Aventiure und Eskapade: Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne [1 ed.] 9783737005982, 9783847105985

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Aventiure und Eskapade: Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne [1 ed.]
 9783737005982, 9783847105985

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Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit – Transatlantic Studies on Medieval and Early Modern Literature and Culture

Band 7

Herausgegeben von Jutta Eming, Arthur Groos, Volker Mertens, Matthias Meyer, Ann Marie Rasmussen, Hans-Jochen Schiewer und Markus Stock

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed. The volumes of this series are peer-reviewed.

Jutta Eming / Ralf Schlechtweg-Jahn (Hg.)

Aventiure und Eskapade Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-7033 ISBN 978-3-7370-0598-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de  2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Bill C. Ray ; Michail M. Bachtin: www.homolaicus.com; Friedrich Heinrich von der Hagen:  UB der HU zu Berlin, PortrÐtsammlung: Friedrich Heinrich von der Hagen; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Herzog August Bibliothek Wolfenbþttel: Portr. II 2272.1; Irmtraud Morgner : Isolde Ohlbaum; Laura Beatrice Berton: Courtesy : The Estate of Lucy Berton Woodward; Walther Benjamin: Walther Benjamin-Archiv, Akademie der Kþnste, Berlin; Wirnt von Grafenberc Wigalois: Leiden University Libraries, ms. LTK 537, fol. 72 V

Inhalt

Jutta Eming / Ralf Schlechtweg-Jahn (Freie Universität Berlin) Einleitung: Das Abenteuer als Narrativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Johannes Traulsen (Freie Universität Berlin) Wüsten, Drachen, Heldentaten. Das Abenteuerliche im mitteldeutschen Väterbuch des 13. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Elke Koch (Freie Universität Berlin) Das Abenteuer im Paratext: Gabriel Rollenhagens Um-Rahmung der Brandan-Legende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Susanne Knaeble (Universität Bayreuth) Erzählen von den ,Abenteuern des Geschlechts‘ in der Melusine des Thüring von Ringoltingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Jutta Eming (Freie Universität Berlin) A Philological Bastard’s Revenge. On Adventure and Knowledge in Theagenes und Charikleia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bastian Schlüter (Freie Universität Berlin) Auf dem Weg zu neuem Wissen. Abenteuer und Welterkundung in Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731–1743) . . . . . . . . . 101 Hans Richard Brittnacher (Freie Universität Berlin) Unter die Zigeuner gefallen. Über ein Motiv der Abenteuerliteratur

. . . 119

Lydia Jones (Freie Universität Berlin) Gesammtabenteuer. Abenteuer als Ordnungsprinzip in Friedrich Heinrich von der Hagens Sammlung altdeutscher Erzählungen von 1850

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Inhalt

Gaby Pailer (University of British Columbia, Kanada) Women’s Call of the Wild: Abenteuerinnen im pazifischen Nordwesten (bei Jack London, Gil Adamson, Laura Beatrice Berton und Peter Johnson) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Claudia Breger (Indiana University Bloomington, USA) Imaginative Reconfigurations: Irmtraud Morgner’s Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura . . . . . . . 183 Anja Nowak (University of British Columbia, Kanada) Hör-Abenteuer. Walter Benjamins Rundfunkgeschichten für Kinder . . . 201 Hanns Christian Schmidt (Universität zu Köln) Der große böse Wolf in New York. Zur Konstruktion medienübergreifender Abenteuerwelten im Computerspiel . . . . . . . . 217 Ralf Schlechtweg-Jahn (Freie Universität Berlin) Familien in Gefahr. Abenteuerkonzepte im Videospiel Red Dead Redemption und im Artusroman Widuwilt . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Jutta Eming / Ralf Schlechtweg-Jahn (Freie Universität Berlin)

Einleitung: Das Abenteuer als Narrativ

Das Abenteuererzählen1 ist, wenn man die Odyssee Homers als erste abendländische Abenteuererzählung betrachtet, die wohl älteste und erfolgreichste Erzählform überhaupt, die in jeder literaturgeschichtlichen Epoche ihre Vertreter fand. In der Moderne hatte das Abenteuer einen eher schlechten Ruf als triviale Erzählform, erfährt jedoch in der Postmoderne mittlerweile eine erneute Aufwertung. Nicht zuletzt der enormen historischen Bandbreite des Abenteuererzählens und seiner unterschiedlichsten Wertungen ist es geschuldet, dass es eine umfassende Theorie des Abenteuerlichen bis heute nicht gibt und angesichts der Vielfalt seiner historischen Erscheinungsformen wohl auch nicht geben kann. Gleichwohl liegen mittlerweile viele literaturwissenschaftliche Ansätze für Mikroanalysen vor, die allerdings unverbunden nebeneinander stehen. Der vorliegende Band versteht sich als Versuch, Schritte in Richtung einer fächerübergreifenden Verknüpfung der verschiedenen Ansätze zu unternehmen. Wir gehen dabei von der Leithypothese aus, dass Abenteuer im Wesentlichen dadurch entstehen, dass von ihnen erzählt wird. Erlebnisse, Ereignisse und Erfahrungen sind nicht an sich abenteuerlich, doch sie können es grundsätzlich werden, wenn in bestimmter Weise von ihnen erzählt wird, sei es in schriftlicher, mündlicher, medialer oder auch nur mentaler Form. Als Narrativ kann das Abenteuerliche in zahlreichen Textformen und Diskursen auftreten: als ein Roman, dessen Gesamtstruktur vom Abenteuer bestimmt ist, als Abenteuersequenz in einem Text, der ganz anderen Genremustern folgt (Bildungsroman, Gralroman, Reisebericht, Chronik, Novelle, etc.), als abenteuerliche Stilisierung der Welt in Warenästhetik und Massenmedien bis hin zu alltäglichen Kommu1 Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen geht auf eine von Gaby Pailer und Jutta Eming 2010 in Berlin veranstaltete DAAD-Meisterklasse sowie auf eine an der University of British Columbia in Vancouver, Kanada, organisierte Tagung Abenteuerliches Erzählen / Narrative Adventures im Jahr 2012 zurück; darüber hinaus wurden einige zusätzliche Beiträge in den Band aufgenommen. An der konzeptionellen Entwicklung des Bandes war neben Ralf Schlechtweg-Jahn auch Johannes Traulsen beteiligt.

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nikationssituationen, die Momente des durchschnittlichen Erlebens zu Abenteuern stilisieren. Abenteuergeschichten zeigen dadurch eine Nähe zur Fabulierkunst, und dies hat zu ihrer grundsätzlich schlechten literaturgeschichtlichen Reputation beigetragen.2 Dass Dichter lügen, ist ein antiker Topos, der auch im Mittelalter seine Vertreter hatte. Da jedoch bereits die Gleichnisse Christi der Auslegung bedurften, hat gerade das Mittelalter eine komplexe Diskussion über die Wahrheit von Narrativen entfaltet,3 die generell in der Anbindung an eine höhere Wahrheit, einen sensus moralis, gefunden wurde. Die sogenannte IntegumentumLehre ist für Abenteuernarrative jedoch nur bedingt hilfreich, weshalb der Artusroman in besonderem Maße dem Vorwurf der Lüge ausgesetzt war.4 Eine mögliche Reaktion auf solche Kritik war eine Didaktisierung des Abenteuererzählens im Sinne eines Modells von prodesse et delectare, eine Strategie, die in vielen Vorworten und Prologen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Romane entfaltet wird.5 Die Poetiken des 18. Jahrhunderts, die sich mit Roman und Novelle als modernen Prosagenres befassen, neigen hingegen dazu, den Aspekt der Abenteuerlichkeit im Vergleich zum Sujet der Entwicklung der Hauptfigur abzuwerten. Hier ist vor allem Hegel zu nennen, dessen Historisierung des Abenteuers als eines Abschnittes zwischen Antike und Moderne einen Prozess der Abwertung des Abenteuerlichen einleitet.6 Das Schreiben von Abenteuerromanen hat aber nie aufgehört, was zu einer gewissen Spannung zwischen der theoretisch-historischen Definition des Abenteuers im Sinne Hegels und der literarischen Praxis führt. Das 19. Jahrhundert löst diese Paradoxie auf in Form einer Abspaltung des Abenteuers als Genre ,Abenteuerroman‘ und dessen gleichzeitiger Verbannung aus dem Kanon der anspruchsvollen Dichtung in den Bereich der Jugend- und Unterhaltungsliteratur. Erst die Postmoderne, in der – in Bezug auf das Abenteuer – auch in der Theoriebildung spätestens seit Bachtin die Hegelschen Geschichtsmodelle an Attraktivität verlieren, wertet das Abenteuer wieder auf. Auch wenn sich die Umgangsformen in den Poetiken ändern, bleibt das 2 Vgl. Eming, Jutta: Sirenenlist, Brunnenguss, Teufelsflug. Zur Historizität des literarischen Abenteuers. In: Hannig, Nicolai / Kümper, Hiram: Abenteuer. Zur Geschichte eines paradoxen Bedürfnisses. Paderborn 2015, S. 53–82, hier S. 59f. 3 Vgl. dazu Haug, Walter : Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhundert. 2. überarb. und erw. Aufl. Darmstadt 1992, S. 229–231. Zum Abenteuer vgl. auch Eming, Sirenenlist (wie Anm. 2), S. 56f. 4 Haug, Literaturtheorie (wie Anm. 3), S. 231f. Vgl. auch Brinkmann, Hennig: Mittelalterliche Hermeneutik. Darmstadt 1980, S. 179f. 5 Vgl. Knapp, Fritz P.: Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Mittelalter. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980), S. 581–635. 6 Vgl. hierzu den Beitrag von Lydia Jones in diesem Band.

Einleitung: Das Abenteuer als Narrativ

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Abenteuerliche über die Epochen hinweg ein Problemfall der Poetik.7 Es lässt sich nur schwer für eine ,höhere Wahrheit‘ in Anspruch nehmen, denn weder dient es fraglos einer Verdeutlichung der Wahrheit Gottes, noch dem Guten, Wahren und Schönen. Stattdessen kann es scheinbar feste Wahrheiten jeder Art in Abenteuerepisoden verwickeln und damit dem Zufälligen, Kontingenten, Unerhörten und Wunderbaren aussetzen, an dem noch jede absolute Wahrheit gescheitert ist. Das Abenteuerliche ist eine Macht der Relativierung, eine Feier (oder auch ein Leiden an) der Kontingenz, welche im Erzählen exponiert wird und zugleich bewältigt werden muss. Zugleich bietet das Erzählen vom Abenteuer aber auch von vornherein die Gewissheit, dass die Helden es geschafft haben ihre Abenteuer zu bewältigen, denn schließlich können sie ja davon erzählen.

Zur Abenteuerforschung Die Forschung zum Abenteuererzählen ist angesichts der longue dur8e des Gegenstands sehr umfangreich,8 durch eine häufig nur metaphorische Verwendung des Wortes ,Abenteuer‘ jedoch auch sehr unübersichtlich. Generell gilt, dass diachrone und transkulturelle Ansätze bislang kaum bestehen,9 Abenteuerforschung wird bislang ausgesprochen fach- und gattungsspezifisch betrieben. Wir können an dieser Stelle deshalb auch nicht mehr als einen exemplarischen Überblick geben, der sich vor allem auf die germanistische Forschung stützt und dabei insbesondere Beiträge von allgemeiner Bedeutung hervorhebt.

Nachschlagewerke Das einbändige Lexikon der Abenteuer- und Reiseliteratur10 betrachtet Abenteuer im engen Zusammenhang mit Reisen und Reiseerzählungen jeder Art. In den systematischen Artikeln sind Mittelalter und Frühe Neuzeit jenseits des 7 Vgl. dazu allgemein Steiner, Wendy : The Scandal of Pleasure. Art in an Age of Fundamentalism. Chicago / London 1995. 8 Als Beginn der disziplinären Forschung zum Abenteuerroman in Deutschland gelten Eth8, Hermann: Der transatlantisch-exotische Roman. In: ders.: Essays und Studien. Berlin 1872, S. 47–100, hier S. 47f. und Beissel, Rudolf: Der Indianerroman und seine wichtigsten Vertreter. In: Karl-May-Jahrbuch (1918), S. 219–253. 9 Eine Ausnahme bildet der gerade erschienene Band zum Abenteuer von Nicolai Hannig und Hiram Kümper zur Kulturgeschichte des Abenteuers von mittelalterlichen Texten bis zu Selbsterfahrungsszenarien der Gegenwart, vgl. Hannig / Kümper, Abenteuer (wie Anm. 2). 10 Pleticha, Heinrich / Augustin, Siegfried: Lexikon der Abenteuer- und Reiseliteratur von Afrika bis Winnetou. Stuttgart u. a. 1999.

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Stichworts ,Aventiure‘ und einiger Gattungen (Reiseberichten aus der Frühen Neuzeit, Pilgerfahrten) sowie einiger weniger frühneuzeitlicher Autoren (Grimmelshausen, Schmidl, Schiltberger) nicht vertreten. Das Lexikon wendet sich eher an ein breiteres Lese- als an ein Fachpublikum und weist Ungenauigkeiten und Anachronismen auf.11 Das Lexikon der Reise- und Abenteuerliteratur12 in Loseblattform, das Abenteuer gattungsspezifisch als Reiseabenteuer versteht und auf weitere Abenteuerdefinitionen verzichtet, besteht in einem ersten Teil aus einer Sammlung von Autorenbio- und -bibliographien. Der zweite Teil umfasst eine Reihe thematischer Artikel, die sich bis auf wenige Ausnahmen (Robinsonaden) mit Themen und Aspekten der Abenteuerromane seit dem 19. Jahrhundert befassen.

Epochenübergreifende Forschung Durch seine erste Veröffentlichung zum Abenteuer in den 70er Jahren und eine weitere von 1997 gehört Michael Nerlich13 zu den wenigen Literaturwissenschaftlern, welche versuchen, das Abenteuer über Epochengrenzen hinweg zu bestimmen. Nerlich situiert das Abenteuer dabei in einem Spannungsverhältnis von Offenheit und Ordnung, Zufall und Determination. Abenteuer ist die Ermöglichung des Zufalls in einer scheinbar geordneten Welt;14 in ihm stellen Held oder Heldin sich dem Riskanten, Unerwarteten, für dessen Bewältigung es in der Ordnung der Welt keine sicheren Regeln gibt. Zugleich ist das Abenteuer aber auch insofern mit der Ordnung verknüpft, als die Bewegung des Abenteurers und der Abenteurerin von dieser ausgeht und zu ihr zurückführt. Nerlich begreift das Abenteuer somit als eine spezifische Dialektik, der nichts Revolutionäres eignet, die aber scheinbar feste Ordnungen dynamisiert. Er kritisiert ganz zu Recht, dass aus dem Blickwinkel der Moderne das Mittelalter auch in wissenschaftlichen Untersuchungen häufig zu einer geradezu symmetrisch kon11 Vgl. die teilweise von der Romantik beeinflussten Mittelaltervorstellungen im Artikel ,.ventiure‘ in: Pleticha / Augustin, Lexikon (wie Anm. 10), S. 43f. 12 Schegk, Friedrich (Hg.): Lexikon der Reise- und Abenteuerliteratur. Meitingen 1988. 13 Vgl. Nerlich, Michael: Kritik der Abenteuer-Ideologie. Beitrag zur Erforschung der bürgerlichen Bewußtseinsbildung 1100–1750. Teil 1. Berlin (DDR) 1977; Nerlich, Michael: Abenteuer oder das verlorene Selbstverständnis der Moderne. München 1997. 14 Vgl. auch Bachorski, Hans-Jürgen: grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Berger, Günter / Kohl, Stephan (Hg.): Fremderfahrung in Texten der frühen Neuzeit (Literatur – Imagination – Realität, Bd. 7). Trier 1993, S. 59–86, hier S. 66–68, sowie Fischer, Hubertus: Ehre, Hof und Abenteuer. Vorarbeiten zu einer historischen Poetik des höfischen Epos. München 1983, S. 161–163.

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struierten Negativfolie reduziert wird. Nerlichs Ansatz birgt allerdings seinerseits Probleme, denn er lässt die Moderne auf der Basis seines Abenteuerbegriffs bereits im 12. Jahrhundert bei Chr8tien de Troyes beginnen.15 Damit ist das Problem der Epochenschwelle zwar erledigt, doch zugleich geht die Möglichkeit verloren, den Abenteuerbegriff epochenspezifisch zu differenzieren. Auch Nerlichs Verständnis von Abenteuerlichkeit als eines risikobereiten Aufbruchs ins Unbekannte, der geradezu in den Rang einer conditio humana erhoben wird, schränkt Geltungsradius und semantische Nuancen von Abenteuerlichkeit in unnötiger Weise ein. Einen nach wie vor zentralen Bezugspunkt bilden die Überlegungen Michail M. Bachtins, insbesondere zum Chronotopos des Abenteuers, den er am Beispiel der griechischen abenteuerlichen Prüfungsromane erarbeitet, die heute üblicherweise als Liebes- und Abenteuerromane bezeichnet werden. Zwischen den biographischen Eckpunkten der Begegnung und des Sich-Verliebens von Held und Heldin zu Beginn und ihrer abschließenden Hochzeit entfaltet sich die Abenteuerzeit als in gewisser Weise zeitlose Form der Episodenreihung, in der Held und Heldin sich und ihre Liebe für die biographische Zeit bewähren können.16 Auf Bachtins Überlegungen werden wir im Folgenden noch zurückkommen.17 Georg Simmel definiert Abenteuer als eine spezifische „Form des Erlebens“, die inhaltlich nicht festgelegt ist.18 Die im Erzählen vom Abenteuer generierten Erzählmuster werden dann konstitutiv für das Abenteuer, für seine Form.

15 Vgl. Nerlich, Abenteuer (wie Anm. 13), S. 201f. 16 Vgl. Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt a. M. 1989, S. 20; ähnlich bereits Simmel, Georg: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur. In: ders.: Georg Simmel – Gesamtausgabe. 24 Bde. Hg. von Rüdiger Kramm / Ottheim Rammstedt. Bd. 14. Frankfurt a. M. 1996 (zuerst 1918), S. 170f. Bachtin versteht den Abenteuerchronotopos als einen von drei Grundtypen von Chronotopoi, welche die Literatur bis ins 18. Jahrhundert bestimmt hätten. Zweifellos findet in einem derart rigiden Modell ein Formalismus seinen Niederschlag, den die Wissenschaft heute nicht mehr teilen würde; der Gedanke einer Multiplizität von die unterschiedlichsten Gattungen und Erzählweisen bestimmenden Chronotopoi bleibt aber bestechend. Vgl. auch die Zusammenfassung in Eming, Sirenenlist (wie Anm. 2), S. 66–70. 17 In dezidierter Kritik an Bachtin postulieren Zrinka Stahuljak u. a. eine der erzählten Abenteuerzeit vorausgehende „logic of adventure time“: „we argue that any romance exegesis depends first and foremost on an understanding of the logic of adventure time itself, because its logic affects the process of cognition prior to the construction of any narrative“. Stahuljak, Zrinka u. a.: Adventures in Wonderland. Between Experience and Knowledge. In: dies.: Thinking Through Chr8tien des Troyes. Cambridge 2011, S. 75–109, hier S. 78. Sie erarbeiten ihre Überlegungen in intensiver Auseinandersetzung mit Chr8tiens de Troyes Artusromanen, in denen Abenteuer und Providenz jedoch so eng gekoppelt sind, dass ihre Überlegungen auf das Abenteuererzählen allgemein kaum übertragbar sind. 18 Simmel, Hauptprobleme (wie Anm. 16), S. 179.

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Simmel betont nicht zuletzt die Paradoxie von Zufälligkeit und Sinnstruktur im Abenteuer : Zum Abenteuer wird ein solches erst durch jene doppelte Sinngebung: daß es in sich eine durch Anfang und Ende festgelegte Gestaltung eines irgendwie bedeutungsvollen Sinnes ist, und daß es, mit all seiner Zufälligkeit, all seiner Exterritorialität gegenüber dem Lebenskontinuum, doch mit dem Wesen und der Bestimmung seines Trägers in einem weitestens, die rationaleren Lebensreihen übergreifenden Sinne und in einer geheimnisvollen Notwendigkeit zusammenhängt.19

Solche Zusammenhänge zu realisieren oder gegebenenfalls auch zu dekonstruieren lässt sich dann als eine der Leistungen von Abenteuernarrativen bestimmen.

Mittelalter und Frühe Neuzeit In den Diskussionen der germanistischen Mediävistik steht der Begriff der Aventiure im sogenannten klassischen Artusroman im Mittelpunkt. Dies gilt auch noch für neuere Beiträge wie diejenigen Mireille Schnyders,20 die eine systematisierende Darstellung der Entwicklung des Aventiure- bzw. Abenteuerbegriffs in der mittelalterlichen Literatur unternimmt. Anders als Nerlich zu zeigen versucht, begreift Schnyder das Aventiurekonzept vor allem bei Hartmann von Aue als Form der Wiederherstellung einer gestörten göttlichen Ordnung. Aventiure ziele demnach nicht auf Zufall, Kontingenz und Dynamik, sondern im Gegenteil auf eine transzendent gesicherte und im Doppelweg versinnbildlichte Ordnung. Von dieser Basis ausgehend entwickelt sie ein lineares Entwicklungsmodell einer zunehmenden Auflösung von Aventiure in Geschichtenvielfalt unter Verabschiedung einer vereinheitlichenden Sinnstruktur. Erst damit, so Schnyder, gehe Aventiure in Abenteuer über. Aber bereits in den verschiedenen Gattungen des Mittelalters zeigt das Erzählen vom Abenteuer so unterschiedliche Verlaufsformen, dass die Vorstellung einer linearen Entwicklungslinie schwerlich überzeugen kann. So löst sich bereits in den frühen Alexandererzählungen die Reihe der Abenteuer in Indien aus dem Sinnzusammenhang des Weltreichewechsels heraus und wird tendenziell autonom. Die Reise der Burgunden ins Hunnenland passt im Nibelungenlied mit ihrer 19 Ebd. S. 171f. 20 Vgl. Schnyder, Mireille: ffventiure? Waz ist daz? Zum Begriff des Abenteuers in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Euphorion 96 (2002), S. 257–272; Schnyder, Mireille: Sieben Thesen zum Begriff der .ventiure. In: Dicke, Gerd u. a. (Hg.): Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. (Trends in Medieval Philology 10). Berlin / New York 2006, S. 369–376.

Einleitung: Das Abenteuer als Narrativ

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Struktur überraschender Begegnungen und Abenteuer ebenfalls in kein übergeordnetes Sinnschema – sofern man nicht den Untergang als Sinn verstehen will. Dass Schnyder diese Texte nicht oder kaum berücksichtigt, hat seinen wesentlichen Grund in der altgermanistischen Orientierung am Aventiurebegriff der Artusromane. Im Sinne eines weiten Abenteuerbegriffs ist die Aventiure des Artusromans aber nur eine besondere gattungsspezifische Ausprägung. Auf die wortgeschichtliche Untersuchung Klaus-Peter Wegeras,21 der mit Hilfe digitaler Auswertungsmethoden den Begriff Aventiure in vielen Texten und Kontexten situieren kann, wird in der neueren Forschung viel Bezug genommen. Er geht dabei systematisch den beiden wesentlichen Bedeutungen von Aventiure als Geschehen und Wiedergabe eines Geschehens in verschiedenen Texten bis ins 15. Jahrhundert nach. Die Untersuchung zeigt allerdings auch die grundsätzliche Begrenztheit reiner Wortfelduntersuchungen, weil das Abenteuerliche auf diese Weise ausschließlich über den Begriff Aventiure in den Blick kommt, nicht aber als narrative Form. In einer vergleichbaren Vielfalt, allerdings konzentriert auf Hartmanns Iwein, Gottfrieds Tristan und Wolframs Parzival, hat nur Hartmut Bleumer Aventiure im Rahmen einer phänomenologischen Wortfelduntersuchung zu bestimmen versucht.22 Er arbeitet dabei heraus, wie umfassend und genau bereits die mittelalterlichen Texte Sinn und Bedeutung von Aventiure sowohl als Geschehen wie auch als Erzählung davon diskutieren und dadurch einen hohen Grad poetologischer Selbstreflexivität erlangen. Mit Blick auf das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit hat sich die Abenteuerforschung in der Mediävistik vor allem mit dem Liebes- und Abenteuerroman beschäftigt. Hans-Jürgen Bachorski hat dazu in einem grundlegenden Aufsatz einen Zusammenhang von frühmodernem Abenteuererzählen und einer gesellschaftlichen Entwicklung zu mehr Unübersichtlichkeit und Kontingenz in der Frühen Neuzeit zu zeigen versucht.23 Werner Röcke sieht die Liebes- und Abenteuerromane des 16. Jahrhunderts „als Entwurf eines idealen Modells politischer Utopie sowie der Integration individuellen Glücksverlangens und politisch-staatlich bzw. religiöser Norm“,24 die jedoch im Durchgang durch das

21 Vgl. Wegera, Klaus-Peter : „mich enhabe diu .ventiure betrogen.“ Ein Beitrag zur Wort- und Begriffsgeschichte von „.ventiure“ im Mittelhochdeutschen. In: ]gel, Vilmos (Hg.): Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag. Tübingen 2002, S. 229–244. 22 Vgl. Bleumer, Hartmut: Im Feld der .ventiure. Zum begrifflichen Wert der Feldmetapher am Beispiel einer poetischen Leitvokabel. In: Dicke u. a., Im Wortfeld (wie Anm. 20), S. 347–367. 23 Vgl. Bachorski, grosse vngelücke (wie Anm. 14), S. 79. 24 Röcke, Werner : Antike Poesie und Newe Zeit. Die Ästhetisierung des Interesses in griechisch-deutschen Romanen der frühen Neuzeit. In: Heinzle, Joachim (Hg.): Literarische

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Abenteuer konsequent dialogisiert werden. Die Formen und Funktionen von Emotionsdarstellungen in den Liebes- und Abenteuerromanen, einem zentralen Aspekt in der Darstellung von Abenteuerhelden und -heldinnen, hat Jutta Eming erstmals genauer bestimmt.25 Hingewiesen sei an dieser Stelle auf den 2013 erschienenen Sammelband Hybridität und Spiel,26 in dem auch die Abenteuerthematik eine wichtige Rolle spielt.

Moderne und Postmoderne Auch an der Schwelle zur Moderne kommt es zu keinem grundsätzlichen Bruch mit der Abenteuerliteratur. Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G** (1748 / 49) zum Beispiel bildet durch die Kontinuität traditioneller Erzählmuster bei gleichzeitiger Integration poetologischer Innovationen – in diesem Fall der sentimentalen Erzählung und des aufkeimenden Bildungsromans – auch in formaler Hinsicht eine Brücke zwischen den Epochen. Für die deutschen Romane des 18. Jahrhunderts bzw. des Zeitraums der Aufklärung liegt eine umfangreiche Darstellung von Rolf Grimminger vor. Zwar spielt das Abenteuer keine systematische Rolle in seiner Darstellung der Romanentwicklung, doch weist er ihm eine grundlegende Funktion für die Entfaltung romanhaften Erzählens zu: „Es gibt keinen Roman, der sich nicht dem Abenteuer zuwenden würde, im ,Abenteuerroman‘ wird es lediglich mit einer bestimmten Variante aufgeschwellt“.27 Die Verbürgerlichung des Abenteuers setzt die Helden und Heldinnen nicht nur den bekannten äußeren Gefahren, sondern zunehmend auch den Gefahren der eigenen Triebnatur aus, die sogenannte ,Avanturier‘, wenn sie geschäftlich erfolgreich sein wollen, kontrollieren müssen.28 Vor allem

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Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposium 1991 (Germanistische Symposien Berichtsbände, Bd. 14). Stuttgart / Weimar 1993, S. 337–354, hier S. 340. Vgl. Eming, Jutta: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. – 16. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 39). Berlin 2006. Vgl. zu diesem Aspekt in der Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts Eggebrecht, Harald: Sinnlichkeit und Abenteuer. Die Entstehung des Abenteuerromans im 19. Jahrhundert. Berlin / Marburg 1985. Baisch, Martin / Eming, Jutta (Hg.): Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Berlin 2013. Grimminger, Rolf (Hg.): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789 (Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3). München 1980, S. 641. Er behandelt Staats- und Liebesromane, Schelmen- und Pikaroromane, galante Romane, Robinsonaden und Romane der Empfindsamkeit. Zu den Robinsonaden vgl. auch Fohrmann, Jürgen: Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1981, zur Galanterie Gelzer, Florian: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Tübingen 2007. Vgl. Grimminger, Deutsche Aufklärung (wie Anm. 27), S. 675.

Einleitung: Das Abenteuer als Narrativ

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die Avanturierromane wenden sich teilweise dezidiert gegen die noch in der Frühen Neuzeit selbstverständliche kulturelle Orientierung des Bürgertums am Adel und versuchen, eigene Themen und Problematiken zu entwickeln.29 Diese Verbürgerlichung des Abenteuererzählens greift aber nach wie vor auf ältere Abenteuernarrative zurück, die unter den ganz anderen sozialen Bedingungen einer mittelalterlichen Adelsliteratur entworfen wurden. Erst eine epochenübergreifende Darstellung kann solche Entwicklungen auch in ihrer spezifischen longue dur8e beschreiben. Die umfangreichste Forschung besteht zum Abenteuerroman vor allem des 19. Jahrhunderts, die in vielerlei Hinsicht paradigmatisch für die neuere Abenteuerforschung geworden ist.30 Die nach wie vor gängige und allgemein verwendete Definition des Abenteuerromans stammt von Volker Klotz: „AR [Abenteuerromane, d. Verf.] sind ausführliche Erzählungen, in denen der Held, letztlich erfolgreich, sich auf unabsehbare Ereignisse einläßt.“31 Wesentlich sei für den Abenteuerroman die Differenz von Heimat und Fremde, zwischen dem Alltäglichen und dem Wunderbaren und von Nähe und Ferne. Nach wie vor sind auch Klotz’ Überlegungen zu den Besonderheiten des Helden von Bedeutung, der über große Ausstrahlungskraft auf seine Umwelt verfügt, meistens eine Anhängerschaft hat, und dessen Ruhm sogar in Abwesenheit wirken kann. Eine ähnliche, aber umfassendere Bestimmung zur Figur des Helden hat in der Altgermanistik Ulrich Wyss32 vorgenommen, der versucht, den Heroen des Epos vom Abenteurer zu unterscheiden. Seine Bestimmungen des Abenteuerhelden sind denen Klotz’ durchaus ähnlich. Jedoch spielen Fragen nach der Genderspezifik von Abenteuerhelden in diesen Untersuchungen noch keine Rolle. Harald Eggebrecht,33 der auf Ernst Blochs Überlegungen zum Kolportageroman zurückgreift, hat in einer Untersuchung zu Darstellungen des im Abenteuer auf die Sinne wirkenden Erlebens herausgearbeitet, dass sich der Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts auch als ein Verhandeln einer spezifisch kapitalistischen Entfremdungserfahrung lesen lässt. Im Abenteuer erleben die Helden – Heldinnen gibt es in diesen Texten kaum – eine Einheit von Körper und Geist, eine Übereinstimmung von körperlicher Sinnenhaftigkeit und gedankli-

29 Ebd. S. 666. 30 Die erste umfangreiche Darstellung ist Plischke, Hans: Von Cooper bis Karl May. Eine Geschichte des völkerkundlichen Reise- und Abenteuerromans. Düsseldorf 1951. 31 Klotz, Volker : Abenteuer-Romane. Sue – Dumas – Ferry – Retcliffe – May – Verne. München / Wien 1979, S. 14. 32 Vgl. Wyss, Ulrich: Heldentat und Abenteuer. In: Zatloukal, Klaus (Hg.): 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch ,Aventiure – Märchenhafte Dietrichepik‘. Wien 1999, S. 9–21. 33 Vgl. Eggebrecht, Sinnlichkeit und Abenteuer (wie Anm. 25).

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cher Reflexion, die der arbeitsteiligen Industriegesellschaft abhanden gekommen zu sein scheint.34 Hybride Strukturen aus traditionellen Erzählmustern und poetologischen Innovationen erhalten sich durch die Neuzeit hindurch und finden im 19. Jahrhundert eine besonders wirkmächtige Form in der Verknüpfung von Abenteuer und Nationaldiskurs. Gustav Freytags Soll und Haben (1855) ist ein einschlägiges Beispiel dafür, wie das populäre Abenteuernarrativ mit nationalistischen und rassistischen Stereotypen verknüpft wird. Dagegen entfaltet Wilhelm Raabes Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (1867) ein Vexierspiel mit ebensolchen Stereotypen, indem er die deutsche prä-nationale Biederkeit aus der Perspektive eines Afrikaheimkehrers präsentiert. Zugleich beginnt in der Moderne eine kritische Auseinandersetzung mit dem Abenteuer. Diese Kritik läuft zwar nicht auf eine grundsätzliche Absage an das Genre des Abenteuerromans hinaus, doch wird das Abenteuer selbst für die Moderne zum Problem. Ein frühes Symptom hierfür ist die verstärkte Präsenz von ,unzuverlässigen‘,35 ironischen Erzählern im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, vor allem in der Literatur der Romantik. In ihnen kommt ein zunehmendes Misstrauen gegenüber narrativen Formen zum Ausdruck, die das Leben als sinnhaftes Ganzes oder teleologischen Entwurf konzipieren, der als solcher erfahrbar wird. Einen bedeutenden Höhepunkt erlebt diese Entwicklung im erzählerischen Werk Franz Kafkas. Insbesondere die Romane Das Schloss (1926) und Der Prozess (1925) lassen erkennen, dass die Voraussetzungen für eine Abenteuererzählung – das freiwillige oder unfreiwillige Heraustreten aus der alltäglichen Normalität – zwar immer noch gegeben sind, die erzählte Welt in ihrer Unabsehbarkeit jedoch zwanghafte Züge annimmt. Die Abenteuerliteratur des 20. / 21. Jahrhunderts weist zunehmend eine Tendenz zur Multiperspektivität, Selbstreflexivität und im postmodernen Kontext dann auch zur Selbstironie auf. Dabei werden verschiedene neue Paradigmen entwickelt, die sich mit den klassischen Theorien zur Gegenüberstellung von Bildungs- und Abenteuerroman in keiner Weise mehr erfassen lassen. Die Differenz von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften zum Beispiel scheint die Reihe realer und imaginärer Abenteuer ins Unendliche zu erweitern, erzeugt dadurch jedoch gerade eine charakteristische Handlungsstarre und Selbstblockade des Helden. Am Beispiel von Joseph Conrads und W. G. Sebalds Erzählungen hat Margaret Bruzelius36 eine moderne Selbstinfragestellung des erzählenden Helden zeigen 34 Vgl. ähnlich auch bereits Simmel, Hauptprobleme (wie Anm. 16), S. 174f., 181. 35 Vgl. Mat&as, Mart&nez / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 9. erw. Aufl. München 2012, S. 99–110. 36 Vgl. Bruzelius, Margaret: Adventure, Imprisonment, and Melancholy. „Heart of Darkness“

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können, der weder einen positiven Sinn in seinem Abenteuer finden kann noch als vertrauenswürdiger Erzähler inszeniert wird. Eine multiperspektivische Sicht auf das Abenteuer findet sich beispielsweise in Ilja Trojanows Roman Der Weltensammler (2007), in dem die Stimme des Abenteurers ständig von den Stimmen der Einheimischen durchkreuzt wird; in Walter Moers Roman Rumo (2003) wird vor allem das heldische Abenteuer in vielfältiger Hinsicht parodiert, zugleich jedoch wird eine spannende Abenteuerfahrt erzählt.37 In den Romanen und Erzählungen von Felicitas Hoppe werden Abenteuer zum Vexierspiel eines hochgradig anspielungsreichen und intertextuell gesättigten Erzählens. Hoppe ist zugleich diejenige Gegenwartsautorin, die sich am entschiedensten dazu bekennt, für ihr Erzählen Inspirationen aus mittelalterlichen Stoffen und historischen Gestalten – Iwein, Jeanne d’Arc – bezogen zu haben.38 Aber auch Helge Timmerbergs Reise um die Welt in 80 Tagen (2008) oder Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) stellen moderne Aktualisierungen von klassischen historischen Abenteuernarrativen (insbesondere des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit) dar. Raoul Schrotts Tristan da Cunha (2003) überblendet sogar historische und geographische Ferne und spiegelt seinen Roman über das abenteuerliche Leben auf „dem entlegensten Ort dieser Erde“ (Einband) in der Handlung (und teils direkten Zitaten) des mittelalterlichen Tristan-Romans.39 In dem jüngst erschienenen interdisziplinären Sammelband zum Abenteuer setzen die Herausgeber Nicolai Hannig und Hiram Kümper das Abenteuer, von einem soziologisch-historischen Blickpunkt aus betrachtet, ins Verhältnis zu Sicherheitsdenken und Risikoideologie im gegenwärtigen Kapitalismus. Im Abenteuer wird dabei ein ins Maßlose gesteigertes Sicherheitsbedürfnis mit einer umso stärkeren Sehnsucht nach Unberechenbarkeit und Risiko verhandelbar.40 Angesichts dieser Sachlage, in der Erzählen vom Abenteuer in der Gegenwartsliteratur eine Renaissance erlebt und dafür zugleich auf historische Modelle zurückgreift, ist es an der Zeit, Abenteuernarrative nicht länger nach Fä-

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and „Die Ringe des Saturn“. In: Zisselsberger, Markus (Hg.): The undiscover’d country. W. G. Sebald and the Poetics of Travel. Rochester, NY 2010, S. 247–273. Vgl. Conrad, Maren J.: „Blut! Blut! Blut!“ Die Artusepik als heroisches Erbgut wortkarger Wolpertinger. In: Lembke, Gerrit (Hg.): Walter Moers’ Zamonien-Romane. Vermessungen eines fiktionalen Kontinents. Göttingen 2011, S. 235–260. Vgl. Eming, Jutta: Iwein im Immerwald. Abenteuer und Jederzeitlichkeit in Felicitas Hoppes Hartmann-Adaption. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Abenteuer. Welten. Reisen. Felicitas Hoppes Interkulturelle Poetik. (bei der Herausgeberin); Pailer, Gaby : Abenteuerliches Erzählen – was ist das? Zur Paradoxie der historischen Heldin in Felicitas Hoppes ,Johanna‘. In: ebd. Vgl. Honold, Alexander : Das weiße Land. Arktische Leere im postmodernen Abenteuerroman. In: Hamann, Christof / Honold, Alexander (Hg.): Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen (Poiesis. Standpunkte der Gegenwartsliteratur, Bd. 5). Göttingen 2009, S. 69–86. Vgl. Hannig / Kümper, Abenteuer (wie Anm. 2), S. 14f.

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chern und Epochen getrennt zu untersuchen, sondern einerseits auf ihre grundlegenden Erzählmuster zu befragen und andererseits ihre historischen Konkretisierungen umfassender als bislang zu beschreiben und zueinander in Bezug zu setzen.

Abenteuer in Film und Computerspiel Abenteuernarrative sind auch für den Film von großer Bedeutung, wobei sich die Narrative im aus der Literatur gewohnten Rahmen bewegen. Georg Seeßlen41 nennt in seinem Überblicksband zum Abenteuer im Film die folgenden Genres bzw. Handlungsfelder : Antikefilm, Ritter- / Mittelalterfilm, Piratenfilm, Mantel und Degen-Film, Kolonialismus und Postmoderne. Der Logik der GrundlagenReihe gehorchend, sind Western und Science Fiction in eigene Bände verlagert. Offenbar setzt sich auch in der Filmwissenschaft das vorherrschende Modell der Literaturwissenschaft durch, Abenteuer – als Abenteuerroman oder eben Abenteuerfilm – als eigene Gattung zu verstehen, auch wenn das nicht immer überzeugend ist. Einen gänzlich neuen Aspekt trägt hingegen die Computerspielforschung zur Abenteuerforschung bei, weil Computerspiele Narrative mit Spiel verbinden können.42 Diese Verbindung stellt für die Computerspielforschung eine besondere Herausforderung dar, da die Logiken von Spielen und Erzählen an sich unterschiedlich sind. Die Diskussion um die Bedeutung des Spiels geht dem Computerspiel allerdings lange voraus. Bereits Lotman hat den Zusammenhang und die Differenz von wissenschaftlich-heuristischer Modellbildung, Spiel und Fiktion zu denken versucht. Spiel steht für ihn dabei zwischen Wissenschaft und Kunst, weil es zwar mit Modellen arbeitet, diese aber im Spiel unmittelbar Realität sind. Dem Spielenden muß gleichzeitig sowohl bewußt sein, daß er sich in einer fiktiven (unechten) Situation befindet (dem Kind ist bewußt, daß es einen Spieltiger vor sich hat, und es hat keine Angst), und es muß sich auch dessen nicht bewußt sein (während des Spiels hält das Kind den Spieltiger für lebendig). Vor einem lebenden Tiger hat das Kind nur Angst, vor einem ausgestopften Tiger hat es nur keine Angst, aber vor einem 41 Vgl. Seeßlen, Georg: Abenteuer. Geschichte und Mythologie des Abenteuerfilms. Marburg 1996. 42 Allerdings gibt es auch hier Abenteuer als eine Gattungsbezeichnung, nämlich als ,Adventure‘, bei dem es wesentlich darum geht, durch Befragung von Spielfiguren und Finden und Ausprobieren von Gegenständen Rätsel zu lösen, um schließlich die endgültige Auflösung eines anfänglichen Problems zu erreichen. Gewisse abenteuerliche Elemente sind unverkennbar (Kontingenz und Serialität der Ereignisse), aber eigentlich ist die Logik dieses Genres eher eine detektivische.

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über den Stuhl gehängten gestreiften Morgenrock, der im Spiel den Tiger darstellt, hat es ein klein wenig Angst, d. h. es hat gleichzeitig Angst und keine Angst.43

So ein ,Dazwischen‘ ist für Spielen auch in anderer Hinsicht typisch: Spielen heißt Regeln einhalten, aber auch Regeln dehnen oder brechen (schummeln); Spielen ist zweckfrei, aber gespielt wird mit großer Ernsthaftigkeit; die Regeln des Spiels sind festgelegt, aber der Ablauf ist stets unsicher und von Zufällen durchsetzt.44 Diese Spezifika des Spiels zeigen eine gewisse Affinität zum Abenteuerlichen: den Übertritt von einer normalen Welt in die Spiel- oder Abenteuerzeit, die Konfrontation von Regeln und Zufällen, das emotionale Erleben eines Ausnahmezustands und in gewisser Weise auch schon die Differenz von Erleben und Erzählen, weil im Spiel das Erleben eben nur ein gespieltes ist. Im Übrigen lässt sich beobachten, dass Kinder mit Begeisterung von ihrem Spielen erzählen können. Erhellend ist in diesem Zusammenhang Detlef Siegfrieds Beitrag zur Entwicklung von sogenannten Abenteuerspielplätzen seit den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts.45 In den Diskussionen um diese neue Form von Spielplätzen ging es vor allem um das Ausmaß an pädagogischer und ordnungsamtlicher Kontrolle der mehr oder weniger streng regulierten Freiräume für Abenteuer auf dem Spielplatz und damit verbunden um die Frage, ob Abenteuerspielplätze eher als eskapistische, gesellschaftsabgewandte Freiräume für kindliche Selbstentwicklung zu verstehen sind oder im Gegenteil als pädagogische Erziehungsanstalten, die Kinder an die Realitäten der Gesellschaft heranführen – eine Diskussion, die sich in der Pädagogik ganz ähnlich auch zu Computerspielen finden lässt. Diskutiert wurde aber die Frage, ob Abenteuer für Spielplätze überhaupt eine sinnvolle Bezeichnung sei und in welchem Verhältnis diese Spielplatzabenteuer zu literarischen bzw. filmischen Abenteuern stehen, aus denen die Bezeichnung ja letztlich stammt. Für das Computerspiel stellt Backe den Zusammenhang von Spiel und Narration wie folgt her : Die Strukturen von Computerspielen lassen sich als Abfolge von Hindernissen beschreiben, deren Überwindung das Ziel des spielerischen Handelns ist. Wenn sich in solchen Strukturen Kausalität und Intentionalität erkennen lassen, d. h. die Hindernisse nicht zusammenhanglos, sondern als Ergebnis der Aktionen von Agenten einer 43 Lotmann, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 1993, S. 99 (Hervorhebung i. O.). Ob Lotman die Reaktion eines Kindes überzeugend erfasst, sei dahingestellt. 44 Vgl. Backe im Rückgriff auf Huizinga u. a. – Backe, Hans-Joachim: Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung. Würzburg 2008, S. 240–249. 45 Vgl. Siegfried, Detlef: Das Spiel als Abenteuer. Abenteuerspielplätze und ihre Deutungen in der Bundesrepublik und Dänemark 1943–1980. In: Hannig / Kümper, Abenteuer (wie Anm. 2), S. 229–253.

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fiktionalen Spielwelt erscheinen, qualifizieren sich Computerspiele damit als potentielle Geschichten.46

Gerade die Kombination von Spiel und Narration macht Computerspiele für Abenteuernarrative besonders geeignet. Zu überlegen wäre aber auch, inwieweit spielerische Aspekte bereits in älterer Abenteuerliteratur sichtbar werden. Die Abenteuer in wunderbaren Räumen – wie beispielsweise im Schastel Marveille in Wolframs von Eschenbach Parzival – mit ihrer Kombination von immer neuen Herausforderungen, die durch den Helden zu bestehen sind, weisen einen oft recht spielerischen Charakter auf. Ohnehin weist die Struktur mittelalterlicher Aventiureromane oft eine verblüffende Ähnlichkeit zu erzählenden Computerspielen, insbesondere ,Adventures‘,47 auf, mit ihrer seriellen Abfolge von in sich geschlossenen Abenteuerräumen, der Notwendigkeit Rätsel zu lösen oder Zwischengegner zu besiegen, um in den nächsten Abenteuerraum zu gelangen, bis der Held schließlich im finalen Abenteuer angekommen ist; Wirnts von Grafenberg Wigalois in ein solches Computerspiel umzusetzen wäre tatsächlich sehr einfach.

Abenteuer als Narrativ Die Problematik einer jeden Abenteuerdefinition liegt darin, auf der einen Seite das Abenteuer als analytisch verwendbaren Begriff so genau wie möglich definieren zu müssen, ohne jedoch auf der anderen Seite angesichts der immens vielfältigen Formen des Abenteuerlichen ausschließend zu verfahren. Unser Versuch, Abenteuer als Narrativ zu definieren, schließt dabei zunächst auf sehr allgemeinem Niveau an die eingeführte Narrationsforschung an, der zufolge eine Erzählung wesentlich dadurch gekennzeichnet ist, dass ein gegebener Anfangszustand durch eine Ereigniskette in einen Endzustand überführt wird, wobei Anfang und Ende der Erzählung sich konzeptuell aufeinander beziehen.48

46 Backe, Strukturen und Funktionen (wie Anm. 44), S. 20. 47 ,Adventure‘ ist im Computerspielbereich auch eine Gattungsbezeichnung, die sich nicht sinnvoll als Abenteuer ins Deutsche übersetzen lässt, denn auch andere Genres wie Rollenspiele können ganz und gar abenteuerlich sein. Typisch für ,Adventures‘ ist die mehr oder weniger lineare Abfolge einer klar definierten Geschichte, deren Fortschritt sich wesentlich über das Lösen von Rätseln durch die Spielenden einstellt. Vgl. Faulstich, Werner : Von Trollen, Zauberern, der Macht und anderen wundersamen Abenteuern. Kleine Einführung in interaktive Computer-Märchen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 92 (1993), S. 96–125. 48 Vgl. Stierle, Karlheinz: Die Struktur narrativer Texte. Am Beispiel von J. P. Hebels Kalendergeschichte ,Unverhofftes Wiedersehen‘. In: Brackert, Helmut / Lämmert, Eberhard (Hg.): Funk-Kolleg. Literatur Bd.1. Frankfurt a. M. 1977, S. 210–233, hier S. 216f.; Schutte, Jürgen:

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Mit dem Begriff des Narrativs wollen wir für das Abenteuer unterscheiden zwischen einer Narration, die einen Texte komplett bestimmt, also mit seinem Anfang und Ende zusammenfällt, und einem Narrativ, das dem gleichen erzählerischen Prinzip gehorcht, aber in einen umfassenden Textzusammenhang eingebettet ist. Während Narrationen in sich abgeschlossene Texte sind, lassen sich Narrative eher als Textbausteine verstehen, die als Kleinerzählungen flexibel in anderen Textzusammenhängen verwendet und funktionalisiert werden können. In diesem Sinne verstehen wir den Abenteuerroman nur als Sonderfall des Abenteuererzählens, weil in ihm eine Gesamtkonzeption über einzelne Abenteuernarrative hinweg gelegt wird, die diese zum Roman zusammenbindet. Abenteuernarrative können aber auch Teilerzählungen in umfassenderen Narrationen, nicht-narrativen und sogar nicht-fiktionalen Texten sein. Anfangsund Endpunkte von Narrativen fallen also nicht mit Anfang und Ende der Texte zusammen, in denen sie situiert sind. Gerade die serielle Kombinatorik von Abenteuernarrativen erlaubt die unterschiedlichsten Konfrontationen und Verhandlungen solcher Konzepte. In gewisser Weise gilt dies übrigens auch für Abenteuerromane, die ja selbst wieder in eine Fülle kleinerer, mehr oder weniger abgeschlossener Abenteuerepisoden zerfallen. Wir betrachten das Abenteuer also dezidiert nicht aus der Perspektive von Gattungen, die nur als Sonderfall eine Rolle spielen können, sondern als ein Narrativ, das unterhalb der Gattungsschwelle, aber über dem Einzelwerk angesiedelt ist. Diese theoretische Positionierung bietet einen geeigneten Ansatzpunkt für die Analyse historischer Abenteuernarrative, die sich tatsächlich sehr vielfältig auf solchen Ebenen des ,Dazwischen‘ verorten lassen. Romane der verschiedensten Genres, Novellen, Chroniken, pragmatische Texte, Erzählformen in verschiedenen Medien können Abenteuernarrative verwenden, kreieren und für ihre Zwecke funktionalisieren.49 Zu systematisieren ist dann, inwieweit dieses Erzählen von Abenteuern in anderen Gattungen spezifische Formen, Inhalte und Funktionen annimmt. Darüber hinaus könnten solche eingebetteten Abenteuernarrative auch als Bindeglied zwischen Texten und Gattungen dienen, die an sich wenig miteinander zu tun haben. Im Einzelnen sehen wir folgende Aspekte der systematischen Beschreibung des Abenteuerlichen:

Einführung in die Literaturinterpretation. Stuttgart 1985, S. 118f; Genette, G8rard: Die Erzählung. München 1994. 49 Wie das Erzählen von Aventiure neue Aventiuren generiert, ja generell Abenteuer mit dem Erzählen von Abenteuern zusammenhängt, zeigt Eming, Sirenenlist (wie Anm. 2), S. 64–66.

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Strukturelle Aspekte des Abenteuers So schwierig es auch ist, über große Zeiträume und kulturelle Unterschiede hinweg gemeinsame Merkmale von narrativen Ordnungen auf der Ebene der Geschichte (discours) zu bestimmen, lässt sich für das Abenteuerliche doch unzweifelhaft eine erkennbare, wiederkehrende Grundstruktur herausarbeiten, die vom Verlassen der eigenen Ordnung, einer Bewegung durch die Fremde oder einen fremd gewordenen Raum, eine zumindest für den oder die Helden und Heldinnen zufällige50 und mit den Kenntnissen der Ausgangsordnung oft kaum zu bewältigende Abenteuerreihe sowie die abschließende Rückkehr in die eigene Ordnung reicht. Als wichtigster theoretischer Ansatzpunkt erweist sich dabei immer wieder Michail M. Bachtins Definition des Abenteuerchronotopos mit seinen beiden Polen von biographischer Zeit und Abenteuerzeit, die in Abenteuererzählungen die Bewegung der Abenteuerhelden durch Raum und Zeit bestimmen. Bezieht man Bachtins Beobachtungen auf die in der Narratologie übliche Ebeneneinteilung narrativer Texte, dann lässt sich für die Geschehensebene (histoire) von Abenteuernarrativen ein hohes Maß an konventionalisiertem Geschehen feststellen. Abenteuernarrative lassen sich dann generell als eine Form von seriellem Erzählen verstehen.51 Dieser seriellen Zersplitterung der Abenteuerhandlung in unabhängige Episoden kann jedoch von außen ein Sinnrahmen auferlegt sein, der sich nicht aus dem Abenteuer selbst ergibt. Da die Verkettung von Abenteuern immer wieder neue Orte benötigt, sind die Handlungsräume der Liebesund Abenteuerromane oft sehr weitläufig, zumeist aber auch sehr abstrakt.52 Bachtins Hinweis auf die tendenzielle Beliebigkeit dieser Räume zeigt dabei 50 Zum Verhältnis von Zufälligkeit und Providenz in der mittelalterlichen Literatur vgl. Eming, ebd. S. 70–77, was den Zusammenhang zum Wunderbaren einschließt; und Schnyder, Sieben Thesen (wie Anm. 20). 51 Vgl. vor allem Eco, Umberto: Die Innovation im Seriellen. In: ders.: Über Spiegel und andere Phänomene. München / Wien 1990, S. 155–180 und Anderegg, Johannes: Fiktionalität, Schematismus und Sprache der Wirklichkeit. Methodologische Überlegungen. In: Hienger, Jörg (Hg.): Unterhaltungsliteratur. Zu ihrer Theorie und Verteidigung. Göttingen 1977, S. 7–31; in der Mediävistik Schulz, Armin: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik. Willehalm von Orlens – Partonopier und Meliur – Wilhelm von Österreich – Die schöne Magelone. Berlin 2000 und Bachorski, Hans-Jürgen: Serialität, Variation und Spiel. Narrative Experimente in Salman und Morolf. In: Buschinger, Danielle / Spiewok, Wolfgang (Hg.): Heldensage – Heldenlied – Heldenepos. Ergebnisse der II. Jahrestagung der Reineke-Gesellschaft. Gotha 16.–20. Mai 1991 (Jahrbücher der Reineke-Gesellschaft, Bd. 2). Greifswald 1992, S. 7–29. Zum Liebesund Abenteuerroman bemerkt bereits Bachtin: „Charakteristisch für den Abenteuerromanchronotopos sind demnach: die technische, abstrakte Verbindung von Raum und Zeit, die Umkehrbarkeit der Momente der Zeitreihe und deren Austauschbarkeit im Raum“. Bachtin, Formen der Zeit (wie Anm. 16), S. 26 (Hervorhebung i. O.). 52 Ebd. S. 24.

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auch, dass die Unterscheidung von realen Räumen z. B. in Reisebeschreibungen und fiktiven Räumen in Romanen durchaus bedeutungslos werden kann, sobald das Abenteuernarrativ im Vordergrund steht.53 Ähnliches gilt auch für die Zeitgestaltung, die zugleich zeitenthoben und zeitintensiv ist – zeitenthoben, weil die biographische Zeit mehr oder weniger stillgestellt ist (die Abenteuerhelden altern nicht); zeitintensiv, weil die Zeit im Abenteuer immer wieder drängt, eine Rettung gerade noch gelingt, eine Flucht im letzten Moment glückt etc.: Wie man sieht […], ist die Abenteuerzeit im Roman recht spannungsgeladen: Ob etwas einen Tag, eine Stunde, ja sogar eine Minute früher oder später geschieht, ist hier allenthalben von entscheidender, schicksalhafter Bedeutung. Die Abenteuer selbst fügen sich in einer außerzeitlichen und im Grunde genommen endlosen Reihe aneinander […].54

Das Abenteuernarrativ zwingt Raum und Zeit seine serielle chronotopische Logik auf, und zwar tendenziell unabhängig von Text und Gattung, innerhalb dessen es eingebettet ist. Vor allem Umberto Eco hat dem seriellen Schreiben im Rückgriff auf die Vormoderne mit einer Typologie des Verhältnisses von Wiederholung und Variation zu einer neuen Dignität verholfen. Abenteuernarrative zeichnen sich dabei durch spezifische Geschehensmomente und konzeptuelle Ordnungen aus, die zugleich flexibel genug sind, in vielfältiger Weise variiert und so auch in größere Text- und Diskurszusammenhänge eingepasst zu werden. Die von Stierle so genannte Ebene des Textes der Geschichte, also die konkrete sprachliche und erzählerische Realisierung von Geschehen und Geschichte, ist dann insofern ein zentrales Element in dieser Art des seriellen Erzählens, als durch diese Perspektivierungen den variierenden Wiederholungen der Abenteuernarrative immer neue Seiten abzugewinnen sind.

Abenteuer und Ordnung Für das Verhältnis von Abenteuer und Ordnung sind zwei recht unterschiedliche Aspekte wesentlich, nämlich auf der einen Seite eine externe Einbettung von Abenteuerepisoden in eine umfassende, strukturell höhere Ordnung, und eine interne im Sinne des Bachtinschen Übergangs von biographischer Zeit zu 53 Zu bedenken ist aber, dass diese von Bachtin herausgearbeitete tendenzielle Beliebigkeit auch mit der Liebesthematik dieser Romane in Zusammenhang steht und deshalb nicht umstandslos auf alle Abenteuererzählungen übertragen werden kann; vgl. Bachorski, grosse vngelücke (wie Anm. 14). 54 Bachtin, Formen der Zeit (wie Anm. 16), S. 18 (Hervorhebung i. O.).

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Abenteuerzeit, was immer auch einen Übergang von der gewohnten, normalen Ordnung in eine Raumzeit des Nicht-Normalen, Ungewohnten bedeutet. Die Perspektive der externen Ordnung ist eher die des Erzählers oder der Rezipienten, auch wenn es möglich ist, dass solche umfassenden Ordnungen sich den Abenteuerhelden offenbaren, wohingegen der Wechsel von biographischer Zeit zu Abenteuerzeit an die Figurenperspektive gebunden ist. Die höhere Ordnung kann eine garantierte göttliche Weltordnung sein, sei es als grundsätzliches Vertrauen in die Heilsgeschichte, sei es konkreter als ein in Gott verankert gedachtes Geschichtsmodell wie den Weltreichewechsel.55 Es sind aber auch ethische Modelle möglich, wie eine höfische Ethik von triuwe und Þre oder eine Ethik der Bewährung von Tugenden56 etc. Strukturell ist dabei wesentlich, dass die äußere Ordnung der Abenteuerzeit grundsätzlich so angelegt ist, dass Auszug und Rückkehr der Helden verlässlich zu erwarten sind oder aber mit dieser Erwartung gespielt werden kann. Welche Form diese äußere Ordnung annimmt, ist nach Gattung und Epoche hingegen höchst variabel. Die Ordnung des Eigenen, der biographischen Zeit, aus welcher der Held auszieht, kann gestört sein, was die Abenteuerfahrt überhaupt erst notwendig macht, und sie kann durch die Helden bei ihrer Rückkehr wieder in Ordnung gebracht werden. Die Abenteuerfahrt besteht zumeist aus einer Reihe von Einzelabenteuern, die in sich mehr oder weniger abgeschlossen sind, deren Reihung keiner inhärenten Logik folgt und die sich zumindest aus der Sicht des Helden als zufällig darstellt. Dieses generelle Muster des Geschichtsablaufes (histoire) lässt sich mit durchaus unterschiedlichen Konzepten verknüpfen. Eine spezifisch mittelalterliche Variante besteht beispielsweise darin, dass Held und Heldin auf der Abenteuerfahrt eine Identität wiederherstellen, die sie unfreiwillig aufgeben mussten und dabei zugleich die gestörte Ordnung der Ausgangswelt erneuern; eine spezifisch moderne Abenteuervariante dagegen wäre, dass Held oder Heldin eine Entwicklung vollziehen, durch die sie ihr Potenzial entdecken und verwirklichen und dabei zugleich die Welt, aus der sie kommen, verändern. Beide Varianten vertreten Extrempunkte, zwischen denen gerade in Mittelalter und Früher Neuzeit viele Übergänge bestehen. Das Abenteuer bietet dabei auch Raum zur Begegnung mit dem Fremden, mit 55 Einen guten Überblick über mittelalterliche religiöse Zeit- und Geschichtsmodelle gibt Melville, Gert: Der Zugriff auf Geschichte in der Gelehrtenkultur des Mittelalters. In: Gumbrecht, Hans U. u. a. (Hg.): La litt8rature historiographique des origines / 1500 (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. 11,1,1). Heidelberg 1986, S. 157–228. 56 Ohne eine strenge Systematik zu entwickeln, verhandelt die höfische Literatur die Möglichkeiten einer Ethisierung adliger Existenz in narrativer Form. Vgl. zum älteren Konzept eines höfischen Tugendsystems Eifler, Günter (Hg.): Ritterliches Tugendsystem. Darmstadt 1970.

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anderen Kulturen, dem Wunderbaren, den Wilden etc. Abenteuer sind aus gutem Grund sehr häufig, wenn auch keineswegs zwingend, mit dem Reisen verbunden, das sich für die Konfrontation von biographischer Zeit und Abenteuerzeit anbietet. Gerade im Abenteuer lassen sich für jede Kultur so elementare Problematiken wie die des Verhältnisses von Eigenem und Fremdem und damit die Frage nach der je eigenen Identität durchspielen. Im Abenteuermodus kann aber auch das Alltägliche zum Fremden werden und damit zum Raum für Abenteuer.57 Dieses Agieren der Helden kann dann in der äußeren Ordnung in irgendeiner Weise abgesichert, rückversichert oder sogar garantiert sein, oder aber es liegt ganz im Individuum und seinen Fähigkeit begründet, sich durchzusetzen oder zu scheitern.

Abenteuer und Kontingenz Die unerwartete, überraschende Begegnung ist ein zentraler Modus aller Abenteuerepsioden, was Abenteuernarrative sehr geeignet macht, sich auf vielfältige Weise mit Kontingenz auseinanderzusetzen. Da Abenteuernarrative eine episodische Struktur aufweisen, ist zunächst grundsätzlich zwischen den einzelnen Episoden und der Gesamterzählung zu unterscheiden. In den Episoden ist der Held immer wieder aufs äußerste gefährdet, doch ist er am Ende normalerweise erfolgreich. Die bunte Zufälligkeit der Episodenkette wird dabei, mitunter vom Ende her, aber durchaus auch fortlaufend, so mit Sinn aufgeladen, dass eben dieser Ausgang der Geschichte stets erwartbar ist. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Abenteuernarrative verschiedener Epochen und Gattungen gar nicht grundsätzlich voneinander. So garantieren im höfischen Roman Gott und höfisches Wertesystem den Ausgang der Geschichte, in welche Drangsal auch immer der Held unterwegs kommen mag; in Carl Grosses Genius (1790–94) kann erzählerisch jederzeit auf das Wirken eines Geheimbundes zurückgegriffen werden, um noch die unerklärlichsten Wendungen der Geschichte zu begründen; und zumindest im älteren James Bond-Film ist grundsätzlich die moralische Überlegenheit des kapitalistischen Westens gesetzt, die den Helden am Ende gegen die Mächte des Bösen triumphieren lässt. Mit dieser Paradoxie von Zufall und Erwartbarkeit kann in Abenteuernarrativen aber auch reflexiv gespielt werden. So geht die Buchreihe und mittlerweile Fernsehserie A Song of 57 Für den Artusroman sprechen Stahuljak u. a. von: „The idea that adventure is not an extraordinary event that disrupts everyday experience, but rather an everyday experience lived in its extraordinary form […]“. Stahuljak u. a., Adventures in Wonderland (wie Anm. 17), S. 90.

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Ice and Fire, bekannter wohl als A Game of Thrones, mit diesen Konventionen insgesamt sehr viel kontingenter um, weil immer wieder und völlig unvorhersehbar gut eingeführte Hauptfiguren sterben, was weder auf der Ebene der Einzelepisoden noch der Gesamtstruktur58 vorhersehbar ist, ja nicht einmal durch eine höhere Logik in irgendeiner Weise gerechtfertigt, sondern immer nur der Effekt mörderischer Machtkämpfe um die Krone ist. Das Innovative solch’ seriellen Erzählens sieht Umberto Eco in der Kunst der Variation, und auf Seiten der Rezipienten in der Freude am Wiederentdecken, aber auch im ästhetischen Genuss am Variieren. Beim Abenteuer sind für diesen Genuss an der Variation Zufälle, Überraschung, Gefahr und unerwartete Wendungen wesentlich, die, der paradoxen Form des Seriellen entsprechend, zugleich grundsätzlich erwartbar, in ihrer konkreten Erscheinung jedoch stets kontingent sind. Man kann dann von ,serieller Kontingenz‘ sprechen, von erwartbarer Überraschtheit und Variations-Spannung, die vor allem auf das ,Wie‘ und weniger auf das ,Was‘ zielt. In dieser Hinsicht erscheint auch modernes Abenteuererzählen häufig ,mittelalterlicher‘ als beispielsweise die psychologisch ausgefeilten Romane des 19. Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Perspektive sehr wichtig, wobei grundsätzlich zwischen Erzähler-, Figuren- und Rezipientenperspektive unterschieden werden muss. Aus der Figurenperspektive ist die Abenteuerhandlung in der Regel besonders kontingent, wobei gerade die Figuren mittelalterlicher höfischer Romane der göttlichen Ordnung durchaus vertrauen können und dies mitunter auch tun. Die konkrete Ausgestaltung der Aventiure mag dann eine Überraschung sein, aber dass man genau die Aventiure trifft, die man braucht, überrascht die Figuren keineswegs. Über deutlich mehr Kontrolle verfügt der Erzähler, der gerade im Mittelalter mit mehr oder weniger exzessiven Vorausdeutungen viel Kontingenz aus der Geschichte herausnehmen kann.59 Am weitesten ist aber der Überblick des Rezipienten, vorausgesetzt, er verfügt über Erfahrungen aus der Lektüre vieler Abenteuernarrative. Selbst wenn weder die Handlung noch der Erzähler irgendeine Gesamtstruktur des Abenteuerverlaufs deutlich machen, kann der Rezipient noch ein verlässliches Gattungsmuster erkennen, was Kontingenz deutlich einschränkt – oder aber, wie im Fall von A Song of Ice and Fire, noch erhöht, wenn gegen Gattungskonventionen, in dem Fall der Fantasy-Abenteuererzählungen, massiv verstoßen wird. Zu überlegen ist auch, wie das Merkmal der Kontingenz in die Abenteuernarrative einfließt. Es kann sich um genretypische Ereignisse handeln, wie 58 Von der man allerdings nur vorläufig sprechen kann, da die Romanreihe noch nicht abgeschlossen ist. Der Kampf um den Thron stellt bisher eine solche übergreifende Struktur bereit, aber das einzig Verlässliche in Martins Abenteuerschreiben ist bisher die Verlässlichkeit des Verstoßes gegen alle modernen Konventionen des Abenteuerlichen. 59 Vgl. Schnyder, Sieben Thesen (wie Anm. 20).

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Bachtin sie für den Liebes- und Abenteuerroman beschreibt, es können aber auch Einbrüche aus anderen Gattungen oder Diskursen sein, welche die Abenteurer und auch die Rezipienten mit überraschenden, unerhörten Problemen konfrontieren. Das Abenteuererzählen ist in dieser Hinsicht ,gefräßig‘, weil seine serielle Struktur immer wieder neue Varianten serieller Kontingenz benötigt, da die Abenteuerepisoden sonst zu absehbar und damit langweilig werden. Häufig gehorcht serielles Erzählens dabei einer Logik der Überbietung, was aber abhängig von der Form der Serialität ist.60 Damit besteht auch die Möglichkeit, dass andere, an sich ganz nicht-abenteuerliche Narrative mit der seriellen Kontingenz des Abenteuers in Kontakt geraten. Abenteuernarrative lassen sich somit als beständiges Spiel mit der Kontingenz verstehen, welcher mal mehr, mal weniger Offenheit zugestanden wird, die mehr oder weniger erwartbar (und damit fast schon nicht mehr kontingent), aber auch völlig überraschend sein kann und die Teil einer größeren, nichtkontingenten Ordnung sein oder aber jede Ordnung verwerfen kann. Wie die knappen Beispiele verdeutlichen, sollte man sich hüten, hier vorschnell Entwicklungslinien zu ziehen. Welche Form des Abenteuers in welchen Literaturund Gesellschaftsverhältnissen bevorzugt wird, folgt offenbar keiner linearen Entwicklung. Abenteuernarrative lassen sich als ein Feld von Möglichkeiten im Spiel mit der Kontingenz verstehen, deren konkrete Realisierung noch systematischer Erforschung bedarf.

Abenteuererzählen in anderen Texten und Diskursen Gerade unter dem Gesichtspunkt der Grenzüberschreitung vom Eigenen zum Fremden steht das Abenteuer neben anderen Erzählformen, die Ähnliches leisten. Was unterscheidet Abenteuererzählen von der Legende, vom Thriller, vom Horror etc.? Gerade unter diesem Aspekt sind auch Bezüge zu nicht-fiktionalen Formen wie Reiseberichten, ja sogar nicht-narrativen Texten wie beispielsweise ethnologischen Studien von Bedeutung. Diese Zusammenhänge sind noch kaum erforscht, jedoch ist davon auszugehen, dass sich die uns so selbstverständlichen Formen des Abenteuererzählens als eingebettete Narrative in vielen anderen Textsorten bemerkbar machen. Inwieweit also hybridisieren Abenteuernarrative andere, an sich nicht-abenteuerliche Texte?

60 Vgl. dazu die Typologie, die Eco aufgestellt hat (wie Anm. 51).

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Abenteuerstoffe Die Bezeichnung ,Stoff‘ gehört zu den älteren und eher unscharfen literaturwissenschaftlichen Begriffen, bietet sich aber für ein Erzählen an, das in Bezug auf Epochen, Textsorten und Gattungen so weit verbreitet ist wie das Abenteuerliche. ,Stoff‘ lässt sich als zusammenfassender Terminus für thematische Bereiche, Motivkomplexe, aber auch für Chronotopoi verstehen. Abenteuer können sich grundsätzlich in jedem Stoff ereignen: im Wilden Westen, im Weltraum, auf Reisen, in der Liebe, im Alltag etc. Grundsätzlich ist das Abenteuer in Hinsicht auf seine Stoffe so radikal unbestimmt, dass letztlich alles abenteuerlich erzählt werden kann. Zu überlegen ist aber, welche spezifischen historischen Verknappungen des Abenteuererzählens sich beschreiben lassen, welche Abenteuerstoffe also in welchen textlichen und kulturellen Zusammenhängen bevorzugt werden, auch, welche Stofftraditionen sich beschreiben lassen, die, wie die Abenteuer der antiken Helden oder der Artusritter, über eine sehr lange Dauer den Stoff für immer neue Abenteuererzählungen abgeben. Was macht solche Stoffe so langlebig? Welchen Veränderungen sind sie dabei unterworfen?

Inhaltliche Elemente des Abenteuers Der inhaltliche Aspekt ist im Verhältnis zum Stoff gleichsam eine Ebene tiefer angesiedelt und versucht die typischen Abenteuerelemente zu erfassen, welche die Episodenstruktur des Abenteuererzählens bestimmen. Anknüpfen lässt sich hier an Bachtins Überlegungen zum Liebes- und Abenteuerroman, der für diese Gattung gezeigt hat, dass sich Abenteuernarrative zu sehr spezifischen Inhalten und Formen verdichten können: „Entführungen, Flucht, Verfolgung, Suche, Gefangennahme spielen im griechischen Roman eine außerordentlich große Rolle. Gerade deshalb sind für ihn ausgedehnte Räume, Festland und Meer sowie verschiedene Länder unabdingbar.“61 Ähnlich wie die Zeit sind auch die Orte zugleich spezifisch wie auch unspezifisch: Der griechische Roman braucht ein Meer, aber welches Meer es ist, spielt gar keine Rolle. Man wird also epochenund gattungsspezifisch immer wieder neu fragen müssen, welche spezifischen Inhalte mit welchen Abenteuernarrativen typischerweise verbunden sind. Ein Teil der Serialität des Abenteuererzählens liegt auch in der rekombinatorischen Logik dieser Inhalte, die ebenso gattungsspezifisch sein können wie auch zwischen den Gattungen zu wandern vermögen. Bereits die sogenannten nachklassischen Artusromane können immer neue und ungewohnte Inhalte in die 61 Bachtin, Formen der Zeit (wie Anm. 16), S. 25.

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Episodenstruktur des Abenteuers einreihen, und die postmoderne Wiederentdeckung des Abenteuerlichen besteht nicht zuletzt darin, traditionell getrennte Inhalte und sogar Stoffe völlig neu zu kombinieren, so dass sogar Aliens im Wilden Westen62 auf einmal möglich sind.

Faszination des Abenteuers Abenteuer haben ihre eigene Faszination und gehen mit starken emotionalen Reaktionen einher, die sich aber für Figuren und Rezipienten deutlich unterscheiden können. So beschreibt Bachtin in seinen Überlegungen zum Liebesund Abenteuerroman vor allem eine Haltung der Furcht und Verzweiflung, welche die Figuren schier überwältigt und in immer neue Klagemodi verfallen lässt. Diese Haltung lässt sich aber keineswegs verallgemeinern; so kennen die Helden der höfischen Romane zwar durchaus Momente der Furcht (wenn z. B. in Hartmanns von Aue Iwein Kalogrenant auf seiner Aventiure dem schrecklichen Waldmenschen begegnet), aber an erster Stelle steht doch ein eher kühner Wille zum ehrenhaften Abenteuer, das ja, anders als im Liebes- und Abenteuerroman, auch gesucht wird. Kühnheit und Verwegenheit dürfte auch eher die Haltung vieler Abenteuerhelden in den Romanen des 19. Jahrhunderts sein. Neugier hingegen spielt auch schon in der mittelalterlichen Literatur (so bereits im Herzog Ernst B) – wie ja selbst schon bei Homer – eine nicht geringe Rolle für die Motivation von Abenteurern. Selbstzweifel und Identitätskrisen hingegen sind wohl eher Perspektiven in modernen und postmodernen Abenteuern. Es scheint kaum möglich zu sein, hier Entwicklungslinien aufzuzeigen; näher liegt es hingegen, die emotionalen Erfahrungen und Motivationen der Abenteuerhelden mit dem nach Epochen und Gattungen ganz unterschiedlich ausgestalteten Zusammenhang von Einzelnem und Gesellschaft in Verbindung zu bringen, der auch emotional an und in den Figuren ausgetragen wird.63 Auch wenn sie miteinander in Verbindung stehen, sind die emotionalen Reaktionen der Rezipienten von denen der Figuren klar zu unterscheiden. Das emotionale Leiden der Helden der Liebes- und Abenteuerromane muss beim Publikum auf Interesse gestoßen sein, was die Möglichkeiten eines empathischen Mit–Leidens eröffnet, aber anders als bei den leidenden Figuren erlaubt die Distanz den Rezipienten auch eine gefahrlose Faszination am Leid, an den

62 Zum Beispiel den Western-Science Fiction-Abenteuerfilm Cowboys & Aliens von 2011. Etwas Ähnliches gibt es bereits in Mark Twains Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof, worin ein moderner, pragmatischer Amerikaner durch eine unfreiwillige Zeitreise im Mittelalter landet. 63 Vgl. Eggebrecht, Sinnlichkeit und Abenteuer (wie Anm. 25).

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Gefahren, am Schrecklichen und Erschreckenden der Abenteuer. Der Begriff der ,Angstlust‘ könnte hier hilfreich sein.64

Abenteuerhelden Bachtin bestimmt den Abenteuerhelden im griechischen Roman wie folgt: „Der echte Abenteuermensch ist ein Mensch des Zufalls. Als ein Mensch, mit dem etwas geschehen ist, tritt er in die Abenteuerzeit ein. Die Initiative in dieser Zeit liegt jedoch nicht bei den Menschen“.65 Diese Definition erscheint uns als grundsätzlich tragfähig für viele Abenteuernarrative, deren serielle Struktur sowohl die Zufälligkeit der Handlung als auch eine gewisse Unbestimmtheit der Helden erfordert. Bachtin stellt dabei die Identität der Helden in den Mittelpunkt: „Diese spezifische Identität mit sich selbst ist das Zentrum, das das Bild des Menschen im griechischen Roman organisiert“.66 Abenteuernarrative sind aufgrund der Herauslösung der Helden aus ihrer biographischen Normalzeit sehr geeignet, Identität des Einzelnen sowohl als Verhältnis zu sich selbst als auch zur Gesellschaft zu verhandeln, was aber keineswegs immer die Bewährung einer stabilen Identität wie im griechischen Roman bedeuten muss. Epochendifferenzen spielen hierbei eine sehr große Rolle, weil es natürlich einen großen Unterschied macht, ob, wie in der mittelalterlichen Literatur, Abenteurer mehr oder weniger Repräsentanten ihrer sozialen Gruppe sind, deren Werte und Ideale sie stellvertretend in die Wildnis tragen, oder moderne Individuen, deren Abenteuerweg ihrer je individuellen Entwicklung dient.67 Darüber hinaus sind auch Gattungskonventionen zu bedenken, die Abenteuerhelden sehr unterschiedlich funktionalisieren können. Georg Simmel definiert den Typus des modernen Abenteurers als denjenigen, der in einer „Geste des Eroberers“ Chancen ergreife und die Welt gewaltsam an sich reiße, aber andererseits relativ schutzlos eben dieser Welt preisgegeben sei.68 Simmel konstatiert ferner insofern eine genderspezifische Problematik, als der Abenteurer als aktiver Held gedacht sei, der Frau hingegen kulturell zumeist 64 Vgl. Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 2002, insbesondere Kapitel 4; und die Einleitung zu Seeßlen, Georg: Thriller. Geschichte und Mythologie des Angst-Kinos. Marburg 1995, S. 9–30. 65 Bachtin, Formen der Zeit (wie Anm. 16), S. 20. 66 Ebd. S. 32 (Hervorhebung i. O.). 67 Vgl. auch Hannig / Kümper, Abenteuer (wie Anm. 2), S. 47–49, die den Abenteuerhelden in einem Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlicher Inanspruchnahme und personaler Perspektive ansiedeln. 68 Simmel, Hauptprobleme (wie Anm. 16), S. 174f.

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eine passive Rolle zugeschrieben werde.69 Abenteurerinnen treten durchaus in vielfacher Gestalt in der Abenteuerliteratur auf, jedoch sehr häufig in relationalem Bezug auf männliches Agieren. Anders als männliche Abenteurer sind weibliche Figuren immer zur Auseinandersetzung mit den geltenden historischen Gendernormen und -konventionen gezwungen. Der männliche Abenteuerheld stellt die Norm dar, die weibliche Heldin die Abweichung, was Abenteuererzählen aber auch geeignet macht, Genderproblematiken zu verhandeln. Zu bedenken ist auch die Abgrenzung des Abenteurers von der Figur des Überläufers, der sich im Fremden niederlässt, zum Fremden wird und nicht mehr zurückkehrt.70

Abenteuer als Ereignis und Erzählung Abenteuer verstehen wir, wie bereits dargestellt und im Konsens mit der Forschung, grundsätzlich als eine Form des Erzählens von Abenteuern, der Zusammenhang von Abenteuer und Erzählung ist insofern elementar. Dieser Zusammenhang wird aber sehr häufig selbst zum Gegenstand des Abenteuererzählens und bedarf in dieser Hinsicht gesonderter Aufmerksamkeit. Bereits Kalogrenants Abenteuer in Hartmanns von Aue Iwein ist eine Erzählung, die in ein erneutes Abenteuer, dasjenige Iweins, umschlägt, was wiederum erzählt wird, womit bereits eine der ersten Abenteuererzählungen in deutscher Sprache ein hohes Bewusstsein für diesen Zusammenhang von Erzählen und Abenteuer aufweist. Was bei dieser Thematik außerdem beobachtet werden kann, ist ein gewisses metaphorisches Sprechen vom Abenteuer, indem aus dem Erzählen vom Abenteuer das Abenteuer des Erzählens wird. Als Metapher ist das Abenteuer dann mehr oder weniger beliebig verfügbar, und jedes Geschehen kann zum Abenteuer erklärt werden.

69 Ebd. S. 177. 70 Vgl. Kiening, Christian: Alterität und Mimesis. Repräsentation des Fremden in Hans Stadens ,Historia‘. In: Huber, Martin / Lauber, Gerhard (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000, S. 483–510 und grundsätzlich Fink-Eitel, Hinrich: Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte. Hamburg 1994.

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Zu den Beiträgen In seinem Beitrag zum Väterbuch aus dem 13. Jahrhundert zeigt Johannes Traulsen, dass Abenteuerliches auch im geistlichen Kontext zu finden ist. In der Wildnis suchen die Mönche jedoch nicht die ritterliche Bewährung von Ehre, sondern finden in der Konfrontation mit Ungeheuern die Möglichkeiten der Begegnung mit der göttlichen Providenz. Die Ähnlichkeiten mit höfisch-ritterlichen Abenteuerfahrten können dabei aber mitunter so groß werden, dass es zu Abgrenzungsproblemen kommt. Elke Koch befasst sich mit dem Abenteuerlichen in Gabriel Rollenhagens Brandan-Adaption aus dem 16. / 17. Jahrhundert, wobei sie den Text weniger als protestantische Kritik an katholischer Heiligengläubigkeit betrachtet als vielmehr umgekehrt als Einebnung protestantischer Kritik in einer rein abenteuerlichen, aller Heiligkeit entkleideten Lektüre von Brandans Meerfahrt. Susanne Knaeble kann in Thüring von Ringoltingens Melusine (15. Jahrhundert) einen Übergang von der Aventiure zum Abenteuer nachweisen, der auch durch den Erzähler, der immer wieder auf höfische Aventiure Bezug nimmt, reflektiert wird. Anders als der providentiell abgesicherte Aventiurezyklus in der höfischen Literatur zeichnen sich die Abenteuer in der Melusine durch eine spezifische Zukunftsoffenheit aus, die auch die Wiederherstellung der rechten Ordnung am Ende des Textes unterläuft. Jutta Eming unterzieht Michail M. Bachtins Überlegungen zum Liebes- und Abenteuerroman am Beispiel von Theagenes und Chariklia, in einer deutschen Bearbeitung aus dem 16. Jahrhundert, einer kritischen Würdigung. Zur Diskussion steht dabei Bachtins Konzept einer abstrakten Abenteuerzeit, in der die Figuren keiner Wandlung unterlägen. Im Kontext vormoderner Modi des Wissens erweist sich diese These als nicht haltbar, womit aber auch die Absetzung der Bildung vom Abenteuer, die die Poetiken seit dem 18. Jahrhundert beschäftigt, nicht mehr ohne weiteres gültig sein kann. Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (18. Jahrhundert) wird von Bastian Schlüter als Roman auf der Epochenschwelle von Früher Neuzeit und Moderne beschrieben, der jedoch älteren Konzepten des Wissens eher näher steht, als dass er sie hinter sich lassen würde. Das Abenteuer wird dabei zu einer Art des experimentellen Erzählens mit Wissens- und Diskursbeständen, welches in immer neuen Anläufen und Varianten eine nunmehr offene Zukunft zu denken versucht. Hans Richard Brittnacher geht in seinem Beitrag dem Motiv des ,Zigeuners‘ in der Abenteuer- und Kolportageliteratur vor allem des 19. Jahrhunderts nach. Den unter die ,Zigeuner‘ fallenden Helden wird dabei ein ambivalenter Raum eröffnet, der auf der einen Seite Freiheit und Abenteuer verheißt, auf der anderen aber soziale Defizite und die Erfahrung von Rechtlosigkeit mit sich bringt.

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Lydia Jones befasst sich mit Friedrich Heinrich von der Hagens Gesammtabenteuer, das sie nicht unter den gewohnten editionsphilologischen Fragestellungen untersucht. Stattdessen nimmt sie den Begriff des Abenteuers ernst und kann dadurch, auch im Bezug zu Hegels Mittelaltervorstellungen, ein die Edition bestimmendes geschichtsphilosophisches Konzept sichtbar machen. In ihrem Beitrag über Abenteurerinnen in drei, teilweise autobiographischen, Abenteuererzählungen über den pazifischen Nordwesten Amerikas (19. / 20. Jahrhundert) weist Gaby Pailer ein allen drei Texten gemeinsames Brautreisemotiv nach, das die Frauen an die Schwelle von Zivilisation und Wildnis führt, wobei die Heldinnen zunehmend von einer Position als Heiratsobjekt zu einer im Abenteuer über sich selbst bestimmenden Subjektposition geführt werden. Claudia Breger untersucht mit Irmtraud Morgners Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz (20. Jahrhundert) die spezifischen Möglichkeiten weiblichen Abenteuererzählens in der sozialistischen Gesellschaft der DDR. Der intensive Bezug zu mittelalterlich-höfischem Aventiure-Erzählen eröffnet dabei ebenso einen imaginären Raum für emanzipatorische Abenteuer des Begehrens wie die Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten und Möglichkeiten im real existierenden Sozialismus. Anja Nowak analysiert Walter Benjamins bislang wenig beachtete Rundfunkgeschichten für Kinder unter dem Gesichtspunkt der Wissensvermittlung durch Hör-Abenteuer. In ihnen entwickelt Benjamin eine spezifische Erzähltechnik, die eine Balance zwischen die Zuhörer bindenden Effekten von Sensation, Spannung und Neugierde einerseits und einer aufklärerischen, emanzipatorischen Zielsetzung andererseits herzustellen versucht. Christian Schmidt befasst sich mit dem ,Adventure‘-Computerspiel The Wolf Among Us von 2014 und geht dabei den Möglichkeiten einer transmedialen Erzähltextanalyse im Kontext abenteuerlich-episodischen Erzählens und Spielens, von Narration und Performance, nach. Ausgangspunkt eines Vergleichs zwischen dem jiddischen Widuwilt aus dem späten Mittelalter bzw. der Frühen Neuzeit mit dem Computerspiel Red Dead Redemption von 2010 sind Ralf Schlechtweg-Jahn zufolge Übereinstimmungen in Struktur und Thema. Beide Texte entwickeln eine episodenhafte Abenteuererzählung, in deren Mittelpunkt Familien stehen, die sich im Sinne Jan-Dirk Müllers als Erzählkerne verstehen lassen.

Johannes Traulsen (Freie Universität Berlin)

Wüsten, Drachen, Heldentaten. Das Abenteuerliche im mitteldeutschen Väterbuch des 13. Jahrhunderts

Das Abenteuer im geistlichen Kontext? Mönche sind keine Abenteurer. In der monastischen Literatur des Mittelalters ist es, anders als für die ritterlichen Protagonisten der weltlichen Literatur, kein Ideal, auf der Suche nach Aventiure durch die Welt zu streifen. Eine ,abenteuerliche‘1 Lesart wird dementsprechend von geistlichen Texten nachdrücklich abgewiesen. So heißt es im Epilog des mitteldeutschen Väterbuchs:2 Durch Got so sult ir verstan Das ditz puch nicht hat gesait Von werltlicher eitelchait, Nicht von valscher lieb chraft Nicht von ritters honschaft, Nicht von abentewr, Was vert und hewr Hie und da sey getriben. (V. 41470–41476) Begreift mit Gottes Hilfe, dass dieses Buch nicht von weltlicher Nichtigkeit erzählt hat, nicht von der Macht trügerischer Liebe und nicht von ritterlichem Übermut, nicht vom Abenteuer, das früher und heute hier und dort getrieben wird.

1 Es mangelt nicht an Versuchen, das literarische Abenteuer zu bestimmen beziehungsweise zu typologisieren. Je nach Standpunkt wird dabei eine kategoriale Grenze zwischen Vormoderne und Moderne gezogen oder dieselbe gerade unterlaufen. Entsprechend der Anlage des vorliegenden Bandes verwende ich einen weiten Begriff des Abenteuerlichen, der auch die Aventiure der höfischen Literatur des Mittelalters inkludiert und der für den konkreten Text noch näher zu bestimmen sein wird. Zur allgemeinen Einführung vgl. Schmied, Helmut: Abenteuerroman. In: Weimar, Klaus (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (RLW). Bd. 1. Berlin / New York 2007, S. 2–4; Baisch, Martin: ffventiure. In: Ueding, Gerd (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik (HWRh). Bd. 10. Berlin / Boston 2012, Sp. 91–96. 2 Reissenberger, Karl (Hg.): Das Väterbuch. Aus der Leipziger, Hildesheimer und Straßburger Handschrift. Berlin 1914 (Deutsche Texte des Mittelalters 22).

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Der Text grenzt sich von der weltlichen Literatur ab und entfaltet zugleich ex negativo auch eine Bestimmung der Aventiure.3 Thematisch wird sie eng an Ritterschaft und Minne gebunden, deren Ideale durch die Bezeichnungen als valsche Liebe und honeschaft verworfen werden. Die zeitliche Dimensionierung ,von früher bis heute‘ macht die historische Persistenz der Aventiure erkennbar. In der Reihung von früher, heute, hier und dort scheint zudem ein episodischer Charakter der Aventiure auf, die sich zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten aber eben doch immer wieder gleich ereignet. Es besteht ein deutlicher intertextueller Verweis auf die höfische Epik und ihr Aventiurekonzept. Dort bezeichnet das aus dem romanischen Sprachraum entlehnte Wort4 ein (erzähltes) gefahrvolles Unternehmen eines Protagonisten, bei dem er sich als Ritter bewähren und Þre gewinnen kann, meist, indem er seine Kampfkraft in der Auseinandersetzung mit einem Gegner beweist. In Reihen angelegt, belegen die bestandenen Aventiuren eines Ritters seine Exzeptionalität.5 Die Figuren des um 1280 entstandenen Väterbuchs bewähren sich gewiss nicht im ritterlichen Kampf um Liebe und Ruhm, sondern im Ringen um Demut und Tugend. Der Text berichtet von den Anfängen der christlich-monastischen Kultur in den Wüsten Afrikas und des Nahen Ostens. Er erzählt vom Leben der ersten Wüsteneremiten und gibt ihre Lehren und Sprüche wieder. Das Väterbuch gehört damit zu der hauptsächlich lateinischen Tradition der sogenannten Vitaspatrum,6 deren erste deutsche Übersetzung es darstellt. Damit ist zugleich ein Spannungsfeld benannt, in dem das Väterbuch steht: Es handelt sich um einen Text, der einer lateinischen Tradition entspringt, sich aber offenbar an ein 3 Dass das abentewr im Väterbuch dem neuhochdeutschen ,Abenteuer‘ orthographisch ähnlicher ist als der Aventiure, markiert nicht unbedingt eine semantische Differenz zum normalisierten mhd. Substantiv, sondern ist der mitteldeutschen Sprache geschuldet, in welcher der Text abgefasst ist. 4 Zum Begriff der Aventiure, zu seiner Geschichte und seinen Konnotationen vgl. Wegera, Klaus-Peter : „mich enhabe diu .ventiure betrogen.“ Ein Beitrag zur Wort- und Begriffsgeschichte von Aventiure im Mittelhochdeutschen. In: ]gel, Vilmos u. a. (Hg.): Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag. Tübingen 2002, S. 229–244. 5 Dabei kann die strukturelle Anlage der Einzelepisoden insgesamt wiederum sinnhaft werden, wie es für die ,Symbolstruktur‘ der klassischen Artusromane beschrieben worden ist. Aber auch in Märchen, im Abenteuer- und im Schelmenroman sind Abenteuer häufig nach bestimmten Logiken gereiht. Vgl. dazu Haug, Walter : Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach. In: Ders. (Hg.): Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 483–512; Lüthi, Max: Abenteuer. In: Brednich, Rolf Wilhelm u. a. (Hg.): Enzyklopädie des Märchens (EM). Bd. 1. Berlin / New York 1977, Sp. 16–20, hier bes. Sp. 19. 6 Der Gebrauch des Akkusativs statt des Nominativs ist im Mittellateinischen gebräuchlich. Vitaspatrum ist die im Mittelalter übliche Bezeichnung. Vgl. Hoffmann, Werner J. / Williams, Ulla: Vitaspatrum. In: Ruh, Kurt (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon (2VL). Bd. 10. 2. Aufl. Berlin / New York 2010, Sp. 450–466.

Das Abenteuerliche im mitteldeutschen Väterbuch des 13. Jahrhunderts

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Publikum wendet, das des Lateinischen nicht hinreichend mächtig ist. Es liegt nahe, dieses Publikum in einem Orden zu suchen, in dem Laien einen großen Teil der Mitglieder ausmachten. Vielleicht, und trotz anderslautender Aussagen in der jüngeren Forschung ist das immer noch nicht unwahrscheinlich,7 wurde das Werk im Umfeld des Deutschen Ordens verfasst. Die zitierte Stelle ist eine Absicherung gegen das Missverständnis, hier wäre ,Abenteuerliches‘ erzählt worden. Ein Fehler, den allerdings nur Rezipienten begehen können, die weltliche Literatur und das Aventiureschema kennen. Was aber sollte, abgesehen von der Volkssprache, ein solches Missverständnis begünstigt haben? Was ist das Abenteuerliche der Mönchserzählungen? Dazu soll im Folgenden ein Vorschlag gemacht werden. In den Blick genommen werden drei Handlungsschemata, die im Väterbuch vorkommen, es aber nicht bestimmen, und die häufig im Zusammenhang mit abenteuerlichem beziehungsweise aventiurehaftem Erzählen stehen: nämlich die Reise durch unbekannte Gebiete, die Erlösung von einer Bedrohung und die Begegnung mit einem Drachen. Die entsprechenden Passagen im Väterbuch weisen Merkmale des literarischen Abenteuers auf: Die erzählten Ereignisse erscheinen gegenüber dem Gewöhnlichen als exzeptionell. Sie werden von den Figuren als kontingent erlebt und fordern zur Bewährung heraus. Die Erlebnisse werden häufig von den Figuren selbst erzählt, und es ergeben sich immer wieder paradigmatisch-reihende Erzählstrukturen.

Die abenteuerliche Reise Das Väterbuch gliedert sich in vier große Teile, die auf unterschiedlichen Vorlagen beruhen, jedoch bereits in der lateinischen Tradition im Verbund auftreten. Der zweite, sogenannte ,Reiseteil‘ des Textes geht auf die Historia monachorum Rufins von Aquileia zurück.8 Die gesamte Vitaspatrum-Tradition ist weit älter als die deutsche Literatur. Die Entstehung der Historia monachorum wird etwa auf die Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert datiert, ihre Vorlagen sind noch älter.9 Der zitierte Epilog, der die Abweisung des Abenteuers enthält, ist allerdings eine Hinzufügung des Väterbuch-Verfassers. Er hat keine Vorlage in der

7 Vgl. zur Problematisierung der Zuordnung des Väterbuchs zum Deutschen Orden Haase, Annegret u. a. (Hg.): Passional (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 91.1 + 2). Berlin / Boston 2014, S. CLIII. 8 Vgl. Tyrannius Rufinus: Historia monachorum sive de vita sanctorum patrum. Hg. von Eva Schulz-Flügel (Patristische Texte und Studien, Bd. 34). Berlin / New York 1990. Neben der Edition enthält der Band auch eine Einführung zum Text und seiner Geschichte. 9 Vgl. Rufinus, Historia monachorum (wie Anm. 7), S. 47.

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Vitaspatrum-Tradition.10 Im Epilog des Väterbuchs wird also ein sehr alter Stoff mit Blick auf eine verhältnismäßig neue Tradition, nämlich die der volkssprachigen höfischen Literatur, kommentiert. Im Reiseteil des Väterbuchs wird erzählt, wie eine Gruppe von Mönchen aus Jerusalem nach Ägypten reist, um die dort lebenden Eremiten zu besuchen und deren Lehren zu hören und aufzuzeichnen. Dabei folgt die Niederschrift des Erlebten einem didaktischen Zweck, den einer der Reisenden formuliert: Er sprach: ich will durch nutz iu sagen Wie uns in den selben tagen Geoffenbaret vil gutes wart. (V. 3445–3447) Er sagte: „Ich will euch zum Nutzen erzählen, wie uns in diesen Tagen viel Gutes offenbart wurde.“

Die Begegnungen mit den Wüstenvätern sind immer gleich gestaltet: Die Reisenden erreichen die Wohnstätte eines Eremiten, beobachten dessen Lebensweise und sprechen mit ihm. Die Eremiten unterweisen die Mönche in unterschiedlichen Aspekten asketischen Lebens und bedienen sich dabei häufig lehrhafter Exempel, oder sie erscheinen selbst als vorbildlich Handelnde. Zwischen den Berichten einzelner Eremiten findet sich eine Reihe kleinerer Erzählungen von der Reise selbst, die in einer höchst unberechenbaren Umgebung stattfinden. Die Einsiedler leben in der Wildnis und teilweise in der Wüste.11 Sie zu durchqueren ist eine Herausforderung: Das Klima ist extrem, die darin lebenden Tiere sind gefährlich, Ansiedlungen sind selten und weit voneinander entfernt. Die Mönche sind während ihrer Reise immer wieder Gefahren und Unsicherheiten ausgesetzt. Anders als für die Einsiedler ist für sie die Wildnis nicht Lebens- sondern Bewegungsraum, in dem sie ständig bedroht sind. Sie erscheint als ein „Raum der Kontingenz“12. 10 Es gibt aber sehr wohl Parallelen zur volkssprachigen geistlichen Literatur. So heißt es etwa bei Rudolf von Ems: Barlaam und Josaphat. Mit einem Anhang aus Franz Söhns: Das Handschriftenverhältnis in Rudolfs von Ems „Barlaam“, einem Nachwort und einem Register von Heinz Rupp. Nachdruck der 1843 von Franz Pfeiffer in Leipzig herausgegebenen Ausgabe. Berlin 1965, V. 16105–16111: diz mære ist niht von ritterschaft, / noch von minnen, diu mit kraft / an zwein gelieben geschiht; / ez ist von .ventiure niht, / noch von der liehten sumerz%t: / ez ist der welte widerstr%t / mit ganzer w.rheit, .ne lüge. (Übersetzung: Diese Erzählung handelt weder von Ritterschaft noch von der Minne, die machtvoll an zwei Liebenden wirkt. Sie handelt weder vom Abenteuer noch von der leichten Sommerzeit. Sie widersetzt sich dem Weltlichen mit ganzer Wahrheit und ohne Lüge.) 11 Wüeste / wuoste kann im Mittelalter sowohl die Landschaftsform Wüste als auch allgemeiner die ,Wildnis‘ bezeichnen. Vgl. dazu Mentrup, Wolfgang: Studien zum deutschen Wort Wüste. Diss. masch. Münster 1963. 12 Vgl. Schnyder, Mireille: Räume der Kontingenz. In: Herberichs, Cornelia / Reichlin, Susanne (Hg.): Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur (Histo-

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Im Gegensatz zu den Figuren in der höfischen Epik13 wollen die reisenden Mönche unterwegs keine Aventiuren erleben. Die Reise dient ihrer Bildung und dem Heilsgewinn durch das gute Beispiel der Wüstenväter (vgl. V. 3425–3427). Wie der Wald in der höfischen Epik sind Wüste und Wildnis selbst jedoch Räume ohne Ordnung und Kultivierung. Es fehlen gebahnte Wege, oder vorhandene Wege führen nicht direkt zum Ziel, und die Reise ist eine dauernde Beschwernis: In der wu˚ste wilde Vil ungebanten stic, Manige lange crumme wic An grozer arbeitlicher phlege Giengen sie mit umwege Ubir gebirge und uber tal. (V. 3428–3433) In der unbewohnten Wildnis gingen sie mit großer Mühsal auf Umwegen über ungebahnte Pfade und lange ungerade Wege über Berg und Tal.

Statt die allgemeinen Anstrengungen der Reise zu schildern, spricht der Epilog des Reiseteils14 von den Gefahren, in welche die Reisenden unterwegs geraten. Er schildert, wie das Leben der Mönche siebenmal bedroht wird und wie sie sich jeweils nur mit Mühe retten können. Die erste Notlage entsteht bei der Durchquerung einer Wüste, während derer die Gruppe fünf Tage lang weder Nahrung noch Wasser zur Verfügung hat. Die Passage macht den Unterschied zwischen Reisenden und Eremiten deutlich: Die Wüstenväter sind Asketen, die in der Wüste den Verzicht suchen. Die reisenden Mönche sind hingegen ob der Entbehrungen mit trurekeit vil unvro (V. 11312). Die Wüste erscheint für sie nicht als Raum der Askese, vielmehr tritt mit der ständigen Gefahr für Leib und Leben ein Moment der Kontingenz hervor. Die zweite Bedrohung ergibt sich aus einer meteorologischen Besonderheit der Region, in der sich die Reisegruppe befindet. Am Abhang eines Berges zieht in kalten Nächten ein Nebel auf, der zu Ablagerungen am Boden führt: Der Nebel was von salze dic; Als dar uf quam der sunnen blic, rische Semantik, Bd. 13). Göttingen 2010, S. 174–185. Schnyder verwendet den Begriff für das Meer und den Wald in der höfischen Epik. Ihre Bestimmungen (Ordnungslosigkeit, Fehlen von Wegen, Auf- und Abschwanken) lassen sich für die im Väterbuch geschilderte Wildnis / Wüste ebenso in Anschlag bringen. 13 Etwa Kalogrenant in Hartmann von Aue: Iwein. Hg. von Benecke, Georg F. u. a. 4. Aufl. Berlin / New York 2001, von dem die vielzitierte Aussage ich suoche .ventiure (V. 525) stammt. 14 Anders als für den Epilog des gesamten Väterbuchs findet sich eine dem Reiseteilepilog entsprechende Passage bereits bei Rufinus.

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So sencte sich der nebel ie, Unde als der sunne im zu gie Mit sime scharffen blicke, So wart der nebel dicke Unde mohte niht zur erden in. (V. 11325–11331) Der Nebel war dicht von Salz; wenn darauf die Sonne schien, senkte sich der Nebel immer, und wenn die Sonne ihm mit ihrem strahlenden Glanz zusetzte, da wurde der Nebel dick und konnte nicht in die Erde dringen.

Wie der Frost das fließende Wasser zusammenbinde und Eiszapfen an den Dächern hängen ließe, so sorge die Wärme der Sonne dafür, dass der Dunst durch das Salz sich verhärte und sich als die scharphen stein (V. 11341) niederschlage. Für die Reisenden wird dieses Phänomen fast zum Verhängnis, weil die entstehenden Salzkrusten so hart und scharf sind, dass sie den Mönchen die Füße zerschneiden. Der Text vermittelt naturkundliches Wissen über die besonderen klimatischen Bedingungen der Gegend15 und macht so die Reise nicht nur zu einem Überlebenskampf, sondern auch zu einer Entdeckungsfahrt, für welche die Mönche allerdings mit vuzstaphen rot (V. 11359) bezahlen müssen. Jede weitere im Epilog geschilderte Bedrohung stellt einen Schritt durch die Topographie der Thebais dar. Der dritten Bedrohung begegnen sie in Form eines Moors, aus dem sie nur mit Gottes Hilfe gerettet werden. Sie müssen viertens die breiten Fluten des Nils überwinden, was ihnen kaum gelingt. Am Ufer des Meeres werden sie fünftens von Mördern verfolgt, sie erleiden sechstens Schiffbruch auf einem See und werden ans Ufer einer Insel getragen, auf der wiederum kaum Nahrung und Wasser zu finden sind. Die siebte Notlage erwächst aus der Begegnung mit wilden Tieren. Die Reisegruppe gerät in eine Wildnis, in der sie auf einen See stoßen, an dem viele Krokodile lagern. Die Mönche haben zwar Angst, bezähmen diese jedoch. Gerade das führt sie ins Unheil, denn da es sehr heiß ist, haben sich die Wassertiere am Land niedergelassen und schlafen so fest, dass die Reisenden sie tot wähnen. Neugier treibt sie dazu, sich den Tieren zu nähern: Wir wollten schowen wunder, Durch daz wir hin zu quamen. Als sie uns virnamen An den vuzstafen, Do begonden sie uf caffen. (V. 11456–11460) 15 Das beschriebene Phänomen existiert tatsächlich, wenngleich auch der Mechanismus ein anderer ist: Aus Böden mit hohem Salzgehalt kann durch hohe Luftfeuchtigkeit oder Tau das Salz an die Oberfläche gebracht werden und sich dort so verhärten, dass es scharfkantig wird. Ich danke der Geografin Anneke Blix für dieses Wissen.

Das Abenteuerliche im mitteldeutschen Väterbuch des 13. Jahrhunderts

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Wir wollten das Außergewöhnliche ansehen, deshalb näherten wir uns. Als sie unsere Schritte hörten, erwachten sie.16

Die Krokodile attackieren die sich nähernden Mönche, die es nicht vermögen, schnell genug zu fliehen. Nur das Eingreifen Gottes kann die Reisenden retten: Ohne ersichtlichen Grund wenden sich die Tiere plötzlich ab und kehren in ihren See zurück. Wenngleich die Neugier hier, ganz im Sinne der augustinischen Kritik an der ,Augenlust‘,17 die Reisegruppe in Gefahr bringt, dokumentiert die Episode doch zugleich die Anziehungskraft, die von den fremden und gefährlichen Wesen ausgeht. Neben den Lehren der Wüstenväter, die zu erfahren die Mönche ausgezogen sind, ist die Wüste selbst als ein Ort bemerkenswerter Phänomene entworfen. Durch die Schilderung der Gefahren erscheint die Wüste im Väterbuch als ein Raum der Kontingenz, in dem den Reisenden ständig etwas zustoßen kann, das ihrer Verfügung entzogen ist. Sie ähnelt darin der Wildnis, in die der Ritter auf der Suche nach Aventiure zieht. Zugleich aber sind die sieben Gefahren der Reise auch mit Bezug zur Bibel lesbar. Im Buch Hiob erweist sich in der Errettung aus sieben Gefahren die Allmacht Gottes.18 Das einzelne, von den Reisenden als kontingent erlebte Ereignis gliedert sich durch die siebenfache Wiederholung und die Anlehnung an die Bibel zur Heilslogik der letztendlichen Allmacht Gottes. In Anbetracht dieser für den christlichen Leser offenkundigen Sinndimension ist die Wüste im Väterbuch ebenso ein Raum der Providenz. Dennoch bleibt die Abenteuerlichkeit der Reise bestehen. Im naturkundlichen Wissen des Wetterphänomens, der Lebensbedrohung durch Moor, Verfolgung und Schiff-

16 Vgl. zur Verständnis des wunders in Verbindung mit Verben des Sagens, Sehens und Erlebens als Außergewöhnlichem Eming, Jutta: Funktionswandel des Wunderbaren. Studien zum Bel Inconnu, zum Wigalois und zum Wigoleis vom Rade (LIR, Bd. 19). Trier 1999, S. 30. Eming ordnet in diesen semantischen Bereich des Begriffs auch Monstra, Fabelwesen und die Wunder des Orients ein, also Motive, die zum Kernbestand abenteuerlicher Literatur gehören. 17 Vgl. zum biblischen und augustinischen Verständnis der Neugier Schlesier, Renate: Die Schmerzlust des Zuschauers. Dramatisierungen der Neugier bei Euripides und Augustinus. In: Baisch, Martin / Koch, Elke (Hg.): Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens. Freiburg i. Br. u. a. 2010, S. 27–44, bes. S. 31–36. 18 Vgl. Hiob 5, 17–22: „Siehe, glücklich ist der Mensch, den Gott zurechtweist! So verwirf denn nicht die Züchtigung des Allmächtigen! Denn er bereitet Schmerz und verbindet, er zerschlägt, und seine Hände heilen. In sechs Nöten wird er dich retten, und in sieben wird dich nichts Böses antasten. In Hungersnot kauft er dich los vom Tod und im Krieg von der Gewalt des Schwertes. Vor der Geißel der Zunge wirst du geborgen sein, und du wirst dich nicht fürchten vor der Verwüstung, wenn sie kommt. Über Verwüstung und Hunger wirst du lachen, und vor dem Raubwild der Erde wirst du dich nicht fürchten.“ Hier und im Folgenden wird der Bibeltext in der deutschen Übersetzung der Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel und Handkonkordanz. 4. Aufl. Witten 2013 zitiert.

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bruch und der Begegnung mit den Krokodilen verbinden sich religiöser Sinn und Abenteuernarrative miteinander.

Der heilige Abenteurer Abenteuerliche Erzählpartikel lagern sich nicht nur an die Reiseerzählung an, sondern auch an die Erzählungen der Wüstenväter. Dabei gerät der Heilige in eine Rolle, die der des Ritters auf .ventiure-Fahrt nicht unähnlich ist. So tritt beispielsweise der Heilige Helenus als Retter einer bedrohten Gemeinschaft von Einsiedlern auf. Helenus berichtet nicht selbst von seinem Leben, stattdessen wird seine Geschichte durch einen anderen Wüstenvater, den Heiligen Copres, vermittelt. Copres führt Helenus mit einem Vokabular ein, das teilweise auch zur Bezeichnung höfisch-ritterlicher Figuren dienen könnte: Er sprach: „hie saz nulich eine helt Mit allen tugenden uzerwelt. Helenus was er genant. Der edele Gotes wigant Het in der kintheit sich begeben Zu guten munchen in ir leben, Daz eine samenunge was.“ (V. 8903–8909) Er sagte: „Vor kurzer Zeit lebte hier ein Held, der mit allen Tugenden ausgestattet war. Helenus hieß er. Der edle Streiter für Gott hatte sich in seiner Kindheit zu guten Mönchen, die in einer Gemeinschaft lebten, begeben und ihre Lebensform angenommen.“

An einem Sonntag besucht der heilige helt eine Gruppe von Einsiedlern und bemerkt, dass kein Gottesdienst gefeiert wird. Man berichtet ihm, dass der Priester auf der anderen Seite eines nahen Flusses leben würde. Dieser Fluss sei aber von einem Krokodil besetzt, was es unmöglich mache, ihn zu überqueren. Helenus erklärt sich daraufhin sofort bereit, das Problem zu lösen: „Ist ez uch liep, ich hole den man, Ob er ot mir volgen wil, Daz wir in dises tages zil Nach cristenlichen dingen Die hozit vollen bringen.“ (V. 9094–9098) „Wenn es euch recht ist, hole ich den Mann, wenn er mir folgen will, sodass wir noch heute auf christliche Art und Weise die Messe halten können.“

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Der reisende Heilige tritt in eine Gesellschaft ein, die mit einem Problem konfrontiert ist, das von den Betroffenen nicht gelöst werden kann. Wie ein ,geistlicher Gawein‘ erklärt sich Helenus sofort bereit, für die Gruppe einzustehen und die Ordnung wieder herzustellen. Konkret bedeutet das hier, den Gottesdienst möglich zu machen. Helenus begibt sich aus uneigennützigen Motiven in Gefahr und wird damit zum ,heiligen Abenteurer‘. Als Helenus das Wasser erreicht, kommt das Krokodil herangeschwommen. Helenus besteigt kurzerhand seinen Rücken, um sich ans andere Ufer tragen zu lassen. Dort angekommen, macht er sich auf die Suche nach dem Priester, der zum Lesen der Messe benötigt wird. Er findet ihn, kann ihn jedoch nicht dazu bewegen, sich ebenfalls vom Krokodil befördern zu lassen. Stattdessen ergreift der Priester schreiend die Flucht, als er des von Helenus herbeigerufenen Untiers ansichtig wird. Helenus lässt sich daraufhin wiederum übersetzen und wendet sich dann an das Krokodil: „Deiswar, ez ist bezzer vil, Als ich mit warheit sprechen wil, Daz du din leben alein uf gebest Danne du hinnen vurder lebest Den luten zu einer ubir last, Den du hie bist ein leider gast. Nu stirb, daz ist min wille!“ Do starb der cocodille. (V. 9183–9190) „Wahrlich, ich sage es, wie es ist, es ist viel besser, dass du allein dein Leben lässt, als dass du weiterhin lebst und für die Menschen eine übergroße Belastung bleibst, denen du hier ein unerwünschter Gast bist. Nun stirb, das ist mein Wille!“ Da starb das Krokodil.

Die Überfahrt ist handlungslogisch funktionslos, denn Helenus kann das Tier ohne großen Aufwand vernichten. Der ,abenteuerliche‘ Ritt des Helenus illustriert jedoch in besonderer Weise seine außergewöhnliche Heiligkeit. Seine Furchtlosigkeit im Umgang mit dem Monster hebt ihn von dem ängstlichen Priester ab. Der heilige Abenteurer, der sich für die Gemeinschaft der Gefahr aussetzt, wird gegenüber dem Kirchenvertreter, der ,nur‘ mit dem rituellen Vollzug befasst ist, aufgewertet. Die am anderen Ufer wartenden Brüder quittieren die Tat des Helenus dann auch mit der entsprechenden Verwunderung: Helenus hin uber quam. Die bruder michel wunder nam Do sie gesahen die warheit, War uffe da der alte reit Und in daz tiere niht enbeiz. (V. 9169–9173)

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Helenus kam hinüber. Die Brüder wunderten sich sehr, als sie erkannten, worauf der Alte ritt und dass ihn das Tier nicht biss.

Die abenteuerliche Handlung, die hier durch die Hilfeleistung des Heiligen und die spektakuläre Krokodilsfahrt geprägt ist, wird in diesem Zusammenhang funktionalisiert, um die Heiligkeit des Helenus, gespiegelt in der Verwunderung der Brüder, erkennbar werden zu lassen.

Die Mönche und die Drachen Die reisenden Mönche treffen nicht nur auf wilde Tiere, sondern auf ihrem Weg begegnen ihnen auch Drachen. Im Reiseteil des Väterbuchs sind gleich mehrere Drachenepisoden narrativ miteinander verbunden. Dieser kleine ,Drachenzyklus‘ beginnt mit einer merkwürdigen Begegnung, von welcher der Erzähler berichtet: Wir giengen do gar ane clage Gerihte gein dem mittentage Verre in wu˚ste wilde Durch walt vnd durch gevilde. Wir quamen do uf einen sant, Da uns ein wunder was irkant: Wir sahen an derselben stat Vor uns eines trahen phat. (V. 7585–7592) Wir gingen dann ohne Beschwernis in Richtung Süden durch Wald und Feld weit in eine Wildnis hinein. Da kamen wir auf eine Sandfläche, auf der wir etwas Außergewöhnliches bemerkten: Wir sahen dort vor uns die Spur eines Drachen.

Drachen sind in der christlichen Kultur Europas mehrfach codiert. Sie sind einerseits die ultimativen Gegner in der weltlichen Literatur, denn der Drachenkampf stellt „in besonderer Weise die Exemplarizität des Helden unter Beweis, er ist die heroische Tat schlechthin.“19 Andererseits sind Drachen in der biblischen Tradition der Offenbarung des Johannes Figurationen des Teufels.20 Wenn christliche Protagonisten, wie etwa der Heilige Silvester, Drachen besiegen, ist der Sieg immer „in einer göttlichen Provenienz aufgehoben, die Rela19 Hammer, Andreas: Der heilige Drachentöter. Transformationen eines Strukturmusters. In: Ders. / Seidl, Stephanie (Hg.): Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters. Heidelberg 2012, S. 143–179, hier S. 143. 20 Vgl. Off. 12, 3–4: „Und es erschien ein anderes Zeichen im Himmel: Und siehe, ein großer, feuerroter Drache, der sieben Köpfe und zehn Hörner und auf seinen Köpfen sieben Diademe hatte, und sein Schwanz zieht den dritten Teil der Sterne des Himmels fort, und er warf sie auf die Erde.“

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tionen und Handlungsverlauf begründet und lenkt.“21 Die christliche und die weltlich-mythologische Semantik des Drachens müssen sich allerdings nicht ausschließen, vielmehr gibt es eine Reihe von Überlagerungen und hybriden Figuren, wie etwa die des Heiligen Georg, der besonders im Spätmittelalter einerseits heiliger Märtyrer und andererseits ritterlicher Drachentöter sein kann.22 Im Väterbuch fürchten sich die meisten der reisenden Mönche angesichts der Drachenspur und wollen den Ort schnell verlassen. Drei von ihnen dringen jedoch darauf, dass man den Drachen in Gottes Namen finden und erschlagen solle. Einer der drei tut sich besonders hervor, und er folgt schließlich allein der Spur. Allerdings entspricht die Begegnung mit dem Monster nicht dem üblichen Schema. Der Drache macht keinerlei Anstalten, den übermütigen Mönch zu attackieren, und liegt stattdessen schlafend in seiner Höhle (vgl. V. 7633–7634). Der Übermütige kehrt sogleich zu seinen Brüdern zurück, um sie aufzufordern, seinem Kampf gegen den Drachen beizuwohnen: Do quam er und schrei uns an: „Woldan, brudere min, woldan Und sehet wie er ende neme.“ (V. 7635–7637) Da kam er zurück und rief uns zu: „Wohlan, meine Brüder, wohlan und seht, wie er sein Ende nimmt.“

Er wird jedoch durch einen Einsiedler unterbrochen, der in der Nähe lebt und in diesem Moment zur Gruppe stößt. Der Eremit rät den Mönchen, sich dem Drachen nicht zu nähern. Der Bruder, der den Drachen hatte angreifen wollen, ist erzürnt. Er wirft seinen Mitreisenden vor, eine Gelegenheit zur Bewährung versäumt zu haben, kann sie jedoch nicht umstimmen. Das Motiv des Drachenkampfes als Bewährungstat wird in dieser Episode ausgehebelt. Der Drachenkämpfer erhält keine Gelegenheit zur Konfrontation mit dem Untier, und sein Wunsch danach erscheint als unzulässige Ruhmsucht. Die Erzählung wird durch das plötzliche Auftauchen des Einsiedlers wieder auf ihren eigentlichen Zweck, den Besuch der Wüstenväter, zurückgelenkt. Für die Narration hat das Drachenmotiv eine zusätzliche Bedeutung: An die erste Drachenerzählung werden weitere angeschlossen, womit das Motiv für die narrative Sukzession sorgt. Der Eremit, der den Drachenkampf verhindert hat, berichtet nun vom Heiligen Ammon, der ebenfalls mit Drachen zu tun hatte. In der Gegend von Ammons Zelle berauben Diebe die Einsiedler. Ammon, der sich vor dieser Gefahr schützen will, begibt sich in den Wald: 21 Hammer, Der heilige Drachentöter (wie Anm. 18), S. 155. 22 Vgl. die Ausführungen zum Heiligen Georg in der Handschrift mgq. 478 ebd. S. 178.

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Nu gienc der reine Amon Zeimal in den walt hin. Durch sinen wislichen sin Su˚hte er trackentiere, Der vant er zwen schiere, Die waren groz nach ir art. (V. 7718–7723) Nun ging der reine Ammon zu einem bestimmten Platz im Wald. In seiner Weisheit suchte er Drachen, von denen er auch zwei fand. Die waren ihrer Art gemäß groß.

Der Kontingenzraum der Wildnis – hier spielt die Handlung in einem Wald statt in einer Wüste – ist auch der Ort, an dem Drachen leben. Anders als in anderen Darstellungen treten die Ungeheuer jedoch nicht als Bedrohung auf. Der Wald wird als ihr natürlicher Lebensraum entworfen, den sie mit den Einsiedlern teilen und in dem der Heilige sie bewusst aufsucht. Ammon kehrt mit den beiden Drachen, die ihm ohne Widerstand folgen, zu seiner Behausung zurück. Er lie sie vor dem huselin Und sprach: „ir sullt wol huten Daz ieman nicht mit unguten Kumen her in geturre.“ (V. 7730–7733) Er ließ sie vor der Hütte zurück und sagte: „Ihr sollt gut wachen, damit es niemand wagt, mit böser Absicht hierher zu kommen.“

Die Geschichte vom Heiligen Ammon entwickelt sich zu einer Drachenerzählung mit umgekehrter Perspektive. Wird üblicherweise aus der Sicht des Heiligen oder Helden erzählt, der sich mit dem Drachen konfrontiert, um zu befreien, was dieser bewacht oder versperrt, ist es hier umgekehrt. Die Drachen stehen auf der Seite des Heiligen und werden zu seinen Bewachern. Die sich nähernden Diebe fallen bei ihrem Anblick in Ohnmacht – ein Motiv, das sich in ähnlicher Fügung auch im Tristan Gottfrieds von Straßburg findet, in dem der Truchsess beim Anblick des von Tristan bereits getöteten Drachen beinahe in Ohnmacht fällt.23 Hier wird erkennbar, wie nahe sich der geistliche Text und Motive des höfischen Romans kommen. Gegenüber den weltlichen Drachenkampferzählungen erscheint die Handlung jedoch invertiert. Nicht die Tötung der Drachen stellt die Ordnung wieder her, vielmehr wird die Ordnung durch die Drachen garantiert, indem sie dem Unwesen der Diebe ein Ende bereiten. Ammon richtet 23 Vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan. Hg. u. übers. von Rüdiger Krohn. Bd. 1. 6. Aufl. Stuttgart 1993, V. 9130–9133: und er der truhsaeze erschrac / als innecl%che sÞre / daz er n.ch eine kÞr / zer erden haete genomen (Da erschrak der Truchseß / im tiefsten Innersten so sehr, / daß er beinahe / zu Boden gestürzt wäre; Übersetzung ebd.).

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die Ohnmächtigen wieder auf und stellt ihnen die fügsamen Drachen als Mahnung für die Macht Gottes vor Augen: „Nu schouwet,“ sprach er, „wunder Wie uwer steininer mu˚t Vil harter ist durch ungu˚t Danne an den tracken die hie ligen: Die han sich ir maht virzigen Und sin gehorsam uns durch Got, Daz wir han ob in gebot.“ (V. 7752–7758) „Jetzt seht,“ sagte er, „das Wunder an, dass euer steinhartes Gemüt durch Bosheit viel härter ist als bei den Drachen, die hier liegen: Die haben auf ihre Kraft verzichtet und sind uns durch Gott gehorsam, sodass wir über sie gebieten können.“

Die Diebe werden von Ammon verköstigt und ihre Furcht vor den Drachen wird zur Gottesfurcht. Sie lassen sich von Ammon im christlichen Glauben unterweisen. Zwar beweist der Heilige seine Exzeptionalität in der Beherrschung der Drachen, was entsprechend als wunder (V. 7699) charakterisiert wird, für die Diebe ist es aber die Furcht vor den Drachen, die sie auf den richtigen Weg lenkt. Das abenteuerliche Motiv der Begegnung mit dem Ungeheuer wird invertiert und in den Dienst der Heilsvermehrung gestellt. Der Einsiedler berichtet noch von einer weiteren Drachentat Ammons, die schließlich wieder eng an das konventionalisierte Schema des christlichen Drachenkampfes, wie es auch beim Heiligen Silvester vorkommt, angelehnt ist.24 Ammon wird in eine Gegend gerufen, die ein böser Drache heimsucht. Der Sohn eines Hirten ist bereits von dem Untier umgebracht worden. Der hinzugerufene Ammon erweckt zunächst das Kind wieder zum Leben, um sich dann allein dem Drachen zu stellen, weil alle anderen fliehen. Der Drache greift Ammon an, dieser jedoch widersteht dem Angriff und bittet Gott, den Drachen seiner Lebenskraft zu berauben, was auch geschieht. Wie auch Silvester bekämpft Ammon den Drachen eigentlich nicht, sondern er bittet Gott um dessen Vernichtung. Das tote Ungeheuer wird von den Bewohnern des Dorfes begraben. Das Väterbuch gestaltet das Motiv des Drachenkampfs dreimal in unterschiedlicher Weise aus. Der Drache, den Ammon tötet, lässt sich problemlos auch als Figuration des Teufels lesen, dem gegenüber sich der Heilige bewährt. 24 In der Silvesterlegende bedroht ein Drache Rom und tötet mit seinem Giftatem täglich Menschen. Silvester wird gebeten, das Problem zu beseitigen, und steigt in die Höhle des Drachen hinab. Indem er Worte spricht, die ihm zuvor in einer Vision eingegeben wurden, schließt er den Drachen handlungsunfähig bis zum Jüngsten Gericht in seiner Höhle ein. Vgl. dazu z. B. die Silvesterlegende in Jacobus de Voragine: Legenda aurea. Goldene Legende. Einl., Ed., Übers. u. Komm. von Häuptli, Bruno W. Bd. 1. Freiburg i. Br. u. a. 2014, S. 265–287.

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Doch für die ,Wachdrachen‘ lässt sich Gleiches ebenso wenig behaupten wie für das schlafende Ungeheuer. Sie erscheinen in ihrer Abenteuerlichkeit als ein Teil der Wildnis, durch welche die Mönche ziehen und in welcher die Wüstenväter leben.

Die Funktion des Abenteuers In der höfischen Literatur kann sich der Protagonist in der Aventiure als Ritter bewähren. Das Väterbuch weist eher den Verzicht auf die Konfrontation als positives Verhalten aus. Dennoch ist das Abenteuerliche hier nicht nur Kolorit, sondern Teil der Heilsvermittlung. Die Wüste erweist sich durch die abenteuerlichen Begegnungen als Raum der Kontingenz, in dem sich aber auch die göttliche Providenz zeigt. Das Ungeheuer wird zum Vehikel des Heiligen, der Heilige zum Retter in der Not. Der Drache ist nicht nur Gegner, sondern auch Erzählanlass für Heiligenerzählungen und Beispiel göttlicher Macht. Das Väterbuch zeigt, dass es in geistlichen Zusammenhängen abenteuerliche Elemente gibt, die religiös funktionalisiert sind. Die damit verbundenen Abenteuer-Narrative scheinen jedoch für die deutsche Übertragung des Textes im 13. Jahrhundert zum Problem geworden zu sein, weil sie zu große Ähnlichkeit mit Teilen der höfischen Literatur aufweisen, in der die Aventiure ein zentraler Aspekt der Poetik ist. Dabei werden Figurentypen entworfen, die nur schwer mit den christlich-asketischen Idealen in Einklang zu bringen sind. Deshalb muss im Epilog so deutlich gesagt werden, der Text würde Nicht von abentewr (V. 41474) erzählen. Gerade darin zeigt sich aber auch, wie vielfältig und produktiv das Abenteuerliche auch dort ist, wo man es nicht erwartet. Die Geschichten des Väterbuchs sind sicher weder Aventiuren noch Abenteuer, abenteuerlich können sie dennoch sein.

Elke Koch (Freie Universität Berlin)

Das Abenteuer im Paratext: Gabriel Rollenhagens Um-Rahmung der Brandan-Legende

1.1 Das Abenteuer lässt sich als Erzählschema betrachten, das zumindest in der abendländischen Literatur ubiquitär ist, möglicherweise aber auch universelle Geltung beanspruchen kann. Erzählphänomenologisch können Konstituenten des Schemas, unter denen der Auszug des Helden ins Unvertraute, gefährliche Begegnungen, die erfolgreiche Rückkehr unter veränderten Vorzeichen und möglicherweise auch ein Bericht des Heimgekehrten aufzuführen wären, in voneinander unabhängigen Texten unterschiedlicher Gattungen, Kontexte und Funktionen von der Antike bis zur Gegenwart aufgewiesen werden. Dieses Schema ist dann, wie das eng verwandte der Suche,1 als so basal aufzufassen, wie es etwa Volker Klotz postuliert: „Abenteuerliteratur ist so alt wie Literatur überhaupt.“2 Abenteuererzählen wird andererseits in einem spezifischen historischen Kontext zum Romantypus verdichtet. Erzählungen mit verwandten Motiven und Strukturen können dann als Vorläufer von Abenteuerromanen betrachtet werden, ohne dass mit ihnen schon eine als zeittypisch erachtete „Abenteuer-Ideologie“ verbunden wäre, die Michael Nerlich zufolge erst im Zusammenspiel der Literatur mit den gesellschaftlichen Bedingungen des Kapitalismus und Kolonialismus entsteht.3 Die Herausgeber des vorliegenden Bandes schlagen eine andere Perspektive vor, welche die Konstanz eines Sets von Motiv- und Strukturelementen ebenso wie die kontextgebundene Spezifik ihrer Aktualisierung und Funktionalisierung berücksichtigt. Das Abenteuer wird als ein Narrativ aufgefasst, das historisch und gattungsbezogen variabel erscheint. Es geht somit nicht um den ,frühen 1 Vgl. Mart&nez, Mat&as / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999, S. 153–154. 2 Klotz, Volker : Abenteuerromane. EugHne Sue, Alexandre Dumas, Gabriel Ferry, Sir John Retcliffe, Karl May, Jules Verne. Reinbek bei Hamburg 1989 [München / Wien 1979], S. 10. 3 Vgl. Nerlich, Michael: Kritik der Abenteuer-Ideologie. Beitrag zur Erforschung der bürgerlichen Bewußtseinsbildung 1100–1750 (Literatur und Gesellschaft). 2 Bde. Berlin 1977.

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Abenteuerroman‘ oder um eine Vorgeschichte des ,bourgeoisen‘ Abenteuerromans, sondern mit dieser Perspektive verbunden ist die Frage nach dem Vorkommen von Abenteuer-Elementen auch in solchen Gattungen, in denen sie nicht privilegiert, aber dennoch episodisch oder im Einzelfall realisiert werden. Die Flexibilität des Konzepts des Abenteuer-Narrativs lässt es zu, Grenzbereiche in die Untersuchung literarischen Abenteuererzählens einzubeziehen. Um einen solchen Grenzbereich in der Legende zu beleuchten, bietet sich die Texttradition der Meerfahrt des Heiligen Brandan geradezu idealtypisch an.4 Dabei sollen in diesem Beitrag die in der Forschung bekannten abenteuerhaften Elemente der Legende nur gestreift werden. Im Zentrum steht das Fortleben der Navigatio Sancti Brendani als Teil einer frühneuzeitlichen Sammlung von fabulösen Reiseberichten, die noch bis ins frühe 18. Jahrhundert im Druck erschien.5 Gabriel Rollenhagens erfolgreiches Buch präsentiert die Navigatio für ein breiteres Publikum dezidiert als Reiseliteratur.6 Die Verschiebungen durch den Paratext sollen hier genauer untersucht werden, wobei zu fragen ist, welche Bedeutung das Abenteuer in diesem Kontext hat.

4 Zur Legende siehe auch den Beitrag zum Väterbuch von Johannes Traulsen in diesem Band. Die Navigatio Sancti Brendani ist von den Wüstenvätererzählungen (u. a. Vita Pauli) beeinflusst; Giovanni Orlandi weist auf das Interesse „für geograph[ische] Einzelheiten und für Abenteuer“ hin, das die Navigatio mit Rufinus’ Historia monachorum teilt; Orlandi, Giovanni: Art. ,Navigatio sancti Brendani‘. In: Lexikon des Mittelalters. 10 Bde. Hg. von Bautier, RobertHenri. Bd. 6. München / Zürich 1993, Sp. 1063–1066. Hier auch ein knapper Überblick zur Textgeschichte; zur Texttradition vgl. Burgess, Glyn S. / Strijbosch, Clara (Hg.): The Legend of St. Brendan. A Critical Bibliography. Dublin 2000. Die Navigatio zitiere ich nach der Ausgabe: Navigatio Sancti Brendani Abbatis from Early Latin Manuscripts. Ed. with Introduction and Notes by Carl Selmer. Notre Dame 1959 [repr. 1989], mit Nennung des Kapitels und der Zeilenzahl. 5 Vgl. Zaenker, Karl A.: Sankt Brandans Meerfahrt. Ein lateinischer Text und seine drei deutschen Übertragungen aus dem 15. Jahrhundert (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Bd. 191). Stuttgart 1987, S. xxii. Zaenkers einleitende Ausführungen sind grundlegend zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Textgeschichte. 6 In der handschriftlichen Überlieferung liegt ein vergleichbarer Fall mit dem Codex München, Stadtbibliothek, L 1603 vor, der 1488 angefertigt wurde und neben der Navigatio-Übersetzung Johannes Hartliebs weitere Reiseberichte (Mandeville, Marco Polo, Odorico von Pordenone, Hans Schiltberger) enthält (vgl. ebd. S. xvii). Dennoch unterscheiden sich die Sammlungen in der Intention. Zaenker zitiert die Vorrede des Auftraggebers der Handschrift, Matheus Brätzl, „auf deren Vorsatzblatt er seinen Auftrag begründet: er wolle durch sein Buch ,neue und fremde Ding‘ kennenlernen, ,wunderlich lannd und innsel mit fremden siten, underschaid des glawbens, sprach, und verkehrung der menschen und tier.‘“ (Ebd.) Während hier also die Reiseberichte als „geo- und ethnographische Informationsquellen“ (ebd. S. xviii) aufgefasst werden, führt Rollenhagen sie als Beispiele für Pseudo-Wissen vor, siehe unten.

Gabriel Rollenhagens Um-Rahmung der Brandan-Legende

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1.2 Die Erzählung von der Schiffsreise des irischen Abtes Brandan, die er gemeinsam mit einer Gruppe von Mönchen unternimmt und die ihn unter anderem zu einer Insel führt, die das irdische Paradies beherbergt, gehört zu den bekanntesten Legendenstoffen des Mittelalters. In der Forschung wird ihre Zugehörigkeit zur Gattung Legende häufig eingeschränkt; die Bearbeitungen des Stoffes seien vielmehr treffender als Reiseliteratur charakterisiert.7 Karl A. Zaenker führt diese Charakteristik auf die Entstehung des Stoffs zurück: Die Erzählung von der Meerfahrt Sankt Brandans […] ist nicht eigentlich ein hagiographisches Zeugnis. Vielmehr schöpft die Navigatio ihren Stoff im wesentlichen aus der irischen mündlichen Überlieferung, aus den erst im Spätmittelalter aufgezeichneten immrama, jenen irischen Abenteuergeschichten, die von Fahrten zu fernen Inseln im Meer mit ihren fabulösen Menschen und Tieren erzählen.8

Demnach wäre das Abenteuerliche in diesem Text ein Substrat einer oralen Tradition, das auch dort noch erhalten bleibt, wo seine Elemente9 in eine Heiligenerzählung eingebaut werden. Zwar ist die genaue Bestimmung des Verhältnisses der Navigatio zu den irischen Erzählungen nicht endgültig geklärt,10 doch besteht Konsens darüber, dass die Legende von Brandans Meerfahrt auf vorausgehende Erzählungen ,abenteuerlichen‘ Charakters zurückgeht, die wohl schon mit der historischen Person des Abtes verbunden waren.11 In der Texttradition ist zwischen der Navigatio und ihrer mittelhochdeutschen und mittelniederländischen Bearbeitung, der sogenannten Reise-Fassung zu unterscheiden, in der Brandans Fahrt anders motiviert und im Detail anders gestaltet wird. Während in der lateinischen, in viele Volkssprachen übersetzten Navigatio der Abt und seine Gefährten aufgrund eines Augenzeugenberichtes aufbrechen, um die terra repromissionis sanctorum zu suchen, und ein ihnen prophezeites siebenjähriges Stationenprogramm absolvieren, bevor sie ihr Ziel erreichen und zum Heimatkloster zurückkehren, muss der Brandan der ReiseFassung die Fahrt als Buße dafür antreten, dass er ein Buch über die Wunder 7 Zur Gattungsproblematik vgl. das Nachwort zur Edition: Brandan. Die mitteldeutsche ,Reise‘-Fassung. Hg. von Reinhard Hahn / Christoph Fasbender. Heidelberg 2002, S. 189–231, hier S. 226–231. 8 Vgl. ebd. S. vi.; Hervorheb. im Orig. 9 Hier nach Zaenker, vgl. ebd.: Ausfahrt, Ferne, Begegnung mit Anderweltlichem, der Held als [Boots-]Führer mit Begleitern. 10 Vgl. dazu Dumville, David N.: Two Approaches to the Dating of Nauigatio Sancti Brendani. In: Wooding, Jonathan M. (Hg.): The Otherworld Voyage in Early Irish Literature. An Anthology of Criticism. Dublin 2000 [zuerst 1988], S. 121–132, hier S. 121; mit weiterer Literatur. 11 Vgl. Orlandi, Giovanni: Navigatio S. Brendani. Bd. 1: Introduzione. Mailand 1968, S. 75–118.

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Gottes verbrannt hat. Erst nachdem er mit seinen Begleitern neun Jahre lang das Meer bereist und viele Wunder gesehen und niedergeschrieben hat, darf er die Rückkehr antreten.12 Diese Bearbeitung scheint eine noch stärkere Affinität zum Abenteuer aufzuweisen, zumal sie Motivparallelen zu zeitgenössischen weltlichen Erzählungen, besonders zum Herzog Ernst, aufweist.13 Dies wertet Zaenker als Faktor des Erfolgs, welcher der Reise-Fassung im Druck beschieden war : Die Lesererwartung eines bürgerlich-weltlichen Publikums wurde in viel stärkerem Maße von dieser „Reisefassung“-Erzählung befriedigt, denn hier findet sich eine bunte Sammlung von miteinander nur lose verknüpften Abenteuern Brandans, wo das Stoffliche, das Unerhörte und Fabulöse den Vorrang hat vor der symbolischen Strukturierung und Sinngebung der Navigatio-Fassung.14

Doch ist es nicht die Reise-Fassung, sondern eine spätmittelalterliche ProsaÜbersetzung der Navigatio, die Gabriel Rollenhagen seiner Sammlung fabulöser Reisegeschichten einfügt, weswegen ich die folgenden Beobachtungen auf die lateinische Tradition beschränke. In der Navigatio sind die von Zaenker angeführten abenteuerhaften Elemente konsequent religiös funktionalisiert. Wunder sind generell für die Heiligenlegende konstitutiv, und die Begebenheiten, Menschen und Tiere, auf die Brandan und seine Begleiter treffen, verweisen direkt oder allegorisch auf christliche Sinndimensionen.15 Die Ausfahrt bzw. Reise ist Allegorie des (monastischen) Lebensweges; der Aufenthalt im Unvertrauten bildet ein zentrales Element im Modell der peregrinatio; dass sie in einer Inselwelt stattfindet, geht auf reale Praktiken des irischen Mönchtums zurück.16 Über diese Aspekte hinaus er12 Aus der umfangreichen Forschung zu dieser Fassung nenne ich hier nur einen Beitrag, der den Text als Reiseliteratur perspektiviert: Kästner, Hannes: Der zweifelnde Abt und die Mirabilia descripta. Buchwissen, Erfahrung und Inspiration in den Reiseversionen der Brandan-Legende. In: Ertzdorff, Xenia von / Neukirch, Dieter (Hg.): Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Chloe, Bd. 13). Amsterdam / Atlanta 1992, S. 389–415 sowie die Edition mit Nachwort von Hahn / Fasbender (wie Anm. 7). 13 Dazu ausführlich Strijbosch, Clara: Between Angel and Beast. Brendan, Herzog Ernst and the world of the twelfth century. In: Burgess, Glyn S. / Strijbosch, Clara (Hg.): The Brendan Legend. Texts and Versions. Leiden / Boston 2006, S. 265–280. 14 Zaenker, Sankt Brandan (wie Anm. 5), S. xvi; Hervorh. im Orig. 15 Beispielsweise lässt sich das Motiv der Wal-Insel, auf der Brandan und seine Begleiter anlanden, bis zu Reiseerzählungen der Antike zurückzuverfolgen; es ist jedoch durch den Bezug zur alttestamentlichen Jona-Geschichte christlich-typologisch allegorisiert. Zur WalInsel vgl. Iannello, Fausto: Jasconius rivelato. Studio comparativo del simbolismo religioso dell’isola-balena nella Navigatio sancti Brendani (Biblioteca di studi storico-religiosi, Bd. 9). Alessandria 2013. 16 Zur Allegorie in der Navigatio vgl. Bray, Dorothy A.: Allegory in the Navigatio Sancti Brendani. In: Wooding, Jonathan M. (Hg.): The Otherworld Voyage in Early Irish Literature. An Anthology of Criticism. Dublin 2000 [zuerst 1995], S. 175–186; Loleit, Simone: Ritual und Augenschein. Zu Gedächtnis und Erinnerung in den deutschen Übersetzungen der Navigatio Sancti Brendani und der deutsch-niederländischen Überlieferung der Reise-

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scheinen weitere Elemente, die Volker Klotz als charakteristisch für das Schema des „frühen A[benteuer-]R[omans]“ zusammengestellt hat, in der BrandanLegende, freilich unter der Maßgabe religiösen Erzählens: AR sind ausführliche Erzählungen, in denen der Held, letztlich erfolgreich, sich auf unabsehbare Ereignisse einläßt. […] Außerordentlich bis wunderbar, widersprechen sie der gewohnten Erfahrung. Sie weichen davon ab in ihrem Grad: Überaus anspruchsvoll, meist lebensgefährlich, erheischen sie den Totaleinsatz des Helden. […] Schließlich weichen sie von alltäglichen Ereignissen ab in ihrem Umfang: Wo ein Abenteuer das andere jagt, wo jedes Abenteuer ein weiteres hervorbringt, beanspruchen sie den Helden nicht bloß ausnahmsweise, sondern unentwegt.17

Die außerordentlichen Ereignisse,18 die den Plot der Meerfahrt Brandans konstitutieren, begegnen dem Abt und seinen Gefährten reihenweise, und sie bringen diese zumindest scheinbar in Lebensgefahr. Ein Kriterium, das Klotz hervorhebt, erfüllen sie jedoch nur begrenzt: das der Unabsehbarkeit, denn Prophezeiungen und durch Visionen vermitteltes Vorauswissen spielen in der Navigatio eine wichtige Rolle. Die Prophezeiung oder auch göttliche Weisung der Reiseroute, die den Mönchen zu den kirchlichen Hochfesten jährlich anzulaufende Stationen vorgibt, ist eng mit der Liturgie als sinngebendem Bezugsrahmen der Navigatio verbunden.19 Dieses Element reduziert den Wagnis-Charakter der Reise und damit deren abenteuerliche Dimension. Die Absehbarkeit betrifft jedoch nicht alle Ereignisse der Meerfahrt, und sie ist ungleich verteilt zwischen dem Abt und den ihn begleitenden Mönchen: Als sie beispielsweise an einer Insel anlanden, auf der sie nach der Prophezeiung oder Weisung eines (von Gott gesandten?)

Fassung. Aachen 2003; zur Lebensreise als peregrinatio vgl. Weitbrecht, Julia: Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters. Heidelberg 2011, S. 183–185, mit Hinweisen zur Literatur. 17 Klotz, Abenteuerromane (wie Anm. 2), S. 14. 18 Den von Klotz und anderen im Zusammenhang mit dem Abenteuer verwendeten Begriff des Wunderbaren greife ich nicht als Analysekategorie auf. In der Navigatio sind außergewöhnliche Ereignisse stets als Wunder markiert; mit der Neukontextualisierung durch Rollenhagen werden sie zu Lügen umgedeutet. Das Konzept des Wunderbaren greift also in beiden Fällen nicht bzw. wäre für Rollenhagen unter dem Gesichtspunkt der Ironisierung e anzusprechen, worauf die Titelstichwörter wunderbarlich, vnerhort und vngleuplich ebenso deuten wie die Verwendung von wunderbarlich in Verbindung mit abenthewer, dazu s. u., S. 60. 19 Zum Erzählen von Zeit in der Navigatio vgl. Koch, Elke: Zeit und Wunder im hagiographischen Erzählen. Pansynchronie, Dyschronie und Anachronismus in der Navigatio Sancti Brendani und der Siebenschläferlegende (Passio und Kaiserchronik). In: Köbele, Susanne / Rippl, Coralie (Hg.): Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Würzburg 2015, S. 75–99.

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Helfers die Ostervigil abhalten sollen, bleibt der Abt währenddessen im Schiff.20 Durch eine göttliche Eingebung ist er schon über die besonderen Umstände dieser Insel unterrichtet, bei der es sich nämlich um einen Wal handelt. Als der Wal abzutauchen beginnt, flüchten die Mönche voller Angst und werden erst, als sie das Schiff erreicht haben, von Brandan darüber in Kenntnis gesetzt, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten.21 Der Wissensvorsprung des Protagonisten lässt einen anderen Aspekt hervortreten, der für die hagiographische Funktion der Erzählung Bedeutung hat (die ich, anders als Zaenker, dem Text zuerkenne) und der zugleich, nach Klotz, für das Erzählschema von Abenteuerromanen wichtig ist, und zwar das Charisma des Helden.22 Die Heiligkeit des Abtes, sein Status als vir Dei, wird eben dadurch markiert, dass nur für ihn die Ereignisse absehbar – und als Gottes Wunder einsichtig – sind, während mittels der Angst der Nebenfiguren das profane Gefahrenmoment erzählt und so das ganze Spektrum der Faszinationskraft dieser mirabilia narrativ entfaltet werden kann.

1.3 Gabriel Rollenhagen, Übersetzer und Dichter,23 gab im Jahr 1603 eine Sammlung von Texten heraus, die er unter dem Titel Vier Bücher Wunderbarlicher biß daher e vnerhorter / vnd vngleuplicher Indianischer Reysen / durch die Lufft / Wasser / Land / Helle / Paradiß / vnd den Himmel24 veröffentlichte. Darin füllt [[d]es 20 Porro pernoctantibus in oracionibus et uigiliis fratribus foris, uir Dei sedebat intus in naui. Sciebat enim qualis erat illa insula, sed tamen noluit eis indicare, ne perterrerentur (10, 6–8). 21 „Deus enim reuelauit mihi hac nocte per uisionem sacramentum huius rei. Insula non est, ubi fuimus, sed piscis […]“ (10, 22–24). 22 Klotz, Abenteuerroman (wie Anm. 2), S. 14: „Der Held muß vor allem mehr und anders sein als die Umwelt.“ 23 Zu Person und Werk vgl. Gaedertz, Karl T.: Gabriel Rollenhagen. Sein Leben und seine Werke. Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur, des deutschen Dramas und der niederdeutschen Dialektdichtung nebst bibliographischem Anhang. Leipzig 1881; Dünnhaupt, Gerhard: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 5. Teil. 2., verb. u. erw. Aufl. Stuttgart 1991, S. 3466–3475. 24 Zitiert nach dem Wiederabdruck der 3., erw. Aufl.: Rollenhagen, Gabriel: Vier Bücher wunderbarlicher, bis daher unerhörter und unglaublicher indianischer Reisen durch die Luft, Wasser, Land, Hölle, Paradies und den Himmel. Magdeburg 1605. Hg. von Gerhard Dünnhaupt (Rarissima Litterarum, Bd. 2). Stuttgart 1995. Auf das Werk verweise ich abgekürzt als Indianische Reisen; Seitenzählung von Titel und Vorrede nach Dünnhaupt. Zur Typographie im Zitat: Hier und im Folgenden werden die verschiedenen Graphien von s unterschiedslos durch die Letter s widergegeben; Abbreviaturen werden aufgelöst. Die dritte Auflage enthält die in der zweiten Auflage ergänzte Sammlung von Paradoxa, die Gabriels Vater Georg Rollenhagen verfasst hat. Es handelt sich um in Form von Frage und Antwort vermittelte Abhandlungen über Volks- und Aberglauben, die Rollenhagen im Titel als etlich[e] warhafft[e] / jedoch bey vielen Gelehrten glaubwirdig[e] Lügen (S. I), ankündigt. Von Zaenker, Sankt Brandan (wie Anm. 5), S. xix, wird dieser Titelzusatz auf die Brandan-Le-

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heiligen Abtes Brandani Historia und Schiffart in daß Paradiß das vierte Buch;25 die drei vorhergehenden beinhalten Übersetzungen von Alexanders des Großen Brief an Aristoteles, einen Abschnitt aus Plinius’ Naturalis historia über die Wundervölker und Lukians Wahre Geschichten.26 Rollenhagen präsentiert seine Sammlung nicht als Wissensliteratur,27 worauf bereits der Titel hinweist, der anders als beispielsweise bei etwa zeitgleich erscheinenden Drucken von Jean Mandevilles Reisen28 gerade nicht die Autorität und Authentizität des Berichteten verbürgt, sondern die Indianischen Reysen als ungleupliche und auf phantastischen Reisewegen (durch die Lufft) vorgenommene ausweist. Rollenhagen stellt sein Buch als eine popularisierende Wissenssatire zusammen,29 die allerdings die Kenntnis der antiken Prätexte und ihrer Rezeptionsgeschichte beim Publikum nicht voraussetzen kann. Die Widmungsvorrede bietet darüber einen kurzen erklärenden Abriss, in dem die Texte historisch eingeordnet und in Hinsicht auf ihren Geltungsanspruch perspektiviert werden. Alexander der Große wird als geschichtliche Persönlichkeit eingeführt, mit dessen Historien ein Brief überliefert worden ist, als ein kurzer ausszug dessen was man von den Indianischen Landen vnd sachen redet (S. VI). Der Brief wird von Rollenhagen somit nicht als bürgendes Dokument, sondern als Aufzeichnung von unverbürgt

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gende bezogen; ich lasse dagegen diesen Teil bei meinen Überlegungen beiseite und konzentriere mich allein auf die Reisebücher. Als Einzeltext herausgegeben von Fay, Rolf D.: Sankt Brandan. Zwei Frühneuhochdeutsche Prosafassungen. Der erste Augsburger Druck von Anton Sorg (um 1476) und Die [sic] Brandan-Legende aus Gabriel Rollenhagens „Vier Büchern Indianischer Reisen“ (Helfant Texte, T. 4). Stuttgart 1985. Die Wahren Geschichten waren schon 1500 erstmals ins Deutsche übersetzt worden, wurden aber erst durch Rollenhagens Sammlung populär ; vgl. Nesselrath, Heinz-Günther : ,Lukian (Lukianos von Samosata)‘. In: Walde, Christine (Hg.): Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon. Der Neue Pauly Supplemente 7. Stuttgart / Weimar 2010, Sp. 465–474, hier Sp. 466. Rollenhagens Übersetzungen stehen in gewisser Weise quer im Feld der Reiseliteratur der Frühen Neuzeit, allgemein dazu Neuber, Wolfgang: Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik. In: Brenner, Peter J. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a. M. 1989, S. 50–67. Vgl. etwa den Titel, unter dem die Übersetzung von Otto von Diemeringen 1600 in Cölln bei Wilhelm Lützenkirchen erschien: Reysen vnd Wanderschafften Des Hocherfarnen vnd Weitberumpten Herrn Doctors vnd Gebornen Ritters / Johannis de Montevilla auß Engellandt / so er ins Gelobte Land / Indien / vnd Persien / vor 200. vnd etlich Jahrn gethan / vnd in e Lateinischer vnd Franzosischer Sprach selbs beschrieben hatt. (Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek, URL: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10 180666_00005.html [08. 07. 2016]). Diese Tendenz hat auch die Erweiterung der Sammlung duch die Paradoxa Georg Rollenhagens, die noch im selben Jahr der Erstausgabe erfolgte, vgl. zur Druckgeschichte die Vorbemerkung Dünnhaupts zur Edition (wie Anm. 24), o. S.; Liste der Drucke bei Fay, Sankt Brandan (wie Anm. 25), S. X.

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Erzähltem eingeführt, dessen Urheberschaft durch Alexander nicht gesichert ist. Diese Berichte ,vom Hörensagen‘ seien von gelehrten Griechen noch viel weitleufftiger (ebd.) beschrieben worden, in Texten, die dann in römischer Zeit e Plinius, des Romischen Reichs Canzler (ebd.) exzerpiert habe. Die Historia der Natur beruht also, wie Rollenhagen verdeutlicht, nicht auf eigener Anschauung des Plinius, sondern fasst zusammen, was er von den Indianischen wunder Menschen (ebd.) gelesen hatte. Lukian wird nun vorgestellt als der treffliche scharffsinnige P h i l o s o p hu s vnnd Redner Lu c i anu s (ebd.), der somit als Gewährsmann fungiert – und zwar nicht für den Wahrheitsgehalt, sondern eben den Unwahrheitsgehalt aller vorher verfassten Indianischen Reysen (S. VII). Rollenhagen legt seine Sammlung also in chronologischer Reihenfolge an – von Alexander über Plinius und Lukian zur mittelalterlichen Legende –, und lädt den Leser dazu ein, seine Sammlung gleichsam durch eine Lukianische Brille zu lesen, der nämlich mit seiner Lügengeschichte, darin er die andern Schribenten vnd alle abergleubische thorheit der heyden auslacht / […] zu gleich mit dabey lehret / was der Welt lauff sey (S. VII). Die Brandan-Legende übersetzt oder erzählt Rollenhagen nach eigener Angabe nicht neu, sondern übernimmt den Text aus einer Legendensammlung, gedruckt von Adam Petri in Basel 1517.30 Es handelt sich trotz des Druckortes um eine niederdeutsche Sammlung, das Passionael evte dat leuent der hyllighen, im 15. Jahrhundert in Lübeck entstanden,31 die Petri nachdruckt. Die BrandanLegende ist eine Prosaübersetzung der Navigatio, deren Übersetzer unbekannt ist. Bei Rollenhagen ist der Text ins Hochdeutsche übertragen; ein nachgestellter Vermerk gibt an, dass an der Herstellung des Textes ein Valentinus Forsterus Smalcaldensis (S. 199) beteiligt war.32 Der Vergleich mit der Vorlage, dem leuent der hyllighen, in der die BrandanLegende in einem ,traditionellen‘ hagiographischen Textzusammenhang steht, lässt die Verschiebungen hervortreten, die Rollenhagen vornimmt, indem er die Heiligenerzählung in einen neuen Rahmen stellt. In seiner Sammlung erscheint Brandans Reise als abenteuerlich – doch ist dies nicht mehr vorrangig eine Frage der Erzählweise. Die Verschiebungen werden vor allem durch den Paratext ge30 Petri, Adam: Passionael evte dat leuent der hyllighen. Basel 1517. Benutzt wurden das Exemplar der Staatsbibliothek Berlin, Signatur: 4” Du 2948, sowie das Digitalisat des Exemplars der Universitätsbibliothek Basel, URL: http://www.e-rara.ch/bau_1/content/ structure/301656 (08. 07. 2016). 31 Liste der Drucke bei Zaenker, Sankt Brandan (wie Anm. 5), S. xxxiv ; der früheste Lübecker Druck aus dem Jahr 1478 stammt von Lucas Brandis. 32 Zaenker, Sankt Brandan (wie Anm. 5), S. xix–xxi, stellt die Verhältnisse bezüglich des Basler Druckes und der Übersetzerschaft richtig; ob Valentin Forster mehr als die Brandan-Legende dieser Sammlung ins Hochdeutsche übertragen hat, ist nicht zu erhärten. Zaenker vermutet, dass sich dahinter der Wittenberger Jurist Valentin [Wilhelm] Forster verbirgt, der die Übersetzung für das Vorhaben Rollenhagens beigesteuert habe.

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leistet, woran nicht nur die äußeren Elemente wie der Titel, die protestantischpolemischen Kommentierung des Textes in der Widmungsvorrede und die Versetzung in die Nachbarschaft zu antiken fabulösen Reiseberichten beteiligt sind. Im Folgenden werden die verschiedenen Ebenen der textuellen und paratextuellen Umbesetzung beschrieben und analysiert. Der Text der Brandan-Erzählung in Rollenhagens Sammlung folgt bis auf geringfügige Änderungen eng der niederdeutschen Prosafassung der Legende aus dem leuent der hyllighen. Ergänzt werden Angaben der Psalmnummern und Bibelstellen zu den liturgischen Incipits; diese werden aus dem Lateinischen übersetzt und teils verlängert wiedergegeben; auch gibt es kurze Worterläuterungen (Re f e c t o r iu m / oder speise Stube; S. 171, Hervorh. im Orig.) für das mit monastischen Termini nicht vertraute Zielpublikum. Textliche Ergänzungen, die den ,abenteuerlichen‘ Charakter unterstreichen könnten, sind nur in minimalem Umfang festzustellen. So erzählt der Augenzeuge der Paradiesinsel nicht, wie im leuent der hyllighen, schlicht von eyneme eylande (Bl. CCXLV a), sondern von einer wunderbarlichen Insel (S. 154). Die Wirkung eines Trankes, den einige der Mönche aus einer Schlafquelle schöpfen, wird steigernd gestaffelt: Schlafen die Brüder in der niederdeutschen Legende je nach Dosis drei, zwei oder nur einen Tag (vgl. Bl. CCXLIIIv b), so schlafen in Rollenhagens Lügenreise etliche zween / etliche drey / etliche neun tage (S. 175). Tragen textliche Modifikationen somit kaum zu einer Umbesetzung der Brandan-Legende bei, so kann ein erster paratextueller Eingriff in die Textgestalt schon als subtile Form der Verschiebung gewertet werden. Der niederdeutsche Prosatext ist kaum untergliedert, wenige Alinea-Zeichen, fünf insgesamt,33 markieren Sinnabschnitte: Der erste Abschnitt wird nach der letzten Station des ersten Festkreislaufs gesetzt, dem Aufenthalt auf der Insel des Klosters von Ailbe, wo Brandan und seine Begleiter Weihnachten verbringen, so wie sie es auch in den verbleibenden Jahren ihrer siebenjährigen Meerfahrt tun werden. Es folgt eine Episode, in der die Mönche einem Untier auf dem Meer begegnen, die durch Alinea-Zeichen wiederum vom folgenden Abschnitt abgesetzt wird, der den nächsten Jahreskreislauf umfasst. Eine weitere Episodengrenze wird markiert zwischen zwei wundersamen Erlebnissen auf dem Meer, die beide mit liturgischen Verrichtungen verbunden sind: Am St. Peterstag finden die Mönche das Meer so klar, dass sie bis auf den Grund sehen können, und die Fische strömen herbei, um an der Messe teilzunehmen; als die Mönche an einem anderen Tag die Messe abhalten, gelangen sie zu einer Kristallsäule, in der sich ein Kelch und eine Patene befinden. Ein letztes Alinea-Zeichen setzt die Erzählung von einem Nachwort (dazu siehe unten) ab. Die wenigen Abschnittsmarkierungen bleiben somit weitgehend am liturgischen Rhythmus orientiert, der die Zeitstruktur 33 Vgl. Bl. CCLXIIIv b; CCLXIIIIr a; CCLXVr b; CCLXVv a; CCLXVIIv b.

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dieses Textes prägt. In Rollenhagens Sammlung von Reiseerzählungen werden alle vier Bücher durch Zwischenüberschriften in Kapitel gegliedert. Die Brandan-Legende wird in neun Kapitel eingeteilt, wobei die Zäsurierung mit der Gliederung im Baseler Druck nur in zwei Fällen übereinstimmt.34 Einige Überschriften nehmen auf die liturgischen Stationen Bezug (Das Sechste Capittel / Wie sie den Grünen Donnerstag vnd Ostern halten, S. 175), ergänzen diesen jedoch um Hinweise auf gefährliche oder außergewöhnliche Begebene heiten (Das Dritte Capittel / Wie der eine Bruder stirbt / vnd sie den Grunen Donnerstag halten, S. 160; Das Vierde Capittel / Wie sie auff dem Walfisch Ostern hielten, S. 164). Der Besuch bei den Mönchen des Klosters von Ailbe wird jedoch schon nicht mehr als liturgische Station markiert, der Jahreskreislauf also nicht vollständig indiziert, stattdessen erscheint in diesem Rahmen nun das strenge Schweigegebot des Inselklosters als erstaunlich: Das Fünffte Capittel / Wie sie ins e Kloster kommen / darin die Bruder nicht reden (S. 169). Entsprechend dem Gesamttitel der Sammlung werden in den Kapitelüberschriften das Paradies (Das Erste Capittel / Wie S. Brandanus erst berichtet wird / von des Paradises gelegenheit, S. 153; Das Ander Capittel / von S. Brandani reise / nach dem Paradiß, S. 157; Das Neunde Capittel / von Paulo dem ersten Einsiedler / vnd dem Paradiß, S. 193), Himmel und Hölle hervorgehoben, wobei die Kristallsäule als Himmelssäule identifiziert ist: Das Achte Capittel / Wie die Meerthiere Meße horen / vnd sie an des Himmels Seul vnnd an die Helle kommen (S. 185). Dies lässt erkennen, dass Rollenhagen die Bedeutung der Kristallsäule als ,Verbindungsstück‘ zwischen himmlischer und irdischer Liturgie erkennt; es kommt ihm hier jedoch nicht auf diese Sinnebene an, sondern auf die fabulösen jenseitigen Reiseziele. So markiert die erste Zäsur, die bei Rollenhagen der Abschnittsbildung des Prätextes entspricht, nicht mehr das Ende des Jahreskreises, sondern den Beginn einer abenteuerlichen Begegnung: Das Siebende Capittel / von Meerwundern (S. 179). Noch gravierender sind die Veränderungen im unmittelbar rahmenden Paratext. Hier sind nicht Hinzufügungen, sondern Weglassungen zu konstatieren. Das leuent der hyllighen ist mit vielen Holzschnitten ausgestattet; jedem Abschnitt ist eine Abbildung zugewiesen, deren Formate von halbspaltenbreiten Kleinformaten bis zu ganzseitigen Tafeln reichen. Auch der Brandan-Legende ist ein Holzschnitt vorangestellt, der ein Drittel der Seite und die doppelte Spaltenbreite einnimmt. Er zeigt einen mit einer Aureole bekränzten Abt im Zentrum einer Gruppe von Mönchen, die sich in einer angedeuteten Klosterarchitektur niedergekniet und die Hände zum Gebet gefaltet haben. Der Blick des Abtes ist nach oben gerichtet, die Blickachse trifft diagonal auf eine herab34 Es handelt sich um die Markierung nach dem ersten Besuch im Kloster von Ailbe und um die Markierung zwischen den Episoden der klaren See und der Kristallsäule.

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schwebende Taube. Wie auch durch die Mehrfachverwendung des Holzschnittes erkennbar ist, wird das Sujet nicht spezifisch aus der Brandan-Legende hergeleitet, vielmehr stellt die Illustration allgemein das monastische Milieu des jeweiligen Heiligen dar.35 Obwohl der Holzschnitt die Legende visuell in die Sammlung integriert und Brandan ikonographisch mit historisch verbürgten Heiligen gleichsetzt, findet sich im Baseler Druck am Ende des Textes ein Nachwort, das der Brandan-Legende einen Sonderstatus verleiht. Der Verfasser thematisiert die fragwürdige Authentizität des Berichts und beruft sich dabei auf die Autorität des Vinzenz von Beauvais:36 De grote lerer Vincencius / de do vele hystorien beschryfft / de schryfft nicht vele van e disseme Brandano / men he secht wo id ein Abbet gewest is vnde hefft vele monnecke vnder sick ghehat / vnde hefft ok vele wandert: men dat yd alle war schal wesen alse syne e hystorien hyr vor geschreuen ludet / wil he nycht louen.37

So ist bereits im Kontext der Legendensammlung die Brandan-Legende als ein Text markiert, der aus dem Rahmen fällt. Der hystorie attestiert der Verfasser des Nachwortes einen wahren Kern, der es rechtfertigt, die Heiligenerzählung in das Passional aufzunehmen; doch wird ihr nicht der gleiche Wahrheitsanspruch zugebilligt, der hagiographischen Berichten sonst zukommt. Diese Kautele öffnet den Text für andere Rezeptionsweisen, die den unterhaltsamen mehr als den erbaulichen Zug der abenteuerlichen Legende goutieren. Eine solche Öffnung lassen auch die Einzeldrucke zu, die den Brandan-Stoff, bevorzugt in der Reise-Fassung, im 15. Jahrhundert verbreitet haben.38 Indem Rollenhagens Version die Nachrede des Prätextes unterschlägt, suggeriert sie für ihn den Status einer ,reinen‘ Legende und profiliert dadurch umso stärker die eigene Umdeutung zur lügenhaften Reisefabel. Zugleich fällt mit dem Holzschnitt auch die ikonographische Bürgschaft für einen hagiographischen ,Kern‘ der Fabel fort. Rollenhagens Sammlung ist zeittypisch mit Vignetten ausgestattet, wobei jedes Buch mit einer Schlussvignette abgeschlossen wird. Die Vignetten sind identisch, bis auf die des Lukian-Buches, das somit in der bildlichen Ausstattung besonders ausgezeichnet wird. Indem das Brandan-Buch dieselbe Schlussvignette erhält, die den Alexanderbrief und den Plinius-Auszug ziert, wird der Text 35 Derselbe Holzschnitt wird auch für den Hl. Dominikus (CXXIv) und den Hl. Vinzenz Ferrer (CCXLIIr) verwendet. 36 Dies bezieht sich auf die Ablehnung der Brandan-Legende bei Vinzenz von Beauvais: Speculum historiale, XXII, cap. 81. Nürnberg (Anton Koberger) 1483 [ohne Paginierung]. Digitalisat der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, URL: http://digital.ub.uniduesseldorf.de/ihd/content/pageview/3134543 (08. 07. 2016). 37 Der Zusatz findet sich in den bei Zaenker, Sankt Brandan (wie Anm. 5), S. xxxiv, angegebenen Drucken erstmals im Lübecker Druck von Steffen Arndes von 1492. 38 Eine Auflistung bei Fay, Sankt Brandan (wie Anm. 25), S. XIf.

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auch in dieser Sammlung visuell integriert – als fabulöser Reisebericht unter anderen. Bevor ich abschließend den äußeren Paratext, d. h. die Brandan-Passage der Widmungsvorrede, untersuche, soll zunächst die Frage nach dem Konzept von Abenteuer fokussiert werden. In Rollenhagens Sammlung findet sich nur ein einziger Beleg für das Wort, im dritten Buch, das Lukians Wahre Geschichten enthält. Die Wahren Geschichten sind eine Parodie antiker Reiseerzählungen und Naturgeschichten, wie die in den vorhergehenden Büchern durch den Alexanderbrief und den Plinius-Auszug repräsentierten, die im Gestus der (vermittelten) Augenzeugenschaft von Wundervölkern, Untieren und märchenhaften Orten berichten. Im Vorwort bekennt sich der Verfasser zur Lügenhaftigkeit seiner Erzählung und nutzt diese Lizenz nicht nur für eine kunstvolle Hyperbolik der Unglaubwürdigkeit, sondern auch für episodische Satiren auf Dichtung, Philosophie und Politik. Rollenhagen übersetzt Lukian aus dem Griechischen, der Vorrede zufolge geht dies auf Übungen zurück, die sein Vater ihm zur sprachlichen Schulung aufgetragen hatte (vgl. S. VII). Im zweiten Buch erzählt Lukian von Belebungs- und Verjüngungswundern an Bord eines Schiffes. Ein aus Holz geschnitzter Vogel beginnt mit den Flügeln zu schlagen, dem kahlen Steuermann wachsen Haare, und der Mastbaum treibt aus und trägt Früchte. Lukian bezeichnet diese Ereignisse als t]qata lec\ka ja· haulast±, als „große, seltsame Wunderzeichen“,39 wie Karl Mras übersetzt, die die Reisenden in Bestürzung versetzen und sie veranlassen, zu den Göttern zu beten. Rollenhagen übersetzt hier : wunderbarliche und seltsame abenthewer (S. 145), auch chrise tianisiert er Lukian: vnnd baten Gott den Allmechtgen / er wolte alles boses gnediglich von vns wenden (ebd.). Rollenhagens Übersetzung vermeidet die naheliegende Übersetzung ,Zeichen‘, was damit zusammenhängen könnte, dass dies in seiner Textpassage auf den christlichen Gott zu beziehen wäre. Lukians Wahre Geschichten handeln jedoch, auch im Funktionszusammenhang, den sie in der Rollenhagenschen Sammlung zugewiesen bekommen, nicht von erlogenen christlichen Wundern (diese exemplifiziert die Brandan-Erzählung), sondern von erdichteter Phantastik. Der Bedeutungsbereich von abenthewer, der in Rollenhagens Übersetzung zum Tragen kommt, ist somit der im Deutschen Wörterbuch verzeichnete kleinste gemeinsame Nenner der komplexen Wortgeschichte: Mit diesem abenteuer nun verknüpft sich stets die vorstellung eines ungewöhnlichen, seltsamen, unsichern ereignisses oder wagnisses, nicht nur eines schweren, ungeheuern, unglücklichen, sondern auch artigen und erwünschten.40 39 Die Hauptwerke des Lukian. Griechisch und deutsch. Hg. u. übers. von Karl Mras. 2. Aufl. München 1980, S. 410–411. 40 Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Art. ,Abenteuer‘. In: Dies.: Deutsches Wo¨ rterbuch. Bd. 1.

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Der Bereich der Unwägbarkeit und des Risikos, der für das Abenteuererzählen als besonders wichtig gilt und der alltagssprachlich noch im 15. Jahrhundert die Wortverwendung in der Kaufmannssprache prägt,41 spielt hier kaum eine Rolle, wenn er denn nicht im ominösen, Bestürzung auslösenden Charakter der t]qata mitschwingt. Aus dieser singulären Verwendung ist zwar kein umfassendes Konzept von Abenteuer herauszulesen, dennoch ist es signifikant, dass der einzige Beleg von abenthewer just solche Lucianische possen (S. VIII) bezeichnet, wie sie der Vorrede zufolge auch die Brandan-Legende aufweist. Rollenhagen kündigt in seiner Widmung die Brandan-Erzählung in der Manier konfessioneller Polemik an: Wie unverschampte grobe vnd greiffliche Lügen aber in den vorigen schreiben alle sein / so haben doch die Gottes und Ehrvergessene Münche sich nicht geschemet / ihren vnschuldigen Heiligen solche Lucianische possen anzudeuten. Die Heilige Schrifft vnter e die Banck zu stecken / vnnd an der stat offentlich Fabelwerck zu predigen. Wie denn in aller Heiligen Merterer Legenden zubefinden / vnd von den Antichristischen Jesuwiderigen Heuchlern des Römischen Pabstes in ewigkeit mit grund der Warheit nicht kan e entschuldiget werden. (S. VII)

Gestützt auf diese Passage hat die Forschung eine konfessionelle Intention als maßgeblich für die Präsentation des Brandan-Stoffes bei Rollenhagen angesetzt: „Die frühmittelalterliche Heiligenlegende erscheint hier im Dienste protestantischer Polemik“.42 Diese Einschätzung greift jedoch meines Erachtens zu kurz, wenn man den gesamten Paratext, die Um-Rahmung der Legende in Rollenhagens Sammlung als Ganzes betrachtet. Rollenhagens Kritik weist vordergründig eine religiöse Stoßrichtung auf; doch laufen die Indianischen Reisen nicht auf einen protestantischen Angriff auf die Heiligenverehrung zu. Die anti-katholische Invektive greift einen am Anfang des 17. Jahrhunderts längst eingeführten Leipzig 1854, Sp. 27–31, hier Sp. 27. Zur weitaus komplexeren Semantik von Aventiure als „literarische[m] Kernbegriff“ vgl. Wegera, Klaus-Peter : „mich enhabe diu .ventiure betrogen“. Ein Beitrag zur Wort- und Begriffsgeschichte von .ventiure im Mittelhochdeutschen. In: ]gel, Vilmos u. a. (Hg.): Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann. Tübingen 2002, S. 229–244. 41 Vgl. die Belege zu Abenteuer unter dem Lemma ,Risiko‘. In: Wörterbuch der deutschen Kaufmannssprache. Auf geschichtlichen Grundlagen mit einer systematischen Einleitung von Alfred Schirmer. Straßburg 1911, S. 163; Kuske, Bruno: Die Begriffe Angst und Abenteuer in der deutschen Wirtschaft des Mittelalters. In: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung (Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung) N. F. 1 (1949), S. 547–548. 42 Fay, Sankt Brandan (wie Anm. 25), S. X; ebenso der Kommentar zu Rollenhagen bei Burgess / Strijbosch, Legend of St. Brendan (wie Anm. 4), Nr. 710: „This work was intended as a polemic against Catholics.“ (S. 226). Einschränkend schon Hahn / Fasbender, Brandan (wie Anm. 7), S. 220: „Nur scheinbar ist auch Rollenhagens hochdeutsche Bearbeitung der ,Navigatio‘ von derselben Geringschätzung gegenüber dem überkommenen Stoff gekennzeichnet […].“

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Modus auf, Legenden als Lügengeschichten zu verspotten und dabei das Mirakulöse im gleichen Zuge, in dem es als Ärgernis gegeißelt wird, zur Belustigung anzubieten.43 Rollenhagens Ankündigung des vierten Buches vollzieht eine solche Doppelbewegung, denn indem er das Lügenhafte der Legende unterstreicht, deutet er auch das Unterhaltungspotential der Brandan-Reise an, das sie entfalten kann, wenn sie in einer auf Satire eingestellten Rezeptionshaltung gelesen wird. Mir scheinen so weniger die Antichristischen Jhesuwidrigen Heuchler als vielmehr die Lucianischen possen den Schlüsselbegriff dieser Passage zu bilden.44 Im Unterschied zur Verwendung des Fabelwercks in der Predigt, die mit grund der Warheit nicht zu rechtfertigen ist, legitimiert sich die satirische Tendenz der Sammlung durch die Haltung, die Brandan-Legende als Exempel […] zu besehen (S. VIII), das vorführt, welch abenteuerliches Seemannsgarn auch die Mönche zu spinnen im Stande waren. So scheint sich das Verhältnis zwischen protestantischer Polemik und der Präsentation der Legende hier eher umgekehrt zu verhalten: Die Brandan-Legende steht weniger im Dienst protestantischer Kritik als vielmehr die protestantische Kritik im Dienst einer abenteuerlichen Lektüre von Brandans Meerfahrt zum Paradies.

43 Den Anfang macht bekanntlich Luther, der mit seiner „Lügende“ sehr viel ernsthafter gegen die Praxis zielt, Menschen als Mittler zwischen Gott und den Gläubigen zu verehren; vgl. Luther, Martin: Von St. Johanne Chrysostomo. In: D Martin Luthers Werke: Kritische Gesammtausgabe. Bd. 50. Weimar 1914 [unveränd. Nachdruck 1967], S. 48–52. 44 Die Ernsthaftigkeit der Vorrede lässt sich auch an anderen Stellen in Zweifel ziehen. So greift Rollenhagens Kombination von Etymologie und Euhemerismus, mit der er Bacchus, dessen Indienzug Alexander inspiriert habe, als „A b b a C h u s“ auf Noah zurückführt (vgl. S. V–VI), zwar gelehrte Diskurse auf, lässt sich aber wohl als Witz für Eingeweihte verstehen, zumal Rollenhagen kaum vorzuwerfen ist, dass er die Chronologie von griechischer und römischer Mythologie übersehe.

Susanne Knaeble (Universität Bayreuth)

Erzählen von den ,Abenteuern des Geschlechts‘ in der Melusine des Thüring von Ringoltingen

Abenteuer sind in Thürings von Ringoltingen Melusine zentral an das Geschlecht gebunden – verstanden sowohl als genealogisches Konzept als auch ¨ r ist hierbei sowohl auf die Vergangenheit als als Genderkategorie: abent[h]ew auch auf die Zukunft bezogen. Das Besondere der ,Abenteuer des Geschlechts‘ in der Melusine ist, dass nicht von einem Helden erzählt wird, der sie besteht, sondern vom Scheitern der männlichen Protagonisten (über Generationen hinweg) und der Nicht-Bewältigung von Herausforderungen.1 Das Spezifische ¨ r in der Melusine liegt in ihrer Offenheit, d. h. zum einen in der der abent[h]ew Grenzüberschreitung des Abenteuers von der Textwelt zum Rezipienten als auch zum anderen in der Formulierung eines offenen Zukunftshorizonts.2 Der Begriff ¨ r findet seinen signifikanten Niederschlag auf einer Steintafel, welche abent[h]ew die Fee Persine in der Grabkammer ihres Mannes anbringen ließ, worauf das Wissen um die Vergangenheit respektive die ausstehenden Abenteuer ihrer verfluchten Töchter verzeichnet sind. Hieran ist eine exzeptionelle narrative Konzeption von Abenteuer geknüpft, die es im Folgenden zu erschließen gilt: Das Abenteuererzählen in der Melusine lässt sich – so wird im Folgenden zu zeigen sein – als Scharnierstelle zwischen mittelalterlichen Erzähltopoi und neuzeitlichen Erzählparadigmen vorstellen, wobei Brüche im Erzählen und fragmentierende Erzählweisen identifizierbar sind, welche in den bekannten mittelalterlichen Darstellungsparadigmen des Abenteuers eine Nische für neue Erzählstrategien des Abenteuererzählens schaffen.3 1 In den Abenteuern der Melusine wird nämlich nicht in der ironisierenden oder lächerlichen Form vom Scheitern erzählt, wie sie etwa der späte Artusroman kennt. 2 Eine ausführliche Begründung eines narrativen Konzepts der ,offenen Zukunft‘ in der Melusine des Thüring von Ringoltingen lege ich in meiner Habilitations-Schrift (Zukunftsvorstellungen in frühen deutschsprachigen Prosaromanen) dar. Die hier vorgestellten Überlegungen zum Abenteuerkonzept gründen zum Teil auf darin formulierten Beobachtungen und Interpretationen der Melusine. 3 Dieser Untersuchung ist die Augsburger Druckfassung Johann Bämlers nach der Ausgabe von Jan-Dirk Müller zugrunde gelegt: Müller, Jan-Dirk (Hg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Frankfurt a. M. 1990. Die Ge-

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¨ r des Geschlechts im Fokus von Gender und Die abent[h]ew Genealogie

Erzählt wird in Thürings generationenumgreifendem Prosaroman Melusine zunächst von Reymund, einem aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Adligen, der ungewollt seinen Onkel und Gönner, den Grafen von Poitiers, ohne weitere Augenzeugen bei einem Jagdunfall im Wald tötet, und seiner Begegnung mit der teilweise dämonischen oder feenhaften Melusine, die ihm viele Söhne schenkt und ihm zugleich zu großem Glück, Reichtum und Herrschaft verhilft. Um ihre Hilfe zu erlangen, schließt Reymund mit Melusine einen Pakt, der das Tabu beinhaltet, sie niemals an Samstagen aufzusuchen oder sich nur nach ihr zu erkundigen. Durch seinen Bruder angestachelt, der ihm das Gerücht unterbreitet, seine Frau würde an Samstagen Unzucht treiben, bricht Reymund sein Versprechen, und er entdeckt Melusine nackt im Bade, wo sie nur am Oberkörper als wunderschöne Frau anzusehen ist, jedoch vom Nabel abwärts einen Schlangen- oder Wurmschwanz trägt. Der Tabubruch bleibt nicht unbemerkt von Melusine, doch zeigen sich die Konsequenzen erst, als Reymund im Zorn über ihren gemeinsamen Sohn Geffroy, der seinen Bruder Freymund gemeinsam mit dessen Mönchsbrüdern im Kloster Malliers verbrannt hat, das Geheimnis in der Öffentlichkeit lüftet und Melusine vor den Augen des gesamten Hofes als Schlange bezeichnet. Melusine hat durch diese Tat Reymunds ihre Erlösungsfähigkeit4 verloren, und springt in drachenartiger Gestalt aus dem Fenster,5

schichte der Melusine zählt zu den populären europäischen Mythen. Im Mittelpunkt steht eine sogenannte Mahrtenehe, d. h. die Verbindung eines Menschen mit einem dämonischen oder feenhaften Wesen. Bei der Melusine des Berner Patriziers Thüring von Ringoltingen handelt es sich um einen deutschsprachigen Prosaroman, entstanden um 1456, der den französischen Versroman Couldrettes zur Vorlage hat. Als älteste Überlieferung gilt in der Forschung eine Handschrift von 1472. Die Frage nach dem Erstdruck des Textes wurde in jüngerer Zeit heftig diskutiert, und insbesondere Ursula Rautenberg, Andr8 Schnyder und Catherine Drittenbass plädieren für den Baseler Druck von Bernhard Richel, datiert auf spät im Jahr 1473 oder anfangs 1474. Vgl. Rautenberg, Ursula: Die Melusine des Thüring von Ringoltingen und der Basler Erstdruck des Bernhard Richel. In: Schnyder, Andr8 (Hg.): Thüring von Ringoltingen. Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. Bd. 2. Wiesbaden 2006, S. 61–99, sowie Drittenbass, Catherine: Aspekte des Erzählens in der Melusine Thürings von Ringoltingen. Dialoge, Zeitstruktur und Medialität des Romans. Heidelberg 2011. Auch JanDirk Müller hat seine Aussage, der Augsburger Druck mit den Holzschnitten Johann Bämlers sei der Erstdruck, später revidiert. Vgl. Müller, Jan-Dirk: Augsburger Drucke von Prosaromanen im 15. und 16. Jahrhundert. In: Gier, Helmut / Janota, Johannes (Hg.): Augsburger Drucke und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1997, S. 337–352. 4 Die Erlösungsfähigkeit Melusines bezeichnet die Möglichkeit, als Mensch zu sterben. Diese kann sie allerdings nur erlangen, indem sie einen Mann findet, der ir das schwern vnd geloben e o solt das er an keinem samstag sy¨ nymmer ersuchen noch nach ir fragen / sunder sy¨ vnbee kummert vnd denselben tag gancz frey¨ lassen solt. vnd sy¨ auf disen tag nicht sehen. noch dise

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wonach sie zwar noch nächtlich ihre zwei jüngsten Söhne an die Brust legt, ansonsten aber ihr menschliches Dasein als vrouwe am Hof aufgibt. Die Erzählung fokussiert darüber hinaus die Taten und Erlebnisse der Söhne Reymunds und Melusines, allen voran die Geschichte ihres Sohnes Geffroy. Geffroy ist einigermaßen archaisch gezeichnet (seine Entscheidung, das Kloster mit seinem Bruder darin niederzubrennen, ist durch Zorn motiviert) und zugleich ist er diejenige Figur, die einem ritterlich-höfischen Helden am nächsten kommt. Er sucht den Kampf gegen den heidnischen Riesen Grymmolt, den seine Großmutter Persine zum Schutz des Grabes ihres Gatten, des Königs von Albanien, dort disponierte, um zu verhindern, dass irgendjemand in die Kammer eindringt, der nicht aus ihrem eigenen Geschlecht entstammt. Von den Landesfürsten, die unter dem das Land verheerenden Riesen zu leiden haben, erfährt Geffroy sowohl, dass dem Riesen der Tod im Kampf gegen einen Ritter aus Persines Geschlecht prophezeit ist, als auch, dass ihr Herr, König Helmas, aufgrund eines Tabubruchs gegenüber seiner Frau – ihm war verboten, sie im Kindsbett aufzusuchen – von seinen Töchtern im Berg eingeschlossen wurde, wo er schließlich auch verstarb (vgl. 135, 5–32). Geffroy tritt daraufhin als Gottesstreiter auf, der im Dienste Gottes und mit dessen Beistand den Sieg über Grymmolt zu erringen sucht. So wendet er sich mit der ritterlichen Begründung seiner Tat und christlicher Hoffnung an Gott. Der Einblick in seine Gedanken lässt erkennen, dass er den festen Entschluss gefasst hat, im Modus der ritterlichen Aventiurefahrt durch seine Tat die Prophezeiung Realität werden zu lassen: e

Nun wolan jch waiß das der riß hir jnnen ist vnd es haben auch dery¨ tochter des durchleüchtigen hochgepornen künigs Helmas denselben künig iren vater hir jnnen ¨ r ist Nun hab ich y¨e gschworen vnd wil noch von beschlossen. das ein fremde abentew disem land nit kommen. Er sey¨ dann vor von meiner hant gancz überwunden vnd e e ertotet. Darumb verleihe mir die gotliche krafft seld vnd hey¨l Jch wil y¨e in dem namen e o gotes vnd vmb cristenlichs gelaubens willen den risen furbar suchen der doch ein heide e o vnd vngelaubig ist. als ich das in seinen noten verstund (137, 3–13)6

¨ r ist hier dezidiert an das Erzählen gebunden; er Der Begriff der abent[h]ew referiert auf die Geschichte über König Helmas, welche die Landesfürsten Geffroy erzählt haben. Zugleich bezeichnet er aber auch eine ritterliche Aufgabe: Geffroy sucht den heldenhaften Kampf auf Leben und Tod, der ihn entweder zum e

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gehey¨m ny¨mant sagen solt. vnd ob er also thett vnd hielt / das sy¨ dann lebte alle ir tag vnd zu e e leczt sturbe als ein ander totlich mensch (139, 28–140, 2). 5 Auf die differenzierte Lesbarkeit Melusines als ,Schlange‘ oder ,Drache‘ gehe ich an anderer Stelle weiter ein, vgl. Hufnagel, Nadine u. a.: Krise und Zukunft. Studien zu einem transkulturellen Phänomen (in Druckvorbereitung). 6 Die Markierungen sind nicht Teil des Drucks, sondern erfolgen hier und im Folgenden als Hervorhebungen der Verfasserin.

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Sieger über den Riesen kürt und die Weissagung wahr werden lässt oder aber seine eigene Geschichte als heldenhafter Streiter beendet. Er agiert hier dezidiert im Modus der Aventiure suchenden Helden in den höfischen Romanen, deren Gottvertrauen in der Regel ihre Furchtlosigkeit im Kampf und Siegessicherheit bewirkt, und zwar bei gleichzeitiger Bereitschaft, das Leben zu verlieren – ebenso furchtlos reitet Geffroy in den Kampf gegen den Riesen (on sorg vnd on alle vorcht des rißen, 136, 14f.). Geffroys emotionale Haltung der Furchtlosigkeit ist hier durch sein Vertrauen in Gott begründet, was überdies durch die Interpretation des Holzschnitts unterstützt wird, auf welchem Geffroy mit seiner Lanze im Gebet kniend vor dem Eingang des Berges dargestellt ist.7 Doch noch bevor Geffroy den Riesen Grymmolt in dem Berg ausfindig machen kann, stößt er auf eine prachtvoll ausgestattete Kammer, in deren Mitte ein mit Edelsteinen bestücktes Grab auf sechs goldenen Pfeilern steht. Auf dem Grab ist ein königliches Paar abgebildet, und die weibliche Figur hält eine steinerne Tafel in den Händen, auf welcher die Geschichte von Melusines Eltern, ihrer Mutter Persine und des König Helmas, niedergeschrieben ist (vgl. 138, 4–139, 16): Die Fee hat ihrem Gemahl das Versprechen abgenommen, sie niemals im Kindsbett zu besuchen oder sich in dieser Zeit nach ihr zu erkundigen. Da 7 Müller, Romane (wie Anm. 3), S. 136 (Holzschnitt). Geffroys Worte machen nur einen Teil seiner Handlungsmotivation einsehbar, während der Holzschnitt auch das sich hinter dem knienden Geffroy befindende Schloss des Königs Helmas fokussiert. Einer der Landesfürsten hatte Geffroy zuvor dargelegt, dass der Nachfolger Helmas’ das Land gegenüber Grymmolt nicht schützen konnte und das Volk der Gewalt des Riesen bis zur Ankunft Geffroys ausgeliefert sei. Von Geffroy wird daher die Erlösungstat erwartet (Vnd der nun zemal vnser künig ist mocht vns nit vor im gefristen vnd hat vns also übergeben. darumb wir gancz in seiner handt vnd auch seiner vordern gewalt gestanden sey¨n. Sy¨der vnser künig Helmas also in den velsen o ¨ er gegenwertige zuo kunfft, 135, vns allen zu grossem vngeuelle beschlossen wart piß auff ew 33–136, 6). Der Holzschnitt legt schließlich wesentlich deutlicher als Geffroys Rede den Fokus auf seine Motivation, das Erbe des Königs Helmas anzutreten. In seinen Worten lässt der Ritter lediglich erkennen, dass die Geschichte des Königs Helmas eine merkwürdige sei, die er ¨ r ist). Sowohl aufgrund jedoch nur bedingt auf sich selbst bezieht (Das ein fremde abentew seiner Vorstellung des Herrschaftserwerbs durch ritterlichen Kampf als auch aufgrund seines Gottvertrauens ist Geffroy als ,klassischer Held‘ des höfischen Romans lesbar. Allerdings sind die topischen Erwartungen, die an diesen Handlungsmodus geknüpft sind, verschoben, denn die providentia wird für Geffroy nicht durch den Gottesbezug geleistet, sondern vielmehr durch die Bestimmung seiner Großmutter Persine – und damit durch Genealogie: Geffroy erwartet durch seinen ritterlichen Kampf und die Hilfe Gottes, des Königs Helmas Nachfolger zu werden; in der Tat ist ihm dies auch vorherbestimmt, doch eben nicht von Gott, sondern aufgrund seiner genealogischen Wurzeln. Geffroys Zukunftsperspektive der Kontingenzbewältigung durch den christlichen Gott weitet und verschiebt sich durch das Mehrwissen über seine Ahnen (zu welchen er in der Grabkammer gelangt) schließlich zu einer Form der Kontingenzbewältigung durch Genealogie, worauf ich später nochmals zurückkomme. Zur Analogie des Absteigens in die Höhle mit der Auffindung der Wurzeln des Stammbaumes vgl. auch die Überlegungen von Keller, Hildegard Elisabeth: Berner Samstagsgeheimnisse. Die Vertikale als Erzählformel in der „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 127.2 (2005), S. 208–23, insb. S. 214.

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Helmas sein Gelübde bricht, verlässt Persine Helmas und entzieht ihm auch seine drei Töchter. Die jüngste Tochter, Melusine, stachelt ihre Schwestern dazu an, den Eidbruch des Vaters zu rächen, und die Schwestern schließen König Helmas in einem Berg ein, worin er schließlich verstirbt und Persine ihm ein Grabmal mit einer steinernen Gedenktafel errichten lässt: Darumb das die / die dise tafel ansehen oder lesen sein ingedenck weren / dann darein hat kein mensch mügen kommen Ee were dann desselbigen geschlechtes von mir Oder e von meinen tochtern herkommen Den risen so sy¨ wartet den hab ich sey¨ t das mein e ¨ r gehutet hat das ny¨emandt gemahel der künig herkam dar gelegt / der dieser abenthew o darzu komm der nit von vnserm geschlecht were (139, 17–24)

Die ,Abenteuer des Geschlechts‘ besitzen in der Formulierung auf Persines Steintafel sowohl Gender- als auch dynastische Qualitäten: In Bezug auf den Genderkonflikt betreffen sie das wiederholte Scheitern der männlichen Protagonisten und die Erlösungsbedürftigkeit der weiblichen Nachfolger der Linie, in Bezug auf die Dynastie die genealogische Prädestination noch ausstehender Taten. Der Genderkonflikt ist hierbei durch eine Art magischen Wiederholungszwang bestimmt: Reymund hat für kurze Zeit auf Melusines Anblick zu verzichten, doch da er es nicht vermag, den Herausforderungen dieses Kontrollverlusts standzuhalten,8 ist ihm Melusines weibliches Antlitz auf ewig entzogen (obwohl sie im Gegensatz zu ihrer Feenmutter Persine noch in der Welt der Menschen zugegen ist). Auch Persines Kontaktverbot bedeutet für König Helmas einen Kontrollverlust, insbesondere aber den Verlust an Kontrolle über seine Nachkommen – was sich dadurch bestätigt, dass nicht Persine selbst ihn straft, sondern eben seine Töchter. So, wie Reymunds Strafe die Übertretung des durch Melusine ausgesprochenen Sichtverbots spiegelt, indem ihm ihr menschlicher Anblick entzogen ist, so spiegelt auch Helmas Strafe seinen Tabubruch wider :9 Während Persine von Helmas für eine kurze Zeit die Isolierung von sich und insbesondere seinem Nachwuchs fordert, so strafen die Töchter ihren Vater für seine Untreue mit der völligen Isolation im Berg bis zu seinem 8 Konkret besteht die Herausforderung für Reymund hierbei darin, trotz der Warnung vor ,übler Nachrede‘ in der Öffentlichkeit, sein Gelübde nicht zu brechen und den Kontrollverlust über seine Frau zu akzeptieren. 9 Vgl. hierzu auch Drittenbass, Aspekte (wie Anm. 3), S. 224: „Erst im Anschluss an die im Zentrum stehende Mitteilung des Tabubruchs lässt Persine den Leser der Grabinschrift wissen, was es mit der Todesursache Helmas’ auf sich hat: Auf Melusines Initiative hin, haben die drei Töchter den Vater aus Rache im Berg Awalon eingeschlossen (Z. 2545–2550). Die Bestrafung des Vaters verhält sich also umgekehrt parallel zu seinem Vergehen. Dem Besuchsverbot Persines entspricht die Einschließung in den Berg, womit Helmas weder Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen, noch von dieser aufgesucht werden kann. Diesbezüglich zeichnet sich eine Analogie zur Melusinengeschichte ab, denn Reymonds Zuviel an Sehen wird unter anderem mit dem Verlust von Melusines Anblick in menschlicher Form bestraft: doch machtu mich hin fur in wiplich nature nit me gefehen (Z. 8182f.)“.

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Tode. Persine hingegen hat – ebenso wie ihre Tochter Melusine – das genealogische Band zu ihren Kindern gefestigt: Sie legt die Mädchen an einem verborgenen Ort selbst an die Brust, und erst als die jungen Frauen das Alter von ¨ ihres Manfünfzehn Jahren erreicht haben, berichtet sie ihnen von der vntrew nes. Der Fakt, dass Melusine und ihre Schwestern wiederum selbst gegen ihren Vater vorgehen, macht sie aus Sicht der Mutter gleichfalls straffähig, und so belegt sie ihre Töchter mit Flüchen, die in ihrer Tabustruktur zugleich ihr eigenes Schicksal widerspiegeln. ¨ r : Durch Was der Riese schützt, nennt Persine expressis verbis ein abenthew die Manifestation der Geschichte des Geschlechts auf der Steintafel und mit Hilfe ihrer übermenschlichen Fähigkeiten sorgt die Fee schließlich dafür, dass das Abenteuer in die richtigen Hände gelangt, d. h. hier in die Hände eines ihrer Nachkommen. Sie lässt den Berg nämlich von einem Riesen schützen, der von ¨r niemandem besiegt werden kann, es sei denn, er ist ihr Nachfahre. abenthew bezeichnet hiernach ein spezifisches genealogisches Wissen, das zum einen die besonderen Fähigkeiten der Nachkommen aus der Vergangenheit ihrer Abstammung heraus erklären kann und das ihnen zum anderen Aufgaben für die ¨ r ist dabei in erster Linie auf die Zukunft auferlegt. Der Begriff des abenthew Flüche der Töchter ausgerichtet und reflektiert den Aventiurebegriff der höfischen Literatur, welcher immer Providenz und Kontingenz bedeutet, und resemantisiert ihn zugleich: Der Kampf ist dem Helden wie in der höfischen Aventiure vorherbestimmt, doch für den richtigen Ausgang hat er selbst zu sorgen. Anders ist jedoch, dass nicht Gott als übergeordneter Bezugspunkt von rechter Ordnung fungiert, an diese Stelle tritt die genealogische Prädestination. Das Neue des Abenteuererzählens in der Melusine ist dabei die spezifische Offenheit des Abenteuers, die zugleich auch den Rezipienten betrifft: Die Inschrift auf der Grabtafel enthüllt dem Rezipienten gemeinsam mit Geffroy neben der Geschichte des König Helmas und der Fee Persine aus dem Reich Awalon auch das Schicksal von Geffroys verfluchter Mutter Melusine und ihren ebenso verfluchten Schwestern Meliore und Palantine. Doch nicht nur das Vordringen zu Herkunft und Vergangenheit, den ,Wurzeln des Geschlechts‘, ist hierbei mit dem Abenteuererzählen verknüpft, sondern insbesondere auch die Zukunft des Geschlechts, denn Melusines Schwestern sind durch die Flüche Persines jeweils an ein spezifisches Abenteuer gebunden, welches Erlösung für das Geschlecht bedeuten könnte.

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Genealogie und die Fallstricke der Minne: Meliores ,Sperberabenteuer‘

Die zweitälteste Tochter Persines ist Meliore, welcher ein Abenteuer zugeordnet ist, das ebenso symptomatisch den Kontrollverlust des Mannes über die Frau thematisiert. o

vnd wer dise abenteür gewy¨nnen wil / der muß dem sperber drey¨ nacht vnd drey¨ tag e wachen on alles schlaffen / Vnd darumb welcher ritter das volbringen mocht. der e mocht dann ein gob vordern von ir / doch also das er iren leib noch sy¨ nit vordert vnd e das kein ritter auch do nit wachen sol. dann der von hoher gepurt kommen were. Vnd e ¨ r vnderwünde oder vnderstunde vnd die abentew ¨r welcher ritter sich der abenthew e gewünne dem wurd ein gab von zeitlichen dingen das er vorderte. außgenommen die iunckfrawen. (140, 7–16)

Das ,Sperberabenteuer‘ impliziert hiernach eine Prämisse und zwei Schwierigkeiten, in welche der Held geraten kann: Die Prämisse, um das Abenteuer überhaupt angehen zu können, ist durch die adelige Abstammung gegeben, welche zugleich markiert, dass es sich um ein höfisches Abenteuer handelt. Die erste Schwierigkeit liegt in der Kunst, drei Tage und Nächte lang beim Sperber zu wachen. Diese schlaflose Sperberwacht symbolisiert den ritterlichen Minnedienst und zitiert die Selbstkontrolle des Mannes, dem der gewaltsame Zugriff auf die Frau versagt bleiben muss.10 Die zweite Schwierigkeit, welche Meliores Abenteuer birgt, ist hiermit unmittelbar verknüpft: Die Minne ist kein Tauschhandel und ihr Lohn nicht einforderbar. So stellt Meliores Leib eben jene Gabe dar, welche der Ritter nach erfolgreichem Dienst gerade nicht fordern kann, genauso wie der Minnedienstleistende sich die Frau nicht gewaltsam als Lohn nehmen kann, da die Entscheidung über den Minnelohn nach höfischer Konvention allein der Frau obliegt. Die Anforderungen des ,Sperberabenteuers‘ sind schließlich als Anforderungen zu verstehen, die Kontrolle in die Hände der Minnedame zu legen. Die Strafe für das Versagen während der Wacht ist wie bei den anderen Tabubrüchen eine spiegelbildliche Strafe: Der Ritter wird zum Gefangenen Meliores bis zum Jüngsten Tag. Ihm wird, hat er in seiner Selbstkontrolle versagt, jegliche Kontrolle entzogen, indem er Meliore vollständig 10 Jagdvögel sind aufgrund ihrer schwierigen und intensiven Zähmungszeit und ihrer Schönheit häufig Symbol der Minne und signifizieren hierbei gerne das Verlangen einer der beiden Liebenden, v. a. des Mannes (so z. B. im Parzival in der ,Blutstropfenszene‘; vgl. auch Rösener, Werner : Jagd und höfische Kultur im Mittelalter. Göttingen 1997, S. 510). Der Sperber als besonders höfischer Jagdvogel ist hierbei als Symbol der höfischen Kunst der Minnewerbung zu lesen, denn sein hoher Wert geht auf die mühsame Pflege und Arbeit mit dem Jagdvogel zurück. Ebenso hat sich der Ritter in diesem Abenteuer mit voller Konzentration nur dieser Aufgabe zu widmen: auszuharren – schläft er ein, bzw. lässt er nach in seiner Werbung, ist er gescheitert.

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ausgeliefert ist. Im Falle Meliores ist jedoch, anders als bei Melusine, das erfolgreiche Bestehen des Abenteuers gerade nicht unmittelbar an ihre Erlösung geknüpft, denn die Belohnung, die im Erfolgsfall erlangt werden kann, ist nur ein irdisches Gut.11 Ein alter Mann expliziert Gys, dem Enkel Melusines, welcher das o ¨ r diß schloßes, Abenteuer zu bestehen sucht (jch such die gewonheit vnd abentew 157, 33f.), die näheren Umstände des Abenteuers, während er ihn in den Sperbersaal des Schlosses begleitet (vgl. 158, 10–17). Nach seiner Aussage konzentriert sich die Schwierigkeit nämlich nicht auf das Bestehen des Abenteuers, sondern vielmehr auf die Forderung der Gabe, welche gerade nicht auf die Frau gerichtet sein darf und somit mit der Tradition des Aventiureschemas bricht, durch erfolgreiches Bestehen des Abenteuers Land und Frau gewinnen zu können.12 Hier werden an den Protagonisten neue Anforderungen gestellt, die Gys jedoch als völlig unnachvollziehbar erscheinen. Aus seiner Perspektive ist der eigentliche Zweck des Abenteuers, der aus seiner höfischen Perspektive im Gewinn von Frau und Land liegen muss, schlicht verfehlt:13 e

e

o

Der künig antwurt vnd sprach Jch hoff ich sol vnd wolle genug wachen vnd die o ¨ r gewynnen Aber sein hercz stund darauf das er meint ob er die abentew ¨r abentew e e gewünne so wolt er y¨e die schonen iunckfraw gewynnen vnd haben sunst anders nichcz. doch so saget er ny¨emant seinen willen Vnd hett er dem alten man geuolget das e e wer im paß erschossen dann sein torete begier vnd furnemen als ir horen werdent. (158, 17–159, 4)

Der Erzähler schilt Gys’ Wunsch und geheimes Vorhaben, die Frau gewinnen zu e wollen, entsprechend als torete begier vnd furnemen, was er mit einer Prolepse zu Gys’ künftigem Unglück verknüpft. Diese besondere Beobachterposition ist ihm nicht nur durch sein Wissen über den weiteren Verlauf der Handlung gegeben, sondern der Erzähler verfügt hier überdies über ein spezifisches Wissen über die Verhältnisse des Abenteuers, welches der Figur dezidiert vorenthalten ist: Er formuliert eine Einschränkung der Möglichkeiten, das Abenteuer zu bestehen, die weder auf Persines Tafel verzeichnet ist noch von dem alten Mann 11 Vgl. hierzu die Anmerkung Müllers, der auf das Spiel mit den Regeln höfischer Aventiure hinweist und dabei auch die Umbesetzung der Regeln betont: „Coustume (v. 5913), eigentlich ,Rechtsbrauch‘, heißen die besonderen Bedingungen einer .ventiure im höfischen Roman, eine zum undurchschaubaren Zwang gewordene Regel, die der Held durch seine Erlösungstat aufhebt […]. Eben dieser Erlösungscharakter fehlt dem Sperberabenteuer ; unablässig muß es wiederholt werden; gewonheit ist nurmehr eine Spielregel“. Müller, Romane (wie Anm. 3), S. 1082. 12 Etabliert ist die Tradition des Gewinns von Land und Frau durch Aventiure in der besonderen Verknüpfung mit einem Sperber in der höfischen Literatur bereits im ,Sperberkampf‘ in Hartmanns Erec. 13 Ebenso legt der Holzschnitt (vgl. Müller, Romane [wie Anm. 3], S. 158) in seiner Darstellung nahe, dass das Bestehen des ,Sperberabenteuers‘ zum Gewinn von Frau und Land führt, da diese gemeinsam mit dem Sperber darauf abgebildet sind.

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genannt wird, der Gys das ,Sperberabenteuer‘ erläutert. Hierin liegt zugleich ein wichtiger Hinweis auf die Deutung des Tabus verborgen, Meliore als Gewinn zu o e fordern: […] vnd darczu must er von hoher gepurdt sein / vnd des stammen vnd geschlechtes von Lusinien (157, 14–16). Der Schlüssel zu Meliores Erlösung ist in eben dieser zusätzlichen Bestimmung versteckt: Das ,Inzesttabu‘ entpuppt sich als das eigentliche ,Abenteuer des Geschlechts‘,14 für welches die Sperberwacht lediglich eine Art minnethematisches Vorgeplänkel ist. Denn während die hohe Abstammung mehr als deutlich genannt ist, findet der Zusatz, der Held müsse dem Geschlecht der Lusignan entstammen, sonst keine weitere Erwähnung. Die Einschränkung der Preiswahl avanciert hierdurch zur zwingenden Notwendigkeit, d. h. sie ergibt sich aus dem impliziten Inzestverbot. Gys hingegen, welcher über dieses genealogische Wissen eben nicht verfügt, erscheint diese Einschränkung aus seiner höfischen Perspektive fraglos als widersinnig, zumal sich ihm Siegen oder Verlieren ganz anders darstellt. Als er nämlich die Räume des Palasts erforscht, findet er einen Raum, in welchem alle Ritter, die sich an dem Abenteuer versucht haben, sowohl mit Namen als auch mit Jahr, Tag und Zeitpunkt ihres Erscheinens auf der Burg auf heraldischen Gemälden dargestellt sind. Das Bestehen des ,Sperberabenteuers‘ ist eine fifty-fifty Chance, da jeweils drei Gewinner und drei Verlierer abgebildet sind (vgl. 159, 9–34), was wiederum dem ,Sperberabenteuer‘ der Melusine den Status einer ,Bestimmungsaventiure‘15 nimmt und stattdessen einen Spielcharakter etabliert, indem gleich mehrere Ritter das Abenteuer antreten und gewinnen können – oder auch verlieren. Die Verlierer seien dazu verdammt, piß an den iüngsten tag hie [zu] sein vnd beleiben vnd [Melior zu] dienen vnd eren alle zeit vnd stund (159, 21f.). Von den Gewinnern heißt es: o

e

vnd bey¨ der y¨eglichem do stunde ein iar zal vnd der tag vnd sein nam das ein solcher ritter do gewesen were vnd auch wol gewachet vnd sein gob redlich gewunnen hett auch ¨ r siten vnd recht vnd die geuordert nach gewonhey¨t des schlosses vnd der abentew e e o auch die mit im hey¨ m gefurt. Nun was die kamer gar kostenlichen gemalet vnd stund auch bey¨ den drey¨en rittern vnder ir y¨eglichem geschriben das lant oder künigkreich auß dem der ritter was der die gob gewunnen vnd so wol gewachet hett / vnd was e e y¨egklicher fur sein gob vnd mit im herrlichen hingefuret hett (159, 25–34)

14 Klinger liest den gesamten Roman dementsprechend um das Thema Inzest inszeniert. Vgl. Klinger, Judith: Gespenstische Verwandtschaft. Melusine oder die unleserliche Natur des adligen Geschlechts. In: Eming, Jutta u. a. (Hg.): Historische Inzestdiskurse. Königstein 2003, S. 46–85, hier insb. S. 47. 15 Der Terminus ,Bestimmungsaventiure‘ leitet sich hier aus der artushöfischen Erzählstruktur ab, in welcher den Protagonisten auf dem zweiten Wegteil eine Aventiure ,ereilt‘, die nur ihm zukommt bzw. für die nur er bestimmt ist (z. B. durch göttlichen ordo als providentia). So kann beispielsweise nur Erec ,Joie de la Court‘ bestehen und nur Iwein das ,Brunnenabenteuer‘ – sie und niemand anders sind dazu bestimmt.

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Hier weist der Erzähler gleich zweimal auf die Verbindung des Gewinns der Gabe mit der Herkunft hin, und sehr deutlich wird durch Schild, Gemälde, Namensund Herkunftsnennung gezeigt, dass die bisherigen Sieger des ,Sperberabenteuers‘ gerade nicht dem Geschlecht der Lusignan entstammen, ebenso, dass ihr jeweiliges Bestehen des Abenteuers keinerlei Auswirkung auf Meliores Fluch hat. Ihr Bestehen oder Verlieren des ,Sperberabenteuers‘ bleibt deshalb effektlos, weil Meliore mit ihrer Erlösung an das eigene Geschlecht gebunden ist – und gerade hierin besteht die Schwierigkeit, den Zyklus des immer wiederkehrenden Tabus letztendlich zu brechen. Doch Gys scheitert ebenso wie zuvor Helmas und Reymund an der Einhaltung eines durch eine Frau gesetzten Tabus. Seine begier raubt ihm die Selbstkontrolle, und er erkennt die in den Bildern nachhaltig vermittelte Markierung der Bedeutung seiner Herkunft nicht. Sein Blick richtet sich allein auf das höfisch-spielerische ,Sperberabenteuer‘, für die genealogische Bedeutungsebene ist er hingegen völlig blind. Ähnlich wie bei Reymunds Tabubruch räumt ihm die Fee gleich mehrere Chancen ein, seinem Tabubruch doch noch zu entgehen. So versucht sie argumentativ, ihn von seinem Entschluss, ihren Leib als Lohn zu fordern, abzubringen; doch Gys beharrt gleich dreimal auf seiner Forderung (vgl. 160, 3–161, 4). Die Fee hält dagegen und argumentiert zunächst auf der Basis der Minnedienstkonvention, und sie nennt Gys in diesem Zusammenhang einen vppige[n] man (160, 12), d. h. sie bezichtigt ihn, seine Begierde nicht kontrollieren zu können. Ihr zweites Argument zielt auf das groß vngeuelle (160,21), das Gys und seine Nachkommen ereilen wird, wenn er nicht von seiner unmäßigen Forderung ablässt. Schließlich verweist Meliore noch auf den Rahmen der Genealogie, indem sie Gys in die Tradition der scheiternden Männer des Geschlechts einreiht. Meliores Abenteuer macht somit noch deutlicher (als bereits Persines Verbot des Besuchs im Kindsbett und Melusines Sichtverbot), dass es bei den ,Abenteuern des Geschlechts‘ stets darum geht, den Frauen einen Freiraum zu eröffnen, was den Männern wiederum Selbstkontrolle abverlangt.16 Anhand der Verknüpfung der Genealogie mit dem Geschlechterverhältnis scheint eine sich verändernde Konzeption von Herrschaftsaufbau und -ausbau des Adels thematisiert, in welcher der Freiraum der Frauen und die Selbstkontrolle der Männer als Grundlagen von Herrschaft gezeichnet sind und die nicht 16 Vgl. hierzu auch Liebertz-Grün, Ursula: Das Spiel der Signifikanten in der ,Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen. In: Ernst, Ulrich / Sowinski, Bernhard (Hg.): Architectura Poetica. Festschrift für Johannes Rathofer zum 65. Geburtstag. Köln / Wien 1990, S. 223–241, hier S. 241: „[…] es läßt sich jetzt schon sagen, daß der ,Melusine‘ im Beziehungsdiskurs der Geschlechter ein besonderer Rang zukommt. In keinem anderen deutschsprachigen Text dieses Zeitraums ist der Zusammenhang zwischen der Diskriminierung des Weiblichen und der Unfähigkeit, sich ohne Verteufelung mit den Abgründen der menschlichen Natur auseinanderzusetzen, so klar erkannt und so deutlich kritisiert worden“.

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Erzählen von den ,Abenteuern des Geschlechts‘ in der Melusine

auf Eroberungen, sondern auf Erbschaft gründet.17 Helmas und Reymund vollziehen eine Grenzüberschreitung, indem sie den Freiraum ihrer Gattinnen nicht respektieren. Gys geht in seinem gewaltsamen Zugriff sogar noch einen Schritt weiter, wie es auch der Titulus entsprechend markiert: Wie der künig der tor nach der iunckfrawen ey¨lte vnd sy¨ wolt begreiffen vnd mit gewalt behalten vnd wie er so hart darumb geschlagen wart (161, 5–8). Gys’ Versuch der gewaltsamen Aneignung des Frauenkörpers avanciert zum Stigma der Herrscher des Geschlechts, welche die Zukunft des Hauses ruinieren, indem sie nicht auf die Anweisungen ihrer mit übernatürlichem Wissen ausgestatteten Gattinnen vertrauen. Der Erzähler vergleicht die Begründung von Gys’ Scheitern daraufhin mit der alttestamentarischen Geschichte von Susanna im Bade: e

Diser torete künig von Armenie der ließ sich betriegen die schon vnd die liebe. oder begierde der frawen / Als auch thetten die zwen alten richter gegen Susanna. als vns Daniel der prophet beweiset Darumb so trat der künig vorgenant gar schnell gegen der o o iunckfrawen vnd hofft sy¨ zubegreiffen vnd meint sy¨ zu haben / vnd hett do vergessen alles das so im der alte man vnd die iunckfraw so gewißlich vor gewey¨ssaget hetten (162, 18–25)

Der biblische Verweis begründet als typologisches Verfahren die Wiederholung des Fluchs und somit die Zyklizität der Geschichte, denn der falsche Vorwurf des Ehebruchs in der Perikope verweist eigentlich deutlicher auf Melusine als auf Meliore. Im typologischen Denken kann eine solche Differenzierung der Akteure jedoch entfallen. Die Schlussfolgerung hieraus lautet, dass die Geschichte des Geschlechts durch den Zusammenfall von Vergangenheit und Zukunft in den Abenteuererzählungen als Geschlechterkonflikt der jeweiligen Gegenwart entworfen wird. Gys’ Scheitern bedeutet sowohl für Meliore als auch für Melusine, bis zum Jüngsten Tag nicht erlöst zu werden. Für Gys selbst und seine Nachfahren bedeutet es Verlust an Land und Herrschaft. In ihrer Verfluchung formuliert Meliore die Zukunft ihres Neffen als Rückbindung an das Scheitern von Gys’ Großvater Helmas und seines Onkels Reymund, wodurch sie ihm erst die gesamte Dimension des genealogischen Wissens, welches das ,Sperberabenteuer‘ 17 Vgl. hierzu auch Klinger, Gespenstische Verwandtschaft (wie Anm. 15), S. 62: „Nicht gewalttätige Eroberung, sondern Körperbeherrschung bildet das Paradigma, während Gewalt gegenüber Melior zum Ausbruch kommt, derer sich Giß unbedingt bemächtigen will: ein eklatanter Bruch mit der pazifizierenden Ökonomie der Gewalt. In diesem Missgriff zeichnet sich die Aporie der ritterlichen Lebensform ab, die – statt von Genealogie nur von Abenteuersuche geleitet – unversehens an den Ursprung des Geschlechts zurückgelangt und Gewalt dann am falschen Ort einsetzt“. Der Text zeichnet jedoch grundsätzlich durch die Erzählung von den anderen Söhnen Melusines, die Herrschaft vornehmlich durch Krieg und Heirat gewinnen, ein hybrides Bild. Die Darstellung scheint somit weniger auf eine gesellschaftliche Entwicklung fokussiert denn auf die Pluralität gesellschaftlicher Herrschaftsmodelle.

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bereit hält, eröffnet: vnd also pist du nun des geschlechts vnd stamen vnd soltest e solchs nit eruordern dann es vnmüglich ist (162, 8–10). Der Kern von Meliores ,Abenteuer des Geschlechts‘ liegt somit in der Verstrickung von Bedingung und Erlösung begründet, nach welcher der Gewinner des minnethematischen ,Sperberabenteuers‘ zum Zweck der Erlösung Meliores zwingend aus dem Geschlecht der Lusignan stammen muss, weshalb auch das Inzestverbot gilt. In den vorangehenden Beschreibungen des ,Sperberabenteuers‘ ist das Inzestverbot noch verdeckt, da diese gewonheit, den Leib Meliores nicht fordern zu dürfen, für jeden gleichermaßen gilt. Doch Gys’ Gelingen oder Scheitern als direktem Nachfahren Helmas’ bedeutet entweder Ausbau der Herrschaft oder Niederlage des gesamten Geschlechts. Denn hätte Gys das Inzestverbot geachtet, wäre er dennoch zu Herrschaft gelangt, nämlich als Erbe Meliores. Sein Scheitern hingegen bedeutet einen großen Verlust für die Lusignan, und Meliore prophezeit ihm entsprechend, dass sein Reich zerfallen und in die Hände eines anderen Geschlechts gelangen wird.18 Schon wenige Zeilen später berichtet der Erzähler von den angekündigten Ereignissen (vom Fall Gys’, seinem Herrschaftsverlust und dem Untergang dieses Zweigs der Dynastie), wobei er diese darüber hinaus mit Wahrhaftigkeit durch die Augenzeugenschaft Couldrettes zu belegen sucht. Dem Rezipienten ist die Prophezeiung Meliores damit zugleich als wahrhaftige Voraussage über die Zukunft und als beglaubigte historia der Vergangenheit dargeboten (vgl. 164, 13–31). Die Strafe für den Tabubruch ist im Falle Gys’ ebenso wie schon bei seinen gescheiterten Vorfahren als spiegelbildliche Strafe zum Vergehen gestaltet, denn seine Missetat besteht im gewalttätigen Übergriff auf die Jungfrau, und als Strafe wird er von einem Gespenst geschlagen und malträtiert (vgl. 162, 32–163, 6). Das Gespenst lässt dabei von den Schlägen ebenso wenig ab, wie Gys selbst nicht davon ablassen wollte, den Leib der Dame des ,Sperberabenteuers‘ in Besitz zu nehmen, d. h. die Unnachgiebigkeit des Gespenstes spiegelt Gys’ Starrsinn. Im Text ist das Gespenst unsichtbar, doch der beigefügte Holzschnitt19 visualisiert den Oberkörper eines teufelsartigen Geschöpfes, das den auf dem Boden liegenden Gys mit Pfeilen und Flammen beschießt, und der Titulus kommentiert die Darstellung zudem mit den Worten: Wie das gespenst den künig zemal ser 18 Hiermit ist im Anklang an biblische Prophezeiungen an die Weltreichswechsel erinnert; in diesem Sinne weist Meliores Fluch wohl auch auf die Eroberung des armenischen Königreichs von Kilikien voraus, das sich durch wechselnde Bündnisse mit Kreuzrittern bis 1375 militärisch behaupten konnte, 1515 aber an das osmanische Reich fiel. Vgl. hierzu Müller : „Meliora sagt die Vertreibung der Dynastie aus Kilikien zu Ende des 14. Jhs. voraus. Der letzte armenische König aus dem Hause Lusignan heißt >nach dem Löwen< L8on (VI.). Thüring scheint die Prophezeiung dagegen auf den König zu beziehen, der diesen L8on verdrängte. Die Tiersymbolik erinnert an die der Prophezeiung Daniels über die vier Weltreiche (Dan. 7)“. Müller, Romane (wie Anm. 3), S. 1083. 19 Müller, Romane (wie Anm. 3), S. 163.

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vnd übel schlecht darumb das er kein ander gob begeret do er dem sperber gewachet hett dann die iunckfrawen (163, 7–9). Neben Gys’ Strafe zeigt der Holzschnitt überdies Meliore zusammen mit dem Sperber auf ihrer Burg, was das Abenteuer als noch ausstehendes ,Abenteuer des Geschlechts‘ fixiert und im gedruckten Buch materialisiert. Hieraus erklärt sich somit eine spezifische Funktion der Visualisierung des Holzschnitts am Ende des Abenteuers: Der Rezipient der historischen Gegenwart wird aufgefordert – gesetzt den Fall, er entstammt ebenso aus dem Geschlecht der Lusignan –, das Abenteuer zu einem guten Ende zu führen und somit in einer unbestimmten Zukunft Meliores Erlösung zu ermöglichen.

3.

Literarisierung und Grenzüberschreitung zum Abenteuererzählen: Erzählen von ,Palantines Schatz‘

Das Erzählen vom Abenteuer ,Palantines Schatz‘ ist ebenso wie das ,Sperberabenteuer‘ durch Scheitern und Nicht-Bewältigung bestimmt. Das Besondere ist hierbei, dass sein Bestehen nicht allein die Erlösung der Schwester Melusines verspricht, sondern gleich die des gesamten Geschlechts – und in der Form des Versprechens des ,Schlüssels zum Heiligen Jerusalem‘ sogar die Erlösung der gesamten Menschheit. Noch bevor der Erzähler die näheren Umstände des Abenteuers erläutert, wird dem Rezipienten ein Blick auf die unerfüllte Aufgabe Palantines im Holzschnitt dargeboten:20 Palantine steht auf einer Burg, die von drachenartigen Geschöpfen bewacht ist. Diese Darstellung kann nun als Herausforderung verstanden werden, die wie das ,Sperberabenteuer‘ bis in die Gegenwart des historischen Rezipienten und gegebenenfalls noch darüber hinaus präsent ist. Im Titulus erfolgt die Ankündigung des Abenteuers mit den e Worten: Wie Palantine die iunckfraw irer vaters schacz hutet auf dem hohen perg e Arragon doselbs vil wurm sey¨n (165, 13f.). Mit dem Verweis auf den ,Schatz des Vaters‘ ist erneut die genealogische Bedeutungsdimension des Abenteuers markiert. Auf Persines Tafel wird von diesem dritten ,Abenteuer des Geschlechts‘ folgendermaßen berichtet: Die dritte was genant Palantine die elteste. der hab ich geben das sy¨ in dem künigke e o reiche von arrogon auff einem gar hohen perg genant konitsche huten sol vnd muß ihres vaters schecz. piß auff die zeit das einer vnsers geschlechtes kommt der mit gewallt den perg vnd den schacz gewy´nnet. Vnd mit demselben schacz das gelobt lant das ist das heilig grab vnd jherusalem gewy¨nne (140, 21–27)

20 Ebd. S. 165.

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Palantines Name kann hierbei als sprechender gelten,21 denn ihr ,Abenteuer des Geschlechts‘ verspricht die Befreiung des Heiligen Landes, im eschatologischen Sinne verheißt es also die Ankunft des Himmlischen Jerusalem. Einzig in ,Palantines Abenteuer‘ findet sich zudem die Ausrichtung auf den Kampf um Leben oder Tod. Sein symbolischer Gehalt liegt somit im Zentrum des christlichen Glaubens, welcher Christi Überwindung des Todes und die Hoffnung auf das ewige Leben propagiert. Dabei kann dieser Kampf wiederum allein von einem Nachkommen des Geschlechts der Lusignan erfolgreich geführt werden. Aufmerksamkeit erregt bei diesem Abenteuer vor allem die Überlagerung genealogischer und eschatologischer Bedeutungsdimensionen: e

o

o

Die selb Palantina als ir vor mer gehort habent darzu von irer mutter Presina geordnet e vnd gesant was das sy¨ da beschlossen vnd ein hutterin ihres vatters schaczes sein solt / den selben schacz niemant gewinnen noch erobern mag / denn alley¨n einer der da von e dem stamen des vorgenanten künig Helmas geschlachtes sey¨ / der selb alles des was ¨ er inne halt bekommen mag vnd sunst niemant anders (165, 17–166, 4) diese abentew

Um die Exzeptionalität des Geschlechts herauszustellen, werden im Text verschiedenartige Stoffkreise kompiliert; so dient das Scheitern eines Ritters aus England, der mit Tristan verwandt ist und zugleich der Tafelrunde angehört, als Exempel: Vnd der selbe Ritter was gar zemal ein manlich ritter / vnd er hett auch vor alles das o getan das dann ein redlicher Ritter tun vnd lassen solt Vnd was auch der selbe ritter einer auß künig Artus hof / vnd die genampt waren von Tafelrunde / vnd er was her Tristans angeborner freünd / vnd was bey´ drey¨ssig jaren alt (166, 18–24)

Der englische Ritter verfügt über die allerbesten Voraussetzungen, die in der Tradition des Abenteuerhelden bekannt sind, und dennoch ist er zum Scheitern verurteilt, da er nicht dem Geschlecht der Lusignan angehört. Der Holzschnitt22 zeigt den heldenhaften Ritter im Kampf mit einem Drachen und einem wilden Bären, während der Titulus hierzu seine erfolgreichen Kämpfe auf dem Berg ¨r zusammenfasst: Wie ein ritter auß Engelland geboren sich dieser abentew o vnderstund / vnd der mit dem beren vnd mit grossen würmen facht so ritterlichen 21 Müller verweist darauf, dass diese Episode bei Jean d’Arras fehlt, und deutet die Namensform Palestine als „Aufgabe, das Heilige Land zurückzuerobern. Soll der Fluch >erklären