in Apokalyptische Landschaft stürzt ein Komet aus dem schwarzen Himmel auf die Erde, während die Seen im Hintergrund in der Mitte kochen. 1910 war Halleys Komet im Himmel über Deutschland aufgetaucht und löste Ängste vor einer bevorstehenden Apokalypse aus. Der Expressionismus selbst war mehr als

Perseus’ (Herkules’) letzte Aufgabe 1948 Feder in Schwarz, schwarze Kreide, Bleistift, 35,1 x 50,7 cm Privatsammlung

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empfänglich für apokalyptische Phantasien und prophetische Ankündigungen eines gewaltsamen Untergangs, bisweilen vermischt mit einer ordentlichen Portion schwarzem Humor. Alle diese Elemente finden sich in dem vielleicht bekanntesten aller expressionistischen Gedichte, Jakob van Hoddis’ Weltende. Es liest sich beinahe wie eine lyrische Version eines Meidner-Gemäldes. Tatsächlich unternahmen van Hoddis und Meidner gemeinsame nächtliche Spaziergänge durch die Straßen von Berlin, bis sich der Dichter 1914 in einer psychiatrischen Anstalt wiederfand:

Großes Frauenbild, Fischerinnen 1948 Öl auf Leinwand, 190,8 x 140 cm The Saint Louis Art Museum, Saint Louis

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Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und geh’n entzwei Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut. Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Souvenir Chicago 1948 Öl auf Leinwand, 109,2 x 79 cm Harvard Art Museums, Cambridge, Massachusetts

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Max Beckmanns 1919 entstandenes Gemälde der Synagoge in Frankfurt unter einem riesigen blassen Mond bewegt sich bei weitem nicht in der explosiven Ästhetik Meidners, hat jedoch auch etwas Dynamisch-Instabiles an sich. Die Szene zeigt die Stunde der Morgengebete in der Synagoge, zu der

die

Lichter

an

sind.

Der

Morgen

ist

Aschermittwoch, das Ende der Karnevalsfeiern. In der kleinen Gruppe der Gläubigen, die sich durch verlassene Straßen auf den Weg nach Hause machen, ist Beckmann selbst zu sehen (in Schwarz).

Park in Boulder, Colorado 1949 Schwarze Kreide und Feder in Schwarz, 58,5 x 44,4 cm Privatsammlung

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Der Zusammenprall der Perspektiven, durch den die Häuser und Straßenlampen zu wackeln und umzustürzen scheinen, ist eine passende bildliche Entsprechung abklingender Betrunkenheit nach einer langen Nacht der Exzesse. Auf einer Litfasssäule steht das Wort Not. Der Schriftsteller Rudolf Blümner, im Berlin seiner Zeit legendär bekannt für seine Poesie-Rezitationen, ermahnte Ausstellungsbesucher mit deutlichen Worten: „Sage nie vor einem expressionistischen Bild, dass das Haus darauf schief stehe. Denn es ist kein Haus, sondern ein Bild.“

Hôtel de l’ambre 1949 Öl auf Leinwand, 91,5 x 78,9 cm Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München

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Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich zu einer Tuschezeichnung Meidners mit dem Titel Betrunkene Straße mit Selbstbildnis. Während sich Deutschland in einen verhängnisvollen Krieg verstrickte, fand das Chaos unmittelbaren Widerhall in den erschütterten Visionen rastloser Bewegungen und konfliktiver Energien auf den Straßen. Mehr als nur eine Antwort auf die Oberfläche der Stadt schufen die Expressionisten Visionen der Großstadt und des urbanen Lebens, die die Funktion von Allegorien auf die krisenge-

Sacré Cœur 1949 Kreide in Schwarz, laviert, Deckweiß, 58,3 x 43,7 cm Privatsammlung

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schüttelte Gegenwart einnahmen. Bevorzugtes Motiv waren Blicke in das gewalttätige und gestörte Leben hinter den Fenstern der Mietskasernen. Während er sich von einem Zusammenbruch erholte, den er als Soldat an der Front erlitten hatte, stellte George Grosz die Stadt als einen Ort kollektiven Wahnsinns dar. In einem Brief an seinen engen Freund Otto Schmalhausen beschrieb er seine Arbeit an dem Gemälde Großstadt. Aus ihm gehen der Horror und die Faszination gegenüber der Metropole hervor, und er ist genau so voll von nervöser Agitation und Gewalt wie das Gemälde selbst:

Morgen am Mississippi 1949 Öl auf Leinwand, 59,5 x 80 cm Privatsammlung

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Ich male recht viel, ein größeres Stadtbild und ein kleineres Bild (Rots, viel Rots!) […] Ich stecke voll bis an den Hals hinauf mit Gesichten – und diese Arbeit bedeutet mir alleinige Emotionen, federnde Erregung, sausende Straßenfront aufs Papier! Oder hui? Kreist der Sternehimmel übern rotten Kopf, die Elektrische platzt ins Bild, es klingeln die Telefons, Gebärende schreit auf,

Die Kapelle der Washington University in St. Louis 1949 Kreide in Schwarz über Kohle, 34,6 x 32,1 cm Privatsammlung

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indes Schlagring und Solingmesser friedlich in

der

schwülen

Zuhälterhosentasche

schlummern – ach und die Labyrinthe der Spiegel […] – und die portweinroten, nierenzerfressenden Nächte, in denen der Mond ist neben Infektion und schimpfendem Droschkenkutscher, und wo im staubigen Kohlenkeller der Würgemord passiert – oh Emotion der großen Städte!

Selbstbildnis mit Seil 1949 Feder in Schwarz über Bleistift auf Velin, 60,2 x 45,5 cm University of Michigan Museum of Art, Ann Arbor

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Schließlich

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blickten

die

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expressionistischen

Künstler in den Bauch der Stadt, ihre Spelunken, Seitenstraßen und Nachtclubs, wo sie eine unbändige Kultur von Sex und Spektakel sahen, imaginierten und malten. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg begannen die Expressionisten, einen kühleren Umgang mit ihren Sujets zu entwickeln. Armut, Ausbeutung und Leid in der Stadt beschäftigten viele Künstler, wie die nachfolgenden Kapitel zeigen.

Perseus’ (Herkules’) letzte Aufgabe 1949 Öl auf Leinwand, 89,4 x 142,2 cm French & Company LLC, New York

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Beckmann schuf das Bild einer klaustrophobischen physischen Nähe, paradoxerweise gepaart mit einem Gefühl tiefer psychologischer Isolation in der Stadt, in dem er nicht weiter als auf seine eigene Familie blickte. Sein Familienbild von 1920 verbindet Autobiografisches – Beckmann sitzt mit einem Horn in der Hand links neben seinen Familienmitgliedern – mit dem universalen Subjekt der menschlichen Entfremdung. Otto Dix malte schäbige Paare,

Boulder, Colorado 1949 Feder in Schwarz über Bleistift auf grünem Papier 60 x 45,2 cm National Gallery of Art, Washington

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Selbstmorde und Opfer von Sexualmorden – so wie mehrere andere Künstler auch. In Hamburg fand er Bordelle mit müden und willigen Prostituierten. Heinrich Maria Davringhausen zeigte einen ins Leere starrenden „Träumer“ mit einem enthaupteten Körper und der blutigen Tatwaffe des Mörders in einem Dachgeschossraum. Einige Künstler der Generation wie Grosz und Dix begannen, die Stadt und insbesondere ihre zahllosen trivialen Zerstreuungen mit

Argonauten, Triptychon 1949/1950 Öl auf Leinwand, Mitteltafel: 205,8 x 122 cm Linker Flügel: 184,1 x 85,1, rechter Flügel: 185,4 x 85 cm National Gallery of Art, Washington

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einem zunehmend kühleren, distanzierteren Blick zu sehen. In diesem Sinne beobachteten sie ihre Umgebung eher mit der Ironie, die aus Ernst Blass’ Gedicht Abendstimmung spricht: O komm, o komm, Geliebte! In der Bar Verrät der Mixer den geheimsten Tip. Und überirdisch, himmlisch steht dein Haar Zur Rötlichkeit des Cherry-Brandy-Flip.

Selbstbildnis mit Fisch 1949 Pinsel in Schwarz über Kreide auf Velin, 59,7 x 45 cm Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett

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Die nietzscheschen Aspekte von Modernität, Konflikt, Vitalität und kontinuierlichem Fortschritt fanden sich in der Stadt zuhauf. Die Metropole, ob sie nun als berauschend oder entfremdend erfahren wird, inspirierte eine ganze Generation expressionistischer Künstler und Schriftsteller. Während einige Expressionisten jedoch hinter die Fenster der Stadt schauten, versuchten anderen, den „Schleier“ der materiellen Erscheinung zu lüften, um einer höheren, spirituellen Realität Ausdruck zu verleihen.

Café-Interieur mit Spielspiegel 1949 Öl auf Leinwand, 61 x 46 cm Privatsammlung

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Am Ende des Krieges mussten die deutschen Expressionisten, genau wie die übrige Bevölkerung, versuchen, das Trauma und die veränderten Lebensumstände der Kriegsjahre zu bewältigen. Doch

für

jene,

die

ihre

leidenschaftlichen

Hoffnungen auf den Triumph des Expressionismus im Leben und in der Kunst gesetzt hatten, war dies eine ganz besonders schwierige Zeit, geprägt von quälendem Selbstzweifel und Infragestellen der Welt und der eigenen Überzeugungen. Ganz allgemein gesehen lassen sich zwei typische

Frau mit beschattetem Gesicht 1949 Kohle, schwarze Kreide, 60 x 45 cm Harvard Art Museums, Cambridge, Massachusetts

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Reaktionen – oder Bewältigungsstrategien – unterscheiden. Die eine bestand in einem immer tieferen Versinken in das, was Eckart von Sydow im Jahr 1920 als „primitiven Mystizismus“ bezeichnete. Transzendente

Visionen

einer

neuen,

reinen

„kindlichen“ Utopie, die sich wie ein Phoenix aus der Asche und der Zerstörung erhebt, leben in der Einbildung von Expressionisten wie Bruno Taut, Wenzel Hablik, Hermann Finsterlin und Johannes Itten im Bauhaus und in anderen visionären Architekten und Künstlern weiter. Es erwuchs eine

Gruppenbild Hope 1950 Öl auf Leinwand, 204 x 89 cm Indiana University Art Museum, Bloomington

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Sehnsucht nach einer Apotheose, die den schöpferischen Künstler von seinem Leiden aus der irdischen Metropole auf eine höhere, kosmische Ebene versetzen soll, wie dies Felixmüller in seinem 1925 entstandenen Gemälde darstellt. Das Bild ist ein Tribut an seinen im gleichen Jahr an einer Überdosis Morphium gestorbenen Freund, den Dichter Walter Rheiner. Die andere sich abzeichnende Haltung war geprägt von Zynismus, Protest und Verneinung. Georg Scholz, der ein Freund von Dix und Grosz und 1920 der KPD beigetreten war, zeichnete in

Pompeï-Clowns 1950 Öl auf Leinwand, 91,5 x 140 cm Seattle Art Museum, Seattle

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seinen Industriebauern ein groteskes Bild religiöser Bigotterie und imperialistischer Begeisterung in der

deutschen

Provinz.

Was

die

deutschen

Avantgardisten der deutschen Nachkriegszeit jedoch so faszinierend macht, ist die Tatsache, dass diese beiden einander offensichtlich entgegengesetzten Tendenzen sich häufig im Werk einzelner Künstler oder Gruppen vermengten und vermischten. In diesem Kapitel wird die Diskussion der expressionistischen

Schlüsselthemen

mit

einer

kurzen

Beschreibung der verschiedenen Herausforderungen,

Abstürzender 1950 Öl auf Leinwand, 141 x 88,9 cm National Gallery of Art, Washington

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die eine Bedrohung für das Überleben und die Gültigkeit des Expressionismus darstellten und die sich nach Kriegsende zusehends verschärften, abgeschlossen. Der Dadaismus entstand im Kontext des Krieges. Überzeugt von der Verderbtheit der europäischen Kultur, versah er die Integrität der Expressionisten mit einem großen Fragezeichen. Richard Huelsenbeck verfasste 1920 sein von einer Gruppe von Dadaisten unterzeichnetes Dadaistisches Manifest. Hier wird den Expressionisten ein apathisches, bequemes und

Bildnis Marion Greenwood 1950 Kohle auf blauem Papier, 60,2 x 45,5 cm Museum of Fine Arts, Boston

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inhaltsloses

Leben

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vorgeworfen;

sie

würden

vorgeben, „die Seele zu propagieren“, sie seien aber „Menschen, denen ihr Sessel wichtiger ist als der Lärm der Straße“ und sie verrieten die Ideale einer ganzen Generation. Kein Wunder also, dass Grosz sich zu den Dadaisten bekannte und auch Dix eine lose Verbindung mit ihnen einging. Die provokante Frage „Hat der Expressionismus unsere Erwartungen erfüllt?“ wurde mit einem dreifachen, vehementen „Nein! Nein! Nein!“ beantwortet. Das Manifest verkündet: „Der Expressionismus, der im

Stillleben mit Cello und Bassgeige 1950 Öl auf Leinwand, 91,8 x 139,6 cm Smithsonian Institution, Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Washington

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Ausland gefunden, in Deutschland nach beliebter Manier eine fette Idylle und Erwartung guter Pension geworden ist, hat mit dem Streben tätiger Menschen nichts mehr zu tun.“ Im Sommer dieses Jahres veranstalteten die Berliner Dadaisten die Erste Internationale DadaMesse. Es wurden Plakate, Montagen, moderne Bildnisse, dadaistische Veröffentlichungen und Objekte von Dix, Grosz, Höch, Baader, Heartfield, Hausmann und Schlichter gezeigt. Allzu häufig wird der Dadaismus jedoch als nichts weiter als das „Nein! Nein! Nein!“, d.h. als Ausdruck der Rebellion

Bowery 1950 Öl auf Leinwand, 60,5 x 30 cm Princeton University Art Museum, Princeton, N.J.

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und

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des

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destruktiven

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Nihilismus

verstanden.

Tatsächlich wies diese Bewegung jedoch auch eine bejahende, konstruktive Dimension auf, ja, sie verfolgte sogar ein ernsthaftes Anliegen in Bezug auf das „Geistige“ – ein Erbstück des Expressionismus. Diese Komponenten bewirkten eine starke Dynamik, die in so unterschiedlichen Dadaisten wie Hans Arp (Zürich und Köln), Hugo Ball (Zürich), Raoul Hausmann (Berlin), Johannes Baader (Berlin) und Kurt Schwitters (Hannover) wiederzufinden war. Ball gründete 1916 in Zürich das Cabaret Voltaire und legte damit den Grundstein für den Dadaismus,

The Town (City Night) 1950 Öl auf Leinwand, 164,5 x 190,5 cm The Saint Louis Art Museum, Saint Louis

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der also seinen Ursprung in der neutralen Schweiz hat. Er war ein deutscher Schriftsteller und Dramaturg, ein großer Bewunderer Kandinskys, dem er vor dem Krieg in München begegnet war. In einer der entscheidenden Aufführungen im Cabaret Voltaire rezitierte Ball, gekleidet in ein blau-rotgoldenes

selbst

geschneidertes

„kubistisches

Kostüm“, seine Verse ohne Worte. Nach seinen eigenen Ausführungen las er mit großem Ernst, wobei seine Stimme „die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm“:

Plastik-Studio (Atelierecke) 1950 Öl auf Leinwand, 76,5 x 61,2 cm Pinakothek der Moderne, München

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gadji beri bimba glandridi lauli lonni cadori gadjama bim beri glassala glandridi glassala tuffm i zimbrabim blassa galassasa tuffm i zimbrabim… Dies war eine radikale Kritik an der konventionellen Sprache, einschließlich der lyrischen Poesie der Expressionisten. Das Schicksal „des Wortes“

Die Erschaffung Evas 1950 Kugelschreiber in Blau, 27,5 x 21,5 cm Karin und Rüdiger Volhard, Frankfurt am Main

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war für Ball ein großes Anliegen. Seiner Ansicht nach hatten Journalismus und imperialistische Propaganda die Sprache verdorben. Aber auch die Phrasen der Expressionisten empfand er als abgedroschen und leer, und er zermarterte sich den Kopf über die Unverträglichkeit von Kunst und Sozialismus. Mit seinen dadaistischen Lautgedichten wollte er deshalb diese, wie er sie nannte, „vermaledeite Sprache, an der Schmutz klebt wie von Maklerhänden“ vernichten und versuchen, an ihrer Stelle neue, reine, abstrakte Wort-Laute zu schaffen,

San Francisco 1950 Öl auf Leinwand, 102 x 140 cm Hessisches Landesmuseum, Darmstadt

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die direkt die Seele des Zuhörers ansprachen. In dieser Hinsicht gibt es zahlreiche Übereinstimmungen mit Kandinskys Abstraktion und seinen theoretischen Schriften der Vorkriegszeit, zweifelsfrei ein weiterer Grund für die große Bewunderung, die Ball für den russischen Maler hegte. An dieser Stelle ist es angebracht, darauf hinzuweisen, dass die Beziehung zwischen Expressionismus und Dadaismus wesentlich komplexer ist als die bloße Ablösung von Überflüssigem, Althergebrachtem durch etwas radikal Neues.

Mühle im Eukalyptuswald (Mills College) 1950 Öl auf Leinwand, 139,5 x 61 cm Privatsammlung, Deutschland

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Dennoch wurde die Diagnose vom „Tod des Expressionismus“ um 1920 auch von anderer Seite laut. Wilhelm Hausenstein, einst leidenschaftlicher Anhänger des Expressionismus, sinnierte melancholisch über die Popularisierung und die Verwässerung der expressionistischen Energie. Er gab den von vielen geteilten Zweifeln Ausdruck, was denn nun eigentlich die Errungenschaften dieser künstlerischen Bewegung gewesen seien.

Großes Stillleben mit Tauben 1950 Öl auf Leinwand, 102 x 127 cm Pinakothek der Moderne, München

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Trotzdem hielten sich der Expressionismus und die expressionistischen Ideen bemerkenswert lang – bis weit in die 1920er Jahre hinein. Man kann sagen, dass eine Art „allgemeiner“ Expressionismus sich als Teil der herrschenden, etablierten Kultur durchgesetzt hatte. Das sogenannte Notgeld, das während der Hyperinflation von 1920-1923 in der Stadt Erfurt ausgegeben wurde, war beispielsweise in seinem Aussehen unzweifelhaft expressionistisch.

Selbstbildnis Carmel 1950 Kugelschreiber in Blauviolett auf Pergamentpapier, 25 x 20,3 cm Privatsammlung, Deutschland

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Das Jahr 1923 war auch das Jahr des Hitlerputsches, mit dem Hitler und sein Stoßtrupp im November in einem Münchner Bierkeller die Macht an sich reißen wollten, was jedoch misslang. Grosz karikierte Hitler gleich darauf auf dem Titelblatt der treffend benannten Zeitschrift Die Pleite auf geniale Weise als „Siegfried“. Und es war auch 1923, dass der Kurator Gustav Hartlaub sich erstmals mit dem Gedanken der Ausstellung trug, die dann 1925 die Existenz der Neuen Sachlichkeit proklamieren sollte, deren Name übrigens nicht weniger umstritten

Sea Lions 1950 Öl auf Leinwand, 180 x 66 cm Hamburger Kunsthalle, Hamburg

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und problematisch war als die Bezeichnung „Expressionismus“. Unter den Künstlern, deren Werk dieser neuen Richtung zugeordnet wurde, waren Beckmann und Dix. Der distanzierte Realismus, der Mangel an Sentimentalität, der diskrete Humor und die fast mechanische Präzision von Karl Hubbuchs Zeichnungen sind weitere Beispiele der nun angesagten Neuen Sachlichkeit. Doch war diese kühle Objektivität durchaus im Stande, genau so viele Perspektiven unter einen Hut zu bringen wie vormals der Expressionismus. So finden wir bei den

Hinter der Bühne (Backstage) 1950 Öl auf Leinwand, 101,5 x 127 cm Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt am Main

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Avantgardisten im Deutschland der 1920er Jahre extreme Beispiele von Zynismus und engagiertem politischen Idealismus – aber auch quasi katatonische Gleichgültigkeit. Den eigentlichen Todesstoß versetzte dem Expressionismus jedoch die brutale und kalt berechnende Kampagne der Nazis zur „Säuberung“ der Kunst. In den ersten Jahren ihres Regimes hatten sie die besser etablierten Produkte des Expressionismus zumindest noch geduldet, wenn nicht gar mit einer gewissen Begeisterung aufgenommen. Doch nach

Bildnis Georg Swarzenski 1950 Kohle auf blauem Papier, 59 x 45 cm Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt am Main

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und nach dämonisierten sie die expressionistische Kunst

als

„volkswidrig“

und

als

krankhafte

Erzeugnisse einer verderbten Vergangenheit, bis es schließlich 1937 zu einer Eruption kam. In allen Museen und Ausstellungen, die „entartete Kunst“ zeigten, wurden Säuberungsaktionen durchgeführt. In einer von dem zwar drittklassigen Akt-, aber Lieblingsmaler des „Führers“, Adolf Ziegler, organisierten Kampagne wurden Tausende von Werken von Heckel, Kirchner, Nolde und beinahe aller in diesem Buch vorgestellten Expressionisten

Brillenladen 1950 Schwarze Tusche, Pastellkreide auf Leinwand 101 x 127 cm Sammlung Würth, Künzelsau, Deutschland

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aus den öffentlichen Sammlungen entfernt. Rund 16.000 konfiszierte Werke wurden im Magazin des Propagandaministeriums gelagert. Am 20. März 1939 fielen ungefähr 5.000 als „unverwertbarer Bestand“ eingestufte Drucke, Gemälde und Zeichnungen, die meisten davon Werke expressionistischer Künstler, der Verbrennung zum Opfer. Die

NS-Propagandamaschine

versuchte,

den

Expressionismus als eine Beleidigung für die Kriegsveteranen (als „Wehrsabotage“) zu verunglimpfen, als Schmähung der deutschen Frauen,

Fastnachtsmaske grün, violett und rosa (Columbine) 1950 Öl auf Leinwand, 135,5 x 100,5 cm The Saint Louis Art Museum, Saint Louis

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vor allem aber als „jüdisch“ und „bolschewistisch“. Zu dieser Zeit waren viele Expressionisten bereits aus Deutschland geflohen, über andere wurde das Arbeits- und Ausstellungsverbot verhängt, manche wurden in Konzentrationslager deportiert, wieder andere, darunter Dix, verkrochen sich in eine entfernte Ecke Deutschlands, etwa an den Bodensee, und zogen sich in eine „innere Emigration“ zurück. Beckmann hatte Deutschland schon 1937 verlassen, einen

Tag

Ansprache

nachdem bei

der

er

Hitlers

Eröffnung

hasserfüllte des

Hauses

Frau mit Mandoline, in gelb und rot Öl auf Leinwand, 91,9 x 140,2 cm Pinakothek der Moderne, München

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der Deutschen Kunst in München gehört hatte, zusammen mit seiner zweiten Frau Quappi [mit bürgerlichem Namen Mathilde Beckmann geb. Kaulbach]. Sie gingen ins Exil nach Amsterdam und blieben dort, isoliert und in großer Gefahr, bis 1947, als sie in die USA reisten, wo Beckmann eine Dozentenstelle in St. Louis annahm. Er starb drei Jahre später in New York an einem Herzanfall, und zwar auf seinem Weg zu einer Ausstellung zeitgenössischer amerikanischer Malerei (die aber auch Bilder von ihm selbst zeigte) im Metropolitan Museum.

Selbstbildnis in blauer Jacke 1950 Öl auf Leinwand, 139,5 x 91,5 cm The Saint Louis Art Museum, Saint Louis

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Abbildungsverzeichnis A Abstürzender, 1950

213

Abtransport der Sphinxe, 1945

129

Argonauten, Triptychon, 1949-1950

201

Atelier (Nacht), 1938

87

Auferstehung, 1907

11

B Badende Frauen, 1919

29

Die Barke, 1926

69

Der Befreite, 1937

107

Begegnung, 1948

165

Begin the Beguine, 1946

133

Bildnis Curt Valentin und Hanns Swarzenki, 1946

131

Bildnis Euretta Rathbone, 1947

147

Bildnis Georg Swarzenski, 1950

239

Bildnis Marion Greenwood, 1950

215

Bildnis Minna Beckmann-Tube, 1924 248

55

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Bildnis Perry T. Rathbone, 1948 Bildnis Quappi in Blau, 1926 Bildnis Walter Barker, 1948 Blick auf den Eiffelturm aus einem Fenster, 1930

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169 73 161 85

Boulder, Colorado, 1949

199

Bowery, 1950

219

Brillenladen, 1950

241

C Cabins, 1948

167

Café Bandol, 1944

121

Café-Interieur mit Spielspiegel, 1949

205

Christus in der Vorhölle, 1948

173

Christus und die Sünderin, 1917

21

D/ E Departure, Triptychon, 1932-1935

89

Doppelbildnis Karneval, Max Beckmann und Quappi, 1925

61 249

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Dream of Weltkarte (Universum), 1947/1949 Der eiserne Steg, 1922 Die Erschaffung Evas, 1950

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149 43 225

F Fastnacht, 1920

33

Fastnacht, 1925

65

Fastnachtsmaske, grün, violett und rosa (Columbine), 1950

243

Frau in weißem Hemd (lesend), 1947

151

Frau mit beschattetem Gesicht, 1949

207

Frau mit Fisch, 1948

171

Frau mit Mandoline, in gelb und rot

245

Frühe Menschen - Urlandschaft, vor 1936, 1947-1948

99

G Galleria Umberto, 1925

63

Geburt, 1937

105

Großes Frauenbild, Fischerinnen, 1948

181

Großes Stillleben mit Fernrohr, 1927 Großes Stillleben mit Tauben, 1950 250

75 231

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Großes Variété mit Zauberer und Tänzerin, 1942

117

Gruppenbild Hope, 1950

209

H/ I Hinter der Bühne (Backstage), 1950

237

Hôtel de l’ambre, 1949

187

Die Hunde werden größer, 1947

139

Im Artistenwagen (Zirkus), 1940

115

J/ K Junge Frau mit Glas, um 1947-1949

137

Die Kapelle der Washington University in St. Louis, 1949

193

Kleines Monte Carlo Felsenstadtbild, 1948

175

Kleine Sterbeszene, 1906

9

Der König, 1933-1937

93

Kreuzabnahme, 1917

25

L Lido, 1924

53

Die Loge, 1928

79 251

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Luftakrobaten, 1928 Luftballon mit Windmühle, 1947

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77 153

M/ N Morgen am Mississippi, 1949

191

Mühle im Eukalyptuswald (Mills College), 1950 Die Nacht, 1918-1919 Nachtclub in New York, 1947 Das Nizza in Frankfurt am Main, 1921

229 27 141 41

O/ P Odysseus und Sirene, 1933

95

Park in Boulder, Colorado, 1949

185

Perseus’ (Herkules’) letzte Aufgabe, 1948

179

Perseus’ (Herkules’) letzte Aufgabe, 1949

197

Plastik-Studio (Atelierecke), 1950

223

Pompeï-Clowns, 1950

211

Prunier, Paris, 1944

125

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R Die Reise, 1944 Reise auf dem Fisch, 1934 Rettung, 1948

127 97 159

S Sacré Cœur, 1949

189

San Francisco, 1950

227

Schwimmbad Cap Martin, 1944

123

Sea Lions, 1950

235

Selbstbildnis in blauer Jacke, 1950

247

Selbstbildnis als Clown, 1921

39

Selbstbildnis als Krankenpfleger, 1925

59

Selbstbildnis auf gelbem Grund mit Zigarette, 1923

4, 47

Selbstbildnis Carmel, 1950

233

Selbstbildnis im Hotel, 1932

91

Selbstbildnis mit Fisch, 1949

203

Selbstbildnis mit Glaskugel, 1936

103 253

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Selbstbildnis mit rotem Schal, 1917

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Selbstbildnis mit Seil, 1949

195

Selbstbildnis mit Trompete, 1938

111

Selbstbildnis mit Zigarette, 1947

143

Selbstbildnis, 1948

157

Selbstporträt mit Naïla als Zirkusartisten mit Masken auf einem Seeungeheuer, um 1923

45

Sitzende, 1947

155

Souvenir Chicago, 1948

183

Stillleben mit Cello und Bassgeige, 1950

217

Stillleben mit Gänseblümchen, 1921

35

Stillleben mit Grammophon und Schwertlilien, 1924

57

Stillleben mit Saxofon, 1926

67

Stillleben mit umgestürzten Kerzen, 1929

83

Stillleben mit violetten Dahlien, 1926

71

Stillleben mit zwei großen Kerzen, 1947

145

Die Straße, 1914

19

Die Synagoge in Frankfurt am Main, 1919

31

Szene aus dem Untergang von Messina, 1909

15

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T Tanz in Baden-Baden, 1923

51

The Beginning, Triptychon, 1946-1949

135

The Town (City Night), 1950

221

Tod, 1938

109

Das Trapez, 1923

49

Traum des Soldaten, 1942

119

Traum von Monte Carlo, 1939-1940

113

Der Traum, 1921

37

U/ V Untergang der Titanic, 1912

17

Unterhaltung, 1908

13

Vampir, 1948

177

Versuchung, 1936-1937

101

W/ Z Die Walküre, 1948 Zigeunerin, 1928

163 81

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