Das Ganze im Blick: Eine Kulturgeschichte des Überblicks vom Mittelalter bis zur Moderne [1. Aufl.] 9783839421208

Zeiten der »Unübersichtlichkeit« schaffen ein Bedürfnis nach Überblick - ein Bedürfnis danach, das Ganze eines nicht »üb

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Das Ganze im Blick: Eine Kulturgeschichte des Überblicks vom Mittelalter bis zur Moderne [1. Aufl.]
 9783839421208

Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung
Vom Mittelalter zur Renaissance
Das Auge Gottes und der Überblick
Individuum und Selbstbezug im Mittelalter
Macht ohne Blick
„Überblicke“ im Mittelalter
Erste Perspektiven
Von der Renaissance zur Aufklärung
Reflexionen des menschlichen Blicks
Der Blick der Macht
Der Sturz des Ikarus und das verlorene Paradies
Von der Aufklärung zur Moderne
Das Selbst in der Menge: Strategien des Selbstbezugs seit der Aufklärung
Sich überblickende Mächte: Blicke der Macht im 19. Jahrhundert
Der Blick vom Turm: Der Überblick im Umfeld der Weltausstellungen
Der geschriebene Raum: Der Überblick in der Literatur der Moderne
Schluss und Ausblick
Literatur

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Moritz Reiffers Das Ganze im Blick

Für Lisbeth und Bernhard.

Moritz Reiffers (Dr. phil.) arbeitet als Lehrer für Deutsch und Philosophie in Hamburg.

Moritz Reiffers

Das Ganze im Blick Eine Kulturgeschichte des Überblicks vom Mittelalter bis zur Moderne

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Robert Genouette, Über den Dächern von Paris, Kunsthalle Bremen, 1885. Foto: Lars Lohrisch Lektorat & Satz: Moritz Reiffers Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2120-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Dank | 7 Einleitung | 9 Vom Mittelalter zur Renaissance | 31

Das Auge Gottes und der Überblick | 31 Individuum und Selbstbezug im Mittelalter | 48 Macht ohne Blick | 62 „Überblicke“ im Mittelalter | 80 Erste Perspektiven | 100 Von der Renaissance zur Aufklärung | 135

Reflexionen des menschlichen Blicks | 138 Der Blick der Macht | 164 Der Sturz des Ikarus und das verlorene Paradies | 192 Von der Aufklärung zur Moderne | 231

Das Selbst in der Menge: Strategien des Selbstbezugs seit der Aufklärung | 231 Sich überblickende Mächte: Blicke der Macht im 19. Jahrhundert | 264 Der Blick vom Turm: Der Überblick im Umfeld der Weltausstellungen | 294 Der geschriebene Raum: Der Überblick in der Literatur der Moderne | 311 Schluss und Ausblick | 345 Literatur | 355

Dank Ich danke meinen Doktorvätern Dr. Jan Hans und Prof. Ludwig Fischer für die interessierte und anregende Kritik der verschiedenen Entwicklungsstufen meiner Auseinandersetzung mit dem Überblick. Ich hoffe, dass auch die Universität der Zukunft ihren Lehrenden noch die Muße geben wird, solche Produkte ihrer Studenten nicht nur als Belastung wahrzunehmen.

Einleitung

Gegenstand dieser Untersuchung ist die Geschichte des Überblicks. Es soll in ihr versucht werden, den Wandel in den Funktionen einer Form nachzuzeichnen, die seit dem Ende des Mittelalters Gewinn schlug aus der Repräsentation von Anblicken, die sich einem Subjekt von oben darbieten. Eine Antwort wird also zu geben sein auf die Fragen, warum, vor welchem Hintergrund und mit welchem Effekt in verschiedenen Kontexten Blicke von oben auf unten Liegendes zur Form verschiedener medialer Repräsentationen wurden. Auch wenn man die gebotene Vorsicht walten lässt, sich dem Bild teleologischer Entwicklung zu verschließen, lässt sich dieser Gegenstand wohl am besten greifen, wenn man ihn in seiner vorläufig jüngsten aber vielleicht dennoch als Vergangenheit beschreibbaren Erscheinung betrachtet, derjenigen, die er seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu erhalten begann, also mit dem, was man gemeinhin als Moderne bezeichnet. Beredter und differenzierter Ausdruck dieses Zustandes ist die folgende Schilderung Michel de Certeaus, in der er sich auf den Überblick bezieht, der sich ihm vom World Trade Center in New York darbot: „Von der 110. Etage des World Trade Centers sehe man auf Manhattan. Unter dem vom Wind aufgewirbelten Dunst liegt die Stadtinsel. Dieses Meer inmitten des Meeres erhebt sich in der Wall Street zu Wolkenkratzern und vertieft sich dann bei Greenwich; bei Midtown ragen die Wellenkämme wieder empor, am Central Park glätten sie sich, und jenseits von Harlem wogen sie leicht dahin. […] Mit welcher Erotik des Wissens kann die Ekstase, einen solchen Kosmos zu entziffern, verglichen werden? Da ich ein gewaltiges Lustempfinden verspüre, frage ich mich, woher die Lust kommt, diesen maßlosesten aller menschlichen Texte zu ‚überschauen‘, zu überragen und in Gänze aufzufassen. Auf die Spitze des World Trade Centers emporgehoben zu sein bedeutet, dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen zu werden. Der Körper ist nicht mehr von den Straßen umschlungen, die ihn nach einem anonymen Gesetz drehen und wenden; er ist nicht mehr Spieler oder Spielball und wird nicht mehr von dem Wirrwar der vielen Gegensätze und von der Nervosi-

10 | D AS G ANZE IM B LICK tät des New Yorker Verkehrs erfasst. Wer dort hinaufsteigt, verlässt die Masse, die jede Identität von Produzenten oder Zuschauern mit sich fortreißt und verwischt. Als Ikarus dort oben über diesen Wassern kann er die Listen des Daedalus in jenen beweglichen und endlosen Labyrinthen vergessen. Seine erhöhte Stellung macht ihn zum Voyeur. Sie verschafft ihm Distanz. Sie verwandelt die Welt, die einen behexte und von der man ‚besessen‘ war, in einen Text, den man vor sich unter den Augen hat. Sie erlaubt es, diesen Text zu lesen, ein Sonnenauge oder Blick eines Gottes zu sein. Der Überschwang eines skopischen und gnostischen Triebes. Ausschließlich dieser Blickpunkt zu sein, das ist die Fiktion des Wissens. Muss man danach wieder in den finsteren Raum zurückfallen, in dem sich die Massen bewegen, die – sichtbar von oben – dort unten nicht sehen? Der Sturz des Ikarus. In der 110. Etage gibt ein Plakat dem Fußgänger, der für einen Moment zu einem Seher geworden ist, wie eine Sphinx ein Rätsel auf: It’s hard to be down when you’re up. Der Wille, die Stadt zu sehen, ist den Möglichkeiten seiner Erfüllung vorausgeeilt. Die Malerei des Mittelalters und der Renaissance zeigte die Stadt aus der Perspektive eines Auges, das es damals noch gar nicht gab. Die Maler erfanden gleichzeitig das Überfliegen der Stadt und den Panoramablick, der dadurch möglich wurde. Bereits diese Fiktion verwandelte den mittelalterlichen Betrachter in ein himmlisches Auge. Sie schuf Götter.“1

Der in diesem Text reflektierte Blick weist zunächst einmal das auf, was ich als die Form des Überblicks verstehen möchte: Es handelt sich um einen Blick von einem erhöhten Standort über das, was unten liegt, über die Stadt New York. Zu einem Überblick wird dieser Blick durch das räumliche Verhältnis des Blickpunktes zum Inhalt des Anblicks, zum Angeblickten: Der Blickpunkt liegt so hoch über der Stadt, dass diese „in Gänze“ sichtbar wird. De Certeau führt nun aber aus, dass in einem solchen Überblick die Möglichkeit einer viel weiterreichenden Bedeutung liegt, die auf der Ebene der Funktion zu beschreiben ist – und die andererseits weiteres Licht wirft auf die Form. Diese Bedeutung betrifft verschiedene Aspekte: Zunächst ist hier sicherlich die Beziehung des Blicks vom erhöhten Standort zum Wissen entscheidend – die Beziehung also, die das Wort „Überblick“ zu einem mehrdeutigen macht, je nach der Art seiner Verwendung als metaphorisch oder wörtlich gemeint. Der Blick vom World Trade Center ist ein Überblick über die Stadt im wörtlichen Sinne. Seine eigentliche Bedeutung erhält er aber durch die „Fiktion des Wissens“, die er erzeugt. Er scheint Erkenntnismöglichkeiten in sich zu bergen, die mit dem Überblick im wörtlichen Sinne nicht erklärt sind. Das Wörtchen „überschauen“ muss in Anführung gesetzt werden, um seine Verwendung als Metapher zu kennzeichnen. Die Bedeutung des Überblicks ist also gewissermaßen der „Überblick“. Der Blick vom erhöhten Standort wird interessant, weil er zum Bildspender der Metapher des Überblicks wird. Im „Überblick“ wird das Sehen der Stadt von oben zu einem scheinbaren Verständnis, einem Verständnis, das sich nicht in erster 1

De Certeau 1999, S. 264f.

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Linie auf Sichtbares bezieht. Die von De Certeau gewählte (und ihm durchaus von einer langen Tradition angebotene), in diejenige des Überblicks gleichsam eingearbeitete Metapher für diese Verstehbarkeit der von oben gesehenen Stadt in der Fiktion des Wissens ist die des „Textes“. Von oben gesehen erscheint die Stadt als leserlicher, verständlicher „Text“, während sie aus ihr selbst heraus betrachtet nur als „Wirrwarr“ erlebt wird. Von diesem Rekurs auf die metaphorische Funktion des Überblicks wird man so zu einem impliziten Element seiner Form geführt, das von ihm stets impliziert wird und das unter bestimmten Umständen eine Funktion – eben Bedeutung – erhalten kann: Im Überblick präsentiert sich in gewisser Weise eine Verknüpfung zweier Blicke bzw. Blickpunkte. Die Möglichkeit des Blicks von oben erhält ihre Bedeutung durch die Differenz zu den Mängeln eines anderen Blicks, desjenigen im Unten, wie ich ihn nennen möchte.2 Der Überblick erzeugt ein „Lustempfinden“, weil das Überblickte aus der Perspektive in diesem Unten nicht „überblickt“ werden konnte, weil es von unten gesehen also unverständlich, unleserlich blieb. Das Verhältnis der Blicke von oben und im Unten verweist so auch auf eine Beziehung zwischen dem Blickenden und dem Objekt des Blicks: Das im Überblick Erfasste ist der Ort, an dem der Blickende selbst sich befand und an dem er sich wieder befinden, in den er wieder „zurückfallen“ wird. Das Subjekt des Überblicks überblickt insofern seinen eigenen Ort. Es überblickt den Bereich, von dem aus es die Blicke im Unten warf, deren Mängel dem Überblick eine Funktion, eine Bedeutung geben – eben jene der „Fiktion des Wissens“. Diese offenbart sich so nicht zuletzt als eine solche des Wissens über sich selbst, der Selbstbestimmung, der Selbstkontextualisierung im Überblickten. De Certeau fasst diesen Gegensatz, diesen Anlass zu einer Spaltung auch innerhalb des Subjektes wiederum in der Metapher des Textes: Die im Unten sich bewegenden „Wandersmänner“ schreiben durch ihre Bewegungen in der Stadt unbewusst den Text, den der entrückte Betrachter von oben schließlich liest oder zu lesen meint. Der Blick von oben ermöglicht also gleichsam ein Lesen seiner selbst, eine Selbstbestimmung, die allerdings nicht passiv bleibt, die vielmehr eingreift, indem sie das Gesehene auch reguliert, säubert und in ein Übergeordnetes Konzept der Stadt zwingt.3 Vor dem Hintergrund dieser Verschaltung zweier Konzepte des Blicks wird natürlich auch die bange Frage verständlich, ob „man danach wieder in den finsteren Raum zurückfallen (muss), in dem sich die Massen bewegen, die – sichtbar von 2

Diese Begrifflichkeit erscheint grammatisch etwas umständlich und führt gelegentlich zur Anmutung einer gewissen Künstlichkeit. Sie trifft aber das Gemeinte recht gut. Ursprünglich sprach ich von einem „Blick von unten“ und wählte so eine Formulierung, die zwar natürlicher wirkt, die aber die ungewollte Assoziation eines Blicks von unten nach oben nahe legt. Ich danke Professor Ludwig Fischer für seinen entsprechenden Hinweis.

3

Vgl. De Certeau 1999, S. 266f.

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oben – dort unten nicht sehen?“ Im Blick von oben erkauft sich das Subjekt den Eindruck von verständlicher Ordnung und eigener Macht durch „Distanz“. Indem es aber zum distanzierten „Voyeur“ wird, kann es seine eigene vergangene und zukünftige Position im unten Liegenden nur als eine der Blindheit und der mit ihr verbundenen Machtlosigkeit verstehen. Es hat sich gewissermaßen in einer Anstrengung über den Bereich erhoben, in dem es zuvor „Spielball“ „anonyme(r) Gesetz(e)“ war, nur um die unvermeidliche Rückkehr in diesen Bereich fürchten zu müssen. Die im Überblick erreichte Selbstkontextualisierung scheint durch Selbstentfremdung erkauft. Man muss aber bedenken, dass de Certeau diesen Punkt nicht zufällig als Frage aufwirft: Es mag sein, dass die Verschaltung der Blicke von oben und im Unten nach der Rückkehr in die Position des Blicks im Unten einen Effekt ermöglicht, der dem Blickenden die Früchte des Überblicks erhält. Darüber, wie dies in medialen Produkten umgesetzt wird, kann gut das folgende Zitat Auskunft geben. In der Broschüre zum deutschen Pavillon auf der Expo 2000 in Hannover hieß es zu dem dort gezeigten Film: „Ein Dächermeer, bewegt und organisch. Aus der Vogelperspektive stellt sich die Stadt als ein großes Ganzes dar, wird augenfällig, was so vielen Menschen zu allen Zeiten gemein war und ist, sie verbindet: der Impuls zu gestalten. […] Am Horizont geht die Sonne unter. Wir erleben einen Sommerabend in Berlin und tauchen ein in einen von ungezählten Innenhöfen. Die Kamera fährt an erleuchteten Fenstern vorbei, die aus dem Dunkel aufscheinen. Kurze Einblicke wecken Neugier, die ganze Geschichte zu erfahren, oder regen an, diese selbst fortzuschreiben.“4

Das Medium des Films gibt die Möglichkeit, zwischen dem Blick von oben und demjenigen im Unten zu vermitteln: Durch die Fahrt der Kamera von oben nach unten kann der Punkt des Blicks von oben verlassen werden, ohne dass der Überblick aufgegeben werden muss. Zuerst wird das Ganze erfasst, und das später im Unten und aus der Nähe Gesehene kann in Beziehung zu diesem zuvor erhaltenen Überblick gesetzt werden. Es bleibt verständlich, insofern es nicht als beziehungsloses Stück eines Wirrwarrs wahrgenommen werden muss, sondern als Teil des von oben gesehenen Ganzen erscheinen kann. So können also Blicke, die denjenigen im Unten formal gleichen, nach dem „Rückfall“ nach unten einen ganz anderen Status erhalten, wenn sie auf die eine oder andere Weise mit dem Blick von oben verschaltet werden. So zeigt sich, dass hinter dem Überblick, so wie er hier bisher verstanden wird, ein Komplex von drei miteinander in Beziehung stehenden Konzepten des Blicks steht: demjenigen im Unten, dem von oben und dem zwischen ihnen vermittelnden, das ich im Folgenden als den Blick nach unten bezeichnen möchte. Der Blick im Unten ist durch einen Mangel gekennzeichnet, und zwar durch einen 4

Aus: „Brücken in die Zukunft“, Broschüre zum deutschen Pavillon auf der Expo 2000.

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Mangel an Wissen und damit verbundener Macht. Durch ihn kann das Gesehene nicht in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden, es bleibt unverstanden, ein Wirrwar von Gegensätzen deren Zusammenhang dem Blickenden nicht klar wird, deren nicht im Bereich der Wahrnehmung liegenden Ursache und Zielrichtung er sich passiv und gewissermaßen blind ausgesetzt findet. Das fehlende Verständnis äußert sich also auch in Machtlosigkeit in dem Sinne, dass aktive Einwirkung eine Art kognitiver Bewältigung des eigenen Kontextes voraussetzen würde, an der der Blick im Unten scheitert. Der Blick von oben schafft hier scheinbare Abhilfe: Durch ihn wird zunächst der räumliche Zusammenhang erfasst, was – der Metapher vom „Überblick“ entsprechend – einen Eindruck von Verständnis und Wissen bedeuten kann, auch für solche Zusammenhänge, die nicht eigentlich sichtbar sind, die aber eben im metaphorischen Sinn als „sichtbar“ konzeptualisiert werden können. Der Blick nach unten schließlich ergibt sich als medial vermittelte Lösung des Problems, welches sich daraus ergibt, dass das Subjekt des Blicks von oben zur Rückkehr in den im Unten nicht überschaubaren Bereich gezwungen ist. Indem Blicke, die scheinbar aus diesem Unten heraus geworfen werden, auf den zuvor erreichten Überblick bezogen sind, erfassen sie einerseits das Einzelne im Überblickten aus der Nähe, andererseits ermöglichen sie die Einordnung dieser Wahrnehmung in das bereits bekannte Ganze. Sie lassen es als gleichzeitig nah und verständlich erscheinen. Ein Beispiel dafür, wie solche Blicke nach unten in medialen Zusammenhängen hergestellt werden können, war die Kamerafahrt von der Vogelperspektive hinab in das unten Liegende. Im Laufe dieser Arbeit werden noch einige weitere Möglichkeiten an Beispielen aufgezeigt werden, die diesen Effekt haben und es wird eine der hier vertretenen Thesen sein, dass viele von Medien vermittelte Blicke spätestens seit Beginn der Moderne solche Blicke nach unten sind, Blicke die eine scheinbare Nähe mit einer scheinbaren Verständlichkeit verbinden können, weil sie in gewisser Hinsicht von oben kommen. Zunächst kann man also in Bezug auf den Überblick seit Beginn der „Moderne“ festhalten, dass er formal aus einer Verschaltung dreier Blickkonzepte hervorgeht und dass er dadurch eine metaphorische Funktion erfüllen kann, die vorderhand als jene „Fiktion des Wissens“ beschrieben werden kann. Damit ist noch recht wenig gesagt – zumal wenn das Ziel sein soll, die Funktionsgeschichte des Überblicks seit Ende des Mittelalters nachzuvollziehen. Um diesem Versuch eine stabilere Grundlage zu verschaffen, müssen wohl einige Fragen ausreichend beantwortet werden: Wenn der Überblick einem Wandel von Funktionen unterlag – auf welchen Gebieten soll nach solchen Funktionen gesucht werden? In der Funktion des Wissens, zumal des Wissens über den eigenen Zusammenhang mit dem Überblickten ist ein solches Gebiet schon angesprochen, in der vorliegenden Untersuchung wird es – wie schon angedeutet – durch dasjenige der Macht ergänzt werden. Die Frage wird also sein: Wie lässt sich begründen, dass die Form des Überblicks eine Affinität zu metaphorischen Bezügen zu den Konzepten der Selbstkontextualisierung und der

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Macht hat? Wird sie beantwortet, hat die Untersuchung die Möglichkeit historische Veränderungen auf diesen Gebieten als Begründung für solche in der Funktion von Formen des Überblicks zu verstehen. Man muss aber schon hier anmerken, dass ein Teil der Beantwortung dieser Frage sich erst im Verlauf der konkreten Analysen ergeben kann: Man liefe sonst Gefahr die gesuchte Affinität als scheinbar immer schon gegebene anthropologische Konstante von der historisch bedingten Funktion des modernen Überblicks abzulesen – und somit Zustände zu übersehen, in denen diese Affinität möglicherweise nicht bestand. Hier schließt sich weiter die Frage an, welches Modell der historischen Entwicklung von metaphorischen Funktionen medialer Produkte, sich als hilfreich erweisen könnte, den entsprechenden Funktionswandel zu beschreiben. In dem, was bisher zur Form des Überblicks gesagt wurde, ist ein Teil der Antwort bereits vorgegeben: Der Blick von oben reagiert auf den Mangel desjenigen im Unten. Wenn es gelingt historische Gegebenheiten als Mängellagen zu beschreiben, welche die Bereiche des Wissens um den eigenen „Ort“ und der Möglichkeit von Macht betreffen, und die zudem eine Verbindung zur Visualität, zur allgemeinen Funktion von Blicken aufweisen, kann das Auftreten von Momenten des Überblicks in Medien als eine solche Reaktion verstanden werden. Zu beschreiben wäre so der Zusammenhang eines Komplexes aus Formen der Repräsentation von Macht und des Selbstbezugs mit aus ihnen hervorgehenden Mängelsituationen. Weiter sollte wohl schon zu Beginn angedeutet werden, welche Medien solche des Überblicks sein können. Wo kann sich die Form des Überblicks medial realisieren, wo kann man also überhaupt nach ihrer jeweiligen Funktion fragen? Dies muss besonders im Falle eines Mediums überdacht werden, das sich als Prototyp (und als Metapher) einer solchen Funktion angeboten hat, das aber auch geeignet ist die Rede von einem erhöhten „Blickpunkt“ im Überblick weiter zu problematisieren, im Falle der Kartografie. Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit allen anderen Fragen sollte aber wohl die Frage sein, was es eigentlich genau bedeutet, dass der Überblick eine metaphorische Funktion habe. Die Rede war hier bisher ja nicht von der im Deutschen lexikalisierten Metapher des „Überblicks“. Es war vielmehr die Rede von einer metaphorischen Funktion, die Repräsentationen von Blicken aus erhöhter Position erfüllen (oder gar diese Blicke selbst). Inwiefern hat man es hier mit einer Metapher zu tun – und welche Schlüsse über die Funktion entsprechender Produkte lassen sich daraus vielleicht bereits in ganz allgemeiner Form zeihen? Indem auf diese Weise Momente des Überblicks als Formen mit metaphorischer Funktion verstanden werden, wird die Metapher als nicht rein sprachlicher, sondern kognitiver Prozess verstanden: Ein Blick aus erhöhter Position über etwas unten Liegendes wird – gewissermaßen als Sonderform der Metapher des Sehens als Verstehen (und Beherrschen) – zum Bildspender einer Leistung, die nicht in diesem Blick selbst liegt, die vielmehr einem anderen Begriff zuzuordnen wäre als dem der

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sinnlichen Wahrnehmung. Die Form einer bestimmten Wahrnehmungssituation wird genutzt, um ein abstrakteres Konzept der Erkenntnis kognitiv zu bedeuten und dadurch zu strukturieren. Die lexikalisierte Metapher des „Überblicks“ erschiene so als gleichsam bis zur Oberfläche des Lexikons vorgedrungene Folge eines kognitiven Prozesses, der sich unter gewissen historischen Umständen und in sich wandelnder Form Subjekten nahe legt. So verstanden kann dieser Prozess als Grundlage auch anderer, nicht-sprachlicher medialer Produkte verstanden werden: Hinter einem in einem Bildmedium repräsentierten Blick von oben, einer literarischen Schilderung eines solchen Blickes (in der das Wort „Überblick“ nicht vorkommen muss) und dem Lexem „Überblick“ steht derselbe Prozess. Die Frage nach dem historischen Funktionswandel der Funktion des Überblicks wäre so diejenige nach der sich ändernden historischen Bedingtheit solcher Prozesse. Es wäre die Frage danach, warum und in welcher Verbindung zu anderen Bereichen der Kultur solche Formen eine Bedeutung erhalten konnten, die sie zum Mittel der Strukturierung der Konzepte des (Selbst-)Verstehens oder auch der Macht werden ließen. Als theoretischer Hintergrund eines solchen Verständnisses der Metapher vom Überblick bieten sich zunächst zwei Ansätze an, die zum einen sprachphilosophisch, zum anderen kulturhistorisch von einem kognitiven Verständnis der Metapher ausgehen: Die Metapherntheorie von Lakoff und Johnson und die Metaphorologie Blumenbergs. Letztere kann außerdem Anlass geben zu der Frage, welchen Status die dem Überblick Funktion gebenden Mängel haben können: Lassen sie sich auf fruchtbare Weise als Ausdruck einer letztlich anthropologischen Mängellage verstehen oder sollten sie als jeweils aus bestimmten historischen Gegebenheiten erwachsend beschrieben werden? Macht es Sinn so etwas wie ein stets gegebenes menschliches Bedürfnis nach „Überblick“ vorauszusetzen, das sich dann gewissermaßen mit den ihm historisch zur Verfügung stehenden Mitteln umsetzt oder ist der Mangel an „Überblick“ selbst ein Effekt bestimmter historischer Ansprüche an das Subjekt bzw. an bestimmte Subjekte? Letztere Betrachtungsweise scheint in diesem Zusammenhang wie gesagt die gebotene zu sein, in dem es darum geht, die sich wandelnden Funktionen einer gleich bleibenden Form zu beschreiben – ohne sich gewissermaßen selbst in der betrachteten Metapher zu verlieren und nur noch eine Geschichte des „Überblicks“ im metaphorischen Sinne im Blick zu haben, etwa eine Geschichte der kognitiven Orientierung des Menschen überhaupt. Hier soll es um die Geschichte des metaphorischen Einsatzes von erhöhten Betrachterstandpunkten im wörtlichen Sinne gehen und um die historisch, nicht anthropologisch begründeten Ansprüche und Mängel, die diesem Einsatz Sinn gaben – oder eben gelegentlich auch keinen Sinn gaben. Die grundlegende Annahme der Metapherntheorie Lakoff und Johnsons ist nun eben die, dass menschliches Denken und Handeln in weiten Bereichen metaphorisch strukturiert ist. Metaphern sind zumindest teilweise kulturell bestimmte kognitive Prozesse, in denen ein begrifflicher Bereich durch seine Beziehung zu einem

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anderen charakterisiert und damit auch konstituiert wird. Typischer (aber nicht notwendiger) Weise ist dabei der Ausgangspunkt der Strukturierung das konkretere Konzept – also jenes, das eine direktere Beziehung zur sinnlichen Wahrnehmung oder auch zur körperlichen Selbstwahrnehmung unterhält. Abstrakte Konzepte werden durch ihre metaphorische Beziehung zu konkreteren gebildet und die entsprechenden Gegebenheiten so verstanden und erfahren – bis hinein in das dem konzeptuellen System folgende Handeln. Lakoff und Johnson verdeutlichen dieses Metaphernverständnis unter anderem am Beispiel der metaphorischen Strukturierung von Diskussionen durch den begrifflichen Bereich des Krieges, so wie unsere Kultur sie nahe legt: „The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another. It is not that arguments are a subspecies of war. Arguments and wars are different kinds of things – verbal discourse and armed conflict – and the actions performed are different kinds of actions. But Argument is partially structured, understood, performed, and talked about in terms of war.“5

So verstanden stellen die entsprechenden sprachlichen – zum großen Teil auch lexikalisierten – „Metaphern“ Äußerungen des kognitiven Strukturierungsprozesses dar, der ihnen allen zugrunde liegt.6 Übertragen auf die Metapher des Überblicks könnte man so zunächst einmal folgendes formulieren: In dieser Metapher werden die abstrakteren Konzepte des Wissens um den eigenen „Ort“ in einem Geflecht bestimmter Zusammenhänge und die einem Subjekt zuzuordnenden Möglichkeiten der Machtausübung innerhalb dieser Zusammenhänge durch das konkretere des Blicks von oben auf etwas unten Liegendes strukturiert. Auf diese Weise stehen ganz allgemein ausgedrückt das Konzept des Sehens für die entsprechenden Fähigkeiten und dasjenige des Raumes für den Bereich der abstrakteren und nicht in erster Linie räumlichen Zusammenhänge. Ersterem entspricht dabei die Form des Überblicks in ihrer metaphorischen Funktion7, letzterem dessen jeweiliger Inhalt. Dieser Inhalt des Überblicks kann dabei selbst natürlich wiederum Ausgangspunkt einer Metapher (oder Metonymie) sein – wenn z.B. die Erde für die Welt im Ganzen oder eine Stadt für die Erde stehen – oder wenn, wie bei de Certeau gesehen, der leserliche „Text“ für die Stadt und diese wiederum für die „Welt“ steht. Tatsächlich legen manche dieser den Inhalt des Überblicks bedeutenden Metaphern diese Verbindung überaus nahe – zumal diejenige des Textes. Wenn ich sehe, wo 5

Lakoff und Johnson 1980, S. 5.

6

So z.B.: „Your claims are indefensible“ oder „He attacked every weak point in my argu-

7

Wobei auch diese natürlich eine notwendige räumliche Komponente enthält, eben die von

ment“. Vgl.: ebd., S. 4. „oben“ und „unten“.

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im Kontext der Welt (oder z.B. der Stadt) ich mich befinde, verstehe ich z.B. meine sozialen Verflechtungen innerhalb einer Gesellschaft und damit meine Handlungsmöglichkeiten. Auch hier spiegelt sich die im Überblick liegende Aufteilung in zwei Konzepte des Blicks, die in gewisser Weise eine solche in zwei SubjektPositionen darstellt: Die Metapher des Überblicks verbindet die strukturierten Konzepte des Wissens und der Macht mit dem Blick von oben und setzt sie der Position des Blicks im Unten entgegen. Der Blick nach unten folgt insofern der Logik der metaphorischen Verhältnisse, indem er beide Subjekt-Positionen metaphorisch in Deckung bringt, das Subjekt des „Wissens“ mit dem der überwundenen Blindheit identifiziert. Auch dieser Prozess wird kulturell bedingt sein: Mediale Produktionen werden eine solche Identifizierung nur dort herstellen, wo die kulturellen Gegebenheiten an das Subjekt der „Blindheit“ den Anspruch des Wissens auf eine Weise stellen, die die metaphorische Bedeutung durch den Blick von oben nahe legt. Im weitesten Sinne „demokratische“ Verhältnisse haben diese Tendenz, insofern sie auch Wissensansprüche und Ansprüche des Wissen-Sollens „demokratisieren“. Andere kulturelle Verhältnisse neigen eher dazu, den Blick von oben einem bestimmten Subjekt zuzuordnen und, vermittelt über die Metapher, so eine Verteilung von ganz konkreten Wissens- und Machtprivilegien zu bedeuten. Eine weitere allgemeine Bestimmung der Metapher vom Überblick lässt sich vielleicht durch einen Vergleich mit den von Blumenberg untersuchten „absoluten“ Metaphern erreichen. Wie schon erwähnt, liegt seiner „Metaphorologie“ zweifelsohne ein kognitives Verständnis der Metapher zugrunde.8 Laut Blumenberg handelt es sich bei den von ihm in ihrem historischen Wandel beschriebenen Metaphern um „implikative Modelle“, die gegebenen Ausdrücken auf der sprachlichen Ebene zugrunde liegen: „Das bedeutet, dass Metaphern in ihrer hier besprochenen Funktion gar nicht in der sprachlichen Ausdruckssphäre in Erscheinung zu treten brauchen; aber ein Zusammenhang von Aussagen schließt sich plötzlich zu einer Sinneinheit zusammen, wenn man hypothetisch die metaphorische Leitvorstellung erschließen kann, an der diese Aussagen ‚abgelesen‘ sein können.“9 Metaphern sind so verstanden also der Sprache zugrunde liegende kognitive Übertragungen und in ihrer kulturellen Bedingtheit Ausdruck der historisch gebahnten Denk- und Erfahrungsmöglichkeiten: „Nicht nur die Sprache denkt uns vor und steht uns bei unserer Weltsicht gleichsam ‚im Rücken‘; noch zwingender sind wir auch durch Bildervorrat und Bilderwahl bestimmt.“10 Dies gilt laut Blumenberg für die „absoluten Metaphern“, also diejenigen, deren Gehalt sich nicht „ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen“11 lässt, die also 8

Vgl. dazu: Haeflinger 1996.

9

Blumenberg 1998, S. 20.

10 Ebd., S. 92. 11 Ebd., S. 10.

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nicht in Begriffen mit wörtlicher Bedeutung reformuliert werden können, ohne ihrer Funktion verlustig zu gehen. Absolute Metaphern haben also nicht den Status von Behauptungen – ihre „Wahrheit“ liegt in ihrer pragmatischen Funktion, die ganz allgemein als eine solche der (kognitiven und auf das Handeln bezogenen) Orientierung bezeichnet werden kann: „Ihre Wahrheit ist, in einem sehr weiten Verstande, pragmatisch. Ihr Gehalt bestimmt als Anhalt von Orientierungen ein Verhalten, sie geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität.“12 Gerade in Letzterem liegt eine mögliche Verbindung zur Metapher des Überblicks: Im Verhältnis zu den von Blumenberg untersuchten absoluten Metaphern, beispielsweise derjenigen der Welt als Buch, hat diese nämlich offenbar eine besondere Stellung: Die Metapher vom Überblick ist eine solche für die Allgemeinheit kognitiver Leistungen, die im Einzelnen durch andere Metaphern hergestellt werden können. Sie bedeutet ein bestimmtes Verhältnis des Subjektes zum Gegenstandsbereich seines Wissens und Handelns – sie bedeutet nicht diesen Bereich als solchen. Gerade deswegen liegt ihr die Verbindung zu anderen Metaphern oder Metonymien als ihren Inhalten nahe: Die Orientierungsfunktion mancher Metaphern (der des Textes z.B.) hängt von der „Überschaubarkeit“ des jeweiligen Bildspenders ab, die sich wiederum in der Metapher des Überblicks bedeutet. Die Metapher des Überblicks ist also gewissermaßen eine inhaltlich unbestimmte Metapher der Orientierung – was keineswegs heißt, dass ihre Form in ihren Wirkungen indifferent sein muss. Die allgemeinen Annahmen der Metaphorologie Blumenbergs eignen sich neben diesen Lichtern, die sie auf die Funktion des Überblicks werfen können, vielleicht auch zu einer kritischen Prüfung dessen, was man als diejenige „Mängellage“ verstehen sollte, die einer Metapher zugrunde liegen kann. Dies bezieht sich auf zwei Fragen: Zum einen ist es, wie schon gesagt, möglich solche Mängellagen so weit zu verallgemeinern, dass sie als „dem Menschen“ wesentliche erscheinen. Im Zusammenhang dieser Untersuchung sollte dazu Position bezogen werden, weil eine entsprechende Ausrichtung die Aufmerksamkeit von historischen Unterschieden, Unvergleichbarkeiten auf eine allen Formen des Überblicks zugrunde liegende allgemeine Funktion lenken würde – ohne dabei notwendig „falsch“ zu sein. Damit durchaus verbunden ist weiter die Frage nach dem Status der Ebene des individuellen Erlebnisses von Momenten des Überblicks – so wie z.B. auch von de Certeau im Begriff der „Lust“ des Überblicks angesprochen ist. Der Ansatz Blumenbergs geht davon aus, dass (mehr oder weniger deutlich) metaphorischen Äußerungen auf der sprachlichen Ebene eine kognitive Ebene zugrunde liegt, auf der eine Übertragung eines relativ konkreten Modells auf einen abstrakten und im Ganzen nicht kognitiv zu bewältigenden Bereich stattfindet. In dieser Übertragung drücke sich nun 12 Ebd., S. 25.

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etwas aus, dessen Rolle hier hinterfragt werden soll. Im Anschluss an letzteres Zitat heißt es bei ihm weiter: „Dem historisch verstehenden Blick indizieren sie [die absoluten Metaphern, M.R.] also die fundamentalen, tragenden Gewissheiten, Vermutungen, Wertungen, aus denen sich die Haltungen, Erwartungen, Tätigkeiten und Untätigkeiten, Sehnsüchte und Enttäuschungen, Interessen und Gleichgültigkeiten einer Epoche regulieren.“13 Das Subjekt, dem die genannten Typen von intentionalen Zuständen und Akten zugeordnet werden, ist hier die „Epoche“. Das hier vorausgesetzte Bild ist also wohl das einer Epoche, der bestimmte Zustände individueller Subjekte entsprechen, die wiederum die Mängellage darstellen, auf die eine Metapher reagiert. Aus dem Orientierungswert einer untersuchten Metapher lässt sich auf die sie motivierenden Mängelerlebnisse schließen. Diese Betrachtungsweise ist also keineswegs ahistorisch: Für die Gegebenheit der Erlebnisse bzw. Zustände des Subjekts wird die „Epoche“ verantwortlich gemacht. Die Frage ist aber weiter, wie diese Mängel einer Epoche begründet werden. Werden sie ausschließlich aus dem jeweiligen historischen Zustand begründet, als Effekte einer Verbindung des Subjektes, das sie erlebt (nun als subjektiviertes Individuum, nicht als Epoche), mit den (Handlungs-) Zusammenhängen, in denen es steht? Oder erscheinen die metaphorischen Reaktionen auf die Mängel als wechselnde Reaktionen auf ein gleich bleibendes Grundbedürfnis, gewissermaßen einen natürlichen Mangel? Blumenberg scheint letzteres Bild zu evozieren, indem er annimmt, Metaphern seien gleichsam historische Füllungen von Leerstellen, die sich letztlich zurückverfolgen lassen auf eine anthropologische Leerstelle: Metaphern erscheinen ihm als Antworten auf Fragen, die wir nicht „stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden“.14 So führt bei Blumenberg die Begründung der jeweiligen historischen Mängel also letztlich immer auf den anthropologischen Boden zurück, auf dem Geschichte in „Natur“ umschlägt – ohne dass seine Analyse dabei freilich in neuerer Diktion „biologistisch“ zu nennen wäre, schon insofern nicht die immer gleichen Fragen und Mängel, sondern die letztlich zufälligen und wechselnden Antworten in ihrem Fokus liegen. So gesehen ist dieses Bild also keineswegs gänzlich ahistorisch. Sein Ziel ist durchaus historische Ausprägungen der Mängelstellen anzunehmen und begründet die untersuchten Metaphern abgesehen von ihrer allgemeinen Motivation in der Geschichte. In Bezug auf die Geschichte des Überblicks ergibt sich aber das Problem, dass es Fälle ausblenden müsste, in denen die Mängellage, auf die der Überblick reagiert, völlig fehlt. Im Falle dieser Metapher kann die Betrachtung dann dazu neigen, von der Metapher des Überblicks mit ihrem Bildspender des Blicks von oben überzugehen auf andere Metaphern, die vielleicht abstrakt formuliert eine vergleichbare Funktion haben, die aber nicht Gegenstand der Untersuchung sein soll13 Ebd., S. 25. 14 Ebd., S. 23.

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ten, weil sie die Besonderheiten in der historischen Bedingtheit des Überblicks aus dem Blick geraten lassen. Kurz: Was hier nachgezeichnet und begründet werden soll, ist die Geschichte des Überblicks nicht die des „Überblicks“ – allerdings eben diejenige des Überblicks in seiner wechselnden metaphorischen Funktion. Von einem allgemeinmenschlichen Bedürfnis nach Überblick zu sprechen, auf das Formen des Überblicks reagierten, hieße die historisch wandelbare und nicht allgemein gegebene Metapher im Kontext ihrer eigenen Begründung anzuwenden. Eine Antwort auf die Frage, ob und warum die entsprechende Form sich in ihrer Funktion gewandelt hat, wäre so nicht zu erwarten. Ob es also die „im Daseinsgrund“ gestellte Frage gibt, wie der Einzelne sich im Ganzen der Welt „verorten“ kann, ist hier nicht relevant. Relevant ist vielmehr, warum, in welchem Kontext und mit welchem Effekt sich Subjekte zu einer gegebenen Zeit typischer Weise vermittels der Metapher vom Überblick im Ganzen gewisser für sie bestimmender Inhalte platziert haben. Andere Metaphern, die in gewisser Hinsicht ähnliche Funktionen erfüllen konnten, werden hier also auch in Abgrenzung zur Funktion von Formen des Überblicks erscheinen können – gelegentlich gar als Teil der Begründung dafür, dass der Überblick fehlt.15 Wenn im Zusammenhang einer solchen Untersuchung also von „Mängeln“ die Rede ist, auf die der Überblick reagiert, so können damit nicht allgemeinmenschliche Mängel, Mängel des „Mängelwesens“ Mensch gemeint sein. Vielmehr werden diese Mängel als solche verstanden werden, die entweder aus bestimmten historischen Verhältnissen erwachsen, oder die diesen Verhältnissen als etwas vorgegeben sind, was aus einem vorhergehenden Zustand erwächst. Eine entsprechende Begründung der metaphorischen Funktion kann sicherlich einigen Nutzen ziehen aus dem Begriff des „Dispositivs“, wie er sich bei Foucault findet – in diesem Konzept werden auch die Mängel, die historisch zufällige Lösungen provozieren, noch als historisch, also letztlich als zufällig verstanden. Zudem lässt sich von diesem Ausgangspunkt weiter der Status jener Erlebnisseite des Überblicks bedenken, der Status jener „Lust“ des überblickenden Subjekts – eines Erlebnisses oder Zustandes, der im Rahmen der bisher gemachten Vorgaben natürlich nicht mehr unvermittelt als Begründung für das Auftauchen von Formen des Überblicks gelten kann oder als deren Ursprung, der vielmehr aus denselben Faktoren zu begründen wäre, die auch dieser Form zugrunde liegen. Foucault fasst die von ihm untersuchten gesellschaftlichen „Apparate“, jene „Dispositive“, bekanntlich als einen Zusammenhang verschiedener diskursiver aber auch nicht-diskursiver Elemente:

15 Wenn beispielsweise bestimmte Ausformungen der Körpermetapher des Staates im Mittelalter beschrieben werden, um das Fehlen der Metapher des den Staat als Territorium übersehenden Blicks zu erklären.

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„Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst.“16

Wichtig ist hier zunächst, wie die Einheit eines solchen komplexen Zusammenhangs begründet werden kann. Inwiefern hängen diese heterogenen Gegebenheiten überhaupt zusammen? Foucaults Antwort auf diese Frage ist die des „Notstandes (urgence)“ und der von ihm aus zu bestimmenden „strategischen Funktion“17 des Dispositivs: Zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt koordinieren sich verschiedene Elemente, um behebend auf einen Mangel zu reagieren, der aus der jeweils vorhergehenden Koordination dieser oder anderer Elemente erwuchs. Das Prinzip der „Formation“18 gesellschaftlicher Gegebenheiten ist eine Mängellage, die der strategisch ausgerichtete gesellschaftliche Apparat selbst erzeugt hat, indem er Folgen zeitigte, die seiner Funktion widersprachen. Einige dieser Folgen können im Sinne einer „strategischen Wiederauffüllung“19 wiederum nutzbar gemacht werden, andere erweisen sich als so grundsätzlich, dass sie zu einer Ablösung einer Formation durch eine andere führen, die die gegebenen Elemente neu miteinander in Beziehung setzt. In diesem Zusammenhang ist Foucaults Ansatz vor allem in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen erklärt er Mängellagen wie diejenigen, die Formen des Überblicks Sinn verleihen konnten, nicht aus in jedem Individuum immer schon gegebenen „Ur-Bedürfnissen“ oder, wie er das in einer älteren Diktion bezeichnete, aus „prädiskursiven Erfahrungen“.20 Vielmehr erfasst er die jeweilige Form der Subjektivierung dieser Individuen selbst als Element oder Folge des jeweiligen „Dispositivs“, versteht er wie gesagt auch Bedürfnisse historisch. Die intentionalen Zustände, die Überblicke „fordern“ können, und die von solchen Überblicken erzeugten Erlebnisse – beides Ausprägungen des jeweiligen Subjektes – können so als gesellschaftlich erzeugt erscheinen. Eine historische Mängellage begründet gewissermaßen zugleich die behebende Reaktion der Form des Überblicks und das Subjekt, das diese Form mit den entsprechenden Erlebnissen und subjektiven Ansprüchen nutzt. Der Überblick ist eine Form der Subjektivierung und daher nicht unmittelbar und abschließend aus Ansprüchen des Subjektes zu begründen. Diese Ansprüche selbst sind vielmehr das, was es zu begründen gilt. Sie können sich entsprechend verändern, bis hin zur völligen Abwesenheit. Die „Lust“ am Überblick 16 Foucault 1978, S. 120. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 121. 20 Foucault 1981, S. 71.

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kann so als in bestimmten gesellschaftlichen Zuständen erzeugte erscheinen – zudem als eine, die sich beispielsweise in ihrer Vermittlung über vorbereitete SubjektPositionen bestimmten Subjekten zuordnet (und anderen nicht). Im Verhältnis zu anderen Elementen von „Dispositiven“ scheint die Form des Überblicks aber auch vor diesem Hintergrund eine zu sein, die sich unabhängig von ihrer jeweiligen historischen Funktion in Verbindung mit anderen Elementen bereits relativ gut, wenn auch abstrakt bestimmen lässt: Sie erfüllt in gewisser Hinsicht eine affirmative Funktion. Auch wenn man von der Möglichkeit eines immer schon gegebenen Mangels absieht, der dem Überblick seinen Sinn verleiht, lässt sich eine allgemeine Funktion wohl doch formulieren: Der Überblick erzeugt Fiktionen des Wissens und der Macht (für welche Subjekte auch immer). Er reagiert also auf Mängel des Wissens und der Macht (die immer dann gegeben sind, wenn Macht und Wissen erreicht und gehalten werden müssen, also nicht nur dann, wenn von tatsächlicher Machtlosigkeit die Rede sein muss; ein Mangel an Macht kann mit einem Subjekt von großer, wenn auch nicht absoluter Machtfülle zusammenfallen). Insofern stellt er eine Form dessen dar, was man auch als „Rezentrierung“ bezeichnet hat. Das vom Überblick eingesetzte Subjekt ist in seiner Subjektivierung von Ansprüchen betroffen, für die ihm eine Form zur Verfügung gestellt wird, die diese Ansprüche als erfüllt erscheinen lässt. Ansatzpunkt der Ansprüche oder Mängel ist der Blick im Unten. Er würde manche von ihnen als nicht zu erfüllen erscheinen lassen. Entsprechende Gefahren werden abgewendet, indem das Subjekt sich im Sinne der Metapher selbst im Ganzen seines Zusammenhangs zu erfahren scheint und damit als Herr seiner Lage. Zustände, die über Subjektpositionen funktionieren, die kein Wissen über den eigenen Zusammenhang vorsehen, können sich vermittels solcher Formen also stabilisieren oder überhaupt erst bilden. Eine solche Funktionszuschreibung sollte allerdings wie gesagt als abstrakt aufgefasst werden – die Frage bleibt, welche Subjekte auf welche Art und Weise von solchen Mängeln betroffen sind. In vielen historischen Zusammenhängen profitierte das Subjekt des Unwissens und der Machtlosigkeit keineswegs unvermittelt – „selbst“ – von den entsprechenden Formen. Oft vermittelte sich sein Bezug zum Überblick über die Position eines anderen, eines Souveräns oder Gottes. Tatsächlich ist jene Identifikation des Subjektes des Blicks von oben mit dem im Unten wie gesagt eine relativ junge Errungenschaft – eine ähnliche Identifikation unterlag zuvor in manchen Zusammenhängen sogar einer Art Verbot.21 In gewisser Hinsicht reiht sich so verstanden der Überblick – zumindest in manchen seiner historischen Funktionen – in solche Formen der Rezentrierung ein, die auch Foucault in Abgrenzung zu seinem Unternehmen beschrieben hat: Nimmt sich diese Form räumliche Verhältnisse zum Ausgangspunkt, so erzielten gewisse Ge21 Indem der Überblick für menschliche Subjekte als Ausdruck der Hybris diffamiert war, weil er ein vorgesehenes Privileg störte – dasjenige Gottes.

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schichtsphilosophien ähnliche Effekte durch auf die Zeit bezogene Metaphern. Auf Entmachtungen von Subjekten auf verschiedenen Gebieten (bzw. auf den Mangel, dass diese Entmachtungen irgendwie als zu lösende Probleme sich stellten) reagierten Konzeptualisierungen der Geschichte als kontinuierliche Entwicklung in der alle „inneren“ Gegensätze aufgehoben und mit auf ein Ziel hinführendem Sinn versehen sind. Solche metaphorischen Bezugnahmen, in denen die Geschichte z.B. durch das Konzept des Bewusstseinsstromes strukturiert wurde, waren für die „Souveränität des Bewusstseins ein privilegierter Schutz“.22 Bestimmte Ansprüche an das Subjekt machten solche Formen nutzbringend, in denen die Geschichte „für das in Frage stehende Subjekt ein Ort der Ruhe, der Gewissheit, der Versöhnung, des sorglosen Schlafes ist“.23 Solche Formen der „Rezentrierung“ ergaben sich zudem zu Zeiten, in denen die Geschichte Funktionen zu übernehmen hatte, die zuvor über die Vermittlung des göttlichen Subjektes erfüllt wurden. Ganz ähnlich verlor zur gleichen Zeit der Überblick diese Vermittlung. Wenn man sich in der zeitgenössischen theoretischen Landschaft nach Ansätzen umsieht, die die Funktion von erhöhten Betrachterstandpunkten beleuchten, fallen – neben vielen Bemerkungen zu einzelnen Zeiten oder Phänomenen – diejenigen auf, die sich unter dem Begriff der kognitiven Kartierung oder demjenigen des „mapping“ versammeln. Dieser Begriff hat einen interessanten Prozess der Metaphorisierung durchlaufen: Zunächst wurde er eingeführt, um die Fähigkeit von Menschen zu beschreiben, sich räumlich zu orientieren. Bewegungen und Handlungspläne setzten die Fähigkeit voraus, sich eine kognitive Karte der jeweiligen Umgebung zu schaffen, auf welcher der eigene Standort und dessen Kontext eingetragen sind: „Kognitives Kartieren ist ein abstrakter Begriff, welcher jene kognitiven oder geistigen Fähigkeiten umfasst, die es uns ermöglichen, Informationen über die räumliche Umwelt zu sammeln, zu ordnen, zu speichern, abzurufen und zu verarbeiten. Diese Fähigkeiten ändern sich mit dem Alter (oder der Entwicklung) und dem Gebrauch (oder Wissen). Vor allem aber bezieht sich kognitives Kartieren auf einen Handlungsprozess: es ist eher eine Tätigkeit, die wir ausführen, als ein Objekt, das wir besitzen: Es ist die Art und Weise, wie wir uns mit der Welt um uns herum auseinandersetzen.“24

Solchen Untersuchungen ging es also zunächst darum, diejenigen kognitiven Fähigkeiten zu fassen, die räumliche Orientierung schaffen – oder auch Bedingungen,

22 Foucault 1981, S. 23. 23 Ebd., S. 26. 24 R.M. Downs und D. Stea, „Kognitive Karten – Die Welt in unseren Köpfen“, New York 1982, S. 23.

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unter denen diese Orientierung fehlschlägt.25 Bereits dieser Ansatz macht sich natürlich ausdrücklich eine Metapher zunutze: diejenige der Karte oder der Kartografie. Das Medium, das tatsächlich zur räumlichen Orientierung verwendet wird, steht metaphorisch für kognitive Leistungen, die dies ermöglichen. Tatsächlich wurde der Begriff der kognitiven Kartierung aber noch weiter metaphorisiert: indem er für Orientierungsleistungen zu stehen begann, die nicht in erster Linie Räumliches oder überhaupt Wahrnehmbares betreffen – so dass er in die Nähe dessen rückt, was ich hier als die Metapher des Überblicks betrachte. In jüngerer Zeit hat z.B. der Literaturwissenschaftler Frederic Jameson dem Begriff diesen neuen Sinn gegeben, indem er die durch kognitives Kartieren ermöglichte Orientierung als die Fähigkeit des Einzelnen versteht, seinen „Ort“ in der Gesamtheit der (Welt-)Gesellschaft zu bestimmen und danach zu handeln. Es geht nun also um eine kognitive „Karte“ abstrakter Zusammenhänge, die diese als verständlich erscheinen lassen. Diese Fähigkeit stellt sich für Jameson – vor dem Hintergrund seiner marxistisch motivierten Theorie – unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus als gefährdet dar. In diesem Zeitalter, in dem nicht nur der Raum der Stadt seine Selbstständigkeit verlöre, sondern auch die Grenzen der Nationalstaaten, die vordem dem städtischen Wahrnehmungsraum noch einen klarer kartierbaren Kontext gaben, von den Strömen und der Dynamik des global operierenden Kapitals unbeachtet blieben, stellten sich die Probleme der Repräsentation des Ganzen neu.26 In dieser Situation, so Jameson, radikalisiere sich eine Schwierigkeit, die schon zu Zeiten des Hochkapitalismus, des Imperialismus entstanden sei: Die Schere zwischen der bewussten Wahrnehmung und der dieser Wahrnehmung zugrunde liegenden ökonomischen und sozialen Strukturen wird größer. Die konkrete Erscheinung erklärt sich nicht mehr von selbst, weil auch die ihr zugrunde liegende Struktur im Wahrnehmungsbereich des Einzelnen liegt, sie wird vielmehr zunehmend unverständlich, erscheint als Wirkung einer unbekannten, außerhalb der Wahrnehmung befindlichen Ursache: „But the truth of that experience no longer coincides with the place in which it takes place. The truth of that limited daily experience of London lies, rather, in India or Jamaica or Hong Kong; it is bound up with the whole colonial system of the British Empire that determines the very quality of the individual’s subjective life. Yet those structural coordinates are no longer accessible to immediate lived experience and are often not even conceptualizable for most people.“27

25 Der Begriff wurde ursprünglich von Kevin Lynch eingeführt, um zu zeigen, wie die moderne Stadtplanung der westlichen USA mit ihrer Auflösung der klassischen Form der Stadt, der Ordnung von Zentrum und Peripherie, zu Erfahrungen der Orientierungslosigkeit führte. Vgl.: D. Lynch, „Das Bild der Stadt“, Berlin 1965. 26 Vgl.: F. Jameson, „Cognitive Mapping“, in: Grossberg und Nelson 1988. 27 Ebd. S. 349.

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Tatsächlich kann ein solcher Ansatz hilfreich sein, zu erklären, warum mit Beginn der Moderne Formen des Überblicks eine bestimmte Funktion zu erfüllen begannen – zumindest dann, wenn man nicht den Fehler macht, der Metapher im oben beschriebenen Sinne so weit zu folgen, dass ihr Bildspender aus dem Blick gerät. Einem solchen Vorgehen entsprächen im Bereich der „kognitiven Kartierung“ Untersuchungen, in denen von Karten keine Rede ist. Manchen Ansätzen wurde dieser Vorwurf bereits gemacht.28 In der Verwendung der Metapher der Karte liegt hier aber auch ein weiteres Problem, das anzusprechen geboten erscheint, bevor ein kurzer Überblick über die medialen Produkte gegeben wird, die im Laufe dieser Untersuchung eine Rolle spielen werden: Wie steht es mit diesem Medium, das zwar gelegentlich die Form des Überblicks umzusetzen scheint, das dies aber tatsächlich, technisch gesprochen, nicht tut, das vielmehr keinen real einzunehmenden Blickpunkt über dem Abgebildeten konstituiert (oder aber eine Vielzahl solcher Blickpunkte)? Zwar wird eine genauere Betrachtung dieses Problems erst im Zuge der jeweiligen Analysen sinnvoll sein, aber eine grundsätzliche Antwort kann vielleicht schon hier gegeben werden: Gerade in dem – gezielt hervorgerufenen – Schein des von der Karte implizierten Betrachterstandpunktes liegt die Rechtfertigung, diese unter einem gewissen Erkenntnisinteresse als Medium des Überblicks zu behandeln. Wenn neuzeitliche Karten-Bilder aussehen sollen wie Anblicke von oben, indem die von ihnen vorausgesetzten Projektionstechniken verleugnet werden, die einen einzelnen Betrachterstandpunkt nicht liefern, offenbart dies, dass auch die Karte eine Überblicks-Funktion erfüllen kann. Der Bildspender des Blicks von oben wird von einem Medium umgesetzt, das streng genommen keinen bestimmten Blick von oben repräsentieren kann. Dennoch wird das Kartenbild aber gelesen, als ob es die Form eines solchen Blickes aufwiese – um so die dieser Form entsprechende metaphorische Funktion erfüllen zu können. Die metaphorische Funktion prägt gewissermaßen im Nachhinein die Auffassung der Form des Mediums. Bestimmte Möglichkeiten des Bildspenders werden im metaphorischen Prozess nutzbar gemacht, andere verleugnet. Dies kann weiter den Blick dafür schärfen, dass die metaphorische Funktion des Überblicks etwas ist, was nicht ganz bestimmte formale Eigenschaften der genutzten Produkte voraussetzt – etwa eine zentralperspektivische Anlage in Verbindung mit einem erhöhten Blickpunkt. Vielmehr setzt diese Funktion ein Medium voraus, das es ermöglicht den Bildspender des Blicks von oben überhaupt zu realisieren –, auch dann, wenn gewisse in der Repräsentationstechnik liegende formale Eigenschaften nicht in diese Auffassung des Bildspenders eingehen können. Wenn im Folgenden z.B. Kartografie des Mittelalters betrachtet wird, kann deren Status als Mittel des metaphorischen Überblicks entsprechend nicht einfach schon durch einen Hinweis auf die fehlende Konstruktion eines Blickpunktes über der abgebildeten Welt verneint werden. 28 Vgl.: Stockhammer 2007, S. 7 u. 13.

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Vielmehr muss gefragt werden, ob zeitgenössische Betrachter dazu neigten das Bild zu lesen, als ob es ihnen die Welt von oben zeige – so wie mancher gegenwärtige Betrachter es zu lesen geneigt ist. Gewisse metaphorische Nutzbarmachungen von Medien können zudem wohl erst dann ins Blickfeld treten, wenn die implizite Verbindung von formalen Eigenschaften und deren Ausblendung im Dienste einer Metapher reflektiert wird: Die neuzeitliche Kartografie beispielsweise abstrahiert von einer bestimmten Perspektive. So kann sie das Ganze unabhängig von deren Beschränkungen erfassen im Gegensatz z.B. zum Globus. Wenn versucht wird, Karten an einen Blick von oben anzunähern, ihnen eine Scheinperspektive zu geben, ein scheinbares Subjekt zuzuordnen, wird versucht, die Beschränktheit der menschlichen Perspektive über ihre Möglichkeiten zu erheben, eine „Allwissenheit“, die alle möglichen Einzelperspektiven umfasst, als Wissensform dieses einen Subjektes auszugeben. Dieser Versuch machte offenbar dann Sinn, als sich die Konzepte einer göttlichen und einer menschlichen Wissensform als nicht mehr unvermittelbar entgegengesetzt darstellten. Dies führte zunächst in der Kartografie der Renaissance aber auch zu einem neuen Problem: der Diffamierung der Hybris des Überblicks, die sich in gewisse Produktionen einschrieb. Die Form des Überblicks als Merkmal anderer medialer Produkte macht in dieser Hinsicht weniger Schwierigkeiten. Die Metapher des Überblicks in dem hier zugrunde gelegten Sinne als kognitiven Prozess aufzufassen, gibt tatsächlich die Möglichkeit, die Umsetzung der Form unabhängig vom jeweiligen Medium auf diese eine Funktion zurückzuführen. Genauer wird die eine sich im Grundsatz nicht verändernde Form natürlich auf sich wandelnde Funktionen zurückgeführt. Die Bedeutung der Form wird also keineswegs als gleich bleibend angesehen. Dennoch hebt sich der hier eingeschlagene Umgang mit den verschiedenen Medien und Produkten von solchen ab, die auch Brüche in der Form ihrer historisch klar einzugrenzenden Gegenstände hervorheben und damit auf die Darstellung größerer „Epochen“ der Nutzbarmachung solcher Formen verzichten. Wenn Oettermann z.B. seinen Gegenstand, das Medium des Panoramas, wie es im Laufe des 19. Jahrhunderts Bedeutung erlangte, von möglichen „Vor- Nachläufer(n)“ abgrenzt, betrifft dies ein Medium, das die Form des Überblicks aufweisen kann und das insofern ein Element unter anderen in dieser Geschichte des Überblicks sein wird: „Die Geschichte des Panoramas umfasst ein Jahrhundert, das neunzehnte – und nur dieses. Vor- und Nachläufer lassen sich wie überall finden, sie sind bedeutungslos. […] Thesen, die das Panorama mit römischen Wandmalereien, dem Teppich von Bayeux o.ä. unter der Überschrift ‚ewig menschliches Bedürfnis nach Überschau‘ in Beziehung setzen, lassen sich durch den Hinweis auf die präzise Datierbarkeit des ersten Panoramas widerlegen.“29

29 Oettermann 1980, S. 7.

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Ich hoffe hier genug begründet zu haben, dass auch ohne die Annahme eines solchen „ewig menschliche(n) Bedürfnis(ses) nach Überschau“ die gleich bleibende Form eines Blicks von oben dem Gegenstand genügend Integrität verleiht, um seine sich wandelnden Funktionen zu beschreiben und nach Möglichkeit zu begründen. Diejenigen „Vor- und Nachläufer“, die Oettermann nennt, werden hier allerdings keine Rolle spielen – sie weisen die Form des Blicks von oben nicht auf. Abgesehen von der Kartografie werden also noch andere Medien Grundlage der Untersuchung sein. Die bildende Kunst wird sich dabei genauso anbieten wie die Literatur oder andere schriftliche Texte, die z.B. der Philosophie zuzuordnen wären. Das Gemeinsame der untersuchten Gegenstände wird dabei die Form des Blicks von oben sein, die gemeinsam an sie gerichtete Frage diejenige, welche Funktion diese Form im zeitgenössischen Rahmen erfüllt haben mag. Die historische Einordnung dieser Beispiele folgt dabei der klassischen Einteilung in Epochen. Diese ist aber eher als eine Art Hilfskonstruktion zu verstehen, die es erleichtert, größere Abschnitte von je vergleichbaren Funktionsgebungen zu adressieren. Wo genau eine Epoche endete und eine neue begann, erscheint in diesem Zusammenhang nicht relevant. Neben den im Zentrum stehenden Produkten, denen die Form des Überblicks gegeben ist, werden aber immer wieder auch solche eine Rolle spielen, die entweder eine vergleichbare Funktion erfüllen, ohne diese Form aufzuweisen oder solche, bei denen sich die Frage stellt, ob ihre formalen Eigenheiten sie zu Momenten des Überblicks im hier zugrunde gelegten Sinne machen. Entsprechende Analysen erscheinen sinnvoll, weil sie helfen, Funktion und Form des Überblicks abzugrenzen und dadurch die Bedingungen für sein Auftauchen klarer werden zu lassen. Die Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Bild- und Schriftmedien wird über weite Strecken dieser Motivation folgen.30 In ganz groben und kursorischen Zügen ließen sich die Ergebnisse der Untersuchung wie folgt zusammenfassen: Einsetzen wird die Untersuchung eben bei gewissen Produkten des hohen und späten Mittelalters. Diese – namentlich die zeitgenössischen Weltkarten, die mappae mundi und gewisse mit ihnen in mancher Hinsicht vergleichbare Tendenzen in rein schriftlichen Texten weisen darauf hin, dass der Überblick zu dieser Zeit keine Funktion erfüllte. Dies mag in Bezug auf die durch solche Blicke eingesetzten menschlichen Subjekte kaum überraschen. Es wird hier aber versucht werden zu zeigen, dass auch die zeitgenössischen Gottesvorstellungen 30 Noch weiter in die Vergangenheit – etwa ins frühe Mittelalter oder die Antike – zurückzugehen, hätte zum einen den Rahmen dieser Arbeit gesprengt und zum anderen dann keinen Erkenntnisgewinn bedeutet, wenn es darum geht, die von uns selbst genutzte Funktion des Überblicks in ihrer historischen Bedingtheit zu verstehen (Es sei denn man folgt dem möglicherweise zweifelhaften Bild von gleichsam über das Mittelalter hinweggehenden „Einflüssen“ der Antike auf die Neuzeit). Zu Momenten des Überblicks in der antiken Philosophie vgl.: Hadot 1991, S. 123-135.

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dem göttlichen Subjekt – dessen Blick ansonsten von zentraler Bedeutung war – den Blick von oben gleichsam nur zufällig und ohne eine herausgehobene Funktion als metaphorischer Ausdruck von Wissen und Macht zuordneten. Insofern Mängel, die später diesen Blick für menschliche Subjekte wertvoll machten, zu dieser Zeit nicht bestanden, lag es nicht nahe, den Blick von oben als göttliches Privileg und damit zur Bedeutung von in ihm als solchem liegenden Macht und Wissensmöglichkeiten zu nutzen. Eine klare und bedeutungstragende Entgegensetzung des menschlichen Blicks als Blick im Unten mit dem Gottes von oben fehlte, weil die Menschen betreffenden Mängel fehlten, die diese später zum Einsatz brachten. Durch eine zunehmende Reflexion auf die perspektivische Gebundenheit, die Beschränktheit des menschlichen Blicks, die zugleich diese Blicke und das in ihnen liegende Wissen von religiösen Bestimmungen zu lösen begann, erhielten solche Formen erst zu Zeiten der Renaissance oder des späten Mittelalters einen Sinn. Hier konnte die Freiheit der göttlichen Wissensform von solchen Beschränkungen schließlich in einer Entgegensetzung der Blicke im Unten und von oben bedeutet werden. In diesem Moment begannen entsprechend Formen des Überblicks problematisch zu werden, weil sie als prekäre Annährung der menschlichen und göttlichen Wissens- und Machtformen zu lesen waren. Der Blick von oben konnte metaphorischer Ausdruck der Hybris werden. Diese bezog sich in zeitgenössischen Produkten zudem auf neu entwickelte Formen der Selbstbestimmung, der Selbstkontextualisierung des Subjektes in einem überschauten Raum – auf ein Mittel, das vor dem Hintergrund älterer Formen des Selbstbezugs keinen Sinn gehabt hätte. Eine weitere Veränderung der Funktion von Überblicken ergab sich, als diese mit neu entwickelten Formen der Machtausübung und ihrer Repräsentation verbunden wurden. In dem Moment, in dem göttliche Macht darstellbar wurde durch Blicke von oben, wurde auch Macht im weltlichen Zusammenhang durch entsprechende Formen bedeutet. Der Blick des absoluten Monarchen zu Zeiten des Barock war im Gegensatz zu demjenigen mittelalterlicher Herrscher ein Blick von oben. Speiste sich diese Bedeutung des einen Blickkonzeptes aus seiner Beziehung zum anderen, trat mit den späteren politischen Veränderungen ein neuer Faktor auf den Plan, der sich wiederum zum Blick des Monarchen in Beziehung setzte, der „bürgerliche“ Überblick. In diesem äußerten sich verallgemeinerte Macht- und Wissensansprüche in einer allgemeinen Zugänglichkeit der von Momenten des Überblicks angebotenen Subjektpositionen. Ganz ähnlich verallgemeinerte sich mit den an jedes einzelne Subjekt gestellten Ansprüchen an Wissen und Macht auch die Nutzung des Überblicks als Mittel der Selbstkontextualisierung: Die Vermittlung über ein bestimmtes Subjekt von Wissen und Macht verlagerte sich in jedes einzelne Individuum – mit der Folge der oben beschriebenen inneren Spaltung und ihrer metaphorischen Darstellung und Überwindung im Blick nach unten. In dem Moment, in dem kein einzelnes Subjekt mehr als Träger allen Wissens und aller Macht herhalten konnte oder sollte, wurden Unwissenheit und Machtlosigkeit – zudem neu sich eta-

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blierende Ansprüche an gesellschaftliche Ordnung – zu mit jeder einzelnen Subjektposition verbundenen Mängeln. Auch unter diesen Bedingungen konnten aber Identifikationen mit dem Blick eines besonders ausgezeichneten Subjektes metaphorische Abhilfe unbewältigter Mängel bleiben oder unter veränderten Vorzeichen wieder werden. Besonders deutlich scheint dieser Zug vom modernen Krieg gefördert worden zu sein, einem Krieg, der Blickprivilegien erzeugte und auch voraussetzte, die sich als Metaphern der Beziehung des einzelnen Subjektes zum Ganzen seines gesellschaftlichen Umfeldes anboten.

Vom Mittelalter zur Renaissance

D AS A UGE G OTTES

UND DER

Ü BERBLICK

Die Behauptung, schon im Mittelalter hätten menschliche Überblicke „Götter geschaffen“, setzt zumindest zweierlei voraus: zum einen, dass die Position Gottes im mittelalterlichen Denken durch die Position eines Überblicks gekennzeichnet war und zum anderen, dass die Einnahme dieser Perspektive durch den Menschen denkbar war und einen Menschen in gewisser Hinsicht an die Stelle Gottes setzte. Zweifelsohne sind uns aus dem Mittelalter verschiedene mediale Produktionen überliefert, von denen in gewisser Hinsicht – mehr oder weniger metaphorisch – gesagt werden kann, sie hätten ihren Nutzern Überblicke über bestimmte Zusammenhänge ermöglicht. Die Weltkarten der Zeit, die mappae mundi, sind vielleicht das nahe liegendste Beispiel und es wird im Verlauf dieser Untersuchung noch von anderen zu reden sein. Ich werde aber zu zeigen versuchen, dass im Hinblick auf diese Produktionen weder davon die Rede sein kann, dass sie ihren menschlichen Rezipienten die Übernahme eines göttlichen Überblicks ermöglichten, noch dass sie überhaupt auf einen solchen göttlichen Überblick – in dem hier zu Grunde gelegten Sinne – Bezug nahmen. Ich werde vielmehr dafür argumentieren, dass sich ein Spannungsverhältnis zwischen einem auf menschliche Bedürfnisse reagierenden Überblick und dem (metaphorischen) Verständnis des göttlichen Blicks erst in dem Moment ergab, in dem einerseits dieses Bedürfnis in menschlichen Belangen gegeben war und in dem andererseits die Fähigkeit zur Bewältigung der entsprechenden Mängel im Sinne eines metaphorisch durch den Überblick ausgedrückten Privilegs an Gott abgegeben werden konnte. Mit anderen Worten: Das göttliche Privileg des Überblicks über das Ganze der Welt im Sinne eines Wissen und Macht ausdrückenden Blicks von oben ergab sich in dem Moment, in dem der Mensch in Zusammenhängen des Wissens und der Macht eigene Mängel metaphorisch durch einen solchen Blick beheben konnte. Erst in dieser Situation konnten entsprechende Formen in verschiedenen Zusammenhängen zunächst die Gefahr einer Überschneidung der menschlichen und göttlichen Perspektive in sich tragen. Diese historische Situation war frühestens gegen Ende des Mittelalters gegeben – allgemein vor allem seit der Renaissance. Noch bis ins späte Mittelalter war eine solche Übernahme eines Gott

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eingeräumten Überblicks also nicht eigentlich verboten. Sie hätte vielmehr keine Funktion gehabt und wäre zudem nicht als überhaupt möglich darstellbar gewesen. Um einschätzen zu können, welche Funktion Erscheinungen des Überblicks zu ihrer Zeit hatten, und in welcher Beziehung sie zur Position Gottes standen, muss wohl zunächst auf das ikonographische Auftreten des göttlichen Blicks im Mittelalter eingegangen werden. Das Auge Gottes als Element dieser Ikonographie tauchte dabei offenbar bereits zu Zeiten der christlichen Antike auf und war auch im weiteren Verlauf des Mittelalters in bestimmten Funktionen verbreitet. Ein prominentes Beispiel dieser Funktionen ist sicherlich die entsprechende Stelle in der regula benedicti: „Gott blickt vom Himmel zu jeder Stunde auf ihn und sieht an jedem Ort sein Tun; Die Engel berichten ihm jeder Zeit davon.“1 In der entsprechenden Vorstellung befindet sich Gott also im Himmel und blickt insofern von oben auf den Menschen – den einzelnen Mönch – herab. Weil er dies stets, ohne Unterlass tut, weiß er immer, wie dieser sich verhält. Der entsprechende göttliche Blick ist also ein das einzelne Individuum erfassender und damit in diesem Falle kontrollierender. Als weitere Informationsquellen werden ihm der „Spitzeldienst“ der Engel und an anderer Stelle seine Fähigkeit, die Gedanken eines Menschen „von fern“2 zu kennen zugeordnet. Gott ist also einerseits dem Menschen fern, andererseits ist diese Entfernung aber immer schon durch seinen allsehenden Blick und sein Wissen um die Gedanken des Einzelnen getilgt: Zwischen Gott und dem Gegenstand seines Wissens liegt in dieser Hinsicht zumindest von Gott aus gedacht keine Distanz. Der Blick Gottes wird also zum Zeichen seiner Allgegenwart und Allwissenheit. In ihrer großen Studie zur Bedeutung des Auges im Mittelalter hat Gudrun Schleusener-Eichholz eine Vielzahl von Belegen zusammengetragen, die zeigen, wie der göttliche Blick in ähnlicher Weise und mit einigen darüber hinausgehenden Funktionen auftrat.3 Bei allen Bedeutungen, die dieser Blick dabei erhalten konnte, war immer deren metaphorischer Charakter wichtig. Eine Ausstattung Gottes mit fleischlichen Augen wäre als Anthropomorphismus unstatthaft gewesen – der Blick und das Auge Gottes waren vielmehr spiritualiter4 zu verstehen, als Metapher für verschiedene seiner Eigenschaften, zunächst vor allem für sein Erkennen und sein Wissen. In Bezug auf diese göttlichen Attribute wurde dabei immer wieder betont, dass Gott nicht etwa weiß, weil er sieht – im Sinne eines nachträglichen Erfassens von Gegebenheiten. Vielmehr gilt: „Gott sieht nicht, was er vorher nicht schon gewusst hat.“5

1

Regula Benedicti, Kap. 7, 13.

2

Regula Benedicti Kap. 7, 16.

3

Vgl.: Schleusener-Eichholz 1985, S.1076ff.

4

Mit Augustinus: ebd.: S. 1070.

5

Ebd.: S. 1078.

V OM M ITTELALTER

ZUR

R ENAISSANCE

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In dieser Hinsicht ist im mittelalterlichen Verständnis der Blick also für Gott nicht Medium der Erkenntnis, vielmehr ist der Bezug auf diesen Blick metaphorischer Ausdruck seiner gegebenen Erkenntnis, seiner Allwissenheit. Dieser Ausdruck passt sich dabei seinem Gegenstand so weit an, dass eine „Verwechslung“, eine prekäre Annäherung des menschlichen an den göttlichen Blick innerhalb der Metapher immer schon ausgeschlossen ist: Der Blick Gottes wird als nicht von räumlichen oder zeitlichen Begrenzungen betroffen dargestellt: „Das Sehen Gottes unterscheidet sich grundsätzlich von dem menschlichen, da Gott nicht körperhaft ist und keiner Begrenzung von Raum und Zeit unterliegt. Von dem Sehen oder dem Auge Gottes kann man im Grunde nur metaphorisch als von seinem Handeln oder Wissen sprechen.6

Im Sinne eines „Handeln(s)“ erhält der Blick Gottes also eine Reihe von Funktionen, die über diejenige der Erkenntnis hinausgehen: Er tritt meist nicht in erster Linie als passiv aufnehmender, sondern als aktiver in Erscheinung.7 Er ist Mittel der Verteilung von Gnade und Erleuchtung, kann aber auch seltener vernichtenden Zorn bedeuten. Im Allgemeinen handelt es sich um einen Blick, der auf Einzelnen oder der Christenheit als ganzer ruht und aktiv Schutz spendet. Das Abwenden des göttlichen Blicks konnte so den Entzug von Gnade meinen – in Darstellungen des jüngsten Gerichtes blickt Gott bekanntlich meist nach rechts, zur Seite der Erlösten. Besonders in der spät- und hochmittelalterlichen Mystik wird er auch zum Akt der Schöpfung: „Die Allgegenwart des göttlichen Blickes, das Leben der Menschen in der Bewährung vor den Augen Gottes beherrschen das mittelalterliche Denken.“8 Im Zusammenhang dieser Untersuchung ist hier wohl zunächst interessant, dass es sich bei diesen Funktionen des göttlichen Blicks im Mittelalter, abgesehen davon, dass er in seiner allwissenden und Gnade spendenden Form klar von möglichen Bedeutungen menschlicher Blicke unterschieden ist, nicht im Sinne späterer Erscheinungsformen um solche des Überblicks handelt: So wie er hier verstanden werden soll, reagiert der metaphorische Überblick auf die Mängel eines Blicks im Unten, der das Einzelne nicht in den Zusammenhang des Ganzen stellen kann, indem er dieses Ganze jeweils von oben überschaut. Einen Überblick in diesem Sinne hat Gott in der mittelalterlichen Vorstellung nicht nötig. Er ist seiner Schöpfung gewissermaßen zu nah, um eine solche Erkenntnisleistung vollbringen zu müssen. Vor diesem Hintergrund bezieht sich sein Blick vor allem aktiv auf den Menschen – meist als Einzelnen. Vom Menschen aus gedacht bedeutet dieser Blick dabei eine Form der persönlichen, seltener der kollektiven Zuwendung. Am Blick Gottes wird 6

Ebd. S. 1110.

7

Vgl.: ebd. S 1107.

8

Ebd.: S. 1094.

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betont, dass er auf dir bzw. auf uns ruht, eine Betonung der göttlichen Erkenntnisfähigkeit in anderen Verhältnissen ist seltener. Ich werde im Folgenden an Beispielen zu zeigen versuchen, dass das Fehlen eines durch den Überblick zu behebenden Mangels in gewisser Hinsicht auch für das Selbstverständnis der Menschen galt: Ihr Wissen um die Welt und ihren Platz darin verdankte sich allenfalls einem nach oben zu Gott erhobenen Blick, der die durch den göttlichen gespendete Gnade aufnahm. Die Ordnung der Welt wurde bis gegen Ende des Mittelalters als gottgegeben und ungefährdet gedacht und in dieser Situation brauchte es nur eine Präsentation dieser Ordnung in der Offenbarung. Ein Wissen über den eigenen Ort, bestimmte Ganzheiten, in denen man sich befand, ergab sich auf diesem Wege und war damit unproblematisch. Die Ordnungsfunktion des Überblicks setzte einen Zustand der Auflösung überkommener Ordnung voraus. Es scheint zumindest aus heutiger Sicht nahe zu liegen, den göttlichen Blick auf den Menschen als Blick herab vom Himmel zu begreifen. Die regula benedicti legt dies auch nahe – dieser Text ist allerdings von Verhältnissen geprägt, die noch der Antike zuzurechnen sind. Und in dieser Epoche hatte der Überblick ganz allgemein gesprochen in verschiedenen auch nicht-religiösen Zusammenhängen große Bedeutung.9 Es muss also wohl auch für das hohe und späte Mittelalter gefragt werden, wie diese Positionierung im Himmel zu verstehen ist, zumal hier im Folgenden Beispiele behandelt werden sollen, die es fraglich erscheinen lassen, ob der Blick Gottes tatsächlich vor allem ein Blick von oben war oder ob seine Gerichtetheit auf den einzelnen Menschen und die allgemein geringe Bedeutung und mangelnde Artikuliertheit von zu überbrückender räumlicher Distanz dies nicht fraglich erscheinen lassen müssen. Die Antwort auf die Frage, wo Gott sich in den Vorstellungen der Zeit befand, scheint dabei aber zumindest für das hohe und späte Mittelalter klar: Er befand sich tatsächlich oben, insofern er im Himmelreich oder genauer – d.h. im zeitgenössischen Sinn wissenschaftlicher – in der von der Erde aus gesehen äußersten Sphäre des aristotelisch-ptolemäisch-christlichen Weltmodells verortet war. In diesem Modell thront Gott als unbewegter Beweger im Empyreum und verursacht von dort die Bewegung der äußersten Sphäre des Kosmos, diejenige des primum mobile. Dieses gibt sie weiter an die unter ihm liegenden Sphären und schließlich auch an die unterste, die sublunare, letztlich an die Erde.10 Die räumlichen Verhältnisse sind klar: Gott ist oben und der Kosmos liegt unter ihm – ganz unten liegt die Erde. Die mit Aristoteles allgemein angenommene ontologische Grenze zwischen 9

Vgl. Hadot 1991, S. 123-135.

10 Wobei Gott im mittelalterlichen monotheistischen Aristotelismus als Wirkursache dieser Bewegungen interpretiert wurde, wo er für Aristoteles Zweckursache war – also eine Ursache, die die Bewegungen im Sinne eines Ziels veranlasste und nicht im Sinne eines Anstoßes.

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dem sublunaren Bereich und den translunaren Sphären, in denen die in der Defizienz der irdischen Materie liegenden Mängel des Verfalls und der ungenauen Konkretisierung der Formen nicht statthaben, trennt zwar Gott vom Irdischen – sie tut dies aber nicht im Sinne einer neuzeitlichen Transzendenz. Gott und die Erde sind in einem Kosmos platziert und ihnen sind in diesem Kosmos jeweils bestimmte Orte zugewiesen. Gott von dieser Positionierung aus das Privileg eines Überblicks über das unter ihm Liegende einzuräumen, scheint vor diesem Hintergrund beinahe selbstverständlich. Wie gesagt, werde ich aber zu zeigen versuchen, dass dies nicht ausdrücklich im Sinne eines aus der Distanz das unten Liegende als Ganzes erfassenden Blicks geschah. Es geschah wohl deswegen nicht, weil ein Privileg eine prinzipielle Gefährdung des von ihm Eingeräumten voraussetzt. Eine solche war aber in der hochmittelalterlichen Gottesvorstellung nicht gegeben, ein göttlicher Blick von oben hätte seinem Subjekt metaphorisch weder Macht noch Wissen hinzufügen können. Zudem wurde die Verursachung der Bewegung des Kosmos durch Gott als durch Berührungen vermittelt gedacht – eine Form des Verhältnisses, die dem im neuzeitlichen Sinn gleichsam über ungefüllte Räume hinweggehenden visuellen Distanzsinn nicht die Wichtigkeit geben musste, die er später erhielt. Tatsächlich wird sich zeigen lassen, dass gerade im Moment der Auflösung der klaren räumlichen Hierarchie des christlich-aristotelischen Weltbildes, im Moment der Relativierung auch der Begriffe von „oben“ und „unten“ also, der Blick von oben in dem hier zugrunde gelegten Verständnis erscheint – eben weil er erst im Moment der Auflösung von Ordnung seine metaphorisch ordnende Funktion erhalten kann bzw. muss. Ähnliches scheint auch für die noch während des Mittelalters der aristotelischen Scholastik entgegengesetzten Tendenzen zu gelten: Die Volkskultur des Mittelalters scheint mit eher augustinisch geprägten theologischen Bestrebungen darin übereinzustimmen, dass die erdferne Platzierung Gottes im Kosmos nicht bedeuten könne, dass der Schöpfer nicht frei ist, jeder Zeit unmittelbar – am System der von außen nach innen gehenden Vermittlung von Bewegung vorbei – in den Lauf der Welt einzugreifen. In der Volkskultur tut die überirdische Welt genau dies immer wieder in sehr konkreter Weise. Auch in der im Jahre 1277 in Paris durch den Bischof ausgesprochenen Verdammung von aristotelischen Thesen äußerte sich die Bestrebung, die Allmacht Gottes gegen seine Angewiesenheit auf Vermittlung über den Kosmos zu verteidigen, wie sie vom sich in der Philosophie durchsetzenden Aristotelismus behauptet wurde.11 Es ist aufschlussreich, dass diese beiden Tendenzen, die sich ja bei der allgemein sehr großen mittelalterlichen Differenz zwischen der analphabetischen Volkskultur und der lateinischen Hochkultur ansonsten sehr fern standen, ebenfalls nicht zu einer signifikanten Bedeutung des (göttlichen) Überblicks in kulturellen Produktionen führten – abgesehen natürlich von jener Funktion 11 Vg.: Blumenberg 1981, S. 194, 555ff; Harries 2001, 133ff.

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des göttlichen Auges, als wissendes und Gnade spendendes, von dem oben die Rede war. Mag dies vor allem in der Volkskultur an einer allgemein sehr geringen Distanz zwischen der „Überwelt“ und der irdischen Lebenswelt gelegen haben, die dem Distanz schaffenden und überbrückenden Überblick keine Rolle zuweisen konnte, so verweist der allgemeine Mangel an Momenten des Überblicks in der Kultur darauf hin, dass der entsprechende Bildspender in der mittelalterlichen Lebenswelt ganz allgemein keine markante Funktion erhalten konnte oder besser musste. Ich werde im Folgenden nun also einige Hinweise zusammentragen und untersuchen, die meiner Ansicht nach dafür sprechen, dass das Bild des vom Himmel herabsehenden Gottes den Blick von oben auf für die Zeit bis ins Hochmittelalter unangemessene Weise betont, so dass eine interessante Differenz zwischen dem Mittelalter und nachfolgenden (vielleicht auch vorhergehenden) Zeiten verdeckt wird. Wie erwähnt erhielt der göttliche Blick auch im Mittelalter eine wichtige und allgemein verbreitete Funktion. Der Versuch aufzuzeigen, dass die Allgegenwart und alles erfassende Eigenschaft des göttlichen Blicks sich nicht einer erhöhten Perspektive verdankte, soll also keineswegs nahe legen, mittelalterliche Gottesvorstellungen hätten den „Allsehenden“ nicht als allmächtig oder eben auch „allsehend“ also allwissend begriffen. Der Vorwurf Gottes Allmacht zu leugnen war natürlich vielmehr, wie 1277, ein Grund bestimmte Thesen als gegen eine grundlegende Voraussetzung verstoßend abzulehnen. Sowohl die theologisch-philosophischen Vorstellungen als auch die Bedeutung der Visualität in menschlichen Belangen deuten aber darauf hin, dass der Blick von oben als durch eine bestimmte erhöhte Position ermöglichte Form der Wahrnehmung dabei keine Rolle als Bildspender einer Metapher spielte, zumindest keine herausgehobene. Ein erster Hinweis auf die Fragwürdigkeit des Bildes eines von oben die Welt überblickenden Gottes scheinen mir aber zunächst die bildlichen Umsetzungen kosmographischer Vorstellungen der Zeit zu sein, die ja zugleich immer auch Abbildungen und Positionierungen Gottes waren – zunächst in der abbildbaren Person des Sohnes, derjenigen Christi. Solche Darstellungen gaben den zeitgenössischen Entwurf sowohl des Kosmos als auch der in ihm gegebenen Hierarchien wieder, sie reflektieren dabei sowohl die mittelalterliche Aneignung antiker Theorie als auch deren christlich-theologische Verarbeitung. Zugleich erhielten sie aber auch für die Volkskultur in aufschlussreicher Weise Bedeutung und zwar bis in das späte Mittelalter hinein. Abbildung 1 zeigt eine solche hierarchische Ordnung des Kosmos. Im Mittelpunkt der Welt liegt die Erde und von ihr aufsteigend umgeben sie die Sphären des Kosmos, denen zunächst die Elemente, dann die Planeten und schließlich – in der Reihenfolge ihrer Wertigkeit, ihrer Würde die Ebenen der Seele und der Intelligenzen. Über dieser aufsteigenden Ordnung der Schöpfung thront in der äußersten

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Abbildung 1: Hierarchie des Seins, 12.Jahrhundert.

Paris, Bibliotheque Nationale, MS lat. 3236A, f. 90r.

Sphäre des Kosmos Gott in der Gestalt Christi, die „causa prima“ und der „Schöpfer aller Dinge“ der durch seinen „göttlichen Willen“ die Rechtmäßigkeit der dargestellten Ordnung verbürgt. Seine Füße reichen noch bis in den inneren Bereich der letzten ihm untergeordneten Sphäre der Welt: Offenbar Zeichen für die Menschwerdung Gottes und seine Beziehung zum Kosmos und letztlich zur Erde, jenem

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„Schemel für seine Füße“ unterhalb des Himmels, „Gottes Thron“.12 Über die verschiedenen Sphären steigen menschliche Figuren auf – bis hoch zu den Füßen Christi. Die obersten dieser Figuren berühren diese Füße, wobei die Begrenzung der letzten Sphäre genau über den Scheitel der rechten geht: In der Welt bzw. im Leben kann der Mensch über eine Art Leiter der Erkenntnis13 bis an die Grenze zum Ort Gottes, zur letzten Sphäre, zum Empyreum hinaufsteigen, indem er Anteil erhält an den in den darunter liegenden Sphären platzierten geistigen Prinzipien. Er kann aber an Gott nur in dessen Mensch gewordener Gestalt heranreichen, was sich in der Berührung der Füße Christi darstellt. Die Darstellung verbindet so eine an der Rezeption der antiken Philosophie geschulte hierarchische Vorstellung vom Aufbau des Seins14 mit christlichen und christologischen Grundsätzen. Diese sind es vor allem, die die Beziehung des Menschen zu Gott, der „causa prima“ in die Struktur des Seins einbringen – eben als Aufstieg der Seele (bzw. des Intellekts) zunächst bis zur innerweltlich möglichen Begegnung mit Gott, derjenigen mit seiner teilweise in die Welt unterhalb des Empyreums reichenden Inkarnation. Genauer gesagt basiert die hier dargestellte Ordnung des Seins vor allem auf Avicennas Interpretation der Metaphysik des Aristoteles und auf dessen kosmographischen Vorstellungen. Dies gilt zumindest für die zehn „Intelligenzen“, die Laut des islamischen Philosophen aus der ursprünglichen Anschauung Gottes durch die erste Intelligenz entstehen, die, indem sie sich von Gott unterscheidet, die ihm entgegengesetzte Schöpfung darstellt, die – in der Hierarchie absteigend – sich weiter in sich differenziert. „Causa prima“ ist Gott dabei nicht nur im Sinne des Subjektes der ursprünglichen Schöpfung, sondern auch in dem des monotheistisch interpretierten aristotelischen unbewegten Bewegers: Die von Gott in der äußersten Sphäre des Kosmos ausgehende Bewegung überträgt sich auf die darunter liegenden Sphären und so letztlich und nach Durchlaufen einer langen Kette von Vermittlungen auch auf die Erde. Die als Annäherung dargestellte Gotteserkenntnis des Menschen geschieht demgemäß auch nicht als Aufnahme einer unmittelbaren Wirkung Gottes auf der Erde, sondern als aufsteigende Anteilhabe an unabhängig im Kosmos existierenden geistigen Substanzen, die als Wirkung letztlich auf ihre gemeinsame Ursache verweisen. 12 Mat 5,34–35. 13 Aus späterer Zeit ist der Topos einer Heilsleiter oder -treppe bekannt, der uns auch im hiesigen Zusammenhang noch wiederholt begegnen wird. Es scheint aber fraglich, ob man in diesem Falle davon sprechen sollte: Die Heilstreppe zeigt den Weg des tugendhaften Menschen bis in den Himmel, ihre Stufen sind nach oben hin die Tugenden, nach unten hin die Sünden der Menschen. In der sogleich besprochenen Abbildung 2 begegnet uns ein frühes Beispiel dieser Vorstellung (Vgl.: Gesellschaft für das Schweizerische Landesmuseum 1994, S. 79). 14 Vgl.: Flasch 2000, S. 330ff ; Kenny S. 36f.

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Bei dieser Begegnung, dieser Beziehung zwischen Gott und Mensch scheint hier zweierlei bemerkenswert: Die menschlichen Figuren betrachten zum einen zwar auch die Füße Christi, sie berühren sie aber zudem – neben der (im menschlichen Rahmen möglichen) Schau Gottes steht hier offenbar zum Mindesten gleichberechtigt dessen Berührung. Die Berührung als größtmögliche Nähe steht neben dem Blick als Auffassung und Erkenntnis aus der Distanz. Zum zweiten ist das Gesicht Christi frontal erfasst. Sein Blick geht zum Blickpunkt des Betrachters, trifft dessen Blick, wie es für die im Ursprung byzantinisch geprägten Gottesdarstellungen bis ins Hochmittelalter nicht unüblich war. Also: Er geht nicht herab auf seine Schöpfung, über der er thront. Der Blick Gottes (also zumindest bis ins Hochmittelalter zumeist derjenige Jesu) ist nicht auf die unter ihm angeordnete Welt gerichtet, er trifft vielmehr den Blick des ihn anblickenden Betrachters des Bildes (bzw. der Ikone). Das so ermöglichte Ins-Antlitz-Schauen, das Sehen Gottes „von Angesicht zu Angesicht“15 war offenbar wichtiger, als die mögliche Darstellung eines das Ganze des Kosmos von einem im Bild selbst reflektierten Blickpunkt erfassenden Blickes. Die bildliche Vorstellung der „Schau Gottes“, so wie sie den Seligen möglich sein sollte – ihre geistige und unmittelbar sichere Erkenntnis des Göttlichen bedeutend – war mit diesem Blick in die Augen Christi verbunden – einerseits als Aufnahme des göttlichen Anblicks durch den Menschen, andererseits aber durch das Gesehen-Werden durch Gott, das sich eben auf jeden Einzelnen bezieht und nicht nur auf das Ganze der Menschheit oder der Welt. Verbunden war diese Weise der Darstellung auch mit dem im oströmischen Reich entwickelten „hypostati-

15 Genesis 32, 30; In diesem Zusammenhang legt Thomas v. Aquin die entsprechende Stelle wie folgt aus: „Jemanden von Angesicht zu Angesicht sehen, heißt aber sein Wesen schauen, nach 1 Kor 13, 12: ‚Wir sehen im Spiegelbild und im Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht‘“ (Summa I 12, 11). Dieses Sehen Von Angesicht zu Angesicht sei aber im Falle Gottes für den lebenden Menschen nicht eigentlich möglich, nur in Sinnesvorstellungen, die das Göttliche repräsentieren: „Das Wort Jakobs ‚Ich habe Gott geschaut von Angesicht zu Angesicht‘, geht also nicht auf das Wesen Gottes, sondern auf ein Bild, worin Gott zu erkennen war“ (ebd.). Auf diese Weise bedeuteten wohl auch die Abbildungen Gottes die erhoffte Gottesschau durch den Blick in sein Gesicht. Mit dieser Ablehnung der Möglichkeit, Gott könne in einer anderen Person als der des Sohnes sichtbar sein, setzt Thomas eine lange Tradition fort, die bereits bei Origenes ganz ähnlich formuliert wurde (De principiis 2.4.3.) und die betont, dass das „Sehen“ Gottes mit den „fleischlichen Augen“ grundsätzlich als Metapher für das Wissen um Gott zu verstehen ist. Diese Voraussetzung begann sich im Laufe der Gotik zu verändern, was u.a. zum letztlich in der zentralperspektivischen Malerei gipfelnden Versuch von illusionistischen Darstellungen führte, die Glaubensinhalte auch im wörtlichen Sinn sichtbar machen sollten. (Vgl.: McGinn 2004, Edgerton 1991).

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schen“ Bildbegriff.16 Nach dieser Vorstellung prägte das göttliche Urbild sich von sich aus – im Bestreben sich zu offenbaren – in das Material ein, wie sich das Antlitz Jesu in der Legende17 in das Mandylion abgedrückt hatte. Wie frühe antike optische Theorien (von Demokrit u.a.) hingen die Autoren der Ikonen-Theorie einem bestimmten Verständnis der visuellen Wahrnehmung an, nach dem sich von der Oberfläche des gesehenen Objektes „Bildchen“ ablösen, die dann ins Auge eindringen und dort – regelrecht im Sinne einer Wahrnehmung des Tastsinns – erkannt werden.18 Das Bild als materieller Träger ist also gleichsam ein Medium, in dem sich das Göttliche aktiv abgebildet hat, der Prozess des Malens und damit auch das Subjekt des Maler-Handwerkers wurden so eliminiert. Eine Folge dieses Bildbegriffs war, dass die Legitimität, die Richtigkeit der Abbildung sich aus der Tradition begründete: Die Natur als im Einzelnen Wahrgenommenes spielte in der Entstehung des Bildes keine Rolle, alle Bilder mussten der Ikonographie entsprechen, um so letztlich dem Mandylion zu entsprechen. Eine weitere Folge war, dass Christus als in seinem Bild tatsächlich anwesend betrachtet wurde, insofern sich sein Urbild, seine Form in dieses eingedrückt hatte. Insofern ereignet sich eine Hypostase des Bildes. Angesichts der Ikone erblickte der Betrachter also den Herrn als solchen und wurde von ihm erblickt – in der in Stoff einprägbaren Form seiner Menschwerdung natürlich. Dieses dem Menschen schon im Leben mögliche Schauen Gottes scheint sich im Allgemeinen mit dem Ins-Antlitz-Schauen verbunden zu haben. Das Bild bedeutete die Präsens einer göttlichen Person (insofern etymologisch: einer 16 Vgl.: Spanke 2004. 17 Spätestens seit dem 6. Jahrhundert ist die Legende des Königs Abgar überliefert, der seinen Maler Hannan zu Jesus schickt, um ihm ein Bild mitzubringen, von dem er sich Heilung von einer Krankheit erhoffte. Es gelang aber dem Maler nicht, dieses Bild zu malen – wohl, weil sein Gegenstand zu unfassbar war, um durch einen Menschen abgebildet zu werden. Also drückt Jesus sein Antlitz in ein Tuch – eben das Mandylion – und sendet dieses dem König (Vgl.: Spanke 2004, S. 48ff). 18 Eine Theorie, der schon in der Antike vorgehalten wurde, dass so kaum erklärt werden könne, wie z.B. das Bild eines Berges in ein viel kleineres Auge gelangen könne oder wie verschiedene Menschen zur gleichen Zeit das gleiche sehen könnten. Dass eine solche Theorie aber überhaupt möglich war, deutet wohl auf eine grundlegend von späteren verschiedene Beziehung der Menschen zu ihrer Umwelt hin, in der der Sehsinn nicht in dem Maße als distanzierend erlebt wurde, wie es später der Fall war – so dass man annehmen musste, er funktioniere, indem etwas Körperliches den empfindungsfähigen Teil des Auges berühre, sich dort eben abdrücke (Vgl.: Lindberg 1987). Die entsprechende Theorie der sich im Medium vom Objekt ausgehend fortpflanzenden „species“ setzt sich aber fort bis z.B. zu den einflussreichen optischen Vorstellungen Roger Bacons, die noch für die Maler der frühen Renaissance große Bedeutung hatten – wenn auch in Verbindung mit einem veränderten Bildbegriff. (Vgl.: Edgerton 1991, S. 88ff).

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göttlichen Maske) und diese sich wiederum in dem Wechselspiel von Sehen und Gesehen-Werden. Naomi Reed Kline bezieht sich in ihrer Analyse der mappa mundi aus Hereford ebenfalls auf diese Darstellung. Ihre Übertragung auf die Hereford-Karte und die Darstellung des Jüngsten Gerichtes in ihrem oberen Bereich enthält dabei eine Schlussfolgerung, deren Berechtigung hier hinterfragt werden sollte, ich möchte sie daher schon hier zitieren, noch bevor die mappae mundi auch in dieser Untersuchung zum Thema gemacht werden: „The Scale of Being is the visualization of the medieval desire to rise above the temporal world, to move from the earthly to the heavenly realm. It provides a diagrammatic bridge to understanding the hierarchical organization of the Hereford map. […] The fact, however, that the Hereford map’s circular world is surmounted by the vision of the Last Judgement takes us from the temporal realm into the eternal one. The map becomes not merely a picture of the world but rather a portrait of God above the universe as he looks down upon the earthly.“19

Diese letzte Bemerkung ist es eben, die weder bei einer Betrachtung der Pariser Hierarchie des Seins noch einer solchen der Hereford-Karte gerechtfertigt erscheint (auch auf letzterer ist das Gesicht des thronenden Christus frontal erfasst – in Richtung des Betrachters der Karte, nicht der abgebildeten Welt unter ihm blickend). Es wird weiter unten noch gefragt werden, ob der Blick des Betrachters einer solchen Weltkarte die Position eines göttlichen Blicks einnimmt – abgebildet ist ein solches Blickverhältnis im Bild aber offensichtlich nicht. Und daraus, dass Christus als über der Schöpfung thronend abgebildet ist, folgt ja keineswegs, dass er auf diese herabblickt. Nicht dieser Blick von oben auf das unten Liegende als solches scheint das Bestimmende dieser Darstellungen zu sein, sondern vielmehr die Tatsache, dass der einzelne Betrachter von Gott angesehen wird bzw. dass ihm dessen Antlitz zugewandt ist. Dies gilt ganz ähnlich wohl auch allgemein für Darstellungen des Jüngsten Gerichtes. Vor Ende des Mittelalters bedurfte Gott (Christus) in der Vorstellung der Zeit offenbar keines Blickes, um die zu Erlösenden von den Verdammten zu scheiden. Das Gericht verdankte seine Gerechtigkeit nicht ursächlich dem wissenden und alles erkennenden Blick des Schöpfers auf die Schöpfung. Vielmehr wusste Gott immer schon um den Wert jedes Einzelnen.20 Sein Blick hatte vor allem Gnade spendende bzw. verweigernde Funktion, war also aktiv, war Konsequenz aus dem Wissen um den Wert des Angeblickten. Dies kann an einer Miniatur aus dem Huth19 Kline 2001. 20 Zumal ihm mit dem „Buch des Lebens“, in dem die Namen der Gerechten aufgelistet waren eine andere Möglichkeit, ein anderes Medium zur Verfügung (vgl.: Blumenberg 1986, S. 22ff).

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Psalter aus der Zeit nach 1280, verdeutlicht werden (Abbildung 2): Auch hier thront Christus im Himmel über der Welt. In diesem Fall wird sein Thron dabei mit dem himmlischen Jerusalem identifiziert, das am jüngsten Tag vom Himmel auf die Erde herabkommt.21 Dieser Bereich ist durch eine typische Mandorla abgegrenzt, die von zwei dienenden Engeln gehalten wird. Die Füße Christi ruhen auf dieser Begrenzung und überragen sie teilweise. Der eigentliche Bereich des Himmlischen erschöpft sich aber nicht in diesem Bereich mit dem Thron Gottes, vielmehr nimmt er die gesamte obere Hälfte der Abbildung ein: Die Engel und die zur Rechten ihres Sohnes abgebildete Gottesmutter, die mit bzw. bei der Milch ihrer entblößten Brust für die Seelen der Sünder bittet, haben ihren Platz natürlich unter den in den Himmel entrückten Seligen – auch wenn sie eine Verbindung zwischen den Menschen und dem Himmlischen darstellen. Himmel und Erde trennt ein Balken in der Bildmitte. Der Bereich der Erde ist dabei wiederum in zwei Ebenen unterteilt: unten derjenige Bereich, in dem die Toten auf den jüngsten Tag gewartet haben, die Guten auf der linken Seite (zur Rechten Christi) in ihren Gräbern, die Bösen im Fegefeuer. Darüber werden sie ihrer Bestimmung in der Ewigkeit zugeführt: Die Guten werden in den Himmel, die Bösen in die ewige Verdammnis geführt. Interessant ist hier nun der gewissermaßen statische Aufbau der zugrundeliegenden Vorstellung: Die Schöpfung und das sich in ihr abspielende Heilsgeschehen sind in strikt voneinander getrennte, auf bestimmte Weise moralisch konnotierte Bereich geteilt, zwischen denen weder eine kontinuierliche Bewegung noch ein über die Begrenzungen hinweggehender Blick stattfindet. Die Blicke der Figuren bewegen sich stets innerhalb ihres Bereiches und so wenig wie sie die jeweils angrenzenden Positionen sehen, so wenig ist offenbar auch die Möglichkeit eines „Hinübergehens“ von einem Bereich in den anderen bildlich umgesetzt. Dass die zu Erlösenden auf dem Weg in den Himmel sind, wird weder vermittelt, indem sie als „Gott schauend“, noch als in den Himmel aufsteigend gezeigt werden, es äußert sich vielmehr in erster Linie in der nach oben zeigenden Geste des sie führenden Engels. „Gott schauen“ (sich seiner unmittelbar, wie in einer sinnlichen Wahrnehmung gewiss sein) werden die Erlösten also erst dann, wenn sie im Himmel selbst angekommen sind. Dies spricht für folgendes: Die klare und eindeutige Aufteilung in Gut und Böse ist zwar auf einer vertikalen Achse angeordnet (natürlich auch auf einer horizontalen: die Erlösten befinden sich wie üblich zur Rechten Gottes) – das Heilsgeschehen wird als Aufstieg dargestellt. Im Vordergrund steht dabei aber eine moralische und hierarchische Bedeutung der auf dieser Achse angesiedelten Positionen. Der Abstand zwischen oben und unten ist ein moralischer, er ist nicht zu verstehen als artikulierte räumliche Distanz, die es durch eine – entsprechend visuelle – Wahrnehmung oder eine Bewegung zu überwinden gälte. Die räumliche Organisation des Bildes bestimmt die Kategorien bzw. Oppositionen von „oben“ und „unten“ und „rechts“ und „links“ also vor allem über die 21 Und als „Gottes Thron“ wird es in der Bergpredigt ja auch bezeichnet (Mat 5, 35).

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auf Gott bezogene Wertigkeit. Die räumlichen Verhältnisse sind gleichsam in ihrer hierarchisch-wertenden Funktion gebunden und wirken sich nicht im Sinne einer artikulierten Bestimmbarkeit von Distanzen aus. die Frage wie weit etwas oben ist, erhält keinen Sinn vor derjenigen, was überhaupt oben ist. Die Figuren erscheinen den so geschaffenen moralischen Orten zudem als statisch zugeordnet, der moralische Ort einer Figur ist Teil ihrer wesenhaften Bestimmung.22 Abbildung 2: Jüngstes Gericht, nach 1280.

Huth Psalter, Britisch Library, London, MS Add. 38116, f. 13v.

22 Zumindest gilt dies für die unmittelbar auf Moralisches gerichtete Darstellung des Jüngsten Gerichtes. In Abbildung 1 erscheint ein Aufstieg des Menschen über die wertbesetzten Orte, die Sphären, durchaus möglich, was wohl daran liegt, dass es hier um ein Aufsteigen der Erkenntnisfähigkeit des Menschen geht, der an nach oben hin immer wertvolleren geistigen Prinzipien – den Vermögen der Seele und den Intelligenzen – Anteil erhält (bei denen es sich freilich um im Bau des Kosmos selbst integrierten Wesenheiten handelt, die für sich existieren, als solche nicht etwa von irgendeiner Entwicklung eines eigenständigen menschlichen Geistes abhängig wären).

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Vergleicht man Abbildung 1 und 2, so ergibt sich – auf den Gegenstand dieser Untersuchung bezogen – folgendes vorläufige Bild der Beziehung zwischen Mensch und Gott: Die Ordnung der Welt ist hierarchisch vertikal geordnet und die Wertigkeit ihrer Elemente steigt mit deren Annäherung an den oben platzierten Gott an. Diese Ordnung ist dabei statisch. Sie ist in fixierter Form gegeben und weist dem in ihr Platzierten Wert zu. Im Sinne der Abbildungen blickt dabei Gott nicht auf das unter ihm Angesiedelte herab, obwohl seinem Blick offenbar große Bedeutung zukommt als allwissender und Gnade spendender Blick auf den einzelnen Betrachter. Kurz: Die hierarchische Funktion der Vertikalen überwiegt deren Bedeutung als Wahrnehmungsmöglichkeiten schaffende Anordnung von Blickpositionen. Vor allem Abbildung 1 thematisiert dabei die Bedeutung des Mensch gewordenen Gottes: Er ist derjenige Aspekt des Göttlichen, der bis in den irdischen Bereich hineinreicht und der Gegenstand menschlicher Erkenntnis sein kann. Ihm näheren sich die Menschen, wenn sie auf der Leiter der Erkenntnis bzw. des Heils aufsteigen. Die größtmögliche Nähe drückt sich dabei durch die Berührung aus. Als vorläufige und bisher nicht aus allgemeineren kulturhistorischen Gegebenheiten heraus begründete Antwort auf die oben formulierte Frage zum Blick Gottes kann also folgendes formuliert werden: Der Blick des Schöpfers mag Ausdruck seiner Allwissenheit und Allmacht sein. Sicher drückt er auch die menschliche Sehnsucht nach Gesehen-Werden durch Gott aus. All dies wird aber nicht in signifikanter Weise durch seinen Blick von oben auf die Schöpfung bedeutet. Von ihm ausgehend organisiert sich vielmehr eine Hierarchie von nach ihrer Wertigkeit gestaffelten Orten, die aufsteigend eine größere Nähe zu Gott darstellen – im Wissen oder auf die Erlösung bezogen. Kurz: Dass der Himmel oben ist, bedeutet, dass er besser ist als das unten Angesiedelte. Es verbindet sich nicht mit einer privilegierten Position der Wahrnehmung und mit in ihr enthaltenem Wissen oder Macht. Auch das vor allem von Abbildung 1 vorausgesetzte aristotelische Weltbild scheint sich also zunächst vor allem in seiner hierarchischen Staffelung des Kosmos in die mittelalterliche Vorstellungswelt integriert zu haben, seine im heutigen Sinne „rein“ räumlichen Implikationen (und damit die von ihnen ermöglichten verschiedenen Wahrnehmungsmöglichkeiten bzw. -unmöglichkeiten) wirkten sich isoliert nicht aus. Es mag schon hier darauf hingewiesen werden, dass sich mit den beschleunigten und schließlich nicht mehr zu übersehenden Veränderungen der Repräsentation von Welt, wie sie die Renaissance seit Beginn des 15. Jahrhunderts mit sich brachte, in diesen Zusammenhängen der Standard ändert: Das Bild Gottes wird schließlich in dem über der Landschaft sich erstreckenden irdischen Himmel platziert. Gott blickt von dort oben herab auf die Welt unter ihm – meist aus einer die Mandorla oder den durch Goldgrund abgegrenzten himmlischen Bereich ersetzenden Wolke, die ihm als zugleich ver- und enthüllendes Medium der Selbstoffenbarung dient. In gewisser Hinsicht könnte man sagen er throne auf diese Weise nicht mehr, sondern fliege

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(wenn auch mit metaphorischer Bedeutung). Die Position seiner Allmacht und Allwissenheit verbindet sich dadurch mit einer bestimmten Perspektive der Wahrnehmung, mit derjenigen des Blicks von oben. Repräsentiert wird dadurch nicht nur eine von Gott ausgehende Ordnung, sondern auch räumliche Verhältnisse in ihrer Auswirkung auf Blicke – die zunächst abstrakte Repräsentation der göttlichen Ordnung bekommt gewissermaßen räumliche Ausdehnung und die den Raum überbrückende Bewegung und Wahrnehmung dadurch eine neue Funktion. Einer der ersten Maler, der versuchte durch Perspektive den Eindruck eines Tiefenraums hinter der Oberfläche der Abbildung zu erzeugen war bekanntlich Giotto. Betrachtet man die Darstellung der Verkündigung im Zusammenhang seiner Ausmalung der ArenaKapelle in Padua, so stellt man fest, dass – ganz anders als dies z.B. auf Abbildung 2 zu sehen war – die weit voneinander entfernten Darstellungen des Verkündigungsengels auf der linken Seite des Triumphbogens vor der Apsis, Marias auf der rechten und diejenige Gottvaters darüber durch über die Entfernung hinweggehende Blicke aufeinander bezogen sind. Nicht nur blicken sich Maria und der Engel an, auch der im Himmel thronende Vater blickt auf den Boten zu seiner Rechten herab, so dass sein Blick (und seine segnende Geste) das den Engel umgebende Licht zu erzeugen scheint, das über den Bogen hinweg zu Maria sich fortsetzt als Medium der Verkündigung und Befruchtung. Auch auf der Darstellung des Jüngsten Gerichtes an der Westwand gegenüber richtet Jesus seinen Blick nach rechts, auf die Erlösten unter ihm. Er scheint in seiner goldenen Mandorla durch einen irdischen Himmel zu schauen, jenen Himmel im wörtlichen Sinne, in dem Giotto so oft auf ganz neue Weise seine nunmehr eben im vollen Sinne fliegenden Engel platzierte, wie sie von oben herab das Leben der Menschen beobachten, beeinflussen oder beweinen. Hier ist also zumindest eine grundlegende Voraussetzung dafür angelegt, dass ein Blick von oben zum bestimmenden „Medium“ zwischen Gott und Welt werden kann – wenn man auch sagen muss, dass dieser Blick noch nicht jene Beziehung zu einem erblickten Ganzen beinhaltet, die den Überblick kennzeichnet, von dem hier die Rede ist. Der göttliche Blick bei Giotto richtet sich im Sinne der mittelalterlichen Tradition persönlich auf Einzelne, ohne sie in einen größeren Kontext einordnen zu wollen, der über die überkommene Darstellung der göttlichen (Heils-)Ordnung hinaus ginge, die ja zuvor auch ohne die Bezugnahme auf diesen Blick darstellbar war. Die Funktion dieses Blicks ist wie auf der Verkündigung gegenüber eine aktive, eben Gnade spendende. Über die Erkenntnis von Gut und Böse verfügt Gott immer schon, sie bedeutet sich hier nicht in seinem Blick (der ja nur nach rechts zur Seite des Guten geht).23

23 Vgl.: Edgerton 1991, S. 84. Die Bedeutung der neuen perspektivischen Malerei für die Funktion von Überblicken wird im zweiten Teil dieser Arbeit Thema sein.

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Wendet man sich nun einer Quelle zu, die als eine der wohl eher spärlichen Grundlagen zur Beschreibung der mittelalterlichen Volkskultur gelten kann, so wird man feststellen, dass diese grundsätzliche Funktion von Raum und die unterbleibende Thematisierung von Überblicken im Hochmittelalter für diesen Bereich der Kultur ebenfalls galt: Auch mittelalterliche volkssprachige Predigten ergeben dieses Bild. Die wohl bekanntesten und auch in großem Umfang überlieferten Texte dieser Art sind diejenigen von Berthold von Regensburg (ca. 1210 bis 1272). Berthold predigte im südlichen Teil Deutschlands von den 50er Jahren des Jahrhunderts an und erreichte eine für damalige Verhältnisse überaus große Menge von Menschen. Sein Publikum setzte sich vor allem aus einer städtischen Bevölkerung zusammen, also vielfach aus Handwerkern, an diese richtet er sich oft, nicht zuletzt in Kenntnis ihrer nicht immer ehrlichen Geschäftspraktiken.24 In mehreren seiner Predigten bedient er sich auf typische Weise kosmographischer Vorstellungen zur Verdeutlichung theologischer Inhalte. Besonders eindeutig wird er dabei in seiner Predigt „Von den siben planêten“.25 Diese Planeten, die in ihren Sphären über der Erde am Himmel sich bewegen, stellt er seinen Zuhörern zunächst als Teil eines von zwei Büchern vor, die von Gott gegeben dem Menschen den Weg ins Himmelreich weisen sollen. Dieses Buch kann von den schriftunkundigen Laien bei Nacht gelesen werden, die Erde ist derjenige Teil dieses Buches, der bei Tage zu lesen ist. Den schriftkundigen „pfaffen“ steht ein weiteres Buch zur Verfügung, natürlich die Heilige Schrift, die ebenfalls wieder aus zwei Büchern sich zusammensetzt, der „alten ê“ und der „niuwen ê“, dem alten und neuen Testament: „Und alsô hât uns got disiu buoch gegeben ze wîsunge, wie wir in daz geheizen lant suln komen; daz ist daz himelrîche, daz er uns sît anegenge der werlte bereitet hât.“26

Die lehrreiche Funktion der sieben Planeten besteht nach Berthold nun darin, dass sie für sieben Tugenden stehen, an die sie die Menschen erinnern sollen. Er zählt sie in der Reihenfolge der Wochentage auf, denen sie ihre Namen geben (im Deutschen nur teilweise, was ihm „vil leit“ ist). Die Sonne bedeutet dabei den reinen Christenglauben, der Mond die Demut, der Mars die Stärke des Geistes im Kampf gegen die Sünde, der Merkur den Frieden, Jupiter die Mildtätigkeit, die Venus die (Nächstenund Gottes-) Liebe und der Saturn schließlich die Standhaftigkeit (im Glauben und in der Tugend). Berthold verknüpft also die kosmographische Vorstellung von den von der Erde in Richtung Himmel aufsteigenden Planetenbahnen mit dem Aufstieg der Seele ins Himmelreich, mit ihrer Erlösung und diese Erlösung vollzieht sich eben über die Befolgung der sieben Tugenden. Der „Aufstieg“ in Richtung Him24 Vgl.: Gurjewitsch 1997, S. 153ff. 25 Berthold von Regensburg 1965, Bd. I, S. 48. 26 Ebd.

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melreich wird also auch hier im Sinne der „Heilsleiter“ in rein moralischen Kategorien bestimmt. „Oben“ und „unten“ sind moralische Kategorien, sie haben nichts zu tun mit einem Zusammenhang räumlicher Positionen mit Wahrnehmungsmöglichkeiten oder entsprechenden Privilegien. Der Blick zum Himmel, das Lesen in diesem gottgegebenen Buch, ist insofern ein Sich-Erinnern an Gottes Gesetz, an dessen Ordnung. Wird dieses befolgt, so besteht Hoffnung auf Erlösung, Hoffnung darauf ins Himmelreich zu gelangen – und dieses ist zwar „oben“ angesiedelt, aber nur deswegen, weil das Gute oben in der Nähe Gottes ist. Besonders deutlich wird dies an der Begründung, die Berthold dafür gibt, dass der Mond für die Demut zu stehen hat: Dies liege daran, dass er der niedrigste (der Erde, der sublunaren Sphäre, nächste) Stern sei: „Wan der mâne ist der aller niderste sterne der am himel ist; und als vil er niderre ist dan ander sternen, als vil sol sich der mensche dêmüetigen.“27

Die Niedrigkeit der Sphäre des Mondes – die ja eine für die Planeten größtmögliche Ferne von Gott ist – steht also unmittelbar für die Erniedrigung des menschlichen Subjektes, für das Gegenteil der Selbsterhöhung mithin. Letztere erschiene so als moralische Kategorie, die sich schlicht in der durch die Willkür dieses Subjekts vollzogenen Erhöhung in einem räumliche Positionen mit Wertigkeiten besetzendem Schema darzustellen hätte, in einer sozusagen nicht den richtigen Weg über die Tugenden nehmenden Annährung an die Sphäre Gottes – nicht in irgendwelchen (Wahrnehmungs-)Möglichkeiten, die diese erhöhte Position als solche und damit in Bezug auf das unten Liegende in sich birgt. Wie später noch zu zeigen sein wird, ändert sich auch dies spätestens zur Zeit der Renaissance in aufschlussreicher Weise, indem der Blick von oben herab auf die Erde zum eigentlichen Zeichen der Hybris wird. Die hier einleitend untersuchten Beispiele geben somit erste Hinweise darauf, dass die mittelalterliche Vorstellung keinen Platz dafür ließ, einem Überblick Funktionen zu geben, die er später erhalten sollte, und deren komplexen Zustand zur Zeit der Moderne ich in der Einleitung bereits umrissen habe. Um zu erklären, warum dies so war, muss wohl ein wenig Licht geworfen werden auf die Faktoren, die auch in diesem Zustand die Funktion von Überblicken bestimmen. Wenn er später in eine bestimmte Verbindung zur Konzeption des Individuums und damit auch des Selbstbezugs trat, wie stellen sich diese Bereiche im Mittelalter dar? Und wenn er später in eine Verbindung zur Macht treten konnte, so dass er zu einem Zeichen und Privileg dieser Macht werden konnte, wie verband sich im Mittelalter die Macht mit dem Blick und entsprechenden Privilegien? Diese beiden Komplexe werden wohl 27 Ebd., S. 53.

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auch weiteren Aufschluss darüber geben, in welcher Beziehung das Auge Gottes, der Blick Gottes auf den Menschen zu jenen formalen und funktionalen Eigenschaften des Überblicks stand, die – wie zu zeigen sein wird – seit der Renaissance immer bedeutender für den Menschen wurden.

I NDIVIDUUM

UND

S ELBSTBEZUG

IM

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Das ausgehende Mittelalter im Übergang zur Renaissance ist eine Zeit, in der sich verschiedene Entwicklungen zu zeigen beginnen, die man – vom Maßstab des heutigen Bezugs zum Einzelnen, zum Individuum her gedacht – als eine „Entdeckung“ dieses Individuums beschreiben könnte.28 Diese Entwicklung hängt eng mit dem Phänomen des Überblicks zusammen, dessen Funktionsgeschichte hier nachgezeichnet werden soll: zum einen weil sie die Gestaltung des Verhältnisses von göttlichem und menschlichem Blick betrifft, zum anderen, weil sie die Inhaltsseite des (heutigen) Phänomens des Überblicks angeht, das Selbst, allgemeiner das Individuum als Gegenstand der Betrachtung im Bereich des Überblickten. Wie schon angekündigt, wird sich dabei zeigen, dass eine vorschnelle Übertragung der Funktion späterer Überblicks-Formen auf solche des Mittelalters nicht angemessen ist – mit ersten Einschränkungen dieses Befundes ab dem 14. Jahrhundert. Die Bedeutung des Blicks auf überschaubare räumliche Zusammenhänge und die in ihnen platzierten Individuen war bis dahin, wenn er überhaupt auftrat, in mehr als einer Hinsicht eine andere, als dies später der Fall war oder gar heute der Fall ist. Die Bestimmung des Individuums bis ins 13. Jahrhundert geschah sowohl in der philosophisch-theologischen Reflexion als auch in der gewissermaßen vom zeitgenössischen „common sense“ regierten Praxis durch eine Zuordnung des Einzelnen zu übergeordneten Universalien. Das Einzelne – das individuum im Sinne des Einzeldings – war bestimmbar, insofern es Anteil hatte an übergeordneten Kategorien. Die Unterscheidung des einen vom anderen war nicht auf Grund einer immer schon angenommenen ontologischen Einzigartigkeit des Einzeldings möglich, sie ergab sich vielmehr gewissermaßen aus der Addition der Oberbegriffe, unter die es fiel und durch die es bestimmt war. Die Unverwechselbarkeit des Einzelnen wurde als 28 Wobei man wohl betonen muss, dass diese Sprechweise problematisch ist. Es kann nicht ohne einen Mangel an Distanz zu eigenen – historisch zufälligen – Prägungen, von der „Entdeckung des Individuums“ als Entdeckung eines immer schon gegebenen, nur unterdrückten oder verschütteten „Kerns der Persönlichkeit“ o.ä. die Rede sein. Die „Entdeckung des Individuums“ ist wohl eher eine Entwicklung, in deren Zuge sich auf Grund bestimmter Umstände diejenige Art des Selbst- und Fremdbezugs gebildet hat, die bis heute die herrschende ist. Es hat in früheren Epochen andere Formen eines solchen Bezugs gegeben. Vgl. z.B.: Sonntag 1999, S. 14f. oder Gurjewitsch 1994, S. 18f.

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ontologisch zufällig gedacht – oder aber als Privation, als Mangel an Anteilhabe am Allgemeinen:29 „Das mittelalterliche Universum, das eben ratione divina gebaut ist und deshalb die individuelle Existenz dem allgemeinen Typ unterstellt, sie an der universellen Norm mißt und sie unbedingt als Element eines Ganzen erkennt, stellt dem Individuum keine Möglichkeit der Selbstbestimmung außerhalb seiner Funktion als pars in toto frei.“30

Dies bezieht sich wie gesagt sowohl auf die Stellung des Individuums in der philosophischen Debatte als auch auf das alltägliche Leben der Menschen. Für erstere gilt, dass sie dem Individuum in der ontologischen Hierarchie des Seins, die der als pyramidenförmig gedachten Unterordnungsstruktur der Begriffe entsprach, die unterste Stellung zukam. Es war bestimmt durch die Universalien, unter die es fiel, und es zu erkennen hieß, es diesen zuordnen zu können. Vor diesem ontologischen und erkenntnistheoretischen Hintergrund hatte es gewissermaßen keinen eigenen Wert, von dem abgesehen, der daraus erwuchs, dass es zur Extension eines übergeordneten Begriffs gehörte. Das Individuum war „metaphysisch im Grunde nichts aus ihm je eigener Bestimmung, sondern der Komplex von Akzidenzien, deren Kombination gleichsam statistisch Einmaligkeit beanspruchen kann. Von höherem Rang als ein solches zufälliges Seiendes waren nach dieser bis ins 12. Jahrhundert geltenden Überzeugung die Bestimmungen, die vielem zukommen und nicht nur logisch, sondern auch ontologisch vieles unter sich befassen.“31 Es liegt auf der Hand, dass vor dem Hintergrund eines solchen Bezugs zum Einzelnen kein Platz für eine empirische Haltung den Dingen gegenüber war. Das genaue Hinsehen auf das konkrete und kontingente Einzelding hatte in wissenschaftlichen Zusammenhängen keinen eigenen Sinn, konnte keine wesentliche Erkenntnis hervorbringen. Es erfasste – auch als Sehen im wörtlichen Sinn gemeint – immer nur Zufälliges. Erst wenn das konkret Wahrgenommene als Ausdruck des Allgemeinen, das als solches objektiv in der Ordnung der Schöpfung vorgesehen war, verstanden werden konnte, war es überhaupt verständlich. Eine nicht über das Allgemeine vermittelte sinnliche Präsens des Einzelnen, wie sie letztlich Grundannahme einer empirischen bzw. empiristrischen Haltung oder Theorie ist, spielte keine Rolle. Diese Haltung begann sich offenbar frühestens im Laufe des 13. Jahrhunderts zu verändern – u.a. unter dem Einfluss der zugänglich gewordenen natur29 Vgl.: Boiadjiev, T., „Marginalisierung als principium individuationis des mittelalterlichen Menschen – am Beispiel Abaelards“, in: Aertsen 1996. 30 Ebd.: S. 115. 31 G. Mensching, „Zur Neuentdeckung des Individuationsprinzips im 13. Jahrhundert und seinen Antinomien bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus“, in: Aertsen 1996, S. 288.

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philosophischen Schriften des Philosophen, des Aristoteles, und der Entwicklung der Medizin. Ein wissenschaftlicher Zugang zum Einzelnen, der der sinnlichen Wahrnehmung eine eigenständige Stellung als Erkenntnismethode gab, ergab sich anfangs in wissenschaftlichen Zusammenhängen, die zudem eher am Rande der Leitwissenschaften der Philosophie und Theologie betrieben wurden – zunächst sicherlich nicht in der mittelalterlichen Alltagskultur. In jenen aber bezog sich die empirische Haltung anfangs auf Körper – auf menschliche und tierische.32 In Philosophie und Theologie setzte sich im Laufe des 14. Jahrhunderts immer stärker eine nominalistische Position durch, die sich vom Realismus in Bezug auf den ontologischen Status der Universalien früherer Zeit dadurch abgrenzte, dass die Allgemeinbegriffe in verschiedener Ausprägung als durch den menschlichen Geist aus den Eigenschaften der Einzeldinge konstruiert erschienen und damit nicht mehr als im Bau der Schöpfung enthaltene, „real“ und für sich existierende Substanzen. Im späten Mittelalter gab dies auch in der philosophischen Reflexion immer mehr einer empirischen Haltung dem Einzelding gegenüber Sinn. Der einzelne Gegenstand der Beobachtung erschien nun als realer Ausgangspunkt der Begriffsbildung und letztere so als kontingentes Produkt des menschlichen Geistes. Indem dieses Verständnis des ontologischen Status und der entsprechenden Dignität des Einzeldinges schließlich zur herrschenden Lehre wurde, konnten solche Ideen auch für die Kunst Bedeutung erhalten – teilweise als bewusste intertextuelle Bezüge oder aber als Ausdruck einer allgemeinen Veränderung des Weltbezugs, die kulturellen Phänomenen verschiedener Bereiche zugrunde lag.33 Gegen Ende des Mittelalters hatten sich so schließlich die Voraussetzungen ergeben, die es letztlich ermöglichten auch die vorherrschende aristotelische Wissenschaft zu hinterfragen und ihr ontologisch hierarchisches Weltmodell im Sinne der entstehenden neuzeitlichen Wissenschaft aufzulösen und damit nicht zuletzt räumlichen Verhältnissen ihre wesentliche Verbindung zum Wert des in ihnen wesentlich Platzierten zu nehmen. Verhältnisse, die denen in der Philosophie und Theologie bis ins Hochmittelalter entsprechen, prägten aber auch die Alltagskultur auf ganz konkrete Weise. Sie überdauerten lange wohl auch Veränderungen auf deren Gebiet, wie sie u.a. der Nominalismus einläutete oder ausdrückte. Zumindest bis zur Entstehung einer unabhängigen städtischen Kultur seit dem 13. Jahrhundert und in weiten Bereichen der Gesellschaft lange darüber hinaus, bemaß sich der Wert und gewissermaßen auch der semantische Wert, die Bedeutung, des einzelnen Menschen ausschließlich nach seiner Stellung in einem ihm übergeordneten Ganzen. Er war bestimmt als Teil einer Gruppe, eines Standes, des corpus christi (der Kirche) oder als umfassendster Kategorie der Ökumene, der (von Menschen bewohnbaren) Welt. Genau wie in der Philosophie der 32 Vgl.: T.W. Köhler, „Wissenschaftliche Annäherung an das Individuelle im 13. Jahrhundert“, in Aertsen 1996, S 161ff. 33 Vgl.: Stierle 2003, S. 156ff.

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Zeit das Einzelding ganz allgemein zunächst durch nichts als die Menge der übergeordneten Begriffe bestimmt war, unter die es fiel, war auch der mittelalterliche Mensch nur durch übergeordnete Zusammenhänge bestimmt, an denen er Anteil hatte. Diese Zusammenhänge bildeten in Gänze die als natürlich im christlichen Sinn gedachte Ordnung, die Ordnung der Schöpfung mithin: „Als göttliche Schöpfung ist diese Seins- zugleich eine Rang- und Wertordnung; jedes Wesen und jedes Ding nimmt darin die Position ein, auf der es die ihm zugewiesene Aufgabe erfüllt. Alle Teile dieser Ordnung haben nur von dieser Einheit her ihren Sinn, in der das Allgemeine dem Besonderen vorausliegt und jede Person Exemplar ihrer Gattung, ihres Standes oder ihrer Gruppe ist.“34

Auch das gerade als der von solchen Bestimmungen unabhängige „Kern“ eines Individuums oder einer Person gedachte Innere des Menschen, das logisch einen Wechsel der Bestimmung durch Übergeordnete Zusammenhänge überdauern könnte, ist eine Entwicklung späterer Epochen – derjenigen Epoche zunächst, die entsprechend die Möglichkeit der Verstellung schuf, diejenige des der eigentlichen Position innerhalb der Schöpfung unangemessenen, dem Äußeren nach aber scheinbar angemessenen Verhaltens, der Renaissance also: „Die Zeitgenossen [des Mittelalters, MR] thematisierten keine ‚inneren‘ Eigenschaften. Die Rede ist von den ‚natürlichen‘ d.h. gottgegebenen Eigenschaften, und ‚natürlich‘ sind Verhaltensweisen, die der Gruppenzugehörigkeit und sozialen Stellung der Person entsprechen. Auch die vieldiskutierten Tugenden sind keine Charaktereigenschaften; sie beziehen sich auf das jedem Menschen seiner Natur nach Gemäße, nicht auf ein dem einzelnen Menschen aufgrund seiner individuellen Besonderung Zugehöriges. […] Von daher gibt es auch keine eigenständige ‚Persönlichkeit‘, die als gesonderte Einheit gleichsam ‚neben‘ ihrem eigenen Verhalten zu stehen und dieses von irgendwelchen ‚inneren‘ Kriterien her zu kommentieren vermag. ‚Nur wenige Gesellschaftskritiker der damaligen Zeit‘, so Fichtenau, ‚haben den Tatbestand der Heuchelei erfasst.‘“35

Was in einer solchen Situation fehlen muss, ist nicht zuletzt etwas, was später große Bedeutung auch im alltäglichen Leben der Menschen einnehmen sollte: die Selbstbeobachtung durch die imaginierte Einnahme des tatsächlichen oder nur vorgestellten Blicks eines anderen. Indem die Trennung zwischen einem scheinhaften Äußeren und dem sich dahinter verbergenden Inneren nicht gemacht wurde, konnte der die Larve des Äußeren durchdringende Blick keinen Sinn erhalten. Sich selbst und 34 Sonntag 1999, S. 78. 35 Ebd.: S. 71. Zitiert wird aus: H. Fichtenau, „Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts“, München 1992, S.49.

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einen anderen zu verstehen, hieß zu wissen, was er war – und dies bezog sich nicht auf eine zunächst verborgene „innere“ Persönlichkeit. Das heißt aber nicht, dass der Bezug auf ein „Inneres“ und auf die „Person“ keinerlei Funktion gehabt hätte. Zumindest in der mittelalterlichen Philosophie erhielt der Begriff der Person, der persona, durchaus Bedeutung: Er bezeichnete allerdings zunächst die Person Gottes – das hieß vor allem diejenige des menschgewordenen und mit einem Leib versehenen Christus, die neben dessen anderen beiden personae stand. Das, was am Menschen Person war, war dasjenige, was dieser göttlichen Person ähnelte. Unter diesem Zeichen stand denn auch der Selbstbezug des einzelnen Menschen auf sich selbst oder auf die Menschheit im Allgemeinen: Er erfasste das Gottähnliche im Menschen, suchte letztlich auch in einem Blick auf das „Innere“ der Person Gott: „Die Theologen beziehen sich hauptsächlich oder sogar ausschließlich auf Gott [mit dem Begriff der persona, MR], auf die ‚persona divina‘, denn sie richten ihre Gedanken allein auf den Schöpfer, an seine Geschöpfe verschwenden sie sie nicht. Der Austausch von Reflexionen über diese Person, über die Verkörperung des Göttlichen war ein untrennbarer Bestandteil der Debatten zum Thema ‚Tres personae – una substantia‘ und zur göttlichen und menschlichen Doppelnatur Christi. […] Diese führten mit ihrer Konzentration auf Gott zwar vom Menschen fort, aber sie bezogen doch gleichzeitig auch den Menschen in ihre Überlegungen ein, da ja Gott und Mensch in der Person Christi eine Einheit eingegangen waren. Indem die Theologen nämlich die Reduzierbarkeit des Menschen ausschließlich auf die Natur verneinten, hatten sie seinen Anteil am Besitz des ‚göttlichen Funkens‘ im Blick – der Mensch steht auf der Trennlinie zwischen Natürlichem und Übernatürlichem, und die Person Gottes bestimmt die individuelle Person des Menschen.“36

Selbst bei Augustinus, dessen hohes Maß an psychologischer Selbstbetrachtung vor dem späten Mittelalter wohl kaum wieder erreicht wurde, auf den aber u.a. Petrarca an dessen Ende in gewisser Hinsicht wieder zurückkommen würde, hatte der forschende „Blick“ ins eigene Innere letztlich diese Funktion: das Auffinden von durch Gott offenbarten Wahrheiten über sich und seine Schöpfung. Ins „Innere“ dringt dieser Blick vor allem in der Hinsicht, dass er sich von denjenigen Aspekten der äußeren Welt abwendet, die von der Suche nach Gott und dem Göttlichen im Menschen ablenken. Dies gilt auch für den Blick der „fleischlichen Augen“, sofern er allein der Wollust dient und sich nicht auf die Welt richtet, um ihren Anblick zur Erkenntnis und zum Lob Gottes zu gebrauchen. Nur vermittelt über die geistige Erfahrung des Göttlichen hat der Blick auf die Welt überhaupt Sinn:

36 Gurjewitsch 1994, S. 124.

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„Dieses körperliche Licht hingegen, von dem ich sprach, würzt mit seiner schmeichlerischen und gefährlichen Annehmlichkeit das welthafte Leben derer, die es blindlings lieben. Wenn Menschen dich aber seinetwegen loben, Gott, Schöpfer aller Dinge, so gebrauchen sie es zu deinem Lobpreis und werden nicht von ihm verbraucht wie in einem Schlafzustand. So möchte auch ich sein. Den Verführungen der Augen widerstehe ich, damit meine Füße nicht straucheln, wenn ich deinen Weg gehe, und unsichtbare Augen erhebe ich zu dir, damit du meine Füße aus der Schlinge befreist.“37

Der Blick dieser „unsichtbare(n) Augen“ – das wird an dem gesamten Konzept der augustinischen Bekenntnisse klar – ist eben ein Blick nach „innen“, in die memoria, die Erinnerung, den Nachvollzug von Argumenten, die Wahrnehmung von Zeit usw. – immer mit dem Ziel das Ewige an der Schöpfung, ihre göttliche, abstrakte und damit nur im metaphorischen Sinne „sichtbare“ Idee einzusehen. Der Blick des Philosophen richtet sich also auf Gott, auch wenn er sich auf sich selbst, auf sein eigenes „Inneres“ richtet: „Er entzog sich unseren Augen, damit wir zum Herzen zurückkehren und ihn finden sollen.“38 Man darf hier aber nicht übersehen, dass Augustinus den menschlichen Blick nicht per se diffamiert. Abgelehnt wird von ihm die visuelle curiositas, insofern sie ein Wegsehen von Gott bedeutet. Der Blick auf die Welt in ihrem von Gott in Fürsorge für den Menschen gut eingerichtetem Wesen, lässt sich mit dieser Haltung durchaus vereinbaren: Wenn der Blick auf die Welt sich eine Funktion für das Lob Gottes erhält, ist er gerechtfertigt. Aus der Verdammung der voluptas oculorum, dem von der weltlichen Neugier verführten Blick der fleischlichen Augen, lässt sich also nicht eine allgemeine Diffamierung des Gesichtssinns ableiten, sondern eine theologische Funktionszuschreibung. Diese war es, die im ausgehenden Mittelalters mit den neuen wissenschaftlichen Entwicklungen in Konflikt geriet. Ein für Beurteilung von Formen des Überblicks interessanter Hinweis ist weiterhin derjenige, dass sich die Bestimmung des Einzelnen auch auf dem Wege räumlicher Kategorien vollzog. Eine dieser Kategorien, durch die der Einzelne wesentlich bestimmt war, war eben sein Ort – nicht nur im metaphorischen, auch im wörtlichen Sinn. Es war gewissermaßen nicht vorgesehen, dass ein Individuum den Ort seiner Herkunft auf eine Weise verlassen konnte, dass ihm die Beziehung zu diesem Ort nicht mehr anhing. Bei Boiadijev lesen wir weiter: „Eine der wichtigsten typisierenden Bestimmungen des Menschseins im Mittelalter ist die topographische. Das bewohnte Territorium, der eingenommene Ort, die ‚Heimat‘ konstituieren es essentiell, und zwar so, dass sie selbst in den Namen des einzelnen Menschen hinein37 Augustinus, Bekenntnisse X, 34, 52. 38 Ebd.: IV, 12, 19.

54 | D AS G ANZE IM B LICK treten. Die Gebundenheit an eine bestimmte Stelle rechtfertigt die Standhaftigkeit jedes Wesens in der Welthierarchie, und so wird auch der Wert der menschlichen Existenz mit der stabilitas loci verbunden.“39

An einen bestimmten, auch geographischen Ort zu gehören, die jeweilige Positionierung im Raum war eine dem Individuum inhärente Eigenschaft – und dieser Umstand prägt in großem Maße die Möglichkeit des Mittelalters räumliche Zusammenhänge metaphorisch zu nutzen und die Gestaltung der Beziehung dieser Zusammenhänge zu den in ihnen platzierten Individuen. Man bedenke in diesem Zusammenhang auch, dass die feudalistische Gesellschaftsstruktur dazu führte, dass ein ganz überwiegender Teil der Bevölkerung tatsächlich auch ihrem rechtlichen Status nach nicht nur das Land, das sie bewohnte, bewirtschaftete, sondern Teil dieses im Besitz des Lehnsherren befindlichen Landes war. Der Lehnsherr wiederum war gerade über diesen Besitz an konkretem Land in seinem Wesen bestimmt, also auch durch sein Besitzverhältnis in Bezug auf einen bestimmten Ort. Erst die Renaissance würde hier eine „Dissolution von Sein und Haben“40 bringen, parallel zu einer solchen von Ort und Individuum. Für das Mittelalter kann vom „Menschsein als Funktion des Raumes“41 gesprochen werden – wobei der „Raum“ hier in seiner konkreten Erfahrbarkeit als Ort zu sehen ist und nicht als Abstraktum. Einen besonderen Rückhalt fand diese kulturelle Grundlage im Zeitalter des vorherrschenden Aristotelismus in dessen Topologie42, laut der jede Substanz einen ihr wesentlich zukommenden Ort hat, dem sie stets zustrebt – wodurch u.a. das Phänomen der Schwerkraft bzw. der „natürlichen“, nicht durch äußeren Anstoß verursachten Bewegungen erklärbar wurde: Die der Erde zuzuordnenden Substanzen streben stets dem Mittelpunkt der Erde zu. Ein gegen seine innere Bestimmung durch äußeren Impuls von seinem Ort Entferntes fällt also wieder zur Erde hinab, weil es von sich aus seinen natürlichen Ort sucht. Der Begriff des Ortes war so zunächst nicht im Sinne eines abstrakten Raumes aufgefasst, an dem sich ein Körper als solcher immer befindet, insofern er von ihm enthalten ist, insofern seine Ausdehnung – so aber mit der Bewegung des Körpers wechselnde – Raumteile abgrenzt. Vielmehr blieb er gewissermaßen „gröber“ und zudem stärker an der konkreten Anschauung orientiert und konnte gerade so in einer wesentlichen Verbindung mit körperlichen, beweglichen Gegenständen gedacht werden – in dem Sinne, in dem ein Vogel wesentlich zum Ort der Luft gehört oder ein Fisch zum Wasser

39 T. Boiadjiev, „Die Marginalisierung als principium individuationis des mittelalterlichen Menschen – am Beispiel Abaelards“, in: Aertsen 1996, S. 115. 40 So Münkler mit Simmel (Vgl.: Münkler 1982, S. 36 bzw. Simmel 1922, S. 360). 41 Kaschuba 2004, S. 32. 42 Vor allem enthalten in: Physik IV, 1-5.

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usw.. Dieser konkrete Ortsbegriff kam der mittelalterlichen soziologischen und auf die räumliche Herkunft sich beziehenden statischen Auffassung entgegen.43 Den Zusammenhang der Bestimmung des einzelnen Menschen mit den Kategorien, unter die er fiel, am Beispiel zu verdeutlichen, eignet sich wiederum die Predigt Bertholds von Regensburg. Immer wieder thematisiert er die Ordnung des Sozialen und ihre Stellung in der Ordnung der Schöpfung. In seiner Predigt von den „zehn Chören der Engel und der Christenheit“ entwirft er in Parallele zur Hierarchie der Engel im Himmel ein Modell der sozialen Schichten in der menschlichen Gesellschaft. Anders als in der überlieferten Struktur von den drei ordines der Betenden, der Kämpfenden und der Arbeitenden reagiert seine Vorstellung auf die komplexer gewordene Sozialstruktur der städtischen Gesellschaft und differenziert die Gruppe der Arbeitenden in verschiedene Berufsgruppen. Um die Parallele zwischen den himmlischen und den irdischen Verhältnissen herzustellen, bedient er sich aber zunächst des Gleichnisses „vom Schatz“.44 Erzählt wird in diesem Gleichnis von einem Mann, der einen Schatz auf einem Acker findet, ihn wieder eingräbt, um dann für all sein Hab und Gut den Acker zu kaufen. Dieses Gleichnis sei dahingehend zu deuten, dass der Acker für die Christenheit zu stehen hat, der Schatz für „des reinen menschen sêle, diu dem almehtigen gote gelîcher ist danne ie kint sînem vater wart“, und der Mann für Gott, der sich die Christenheit durch die Leiden seines menschgewordenen Sohnes erkaufte.45 Dieser Acker der Christenheit nun, so Berthold, wurde von Gott eingerichtet wie das Himmelreich: So wie im Himmelreich die zehn Chöre der Engel einander unterstellt und mit bestimmten Aufgaben betraut sind, so gibt es auch „zehen hande liute ûf ertrîche geordent in der heiligen kristenheit“. Diese fallen in drei Gruppen: Die „hœhsten unde die hêrsten, die der almehtige got selbe dar zuo erwelt unde geordent hât, daz in die andern siben alle undertænic wesen suln und in dienen suln“.46 In dieser Gruppe finden sich die geistlichen Herren (der Papst und die Pfaffen), die Mönche und die weltliche Herrschaft. Diese sind für das geistige Wohl und die körperliche Unversehrtheit der Christenheit verantwortlich und alle anderen Gruppen sind ihnen unterstellt. Zu einer mittleren Gruppe gehören die verschiedenen Berufsgruppen der Arbeitenden: Die Kleiderproduzenten, diejenigen, die mit eisernen Werkzeugen arbeiten, die Händler, die Produzenten von Nahrungsmitteln, die Bauern und die Angehörigen der Heilberufe. Die letzte Gruppe schließlich ist in sich nicht differenziert: Hier finden sich diejenigen, die „uns kristenluiten aptrünnic worden“, also die Gefallenen, die in Parallelität zum zehnten Chor der zur Hölle herab gefahrenen Engel, die Möglichkeit der 43 Vgl.: Ritter, Gründer (Hg.) 1992, S. 74f. 44 Matthäus 13, 44-46. 45 Berthold von Regensburg 1965, S. 140f. 46 Ebd.

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Erlösung verspielt haben – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Es handelt sich hier um die Gaukler, die fahrenden Musiker und alle diejenigen, denen man den Lohn für ihre Dienste „mit sünden“ gibt. Berthold geht also von einer gottgegebenen gesellschaftlichen Ordnung aus, die über die Berufe, die Ämter ihrer Angehörigen bestimmt ist. Jede der sozialen Gruppen – von der letzten abgesehen – versieht ein für das Ganze notwendiges Amt, hat mit diesem zusammenhängende Pflichten und Rechte. Sein Amt zu kennen, heißt zu wissen, wie man zu leben hat – und eine Veränderung der Lebensweise erscheint so als Aufruhr gegen die göttliche Ordnung. Dass und wie dieses Amt mit der Person, dem Individuum zusammenhängt wird in einer weiteren Predigt noch deutlicher: In derjenigen von den „fünf Pfunden“.47 Ausgehend von Matthäus 25, 14-30 spricht Berthold hier von den fünf Pfunden, die ein Herr seinem Knecht gibt. Dieser Knecht steht laut Berthold für den erwachsenen Menschen (Die ungetauften Kinder erhalten nur ein Pfund, die getauften zwei). Die fünf Pfunde bedeuten in dieser Reihenfolge die von Gott gegebene Person, das Amt, die Zeit, das irdische Gut und schließlich den Nächsten. Von besonderem Interesse sind hier die beiden ersten Pfunde und ihr Verhältnis zueinander. Unter der „persône“, die Gott dem Menschen verliehen hat, versteht Berthold sowohl deren körperliche als auch geistige Aspekte. Er nennt sie in einem Atemzug mit dem „lîp“ und verwendet beide Begriffe offenbar zumindest in diesem Zusammenhang synonym. Um dieses Geschenk Gottes zu vergelten, muss der Mensch es in zweierlei Hinsicht nutzen: „innen an dem herzen“ soll er gut denken, seinen freien Willen gut nutzen. Gewissermaßen nach außen hin soll er diese guten Gedanken schließlich im Handeln umsetzen. Der „lîp“ bzw. die „persône“ ist also ein Komplex aus Wollen und Handeln, so wie diese Begriffe nicht voneinander differenziert werden, so verbirgt sich für Berthold auch das Innere nicht hinter dem äußerlich Sichtbaren: Es kommt ihm offenbar nicht in den Sinn, dass die Handlungen dasjenige, was sich „innen an dem Herzen“ abspielt, verbergen könnten, dass das Äußere ein Schein ist, den es zu durchschauen gilt. Es kommt einfach darauf an, dass der Mensch „innen“ das richtige denkt und „außen“ die richtigen, vorgeschriebenen Handlungen vollzieht: Innen soll er denken, dass Gott „eine gewaltic ist des himels unde der erde und daz er allez geschaffen hât und iegelchen sîn ordenunge gegeben hât“, nach außen hin soll er dies „getriuwelîchen vollebringen […] mit gebete, mit almuosen, mit kirchgange, mit vasten unde mit allen guoten dingen“. Das zweite „Pfund“ ist nun das „amt“: „Wan unser herre hât eime iegelîchen menschen ein amt verlihen, er hât nieman ze müezekeit geschaffen, wir müezen uns alle eteswes underwinden, dâ mite wir genesen.“ Und jeder hat sein gottgegebenes Amt zu erfüllen – auch wenn es ihm nicht gefällt z.B. Bauer zu sein oder Schuster:

47 Ebd.: S. 11-28; Vgl. auch: Gurjewitsch 1994, S. 196ff.

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„Wer solte uns den acker bûwen, ob ir alle herren wæret? Oder wer solte uns die schuohe machen ob dû wærest als dû wolltest? Dû muost sîn als got will.“ In Bezug auf das Verhältnis von Person und Eingebundenheit ins Soziale ergibt sich also folgendes Bild: Es gibt für Berthold zwar eine Person als Komplex von Geistigem und Körperlichem, die mit einem freien Willen ausgestattet ist, diese Person ist aber zu denken als immer schon in eine objektiv gegebene, von Gott geschaffene Ordnung eingefügt. Was die Person zu denken und wie sie zu handeln hat, ist im Wesentlichen über ihren Ort in dieser Ordnung bestimmt, über ihr „amt“. Und welches dieses Amt jeweils ist, ist nicht weiter interpretationsbedürftig: Das Amt fällt mit dem zusammen, was man heute als Beruf bezeichnen würde (in welcher Bezeichnung ja die Berufung durch Gott etymologisch noch enthalten ist). Die Besonderheit desjenigen, was die „persône“ unabhängig von ihrem „amt“ kennzeichnet (sie ist ja das erste Pfund, das Gott dem Menschen verliehen hat, fällt also nicht gänzlich mit dem Amt zusammen) erscheint letztlich einfach nur dadurch begründet, dass es Dinge gibt, die alle Menschen gleichermaßen denken, wollen und tun sollten: Sie sollten die grundsätzlichen christlichen Lehren für wahr halten und die von der Kirche vorgeschriebenen Handlungen (den Kirchgang, das Fasten usw.) vollziehen. Es gibt also etwas, was an der Person unabhängig ist von ihrem Amt: Dasjenige, was jede Person als solche Gott schuldig ist. Dieser Begriff der Person ist offensichtlich weit entfernt von späteren Konzepten, nach denen als die eigentliche Person oder Persönlichkeit dasjenige erscheint, was einen Menschen von allen anderen unterscheidet. Es liegt auf der Hand, dass bei einer solchen Wahrnehmung der Person die Menschen, die sich über diese Struktur selbst bestimmten, ein Bedürfnis nicht oder nicht auf die Weise verspüren konnten, wie dies später immer wieder der Fall sein sollte: Das Bedürfnis, sich selbst zu „finden“, sich aus einer gewissen Selbstdistanz heraus selbst zu betrachten, zu bestimmen und schließlich zu gestalten. All dies war nicht notwendig: Der Einzelne hatte von Geburt an seinen Ort in einem verständlichen Kontext anderer Orte, die auf nachvollziehbare und verlässliche Weise mit bestimmten Erwartungen und Eigenschaften belegt waren. Den eigenen Ort zu verlassen, hieß vor allem eines: Sich schlecht zu verhalten, Gottes Gebote nicht zu achten, seiner gottgegebenen sozialen Rolle nicht gerecht zu werden und so im Extremfall aus der Christenheit selbst ausgestoßen zu werden, wie der zehnte Chor der Gefallenen. Bei dem Versuch diese Ergebnisse weiter auf die Frage nach der Funktion von Überblicken im Mittelalter zu beziehen, ist ein häufiges Element anderer mittelalterlicher Predigten (das Berthold nicht verwendet) hilfreich: die Exempla – kurze Episoden mit lehrhaftem Inhalt, die von den Predigern aus Sammlungen übernommen und durch lokale Hinweise mit der näheren Umgebung der Gemeinde verbunden wurden. Einige dieser Exempla werfen Licht auf ein weiteres Merkmal der mit-

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telalterlichen (Volks-)Kultur, das wiederum die Beziehung zwischen Himmel und Erde, zwischen den Bereichen des Göttlichen und des Menschlichen betrifft und damit auch die Frage nach einem möglichen göttlichen und auch menschlichen Überblick. Aaron Gurjewitsch hat den Exempla bei seinem Versuch, das Weltbild der einfachen Menschen im 13. Jahrhundert zu beschreiben, einige Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Auseinandersetzung gipfelt bei ihm in der Frage, ob die Beziehung zwischen Jenseits und Diesseits in diesem Weltbild eine ähnlich klare Abgrenzung zwischen beidem herstellte, wie dies spätere, neuzeitliche religiöse Entwürfe taten: „Sie [die irdische und jenseitige Welt, MR] weisen eine so starke Verflechtung auf, dass die natürliche Frage auftaucht: hat man sie sich im Mittelalter überhaupt als zwei Welten vorgestellt oder als unterschiedliche Teile eines einheitlichen Ganzen?“48

Eines der überlieferten Exempla, die ihn zu dieser Frage veranlassen, erzählt von einem Juristen, der auf dem Sterbebett liegt. Im Moment seines Todes ruft er den um ihn versammelten Kollegen zu, sie sollten für ihn Berufung einlegen, um sich dann mit den letzten Worten, sie hätten es zu sehr in die Länge gezogen und er sei nun auf ewig verdammt, aus dem irdischen Leben zu verabschieden. Der Sterbende befand sich also kurz vor seinem Tod zugleich vor dem göttlichen Gericht und auf seinem irdischen Sterbebett, zugleich im Jenseits und im Diesseits: Beide Bereiche sind zwar zweifelsohne voneinander getrennt, aber diese Trennung drückt sich auch hier wieder in keiner Weise durch eine räumliche Distanz aus, die metaphorisch durch irgendeine Bewegung oder überbrückende Vermittlung überwunden werden müsste. Dies äußert sich auch immer wieder in Exempla, in denen umgekehrt das Göttliche ins Irdische eindringt: In vielen dieser Geschichten begibt sich Jesus (oder auch Luzifer oder die Heiligen) auf die Erde, um in deren Lauf einzugreifen. Er tut dies aber nicht, indem er „vom Himmel herabsteigt“. Es geschieht vielmehr oft, indem sein Bild, der in der Kirche hängende, hölzerne Gekreuzigte, lebendig wird, um sich, oft äußerst handgreiflich, sein Recht zu verschaffen: Ein offenbar typisches Exemplum berichtet von einem Mönch, der während des Gebetes einschläft. Daraufhin steigt Christus vom Altar herab und versetzt ihm einen derart wirksamen Kinnhaken, dass er drei Tage später stirbt.49 Aus heutiger Sicht möchte man hier beinahe fragen: Woher weiß Christus, was auf der Erde geschieht? – und vielleicht antworten: Nun, Gott sieht alles. Offenbar spielten aber in der Vorstellungswelt der Rezipienten der Exempla solche Fragen keine ausgesprochene Rolle. Auch wenn der Topos des Auges Gottes hier natürlich zur Verfügung stand, scheinen die Exempla diesen allgegenwärtigen Blick Gottes oftmals in gewisser Hinsicht abstrakter 48 Gurjewitsch 1997, S. 131. 49 Vgl.: ebd., S. 119.

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aufgefasst zu haben als noch der zur Zeit des Niedergangs der römischen Welt lebende heilige Benedict, der das Wissen Gottes um die Verfehlungen der Einzelnen noch durch die drei unterschiedliche „Informationsquellen“ begründete: Seinen Blick von oben, sein stetes Wissen um das Denken der Menschen und seine Engel, die immer anwesend sind und ihm Bericht erstatten. Der Gott der Exempla wusste dagegen offenbar ganz selbstverständlich alles, das Irdische und das Göttliche durchdrangen sich in einer Weise, die das Problem der Wahrnehmung und ebenso das einer die Distanz zwischen beiden Bereichen als räumliche durchdringenden Bewegung nicht aufkommen ließ: „Wir konnten uns davon überzeugen, dass im Exemplum beide Welten, die irdische und die jenseitige, sich tatsächlich eng berühren und sich in einem intensiven Austausch befinden.“50 Man möchte sagen: Sie berühren sich so eng, dass dem Blick als eine Distanz überbrückende Wahrnehmung weder in der einen noch in der anderen Richtung eine herausgehobene Funktion zukommen kann. So konnte „unter dem allsehenden Auge Gottes“ zu leben für die einzelne Figur der Exempla eben auch bedeuten: Von der hölzernen Christusskulptur in der Kirche gesehen zu werden oder es bedeutete vielmehr allgemein, dass die jenseitige Welt in der diesseitigen allgegenwärtig und allseitig über sie informiert war. Die enge Verbundenheit von Himmel und Erde bezieht sich dabei nicht nur auf das Fehlen einer „Transzendenz“ im Neuzeitlichen Sinn. Das Himmelreich war nicht nur Teil desselben Kosmos wie die Erde, die in den zeitgenössischen kosmographischen Vorstellungen zwischen beiden liegende Entfernung wurde zumindest in den volkstümlichen Vorstellungen immer wieder auch durch die Gegenwärtigkeit des Himmlischen im Irdischen eliminiert. In der mittelalterlichen Volkskultur ist die Distanz, die das entwickelte aristotelisch inspirierte Modell zwischen Himmel und Erde setzt, offenbar weit weniger artikuliert und macht einer Durchdringung verschiedener „Welten“ oder von Aspekten einer Welt Platz. Im hohen Mittelalter ergab sich auch in der Hochkultur ein Moment, in dem dieser Gegensatz zum Ausbruch kam: Als im 13. Jahrhundert die aristotelische Naturphilosophie sich an den Universitäten durchzusetzen begann, ergab sich ein Widerspruch zwischen dem von ihr vorausgesetzten hierarchisch-vertikal geordneten Weltmodel (wie es z.B. Abbildung 1 als Grundlage dient) und dem Dogma von der Allmacht Gottes. So nahmen die Aristoteliker z.B. an, dass jede Bewegung im Kosmos entweder durch das natürliche Streben einer Substanz nach ihrem ihr wesentlich zukommenden Ort verursacht war oder aber durch einen durch unmittelbare Berührung vermittelten Impetus. Gott – der unbewegte Beweger – benötigte dieser Vorstellung gemäß also zum Auslösen einer willentlichen Bewegung der zweiten Art einer Vermittlung, durch die die Distanz zwischen ihm und dem Bewegten überwunden wurde, wobei seine Einwirkung auf den untersten Teil der Schöpfung, 50 Ebd.

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die Erde, maximal vermittelt war. Als 1277 in Paris 219 der vor allem aristotelischen Thesen verdammt wurden, war darunter die folgende (These 16): „Dass die erste Ursache die entfernteste Ursache von allem ist. – Dies ist eine Irrlehre, wenn es so verstanden wird, dass sie damit nicht die nächste ist. (Quod prima causa est causa omnium remotissima. – Error, si intelligatur sit, quod non propinqissima.).“

Die „Konservativen“ von 1277 standen hier in der These, dass Gott zugleich am fernsten und nächsten ist, offenbar in geringerem Widerspruch zur Volkskultur, als die „modernen“ Aristoteliker.51 Andererseits ebneten sie gerade durch ihren Widerspruch gegen die These, der Wille Gottes sei selbst der einen und unveränderlichen Hierarchie und Ordnung der Schöpfung unterworfen, den Weg für die spätmittelalterliche oder neuzeitliche Auflösung des aristotelisch geprägten hierarchischen Weltbildes. Diese Auflösung wird schließlich Folgen zeitigen, die dem Überblick in der Neuzeit wieder eine Rolle zuweisen, die er auch für die Verteidiger der Allmacht Gottes im Mittelalter nicht hatte, weil dieses Attribut Gottes für sie nicht durch mangelnde Ordnung gleichsam herausgefordert war (oder durch mangelnde menschliche Fähigkeit, objektive Ordnung zu erkennen d.h. durch Offenbarung aufzunehmen).52 Es scheint so, dass auch die volkstümlichen Verhältnisse zwischen Himmel und Erde ihre Ursache u.a. in der mittelalterlichen Selbstwahrnehmung des Individuums hatten: Der mangelnden Distanz zwischen Irdischem und Jenseitigem korrespondiert eine mangelnde Distanz zwischen dem Einzelnen und seiner Umwelt überhaupt. Das was in der Umwelt geschieht – sei es in der jenseitigen oder diesseitigen – scheint stets auf den Einzelnen bezogen: „Das Sujet des mittelalterlichen Exemplums ist das Ereignis, in dessen Zentrum ein beliebiger Mensch geraten kann. Die ganze Welt, Raum und Zeit eingeschlossen, steht mit ihm in Wechselbeziehung, kreist um ihn und wird auf spezifische Weise durch ihn oder um seinetwillen ‚deformiert‘“53

Ein solches Verhältnis zur Umwelt kennzeichnet Gurjewisch als magisch – letztlich als auch im 13. Jahrhundert noch wirksame Gestaltung zwischen Mensch und Welt, die im frühen Mittelalter noch ungebrochener festgestellt werden kann und die sich 51 Man könnte spekulieren, dass Bertholds Zurückhaltung in der Verwendung der ansonsten üblichen Exempla darin begründet ist, dass der unmittelbare Eingriff und Eintritt des Göttlichen ins Irdische mit seinen aristotelisch-scholastisch geprägten kosmographischen Entwürfen schwer zu vereinbaren war. 52 Vgl.: Blumenberg 1981, S. 194, 555ff, Harries 2001, S. 133ff. 53 Gurjewitsch 1997, S. 133.

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u.a. im rituellen Bestreben der Menschen äußert, sich dem Geschehen in der Umwelt durch ihr Handeln symbolisch anzugleichen.54 Fasst man nun diese Befunde zur mittelalterlichen Konzeption des Individuums und dessen Selbstbezugs zusammen und bezieht sie auf die Frage nach der Funktion des Überblicks, scheint mir Folgendes zu sagen zu sein: Im Mittelalter wurde das Individuum durch seine Anteilhabe an übergeordneten Kategorien bestimmt gedacht. Dies war nicht nur bis in spätere Mittelalter in der (philosophisch-theologischen) Hochkultur der Fall, vielmehr äußerte es sich auch in der alltäglichen (Selbst)Wahrnehmung der Menschen: Der Einzelne verstand den Ort, den er im Ganzen der Gesellschaft oder der Welt einnahm, als Teil seiner selbst und bestimmte sich – und entsprechend andere – über ihn. Schon diese Verhältnisse statteten Blicke in geringerem Maße mit bestimmten Funktionen aus, als dies später der Fall war: Weder die Beobachtung des anderen, noch die der eigenen Person hatten als Mittel der Selbst- und Fremderkenntnis die zentrale Stellung, wie sie die Problematik der Erkenntnis des anderen und des Selbst später etablieren würde. Hinter dem äußerlich Sichtbaren verbarg sich kein zu ergründender Kern der Persönlichkeit, der unabhängig von der Positionierung im Allgemeinen Bestand gehabt hätte. Das Individuum musste seinen „Ort“ nicht suchen, es nahm ihn immer schon ein, er hing ihm untrennbar an – selbst als ganz wörtlich zu verstehender geografischer. Konnten schon diese Verhältnisse einem distanzierten Blick auf sich selbst und andere keinen besonderen Sinn geben, so zeigt sich dieser Mangel an Distanz zum Anderen zumindest in der Volkskultur offenbar auch in der Beziehung zur Umwelt im Allgemeinen: Weder die jenseitige „Überwelt“ noch die Umwelt im heutigen Sinne erschienen als dem erkennenden Subjekt entgegen gesetzte, von ihm distanzierte Bereiche. Sie durchdrangen einander und waren in der Wahrnehmung der Menschen offenbar stets auf den Einzelnen bezogen. Weder zwischen dem Einzelnen und seiner Umwelt, noch zwischen den beiden Aspekten des Kosmos, dem überirdischen und dem irdischen lag also eine Distanz, die dem Konzept einer herausgehoben, privilegierten Wahrnehmungsposition hätte Sinn geben können. Was also u.a. fehlte, war eine Kennzeichnung der göttlichen Position und Macht durch einen Blick von oben. Gott hatte einen solchermaßen bestimmten und distanzierten Blick auf seine Schöpfung ebenso wenig nötig, wie die Menschen ihn auf sich selbst und ihre Welt richteten. Tatsächlich hätte sein Wissen über seine eigene Schöpfung als begrenzt oder doch prinzipiell gefährdet erscheinen müssen, hätte er des Blicks von oben als Zeichen oder Metapher seiner Allwissenheit bedurft: Dieser Blick macht nur Sinn vor dem Hintergrund eines Mangels – und dieser Mangel betraf bis ins Hochmittelalter offenbar weder die Menschen noch Gott.

54 Vgl.: ebd., S. 44f.

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Um diesen Befund weiter zu stützen bietet sich noch ein anderer Bereich zur genaueren Untersuchung an: der der Macht. Konnte ein Überblick bei den genannten Verhältnissen eine signifikante Funktion für den Ausdruck von Macht erhalten? Auch hier kann wohl gezeigt werden, dass sich irdische Macht nicht über das zugrundeliegende Wahrnehmungsverhältnis ausdrückte. Da Gottesvorstellungen und Vorstellungen irdischer Macht sich wechselseitig bedingten und bedeuteten, deutet dies daraufhin, dass auch die göttliche Allmacht im Mittelalter nicht wesentlich durch den Blick von oben ausgedrückt wurde, dass auch der tätige, wirkende Blick Gottes vielmehr in räumlichen Zusammenhängen gedacht wurde, die nicht Wahrnehmungsprivilegien schufen, sondern Wertpositionen.

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„Es möge mir aber nicht als Anmaßung ausgelegt werden, dass ein Mann von geringem Stande wie ich es wagt, die Ratschlüsse der Fürsten zu erörtern und ihnen Regeln vorzuschreiben. Denn so, wie die Landschaftszeichner sich in die Ebene stellen, um die Gestalt der Berge und Höhen zu erkennen, dagegen auf die Berge steigen, um die Täler zu betrachten, so muss man zwar Fürst sein, um die Natur des Volkes zu erkennen, aber aus dem Volke, um die Art der Fürsten zu erfassen. […] Und wenn Eure Hoheit von ihrer stolzen Höhe manchmal auf die Niederungen herabschaut, so werdet Ihr erkennen, wie sehr zu Unrecht ich ein großes und andauerndes Missgeschick ertragen muss.“55

Mit diesen Worten endigt Machiavelli die Zueignung an Lorenzo von Medici, die er seinem „Fürst(en)“ voranstellt. An den räumlichen Verhältnissen, die der Kennzeichnung der Position der Macht hier zugrunde liegen, wird deutlich, dass sie sich spätestens Anfang des 16. Jahrhunderts mit dem Blick von oben verband: Der metaphorische Ort des Fürsten ist die Höhe – nicht nur verstanden als moralische oder die Wertigkeit betreffende Höhe, sondern als eine solche, die das Privileg einer Wahrnehmung enthält, das Ausdruck der Macht wird. Der Fürst blickt von seiner Höhe herab, „um die Natur des Volkes zu erkennen“, um ein Wissen über das Beherrschte zu erlangen, das die Herrschaft ermöglicht und legitimiert (wobei die Pointe des Autors wohl darin besteht, dass letztlich er selbst ihm dieses Wissen verschafft56). Machiavelli überträgt dabei ganz ausdrücklich die Erfahrungen mit der Kunst, der Landschaftskunst der Renaissance auf die Darstellung der Machtverhältnisse. Spätestens mit der Renaissance führten also Veränderungen im Bereich der Wahrnehmung von 55 Machiavelli 2001, S. 18. 56 Was für ihn umso wichtiger war, als er gerade erst aus der Gefangenschaft der Medici entlassen worden war und ohne Funktion im Staatsdienst auf seinem Landgut lebte. Vgl.: Skinner 1988, S. 40ff.

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Natur oder Umwelt und der Ausgestaltung und Darstellung von politischer Macht dazu, dass in beiden Bereichen der Blick von oben Bedeutung erhielt, dass die Kultur Bedürfnisse hervorrief, die dieser Blick befriedigte und die Voraussetzungen schuf, die ihn ermöglichten. Ich habe mich bisher bemüht, Hinweise darauf zusammenzutragen, dass die Kultur des Mittelalters weder einem als solchen bestimmten Blick Gottes von oben auf die Schöpfung, noch einem solchen des einzelnen Subjekts auf sich selbst oder andere einen herausgehobenen Sinn gab – dass die Bedürfnisse, auf die ein solcher Blick später reagierte, in dieser Kultur nicht gegeben waren. Wenn dies so ist, so ist zu erwarten, dass dies auch – zumindest bis zu einer Phase gegen Ende des Mittelalters – für den Überblick der Macht gilt. Es ist zu erwarten, dass die Macht auf andere Weise ausgedrückt und bedeutet wurde. Die Frage wäre hier also zunächst, wie im Mittelalter Machtpositionen in weltlich-politischen Zusammenhängen dargestellt und verstanden wurden. In seiner Studie zur politischen Theologie des Mittelalters interpretiert Ernst Kantorowicz eine Miniatur aus dem Aachener Liuthar-Evangeliar (10. Jahrhundert), die wahrscheinlich Kaiser Otto II. darstellt.57 Auffällig an dieser Abbildung des thronenden Kaisers ist die Übertragung von Elementen der sonst auf Christus bezogenen Ikonographie auf den Träger der weltlichen Herrschaft. Im Zentrum des Bildes steht die Figur des Kaisers, die auf einem schwebenden Thron sitzt. Seine Füße ruhen auf einem Schemel, der von einer für die Erde stehenden Tellus getragen wird. Das Haupt des Monarchen ist durch einen weißen Schleier vom darunter Liegenden abgetrennt, der von den apokalyptischen Tieren gehalten wird. Über dem unteren Rand stehen vier Figuren, offenbar zwei weltliche und zwei geistliche Würdenträger, während zur Linken und Rechten des Kaisers jeweils eine weitere Figur sich ihm in ehrerbietiger Haltung zuwendet. Die gekrönten Köpfe dieser (in der Interpretation Kantorowicz’) Vasallenherzöge oder Fürsten werden von den Enden des weißen Schleiers berührt. Ganz oben über dem Haupt des Kaisers ist die Hand Gottes zu sehen. In einer Banderole schwebend, die den Bereich des Kaisers so weit schneidet, dass sein Kopf in ihrem Bereich liegt, segnet oder krönt sie ihn. Indem der Kaiser in dieser Weise dargestellt wurde, wurde er in gewisser Hinsicht an die Stelle Christi gesetzt. Er thront hier über der Welt, wie es für Darstellung des Gottessohnes in maiestate üblich war: so also, wie er als Richter und Herrscher über die Welt z.B. auf Darstellungen des Jüngsten Gerichtes erschien. Ihm sind die apokalyptischen Tiere zugeordnet, seine Füße ruhen auf der als Schemel für seine Füße dargestellten Erde:

57 Kantorowicz 1990 (1957), S. 82ff.

64 | D AS G ANZE IM B LICK „Diese Parallelen zeigen, dass der Kaiser nicht einfach als vicarius Christi und menschliches Gegenstück des Weltherrschers in der Höhe erscheint, sondern fast wie der Himmelskönig selbst – wahrhaft der christomimetes, der impersonator und Darsteller Christi. Es ist, als hätte der Gottmensch seinen himmlischen Thron dem irdischen Kaiser abgetreten, damit der unsichtbare Christus im Himmel sich in dem Christus auf Erden offenbare.“58

Der das Haupt des Königs vom darunter Liegenden abgrenzende Schleier stellt dabei die Trennung von Himmel und Erde dar.59 Der Kopf des Kaisers befindet sich also im Himmel, während der Rest seines Körpers in den Bereich des Irdischen fällt. Dies unterscheidet ihn zudem von den beiden anderen weltlichen Herrschern, deren Häupter vom Schleier zwar berührt werden, ohne dass sie ihn aber überragen. Während der Herrscher also durch die Gnade Gottes mit seinem Kopf in den Himmel erhoben ist, befinden sich seine Füße auf der Erde – im wahrsten Sinne, denn sie ruhen eben auf jenem die Erde bedeutenden Schemel. Auch dies rückt ihn wieder in die Nähe des Gottessohnes, denn dessen Füße bedeuteten eben seine menschliche Natur, die Inkarnation Gottes.60 In dieser Darstellung des Kaisers als „Darsteller Christi“ begegnet eine frühe Form der Übertragung theologischer Inhalte auf die weltliche Herrschaft. Folgt man Kantorowicz, so wurde im Laufe des Mittelalters diese Strategie der Repräsentation weltlicher Macht durch eine weitere ergänzt und letztlich überholt: So wie der Herrscher zunächst an die Stelle Christi gesetzt wurde, so übernahm der Staat überhaupt die Rolle der Kirche – wurden die Strukturen, die die Kirche als einheitliches Ganzes darstellten, das in einer bestimmten Beziehung zu Gott stand, auf den weltlichen Staat, im Sinne des unter bestimmter Herrschaft stehenden gesellschaftlichen Ganzen, übertragen. Die Folge dieser Theologisierung politischer Inhalte oder umgekehrt der Verweltlichung theologischer war die im Mittelalter herrschende Körpermetapher des Staates, durch die dieser abstrakte Zusammenhang als Ganzes darstellbar wurde.61 Diese Metapher als solche war dabei im Mittelalter weder neu noch verzichteten andere politische Systeme später grundsätzlich auf sie. Ihre jeweilige Ausgestaltung veränderte sich aber und kann jeweils Aufschluss darüber geben, wie Herrschaft sich repräsentieren konnte. Von besonderer Bedeutung wurde hier seit dem 13. Jahrhundert der Begriff des corpus mysticum. Bezeichnete dieser ursprünglich den mystischen Leib der Hostie, des Brotes, das der Leib des Herrn war, so wurde dieser Begriff im Hochmittelalter auf die Kirche übertragen: Sie war ein mystischer Leib, dessen Haupt Christus und dessen Glieder die Würdenträger der Kirche und letztlich alle ihre Angehörigen waren: 58 Ebd., S. 85. 59 Vgl.: ebd., S. 87. 60 Vgl.: ebd., S. 91. 61 Vgl. dazu auch: Guldin 2000, S. 54-80.

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„Genau wie die ganze Kirche wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem natürlichen Leib des Menschen und wegen der Verschiedenheit ihrer Tätigkeit, die der Verschiedenheit der Glieder entspricht, ein einziger mystischer Leib genannt wird, so wird Christus das ‚Haupt‘ der Kirche genannt“62

Diese Metapher wurde nun auf den Staat angewandt – und der weltliche Herrscher übernahm oft die Stelle, die in der Kirche Christus einnahm. Er erschien als Haupt eines mystischen Körpers, der den sich langsam etablierenden Nationalstaat bedeutete und damit alle Untertanen, die als Teile dieses Körpers ihren Platz in ihm einnahmen.63 In anderen Ausgestaltungen wurde dem Herrscher das Organ des Herzens zugeordnet – je nachdem ob das Gehirn oder das Herz als Sitz der Seele, des das Ganze des Körpers lenkenden menschlichen Vermögens, begriffen wurde.64 Durch die Übertragung dieser Struktur von der Kirche auf den Staat erhielt dieser zudem die Möglichkeit sich als in der göttlichen Schöpfung vorgesehene Entität zu repräsentieren – auch wenn der weltliche Herrscher nie im vollen Sinne die Stelle Christi einnehmen konnte, da er sterblich, Christus aber als Haupt der ewigen Kirche unsterblich war.65 Als unsterblich erschien aber auch in weltlichen Zusammenhängen der corpus mysticum, also der Staat selbst: Der König starb zwar, aber die Königswürde war unsterblich. Die Menschen im Körper des Staates vergingen, aber die Orte, die sie in ihm einnahmen, blieben bestehen und wurden immer wieder neu besetzt. Damit löste sich ein in der Körpermetapher liegendes Problem: Wurde der Ort des Herrschers in Analogie zum Haupt oder Herz des Körpers gedacht, musste das Überleben und die Gesundheit des Staates als von diesem Herrscher abhängig erscheinen. Gerade die sich im Laufe des Hoch- und Spätmittelalters etablierenden Nationalstaaten begriffen sich aber als transpersonale Staatsgebilde, die nicht von einem konkreten Herrscher abhingen. Indem also der Staat als unsterblicher corpus mystikum begriffen wurde, dessen Haupt (oder Herz) von sich in der unendlich fortschreitenden Zeit abwechselnden konkreten Herrschern „besetzt“ wurde, erschien der Körper des Staates als unsterblich, obwohl seine Glieder von Sterblichen aktualisiert wurden.66 Eine weitere Funktion dieser Übertragung war zudem sicherlich die in der Heiligung des Staates liegende Aufwertung des weltlichen im Verhältnis zum geistlichen Machtbereich. Philosophisch-theologische und juristische Legitimationen des Staates als in der Schöpfung vorgesehener cor62 Thomas von Aquin, Summa Theologica, 3,q.8,1. 63 Vgl.: Kantorowicz 1990 (1957), S. 245. 64 Welches Organ dafür zuständig war, war seit der Antike umstritten. Vgl.: Struve, „Bedeutung und Funktion des Organismusvergleichs in den mittelalterlichen Theorien von Staat und Gesellschaft“, in: Zimmermann 1997, S. 146. 65 Vgl.: ebd., S. 278. 66 Vgl.: ebd., S. 314.

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pus mysticum standen natürlich immer auch im Kontext des Machtkampfes zwischen diesen beiden Bereichen. Auf diese Weise wurde also der abstrakte Zusammenhang des Staates als Ganzes darstellbar. Jede soziale Gruppe erhielt in den teilweise recht komplexen Körpermetaphern ein Organ zugeordnet, das eine vitale Funktion für das Ganze zu erfüllen hatte. Nur wenn alle Teile im Sinne eines gesunden Körpers zusammenwirkten, „lebte“ der Staat gut. Diese metaphorische Strategie ist dabei nicht zu verwechseln mit späteren, in denen der Herrscher Verkörperung des Staates wurde, in gewisser Hinsicht der Staat war. Die mittelalterliche Körpermetapher weist ihm einen bestimmten Ort im Ganzen zu – wie auch jedem anderen seiner Untertanen. Indem er das Haupt oder Herz des Ganzen ist, ist sein Ort aber herausgehoben. Das Haupt ist der Träger der Krone, eines Symbols für die den Tod des Herrschers überdauernde „mystische“ Entität des Staates und zudem gewissermaßen Angriffspunkt der göttlichen Segnung und Krönung, der dem Himmel nächste Teil des Ganzen. Ähnliches gilt für den Herrscher als Herz des Ganzen: Das Herz ist das lenkende Organ, der Sitz der würdigsten menschlichen Vermögen, derjenigen, die ihn Gott ähnlich machen. Zudem versorgt es den Körper mit „Lebensgeist“.67 Dem Herrscher werden also stets die Organe zugewiesen, die den herrschenden Auffassungen gemäß leitende oder versorgende Funktionen für das Ganze erfüllen.68 Insgesamt legen offenbar die mittelalterlichen Ausprägungen der Körpermetapher in erster Linie Wert auf die Darstellung einer in sich komplexen Einheit des Staates, einer – wie die Ordnung der Schöpfung überhaupt – hierarchisch geordneten Verteilung von Orten, die in ihrem Zusammenwirken ein Ganzes konstituieren. Wenn man in diesem Zusammenhang von einer Verkörperungsfunktion des Königs sprechen möchte, so muss man diese in so fern als metonymische verstehen: Der König steht als Teil des Ganzen (unter anderen Teilen) für das Ganze. Die Losung, dass „der Fürst das Haupt des Reiches und das Reich der Leib des Fürsten [ist]“69, ist also für das Mittelalter so zu lesen, dass der König bestimmte Funktionen für den Rest des Körpers erfüllt, während andere Organe andere Funktionen erfüllen. Der Blick auf den konkreten Fürsten konnte so nie die metaphorische Verkörperungsfunktion erhalten, wie es später z.B. der Blick auf den Körper Ludwig XIV. tat. Dieser absolutistische Monarch konnte in neuem Sinne von sich sagen er sei der Staat, da er in seiner Person das Prinzip staatlicher Ordnung überhaupt bedeutete.70 Ebenfalls abzugrenzen von der mittelalterlichen Ausprägung ist das nicht mehr eigentlich absolutistische Verständnis des Staatskörpers als Gebilde aus den sich abstrakt und funktional glei67 Vgl.: Guldin 2000, S. 62f. 68 Gelegentlich auch der Magen, weil er als versorgendes Zentralorgan verstanden wurde. Vgl.: Guldin 2000, 57. 69 So Anfang des 14. Jahrhunderts Lucas de Penna. Vgl: Kantorowicz 1990, S. 226ff. 70 Wie sich dies mit seinem Blick (von oben) verband, wird in Teil II, Kapitel 2 Thema.

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chenden Individuen der Untertanen, wie es besonders eindrücklich auf dem berühmten Frontispiz zu Hobbes’ „Leviatan“ zu sehen ist (Abbildung 12). Der mittelalterliche Staatskörper bestand gewissermaßen aus Funktionsstellen (Organen), denen konkrete Individuen ihrem Wesen nach zugehörten. Diese Individuen waren also wesentlich bereits auf den (ewigen, göttlichen) Staat bezogen und als abstrakt gleiche und dem Staat vorausgehende Staatsatome im Sinne Hobbes’ nicht vorstellbar. Wie wirkt sich nun die mittelalterliche Ausgestaltung der Körpermetapher auf mögliche Wahrnehmungsprivilegien des Herrschers aus? Zunächst einmal ist zu bedenken, dass, wie oben schon erwähnt, der Körper des Einzelnen im Allgemeinen nicht in hohem Maße Gegenstand der Beobachtung oder Selbstbeobachtung war. In der Körpermetapher des Staates war also wohl nicht die von außen eingreifende empirische Erforschung oder der Blick in den Spiegel der Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle mitgedacht.71 Eine im Sinne der neuzeitlichen Medizin mechanistische Wendung der Körpermetapher ergab sich erst im Barock. Die alte galenische Physiologie mit ihren komplexen Wechselwirkungen und der Lehre von den sich gegenseitig im Sinne des teleologisch ausgerichteten Ganzen ausgleichenden hierarchischen Wirkungen und Bestrebungen der einzelnen Organe und „Säfte“ entsprach metaphorisch den Verhältnissen des Feudalismus.72 Der Herrscher erschien weder als dem Staat von außen entgegentretendes Subjekt der Erkenntnis und der Macht noch hatte er es nötig seinen „Körper“, den gleichsam unter ihm oder um ihn herum angeordneten Staat, mit einem Blick als ganzen einzufangen. Darauf weist schon die Tatsache hin, dass es überhaupt möglich war, dass das Herz als Ort des Herrschers denkbar wurde – denn das Herz konnte zwar als Sitz des Verstandes und der Vernunft erscheinen, es hat aber selbst keine Augen. Der lenkende Verstand und die gottähnliche Vernunft des Monarchen wurde also nicht durch das Sehen im wörtlichen Sinn bedeutet, zumindest nicht als eines, das dem Herrscher unmittelbar zugeordnet wurde (wie es bei Machiavelli geschieht).73 Der Herrscher beherrscht den Staat also gleichsam von innen. Er ist weder der Staat oder das Prinzip der Staatlichkeit, noch steht er ihm gegenüber. Der Staat ist ein (göttliches) Prinzip der Einheit verschiedener Teile, das keinem dieser Teile zuzuordnen ist, sondern allen vorausgeht. Dieses Prinzip fordert das Zusammenwirken verschiedener Teile und 71 Vielleicht müsste man tatsächlich eher von einer Leib-Metapher des Staates reden, so wie die Übersetzung von „corpus christi“ wohl „Leib Christi“ heißen muss. Dem mittelalterlichen Verhältnis zum Leib fehlte eben der distanzierte, verobjektivierende Bezug, von dem man im Sinne der bekannten Unterscheidung sagen könnte, er sei später dem Körper zuteil geworden. Vgl.: zur Lippe 1988. 72 Vgl.: Guldin 2000, S. 82. 73 Es gab Wendungen der Metapher, in denen den Ministern, Richtern oder Provinzgouverneuren die Stelle der Augen zugeordnet wurde. Vgl.: Guldin 2000, S. 57ff.

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ist so letztlich mit einer absolutistischen Machtauffassung nicht vereinbar.74 Er erscheint als gottgegebene, ewige Entität, in die jeder Einzelne immer schon hineingesetzt ist. Er erscheint nicht als zu schaffender, zu gestaltender, in dieser Hinsicht zu beherrschender Zusammenhang.75 Er geht logisch jedem voraus, der in ihm seinen Platz einnimmt. Die Körpermetaphern hatten gerade die Funktion diese in der göttlichen Ordnung fundierte ewige Einheit des politisch- gesellschaftlichen Komplexes auszudrücken. Welche Bedeutung hätte bei diesen Verhältnissen ein Blick von oben als Ausdruck der Macht erhalten können? Die Integrität des Staates war durch das Bild des ewigen Körpers bereits gesichert. Das Haupt oder Herz musste diese Integrität nicht herstellen, indem es das Ganze überschaute und so verstand, es musste nur seiner gottgegebenen Funktion nachkommen, um das Funktionieren des Ganzen zu gewährleisten. Es liegt auf der Hand, dass solche Verhältnisse auch nicht das Zustandekommen einer Theorie der Machtergreifung begünstigten – eines die Kontingenz, Dynamik und letztlich Zeitlichkeit der Macht erfassenden Ansatzes, wie er bei Machiavelli gegeben und mit dem Überblick der Macht verbunden ist. Die mittelalterlichen Ausprägungen der Körpermetapher legen also keine ausgesprochene Beziehung zu einem Macht-Blick des Herrschers nahe. Aufschlussreich ist allerdings, wie sich die herausgehobene Machtposition stattdessen ausdrückte: Sie tat dies nämlich durch das Konzept der Nähe zum Herrscher: „Für die mittelalterliche Anschauung vom Organismus ist […] die Unterordnung der Glieder unter ein Zentralorgan charakteristisch, das – je nach der zugrunde liegenden Tradition – in Haupt/Gehirn bzw. im Herzen angenommen werden konnte. Der Rang des einzelnen Gliedes richtete sich hierbei nach dessen Nähe zu diesem leitenden Organ.“76

Die Position des Herrschers organisierte also ein Feld von Positionen um sich, die ihre Wertigkeit je nach der Nähe zur zentralen Position erhielten. Tatsächlich äußerte sich dies keinesfalls nur in der Körpermetapher des Staates, es handelte sich hierbei vielmehr um ein zentrales Mittel des Ausdrucks der Macht und ihrer Würde. An

74 Bei Thomas v. Aquin wird die dem Staatskörper innerliche bestimmende Kraft nicht an einer „bestimmten gesellschaftlichen Macht festgemacht“ (Guldin 2000, S. 60). 75 Ganz anders als in späteren Auffassungen, denen gemäß der Staat ein vom Souverän (sei es dem Volk oder dem König bzw. Fürsten) herzustellender Zusammenhang ist, ein „Apparat“, der gewissermaßen „gebaut“ werden muss. Ein frühes Beispiel solcher Auffassungen ist natürlich die Theorie der Kunst des Fürsten bei Machiavelli. Dieser thematische Zusammenhang wird weiter in Teil II dieser Arbeit Thema sein. 76 Struve, Bedeutung und Funktion des Organismusvergleichs“, in: Zimmermann 1979, S. 150.

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den Höfen und auch Universitäten77 der Zeit strukturierte die Nähe zum Herrscher bzw. zum höchsten Würdenträger ganz konkret die Wertigkeit der Positionen: „Die Nähe zum Herrscher […] nimmt einen entscheidenden Platz in der Herrschaftstopographie ein: Die Nähe zum Herrscher war strengstens lizensiert, da Nähe und Berührung ehrte. Königsnähe war – räumlich gedacht – demonstrativer Gunst- und Gnadenbeweis.“78

Auch in Bezug auf die Macht in der Welt war im Mittelalter also die Nähe der Faktor, der von der Position dieser Macht aus eine Struktur von wertbesetzten Orten schuf, von Orten zudem, die im Sinne der Schöpfungsordnung Teil der Bestimmung der auf ihnen sich befindenden Individuen waren. In der Frage, ob nun das Herz oder das Haupt der Ort des Herrschers seien, führte dies gelegentlich zu einem typischen Problem: Wurde das Herz gewählt, konnte die Metapher, die dem König somit einen zentralen Ort im Körper des Staates zuwies, mit der gängigen vertikal hierarchisierenden Funktion der Achse zwischen oben und unten in Konflikt geraten. So betrachtet lag nämlich der Kopf des Staates höher als der Ort des Königs bzw. Kaisers. Da der Kopf in diesem Zusammenhang auch von Vertretern der Eigenständigkeit oder gar Überordnung des regnums gegenüber dem sanctorium als Ort des Papstes angesehen wurde, ergaben sich für diese Widersprüche innerhalb ihrer eigenen Metapher.79 Für die innerweltliche Macht gilt also dasselbe, wie für die oben besprochenen Darstellungen der göttlichen Position Christi: Das Aufsteigen zu dieser Position hatte vor allem Bedeutung als Annährung an das oben situierte Gute. Die erhöhte Position der Himmelsmacht Gottes war als solche genauso wenig durch ein bedeutungsvolles Wahrnehmungsprivileg bestimmt, wie die des weltlichen Herrschers. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich zu sehen, wie Berthold von Regensburg in einer Predigt über das Jüngste Gericht dessen Gerechtigkeit ausdrückt: An diesem Tag werden alle Menschen der Welt versammelt werden und wenn schließlich der Herr erscheint, „wird er niemandem von ihnen näher sein als einem anderen oder weiter von ihm entfernt“.80 Er verzichtet also zugunsten des Prinzips der (gerecht verteilten) Nähe darauf, einen in Bezug auf eine imaginäre visuelle Wahrnehmung nachvollziehbaren Raum zu evozieren. Natürlich 77 Zum Ausdruck des Rangs an den Universitäten vgl.: Füssel, Marian, „Rang und Raum – Gesellschaftliche Kartographie und die soziale Logik des Raumes an der vormodernen Universität“, in: Dartmann, Füssel, Rüther (Hgg.) 2004. 78 Witthöft, Christiane, „Symbolische Raumordnung in der Literatur des Mittelalters“, in: Dartmann, Füssel, Rüther (Hgg.) 2004, S. 26f. 79 Rainer Guldin stellt dies anhand eines Traktates des Leibarztes von Philip dem Schönen dar (zwischen 1306 und 1320). Vgl.: Guldin 2000, S. 63. 80 In einem Predigtfragment mit dem Titel „Von dem jüngsten Gericht“. Vgl.: Gurjewitsch 1997, S. 201.

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wäre dies prinzipiell mit der gleichen Nähe aller Menschen zu Gott vereinbar gewesen: Die Menschen hätten einen großen Kreis um den im Mittelpunkt platzierten Christus bilden müssen. Diese „realistische“ Raumorganisation interessiert Berthold aber offenbar nicht, der Aspekt der Gottesnähe ist hier beherrschend. Es ist offenbar nicht einmal nötig zu begründen, warum diese Nähe nicht vorstellbar sein muss, etwa durch eine Behauptung der Unabhängigkeit Gottes von unserem irdischen Raumkonzept – eine Erklärung, die ihm ja offen gestanden hätte. Es scheint, als ob Berthold nicht mit verwirrten Rückfragen seiner Zuhörer gerechnet habe. Dante wird eine solche Begründung etwas später in ganz ähnlichem Zusammenhang liefern: Als er in seiner „Göttlichen Komödie“ die letzte Sphäre der Welt, das Empyreum erreicht hat, erblickt er dort die Quelle des göttlichen Lichtes, um die die Ringe der Seligen sich legen. Im äußersten dieser Ringe nun sind seine Führerin Beatrice und die Mutter Gottes platziert – also prekärer Weise in demjenigen, der dem Zentrum, also Gott, am fernsten liegt. Das darin liegende Problem löst Dante, indem er auf die ungewöhnlichen Wahrnehmungsverhältnisse im Himmel eingeht: Er sieht Beatrice in dem entfernten Ring, als ob sie ihm ganz nah wäre.81 Im Himmel gelten die Gesetzte der irdischen Welt nicht, die räumliche Vorstellung der das göttliche Zentrum umgebenden Ringe lässt sich also durchaus mit einer gleichmäßigen Verteilung der von diesem Zentrum ausgehenden Gnade vereinbaren: „Nicht Fern und Nah gibt Schranke hier und Halt: Wo Gott allein und ohne Mittler waltet, hat kein Gesetz mehr der Natur Gewalt“82. Dass Dante diese Erklärung hier überhaupt nötig hat, verrät die auch für ihn große Bedeutung des Prinzips der an die Nähe zu Gott gebundenen Wertigkeit. Umgekehrt zeigt es, wie die gleichzeitigen Voraussetzungen des aristotelisch-christlichen, räumliche Verhältnisse hierarchisch deutenden Weltbildes und der Forderung Gott solle allen Seelen oder doch Seligen gleich nah sein, ein Problem erzeugt, das die entsprechende Räumlichkeit nie konsequent über ihre hierarchisierende Funktion hinausgelangen lässt: Gott wird zwar im Raum situiert, dieser „Raum“ ist aber eben nicht als reiner und von Gott unabhängiger zu denken. Er wird in seinen Eigenschaften denjenigen Gottes angepasst, weil er sonst dessen Allmacht und Allgegenwärtigkeit konterkarieren müsste.83 In gewisser Hinsicht lässt sich so also auch von Gott sagen, er habe in der mittelalterlichen Vorstel81 Vgl.: Dante, Göttliche Komödie, Par. 31, 74-79. 82 Ebd.: Par. 30, 121-123. 83 Hier sei nochmals an jene 1277 in Paris verdammte These erinnert, nach der Gott zur Verursachung von Bewegungen der Vermittlung seines ursprünglichen Impetus durch übertragende sekundäre Impulse bedarf. Dante schloss an der genannten Stelle eine solche Vermittlung zumindest für den Bereich des Empyreums aus – so dass zumindest hier der Raum und das Konzept der Entfernung keine Gültigkeit haben (Allerdings zugunsten des Konzeptes der Nähe – ausdrücklich nicht mit der Folge einer Bedeutungslosigkeit der räumlichen Metapher überhaupt).

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lung seine Schöpfung „von innen“ beherrscht: Von ihm ging die Ordnung der Schöpfung aus und er verbürgte sie, sein Wissen um sie und seine Macht über sie waren der Welt nicht in einer Hinsicht äußerlich, die sie einschränken müsste. Schon der Gedanke des im Empyreum thronenden unbewegten Bewegers legt dies nahe: Alle Bewegung geht von Gott aus; es bewegt sich nichts gegen ihn, er muss die Welt nicht wie etwas von sich aus Dynamisches gestalten. Auch er muss die Macht über die Welt nicht ergreifen. Wie der weltliche Herrscher seinem Staat, stand Gott seiner Schöpfung in dieser Hinsicht nicht von außen gegenüber – wenn er andererseits auch nicht in dem Sinne in ihr war, in dem zu Beginn der Neuzeit unter anderen Voraussetzungen und mit anderen Folgen z.B. Cusanus, Bruno oder Böhme dies fassen sollten.84 Dass dem Blick von oben keine herausgehobene Funktion als Blick göttlicher Macht zukam, heißt bei all dem natürlich nicht, dass dies für den Blick überhaupt galt. Die allgemein gegebene metaphorische Funktion des göttlichen Auges ist ja gerade im Sinne des aktiven, handelnden, also Macht ausübenden Blicks immer gegeben. Gerade an der oben erwähnten „Göttlichen Komödie“ wird auch hier noch in aller Deutlichkeit die Gnade und Offenbarung spendende Funktion des Blicks Gottes aufgezeigt werden können. Was dabei aber eben fehlt ist die Funktion der erhöhten Perspektive Gottes. Gerade in dem Moment, in dem der Blick Gottes seine größte Wirkung erzielt – im Moment der visio facialis – spielt auch in diesem Text die räumliche Vertikale keine Rolle mehr, die zuvor eben vor allem Wertpositionen schuf und nicht Wahrnehmungsmöglichkeiten. Dieses Fehlen der Verbindung von Überblick und Macht im Mittelalter hatte eine interessante Folge auch für das entsprechende Konzept der Hybris der Macht. Auch diese wurde zunächst nicht mit der Anmaßung eines Überblicks verbunden – wobei 84 Diese Formulierung soll also nicht den Unterschied zur späteren mystischen Philosophie und Theologie z.B. bei Cusanus bestreiten. Die Körpermetapher lässt sich zwar auch mit einem die ganze Schöpfung durchdringenden Gott verbinden – wenn dessen Position aber in Analogie zu derjenigen des weltlichen Herrschers gedacht wird, kann Gott als das herrschende Prinzip durchaus als zugleich von ihr (der Natur) unterschieden gedacht werden. Der Monarch als Haupt des Staates ist ja nicht der Staat – er ist aber das im Staat selbst Enthaltene, auf welches dessen Ordnung bezogen ist. Insofern organisiert er den Staat „von innen“ – ebenso wie ein Gott, dem in seiner eigenen Schöpfung ein bestimmter Ort zugewiesen wird (das Himmelreich oder Empyreum) dennoch als ordnendes Prinzip des Kosmos begriffen werden konnte. Bei Dante drückt sich dies in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Lichtmetaphysik darin aus, dass Gott zwar einen bestimmten Ort im Kosmos hat, dass er aber zugleich die Quelle des den ganzen Kosmos durchdringenden Lichtes ist (das m. E. nicht mit einem Macht-Blick Gottes verwechselt werden sollte, wofür weiter unten argumentiert werden wird).

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sich gegen Ende des Mittelalters erste Beispiele finden lassen, in denen dies möglicherweise geschieht. Besonders deutlich wird dieser Umstand bei der Betrachtung von bildlichen Umsetzungen der antiken Legende vom Flug des Alexander. Diese Legende berichtet von Alexanders Erkundung der Lüfte: Er befestigt eine Schar von Greifen an einem Gespann und lockt sie mit einem an einer Stange befestigtem Köder immer höher, um den Himmel (wohl zunächst nicht das Himmelreich) zu erkunden. Diese Episode aus der Alexanderlegende wurde vor allem bis ins 12. Jahrhundert immer wieder bildlich umgesetzt – und zwar auch isoliert, im Gegensatz zu den anderen Abenteuern des Königs.85 Es finden sich dabei sowohl Belege für eine positive wie auch für eine negative Deutung bzw. solche für unterschiedliche Deutungen in verschiedenen Kontexten: Der Flug Alexanders konnte als Erhöhung des Herrschers im positiv wertenden Sinne gemeint sein, als Beispiel des erhöhenden Glaubenseifers, der nicht aufhört nach dem Himmelreich zu streben oder aber als Ausdruck der Hybris, der superbia. Letztere Verwendung der Legende findet sich dabei offenbar relativ spät: Schmidt verweist als ersten Beleg auf Jan Enikels „Weltchronik“ (entstanden ca. 1272).86 In deren Text wird der Legende ein Element hinzugefügt: Als Alexander dem Himmel zu nahe kommt, ertönt von oben eine Stimme, die ihm verbietet weiter aufzusteigen, woraufhin er zur Erde zurückkehren muss. Er landet aber so weit von seinen Truppen entfernt, dass sie ihn zunächst nicht wieder erkennen, als er nach einem Jahr zu ihnen gelangt. Auf diese Weise wurde Alexanders Hybris explizit gemacht und sein Flug eindeutig als verbotene Annährung an den Himmel im Sinne des Himmelreiches verstanden. In einem späten Manuskript der Weltchronik von ca.1410 findet Schmidt eine Miniatur, die Alexander in seinem Fluggerät zeigt und den von oben kommenden Engel, der ihm den weiteren Aufstieg verbietet. Sowohl die Möglichkeit der verschiedenen Auslegungen der Legende, als auch die Tatsache, dass selbst in der relativ eindeutigen Version von Enikels Weltchronik Alexanders Vergehen nicht der Flug als solcher, sondern seine Annährung an die Position Gottes bzw. seine versuchte Entfernung von der Erde ist, zeigt, dass das zugrunde liegende Verständnis der Hybris in keiner Weise mit der Übernahme einer Wahrnehmungsposition verbunden ist. Die Versuchung der superbia liegt nicht in einem aneignenden Blick zurück auf das unten Liegende, in der Macht und dem Wissen, den er enthalten könnte, sondern darin, sich Gott anzunähern, ohne von ihm erhoben zu werden. Sie liegt darin, zu versuchen, sich von seinem natürlichen Ort – der eben im wertenden Sinne „niedrige“ Erde – zu entfernen, sich demgemäß unter Verstoß gegen die göttliche Ordnung aufzuwerten. Der natürliche Ort des Menschen ist die Erde – über ihn erhoben werden kann er nur durch Gott. Der Hochmut der Macht bezieht sich so ausschließlich auf ihre Beziehung zum Göttlichen, nicht auf diejenige zum irdischen Bereich der 85 Vgl.: Schmidt 1995. 86 Vgl.: ebd., S. 127ff.

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Macht. Wie noch auf der Miniatur vom Anfang des 15. Jahrhunderts blickt der von der Hybris bedrohte weltlich Mächtige nicht zurück zur Erde, den Bereich seiner Herrschaft, sondern hinauf zum Himmel, aus dem das Verbot der weiteren Annährung herabschallt. Das göttliche Privileg, welches Alexander missachtet ist also keineswegs dasjenige eines Überblicks über die Welt, sondern das der Verleihung von Wert durch Erhöhung. Auf diese Weise konnte diese Erhöhung des Königs ebenso gut positiv gedeutet werden: Eben als statthafte Annährung an Gott im Eifer des Glaubens oder einfach als wertende Erhöhung des Herrschers im Verhältnis zu seinen Untertanen.87 Frühe Beispiele dafür, dass die Hybris, der Hochmut der Macht mit einem Überblick verbunden wurde, sind Darstellungen, die auf die biblische Geschichte von der Versuchung Christi auf dem Berg Bezug nehmen (Mat. 4, 8-11). Diese Episode aus dem Leben Jesu ist offenkundig dazu geeignet, die Verbindung des Überblicks zur Macht zu reflektieren. Gerade deswegen ist es instruktiv, dass sie bis ins Hochmittelalter nicht dazu Anlass gab, die Versuchung auf dem Berg mit einem Überblick über das Land, den Bereich der durch den Teufel versprochenen Herrschaft, zu verbinden. Der mittelalterliche Bezug zur Umwelt und die entsprechenden Konzepte der Repräsentation von Macht konnten dem offenbar bis ins hohe Mittelalter hinein keinen Sinn geben. Dass dies geschieht, lässt sich erst mit Beginn des 14. Jahrhunderts beobachten – also noch vor der Entwicklung der Zentralperspektive und dem damit einhergehenden offensichtlich neuen Bezug zur Repräsentation von Raum. Andererseits zeichnen sich gerade in den entsprechenden Produkten bereits gewisse Elemente der (Landschafts-)Kunst ab, die mit der Renaissance allgemein und über ganz Europa hinweg üblich werden. Dies gilt insbesondere für die Orientierung der in die Tiefe gestaffelten Landschaft an einem vom Bild implizierten Betrachterstandpunkt.88 Die ersten Ansätze zu einem Ausdruck eines neuen Bezugs zum Raum, zur Position des Einzelnen und zur Landschaft gingen also einher mit einer sich andeutenden Verbindung der Macht zu einem Blick. Ein sich verändernder Bezug zum Einzelnen führte den Betrachterstandpunkt in die Repräsenta-

87 Berthold v. Regensburg bezieht sich etymologisierend auf den Begriff der „hhvart“, auf die „hhe vart“: „Unde dâ von heizet es ouch hôhe vart: daz dû gerne in den lüften füerest, ob dû möhtest“ (Berthold v. Regensburg 1965 I, S. 397). Dies geschieht bei ihm aber am Rande, in einer Aufzählung der anderen „Namen“ diese Sünde (Eitelkeit, Torheit) und der Flug als Ausdruck der hôhvart hat hier offenkundig vor allem einen Sinn: Er steht für das für Menschen Unmögliche, das zu versuchen Hochmut und Torheit ist. Ein irgendwie hochmütiges Herabschauen auf das unten Liegende ist hier in keiner Weise angesprochen. 88 Die vor der Erfindung der Luftperspektive durch eine Abdunkelung in Richtung Hintergrund geschah.

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tion der Welt ein und zugleich wurde der besondere, herausgehobene Standpunkt des Blicks von oben bedeutungsvoll. Bis ins 13. Jahrhundert hinein erstreckte sich unter dem Berg der Versuchung keine Landschaft – sie wurde allenfalls durch einzelne, nicht mit den Formen des Bodens verbundene Pflanzen angedeutet, wie es in der Malerei bis ins Hochmittelalter allgemein üblich war. Auch das, was man als einzelne Werte in einer solchen Landschaft vermuten würde – Städte, Vieh, arbeitende Menschen, landwirtschaftliche Ressourcen usw. – wurde nicht abgebildet. Die Schätze des Landes, die der Teufel Jesus anbietet, wurden auf ganz andere Weise in Bild gebracht: ganz wörtlich als auf dem Berg oder zu seinen Füßen platzierte Wertgegenstände, meist Schalen voll Gold.89 Bei dieser Art der Darstellung, bei der die Wiedergabe einer im Raum sich erstreckenden, zusammenhängenden Landschaft fehlt, mag man sich heute fragen, wozu der Teufel Jesus überhaupt auf einen Berg führen musste, um ihn zu versuchen. Und tatsächlich scheinen die Künstler bis ins Hochmittelalter auf diese Frage keine Antwort gegeben zu haben. Sie haben sich wohl die Frage in dieser Form nicht gestellt. Auf Darstellungen aller drei Versuchungen geben sie den Berg meist in gleicher Höhe wieder, wie den Tempel – sie betrachteten den Berg in keiner Weise als Aussichtspunkt. Ein frühes Beispiel dafür, dass sich dies zumindest andeutet, ist die „Versuchung Christi“ des Duccio di Buoninsegna (Abbildung 3). Duccio markiert mit seiner Kunst auch allgemein einen mit Beginn des 14. Jahrhunderts sich in Norditalien neu entwickelnden Zug zur Naturbeobachtung als Grundlage der Kunst.90 Auf seiner „Versuchung“ äußert sich dies in einer Abweichung vom letztlich auf byzantinische Vorbilder zurückgehenden Formenkanon:91 Obwohl er den Himmel noch als Goldgrund wiedergibt, erstreckt sich darunter eine durch drei Helligkeitsstufen gestaffelte Landschaft mit Tiefenwirkung – was die Abbildung auf einen Betrachterstandpunkt bezieht, auch wenn die Prinzipien der Luftperspektive noch nicht erkannt wurden und der Hintergrund als dunkelster und farblich kräftigster Teil wiedergegeben wird. Deren einzelne Elemente erscheinen als in einem zusammenhängenden Raum angesiedelte Elemente. Wenn die Städte auch nur dürftig in den Felsgrund eingepasst sind. Sie stellten aber durch ihre detailreiche Ausführung in dem Wert, den sie der einzelnen Beobachtung gaben, eine Neuerung dar. Der Berg der Versuchung erscheint im Verhältnis zu den Städten noch recht niedrig – die Position des höchsten Punktes erhält Christus nicht durch ihn, sondern durch seine übernatürliche Körpergröße. Immerhin liegt ihm aber nun ein (möglicher) Herrschaftsbereich zu Füßen, der als zusammenhängender Raum erscheint, in dem die Werte, von denen die Versuchung ausgeht, platziert sind bzw. der als ganzer als Versuchung erscheint: Die erhöhte Position des Hauptes Christi 89 Vgl.: Schiller 1966, S. 153. 90 Vgl.: Feldges 1980, S. 11f. 91 Vgl.: ebd.: S. 15ff.

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erhält eine Funktion für die Wahrnehmung dieses Bereiches. Der Blickpunkt als erhöhter Standort im Bild selbst und als Standort des Betrachters, auf den die sich zum Hintergrund hin verdunkelnden Abschnitte der Tiefenstaffelung bezogen sind, erhält Bedeutung – und damit auch der Überblick als Blick der Macht. Bei genauerer Betrachtung muss man aber wohl feststellen, dass dieser Macht-Blick hier keineswegs als solcher als von der Hybris betroffen diffamiert wird: Jesus weist den Teufel von sich, er verlässt nicht seine erhöhte Position, diese kommt ihm offenbar zu (sie begründet sich ja vor allem aus einer von ihm nicht trennbaren Eigenschaft, seiner Größe). Duccio scheint also die Versuchung keineswegs als in diesem Blick selbst liegend verstanden zu haben, sondern als in der vom Teufel geforderten Anbetung, also der Abwendung von Gott. Der Überblick über das Land erscheint hier also durchaus als Blick der Herrschaft, allerdings ist er gewissermaßen noch nicht eindeutig mit wertender Bedeutung belegt, die Eigenheiten dieses Blicks werden noch nicht im Bild selbst reflektiert. Der Überblick als den Bereich der versprochenen Herrschaft umfassender Blick wird möglich, er wird aber nicht erkennbar problematisiert – was darauf hindeutet, dass er schlicht kein Problem enthielt, zumindest dann nicht, wenn er dem Gottessohn zukam.92 Dementsprechend wird der Blick Christi auch nicht als explizit auf das Land gerichtet abgebildet, er erfasst eher den zurückgewiesenen Antichrist. Die neue Art der Darstellung räumlicher Zusammenhänge, für die Duccio frühe Beispiele liefert, enthält aber gewissermaßen bereits strukturell die Möglichkeit einer Problematisierung des Überblicks, die aus Gründen, die noch zu untersuchen sein werden, mit der Zeit tatsächlich auftraten und die ihn letztlich als Privileg erscheinen ließen – zunächst als dasjenige Gottes. Ein etwas späteres Beispiel einer bildlichen Umsetzung der Versuchung, bei der der Berg als Mittel des Blicks von oben und der von ihm sich eröffnende Blick über eine unten sich erstreckende Welt ihre Funktion als Inbegriff der Versuchung der Macht erhalten, ist z.B. Fra Angelicos Ausmalung einer Zelle von San Marco in Florenz (Abbildung 4). Bei dieser Darstellung steht Jesus im Vordergrund auf einem Berg. Seine Körpergröße ist – gemessen an der Höhe der dargestellten Bäume – nicht wesentlich überlebensgroß. In jedem Fall wird hier deutlich, welchen Sinn der Berg für die Versuchung hat: Er ist Voraussetzung des sich im gesamten Hintergrund eröffnenden Überblicks über die mit ihren Städten und dem Meer daliegende Welt. Vor dem Berg sitzt Jesus, nachdem er die Versuchung von sich ge92 Man muss bedenken, dass Jesus im Zusammenhang der Versuchungen eher in seinen menschlich-irdischen Aspekten gemeint ist – anders als z.B. dann, wenn er als Richter während des Jüngsten Gerichtes auftritt und damit eindeutig als zweite Person Gottes aus dem Himmel herabkommt. Aus der Versuchung Jesu lässt sich also eine gewissermaßen menschliche Moral ableiten – der Mensch soll es ihm gleichtun. Insofern bezieht sich ein etwaiger Blick der Versuchung durchaus auf Menschliches, auch dann, wenn er zunächst dem Gottessohn zugeordnet ist.

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wiesen hat und von den Engeln bedient wird: Mit der Macht verzichtet er auch auf den Blick, der sie enthielt.93 Abbildung 3: Duccio di Buoninsegna, Versuchung Christi auf dem Berg.

Frick Collection, New York, 1308-11.

Ein anderes Beispiel dafür, wie sich ein Überblick über eine Landschaft bereits im 14. Jahrhundert mit der Macht über dieses Land verband, ist die berühmte Ausmalung des Sala della Pace von Ambrogio Lorenzetti in Siena . Bei dieser Allegorie auf die „gute“ bzw. „schlechte Herrschaft“ handelt es sich um das erste „Panorama“ einer konkreten Landschaft, die diese als solche porträtiert. Auf den beiden Wänden 93 Auch in den berühmten Très Riches Heures der Gebrüder Limburg findet sich eine Darstellung der Versuchung Christi (fol. 164r; Musée Condé, Chantilly). Auch aus dieser Miniatur ist das, was bei Duccio noch als erstes Abweichen vom Überkommenen erscheint, klar umgesetzt: Christus steht als kleine Figur auf einem hohen Berg, der die Landschaft überragt. Letztere ist differenziert und in ihrer räumlichen Tiefe erfasst, über ihr erstreckt sich der blaue, irdische Himmel. Der Berg als Aussichtspunkt herhält hier bereits viel stärker Bedeutung.

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des Saales, auf denen die gute Herrschaft repräsentiert ist, ist in der Bildmitte die Stadtmauer zu sehen, die das links liegende Siena von der es umgebenden Landschaft trennt. Der imaginäre Betrachterstandpunkt liegt auf dieser Mauer. Die Landschaft wird dementsprechend überschaut, der Horizont liegt sehr hoch. Durch die Lichtführung, die von links nach rechts, also von der Stadt ins Land hinein geht und durch die belebte Straße, über die viele Menschen aus der Stadt ins Land aufbrechen und umgekehrt, wird die Einheit von Stadt und Land dargestellt.94 Die Auftraggeber für dieses Fresko waren die Mitglieder des „Rates der Neun“, des in Siena zwischen 1285 und 1355 herrschenden bürgerlichen Gremiums, das sich gegen die Mitherrschaft des Adels durchgesetzt hatte und im Laufe der Zeit eine relativ stabile Oligarchie aufbaute, die den unteren Schichten und dem Adel zwar keine Möglichkeit der Mitsprache, dem Stadtstaat aber eine Periode der Prosperität und der territorialen Ausdehnung brachte. Diese Herrschaft der „Neun“ als „Boun Governo“ wiederzugeben, war also Funktion dieses Teils des Freskos. Die ihm gegenüberliegende Wand zeigt die schlechte Herrschaft, die Tyrannis. Aus dieser Funktion des Bildes erklärt sich der für die Zeit neue und ungewöhnliche Bezug auf eine konkrete Landschaft und Stadt, durch die die überkommenen Bildformeln früherer Zeit ersetzt wurden. Zugleich bietet das Bild einen Blickpunkt an, der als realer Betrachterstandpunkt im Palazzo Publico und als imaginärer auf der Mauer der Stadt liegt: Entsprechend der nicht auf ein Herrscher-Subjekt bezogenen Regierungsform ist dieser Punkt nicht einem bestimmten Subjekt als Privileg zugeordnet. Es handelt sich aber um einen Überblick über Land und Stadt, der beides als Ganzes, als Zusammenhang erfasst und der eindeutig auf dessen Beherrschung bezogen ist. Auch hier ist die wesentliche Funktion des frühen Überblicks in der bildenden Kunst also die Repräsentation von Herrschaft – in diesem Falle die ihrer positiven Wirkungen, nicht die der von ihr ausgehenden Versuchung.95 Fragt man sich, warum zumindest bis ins hohe Mittelalter die Machtposition des Herrschers nicht in signifikanter Weise mit seinem (Über-)Blick verbunden oder bedeutet wurde und warum sich dies im Spätmittelalter offenbar stellenweise änderte, sind – abgesehen von der allgemeinen Unwichtigkeit des Blicks auf den anderen und die Umwelt – auch die tatsächlichen Verhältnisse an den Höfen und Herrschaftszentren von Bedeutung. Seit dem hohen Mittelalter gelang es in verschiedenen Regionen und Kontexten einigen regionalen Herrschern ihr Machtmonopol auszuweiten. Dadurch veränderte sich auch der jeweilige Hof: Aus den kleinen, überschaubaren Zentren der autarken, feudalistisch regierten Einheiten wurde ein größeres, mit weiteren Zusammenhängen vernetztes Regierungszentrum.

94 Feldges 1980, S. 57. 95 Vgl. auch: Büttner 2006, S. 41ff.

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Abbildung 4: Frau Angelico, Versuchung Christi.

Museo di San Marco, Florenz (Zelle 32a), nach 1450.

So erhöhte sich stückweise die Abhängigkeit des Herrschers von seinen Untertanen bzw. gewissermaßen die Reichweite dieser Abhängigkeiten: Die Struktur dieser Beziehungen war nicht mehr im Sinne persönlicher Bekanntschaft und direkten Kontakts zu verstehen. Für Norbert Elias wurde dies bekanntlich zu einem bestimmenden Faktor im „Prozess der Zivilisation“, indem die sich verändernden Zustände an den Höfen zu Ausgangspunkten für eine Veränderung der Verhaltensweisen und der Wahrnehmung wurden, die sich hin zu mehr Selbstkontrolle und Selbstbeobachtung bzw. zur Beobachtung und Kontrolle anderer entwickelten: „Je mehr Menschen durch das Spiel des Monopolmechanismus in Abhängigkeit geraten, desto größer wird die gesellschaftliche Stärke zwar nicht der einzelnen Abhängigen, aber der Abhängigen als eines Ganzen im Verhältnis zu den wenigen oder dem einen Monopolisten, und zwar sowohl durch ihre Anzahl, wie durch die Angewiesenheit der Wenigen, die sich

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einer Monopolisierung nähern, auf immer mehr Abhängige zur Bewahrung und Bewirtschaftung der monopolisierten Chancen. Mag es sich um Land, Soldaten oder um Geld in irgendeiner Form handeln, je mehr sich davon in einer Hand akkumuliert, desto weniger wird es für diesen Einzelnen übersehbar, desto sicherer wird er durch sein Monopol selbst auf immer mehr Andere angewiesen, desto stärker wird er von dem Geflecht seiner Abhängigen abhängig.“96

Auch ganz konkret kann der über- und durchschauende Blick des Herrschers in einer solchen Situation überhaupt erst Sinn erhalten – insofern er einen gegebenen Mangel zumindest metaphorisch beheben kann. Erst wenn der Herrschaftsbereich des Herrschers so kompliziert und weitläufig wird, dass er ihn nicht mehr als ganzen in den „Blick“ nehmen kann, dass dessen kognitive Kartierung für ihn zum Problem wird, kann sein Wissen und seine mit ihm einhergehende Macht sich in einem auf ihn bezogenen metaphorischen Überblick ausdrücken, der den Mangel als behoben darstellt. Genau diese Verhältnisse waren in den feudalistischen, relativ kleinen und weitestgehend autarken Herrschaftsbereichen des Mittelalters lange nicht gegeben. Darüber hinaus besaßen diese Herrschaftsbereiche oft keine klare geographische Integrität. Sie durchdrangen einander gelegentlich sogar räumlich und standen auch so einer überblickenden Darstellung (z.B. durch Kartographie) entgegen: Das Territorium war nicht in dem Maße wichtiges Element des Herrschaftsbereiches und der Repräsentation von Herrschaft, wie dies später der Fall sein sollte. Praktisch vollzog sich die Herrschaft also in einem strukturell relativ unkomplizierten Geflecht relativ unmittelbaren Kontaktes zwischen Menschen. So war die (auch kognitive) Herstellung der Integrität des Herrschaftsbereiches ohne klare geographische Bestimmung und deren Darstellung möglich.97 Was hier gefehlt zu haben scheint, war die metaphorische Vorstellung eines territorialen „Behälters“, in dem die Untertanen sich befinden und durch den sie als solche erst bestimmt sind. Dies verwundert auch wegen der Voraussetzung der wesentlichen Verbindung von Ort und Individuum nicht, denn diese ist mit einer BehälterMetapher des Territoriums natürlich nicht vereinbar, der Begriff des Behälters schließt eine wesentliche Verbindung mit dem Enthaltenen aus. Offenbar trat dies erst im späteren Mittelalter ein, als vor allem in Frankreich und England nationalstaatliche Systeme entstanden und sich in Italien zunächst vor allem auf wirtschaftlicher Macht beruhende Machtmonopole in flächenmäßig relativ kleinen, aber in Bezug auf ihre Vernetzung mit dem Rest der Welt relativ komplexen Stadtstaaten bildeten, wie eben z.B. in Siena. Die Wirkung dieser letzteren Verhältnisse ist an Lorenzettis Fresken ablesbar: Der Überblick erhält in einer Situation, in der ein komplexes staatliches Gebilde, dessen wirtschaftliche Grundlage 96 Elias 1969 II, S. 147. 97 Vgl.: Büttner 2000, S. 52.

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nicht mehr ausschließlich in der Landwirtschaft liegt, verstanden und beherrscht werden muss. Die Komplexität der zu „über-“ und „durchschauenden“ Verhältnisse gibt dem Blick von oben in der Kunst seine metaphorische Funktion, die sich letztlich aus dem Mangel einer neuen Distanz zwischen dem Subjekt der Herrschaft und dem Beherrschten ergibt, die metaphorisch aus dem Unteren heraus nicht mehr visuell zu überbrücken ist, die eben den Blick von oben benötigt, der das voneinander Entfernte im Zusammenhang erfasst.

„Ü BERBLICKE “

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Bisher hat sich in Bezug auf die Frage nach der Funktion des Überblicks für Gott und den Menschen ergeben, dass die Kultur bis ins Spätmittelalter, als sich die Verhältnisse zu ändern begannen, diesem Konzept der Wahrnehmung keine besondere Stellung gab. Weder die zeitgenössischen Gottesvorstellungen noch die Formen des Selbstbezugs und der Ausdrucksformen der Macht machten sich die speziellen metaphorischen Möglichkeiten des Blicks von oben zunutze. Insofern konnte die unabhängige Übernahme einer entsprechenden Perspektive durch den Menschen weder die Übernahme einer himmlischen noch die einer irdischen Macht bedeuten. Andererseits finden sich aber auch in der Kultur des Hochmittelalters Produkte, die durchaus in gewisser Hinsicht auf menschlichen und göttlichen Überblick im Sinne der heutigen Metapher Bezug nehmen. Dies gilt z.B. für die mappae mundi: Sie liefern zweifelsohne eine Gesamtschau der Erde in ihrer räumlichen, aber auch zeitlichen Erstreckung, sie geben offensichtlich in gewisser Hinsicht einen „Überblick“ über die Welt und das in ihr Enthaltene. In Bezug auf diese Karten stellt sich also durchaus wieder die Frage, ob sie nicht Menschen einen Blick auf die Erde ermöglichen, wie ihn Gott vom Himmel herab hätte. Nach dem bisher Gesagten wäre ein solcher Befund natürlich überraschend – und tatsächlich kann m. E. gezeigt werden, dass die mappae mundi weder einem menschlichen noch einem göttlichen Überblick über die Welt einen mit späteren Funktionen vergleichbaren Sinn gaben. Ihre Funktion war es vielmehr in erster Linie, die Schöpfung ihrer gottgegebenen Ordnung entsprechend zu präsentieren. Der „Überblick“, den sie dem Menschen offenbaren, hat nichts zu tun mit einem Blick aus erhöhter Perspektive auf das unten Liegende. Insofern hieße, das von ihnen Geleistete als „Überblick“ zu bezeichnen, eine Metapher zu verwenden, die sich jüngeren Prägungen verdankt und deren Bildspender im Mittelalter auch dann, wenn er in gewisser Weise der Form nach auftauchte (wie bei den mappae), nicht das Potential späterer Zeiten enthielt.98 98 In der lateinischen Literatur des Mittelalters entspricht dem Wort „Überblick“ im Deutschen das Verb circumspicere oder das Nomen circumspectus, welches so viel wie Umblick, Umschau oder auch Erwägung, Betrachtung meint. So verwendet es z.B. bereits

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Andererseits nehmen die mappae mundi durchaus auf den Bildempfänger der heutigen Metapher, jenes Wissen um das Ganze (der Welt), Bezug. In dieser Hinsicht offenbaren sie tatsächlich einen „Überblick“ Gottes. Wie aber wohl auch hier wieder gezeigt werden kann, ist dieser „Überblick“ in keiner Weise geeignet, auf eine Weise von Menschen übernommen zu werden, die sie an die Stelle Gottes setzt, die sie ein Wahrnehmungsprivileg Gottes brechen lässt. Insofern ermöglichen die mappae mundi und ähnliche Medien der Zeit ihren Betrachtern unschuldige Blicke und „Überblicke“. Um sich aber der Funktion der mappae mundi und der in ihnen implizierten Blickverhältnissen anzunähern, ist ein Beispiel aus dem Bereich eines etwas älteren literarischen Genres – des Artusromans – interessant, das darüber hinaus auch für sich genommen aufschlussreich ist: Die Beschreibung von Enites Pferd im „Erec“ des Hartmann von Aue (nach 1170). Bei diesem Pferd handelt es sich in gewisser Hinsicht um eine kosmographische Darstellung, die vieles mit den mappae mundi gemeinsam hat, deren Kennzeichnung als „Überblick“ aber noch deutlicher bedeuten würde, eine Metapher anzuwenden, die sich jüngeren Funktionen von Perspektive und Raum verdankt und die in gewisser Hinsicht unangemessen wäre. Der „Erec“ des Hartmann von Aue Die metaphorische Funktion des Raumes zeigt in den Artusromanen gewisse Parallelen zu jener der mappae mundi – auch wenn diese im Allgemeinen jüngeren Datums sind und den Autoren der meisten Romane kaum bekannt gewesen sein dürften. Die Erzählung Hartmanns enthält mit der Beschreibung des Pferdes Enites ein Element, das eine den mappae in vielen Hinsichten vergleichbare kosmographische Weltdarstellung mit einem interessanten Aspekt der Mobilität verbindet. Erzählt wird zunächst die Geschichte des Auszugs Erecs, der durch den Vorwurf seiner in vorausgehenden aventiuren gewonnen Frau Enite motiviert ist, er habe sich „verlegen“, er Augustinus, auf den sich in der folgenden Passage Thomas v. Aquin bezieht: „Unde Augustinus definiendo comprehensionem dicit quod ‚totum comprehenditur videndo, quod ita videtur, ut nihil ejus lateat videntem; aut cujus fines circumspici possunt‘“ (Summa I 12, 7). In der Übersetzung der Deutsch-Lateinischen Ausgabe: „Darum sagt auch Augustinus über das ‚Begreifen‘, indem er seine Bedeutung abgrenzt: ‚Man ‚begreift‘ ein Ganzes, wenn man es so schaut, dass nichts dem Schauenden verborgen bleibt, oder wenn man ganz und gar seine [des Ganzen] Grenzen zu überschauen vermag‘“. Die Metapher von der „Umschau“ mit der des „Überblicks“ zu übersetzen, ist sicherlich in diesem Zusammenhang auch sinnvoll, der zugrunde liegende Bildspender ist aber nicht der eines Blicks von erhöhtem Standpunkt über etwas unten liegendes (vielleicht eher der der Wahrnehmung eines sich um einen Gegenstand herum bewegenden Betrachters) – auch hier wird also eine jüngere Metapher an die Stelle einer älteren gesetzt.

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habe seine Pflichten als Edelmann und König zu Gunsten der Liebe, des Rückzugs in die Zweisamkeit vernachlässigt. Von diesem Vorwurf aufgeschreckt bricht Erec auf und befielt seiner Frau ihm schweigend vorauszureiten. Es folgen die für den Artusroman typischen Abenteuer, in der ebenfalls typischen Wiederholungsstruktur.99 Am Ende dieser Wiederholungsstruktur liegt die Beschreibung des Pferdes, eines Geschenks des Königs Guivreiz, an dessen Hof sich Erec von einer Verwundung, einem symbolischen Tod mit anschließender Wiedergeburt, erholt, an Enite. Das Pferd tritt also in dem Moment in die Erzählung ein, in dem die eigentliche Irrfahrt des Helden zu Ende ist, in dem er mit Enite versöhnt den „Strand der Gnade“, den „genaden sant“100 erreicht hat. Dieser Punkt in der Erzählung folgt aber noch die Schlussepisode, der Weg des Helden zum irdischen Paradies, zur Burg Brandigan, in der er einen Ritter, der in einem paradiesischen Garten die Zweisamkeit mit seiner Frau mit Gewalt verteidigt, besiegen muss. Der Weg des Ritters ist also nach der Lösung seiner persönlichen Probleme nicht zu Ende. Er muss die Position seiner eigenen Verfehlung in Gestalt einer Art Doppelgängefigur auch für andere besiegen, um seinen Verpflichtungen gerecht zu werden. Das Pferd selbst hat nun eine Funktion, die man als eine der Verdeutlichung des am Ende der Erzählung durch den Ritter besessenen „Überblicks“ verstehen könnte: Es trägt auf dem Sattel und der Satteldecke eine Gesamtdarstellung der Welt und ist gleichzeitig ein für den Artusroman im Allgemeinen typisches Vehikel der göttlichen Führung durch diese Welt.101 Ähnlich wie die späteren mappae mundi bildet die Stickerei der Satteldecke „al der werlde wunder / und swas der himel besluizet“102 ab. Die grobe Einteilung geschieht dabei nach den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer. Diesen Bereichen sind die Lebewesen zugeordnet, die sie bewohnen. In Bezug auf die Bewohner der Erde heißt es dort: „die erde von den vieren / stuont mit ir tieren, /swaz der dehein man / in sinem muote erkennen kann.“103 Auch die Darstellung der Geschichte in Form von antiken Erzählungen 99 Vgl.: Hartmann von Aue 1972, Nachwort von T. Cramer, S. 450. 100 Vgl.: Erec, V. 7046-7076. Sinnfälliger Weise spricht Erec vom Erreichen des genaden sant während er mit Enite und Guivreiz am Wegesrand rastet: der Weg des Helden ist noch nicht vorbei. 101 Vgl.: Trachsler 1979 (z.B. S. 117). 102 V. 7589f. 103 V. 7600-7603. Mit Bezug auf die Tiere des Meeres schließt sich ein ironischer Exkurs über eine empirische Haltung der Natur dieser Kreaturen gegenüber an: Auf der Satteldecke seien „elliu merwunder“ (V. 7613) dargestellt. Deren Namen kennt der Erzähler nicht und kann sie somit auch nicht nennen. Er rät dem Leser somit, selbst zum Meer aufzubrechen und sie dort zu betrachten – und zu diesem Berufe ins Meer zu tauchen, sollten die Kreaturen auf den Befehl an Land zu kommen nicht reagieren. Da solch ein Versuch nur dazu führt, dass man die Wesen „mit grôzem schaden, mit lützelm vru-

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mit auf die Moral der Erzählung zu beziehenden Inhalten findet sich auf dem Pferd, so dass es zugleich eine Darstellung der zeitlichen Dimension der Schöpfung ist.104 In gewisser Hinsicht wiederholt sich in der Beschreibung dieses wundersamen Pferdes eine Situation, die an einer früheren Stelle schon gegeben war, die ebenfalls ein scheinbares und vorläufiges Ende der Erzählung enthielt: Auch die Hochzeit Erecs und Enites am Hof des Königs Artus verbindet die (hier eben noch scheinbare) Harmonie mit einer in diesem Fall metonymischen Technik der Weltrepräsentation, welche die beiden sozusagen in den Mittelpunkt der Welt stellt: In einer langen Aufzählung werden die verschiedenen Herrscher genannt, die zum Fest erscheinen.105 So ist alle Welt – verkörpert in ihren Potentaten – zugegen. Dass selbst der Herrscher der Antipoden anwesend ist, bestätigt dies: Die Antipoden waren derjenige Teil der Welt, der in Vorstellungen der Erde als Kugel als der bekannten Welt gegenüberliegend angenommen wurde.106 Einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Momenten der Präsenz der Welt gibt es aber. Bei der ersten Gelegenheit fehlt ein wichtiges Element: die Beziehung der Welt zu Gott. Das Hochzeitsfest ist ein rein weltliches Fest und die „êre“, die Erec bei den anschließenden Turnieren gewinnt ist ebenfalls eine rein weltliche Ehre und daher kann sie keinen Bestand haben. Dies ist am Ende der aventiuren-Fahrt anders. Was dort erkennbar wird – für den Zuhörer und die Figur Erec – ist die Führung Gottes, die sich im Weg des Ritters ausdrückt. Und so enthält auch die neue Repräsentation der Welt dieses Element: dasjenige der Beziehung zwischen der Welt und ihrem Schöpfer, die sich nicht zuletzt in dessen Führung äußert. Dies ist durch die Verbindung der Weltrepräsentation mit einem typischen Vehikel göttlicher Führung, einem Pferd, besonders deutlich. Eigentlich handelt es sich gleich um drei dieser Vehikel, die eng miteinander verbunden sind: Das Pferd, seine Reiterin und der Weg, auf dem es reitet, sind allesamt solche Mittel göttlicher Gnade. Dies erschließt sich ausgehend vor allem von den zwölf Edelsteinen, die das Pferd im Zaumzeug trägt: Hartmann impliziert durch die Wahl des bestimmten Artikels, der Leser müsse diese Steine bzw. ihre Bedeutung kennen: „ez wâren verworht dar inne / mit schœnem sinne / die einlif edelen steine: / der zwelfte der was eine / vor in den zoum geleit in ein schîben, diu was breit.“107 Dies kann damit erklärt werden, dass sie für die zwölf

men“ (V. 7634), kennen lernt, rät er von ihm ab – ein genaues Betrachten der Gegenstände in der Natur erscheint sinnlos, sie kennen, heißt ihre Namen kennen, also ihre Stellung in der Hierarchie der göttlichen Ordnung. Hartmann bezieht hier also Stellung für einen ontologischen Realismus, der zu seiner Zeit noch die herrschende Lehre war. 104 Vgl.: V. 7707-7713. 105 Vgl.: V. 1902-2112. 106 Vgl.: V. 2089. 107 V. 7736-7741.

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mit ebensolchen Steinen geschmückten Tore des himmlischen Jerusalem stehen.108 Das Pferd wird also mit dem Thron Gottes identifiziert, mit dem er am jüngsten Tag zur Erde herabkommen wird – und zudem erscheint es als Mittel einer göttlichen Führung, indem es den Weg mit seinem Licht beleuchtet, so wie am jüngsten Tag das Lamm die himmlische Stadt und die in sie eingelassenen Seligen erleuchten wird.109 Dieser Topos ist dabei für den Artusroman durchaus typisch, auch in seiner Verbindung zum Pferd oder zum Weg: „Zweifellos identifizieren die Verfasser unserer Artusromane die lenkende Macht, die sich im führenden Weg, im Pferd oder einfach in der ‚geschiht‘ manifestiert, letztlich mit Gott. Gott ist der Grund allen Geschehens; ‚im ist nihtes ze vil: / ezn kann ouch ane in niht geschehen‘, sagt Hartmann einmal (Iwein, 6344ff). H. Brinkmann, der diese Stelle zitiert, bemerkt dazu: ‚So sind die Geschehnisdarstellungen des Rittertums überhaupt aufzufassen; sie sehen den Menschen einem Geschehen anheimgegeben, das von Gott geheimnisvoll geführt wird. ‘“110

Die Tatsache der Führung ist aber etwas, was dem Ritter nicht ohne weiteres bewusst wird. Er folgt dem Weg zunächst in Ungewissheit: „Der zur Fahrt aufbrechende Ritter entbehrt dieser Übersicht; wenn er dem Abenteuer entgegenreitet, ist die Situation für ihn in jeder Beziehung offen. Das Sich-dem-Weg-Überlassen ist aus seiner Perspektive nicht von vornherein Ausdruck des Gottvertrauens und der Gewißheit, Gott werde ihn schon den richtigen Weg führen, vielmehr bedeutet es für ihn die Preisgabe aller Sicherheit: Indem er sich dem führenden Weg überläßt, setzt er sich dem Abenteuer aus. Es gehört zur geheimnisvollen Paradoxie der Abenteuerfahrt, daß der Ritter gerade in der willentlichen Preisgabe an den unbekannten Weg und damit ans Abenteuer den wirkenden und helfenden Gott erfahren kann; Abenteuer und Gnade stehen in einem inneren Zusammenhang.“111

108 Vgl.: Offenbarung 21,12–21,14. 109 Vgl.: ebd.: 22,5. Durch diese Äußerungen göttlicher Führung und Gnade gerät die Reiterin des Pferdes in eine zunächst überraschende Position: Sie sitzt an der Stelle, die eigentlich Christus zukommt. Dies wird noch durch die Beschreibung der Steigbügel, in denen sie ihre Füße hat, betont: Sie haben die Gestalt zweier Drachen, was natürlich wiederum an Psalm 91 gemahnt, an die Füße des Gottessohnes, mit denen er Drachen niedertritt (V. 7669-7679). Auf diese Weise wird sie selbst zu einem Mittel der Führung Gottes und so zu einem in der Welt gegebenen Zeichen der göttlichen Gnade. 110 Trachsler 1979, S. 117. Zitiert wird aus: H. Brinkmann, „Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung“, Halle 1928, S. 26. 111 Ebd.: S. 119.

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Diese Verhältnisse prägen das Erzählmuster der Artusromane auch ganz allgemein: Der durch den Helden zurückgelegte Weg ist – anders als in den Bildungsromanen des späten 18. Jahrhunderts – vorbestimmt. Die Wiederholungsstruktur der Erzählung ist nicht ein sich zufällig aus der persönlichen, individuellen Entwicklung des Helden ergebendes Element, sondern ein vorgegebenes und letztlich mit Gott identifiziertes. Der Weg des Helden folgt einem Muster, das sich für die Figur, aber auch für den Leser, allerdings erst gegen Ende der Geschichte als Weg der Gnade, als der saelden wec herausstellt.112 Diese Erkenntnis fällt mit der nachträglichen des Helden zusammen, von Gott geführt worden zu sein. Die Erkenntnis des Sinns und der Richtung des zurückgelegen Weges ergibt sich am Ende des Weges, durch den die geschiht113 den Helden geführt hat. So muss der Held die Geschichte durchlaufen, um am Ende wieder an seinen Ort zurückzukehren – an einen Ort, der sich nach der Erkenntnis der göttlichen Führung durch die Geschichte, durch den Weg als der im Sinne Gottes richtige, als in die Schöpfung passend offenbart. Die Beschreibung von Enites Pferd hat also offenbar die Funktion eine Repräsentation der Welt zu liefern verstanden als Gesamtdarstellung der göttlichen Ordnung der Natur und der Historie. Auf diese Weise kann das dynamische Element des Pferdes (des Weges, der Frau) als Mittel göttlicher Führung in den präsent gemachten „Raum“ dieser Ordnung, in dem sich diese Führung ereignet, eingeordnet werden. So ergibt sich ein Eindruck von Überblick über eine Einheit, der sich mit dem letztendlichen Überblick des Helden und des Lesers über Sinn und Ziel des zurückgelegten Weges bzw. der Geschichte verbindet, ihn unterstützend und auch bedingend. Auch wenn ein wichtiges Element des Artusromans also die göttliche Führung durch einen für den Helden unübersichtlichen Raum ist, muss die Metapher vom „Überblick“ hier aber in einer bestimmten Hinsicht als unangemessen gelten. Man könnte formulieren, die Wahrnehmungsverhältnisse, die dem Erec (und wohl auch anderen Romanen) zugrunde liegen, ordneten Gott einen Überblick über das Ganze seiner Schöpfung zu, den er durch seine Führung nach und nach auch dem Helden offenbart. Die mobile Weltrepräsentation des Pferdes verbindet beides besonders sinnfällig. Aber: Der Raum wird hier nicht in der Hinsicht metaphorisch nutzbar gemacht, dass er als topographischer Zusammenhang erfasst und die Position des Helden in ihm erkannt oder offenbart würde. Den richtigen Weg zu erkennen, heißt so also keineswegs, ihn im Kontext des Raumes zu begreifen. Es heißt vielmehr, 112 Für Erec kommt diese Erkenntnis in den Versen 8521-8525: „ich weste wol, der Saelden wec / gienge in der werlde eteswa, / rehte enweste ich aber wa, / wan daz ich in suochende reit / in grozer ungewisheit,“ Am Ende der Suche ist die Ungewissheit vorbei, weil sich die Führung Gottes offenbart hat. 113 Denn genau wie der wec, so wird auch die geschiht, die Geschichte selbst, als Ausdruck einer göttlichen Führung verstanden. Vgl.: WA, S. 26.

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einfach zu wissen, wie man sich dem Willen, der Ordnung Gottes, seinem eigenen „Ort“ in dieser Ordnung gemäß zu verhalten hat. Die göttliche Führung durch den „Raum“ der Geschichte bezieht sich unmittelbar auf Moralisches, der „saelden wec“ ist die Erkenntnis der für einen Ritter richtigen, gottgewollten Lebensweise, die sich zwischen den Extremen der Hingabe an die Zweisamkeit der Liebe bzw. an die gesellschaftlich-höfische Verpflichtung befindet. Dies drückt Hartmann auch ganz wörtlich durch die Beschreibung eines Weges aus: Am Ende der Erzählung gelangt Erec über einen grünen, grasbewachsenen Weg zum schwarz-weiß gefärbten Zelt Maronagrins.114 Auch das Pferd, das ihn auf diesen Weg geführt hat, ist in zwei einander absolut entgegengesetzte Farbbereiche geteilt: den schwarzen und den weißen. Zwischen diesen Extremen verläuft der grüne Streifen:115 Moralisch richtig ist der Weg zwischen den extremen Gestaltungen der Lebensführung, der richtige Weg verläuft zwischen beiden und der entsprechende moralische Imperativ könnte ein wenig klingen wie der Ratschlag des Dädalus an seinen Sohn Ikarus: „Fliege stets auf dem mittleren Pfad!“116 – auch wenn im „Erec“ geritten, nicht geflogen wird. Umgekehrt bedeutet das Verirren im Raum (das meist eines im Raum des wilden Waldes ist117) eine Verirrung im moralischen Sinne, die sich einfach dann auflöst, wenn der Held durch die Gnade Gottes zu verstehen beginnt, wie er sich verhalten soll – ohne dass die zuvor zum Schauplatz der Verirrung gewordenen Orte in ihrem Zusammenhang erkannt würden (als ob der Held im Nachhinein eine Karte des durchirrten Geländes erhielte). „Raum“ und „Ort“ erscheinen so nur als moralische bzw. die hierarchische göttliche Ordnung betreffende Kategorien. Die Metapher vom „Überblick“ wäre also unangemessen, weil diese Kategorien auch im „Erec“ nicht als Gegenstände von Blicken reflektiert werden. Der „Überblick“ 114 Vgl.: V. 8895-8906. 115 Das Weiß ist so weiß, „daz niht wîzers enmochte sîn, / und alsô schœne daz der schîn / den ougen widerglaste.“ (V. 7294-7296). Das Schwarz dagegen steht dazu in absolutem Kontrast: „nû hete diu ander sîte / dirre zu widerstrîte / gekêret allen ir vlîz. / alzan genzlîchen wîz / sô disiu schilthalben was/ von der ich iu nû dâ las, / alse swarz was disiu hie / dâ diu wîze abe gie.“ (V. 7300-7307). Zwischen den beiden Seiten verläuft ein dünner, grüner Streifen, der beide voneinander trennt. Diese klare Trennung wird als schön bezeichnet: „dirre mislîche vlîz / was schône underscheiden: / zwischen den varwen beiden / was ein strich über geleit / wol eines halben vingers breit. / der strich grüene was / unde lieht sam ein gras.“ (V. 7309-7315). 116 Vgl. : Ovid, „Metamorphosen“, VIII: V. 203-208. 117 Tatsächlich wird in den Artusromanen der Wald immer wieder zu einem dem Bereich der höfischen Welt in der Burg oder dem durch den Hof kontrollierten Kulturraum der bebauten Fläche entgegen gesetzten „Fremdraum“ – einem Bereich der Gefahr der Verirrung und Orientierungslosigkeit relativ zu den Maßgaben des höfischen Lebens, das als in der göttlichen Ordnung fixiert gedacht wurde. (Vgl.: Ramin 1994, S.50ff).

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Gottes ist ein (All-)Wissen über die Ordnung der Schöpfung, die sich der Tatsache verdankt, dass er diese Ordnung geschaffen hat, dass sie ihm entsprungen ist. So fraglos wie er um sie weiß, so wenig benötigt er ein besonderes Mittel der Wahrnehmung, sie nachträglich zu erkennen. In Bezug auf den „Überblick“, den der Held gegen Ende der Geschichte seiner Führung erhält, kann man sich also T. Cramer anschließen, wenn er schreibt: „Auch die Welt, die der Ritter auf der aventiuren-Fahrt durstreift, ist nach Zeit und Ort ein bewußt und absichtlich völlig realitätsfrei gehaltener Raum. Seine Topographie ist nicht irdisch-geographisch, sondern moralisch-idealistisch.“118 Die mappae mundi Der Begriff der „mappa mundi“ kann seit dem 12. Jahrhundert eine Darstellung der Welt sowohl im Bild als auch im Text meinen.119 Tatsächlich stellen die mappae meist Kombinationen einer „pictura“, einer Abbildung des Weltganzen und einer „scriptura“, eines entsprechenden Textes dar, wobei beide Elemente aufeinander bezogen sind. Die pictura veranschaulicht die scriptura und wäre umgekehrt ohne diese nicht verständlich.120 Unter den kartographischen Produkten des Mittelalters nimmt die mappa mundi die wichtigste Stellung ein. Regionalkarten waren selten,121 ebenso Karten, welche die Aufgabe erfüllen sollten, die heute für eine Landkarte selbstverständlich ist: diejenige Grundlage einer Praxis zu sein, das Handeln, die Bewegung im Raum zu leiten, ganz allgemein eine für die Praxis relevante räumliche Orientierung zu ermöglichen. Die Funktion der mappae mundi war eine andere. Ihre Entstehung verdankte sich nicht einer Vermessungs- und Projektionspraxis, sondern folgte der Überlieferung und der Tradition. Für die pictura galt ein Variationsverbot, das dieses Element der mappa mundi an die Tradition band, was beim 118 T. Cramer 1972, Nachwort zum Erec, , S. 446. In diesem Zusammenhang sei schon auf eine zeitgemäße architektonische Umsetzung ganz ähnlicher Inhalte hingewiesen: Die Labyrinthe in gotischen Kathedralen. Auch das Durchgehen des Labyrinths z.B. in Chartre hat die Bedeutung des durch Gottes Gnade ermöglichten Zurücklegens des „saelden wec“ (weswegen es ja auch nur einen richtigen Weg zum Mittelpunkt zulässt). Aber: Der in ihm sich bewegende Mensch kann zu jedem Zeitpunkt das ganze Labyrinth überschauen – was darauf hinweist, dass der entsprechende Blick für die symbolisch-metaphorische Funktion des Labyrinths keine Funktion hat, schlicht unwichtig ist. (ganz anders natürlich als z.B. für spätere Irrgärten, die entsprechend durch hohe Hecken gebildet wurden. Weiteres dazu enthält der zweite Teil dieser Arbeit. 119 Vgl.: Ruberg 1980, S. 55. 120 Vgl.: ebd., S. 553. 121 Vgl.: Kliege 1991, S. 17.

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Hinzukommen neuer geographischer Kenntnisse (z.B. durch die Kreuzzüge) zu wachsenden Diskrepanzen zwischen scriptura und pictura führte.122 Der Rahmen, in dem die Karten ihre Verwendung fanden, war wohl in erster Linie die Lehre. Dabei waren die Karten durchaus einem breiten Publikum zugänglich (z.B. als Altarschmuck).123 Ihre eigentliche Funktion konnten sie aber wohl nur für gebildete – meist klerikale – Gruppen erfüllen. Dazu musste zum einen die scriptura gelesen werden können und zum anderen die vielen Verweise auch der pictura verstanden werden.124 Was war aber die Funktion dieser Weltdarstellungen? Zunächst handelte es sich bei ihnen um Karten, „mit deren Hilfe geographisches und historisches Wissen verdeutlich, vermittelt und nicht nur enzyklopädischen Summierungen, sondern auch übergreifenden Weltbildtheorien eingeordnet wurde […]“. Was also durch die Karte und den ihr zugeordneten Text dargestellt wurde, war ein Bild der Welt im Ganzen, ein Weltbild, das Raum und Zeit in einem vergegenwärtigen konnte. Das im Text enzyklopädisch Aufgelistete oder als historischer Verweis Erzählte konnte durch die pictura als in ein Ganzes fallend und in einem gegeben betrachtet werden – und dieses Ganze war eben die Welt als Zusammenhang von Raum und Zeit.125 Elemente sowohl der pictura als auch der scriptura waren somit nicht nun geographische Gegebenheiten, sondern auch historische Begebenheiten. Das von den mappae mundi repräsentierte Weltbild war natürlich ein christlichtheologisches, also wiederum eine Gesamtdarstellung der Schöpfungsordnung. So ging es diesen Darstellungen stets auch um die Beziehung der Welt zu ihrem Schöpfer. Die Welt als Zusammenhang von Raum und Zeit ist eben zeitlich, und damit, nach dem christlichen Zeitverständnis, vergänglich. Diese Vergänglichkeit verweist aber stets auf die Ewigkeit, die vor der Schöpfung war, die nach dem jüngsten Gericht sein wird und in die einzugehen eben der vorbestimmte Weg der Welt ist. Dieser Weg soll durch die Karten nicht in einer Abfolge erzählt, sondern eben in einem vergegenwärtigt werden. Die verschiedenen Epochen der Welt sind nebeneinander präsent – und dies überhaupt erst zu ermöglichen ist eine Aufgabe vor allem der pictura. Uwe Ruhberg verdeutlicht dies anhand der Darstellung Jerusalems auf der Ebstorfer Weltkarte (Abbildung 5). Auf dieser ergibt sich eine Mehrdeutigkeit im Zusammenspiel von Text und Bild: „Text und Bild beweisen hier besonders akzentuiert komplementäre Funktionen. Die Bildbeischrift spricht von der historischen Stadt Jerusalem, der sanctissima Judee metropolis und ihren Entfernungen zu den wichtigen Orten Palästinas, von ihrer Eigenschaft als Hauptstadt 122 Vgl.: ebd., S. 46. 123 Vgl.: ebd., S. 89. 124 Vgl.: ebd., S. 90. 125 Vgl.: Ruhberg 1980, S. 562f.

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aller Völkerschaften der Welt kraft der dort vollzogenen, im Psalm 73, 12 (operatus est salutem in medio terrae) prophezeiten Heilsereignisse und vom Grab des auferstandenen victor mortis, das ganze Welt pia avidiate aufzusuchen begehre. Das Bild zeigt das Grab und die Grabwächter mit dem nach Norden blickendem Auferstehenden in der himmlischen Stadt Jerusalem, die durch das Quadrat ihrer goldenen Mauern mit 12 Toren als caelestis Jerusalem (nach Apc. 21, 10ff) gekennzeichnet ist. In historiographischen und hagiographischen Berichten ist es schon längst ein vertrauter Gedanke, daß das irdische Jerusalem bereits als Teil des himmlischen zu verstehen ist. Die Mehrschichtigkeit der Jerusalemvergegenwärtigung auf der Ebstorfkarte zeigt wie die Einbeziehung des Hauptes und der Glieder Christi, daß die Dimension der Zeit nicht linear, sondern synoptisch umfassend in jüdischer, christlicher und eschatologischer Phase dargestellt werden soll.“126

Hier ist nun also schon eines der konkreten Merkmale der mittelalterlichen mappae mundi angesprochen, dasjenige des im Kartenmittelpunkt liegenden Jerusalems mit seinen 12 Toren. Die Zentrierung Jerusalems setzte sich seit dem 12. Jahrhundert durch und war im 13. und 14. Jahrhundert üblich. Die mappae mundi stellen die Welt als Scheibe dar. Dies ist nicht selbstverständlich, insofern es auch im Mittelalter durchaus Weltdarstellungen gab, die von einer Kugelgestalt ihres Gegenstandes ausgingen. Die galt z.B. für die Zonenkarten, die – im Gegensatz zu den mappae mundi von einer eher naturwissenschaftlichen Weltsicht (im Sinne der Antike) geprägt – die Welt in mehrere von ihrem Klima bestimmte Zonen einteilten. Der bewohnten Welt, der Ökumene gegenüberliegend wurden dabei die Antipoden gedacht, die einzige bewohnbare Zone neben der Ökumene. Auf den mittelalterlichen Weltkarten sind die Antipoden nicht zu finden, sie stellen nur die Ökumene dar, die dem von der Bibel geprägten Weltbild des Mittelalters entsprechend meist als das Weltganze aufgefasst wurde, auch wenn die Vorstellung dieses (neben Asien, Europa und Afrika) vierten Kontinents nie verschwand.127

126 Ruhberg, S. 581f. 127 Vgl.: ebd., 27ff. Dass sie zumindest dem Namen nach zum geographischen Wissen zumindest bestimmter Gruppen gehörten, war ja bereits an der oben erwähnten Episode im „Erec“ zu sehen. In der Comedia Dantes wird die entsprechende Vorstellung präziser am antiken, ptolemäischen Weltbild orientiert sein.

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Abbildung 5: Ebstorfer Weltkarte.

Kopie nach dem zerstörten Original erstellt durch das Projekt Ebskart der Leuphana Universität Lüneburg.

Die flächige Darstellung der Welt führte dazu, dass die Himmelsrichtungen auf der mappa mundi allein durch die Beziehung des jeweiligen Erdteils zum Mittelpunkt (Jerusalem) bestimmt sind. So sind alle vier Himmelsrichtungen absolut bestimmt. Auch Osten und Westen sind nicht, wie dies heute der Fall ist, relativ zu einer willkürlichen Position, von der aus sie bestimmt werden, festzulegen. Zudem ist Jerusalem als Mittelpunkt natürlich im Gegensatz zu den theoretischen Konstruktionen der Pole stark bedeutungsgeladen. So konnten alle vier Himmelsrichtungen mit ganz spezifischen Wertungen und Bedeutungen versehen werden, die diese nicht nur als abstrakte Prinzipien sondern auch als konkrete Gegenden betrafen. Der Osten galt dabei als die Region des Guten, des Paradieses und der Süden als diejenige der Wärme, des Lichtes und des Heiligen Geistes. Demgegenüber war der Norden der Bereich des Bösen, des Teufels und der unabänderlich Verdammten. Der Westen bildete eine Art Zwischenposition: Er galt als Region der Vergänglichkeit, der

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Sterblichkeit, war aber auch der Ort, dem das Jüngste Gericht zugeordnet war. Er war also die Region des Todes und der Erlösung. Die Oberfläche der Erde ist so eingeteilt in bestimmte wertbesetzte Orte, die das in ihnen Platzierte prägen und die Funktionen auch für die zeitliche Dimension tragen.128 Den vier Himmelsrichtungen waren aber noch eine Vielzahl anderer Aspekte zugeordnet, so dass die theologisch wichtige Vierzahl sich in mehreren Hinsichten im Zusammenhang mit den mappae mundi wiederfand. Einer dieser Aspekte waren, ähnlich wie in der Beschreibung des Pferdes im „Erec“, die vier Elemente: Der Norden war der Bereich der Erde, der Süden der des Feuers, der Osten wurde mit der Luft verbunden und der Westen mit dem Wasser.129 Um die eschatologische Bestimmung der vergänglichen Welt darzustellen, wurden viele Karten mit Christusdarstellungen verbunden. Besonders deutlich ist dies bei der Ebstorfer Karte der Fall: An ihrem oberen Ende – im Osten mithin – ist diese vom Haupt Christi gekrönt. Auch hier ist sein Gesicht wieder frontal erfasst. Im Norden und Süden befindet sich jeweils eine Hand, im Westen die Füße. Dadurch wird die Welt nicht nur als Leib Christi begriffen – so dass der Begriff des corpus christi sich hier gleichsam auf die gesamte Erde bezieht, nicht nur, wie üblich, auf die Kirche. Vor allem kann der Weg der Welt von der Schöpfung bis zum jüngsten Gericht wiederum in einem dargestellt werden: Der Osten, der Bereich des Paradieses und somit derjenige der Schöpfung ist vom Haupt Christi gekennzeichnet, der Westen, die Region des Jüngsten Gerichtes, von seinen Füßen, mit denen er an diesem Tag auf die Erde zurückkehren wird, um wiederum als Inkarnation Gottes sich den Menschen zu zeigen. Dazwischen liegt der Weg der Welt, der über Jerusalem führt.130 In diesem Zusammenhang ist ein Detail der Londoner Psalterkarte interessant: Hier wird die Welt von den bekannten Drachen getragen, die auf einer weiteren Darstellung auf der Rückseite von den Füßen Jesus niedergehalten werden, der die Welt mit seinen Armen umfasst.131 Auch die Wiedergabe des irdischen Paradieses war ein prominentes Element der mappae mundi. Da es seit dem Sündenfall dem Menschen nicht mehr zugänglich ist, wird es stetes als durch Gebirge, Mauern oder Feuerwände abgetrennter locus amoenus dargestellt.132 Auf vielen der Karten sind Tiere und Fabelvölker abgebildet, die auch in der entsprechenden scriptura beschrieben werden.133 Aus heutiger Sicht werden diese 128 Vgl.: Kliege 1991, S. 94. 129 Vgl.: ebd., S. 92f. 130 Vgl.: ebd., S. 96f. 131 Vgl.: ebd., S. 97; Psalterkarte, British Library, MS Add. 28681, f.9 (entstanden Mitte des 13. Jahrhunderts). 132 Vgl.: ebd., S. 118f und Ruhberg 1980, S. 571. 133 Dies gilt z.B. für die Ebstorfer Karte: vgl.: Ruhberg 1980, S. 567.

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Tiere und Menschen zu den entfernteren Regionen hin und in den „weißen Flecken“ auf der Karte zunehmend phantastischer. Nach mittelalterlichem Verständnis waren diese Wesen, die vermittelt über die Tradition Eingang in die scriptura und pictura der mappa mundi fanden, aber wohl real. Man ging davon aus, dass man sie antreffen würde, würde man in die entsprechenden Gebiete gelangen – auch wenn wahrscheinlich kaum jemand auf den Gedanken gekommen wäre sie aufzusuchen um dies tatsächlich durch eigene Wahrnehmungen zu prüfen.134 Ein weiteres Mittel, durch das die Geschichte der Welt als Ganze dargestellt werden konnte, war die Aufnahme antiker Erzählungen sowohl in die scriptura als auch in die pictura. Üblich war dies vor allem für zwei dieser Erzählungen: für diejenigen über das Leben und die Taten Alexanders des Großen und die über Troja. Letztere war durch Vergils „Aeneis“ auch im Mittelalter allgemein bekannt.135 Natürlich fällt auf, dass die oben untersuchte Beschreibung von Enites Pferd im Erec sich ganz ähnliche Elemente des christlichen Weltbildes zunutze macht, wie etwas später die mappae mundi. Dies gilt für die zentrale Stellung des neuen Jerusalem, die Füße Christi (bzw. die Enites), die das Böse in Gestalt der Drachen niederhalten, und natürlich die Anfüllung des „überblickten“ Raumes mit „al der werlde wunder“, mit all den Lebewesen, die dort anzutreffen sind und mit den Begebenheiten der Geschichte. Andererseits stellt sich in Bezug auf die mappae natürlich viel stärker die Frage, ob sie nicht menschlichen Betrachtern eine Identifikation mit dem Blick Gottes ermöglichten sollten. Zeigten diese Karten die Welt nicht so, wie sie im Blick Gottes lag? Wie gesagt, scheint dies keine angemessene Beschreibung ihrer Funktion zu sein. Diese lag eher darin, den Betrachtern ein Wissen über den Bau der Schöpfung zu vermitteln, der die Gestalt des Raumes und der Zeit und der eschatologischen Bestimmung des Ganzen betraf. Der Zusammenhang herstellende Blick von oben war dabei nicht mitgedacht. Der Zusammenhang des Ganzen wurde als derart ungefährdet vorausgesetzt, dass er keinen Mangel behoben und damit keine Funktion erfüllt hätte. Die Karten zeigten die Erde als Ganzes, ohne dass sie irgendeinen Blickpunkt reflektierten – die Position des sie von oben als solche erfassenden Blicks fügen wir als neuzeitliche Betrachter unwillkürlich hinzu. Ein erster Hinweis auf diesen Befund sind wiederum die mit den Karten verbundenen Gottesdarstellungen: Christus wendet dabei wie auf den bereits besprochenen zeitgenössischen Darstellungen (Abbildung 1 und 2) dem Betrachter sein Antlitz frontal zu, sein Blick ist nicht auf die Erde gerichtet. Möchte man letztere dennoch als im Blick Gottes liegend betrachten, müsste man sagen, es gäbe gewis134 Als Ausdruck einer solchen Handlung kann zumindest Hartmanns Exkurs über die Sinnlosigkeit einer tatsächlichen Betrachtung der Bewohner des Meeres gelten. Vgl. auch Kriege 1991, S. 123. 135 Vgl.: Kliege 1991, S. 123f.

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sermaßen ein zweites Augenpaar Gottes, dasjenige des Vaters, das an der Stelle des Betrachters platziert ist und dessen Blick sich mit dem des Sohnes trifft. Eine solche Vorstellung ist aber abwegig, sie würde eine komplexe Vorstellung von Perspektive voraussetzen, die zunächst eher bescheiden sich überhaupt erst mit dem 14. Jahrhundert zu entwickeln beginnt und die im Medium der Kartographie mit der Wiederentdeckung der ptolemäischen Prinzipien der Projektion zum Durchbruch kommt, die eine mathematische Umsetzung der Vorstellung eines von außen auf den Erdball blickenden Betrachterstandpunktes zumindest ermöglichten. Der Blick Gottes ist bei den mappae mundi derjenige Christi und er ruht auf dem Betrachter zugleich als seinem Geschöpf und seinem Mitmenschen. Darüber hinaus sind die mappae mundi durch die unverzichtbare Bedeutung der scriptura Beispiele dafür, wie im Mittelalter Wissen nicht aus der Beobachtung des Einzelnen, sondern aus der die real gegebene Ordnung der Welt offenbarenden Überlieferung abgeleitet wurde. Das Wissen um den Bau der Welt gründete sich also nicht auf einen Blick auf die Welt. Es erwuchs vielmehr stets aus anderem Wissen, das letztlich in der Offenbarung durch Gott seine Basis hatte – und das ja auch in seiner ursprünglichen schriftlichen Form in die mappae einging und sich auf die Gestalt der pictura auswirkte. Diese verdankte sich ja nicht etwa einer Betrachtung oder Vermessung der Erdoberfläche. Auch wenn die sinnreich geordnete Differenziertheit der Karten den Betrachter visuell beeindrucken sollte und sein Sehen durchaus zum Ausdruck und Mittel seines Verstehens wurde, lag dies nicht an der ermöglichten Perspektive. Der Betrachter wurde vielleicht als wahrnehmendes Subjekt gedacht, das der Karte staunend und aufnehmend gegenüber stand – ein im Hochmittelalter neues Konzept, wie es nicht zuletzt die Architektur der Gotik offenbart. Die Karte selbst konstruierte aber keinen Blickpunkt für diesen Betrachter, der in bedeutungsgeladener Offenheit sowohl der Blickpunkt Gottes als auch des Menschen hätte sein können. Insofern war die mappa mundi ein unproblematisches Mittel der Offenbarung von Wissen über den Bau der Schöpfung: Der durch sie ermöglichte Blick auf die Welt konnte keinen Konflikt zwischen einem Blickprivileg Gottes und dem Blick des einzelnen Menschen hervorrufen, weil weder dieses Privileg, wenn man von einem solchen sprechen möchte, in der Einnahme einer bestimmten Wahrnehmungsposition bestand, noch die Repräsentation der Welt einen bestimmten menschlichen Blickpunkt implizierte. Die Darstellung der Welt als Körper, als corpus christi, wie sie auf der Ebstorfer Karte besonders eindeutig umgesetzt war, kann dies weiter bestätigen: Die Körpermetapher verträgt sich auch hier nicht mit einer Distanz zwischen Gott und Welt, die einem überbrückenden Blick hätte Funktion geben können. Vielmehr ist die Ordnung der Welt mit Gott identisch, er verfügt über ein Wissen ihrer Gesamtheit in Raum und Zeit, weil letztlich beides ihm entsprungen ist, in ihm enthalten ist. Vielleicht könnte man in Bezug auf die metaphorische Umsetzung der Offenba-

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rung dieser Ordnung durch die mappa mundi sagen, Gott präsentiere sie durch sie, wie man sich selbst – eben als Körper – präsentieren kann. Um die dem zugrundeliegenden Verhältnisse weiter zu verstehen, ist ein Blick auf ein anderes Genre hilfreich, auf das der Lebensräder: Die in Anlehnung an die älteren Schicksalsräder entwickelten Lebensräder zeigen die Lebensalter eines Menschen als Umlauf eines Rades.136 Die British Library verfügt z.B. über eine Buchmalerei, die in der Achse dieses Rades das Antlitz Christi zeigt, nach außen hin durch die Speichen mit den Darstellungen der zehn Lebensalter verbunden (Abbildung 6). Die dieser Mitte zugeordnete Inschrift lautet u.a.: „Ich nehme alles zugleich wahr“ bzw. „Ich sehe alles zugleich“ (simul cerno).137 und „Alles unterliegt meinem Plan“. Gott „überschaut“ also den Ablauf des Lebens unabhängig von der für den Menschen gültigen Ordnung der Zeit als ganzen, das ganze Leben des Menschen liegt immer schon unter dem einen Blick Gottes. Dieser Blick wird – im Sinne der lateinischen „cerno“, das im wörtlichen Sinne „scheiden“, „sondern“ hieße – dabei zur Metapher für sein Wissen. Diese Darstellung geht aber zweifelsohne zurück auf den Begriff der göttlichen aeternitas, der Ewigkeit des Göttlichen im Sinne seiner Überzeitlichkeit – und diese wiederum relativiert die Bedeutung des göttlichen Blickes, des Sehens Gottes, soweit man nach der Angemessenheit der Metapher vom Überblick fragt. Eine frühe Version dieses Verständnisses des Verhältnisses Gottes zur Zeit stammt bekanntlich von Augustinus: In seiner berühmten Analyse der Zeit im elften Buch seiner „Bekenntnisse“ kommt er zu dem Schluss, dass der Mensch in seiner Wahrnehmung des Zeitlichen „aufgespalten“138 ist. Das Leben zerrinnt in einer andauernden Bewegung, in der Erwartung durch Erfahrung in Erinnerung überführt wird, bis das zu Erwartende gleichsam aufgebraucht ist und der Prozess endet. Es gibt keinen festen Gegenwartspunkt, in dem der Mensch seiner selbst gewärtig werden könnte, er begegnet sich selbst vielmehr als zerspalten in die Pole der Erinnerung und der Erwartung. Dabei ist der menschliche Geist zudem begrenzt: Das zu Erwartende weiß er nicht und an das Geschehene erinnert er sich nicht sicher und im Ganzen. Ausgustinus verwendet das Beispiel des Singens eines Liedes, um dies zu verdeutlichen und überträgt dabei die Verhältnisse vom individuellen Leben des Einzelnen auch auf das der Menschheit im Ganzen: Vor dem Singen richtet sich die Erwartung zunächst „auf das Ganze“ des Liedes. Dann wird im Singen das zu Erwartende durch die Tätigkeit in Erinnertes überführt. Und so 136 Kline 2001, S. 35ff. 137 Das „simul“ übersetzt Camille in seinem Büchlein zur Kunst der Gotik mit „sofort“ (zumindest wurde dies so übersetzt) – Der unten betrachtete Zusammenhang zu Ausgustinus Theorie der Zeit wird aber nahe legen, dass diese Übersetzung den Sinn verfälscht. Vgl. Camille 1996, S. 95. 138 Augustinus, Bekenntnisse XXI, 28.37-XXI, 30.40.

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geschieht es mit allen menschlichen Tätigkeiten, mit dem Verlauf der Geschichte im Allgemeinen: „Es wiederholt sich in der ganzen Weltzeit [saeculum] der Menschenkinder, deren Teile alle Menschenleben sind“.139 Abbildung 6: Lebensrad, vor 1339.

Aus dem Psalter des Robert de Lisle (dem Arundelpsalter), British Library, Arundel 83, fol. 126v.

Dabei kennt der Mensch oder die Menschheit aber das „Lied“ ihres Lebens nicht so, wie ein Einzelner ein tatsächliches Lied kennen kann, die Erwartungen an das Zukünftige sind vielmehr ungewiss.140 Übertragen auf das Rad des Lebens kann man sagen: In den einzelnen Phasen seines Lebens übersieht der Mensch nie das Ganze seines Lebens. Er hat in jedem Moment unvollständige Erinnerungen an das Geschehene und unsichere Erwartungen an das Zukünftige. Gleichzeitig enthält das Schema aber auch die Instanz, in der sich diese zeitlichen Verhältnisse auflösen:

139 Ebd.: XXI, 28.38. 140 Vgl.: ebd., XXI, 30.41; Er sagt hier, dass ein Geist, der das Zukünftige kennen würde wie ein Lied gekannt werden kann „überaus staunenswert wäre“, wenn auch weniger über das Zeitliche erhaben als Gott.

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Das Göttliche im (unbewegten) Zentrum des Rades. Diese Instanz nimmt „alles zugleich wahr“, Gott steht über der Zeit und „überschaut“ in dieser Hinsicht das Leben des Menschen als Ganzes und in einem. So wie die Abbildung Zeitliches in Räumliches, ein Nacheinander in ein Nebeneinander überführt, so scheint auch der göttliche Geist das Nacheinander in einem Nebeneinander erfassen, in dieser Hinsicht eben „sehen“ zu können. Dies hat aber seinen Grund nicht in einer Fähigkeit Gottes gewissermaßen die Zukunft voraussagen zu können, es erklärt sich vielmehr daraus, dass Gott vom Zeitlichen gänzlich unabhängig ist. Er selbst ist der Schöpfer der Zeit und unterliegt ihr nicht. Die Zeit ist ihm entsprungen und er herrscht demgemäß über sie, er selbst ist ewig im Sinne der aeternitas, der Überzeitlichkeit. Entsprechend wählt Augustinus sein Bild für die Gnade der Erlösung: „Jetzt aber vergehen meine Jahre unter Stöhnen, doch du, Herr, mein Trost, mein Vater, bist ewig. Ich hingegen, ich zerrinne in den Zeiträumen, deren Abfolge ich nicht kenne. Meine Gedanken, also die innersten Eingeweide meiner Seele, werden zerfetzt vom Aufruhr der Mannigfaltigkeiten – bis mein Lebensstrom gereinigt in dir zusammenfließt, flüssig geworden im Feuer deiner Liebe.“141

Im Leben fehlt dem Menschen also die Fähigkeit das Geschehende als geordnetes Ganzes zu erfassen. Was ihm bleibt, ist aber die Hoffnung auf die göttliche Ewigkeit, in der es sich verflüssigen wird, in der die Gegensätze der „Mannigfaltigkeiten“ in Eins, in Gott zusammenfließen werden. Diese Hoffnung darauf, dass die Ungewissheit und Unübersichtlichkeit des einzelnen Lebens letztlich in der überzeitlichen Ordnung Gottes aufgehoben ist, drückt sich auch in dem Lebensrad aus dem Arundel Psalter aus. Jahrhunderte nach Augustinus und einige Jahrzehnte vor der Entstehung des Psalters drückte Thomas von Aquin die Art und Weise, in der Gott Dinge „schaut“, die gewesen sind, aber nicht mehr sind bzw. die sein werden, aber noch nicht sind, wie folgt aus: „Und alle diese Dinge, heißt es, kenne Gott im Wissen der Schau. Weil nämlich Gottes Erkennen, das Gottes Sein ist, durch die Ewigkeit [aeternitate] gemessen wird, die, ohne im Nacheinander zu stehen, alle Zeit umgreift, geht Gottes stets gegenwärtiger Blick auf alle Zeit und alles, was irgendwann einmal ist, wie auf etwas, das ihm in Gegenwärtigkeit vorliegt.“142

Dieser „Blick“ Gottes aber, der auf das geht, was ist, war und sein wird, ist ein ausschließlich Gott vorbehaltene Form des Wissens, die das Gewusste unvermittelt

141 Ebd.: XXI 29.39. 142 Summa Theologica, I 14, 9.

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immer schon als Wirkung der verstehbaren Formen des Seins in diesen und damit in Gott selbst „erblickt“: „Gott erkennt nämlich alle Dinge in sich selbst.“143 Auch das Außergöttliche erkennt Gott, indem er die allgemeinen Bestimmungen der Dinge – das Verstehbare an ihnen, ihr Wesen – in sich selbst unvermittelt wahrnimmt, da er alle Wesenheiten einschließt. Gottes „Sehen“ ist kein vermitteltes Erkennen eines ihm entgegen gesetzten Gegenstandes. Insofern hat Gott also auch nie einen Wissenszuwachs nötig, noch ist er von ihm denkbar, Gott erfährt in dieser Hinsicht nichts. Für den göttlichen „Überblick“ über das Ganze des Lebens hat dies aber zunächst eine Folge: Eine Identifikation mit dieser „Wahrnehmungsform“ durch den Menschen ist grundsätzlich ausgeschlossen und zwar auch innerhalb der Metapher. Zwar scheint die Darstellung des Lebensrades die Wahrnehmung des Zeitlichen in Einem für Menschen nachzuvollziehen – sie tut dies aber nur, um ein abstraktes Konzept verständlich zu machen, das sich auf eine göttliche Wahrnehmungsweise bezieht. Diese könnte auf Grund ihres Wesens in keiner Weise vom Menschen übernommen werden, erfüllt aber dennoch ein menschliches Bedürfnis: den Wunsch danach, dass die Unübersichtlichkeit des Zeitlichen in einer einheitlichen, durch Gott verbürgten Ordnung aufgehoben sein solle. Scheinbar verbürgt Gott diese Ordnung nun metaphorisch durch seinen Blick, durch sein „Sehen“. Der Hinweis auf Augustinus und Thomas sollte aber eines wiederum verdeutlicht haben: Gott sieht das Zeitliche nicht in dem Sinne in Einem, dass es ihm als Distanziertes gegenübersteht und er sich gewissermaßen so weit von ihm trennt, dass er es von einem privilegierten Standpunkt aus in den Blick nehmen könnte bzw. überhaupt müsste. Eine solche metaphorische Pointe ist in den entsprechenden philosophisch-theologischen Lehren nicht enthalten. Vielmehr nimmt Gott das Zeitliche zugleich und im Ganzen wahr, weil die Zeit Teil seiner Schöpfung ist, weil sie die Art und Weise ist, in der die in ihm enthaltenen Formen zu Welt werden. Sie ist als Element der Ordnung der Welt ihm entsprungen und demnach in ihm enthalten. Die metaphorische Funktion des „Sehens“ Gottes muss also in dieser Hinsicht relativiert werden. Die zugrundeliegende Vorstellung ist nicht die eines in einer besonderen Wahrnehmungsposition in Bezug auf einen gegebenen Gegenstand ausgestatteten Gottes, sondern diejenige eines allwissenden Gottes, der alles weiß, weil alles in einem überzeitlichen Sinn ihm entspringt oder – was gleichbedeutend ist – in seiner Form, seiner allgemeinen Bestimmung in ihm enthalten ist.144 In diesem Sinn ist Gott die Ordnung der Welt,

143 Ebd.: I 12, 8. 144 Wie diese Voraussetzungen metaphorisch bedeutet werden konnten (bis zu einer gewissen Grenze) wird im Folgenden an der Philosophie des Cusanus betrachtet werden – die Metapher des Blicks von oben gehört nicht dazu.

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er kennt sie nicht nur.145 Das menschliche Vertrauen auf das Wissen Gottes um die Ordnung ihres Lebens ist also nichts anderes als eines auf die göttliche Ordnung überhaupt. Die Position dieses Wissens ist ihnen so wenig zugänglich, wie diejenige der Schöpfung selbst – es sei denn es geht ihnen auf dem Weg der Offenbarung zu. Eine Verwechslung zwischen göttlicher und menschlicher „Sehweise“ ist völlig ausgeschlossen. Möchte man das so verstandene Sehen Gottes dennoch als Wahrnehmungsprivileg fassen (was entsprechend wenig sinnvoll erscheint), muss man es als eines verstehen, das grundsätzlich und immer schon ungefährdet ist. Ein solches Privileg kann so nicht zum Gegenstand einer Versuchung werden – ein Umstand der wiederum der Tatsache einige Bedeutung verleiht, dass gerade der Überblick später offenbar genau dies wurde, zum Ausdruck der Gefährdung durch den Hochmut, die Hybris. In Bezug auf das besprochene Lebensrad muss man aber sagen: Wenn es in seiner Darstellung den menschlichen Betrachtern einen „Überblick“ über das Menschenleben ermöglicht, ist dies ein in der Hinsicht unschuldiger und unproblematischer „Überblick“ als das „Privileg“ desjenigen der „alles zugleich“ wahrnimmt durch ihn in keiner Weise berührt ist. Wenn der Mensch an ihm teilhat, muss es durch Offenbarung geschehen, eine eigenmächtige Aneignung des „Überblicks“ durch den Menschen ist ausgeschlossen und undenkbar. Wie ein tatsächlicher Blick von oben zu einem Überblick über das Leben eines Menschen werden kann, wie sich der überschaute Raum mit der „überschauten“ Zeit verbinden kann, wird man weiter unten zuerst an Petrarcas berühmten Blick vom Mont Ventoux sehen können – einem Beispiel bei dem die Rede vom Überblick über das Leben demgemäß angemessen sein wird, was für die Lebensräder eben nicht gilt. Ganz ähnlich wie bei diesen scheinen aber die Verhältnisse auch bei den mappae mundi zu liegen – sich hier sowohl auf den Raum als auch auf die Zeit beziehend. Der durch diese Karten dargestellte Raum erscheint als Ausdruck der göttlichen Ordnung und die Karte selbst als Mittel ihrer Offenbarung. Er erscheint in keiner Weise als gegebener und hinzunehmender Raum, der in einer auf seine Wahrnehmung bezogenen Anstrengung überstiegen werden müsste, um als ganzer erfahrbar zu werden. Einen solchen Sieg über eine gegebene Unübersichtlichkeit hat Gott nicht nötig und dem Menschen fällt er auf anderem Wege zu – nämlich eben durch die Gnade der Offenbarung, in der seine Wahrnehmung des Ganzen nie selbstständig ist, in der ihm das Ganze immer gezeigt wird, wenn es „gesehen“ wird. Obwohl die mappae mundi also dem Sehen eine besondere Stellung zuweisen, ist auch für sie die Metapher vom „Überblick“ im Verhältnis zu Späterem zu relativieren – sie konstruieren keine Position eines Blickes von oben, die als solche Bedeutung trüge. Ihre Anordnung, die dies heute für uns nahe legt, ergibt sich aus 145 Dies schließt aber keineswegs spätere pantheistische Konzepte ein, in deren Sinn Gott in der Welt und sonst nirgends ist.

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ihrer Funktion, eine Ordnung zu präsentieren. Diese Funktion erfüllen sie aber ohne die reflektierte, für sich Bedeutung tragende Bereitstellung einer Perspektive des Überblicks.146 Immerhin ist aber andererseits zu sagen, dass die mappae ein Beispiel dafür sind, dass im Hochmittelalter die Offenbarung eindeutig den Weg auch über den Blick, über das geschenkte Sehen nimmt, das somit zur bestimmenden Metapher für das Erkennen und Wissen wird – ein Umstand der sicherlich eine Voraussetzung dafür war, dass irgendwann die Perspektiven Gottes und der Menschen so auseinander treten konnten, dass sie in gewisser Hinsicht in Konkurrenz zueinander traten, dass Wahrnehmungsprivilegien Gottes tatsächlich als in gewisser Hinsicht durch den Menschen übertretbare Grenzen erscheinen konnten. Eine der Gründungsurkunden des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffs enthält eine Wendung der Beziehung von göttlichem „Überblick“ und menschlicher Tätigkeit im Nacheinander, die zeigt, wie die Beziehung zwischen göttlichem und menschlichem Wissen dann problematisch werden kann, wenn die prinzipielle Differenz zwischen beidem abgebaut wird: „Wir gehen mittels schrittweiser Erörterung weiter von Schluss zu Schluss, während er [Gott, MR] durch bloße Anschauung begreift. […] Diese Übergänge, zu welchen unser Geist Zeit braucht, die er schrittweise vollführt, durchläuft der göttliche Intellekt dem Lichte gleich in einem Augenblicke oder, was auf dasselbe hinauskommt, sie sind ihm stets alle gegenwärtig.“147

Der entscheidende Unterschied zu der in den Lebensrädern umgesetzten Differenz zwischen göttlicher und menschlicher Wissensform besteht hier – bei vordergründiger Übereinstimmung – in der Bedeutung von Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit, darin, dass die entsprechenden Erkenntnisse als einmal erreichte bleibend sind. Der Mensch kann sich so durch Ansammlung und Verknüpfung dieser Erkenntnisse dem göttlichen Wissen annähern. Gott hat ihm eben nur die – hier zeitlich verstan146 Natürlich könnte man hier sagen: Insofern eine solche Perspektive in der Kunst noch nicht „entdeckt“ wurde, konnten sie dies auch nicht. Die Position des Blicks von oben konnte keine Bedeutung tragen, weil die Mittel fehlten, eine solche Position einem Bild einzuschreiben. Die eigentliche Frage ist aber wohl: warum fehlten diese Mittel? Und die Antwort scheint zu sein: Sie hätten vor dem Hintergrund der Zeit keinen Sinn gehabt, weil es kein Problem gab, das sie hätten lösen oder als gelöst darstellen können. Die mittelalterlichen Weltkarten erfüllten ihre Funktion der Präsentation der Ordnung in Gott in sehr anschaulicher und metaphorisch überzeugender Weise und eine Perspektive von oben hätte dazu nichts beitragen können. 147 Galileo Galilei, Dialog über die hauptsächlichen Weltsysteme, zitiert nach Blumenberg 1981, S. 488.

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dene – Position eines Überblicks über das Ganze voraus, den der Mensch sich erst langsam erarbeiten müsste.148

E RSTE P ERSPEKTIVEN Nicht nur in der Malerei seit dem 14. Jahrhundert, auch in der Literatur und Philosophie dieser Zeit zum Ende des Mittelalters tauchen Phänomene auf, bei denen sich die Frage stellt, ob Konzepte des Blickes in ihrem Falle nicht Funktionen erhalten, die denen späterer Epochen so weit entsprechen, dass man sie als Funktionen des Überblicks beschreiben muss, so wie er hier verstanden wird. Diese Produktionen würden entsprechend den Schluss weiter rechtfertigen, dass sich diejenigen historisch bedingten Mängel, die dem Konzept des Überblicks Sinn verleihen, teilweise und in einer zeittypischen Ausformung im Spätmittelalter ergaben. Von besonderem Interesse scheinen hier dabei die Texte Petrarcas zu sein. Zumal an seinem Brief über die Besteigung des Mont Ventoux, einem ersten literarischen Zeugnis einer zumindest in gewisser Hinsicht auf eine besondere visuelle Wahrnehmung gerichteten alpinistischen Unternehmung, kann man in diesem Zusammenhang nicht vorbeigehen. Als Punkt der Abgrenzung, vor dessen Hintergrund die Neuerungen Petrarcas deutlich werden können, bietet sich Dantes „Göttliche Komödie“ an149 Das zweite Beispiel, dem ich mich widmen möchte, ist die philosophischtheologische Auseinandersetzung des Nicolaus Cusanus mit dem „Sehen Gottes“ im Kontext seiner Philosophie. In dieser drückt sich eine bestimmte Haltung dem menschlichen Blick gegenüber und eine Gestaltung seines Verhältnisses zum göttlichen aus, die in etwas jüngeren kulturellen Produktionen dem Überblick immer wieder eine Funktion geben wird. Ähnlich wie bei Petrarca findet sich bei Cusanus eine frühe Reflexion auf die Perspektivität menschlicher Verstandestätigkeit und Erkenntnis, die sich immer wieder in Metaphern des Sehens ausdrückt – und die zu eben zu einer neuen Beziehung zwischen den „Blicken“ Gottes und des Menschen führt. Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux In seiner großen Studie zum Werk Petrarcas stellt Karlheinz Stierle dessen Weltbild demjenigen Dantes gegenüber, die „Dante-Welt“ der „Petrarca-Welt“. Die vertikal angeordnete Welt Dantes, wie er sie in seiner Göttlichen Komödie entwirft, sei zwar 148 Vgl.: Blumenberg 1981, S. 488ff. 149 Zumal er die gleiche Funktion für einen späteren Text übernehmen kann, dessen Stoff dem seinen ähnelt und der von Momenten des Überblicks regelrecht durchsetzt ist, für Miltons Paradise Lost.

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Reaktion auf eine spätmittelalterliche „Verzweiflung am Sinn der Welt“150, auf einen „Kontingenzverdacht“ in Bezug auf die Welt, sie suche den Ausweg aus diesem Abbau an Vertrauen in die durch Gott verbürgte Ordnung des Ganzen aber gerade in der Imagination einer Offenbarung dieser Ordnung – die sich zeittypisch in der Führung Dantes durch letztlich gottgesandte Personen (Vergil, Beatrice und Sankt Bernhard) darstelle. Das in diese Ordnung eingeschriebene Verhältnis der Blicke nun, verbiete es dem Menschen, sich einen Blick von oben anzumaßen, diese Position sei diejenige Gottes: „Prinzipiell ist der theologisierte Raum [in der Göttlichen Komödie, MR] vertikal hierarchisch gegliedert und dominiert vom Herrscherblick Gottes, der auf seine Welt fällt. So ist auch der Blick von oben immer ein vermessener Blick, der sich den Blick Gottes selbst anmaßt oder der Teilhabe an ihm sicher ist.“151

Diese Verhältnisse nun seien es, die sich im Werk Petrarcas in aufschlussreicher Weise änderten. In seinem Brief über die Besteigung des Mont Ventoux und in vielen anderen Zusammenhängen erhalte der Blick von oben eine Funktion für den Menschen, in der sich ein neues Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst und zur Welt äußere. Bevor hier diese Bedeutung des Überblicks bei Petrarca bedacht werden soll, scheint mir in Bezug auf die vorhergehende ältere „Welt“, diejenige Dantes, etwas gesagt werden zu müssen. Sie eignet sich wohl tatsächlich als Punkt der Abgrenzung gegenüber Petrarca. Andererseits entspricht ihr das, was Stierle zu den in ihr herrschenden Blickverhältnissen, vor allem zum Blick Gottes, sagt, im Sinne der oben behandelten impliziten aber letztlich unangemessenen neuzeitlichen Voraussetzung m. E. nicht: Die „Dante-Welt“ ist selbstverständlich eine vertikal angeordnete Welt über der Gott angesiedelt ist, über der er thront. Die in ihr sich ereignenden Blicke können aber – ganz gleich ob ihr Subjekt göttlich oder menschlich ist – nicht als bedeutungsvolle, mit der Macht sich verbindende Blicke von oben, als für Gott reservierter „Herrscherblick“ herab auf die Welt verstanden werden. Für die Welt Dantes gilt in dieser Hinsicht vielmehr das, was an anderen Beispielen bisher gezeigt werden sollte: Gott ist von keinem Mangel betroffen, der einem solchen Blick Sinn geben könnte und ein solcher Blick findet sich demgemäß in Dantes Text auch nicht ausdrücklich beschrieben. Damit muss auch Stierles Behauptung eines „vermessene(n) Blicks“ des Menschen, der Möglichkeit einer Aneignung einer göttlichen Wahrnehmungsposition als zweifelhaft erscheinen, nicht einmal die Versuchung einer solchen Aneignung spielt in der „Comedia“ eine Rolle. Dies scheint mir unbeschadet der Tatsache zu gelten, dass andererseits Blicke in diesem 150 Stierle 2003, S. 36. 151 Ebd.: S. 296.

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Text natürlich eine außerordentlich große, ja bestimmende Rolle spielen. Dantes Reise durch die Sphären der Welt ist gleichsam eine Reise seiner Augen, seines die Erkenntnis göttlicher Ordnung bedeutenden Sehens, das ihm durch die Gnade der Offenbarung zuteilwird, die sich in der Führung und auch in dem sich von Gott über die Welt ausbreitenden Licht vollzieht. Dantes Text scheint mir ein weiteres Beispiel dafür zu sein, dass ein Wahrnehmungsprivileg immer nur als prinzipiell gefährdetes Sinn macht – und der Gott Dantes war in der exklusiven Stellung seines Wissens und seiner Macht nicht gefährdet und im Sinne des mittelalterlichen Verständnisses auch prinzipiell nicht zu gefährden. Das Wissen des Menschen um die Ordnung der Schöpfung mag Dante als gefährdet erlebt haben – seine Antwort darauf war aber die überkommene des geoffenbarten, durch das göttliche Licht geschenkten Augenscheins (im metaphorischen Sinn). Die „Comedia“ erzählt Dantes Reise von der Oberfläche der Erde, von einem finsteren, wilden Wald, in dem er sich zur Mitte seines Lebens verirrt hat, durch die Erde hindurch zu ihrer anderen Seite, zu den Antipoden. Dort erstreckt sich der Berg der Läuterung zum Himmel. Von dessen Gipfel, dem irdischen Paradies, geht die Reise weiter durch die Sphären des Himmels bis zur letzten, in der Dante schließlich Gott schaut. Das zugrunde liegende Weltbild ist also ganz und gar hierarchisch-vertikal: Wie u.a. auch Abbildung 1 es im Sinne des christlich überformten antiken Weltbildes fasst, ist Gott in der äußersten Sphäre des Himmels angesiedelt. Die Wertigkeit der weiteren Sphären bzw. der in ihnen sich befindenden Seelen richtet sich nun streng nach dem Kriterium der Entfernung zu diesem Ursprung des Guten – je weiter Dante von der Erdoberfläche in die Hölle vordringt, desto größer werden die Sünden, die dort, „zufernst dem Himmel“152 verbüßt werden. Im Mittelpunkt der Welt steht demgemäß „alles Bösen Quell“153, Satan. Er ist in einem See von Eis eingefroren: Der Punkt der Gott am fernsten ist, ist auch dem wärmenden Medium seiner Gnade am fernsten, dem von ihm ausgehenden Licht, das sich immer wieder auch in der Sonne bedeutet, zu der Dante seinen Blick erhebt. Nachdem er und sein erster Führer Vergil an Satan vorbeigestiegen sind, geht es wieder aufwärts – in Richtung des Purgatoriums, das ebenfalls vertikal gegliedert ist, eben als Berg der Läuterung, an dem die Seelen der Schwere ihrer Schuld entsprechend schneller oder langsamer zum Himmel aufsteigen. Die Richtung der Führung und der Aufmerksamkeit geht hier ganz unzweifelhaft bergauf: Der Berg wird in keinem Moment auch nur zum Mittel der Versuchung eines verbotenen Blicks von oben. Der Blick auf das unten Liegende bleibt vielmehr ebenso unproblematisch wie uninteressant, es geht um den bedeutungsvollen Blick nach oben. Ausruhend auf einem Band in der Felswand des Berges, blicken Vergil und Dante um sich:

152 Comedia, Inf. IX, 30. 153 Comedia, Inf. XXXIV, 36.

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„Wir saßen nieder, wandten nach der Seite / Gen Morgen uns, von denn wir aufgestiegen: / Erfreut den Blick doch solche Schau ins Weite! / Erst sah ich drunten die Gestade liegen, / Blickt’ auf zur Sonne dann, und linker Hand / Mit Staunen sah ich ihre Pfeile fliegen.“154

Dantes Blick streift gewissermaßen kurz und ohne bleibendes Interesse die „Gestade“ zu Füßen des Berges der Läuterung. Dann geht sein Blick sofort hoch zur Sonne, die er nun, auf der anderen Seite der Welt, überraschender Weise im Norden (eben „linker Hand“ der östlichen Richtung) erblickt. Das Erfreuliche an jenem Blick ins Weite scheint also vor allem wieder der Blick gen Himmel zu sein. In jedem Fall trägt der kurze Blick hinab nicht das Stigma der Hybris. Ähnlich verhält es sich auch mit einem kurzen Blick Dantes aus dem Himmel auf die Erde, der ihn nur von deren Winzigkeit überzeugt: „Durch alle sieben Sphären kehrt’ im Flug / Mein Blick; und winzig, dass michs lachen machte, / Sah unser Erdball aus, zu dems ihn trug.“155 Konsequenz dieses Blicks ist die Verachtung des Erblickten im Verhältnis zu im wahrsten Sinne Höherem. Dem Blick von oben fehlt so aber der Wert, der ihn zu einer Versuchung bzw. zu einem Privileg machen könnte: „Auch dieser Blick nach unten wird vom Blick nach oben dominiert“.156 Diese plausible Einschätzung Stierles in Bezug auf die Blickverhältnisse in der Comedia verträgt sich nicht mit der gleichzeitigen Behauptung eines bedeutsamen „Herrscherblick Gottes“.157 Andererseits erhält in der Dichtung Dantes der Blick – nicht zuletzt eben als Blick nach oben – eine entscheidende Bedeutung. Das Auge Dantes ist das Organ, durch das er die – u.a. im Licht sich darstellende – göttliche Offenbarung aufnimmt, 154 Ebd.: Pur. IV, 52-57. 155 Ebd.: Par. XXII, 133-135. 156 Stierle 2003, S. 304. 157 Ebenfalls verfehlt erscheint eine Bezugnahme Safranskis auf diesen Blick: „So (von oben) betrachtet ist die Erde etwas, auf das wir zurückkommen, um uns mit einer Geste distanzierter und großherziger Solidarität auf sie einzulassen. Eine klassische Formulierung dafür finden wir bei Dante […]:‚Mit meinem Blick kehrte ich zurück zu all / Den sieben Sphären, und ich sah diese Erdkugel, / So dass ich lächeln musste über ihr niederes Aussehen.‘ Solche Blicke sind uns heute von den Weltraumfahrten her bekannt, und es gibt nicht wenige Astronauten, die über solchen Anblicken zu andachtsvollen Ökologen wurden.“ (Safranski 2003, S. 44). Auch die von der oben verwendeten abweichende Übersetzung legt diese Übertragung moderner Reaktionen auf Blicke von oben auf die Stelle in der „Comedia“ keineswegs nahe. Der Unterschied liegt gerade darin, dass sich Dante keineswegs auf die von oben gesehene Erde „einlässt“. Deren Niedrigkeit zu erkennen, heißt für ihn, ihren Anblick zu verwerfen – eine Haltung, die einer besorgten Zuwendung gänzlich entgegengesetzt ist. Safranski vereinnahmt den mittelalterlichen Text als Beleg für eine typische zeitgenössische Funktion des Überblicks; diese Funktion erfüllte er aber bei Dante nicht.

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oft nach einer Gewöhnungsphase, in der er bzw. seine Augen sich so verändern müssen, dass sie zu dieser Aufnahme fähig werden.158 Vor allem Beatrice, seine Führerin durchs Paradies, erhält dabei die Funktion einer Vermittlerin: In ihren Augen spiegelt sich der Anblick des Göttlichen, so dass Dante es schauen kann, so lange seine eigenen Augen noch nicht zur unmittelbaren Aufnahme fähig sind. Der Höhepunkt nun der gesamten Dichtung ist Dantes Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht. Diesen Blick aber kann er in Worten nur noch unvollkommen wiedergeben. Die Schau Gottes als Medium der Offenbarung hat den Vorrang vor derjenigen durch das Wort. Möglicherweise ist dies auch Ausdruck einer hoch- und spätmittelalterlichen Aufwertung des Visuellen, in der sich auch ein gesteigertes Bewusstsein für zu überbrückende Distanzen ausdrückt, das letztlich zu einer gesteigerten Artikulation räumlicher Vorstellungen führte: „Und all der Schau weicht unser Wort, das schlichte.“159 Zwar ist hier nach wie vor ein metaphorisches, geistiges „Schauen“ gemeint. Der Bildspender dieser Metapher hat sich aber gewissermaßen verabsolutiert, das Visuelle hat als Medium der Erkenntnis, der Offenbarung so weit Bedeutung erlangt, dass es hier ausdrücklich den Vorrang vor seinem Konkurrenten, dem Wort, erhält. Der letzte Anblick, der sich seinem „genesen(en)“160 Auge aber darbietet, ist der auf das Antlitz Christi, das sich in der Mitte dreier für die Dreieinigkeit Gottes stehender Kreise „gemalt“ findet: „Da sah, in eigner Farbe, klar und rein, / Ich unser Ebenbild gemalt darinnen, / Und ganz versenkt hat sich mein Blick darein.“161 Dieses Antlitz Christi ist also die Erscheinungsform Gottes, die sich noch in der Hinsicht vorstellen lässt, dass man sie in Worten – wenn auch unvollkommen – übermitteln kann: Wie ein Bild, das von sich selber aus leuchtet, steht es 158 Guardini 1998, S. 97ff. 159 Comedia, Par. XXXIII, 56. Thomas v. Aquin erläutert die hier zugrundeliegenden metaphorischen Verhältnisse in seiner Summa Theologica: „Da nun die natürliche Kraft des geschaffenen Verstandes zur Anschauung Gottes nicht ausreicht, so ist ihm ein von Gottes Gnade geschenkter Zuwachs an Erkenntniskraft notwendig. Und diesen Zuwachs an Erkenntniskraft nennen wir die Erleuchtung des Verstandes, wie überhaupt der geistige Erkenntnisgegenstand Leuchte oder Licht genannt wird.“ (I 12, 5). Die Frage wäre, ob Dante diese ausdrücklich rein metaphorische Bedeutung des „Sehens“, der „Schau“ – laut Thomas ist ein Sehen Gottes im wörtlichen Sinne ausgeschlossen (Summa Theologica., I 12, 3) – nicht in Richtung einer sich stärker an den Eigenschaften einer visuellen Wahrnehmung im wörtlichen Sinne orientierenden Verwendung verschiebt. Wäre mit der „Schau“ Gottes nur ein unmittelbares und sicheres Erkennen der Allgegenwart Gottes durch den durch Gnade erhöhten Verstand gemeint, wäre die klare Gegenüberstellung von „Schau“ und „Wort“ innerhalb der Logik der Metapher wenig nachvollziehbar. 160 Ebd.: Par. XXXIII, 112. 161 Ebd.: Par. XXXIII, 30-32.

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dem Auge Dantes gegenüber und man ist geneigt, sich eben eine jener dem Betrachter in die Augen schauenden, auf die byzantinische Ikone zurückgehenden Christusdarstellungen vorzustellen, wie sie bis ins späte Mittelalter üblich blieben.162 Der Blick Gottes hat hier also durchaus eine typische Bedeutung: Als Gnade austeilender Blick, der den Gnade empfangenden trifft. Als das Ganze der Welt von oben überschauender Macht-Blick erhält er keine markante Funktion. Das von Gott ausgehende Licht der Offenbarung geht zwar über die ganze Welt – und wird vom aufnahmefähigen Auge aufgenommen bzw. vom nicht aufnahmefähigen in der Dunkelheit der Hölle verschmäht (Die Sünde erscheint als eine Art Blindheit). Es aber mit einem über alles hingehenden Macht-Blick Gottes zu identifizieren, müsste als problematisch erscheinen, was zeigt, dass die Metapher des Blicks durchaus durch andere Metaphern göttlicher Allgegenwart und Allwissenheit zu ersetzen ist, dass eine bestimmte Blickposition nicht als Grund für diese Attribute erscheint: Wenn die Finsternis der tiefsten Hölle sich der Abwesenheit des von Gottes Antlitz ausgehenden Lichtes verdankte und dieses einen die Welt von oben erkennenden Blick bedeutete, wüsste Gott dann nicht, was in der Hölle vor sich geht, entginge diese seiner Macht, insofern sie seinem „Macht-Blick“ entginge? Allein die Reise des lebenden Dante durch die Hölle zeigt, dass auch dort die Macht und das Wissen Gottes anwesend sind und auch der dantische Satan ist ein (im wahrsten Sinne) fest in die göttliche Ordnung eingebundener Faktor, keineswegs ein die göttliche Macht beschränkender oder herausfordernder. Die genannte Frage stellte sich für Dante nicht, weil der Blick oder das Licht Gottes bei ihm als Medium der Gnade erschien, nicht so sehr als eines der Erkenntnis und der auf sie sich stützenden Macht.163 Ein solcher Machtblick erfasst das Erblickte, er eignet es sich an, um es beherrschen und kontrollieren zu können – während der (Seh-)Strahl Gottes nichts anderes als ein Sich-Zeigen Gottes ist. Der Blick Gottes ist aktiv, als passiv-aufnehmender ist er nicht der Rede wert, die Ordnung der Welt ist seine Ordnung, er muss sie nicht im Nachhinein erfassen, um sie zu verstehen und zu beherrschen. Also: Auch hier 162 Dass Christus hier als Bild bezeichnet wird liegt ganz in der theologischen Tradition: Er, der Sohn, wurde als Bild des Vaters betrachtet, in dem dieser – Kraft der Ähnlichkeits- und Verursachungsbeziehung, die den Begriff des Bildes ausmachten – geschaut werden konnte. Umgekehrt war der Mensch das Ebenbild Gottes (Christi) und dieser das Vor- oder Urbild des Menschen (vgl. z.B. Thomas v. A., Summa I 35, 1-2). 163 Man bedenke hier auch wiederum, dass die zeitgenössische optische Theorie und deren theologische Implikation davon ausging, dass sich das Sehen durch die Übertragung von „species“ im Medium vollzieht, die am Ende auf das zur Aufnahme fähige Organ des Auges treffen (das zudem das Medium zuvor ggf. durch einen von ihm selbst ausgehenden „Sehstrahl“ veredelt und damit zu Übertragung fähig gemacht hat). Diese Übertragung wurde zum Modell der Austeilung göttlicher Gnade – es wurde nicht zum Modell der Erkenntnis des allwissenden Gottes (Vgl. Edgerton 1991).

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besteht keine interessante Beziehung zwischen der Macht und dem Wissen Gottes und einem das Beherrschte und Gewusste überschauenden Blick von oben. Daher kann ein solcher Blick für den Menschen auch nicht zum Zeichen der Hybris und der gegen Gott sich richtenden Selbstüberhöhung werden. Er bleibt ein flüchtiges Hinsehen über irgendwelche unten liegenden „Gestade“ oder die wertlose Kleinheit der Welt. Gefesselt wird das menschliche Auge von dem, was es oben erblickt. Vielleicht kann schon hier ein Hinweis auf ein späteres, aber in seinem Anspruch, den gesamten Kosmos lyrisch gleichsam zu durchqueren, vergleichbares Poem diesen Umstand weiter betonen: Obwohl die räumlichen Verhältnisse in Miltons „Paradise Lost“ (in der ersten Fassung 1667 erschienen) u.a. durch die zwischenzeitlichen Veränderungen oder besser Erschütterungen auf dem Gebiet der Astronomie im Verhältnis zu Dante gewissermaßen in Unordnung geraten sind, so dass das alte Schema von „unten“ und „oben“ als gefährdet erscheinen musste, begegnet der Blick von oben hier immer wieder ausdrücklich als Herrscherblick der Macht und des Wissens. Gerade der im Verhältnis zum Gott Dantes in gewisser Hinsicht (auf der Ebene der metaphorischen Darstellung) entmachtete Gott Miltons gleichwie sein aus der dantischen Gefangenschaft und Fixierung befreiter Gegenspieler und wohl auch der Mensch, dessen irdischer Blick auf den Kosmos ihm selbst unsicher zu werden beginnt, konnten diesen Blick hier nun weit eher mit Funktion versehen, als es bei Dante der Fall war: „Now had the almighty Father from above, / From the pure empyrean where he sits / High throned above all highth, bent down his eye, / His own works and their works at once to view:“164

Dieser göttliche Blick von oben – nun eindeutig auch göttliches Privileg – erscheint erst in dem Moment, in dem die alte klare hierarchische Ordnung des Kosmos in Frage steht und damit auch die in den zitierten Versen aufgerufene Positionierung Gottes im Universum.165 Diese Ordnung ist bei Dante noch zu ungefährdet, um diejenigen Mängel in den Vordergrund treten zu lassen, die den Blick von oben mit Sinn versehen. Auch in seinem Universum ist Gott oben und auch bei ihm fällt sein Auge insofern von oben auf die Welt. Es tut dies aber gleichsam zufällig, so dass der Umstand nicht weiter Erwähnung findet und die entsprechenden räumlichen Verhältnisse nicht metaphorisch in dieser Richtung ausgewertet werden. Die zentrale optische Metapher ist dagegen das Medium des allgegenwärtigen Lichtes. Dieses 164 Milton 1975 (1674), III, 56-59. 165 Die diesem Text zugrundeliegenden eigentümlichen räumlichen Verhältnisse und die große Bedeutung der Blicke von oben werden an gegebener Stelle noch eingehender betrachtet werden – wenn mehr Aussicht besteht, sie im Rahmen dieser Arbeit auch zu begründen.

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kommt zwar naturgemäß auch von oben – diese Position gerät aber in seinem Falle noch weniger in die Nähe eines durch die erhöhte Position ausgezeichneten Wahrnehmungsprivilegs. Widerspricht das oben zu Dante Gesagte der Einschätzung Stierles teilweise – nämlich in Bezug auf dessen Rede vom „Herrscherblick Gottes“, soweit unter ihm ein als Blick von oben zum Herrschen geeigneter Blick verstanden wird – so erscheinen seine Untersuchungen zu den Textes Petrarcas umso einleuchtender. Bei Petrarca erhält der Blick von oben – als menschlicher Blick – tatsächlich eine Bedeutung und zwar eine, die der Funktion nach mit solchen späterer Zeiten vergleichbar ist. Auch bei ihm – so werde ich zu zeigen bzw. zu bestätigen versuchen – ist dieser Blick noch nicht derjenige der Hybris, insofern er ein göttliches Privileg stört. Indem er aber die Funktionen der Darstellung von Macht und vor allem Selbstbestimmung erhält, ist dieser Konflikt in der Hinsicht vorbereitet, dass er beginnt überhaupt Sinn zu machen. Kurz: Der Überblick erhält erst Funktion für den Menschen, dann kann er als göttliches Privileg begriffen werden. Indem Macht und Selbstbezug in Verbindung zum Überblick treten, tritt auch die Demut in eine solche Verbindung zu ihm – im Sinne eines Verzichtes zugunsten der Instanz, vor der Demut angebracht ist, zugunsten Gottes. Ein solcher Verzicht ist natürlich erst denkbar, wenn er eine Alternative hat: das sinnvoll Mögliche aber Verbotene. Intuitiv scheint uns heute offenbar das Bild nahe zu liegen, gegen Ende des Mittelalters habe der Mensch gewissermaßen begonnen göttliche Privilegien für sich zu erobern, habe er sich die Erfüllung bereits zuvor gegebener Bedürfnisse gestattet, weil er sich aus einem System rigider religiöser Verbote befreite. Ähnlich, wie dies in Bezug auf die „Entdeckung des Individuums“ im Sinne einer Freilegung einer immer schon gegebenen aber zuvor verschütteten oder unterdrückten Instanz eine unangemessene Beschreibung wäre, gilt es auch nicht für die Funktion des Überblicks: Das göttliche Privileg des Blicks von oben ergab sich als bedeutungsvoller Faktor erst, als sich das Konzept eines unabhängigen, perspektivisch gebundenen Blicks des einzelnen menschlichen Subjektes ergab. Bei Dante finden wir zwar eine außerordentliche Betonung der metaphorischen Funktion des Blicks – einen unabhängigen Blick des menschlichen Subjektes aber noch nicht. Bei ihm bedeutet der Blick stets die Offenbarung durch Gott. So konnte der Blick des Menschen für ihn gewissermaßen unschuldig bleiben, so wie er es auch für die Betrachter der mappae mundi war. Er umgeht immer schon die Drohung der „voluptas oculorum“, das NichtAufnehmen der göttlichen Gnade stellt sich bei ihm als Dunkelheit, also NichtSehen dar, ein problematisches Wegsehen von Gott spielt bei ihm kaum eine Rolle, er muss keinen inneren Kampf gegen die Versuchung des Zurücksehens auf die Erde auskämpfen, dieser Blick entlockt ihm allenfalls ein kurzes Lachen. Die Verfan-

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genheit im Irdischen, aus der ihn seine Reise durch die Welt befreit, ist ein Verirren in „finstren Waldes Nacht“.166 Ganz anders scheinen die Dinge in jenem berühmten Brief Petrarcas über sein bergsteigerisches Unternehmen zu liegen.167 Am Ende dieser Erzählung steht ein deutlicher Ausdruck der Demut: Das Hinabsteigen vom Berg in kontemplativer Selbstversenkung als Hinwendung zu Gott – und eine Konsequenz, an der deutlich wird, dass der Berg, dass die erhöhte Position, die er dem menschlichen Subjekt ermöglicht, in ihrer Bedeutung komplexer wird, als dies bei Dante der Fall sein konnte: „Und auch das kam mir Schritt für Schritt [während des Abstiegs, MR] in den Sinn: wenn es einen nicht verdroß, so viel Schweiß und Strapazen auf sich zu nehmen, damit nur der Leib dem Himmel etwas näher wäre, welches Kreuz, welcher Kerker, welche Folter dürfte dann die Seele erschrecken, die sich Gott nähert und dabei den aufgeblasenen Gipfel der Überheblichkeit und die Geschicke der Sterblichkeit mit Füßen tritt?“168

Die erhöhte Position, die der Berg dem Körper ermöglicht, stellt sich hier der Annährung an Gott entgegen, sie bedeutet sie an dieser Stelle nicht, vielmehr bedeutet der Abstieg vom Berg hier die Hinwendung zu, die innere Annährung an Gott. Für Petrarca enthielt diese Position – und wie zu sehen sein wird auch der durch sie ermöglichte Blick von oben – also etwas vom überkommenen Prinzip der Gottesnähe Unabhängiges. Die Höhe erhält in seinem Text eine Funktion, die sich nicht in ihrer Beziehung zu einem vertikal-hierarchisch organisierten Weltbild erschöpft. Diese neue Funktion kann am Ende auch durch ein zumindest dem Gestus nach demütiges Hinabsteigen von dieser Höhe nicht mehr gänzlich zurückgenommen werden. Stierle konstatiert die Bedeutung des Berges als Merkmal der Texte von Petrarca auch allgemein. Von dessen zum Teil auf Bergen entstandenen oder entworfenen Gedichten stellt er beispielsweise fest: „Doch ist es hier nicht nur die Nähe des Göttlichen, die auf der Höhe des Berges so inspirierend ist, sondern die Weite der Aussicht, die Erhabenheit des Anblicks der erschlossenen Welt.“169 Tatsächlich findet sich in Petrarcas Brief über die Besteigung des Mont Ventoux dieses Nebeneinander zweier Konzepte: Zum einen nutzt er die überkommene Funktion des erhöhten Ortes als metaphorisches Mittel der Annäherung an das 166 Ebd.: Inf. I, 2. 167 Petrarca, Familiarum rerum libri IV, 1 (1995), Petrarcas Brief ist auf den 26. April 1336 datiert und laut eigener Aussage des Autors noch am Abend der Besteigung verfasst worden. Gerichtet ist er an Petrarcas Freund Francesco Dionigi, einem Augustinermönch, der ihn in das Werk Augustinus’ eingeführt hatte. 168 Fam. IV, 1, 33. 169 Stierle 2003, S. 297.

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höchste Gut und entsprechend den Aufstieg als Metapher für auf Moral und Lebensführung bezogene Besserung. Zum anderen aber tritt nun eben dasjenige Konzept hinzu, das diesen Ort als „Medium“ einer Wahrnehmung nutzt, indem es dem Blick von oben auf die als ganze überschaubare, durch den Blick „erschlossene“ Landschaft und die mit der eigenen Biographie verbundenen einzelnen Orte in ihr eine bedeutsame Funktion gibt. Diese neue Funktion des hohen Ortes ist es auch, die gewissermaßen das letzte Wort behält – so dass dem Misstrauen angesichts der zuvor ausgedrückten neuen Beziehung zur Welt und zu sich selbst am Ende nur der Abstieg von der Höhe und ihre gleichzeitige Herabsetzung bleibt. Auch der gleich zu Beginn des Briefes erwähnte Grund für das Unternehmen gibt der Bergbesteigung aber bereits die Funktion eines Blicks von oben. „Allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen“170, mache sich der Autor auf und zwar inspiriert von der bei Livius gelesenen Geschichte des Makedonierkönigs Philip, der den Berg Haemus in Thessalien bestiegen habe, um festzustellen, ob man von dessen Höhe tatsächlich das Adriatische und das Schwarze Meer zugleich sehen könne.171 War dieser historische Blick des Krieg führenden Herrschers noch gänzlich durch eine militärisch-praktische Funktion motiviert, hatte Petrarcas Aufstieg offenbar keinen solchen Sinn. Er war eben schlicht darauf aus, den hohen Ort zu sehen und – das offenbart das historische Vorbild – von ihm herab zu sehen. Dieser Blick vom Berg herab ist dann auch der Höhepunkt der Besteigung und ihrer Schilderung. Auf dem beschwerlichen Weg nach oben, den Petrarca in Begleitung seines Bruders zurücklegt, ergibt sich aber ein Moment, in dem er dem Aufstieg seine überkommene Bedeutung als moralische Erhöhung, als immer wieder von der Schwäche des Menschen gefährdete Annährung an Gott gibt bzw. zurückgibt: Immer wieder gerät er auf einen „schrägen Pfad nach unten“, weil er davor zurückschreckt, wie sein Bruder den direkten Aufstieg zu wählen. So muss er mehrmals nach einem ermüdenden Umweg durch niedriger gelegene Bereiche am Ende doch den kürzeren aber steileren Weg wählen, um nicht zurückzubleiben. Dieses Erlebnis motiviert ihn während einer Rast zu einer Allegorisierung des Erlebten, die dem bekannten Schema folgt: „‚Das was du heute so oft bei der Besteigung dieses Berges erfahren hast, wisse, dass dies dir und vielen widerfährt, die das selige Leben zu gewinnen suchen. […] In der Tat liegt das Leben, das man das selige nennt, auf hohem Gipfel, und ein schmaler Pfad, so heißt es, führt zu ihm hin. Auch viele Hügel ragen dazwischen auf, und von Tugend zu Tugend muß man mit erhabenen Schritten wandeln.‘“172

170 Fam. IV, 1, 1. 171 Fam. IV, 1, 2. 172 Fam. IV, 1, 12.

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Der Gipfel des Berges bedeutet also die Erlösung und in diese Höhe gelangt man durch ein tugendhaftes Leben. Der Aufstieg bedeutet ein gutes Leben und die Höhe erhält ihre Bedeutung durch ihre Nähe zum Ausgangspunkt des Guten, zu Gott. Was den Aufstieg aber schwer macht, so dass der Weg nach oben schmal und wenig ausgetreten erscheint, ist die Schwäche des Fleisches, das der Sünde zuneigt.173 An dieser Stelle erklärt sich also der erschöpfte Petrarca seine Situation mit Hilfe einer wohlbekannten Allegorie und motiviert sich so zu einem direkten und erfolgreicheren Aufstieg – einem Aufstieg allerdings, der im Folgenden gewissermaßen der Allegorie entgeht, ganz anderes impliziert und zeitigt: nämlich den Blick von oben, der in keiner Weise Element der überkommenen allegorischen Funktion des Aufstiegs auf die Höhe als Weg der Tugend zum Heil war. Dieser Blick eröffnet sich dem Bergsteiger schließlich, nachdem er das Gipfelplateau erreicht und kurz ausgeruht hat: „Zuerst stand ich, durch den ungewohnten Hauch der Luft und die ganz freie Rundsicht bewegt, einem Betäubten gleich da. Ich schaute zurück nach unten:“174 Damit ist der Höhepunkt der Besteigung auch in dem Sinne erreicht, dass ihr Ziel, der Blick vom Berg, sich erfüllt – wobei dieser Blick sein Subjekt zunächst betäubt, überrascht und vorerst überfordert. Er wirkt so auf den Blickenden, dass diesem die Souveränität des vom Berg oder Himmel herabsehenden Dante zunächst abgeht. Im Folgenden überwindet Petrarca seine Betäubung allerdings, und zwar, 173 Ganz ähnlich wird der Aufstieg, dem Schema der Heilsleiter folgend, auch in Dantes Comedia allegorisiert: Aus dem finsteren Wald seiner Verirrung erblickt Dante gleich zu Beginn die Höhe, auf die sein Weg ihn führen sollte. Allerdings wird ihm der Weg durch drei Tiere, einen Panther, einen Löwen und eine Wölfin versperrt. Diese Tiere stehen für die Leidenschaften der fleischlichen Lust, des Hochmutes und der Habgier, die dem direkten Aufstieg zur Erlösung verhindern (Inf. I, 32ff). Bei der Stelle im Brief Petrarcas stellt sich in der Forschung immer wieder die Frage, ob er hier tatsächliches Erleben nachträglich allegorisiert oder ob die Erzählung unabhängig von einem tatsächlichen Aufstieg auch ursprünglich als Allegorie zu verstehen ist. Unabhängig davon, welche Antwort man hier letztlich gibt – der Vergleich zwischen der Allegorie Dantes und der Allegorisierung von zumindest im Stile eines Berichtes über Erlebtes Erzählten bei Petrarca offenbart m.E. deutliche Unterschiede, die immerhin dafür sprechen, dass sich das Verhältnis zwischen allegorischem Gehalt und dem als Bildspender fungierenden Erzählten zugunsten des letzteren verschoben hat. Abgesehen davon ist bei Petrarca der Akt der Allegorisierung selbst Element der Geschichte bzw. des Erzählten. Er erzählt von seiner eigenen Allegorisierung des Erlebten – und hält dabei das Erlebte auch für andere Verständnisse offen, die Allegorie erfasst es nicht in Gänze, weil sie ihm nachgeordnet ist. Vgl. zur These des fehlenden Bezugs zu tatsächlich Erlebten: Groh 1992. Dagegen: Sierle 2003, S. 328f. 174 Fam. IV, 1, 17.

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indem er dem Blick von oben eine Funktion gibt, indem er die in der Wahrnehmung liegende Gefahr der Überforderung, des Verlustes von Souveränität dadurch bannt, dass er den Blick von oben nutzt als Blick auf sich selbst: In Richtung Italien (dem Land seiner Studienzeit in Bologna) blickend, löst ihn ein Gedanke von der Überwältigung durch den rein räumlichen Überblick und „führt(e)“ ihn „ von der Betrachtung des Raumes hin zu der der Zeit“.175 Der Überblick über das Ganze des unter ihm liegenden Landes wird ihm zum Anlass, sich selbst, das eigene Leben zu „überschauen“ – ein Leben, das sich zwischen dem hinter den gut sichtbaren Alpen liegenden Italien, dem stets ersehnten „Vaterland“176 und dem zu Füßen des Berges liegenden Landschaften um den Ort seiner Jugend, Carpentras und Avignon, dem Arbeitsplatz seines Vaters und schließlich seiner selbst abspielte. Und so, wie der Blick vom Berg es erlaubt, vieles Einzelnes und im alltäglichen Erleben weit voneinander Entferntes im Zusammenhang zu sehen, so nimmt Petrarca nun auch zwei Seiten seiner Person in den „Blick“, die sich widersprechen, die weit voneinander entfernt sind, die aber dennoch im Ganzen seiner Person ihren Platz haben: Sein Leben, dessen Orte er von oben beinahe alle zugleich sehen kann (Italien erahnt er hinter den Alpen natürlich nur) stellt sich ihm als noch unentschiedener Kampf zwischen den Lebensentwürfen der Hingabe an das Weltliche, die für ihn immer auch diejenige an den weltlichen Ruhm als Dichter bedeutete, und an die Suche nach Erlösung durch die Hinwendung zum Göttlichen und die Abwendung vom Weltlichen dar: „Noch sind für mich keine drei Jahre verflossen, seit jener verkehrte und nichtsnutzige Wille, der mich ganz beherrschte und im Palast meines Herzens allein ohne Widerpart herrschte, einen anderen, gegen ihn sich auflehnenden und ihm sich widersetzenden erhielt. Zwischen diesen beiden wird schon lange auf dem Felde meiner Gedanken ein äußerst mühsamer und auch jetzt noch unentschiedener Kampf um die Herrschaft der beiden Menschen ausgetragen.“177

Petrarca nimmt sich selbst also als in sich in zwei „Menschen“ gespalten war – und der Blick von oben verbindet sich für ihn mit der Fähigkeit diesen inneren Widerspruch metaphorisch zu „übersehen“, sich selbst von einem Standpunkt der Reflexion aus als in sich differenziertes Ganzes zu beschreiben. Das unter ihm liegende Land wird bei ihm „angeschaute Emblematik des Selbst“.178 Unmittelbar nach diesem metaphorischen „Überblick“ über das eigene Leben, die eigene Person folgt wieder der Überblick im wörtlichen Sinne, als beinahe nüchterne Beschreibung der 175 Fam. IV, 1, 19. 176 Fam. IV, 1, 18. 177 Fam. IV, 1, 22. 178 Stierle 2003, S. 297.

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von oben zu sehenden bzw. nicht zu sehenden Orte, die aus dem Unten heraus betrachtet weit voneinander entfernt sind und nie zugleich erlebt werden können: „Der Grenzwall der gallischen Lande und Spaniens, der Kamm der Pyrenäen, ist von dort nicht zu sehen, nicht weil, soviel ich weiß irgendein Hindernis dazwischenträte, nein, allein infolge der Schwäche der menschlichen Sehkraft. Die Berge der Provinz von Lyon hingegen zur Rechten, zur Linken sogar der Golf von Marseille und der, der an Aigues-Mortes brandet, waren ganz deutlich zu sehen, obwohl dies alles einige Tagesreisen voneinander entfernt ist. Die Rhone lag geradezu unter meinen Augen.“179

Dem folgt nun eine Wende, in der der innere Kampf, den Petrarca zuvor noch als solchen in den Blick nehmen konnte, wieder ausbricht – und zwar als sich auf den Blick von oben selbst beziehende Mahnung zum Verzicht und zur inneren Einkehr. Petrarca wählt an dieser Stelle einen anderen und auch historisch älteren Weg der Selbstbestimmung, die Selbstversenkung, die versucht die Augen vor dem Irdischen zu schließen und das Göttliche in einem dem Äußeren entgegen gesetzten Inneren zu finden – eben auch als Ort der eigenen auf dieses Göttliche gerichteten Bestimmung. Dabei ergibt sich für ihn ein weiterer Moment einer Betäubung, als er wie durch einen bedeutungsschweren Zufall seinen kleinen Augustinus Codex genau an der Stell öffnet, an der dieser schreibt: „Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und die Kreisbahnen der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst.“180 Dieser Mahnung folgend steigt Petrarca also ab: „Dann aber wandte ich, zufrieden, vom Berg genug gesehen zu haben, die inneren Augen auf mich selbst, und von jener Stunde an konnte keiner mich reden hören, bis wir ganz unten angelangt waren.“181 Hier wird also in augustinischer Tradition das Hinblicken auf die Welt dem inneren „Blick“ auf die eigene Seele entgegengesetzt, so dass der Abstieg als Konsequenz der Hinwendung zu letzterer Form des Selbstbezugs erscheint.182 Dass die Funktion, 179 Fam IV, 1, 25. 180 Fam IV, 1, 27. Man beachte: Bei Augustinus ist die Rede von der Bewunderung, die man der Höhe der Berge entgegenbringt – der Bewundernde betrachtet diese Berge also offenbar von unten (wobei ihm die ungleich erhabenere Höhe Gottes aus dem „Blick“ gerät). Auch Petrarca leitet seinen Brief wie gesehen mit einer ähnlichen Formel ein – er möchte „diesen hohen Ort sehen“. Wie gesagt, zeigt sein Bezug zum Blick Philipps vom Haemus aber, dass es ihm eigentlich darum geht von diesem Ort herabzusehen. 181 Fam IV, 1, 29. 182 Wobei hier dahingestellt sein soll, ob Pertrarca Augustinus damit gerecht wird oder ob er seinen Text außerhalb seines Zusammenhanges für seine Zwecke liest.

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die Petrarca dem Blick von oben zuvor aber gegeben hat, dadurch nicht zurückgenommen werden kann, zeigt sich daran, dass ihre Ausrichtung auf das Verständnis des eigenen, widersprüchlichen Lebens in keiner Weise angetastet wird: Die Art und Weise, wie Petrarca seinem Blick von oben zuvor einen Sinn als „Überblick“ über das eigene Leben als Widerstreit zweier Lebenskonzepte gibt, hat vor dem Sinn des Augustinuszitats im Kontext des Briefes das letzte Wort: Die durch das scheinbar zufällige Aufschlagen des Buches an der entsprechenden Stelle inszenierte Entscheidung für eines dieser Lebenskonzepte hat nur Sinn in einer Situation, in der die eigene Person bereits als Zusammenhang der beiden Konzepte beschrieben wurde. Und dies geschieht eben metaphorisch durch die „von der Betrachtung des Raumes hin zu der der Zeit“ übergehende Nutzbarmachung des Blickes von oben, in der sich das Subjekt eben gerade nicht „verlässt“, wenn es die Welt betrachtet als zusammenhängendes Ganzes der ansonsten nur im Nacheinander wahrnehmbaren Orte. In diesem Sinne ist Herfried Münkler zuzustimmen wenn er schreibt: „Petrarcas neuzeitliches Bewusstsein, seine Betonung der eigenen Singularität, wird durch die stilisierte Bekehrung nicht gelöscht, sondern im Gegenteil bestätigt und bestärkt.“183 Man könnte also sagen: der demütige Abstieg vom Berg kommt zu spät. Andererseits erhält er als Akt der Demut überhaupt erst Sinn, insofern der Aufstieg zuvor etwas ermöglicht hat, was nun im Nachhinein als Anmaßung erscheinen kann: Einen eigenständigen Selbstbezug des menschlichen Subjektes, der nicht durch die göttliche Gnade der Offenbarung der göttlichen Ordnung vermittelt ist. Für diese Möglichkeit steht der Berg, steht die Höhe – und dies entsprechend in Folge des Blicks, der sich von dort eröffnet. Die christliche Tradition wies hier einen anderen Weg, sie bedeutete die Frucht der Demut durch die Erhöhung, als Erhöht-Werden durch Gott. Schon der heilige Benedict drückt dies in seiner Regel in aller Klarheit aus: „Durch Selbsterhöhung steigen wir hinab und durch Demut hinauf.“184 Bei Petrarca geschieht dies nun umgekehrt: Die Demut drückt sich in einem Abstieg vom Berg aus – und anders als z.B. bei den oben besprochenen Umsetzungen der Ale183 Münkler 1982, S. 23. Etwas weiter oben heißt es, Petrarca habe sich nicht von dem Unterfangen abbringen lassen sich einen Überblick zu verschaffen, der „allein den Göttern vorbehalten ist“ (ebd. S. 22). Natürlich geht es in dem Widerstreit zwischen den beiden Lebenskonzepten nicht um die „Götter“, sondern um den einen Gott und das von ihm abhängige Seelenheil. Tatsächlich mögen die antiken Götter (auf dem Olymp) mit einem Blickprivileg verbunden worden sein – sei es zu Zeiten der Antike oder zu denen der Renaissance. Dass aber der eine christliche Gott dieses Privileg in gewisser Hinsicht nicht innehatte, obwohl sein Auge auf den Menschen ruhte, hoffe ich einige Hinweise gegeben zu haben und weiter zu geben. 184 Regula 7, 7.

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xanderlegende, in der der König sich selbst erhöht, indem er sich eigenmächtig dem Himmel nähert, geschieht dies, weil der Blick vom Berg über das Land seine Bedeutung erhält und der Abstieg als Verzicht auf diesen Blick erscheinen kann. Dieser Blick erhält im Brief Petrarcas eine Funktion für den Menschen – und kann so am Ende als etwas erscheinen, was diesem nicht zusteht. Der Überblick wird hier zu einem Mittel, durch das der Mensch sich selbst als zusammenhängendes Ganzes bestimmt, ohne dass die Bestimmung im Kontext der göttlichen Ordnung zunächst eine Rolle spielen würde. Gerade der Hinweis auf die perspektivisch bedingte Begrenztheit des Blicks von oben, die eben Grund dafür ist, dass bestimmte Orte nicht gesehen werden können, wird dabei wohl zum Zeichen seiner Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von Gott. Dante konnte alles im Universum sehen, sobald er die Begrenztheit seiner Aufnahmefähigkeit schrittweise überwunden hatte – weil es ihm von Gott gezeigt wurde. Auch der Unterschied zwischen Petrarcas Vorgehen und dem oben behandelten Lebensrad, das ja auf in gewisser Hinsicht ähnliche Weise das Leben eines Menschen in einem räumlichen Nebeneinander „überschaubar“ macht, scheint darin zu bestehen, dass diese Darstellung nicht Ausdruck eines Verbotes ist, das die Übernahme bestimmter Wahrnehmungsprivilegien durch den Menschen betrifft. Es ist vielmehr Ausdruck einer Hoffnung auf einen göttlichen „Überblick“ im Sinne eines Wissens, dem auf der Seite des Menschen nichts entspricht und je entsprechen könnte. Bei Petrarca steht am Ende der Bergbesteigung die Möglichkeit eines solchen (Selbst-)Verbotes – eben weil der zweifelhafte Überblick als rein menschlicher eine Funktion erhalten hat, die die Funktion der Gottesvorstellung bei der Bestimmung und Selbstbestimmung des Menschen übernehmen könnte. In diesem Moment, in dem die Funktion des göttlichen Wissens oder „Blickens“ eine Alternative erhält, kann es im vollen Sinne zum Privileg Gottes werden, kann der Verzicht auf den Blick von oben zum Ausdruck einer sich Gott annähernden Demut werden. Das alte Motiv der Heilsleiter, das Petrarca zunächst selbst verwendet, wird so verändert, insofern das Bild des Aufstiegs seine – im Sinne der christlichen Vorstellungen von Tugend und Demut – positive Deutbarkeit verliert. Die Erhöhung oder der erhöhte Ort als Bildspender einer Allegorie wurde von der Funktion des Blicks von oben überlagert, so dass ihre alte Form in Petrarcas Brief nur noch als (Selbst-)Zitat erscheinen kann, als vorübergehend zum Aufstieg motivierende Erinnerung an etwas Altes. Was bei Petrarca letztlich fehlt, ist das Bild der auf die demütige Selbsterniedrigung folgenden Erhöhung – eben weil das, was die Höhe als solche ermöglicht, gerade als Inbegriff der Selbsterhöhung aber auch der Selbstbestimmung erscheint. Bei ihm kann keine Rede mehr sein von einem „Gipfel der Demut“185, weil der Gipfel eine neue Funktion erhalten hat. Die Frage, die sich an dieser Stelle stellt, ist natürlich die, warum gerade bei Petrarca oder zu seiner Zeit der Blick von oben seine neue Funktion erhält. In Bezug 185 Wie bei Benedict: Regula Benedicta 7, 5.

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auf den Blick der Macht ist oben schon angedeutet worden, dass auch dieser als Blick von oben im 14. Jahrhundert in Erscheinung zu treten beginnt – wohl als Reaktion auf einen komplexer werdenden Herrschaftsbereich. Indem diesem nun die weitere Funktion des Blicks von oben als Blick der Selbstbestimmung hinzugefügt wird, kann vielleicht Weiteres zu dieser Antwort beigetragen werden: Offenbar erschwerten komplexer werdende Verhältnisse nicht nur die Beherrschung bestimmter politischer Zusammenhänge, sondern auch das Verständnis der eigenen Person, des eigenen Lebens als in nachvollziehbaren Kontexten platzierte Einheit. In beiden Bereichen konnte der Überblick auf die aufkommenden Mängel reagieren, indem er sie als behoben darstellte. Auch Petrarca nutzte ihn vielleicht in der ersteren Weise, als Blick der Macht, durch den der zu beherrschende, in sich gespaltene Bereich als Einheit erscheinen konnte: In seinem Gedicht Italia, mein Vaterland nährt sich das lyrische Ich über die Alpen dem Vaterland, dem es (wie Petrarca) zuvor fern wahr. Ähnlich wie der Zustand der Größe, den der Autor in diesem Text beschwört, ist auch der der Einheit des „Vaterlandes“ – sehr zu Petrarcas Missfallen186 – alles andere als Realität. Von den Bergen herab betrachtet erscheint der zerspaltene und in sich zerstrittene Bereich aber als ganzer: „Von hohem Bergesrücken / Der grünen Alm zu Füßen hingestreckt / Erschau’ ich dich mit jubelndem Entzücken!“. Das politische Engagement Petrarcas für die Herstellung der Einheit Italiens legt nahe, dass dieses „jubelnde(m) Entzücken“ eben auch daher rührt, dass das Vaterland durch den Blick von oben in seiner imaginären politischen Einheit und damit Größe überschaut werden kann – zumal es ja tatsächlich auch nur imaginär überschaut wird. Der reale Blick von oben wird hier wiederum zum Anlass eines Übergangs vom Raum zu einem abstrakteren Konzept und so wie der Blick vom Mont Ventoux diesen Übergang hin zur Erinnerung an die eigne (Lebens-)Zeit einleitete und ermöglichte, tut er es hier hin zu einer erhofften politischen Zukunft der italienischen Heimat. Karlheinz Stierle arbeitet heraus, wie sich im Werk Petrarcas immer wieder etwas äußert, was er die „Entdeckung der Vielheit“ nennt: eine neu sich bildende Haltung der Welt und der eigenen Person gegenüber, die beides als in sich komplexe Bereiche von letztlich nicht durch Zuordnung zu übergeordneten und unabhängig gegebenen Kategorien zu verstehenden Einzelheiten wahrnimmt. Grund für diese Haltung, so Stierle, sei vor allem der sich durchsetzende und eben auch auf die Wahrnehmung und ihre literarische Verarbeitung Einfluss gewinnende Nominalismus. Auch dies fasst er wieder in Abgrenzung zur „Welt“ Dantes:

186 Immer wieder bedrängt er den in Prag residierenden Kaiser Karl IV., nach Italien zurückzukehren, um die unklaren Kräfteverhältnisse zu nutzen, es militärisch zu vereinigen und wieder als ganzes zu beherrschen. Vgl.: Petrarca 1980, S. 105-127.

116 | D AS G ANZE IM B LICK „Die Welt, die sich noch bei Dante in grandiosen Bildern einer metaphysischen Ordnung darstellte, zerfällt in eine unendliche Mannigfaltigkeit, die die Frage nach der umgreifenden Ordnung illusorisch erscheinen lässt. Die Ordnung wird jetzt zur Leistung des menschlichen Geistes und seiner Konzepte, die freilich allein von praktischer Relevanz sind, ohne noch metaphysisch garantiert zu sein.“187

Zugleich mit diesen durch den menschlichen Geist etablierten Ordnungen wird so auch die Perspektive, der Standpunkt des je einzelnen reflektierbar als wechselnder Blick auf die Welt, „die sich ihm vor wechselnden Horizonten perspektivisch darbieten“.188 Wie auch diese Welt ganz allgemein, so zerfalle auch der Mensch – als Anderer oder aber als Selbst – in eine Menge solcher Mannigfaltigkeiten. Er stelle sich als Komplex dar, der sich nicht in seiner Zuordnung zu durch die göttliche Ordnung gegeben Kategorien erschöpft, der so aber auch nicht durch eine solche Zuordnung zu verstehen ist. Die Gespaltenheit seiner Person wurde Petrarca immer wieder auch bei dem Versuch bewusst sich für einen bestimmten Wohnort zu entscheiden. Sich auf einen Brief beziehend, in dem dieser seine Beziehung zu Vaucluse seinem einsamen Landsitz in Südfrankreich reflektiert, an dem endgültig sich niederzulassen er sich nicht entscheiden konnte, schreibt Stierle: „Wie später bei Montaigne, ist das Subjekt der Entscheidung, das eigene Ich, prinzipiell plural. Petrarca argumentiert hier gleichsam im Sinne einer neuen Anthropologie der Vielfalt: ‚Es mag mich jene Vielfältigkeit des menschlichen Geistes entschuldigen, die auch den Klügsten beherrscht und der fast unvermeidlich alle, bis auf jene Vollkommenen, die sich dem einen höchsten Gut geweiht haben, unterworfen sind […]‘“189

Auch hier spielt wieder der Gegensatz der beiden Lebenskonzepte seine Rolle, den Petrarca als Widerspruch in sich wahrnahm: Die ausschließliche Hinwendung zu Gott erscheint hier gleichsam als Heilmittel gegen die innere Gespaltenheit, als eines aber, das dem Autor selbst letztlich verschlossen bleibt. In seinem Falle muss der Widerspruch bestehen bleiben. Dieser Wahrnehmung der Komplexität des Subjektes entsprechend findet sich bei Petrarca auch der genaue, forschende Blick auf den Anderen, der Erkenntnis nur noch durch eine sich nicht an allgemeinen Kategorien orientierende Zurkenntnisnahme des jeweils gegebenen Einzelnen erreicht: „Unendlich mannigfaltig sind die Menschen und die Herzen sind einander nicht ähnlicher als die Gesichter.“190 In einem Brief an Boccaccio reagiert er auf dessen Nachricht, dass ein Bote zu ihm 187 Stierle 2003, S. 160. 188 Ebd.: S. 49. 189 Ebd.: S. 122 (zitiert wird aus Fam. XI, 12). 190 Petrarca, Fam I, 1.

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kommen werde, um ihm die Weissagungen eines gewissen Petrus von Siena zu überbringen, der Boccaccio zuvor mit der Nachricht beunruhigt hatte, er habe seinen nahen Tod vorausgesehen. In diesem Schreiben nimmt Petrarca den genauen und auch die kleinste Einzelheit erforschenden Blick voraus, der diesen Boten empfangen wird: „Dann erst werde ich sehen, wie viel Glauben er bei mir zu finden Aussicht hat. Alles nämlich wird zum Rate aufgerufen werden: das Alter des Mannes, sein Gesicht, seine Augen, sein Benehmen, seine Haltung, seine Bewegungen, sein Gang, seine Art zu sitzen, selbst seine Stimme und seine Art zu reden, vor allem aber die Bündigkeit seiner Schlüsse und die hinter seinen Worten verborgene Absicht.“191

Dieser genaue Blick auf den Anderen reagiert hier offenbar auf die sich zuletzt zeigende grundsätzliche Voraussetzung, dass dieser Andere sein eigentliches Wesen verbirgt. Sein Äußeres ist eine Oberfläche, die erst bei genauer und scharfsichtiger Betrachtung Schlüsse über das verborgene Innere zulässt. Hier wird an der vorwegnehmenden Schilderung eines ganz alltäglichen Blicks deutlich, wie die Auflösung der Verlässlichkeit der göttlichen Sozialordnung den Blick als Mittel der Erkenntnis des Anderen aufwertet. Den Einzelnen und das Einzelne an ihm genau zu sehen, das wird in dem Moment nötig, in dem die Ordnung als Leistung des menschlichen Geistes erscheint, und somit nicht mehr als verlässliches Mittel der Einordnung des Subjektes, wie dies für Berthold von Regensburg z.B. noch ganz selbstverständlich war. Man könnte also – ganz im Rahmen der Metapher bleibend – formulieren: Petrarcas Blick reagiert auf die Undurchsichtigkeit der eigenen und fremden Person in einem unübersichtlicher gewordenen Kontext. Diesen Kontext metaphorisiert er verräumlichend wiederholt als „Labyrinth“192 – nicht zuletzt als dasjenige der verderbten Stadt (Avignon) – und entsprechend ist das metaphorische Mittel der Selbstkontextualisierung u.a. der Blick von oben. Gerade das Bedürfnis der Selbstbestimmung des als komplex, als problematisch erlebten Subjekts ist es also, das in diesem Blick ein Mittel findet. Er wird zum Medium der Selbstbestimmung des Menschen und trägt daher das Stigma der Anmaßung gegenüber Gott. Er trägt dieses Stigma dagegen nicht, weil er unmittelbar die Übernahme einer göttlichen Perspektive darstellen würde, den Bruch eines bereits etablierten Privilegs. Die grundsätzliche und konfliktträchtige Vergleichbarkeit der menschlichen und göttlichen Wahrnehmungsweise innerhalb der Logik der Metapher vom Überblick hat dessen Funktion als Mittel gegen das Problem der Selbstbestimmung, Selbstfindung sicherlich zur auch historischen Voraussetzung; es gibt in Petrarcas Brief aber keinerlei Hinweis darauf, dass sich der Blick von oben bereits in dieser unmittelbaren Weise 191 Pertarca 1980, S. 148. 192 Stierle 2003, S. 70.

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als verbotener Blick der Hybris darstellte. Für Ruth Groh wird dieser Umstand zum Anlass, überhaupt zu bestreiten, der Blick von oben habe in diesem Text eine Bedeutung, die etwas mit der durch ihn ermöglichten ästhetischen Erfahrung zu tun habe. Sie richtet sich dabei direkt gegen die Interpretation Stierles. In Bezug auf die Textstelle, in der Petrarca seine erste „Betäubung“ äußert, heißt es bei ihr: „Denn wer nun erwartet, dass er seiner Ergriffenheit, seiner ästhetischen Faszination durch den Anblick der weiten Landschaft Ausdruck verleiht, sieht sich getäuscht. Dreimal ändert er seine Blickrichtung auf die Landschaft. […] Jedesmal benennt oder beschreibt er kurz und äußerst nüchtern, was er sieht, bzw. was er nicht sieht und wendet sich dann unverzüglich dem Innenweltdiskurs der memoria zu: der Erinnerung an Gelesenes und Gelebtes, an Raum und Zeit seiner eigenen Lebensgeschichte. […] Sein Blick nach unten ist nicht der Herrscherblick des selbstermächtigten Individuums auf die Welt, die ihm zu Füßen liegt. Wenn Petrarca sich überhaupt dessen bewusst war, dass der Blick nach unten den Bruch eines Tabus bedeuten konnte, dann hat er seinem Brief-Ich diesen Blick jedenfalls nicht freigegeben.“193

Sicherlich ist diese Einschätzung richtig, sofern man unter jenem „Herrscherblick“ einen eigentlich Gott zukommenden Überblick über die Welt versteht, der Ausdruck einer Macht ist, die dem Menschen nicht zukommt. Gerade der von Groh beschriebene Übergang von der Beschreibung des von oben Sichtbaren zum „Innenweltdiskurs“ zeigt aber, dass die Eigenschaften des Überblicks, die durch ihn etablierte Wahrnehmungssituation durchaus eine besondere und für die allegorischen Verhältnisse des Briefes unverzichtbare Bedeutung erhält. Der Gegenstand der Selbstermächtigung des Individuums ist nur nicht so sehr die Welt oder die „Landschaft“, als ob sie in ihrer späteren ästhetischen Wahrnehmung vorweggenommen wäre, sondern das Selbst als solches. In den Worten Jacob Burckhardts ist das Thema des Überblicks bei Petrarca vielleicht eher eine am Selbst vollzogene Reflexion des „Ruhm(s) in der Topographie“194 als die „malerische Bedeutung einer Landschaft“.195 Sucht man in diesem frühen Auftreten des Überblicks immer nur das spätere Phänomen der „ästhetischen Landschaft“, der „sentimentalischen“ Wahrnehmung von Welt, so scheint der Überblick bei Petrarca – dem dieses Element tatsächlich fehlt – relativ bedeutungslos, gleichsam ein zufälliges Mittel, einem der memoria entgegengesetzten Blick auf die Welt überhaupt literarisch darzustellen. So gerät aber aus dem Blick, dass dieser Überblick bei ihm eine in ihm selbst als solchem liegende Möglichkeit metaphorisch nutzbar macht, die vielleicht nichts mit dem Phänomen der „Landschaft“ zu tun hat, die aber ein in der Funktionsgeschichte des Überblicks wichtiges Element darstellt. Groh ist also Recht zu 193 Groh 1996, S. 38f. 194 Burckhardt 2004, S. 177ff. 195 Ebd., S. 327f.

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geben, wenn sie zu Petrarcas Brief konstatiert: „Rein ästhetische Naturerfahrung ist nicht sein Thema, weil sie nicht sein Problem ist“.196 Andererseits folgt daraus in keiner Weise, dass dem Blick von oben bei Petrarca keine Funktion zukäme. Vielmehr ist seine Bedeutung für die Selbstkontextualisierung – und diese ist eben sein Problem – unabhängig vom späteren Konzept der „ästhetischen Naturerfahrung“. Allenfalls kann umgekehrt diese Funktion die ästhetische Wirkung einer Landschaft begründen, könnte sie als implizit wirksames Interesse in dieser ästhetischen Erfahrung erscheinen. So ergibt sich entgegen dem von Groh Behaupteten, durchaus eine Verbindung zwischen diesem Blick und dem laut ihr eigentlichen Thema seines Briefes, dem Lebensproblem des Dichters als zwischen der Hinwendung an den dichterischen Ruhm und an das in der Hinwendung zu Gott liegende Heil Schwankender: „Das Brief-Ich betrachtet die äußere Natur vor allem aus der moralphilosophischen Perspektive seines Lebensproblems. Und aus dieser Perspektive wird Natur in ihrer konkreten, sinnlich erfahrbaren Gestalt unwichtig gegenüber ihrer Funktion als Zeichen für alles bloß Irdische und damit zur festen Chiffre in einem moralphilosophischen Diskurs.“197

Es mag dies für die ästhetische Erfahrung des von oben übersehenen Einzelnen gelten – für den Blick als solchen und dessen besondere Eigenschaften, die ja nicht zuletzt bestimmen, wie die „sinnlich erfahrbare Gestalt“ der Natur sich seinem Subjekt darbietet, gilt es sicherlich nicht. Eine feste Chiffre eines moralphilosophischen Diskurses ist der Blick von oben auf die Welt bei Dante, eben jener Blick auf das „bloß Irdische“, der ihm im höchsten Fall ein Lachen entlockt. Bei Petrarca werden die in der erhöhten Perspektive vom Berg liegenden Eigenschaften des Blicks metaphorisch nutzbar gemacht – und dies scheint zumindest in der Literatur zuvor nicht der Fall gewesen zu sein. Damit hat man es bei Petrarca aber zugleich mit einer neuen Bedeutung der Perspektive zu tun: Indem der ausdrücklich durch einen bestimmten Blickpunkt bestimmte Blick eine von göttlicher Vermittlung unabhängige Funktion für den Menschen erhält, der sich mit seiner Wahrnehmung der in unübersichtliche Vielheit differenzierten Welt und seinem Ort in ihr auseinandersetzt, etabliert sich ein unabhängiger und in seinen Eigenschaften reflektierter, als menschlicher aber auch begrenzter und flüchtiger Blick: „Das Ganze der Landschaft ist nicht ein Abglanz des Kosmos, sondern das instabile, kontingente, prekäre Ganze als Konstitutionsleistung des subjektzentrierten Blicks, in dem das Viele in momentaner Evidenz in die Schwebe kommt.“198

196 Groh 1996, S. 53. 197 Ebd.: S. 47. 198 Stierle 2003, S. 296.

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Perspektivität und der Blick Gottes in der Philosophie des Nicolaus Cusanus Wird bei Petrarca die perspektivische Gebundenheit des menschlichen Blicks mehr vorgeführt, mit der Folge der metaphorischen Nutzbarmachung des Blicks von oben literarisch evoziert, so erfährt sie in der Philosophie des Nicolaus von Kues eine frühe ausdrückliche Reflexion. Die Perspektivität des Blicks in wörtlichem und vor allem metaphorischem Verständnis erhält in den Texten des spätmittelalterlichen oder bereits der frühen Renaissance zuzurechnenden Kardinals eine Bedeutung, vor deren Hintergrund bestimmte spätere Ausgestaltungen des Verhältnisses zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Blick verständlich werden. Diese Ausgestaltungen, werden sich, wie auf dem Gebiet der Philosophie z.B. noch an Leibniz zu zeigen sein wird, die Metapher eines göttlichen Überblicks und eines auf die eine oder andere Weise an diesem Anteil erhaltenden menschlichen Blicks zunutze machen. In der Philosophie des Cusanus taucht die Metapher eines göttlichen Blicks von oben dagegen nicht auf – und zwar weil die philosophischen Konsequenzen, die er aus seiner Reflexion auf die perspektivische Gebundenheit menschlicher Erkenntnis zieht, eine Perspektive Gottes überhaupt ausschließen. Erst eine teilweise „Zurücknahme“199 dieser Konsequenzen konnte die Nicht-Perspektivität göttlicher Erkenntnisweise bei Cusanus in eine Über-Perspektive Gottes verändern. Dies geschah schließlich vor dem Hintergrund des kopernikanischen Weltbildes, das im Verhältnis zu Cusanus’ nicht-zentrierem Universum zunächst als Neuzentrierung zu denken wäre200 – besonders in Verbindung mit Auffassungen des Universums, die dieses als nach außen hin begrenzten Bau oder als Maschine metaphorisierten und so bestimmte Folgen einer (konsequenten) Annahme seiner Unendlichkeit oder doch Unbegrenztheit umgingen. So kann aber ein Hinweis auf die cusanische Philosophie die Probleme klar machen, mit denen es die theologisch-philosophische Debatte, aber eben auch die künstlerische Produktion und das alltägliche Selbstverständnis der Menschen mit der Auflösung der Fraglosigkeit der Schöpfungsordnung zu tun bekam. Folge der Auseinandersetzung mit diesen Problemen war eben unter anderem die Vorstellung eines der menschlichen Perspektive im Unten entgegengesetzten göttlichen Blicks von oben, durch den die gleichsam in verschiedene Perspektiven aufgelöste Einheit der Welt in einer dem menschlichen Erkenntnisakt vorausgehenden und von ihm vorausgesetzten Synthese restituiert wurde. Diese Vorstellung verschob sich zudem im Laufe der Zeit in Richtung einer immer allgemei199 Es handelte sich natürlich nicht im eigentlichen Sinne um eine Zurücknahme – Cusanus zog seine weitreichenden Schlüsse auf anderer Grundlage als später z.B. Kopernikus, der mit ihm kontrastiert in gewisser Hinsicht weniger radikal erscheint und dem Universum seine begrenzte Gestalt und sein Zentrum belässt. Vgl.: Koyré 1969, S. 18. 200 Vgl.: Harries 2001, S. 33.

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ner werdenden Säkularisierung dieser Perspektive zugunsten des einzelnen, nicht durch eine besondere Machtposition bereits „herausgehobenen“ Subjektes. In gewisser Hinsicht könnte man die cusanische Philosophie als aus einer Verbindung zweier grundlegender Voraussetzungen hervorgegangen betrachten: der alten der Unendlichkeit Gottes und der neuen der perspektivischen Gebundenheit der menschlichen Erkenntnis.201 Die Unendlichkeit Gottes ist in diesem Zusammenhang bereits als zeitliche in dem u.a. den Lebensrädern zugrundeliegenden Aeternitas-Gedanken begegnet. Dieses Konzept einer alles Nacheinander in einer überzeitlichen „Gegenwart“ einfassenden göttlichen Ewigkeit wurde von Cusanus über die Zeit hinaus auf alle denkbaren Aspekte zugleich ausgedehnt, auf das Universum mithin. Die Reflexion auf die Perspektivität menschlicher Erkenntnis, auf ihre nicht umgehbare Gebundenheit an ein bestimmtes Subjekt und dessen Wahrnehmungsmöglichkeiten und verstandesmäßige Eigenschaften war auch für Cusanus noch neu. Der seit längerem etablierte Nominalismus in der Philosophie hatte solche Reflexionen auch vorher schon begünstigt, mit Beginn der Renaissance erhielt der Gedanke eines unabhängigen aber auch notwendig begrenzten menschlichen „Blicks“ aber allgemeine Bedeutung für viele Bereiche – mit der Folge einer klaren Trennung der göttlichen und menschlichen Erkenntnisform. Dies befestigte einerseits bestimmte Erkenntnisprivilegien Gottes – oft auch um den Preis zumindest der Denkbarkeit der Offenbarung der göttlichen Wahrheiten im überkommenen Sinne. Andererseits säkularisierte es aber den (beschränkten) Bereich menschlicher Erkenntnis, befreite es ihn in seiner reflektierten Begrenzung von jeder Vermittlung der auf ihm Transzendentes verweisenden Offenbarung.202 In der Philosophie des Cusanus geschieht dies bis zu einem gewissen Punkt – wobei letztlich der unabhängig gewordene und in seiner Beschränktheit reflektierte menschliche „Blick“ gewissermaßen wieder „eingefangen“ wird, zurückgebunden an die von ihm vorausgesetzte göttliche Anschauungs-, Erkenntnis- und Seinsform, so dass einerseits jeder Blick als im absoluten Blick Gottes enthalten erscheint, andererseits jedes menschliche Subjekt demgemäß als an der Tätigkeit Gottes beteiligt, als zweiter Gott, als alter deus. In ihren Konsequenzen besonders deutlich formuliert erscheint die cusanische Reflexion der Perspektivität in den berühmten kosmologischen Überlegungen im elften und zwölften Kapitel des zweiten Buches der „docta ignorantia“. Diese Überlegungen zur konkreten Perspektivität des irdischen Beobachters, die jede Zentrierung des Universums als kontingente und vom jeweiligen Betrachterstandpunkt abhängige erscheinen lassen, ergeben sich für Cusanus aus seinen Reflexionen über die Unendlichkeit und Einheit Gottes und seiner Theorie der „Entfaltung“ des Uni201 So z.B. Harries: ders. 2001, S. 62. 202 Z.B. Jakob Böhme wird später seinen überaus unbescheidenen Wissensanspruch gerade mit einer solchen Offenbarung begründen, so dass er neben der Zugabe einer begrenzten menschlichen Erkenntnisfähigkeit stehen kann.

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versums aus der alles immer schon in sich „einfaltenden“203 Einheit, des Universums als unendlichem Abbild der unendlichen Einheit. Auch ohne bereits auf die in seiner Philosophie (nicht etwa in empirischen Beobachtungen) liegenden Gründe einzugehen, die Cusanus für diese weitreichende Folgerung hatte, wird unmittelbar klar, dass sie zu einer Auflösung der hierarchischen Ordnung des aritotelischptolemäischen Weltbildes führen musste. Sie geht von einem in räumlicher Hinsicht unbegrenzten (nicht im späteren Sinne unendlichen) Universum aus, in dem es keinen festen, unbewegten Punkt, kein Zentrum gibt. Dem cusanischen Weltbild fehlt ein solches Zentrum sowohl im Sinne eines Mittelpunktes eines endlichen und ideal-kreisförmigen Universums als auch im Sinne eines ruhenden Punktes in Bezug auf den Bewegung absolut bestimmbar wäre: „Es ist daher […] unmöglich, […] dass diese sichtbare Erde oder Luft, Feuer oder sonst irgendetwas das feste und unbewegliche Zentrum bilde. Denn man kommt in der Bewegung auf kein schlechthin Kleinstes, wie z.B. ein fixes Zentrum, […]. Die Welt hat daher keine Peripherie; hätte sie Zentrum und Peripherie, so hätte sie ihren Anfang und ihr Ende in sich selbst, die Welt wäre in Bezug auf ein anderes begrenzt, außer der Welt wäre ein anderes und ein Raum – , Sätze, die alle der Wahrheit entbehren.“204

Die Erfahrung des Zentrums, das im aristotelischen Weltbild umgesetzte Erlebnis des Menschen, im oder über dem unbewegten Zentrum zu stehen, um das sich das andere auf ewig unveränderliche Weise bewegt, muss demgemäß auf einer Täuschung beruhen, die in einer mangelnden Reflexion auf die perspektivische Gebundenheit des menschlichen Blicks, in mangelnder Reflexion auf die Bedingungen der Wahrnehmung liegt. Das Zentrum ist ein vom jeweiligen Wahrnehmungssubjekt abhängiges, „und wo immer einer steht, glaubt er, er sei im Zentrum“.205 Mit der Zurückweisung eines absoluten Zentrums des Universums fallen aber weitere Implikationen des christlich überformten antiken Weltbildes: Die ontologische Unterscheidung zwischen den sub- und translunaren Sphären macht keine Sinn mehr: Die Erde ist ein Stern unter anderen; so wie sie ihren Bewohnern im Mittelpunkt zu stehen scheint, wird es auch den Bewohnern der anderen Planeten ergehen.206 Auch die entsprechende ontologisch fundierte Hierarchie muss somit zu203 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit vor allem: docta ignorantia, II, 3; Die Metapher des complicere drückt in besonderer Weise aus, dass das von der einzelnen Falte bedeutete Einzelne als solches immer schon im Ganzen (des gefalteten Stoffes o.ä.) ist. 204 Ebd.: II, 11. 205 Ebd. 206 Vgl.: ebd.: II, 11, 12; natürlich war allein die Annahme es gebe solche mit den Menschen vergleichbaren Bewohner der anderen Planeten mit dem ptolemäischen Weltbild keineswegs vereinbar.

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rückgewiesen werden: Die Erde ist nicht durch ihre „Niedrigkeit“, ihre Veränderlichkeit und Vergänglichkeit, ihre Unvollkommenheit von den anderen Sternen unterschieden. Sie ist nicht ein Gott am fernsten liegender Bereich, dessen Zentrum, wie bei Dante gesehen, Zentrum und Quell der Sünde ist, sie ist vielmehr ein „edler Stern“207, der mit allen anderen Sternen in wechselseitiger Beeinflussung steht. Diese Dezentrierung des Weltbildes geht in gewissem Sinne über diejenige der zunächst die Sonne ins Zentrum setzenden der „kopernikanischen Wende“ hinaus, insofern diese die Erde als Mittelpunkt und Maßstab der Bewegungen ersetzten kann und zumindest Kopernikus noch von einer idealen Kreisbahn der Planeten um diesen Mittelpunkt ausging. Andererseits bereitet Cusanus Kopernikus keineswegs vor oder nimmt ihn gar vorweg. Er argumentiert auf anderer Grundlage als der spätere Astronom, zudem löst der das ptolemäische Weltbild nicht in der Hinsicht auf, dass er beispielsweise vom Gedanken der Sphären grundsätzlich abginge. Er nimmt vielmehr den einzelnen Elementen dieses Weltbildes ihre ideale Gestalt und homogenisiert es gewissermaßen, indem er die in ihm herrschende objektive Hierarchie leugnet und als Effekt eines perspektivisch gebundenen Verstandes erklärt.208 So ist die in diesem Vorgang liegende Dezentrierung aber keineswegs in Jeder Hinsicht mit einer Herabsetzung des menschlichen Stolzes, mit einer ersten Demütigung der Menschheit zu verwechseln. Sie bedeutet in Bezug auf die Wertung des aus dem Zentrum Gerückten das genaue Gegenteil, insofern das Zentrum des Universums zuvor, der Logik der Entfernung von Gott folgend, als dessen „niedrigster“, unedelster Teil verstanden wurde.209 Andererseits würde sich aber vor allem nach Cusanus zeigen, dass in dieser Auflösung des alten Weltbildes die Gefahr lag, dass eine Aufwertung der Erde nur um den Preis einer Herabwürdigung des zuvor in seiner Seinsweise erhabenen translunaren Kosmos zu erreichen war und damit um den einer Auflösung des alten Bewertungsrahmens des hierarchischen Weltverständnisses überhaupt. Zudem lag in der Erkenntnis der Perspektivität des Anblicks des Himmels die Notwendigkeit, ältere Konzepte der Offenbarung zu revidieren: Wenn die Erde ein Stern unter Sternen ist, scheint es fragwürdig, ob der Himmel noch als das „Buch“ betrachtet werden kann, in dem der Mensch die ewigen göttlichen Wahrheiten lesen soll, wie wir diese Vorstellung in ihrer volkstümlichen Ausprägung bei Berthold von Regensburg vorgefunden haben. Auch diese Aufgabe der Bezogenheit des Anblicks des Himmels auf den von ihr „gemeinten“ irdischen Betrachter sollte es ja sein, die später die physische Dezentrierung des irdischen Betrachters so problematisch werden ließ. Indem nun also durch Cusanus jene überkommene von der Position Gottes aus sich organisierende hierarchische Ordnung mit der wesentlichen Zentriertheit des 207 Ebd.: II, 11. 208 Vgl. Koyré1969, S. 27ff. 209 Vgl.: ebd. , S. 50.

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Universums abgelehnt wurde, musste zudem eine neue Form der Transzendenz Gottes entwickelt werden – und gerade diese stellt in ihrer Beziehung zur Begrenztheit des menschlichen Verstandes, zu dessen verstandesmäßiger Perspektive, den Kern der cusanischen Philosophie dar, seine Koinzidenzlehre. Gott ist nicht mehr im Universum platziert, das Universum ist vielmehr eine unendliche, nicht durch anderes begrenzte, wenn auch in ihrer Gebundenheit an die Materie beschränkte Entfaltung der unendlichen Einheit Gottes. Umkreis und Zentrum der Welt ist Gott, der demgemäß „überall und nirgends ist“.210 Cusanus entwirft zur Verdeutlichung dieses Gedankens eine ganze Reihe von Metaphern. Viele von diesen „Rätselbildern“ (aenigmae) bedienen sich auf für das Mittelalter typische Weise geometrischer Zusammenhänge. In seiner Schrift über das „Sehen Gottes“ werden aber in sehr differenzierter Weise mehrere optische Metaphern ausgebreitet, in denen sowohl die Perspektivität des menschlichen „Blicks“ als auch die metaphorische Funktion des göttlichen als absoluter, nichtperspektivischer zum Tragen kommen. Alle diese Bilder haben für Cusanus eine dem menschlichen Verstand unentbehrliche Funktion bei der Suche nach Gott. – Zugleich müssen sie aber an dem Punkt stets als ungenügend erscheinen, an dem dessen Wahrheit über die Verstehbarkeit für den Menschen hinausgeht. Verständlichkeit für den Menschen verhält sich immer relativ zu den unumgehbaren Funktionsweisen des Verstandes. Und in dieser Erkenntnis gehe seine Philosophie – so Cusanus – eben über diese Beschränktheit des Verstandes hinaus. Sie führe zu einem Wissen um die Grenzen des Wissens, zu gelehrter Unwissenheit, zur docta ignorantia. Vor diesem Hintergrund wird keine von Cusanus’ Metaphern von ihm als das Wesen Gottes abschließend positiv bedeutend verstanden worden sein. Andererseits meint er, dass etwas, was in einem solchen auf Gott bezogenen Bild erscheint, in Gott selbst nur als darüber hinausgehende Vollkommenheit gegeben sein kann. Die unendliche Vollkommenheit Gottes wird das vom Bild Bedeutete so enthalten – eine Metapher kann den menschlichen Verstand so weit an die Vollkommenheit Gottes heranführen, wie es ihm eben möglich ist.211 Jenseits dieser Möglichkeit bleiben Wahrheiten, die über Vorstellungskraft und Verstehbarkeit hinausgehen, die in diesem Sinne unverständlich, wenn auch durch die über den Verstand hinausgehende Vernunft formulierbar sind, in deren Medium dessen Grenzen reflektiert werden. Die zentrale Metapher der Schrift de „visione die“ bezieht sich auf eine Erfahrung mit jenen Bildnissen Gottes, die dessen Antlitz und Blick frontal erfassen: Wenn sie gut gemalt sind, scheint der Blick des Herrn dem sich im Raum bewegenden Betrachter zu folgen. So ruht dieser Blick auf den Betrachtern, ganz gleich wo sie stehen. Er ruht zudem zugleich auf verschiedenen Betrachtern, die sich an verschiedenen Orten befinden, ohne dass er sie je verließe, wenn sie sich im Raum bewegen: 210 Ebd. 211 Vgl.: Cusanus, de visione dei, 1.

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„Er [der Betrachter, MR] wird also erfahren, dass das unbewegte Antlitz sich so nach Osten kehrt, dass es zugleich auch nach Süden gerichtet ist, nach einem Orte und allen zugleich, dass die Bewegung des Blicks auf einen und alle zugleich geht.“212

Diese Erfahrung ist es nun, die Cusanus metaphorisch auf die Beziehung der Erkenntnisweisen Gottes und des Menschen bezieht, um endlich letztere als in der alles umfassenden bzw. einfaltenden Koinzidenz der Gegensätze enthalten erscheinen zu lassen. Das Bild verdeutlicht dabei zunächst die Unabhängigkeit des reinen, in seinem Begriff erfassten, nicht in seiner Beziehung zu konkreten Sehwerkzeugen verstandenen Sehens von den Bedingungen, die einen konkreten Blick als solchen bestimmen: „[…] so begreife ich vollkommen, zum Wesen des Sehens gehöre es nicht, dass es mehr auf ein Objekt als auf ein anderes Rücksicht nehme, wiewohl dieses bei dem konkreten Sehen stets eintrifft, das während es auf das eine sieht, nicht zugleich auf das andere oder absolut auf alles sehen kann.“213

Das Sehen als solches, in seinem Begriff, ist nicht durch eine bestimmte Perspektive, eine Abhängigkeit von den zufälligen Eigenschaften der jeweiligen Sehwerkzeuge oder aber eine bestimmte Einstellung der Aufmerksamkeit einer bestimmten Seele eingeschränkt. Diese Einschränkungen machen vielmehr das konkrete Sehen jeweils aus, konkretisieren eben den Begriff des Sehens. Ein absolut uneingeschränktes Sehen aber – und Gottes Sehen wäre eben in einem noch über den Bildspender der Metapher hinausgehenden Maße vollkommen und unbegrenzt – muss letztlich mit Gott als der unendlichen Einheit zusammenfallen. Das absolute Sehen, die visio absoluta ist Gott, denn mehrere Unendlichkeiten, Unbegrenztheiten können nicht nebeneinander bestehen. Gottes Sehen enthält somit alle göttlichen Eigenschaften und Tätigkeiten, die durch den menschlichen Verstand nachträglich zu unterscheiden und zu benennen sind. Mit Beierwaltes: „Die einzelnen Akte sind die von der menschlichen Denkform und Sprache her zwar zu unterscheidenden, in ihm selbst aber zur Identität coincidierenden Aspekte oder ‚Seh-Weisen‘ des einen in sich einfachen Sehens.“214 So wie im Bild Gottes Blick also zugleich auf jedes Einzelne und damit zugleich auf das Ganze und das Einzelne geht, so tut dies auch seine Liebe, seine Schöpfung, seine Gnade, sein Sein, d.h. das Sein überhaupt, ja alle seine Attribute:

212 Cusanus, de visione dei, Vorwort. 213 Ebd, 1. 214 Beierwaltes 1989, S. 99.

126 | D AS G ANZE IM B LICK „Dein Sehen ist Lieben. Und wie dein Blick sich so aufmerksam mir zuwendet, dass er sich niemals von mir kehrt, so auch deine Liebe. Und weil deine Liebe immer bei mir ist, und deine Liebe, o Herr! nichts anderes ist, als du selbst, der du mich liebst, so bist du immer bei mir, o Herr! Du verlässest mich nicht, beschützest mich von allen Seiten, weil du die größte Sorgfalt für mich trägst. Dein Sein, o Herr! verlässt mein Sein niemals. Denn nur so weit bin ich, als du auf mich siehst, und wendest du deinen Blick von mir ab, so bin ich nicht mehr.“215

Hier ist also letztlich bereits jenes neue Konzept der Transzendenz Gottes im Bild seines alles enthaltenden und so auf alles gehenden Sehens umgesetzt: Gott ist, wie der allsehende Blick überall. – Im Sinne einer separaten, begrenzten und irgendwo platzierten Substanz ist er aber nirgendwo. Für die Beziehung des beschränkten menschlichen Blicks (d.h. seiner Wahrnehmung aber auch seiner Verstandestätigkeit) zum absoluten Sehen Gottes hat dies aber eine ganz bestimmte Folge: Der menschliche Blick ist ein durch seine perspektivische Gebundenheit bestimmter Teilaspekt216 des absoluten Sehens. Indem Gott die einzelne Kreatur sieht, schöpft er sie und in ihrem konkreten Blick blickt die sich selbst in der Kreatur beschränkende Unendlichkeit Gottes auf sich selbst zurück (als Objekt des Blicks). Der Blick und sein Objekt sind gleichermaßen innere Selbstbeschränkungen, Ausfaltungen der unendlichen Einheit, die sie beide – wie alle Gegensätze – umfasst. Der als perspektivischer, immer schon beschränkter reflektierte menschliche Blick wird so letztlich nicht als gänzlich unabhängig aufgefasst. Seine beschränkte Sicht der Welt erscheint nicht als autonom, er wird vielmehr zurückgebunden an die immer schon gegebene und alles einfaltende Synthese Gottes: „Du wirst also, mein Gott! Unsichtbar von allen gesehen und in jedem Blicke gesehen. Durch jeden Sehenden, in allem Sichtbaren, in jedem Akte des Sehens wirst du gesehen, der du unsichtbar bist […]“.217

In einer die Rede von der „Perspektive“ besonders nahe legenden Formulierung heißt es zuvor im vierten Kapitel:

215 De visione dei, 4. 216 Diese Formulierung ist in Cusanus Sinne allerdings problematisch: Das göttliche Sehen ist das unendliche Eine. Die Unendlichkeit kann aber keine Teile haben, kann nicht als quasi durch Addition von endlichen Teilen zusammengesetzt verstanden werden – es gibt zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen kein Verhältnis (vgl.: docta ignorantia II, 2). Cusanus Antwort auf dieses Problem ist letztlich seine Metapher von der Ausfaltung des Universums aus der Einheit – man müsste also eigentlich sagen: Der menschliche Blick ist im absoluten Sehen Gottes eingefaltet. 217 De visione dei, 12.

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„Denn dass unser Auge durch die Objekte seine Richtung erhält, rührt daher, weil unser Blick nur durch einen quantitativen Winkel sieht, dein Augenwinkel aber, o Gott! ist nicht ein quantitativer, sondern ein unendlicher, er ist ein Kreis, ja die unendliche Sphäre […].“218

So wie ein Kreis unendlich viele Winkel enthält, enthält die göttliche Sehform unendlich viele Blick-Winkel, faltet sie diese Unendlichkeit der konkreten Winkel in sich ein – umgekehrt formuliert faltet sich das Eine in der unbegrenzten Sphäre des Universums aus, das nachträglich im beschränkten und beschränkenden Blick des Menschen als Menge von Einzelheiten erscheint, bis die Vernunft die Einheit dieser Einzelheiten denkt. Dass dieser Gedanke offenbar in gewissem Sinne ein Bedürfnis nach Sicherheit erfüllte, dass er auf einen aufgetretenen, durch seine Dezentrierung des Kosmos von ihm selbst evozierten Mangel reagierte, scheinen mir Cusanus’ Formulierungen deutlich zu machen. Indem er mit den Konzepten der Unendlichkeit Gottes und der unumgehbaren Subjektgebundenheit des Verstandes ernst gemacht hatte, hatte er die alte Ordnung des Universums in Frage gestellt und ihm sein absolutes, fixes Zentrum genommen. Jede als solche erkannte Zentrierungsleistung des menschlichen Verstandes musste so zunächst als eine die subjektive Perspektive verobjektivierende Täuschung erscheinen, sofern sie das von ihr bestimmte Zentrum absolut setzte und Bewegungslosigkeit postulierte, wo Bewegung nur nicht wahrnehmbar war. Durch die neue, sich im absoluten Sehen bedeutende Transzendenz Gottes erfährt der Mensch aber eine bestimmte Form der Rezentrierung: Gottes liebender Blick ist immer schon bei jedem Einzelnen, schon insofern er ist. Und dass das Antlitz Gottes die Einzelnen alle zugleich sieht, ist keine Täuschung, sondern Konsequenz aus seiner Unendlichkeit und Einheit, in der alles Einzelne und damit auch alles Gegensätzliche immer schon aufgehoben ist. So entgeht die cusanische Philosophie trotz ihrer radikalen Dezentrierung des Universums einem Gedanken, der laut Blumenberg in der Folge der kopernikanischen Wende immer wieder zum Bewusstsein einer so oder so kompensierten „Entwertung“ des Menschen führte: „Die Betrachtung des Verhältnisses zwischen Mensch und Universum als einer quantitativ erfassbaren Proportion.“219 Wenn diese Proportion gegeben und denkbar erscheint, muss der Mensch im „Unendlichen das Nichtige“220 sein. Gerade in der Metapher des allsehenden göttlichen Blicks drückt sich der Umstand aus, dass Cusanus dieses Problem auf seine Weise löst – dass seine Dezentrierung der menschlichen Position im Kosmos und die Beschränkung seiner Erkenntnisfähigkeit dieses Problem gewisser Maßen möglich machten, dass er es aber als immer schon gelöst darstellen konnte: Das unendliche Eine steht in keiner Proportion zum einzelnen 218 Ebd. 219 Blumenberg 1996, S. 30. 220 Ebd.

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Begrenzten.221 Das göttliche Sehen ist als unendliches im konkreten Sehen, so wie es in allem ist und alles in ihm. Das Universum zugleich als unendlich zu denken und von einem relativ kleinen (und unbedeutenden) seiner Bestandteile zu sprechen, muss als Ausdruck jenes „quantitativen“ Seh-Winkels des menschlichen Verstandes gelten, über den die Vernunft in Annährung an das Unendliche ja gerade hinausgehen soll. Gott ist mit seinem Blick auf unverständliche Weise voll und ganz beim Kleinsten und beim Größen zugleich: „Er [der Betrachter der Ikone, MR] überzeugt sich auch, dass der Blick für das kleinste Geschöpf die größte Sorge wie für das größte und für das ganze Universum trägt.“222 Hinter dieser freudigen Auswertung der Metapher steht aber offenbar bereits die Möglichkeit der Sorge um die Dezentrierung jenes kleinsten Geschöpfes, vor allem des eigenen Selbst, das im Ausgang des Mittelalters immer mehr zu einem auch in seiner Singularität bedeutenden Gegenstand der Reflexion wurde. Auf diese Sorge reagiert Cusanus im Gegensatz zu späteren Philosophen und Künstlern nicht durch das Konzept eines göttlichen oder (wie bei Petrarca) menschlichen Überblicks – das hat seinen Grund aber einfach darin, dass der Blick des Allsehenden bei ihm negativ, als Sehen ohne jede Perspektive bestimmt ist. In diesem Punkt steht die cusanische Metapher der mittelalterlichen Rede vom „Auge“ Gottes noch sehr nahe – wenn auch gewisser Maßen aus einem teilweise neuen Grund: Die Metapher des Überblicks geht aus vom Blick von oben – und im radikal dezentrierten Universum des Cusanus gibt es kein „oben“, von dem Gott herabsehen könnte. Ein solches Bild hätte im Kontext seiner Philosophie keinen Wert. Besonders deutlich wird das in dem Moment, in dem er als eine in Gottes „Sehen“ eingefaltete Tätigkeit dessen Bewegen fasst: Gott ist mit seinem Blick stets bei jedem einzelnen Menschen, weil er sich mit ihm bewegt. Das dahinter stehende Bild ist das eines Subjektes des Blicks, das dem Gesehenen folgt, das gleichsam neben ihm geht: „Dies Sehen ist dein Bewegen; du bewegst dich daher mit mir, und hörst in deiner Bewegung nicht auf, solange ich mich bewege. Ruhe ich, so bist du bei mir; steige ich auf eine Höhe, so steigst du mit; steige ich herab, so steigst auch du herab: wohin ich mich wende, du bist dabei.“223

In der Logik der Metapher erfasst also Gottes Blick nicht jedes Einzelne und jeden Einzelnen zugleich, weil er den Raum, in dem sie sich bewegen, als ganzen von oben überblickt. Dem Blick Gottes bei Cusanus fehlt die Distanz, die ein solcher

221 Vgl. z.B.: docta ignorantia, II, 2. 222 De visione dei, Vorwort. 223 De visione dei, 5.

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perspektivische Blick von oben zunächst mit sich bringt.224 An dieser Stelle wird der Blick von oben in seiner metaphorischen Funktion aber spätestens dann einspringen, wenn, wie beispielsweise im Falle von Leibniz’ Monadologie, der Begriff des Universums durch den des „Welt-Gebäudes“ wird übersetzt werden können.225 Es wird dann verstanden werden als Bau, der zum Kleinsten bzw. Größten hin zwar unendlich teilbar bzw. zusammengesetzt ist, in dem es aber dennoch dem Verstand zugängliche objektive Proportionen gibt, in Bezug auf den von einem bestimmten und als solchem gleichsam nach außen hin endlichen Welt-Bau die Rede sein kann (während andere mögliche Bauten nicht sind). Entsprechende Fassungen des Unendlichkeitsgedankens entschärfen diesen in der Richtung, in der dies beispielsweise eine von Blumenberg zitierte Passage aus Maimons philosophischen Wörterbuch von 1791 tut, sie verweisen nämlich den vor dem Unendlichen gleichsam nur noch (wenn auch notwendig) quantitativ scheiternden menschlichen Verstand an eine ihm eben auch nur quantitativ überlegene Instanz: „Erhaben ist das Unendlichgroße, wozu wir uns in unsern Gedanken immer nähern, das wir aber nie völlig erreichen können.“226 Vor diesem Hintergrund und vor demjenigen weiterer noch zu benennender Veränderungen wird der Blick von oben als alles erfassender metaphorischen, auch von der künstlerischen Praxis der Zeit gestützten Sinn machen: bei Leibniz als Blick von oben auf eine ganze Stadt, die von einem unten in ihr platzierten Subjekt nur in Ausschnitten gesehen wird, die sich aber gleichsam additiv zu einem Gesamtbild des Gebäudekomplexes zusammenfügen ließe – was sie im Blick Gottes auch ist.227 Neben dem Bild der alles sehenden Ikone sollte zumindest eine weitere optische Metapher in „de visione die“ hier Erwähnung finden – u.a. weil Leibniz sie später ebenfalls in vergleichbarem Zusammenhang zur Darstellung der Erkenntnisweise seiner Monaden verwenden wird: Ausgehend von einer Kennzeichnung des Auges als Spiegel fasst Cusanus das Sehen Gottes als ein Sehen in sich: Gottes Auge ist ein alles erfassender Spiegel und zugleich ist Gott sein Auge. Gott spiegelt also in sich alles und erfasst alles unmittelbar, insofern er es spiegelt – eine neue, den optischen Hintergrund des Bildspenders betonende metaphorische Umsetzung des alten, schon bei Thomas begegneten Gedankens, dass Gott alle „Dinge in sich selbst“228 schaut. Im menschlichen Sehen dagegen sind Auge und Sehen unter224 Bevor, wie noch zu zeigen sein wird, dieses Problem durch eine mediale Verschaltung verschiedener Blicke, die jenen einleitend erwähnten und benannten Blick nach unten ermöglicht, als behoben dargestellt wird. 225 Durch Heinrich Köhler; vgl.: Leibniz 1996. 226 Blumenberg 1981, S. 76. 227 Ich werde auf die entsprechende Stelle in § 57 der Monadologie zurückkommen: Vgl. das Kapitel „Die Karte in der Kammer“ in dieser Arbeit. 228 Thomas v. A., Summa Theologica, I 14, 8.

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schieden. Wir haben Augen, wir sind nicht unsere Augen. Im Falle der menschlichen Wahrnehmung muss sich das Subjekt also dem im Auge Gespiegelten nachträglich gleichsam zuwenden, um nacheinander Bestimmtes im Spiegelbild zu erfassen: „Die Gestalten von allem sind in dem Spiegel des Auges. Weil aber unser Blick mittels des Auges als Spiegel nur den einzelnen Gegenstand sieht, dem er sich zuwendet, da seine Sehkraft durch das Objekt determiniert ist, so sieht er nicht alles, was der Spiegel des Auges zu erfassen vermag. Dein [Gottes, MR] Blick aber, der ein lebendiger Spiegel ist, sieht in sich alles, ja wie er die Ursache alles Sichtbaren ist, so erfasst und erschaut er alles in der Ursache und dem Grunde von allem, d. i. in sich selbst.“229

In letzterer Bemerkung ist wiederum das Konzept der Koinzidenz der Gegensätze enthalten, um das herum Cusanus gewissermaßen seine Metaphern auffährt: In Gottes Sehen fallen alle seine Aspekte und Akte, fallen Schaffen und Erfassen, fallen auch das Subjekt der Erkenntnis mit deren Objekt zusammen. Hier ist nun aber der Punkt erreicht, an dem nur noch die Beschränktheit der Metapher und des stets an die Bedingungen seiner Repräsentationstätigkeit gebundenen menschlichen Verstehens überhaupt konstatiert werden kann. Der menschliche Verstand muss, um zu verstehen, stets das Unbekannte am Bekannten – also letztlich an sich selbst – messen. Der an den Maßeinheiten des sich entwickelnden Marktkapitalismus und wohl auch an den neuen mathematisch-praktischen Grundlagen der bildenden Kunst (mit 229 Ebd.: 8.. In seiner kleinen Schrift „Über das Gottsuchen“ (de quaerendo deum) wird Cusanus in seinen optischen Grundlagen noch deutlicher: Zwar geht er grundsätzlich davon aus, der Gesichtssinn funktioniere als aufnehmender, er weist aber zugleich darauf hin, dass es zunächst einen zweiten „Sinn“ geben müsse, der durch den Augennerv zum aufnehmenden Teil des Auges hinabsteigt, um eine zunächst undifferenzierte Wahrnehmung ins Gehirn zu leiten. Innerhalb dieser müsse dann ein „höherer“ Sinn unterscheiden, um die Wahrnehmung dadurch bewusstseinsfähig zu machen: „Es ist nicht der Gesichtssinn, der den Farben die Namen gibt, sondern der Geist im Gesichtssinn. Der Sinn, der durch die Augennerven aus dem Gehirne in das Auge herabsteigt, erhält durch ein vorgehaltenes Objekt einen Anstoß, und es entsteht eine verworrene Wahrnehmung. Die animalische Kraft kommt durch diese Wahrnehmung in eine Art Erstaunen, und sie bestrebt sich nun zu unterscheiden. Also nicht der Gesichtssinn an sich unterscheidet, sondern ein höherer Sinn bewirkt das Unterscheiden.“ (Cusanus 2005, S. 214). Das zweite, „höhere“ Licht, das zur Wahrnehmung neben dem natürlichen, von außen ins Auge fallenden Licht notwendig ist, ist nach Cusanus das des „Verstandes“. Es ist also letztlich bereits die Trennung zwischen Auge und Verstand als solche, die bewirkt, dass nicht alles was im Spiegel des Auges erscheint, auch in unserer Wahrnehmung sein kann.

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Dürer: der Kunst des „Messens“230) orientierte Begriff des Maßes wurde so zentral für die Konzeptionen des Verstandes, der Sinne und der Vernunft. Besonders deutlich führt Cusanus diesen Gedanken in seiner kleinen Schrift „de beryllo“ aus, indem er sich dabei auf das Diktum des Pythagoras bezieht, der Mensch sei das „Maß aller Dinge“: Die Dinge selbst können als solche keinen Eingang finden in die Sinne oder den Verstand. Sie werden vielmehr nach dem Prinzip der Ähnlichkeit in ihnen repräsentiert und wie ein Maß die Ähnlichkeit des Gemessenen ist, messen die seelisch-geistigen Vermögen des Menschen die ihnen jeweils entsprechenden Dinge: „Daher findet der Mensch in sich gleichwie in einem messenden Wesensgrund alles Geschaffene.“231 So wie das Maß und das Gemessene aber immer und notwendig eine Differenz trennt, so kann auch der Verstand die Wahrheit der Dinge nie absolut treffen: „Der endliche Verstand kann mithin die Wahrheit der Dinge durch Aufsuchen der Ähnlichkeit nicht präzise erkennen.“232 Die Metapher des unendlichen, alles in sich selbst sehenden Spiegels kann so – wie die Metaphern überhaupt – letztlich nur bis zu der Erkenntnis führen: „Man muss daher, was Sinn, Einbildung oder Verstand darbieten, aufgeben, um zu der einfachsten und abstraktesten Vernunfteinsicht zu gelangen: Alles ist Eines.“233 Nimmt man an, ein Kernpunkt der cusanischen Philosophie bestehe darin, dass sie den auf diese Weise in seiner Beschränkung und Subjektivität reflektierten menschlichen Blick an eine göttliche „Blickform“ zurückbindet, die den durch diese Perspektivierung des Blicks gefährdeten Zusammenhang des Ganzen und des Einzelnen mit dem Ganzen gewährleistet, so ist in dieser Formulierung bereits vorausgesetzt, dass die hierin liegende Differenzierung der menschlichen und göttlichen „Blickform“ zunächst von einem unabhängigen und gerade in seiner perspektivischen Gebundenheit selbstwertigen menschlichen Blick ausgeht. Und tatsächlich drückt sich in der Philosophie des Cusaners etwas aus, was im Folgenden von großer Bedeutung sein wird, auch von Bedeutung für die Entgegensetzung des menschlichen Blicks im Unten und des göttlichen von oben, nämlich eine Säkularisierung des Sichtbaren. Gerade in der Erkenntnis, dass der menschliche Verstand als „mes230 Sein entsprechendes Lehrbuch war bekanntlich „Unterweysung der Messung“ betitelt. 231 Cusanus, de beryllo, 5. Ein epistomologischer Skeptizismus im späteren Sinne entwickelt sich hier wohl nur deswegen nicht, weil Cusanus sich auf den Begriff der Ähnlichkeit verlässt: Verstandesmäßige Repräsentation funktioniert für ihn wesentlich durch Ähnlichkeit – dieser Begriff wird also vorausgesetzt und nicht weiter hinterfragt. Wenn die Repräsentation als solche notwendig ähnelt, gibt es das, dem sie ähnelt, notwendig – auch wenn es immer nur in der Annährung von Maß und Gemessenem verstanden werden kann. 232 Docta ignorantia, I, 3. 233 Ebd., I,10.

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sender Wesensgrund“ die verstehbaren Dinge in sich trägt, drückt sich dessen neue Unabhängigkeit aus: Indem sie als notwendig beschränkt verstanden werden, können die Sinne und der Verstand ihre Verbindung zu den göttlichen Wahrheiten und ihrer Offenbarung gleichsam abtrennen und als solche in ihrer Beschränkung autonom werden. Grund der Beschränkung ist es, dass der Mensch das Maß der Dinge in sich selbst trägt – und genau dies befreit seinen „Blick“ im begrenzten Bereich seiner Wirksamkeit zugleich von einem ihm übergeordneten Maß. Die Rückbindung dieser unabhängigen Erkenntnisleistung von Verstand und Sinnesvermögen an eine sie übersteigende Wahrheit ist Leistung der Vernunft. Diese Wahrheit aber – die jede verstandesmäßige Erkenntnis, insofern sie als Annährung an die Dinge in der Ähnlichkeit verstanden wird, übersteigt – ist Voraussetzung der menschlichen Erkenntnis. Die Einheit Gottes liefert die Synthese auf deren Grundlage Maß und Gemessenes vergleichbar werden. So wird auf die Erkenntnis der Perspektivität der menschlichen Wahrnehmung und des Verstandes aber eigentlich mit einer gewissermaßen zweistufigen Rezentrierung reagiert: Die Welt wird zunächst verstanden als Effekt der „messenden“ Tätigkeit des Verstandes. Er, also der Mensch als „Maß aller Dinge“, wird zu ihrem relativen, kontingenten Zentrum. Jenseits dieser vom subjektiven „Augenpunkt“ des Betrachters konstruierten und in ihrer wesenhaften Beschränktheit vollständigen Welt wird aber die Einheit der in ihr statthabenden Differenzen gedacht, also Gott als alle relativen Zentren einschließendes allgegenwärtiges Zentrum – und diese Wahrheit ist eben unsichtbar. Insofern die (göttliche) Wahrheit unsichtbar ist, ist das Sichtbare säkularisiert. Umgekehrt formuliert: Wenn das Universum die eine Selbstäußerung Gottes ist, ist diese vollständig sichtbar und dem menschlichen Verstand prinzipiell zugänglich. Sie enthält keine Räume oder Gegenstände, die als solche die Wahrnehmung und das selbstständige Verstehen des Menschen prinzipiell überfordern könnten (wie es z.B. bei Dante noch ständige Voraussetzung ist). Was das Verstehen des Menschen dagegen notwendig überfordert, ist die nur noch durch die Vernunft gewusste Einheit des Ganzen. So wird der Mensch im Bereich seines Verstandes in gewisser Hinsicht zum zweiten Gott. Auch der perspektivische Blick des Menschen ist als Beschränkung des unperspektivischen göttlichen Schöpfer-Blicks schöpfende Tätigkeit: „Denn wie Gott Schöpfer der realen Seienden und der natürlichen Formen ist, so ist der Mensch Schöpfer der Verstandesseienden und der künstlichen Formen, die lediglich Ähnlichkeiten seiner Vernunft sind, so wie die Geschöpfe Ähnlichkeiten der göttlichen Vernunft sind.“234

So hat die u.a. aus dem Nominalismus des späten Mittelalters hervorgehende Reflexion der Voraussetzungen menschlicher Erkenntnis bei Cusanus dazu geführt, dass 234 De beryllo, 6.

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die Objekte dieser Erkenntnis in gewisser Hinsicht als Produkte kreativer menschlicher Tätigkeit erscheinen. Diese ist zwar keineswegs absolut von der göttlichen Form des Wissens und Schöpfens unabhängig, sie wird aber ohne immer schon gegebenen Bezug auf Gott beschreibbar. Sie wird nicht zuletzt im Hinblick auf eine Ausweitung des Wissens auf bisher nicht Gewusstes aber eben dem Wissen nicht prinzipiell Entzogenes auch entwickelbar: „Christian emphasis on the transcendence of God had to widen the gap between human and divine reason; as a result of this widening, a new weight comes to be placed on human creativity. Such creativity turns out to be a necessary condition of the very possibility of human knowing.“235

Dieser Zug der cusanischen Philosophie ist es, der eine Verbindung zu den allgemeinen Entwicklungen auf dem Gebiete der Kunst, der Wissenschaft und der Kultur während und seit der Renaissance nahe legt, die ganz allgemein auf die Reflexion auf die Perspektivität des menschlichen Blicks mit der Kultivierung des relativen Zentrums menschlicher Welterschließung reagierten und mit dem Versuch, die so gefährdete Einheit der Welt zu retten, sei es im Bereich des menschlichen Blicks selbst – u.a. eben durch den menschlichen Überblick – oder in der letzten Konsequenz durch eine göttliche Blickform, deren versuchte Übernahme so allererst als Hybris erscheinen konnte.

235 Harries 2001, S. 198.

Von der Renaissance zur Aufklärung

Besonders an der Rolle, die der Blick von oben am Ende des Mittelalters bei Petrarca spielte, war ersichtlich, dass er seine Bedeutung zugleich mit seinem teilweisen Verbot bzw. der Diffamierung seiner metaphorischen Möglichkeiten erhielt. Zwar bezog sich Petrarca auf den alten Begriff der voluptas oculorum seit Augustinus, dieser meinte aber bis dorthin nur ein Verbot des Hinsehens auf die Welt, insofern es ein Wegsehen von Gott sei. Ein göttliches Blick-Privileg, das der Mensch durch die Übernahme einer bestimmten Perspektive stören könnte, war dabei nicht mitgedacht. Bei Petrarcas Blick vom Berg erhält eine solche Position nun Bedeutung für eine Fähigkeit, die dem Menschen tatsächlich unabhängig von Gott und seiner Offenbarung nicht zugedacht war: für diejenige zur eigenmächtigen Selbstbestimmung. Es erhält Bedeutung für die Selbstkontextualisierung eines Subjektes, das sich von oben blickend gleichsam selbst ins Auge fällt – unter Umgehung des alten „Blicks“ nach innen, bei dem der Mensch sich durch und in Gott findet. Eine solche Selbstsuche in der außen und unten daliegenden Welt war bei Augustinus nicht vorgesehen. Der Mensch, der bei ihm die „Höhen der Berge“ bewundert, steigt nicht auf sie hinauf, um herabzublicken. – Er ergötzt sich vielmehr an der Größe des Geschöpfes, ohne es als solches zu erkennen und in ihm den Schöpfer zu loben. Die Metapher des Überblicks musste erst ganz allgemein und das heißt auch für den Menschen Bedeutung erhalten, bevor sie in einer Weise wertvoll werden konnte, die es schließlich natürlich erscheinen ließ, sie Gott einzuräumen. Erst unter dieser Voraussetzung konnten auch die Möglichkeiten des Menschen, die Welt von oben als Ganze oder einen Teil von ihr als ganzen zu überschauen, als Mittel des Hochmuts, der Absonderung von Gott, der Hybris erscheinen. Ein erster Schritt in diese Richtung war wohl die Auflösung der alten ontologischen Grenze zwischen den sub- und translunaren Bereichen des Universums. Diese ließ für den Bereich Gottes im Himmelreich andere Verhältnisse gelten, als für denjenigen des Menschen. Sie ließ also auch für den irdischen Bereich entwickelte Erkenntnismethoden in diesem verharren. Ein göttlicher Überblick war so nicht sinnvoll durch einen für Menschen nachvollziehbaren Blick von oben darstellbar.

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Mit der Philosophie des Cusanus wurde hier eine behandelt, die zum ersten Mal diese Verhältnisse konsequent änderte und dem Universum ontologische Homogenität zusprach und demgemäß von einer veränderten Vorstellung der Transzendenz Gottes ausging. Auch die neuen, im engeren Sinne astronomischen Weltbilder der Renaissance führten zu einer entsprechend homogenen Raumauffassung. Wie im Folgenden weiter in Erinnerung gerufen werden soll, entsprachen dieser Tendenz auch Bestrebungen auf dem Gebiet der bildenden Kunst und der Architektur: Noch bevor dem aristotelisch-ptolemäischen Weltbild tatsächlich unmittelbar widersprochen wurde1, führte die Entwicklung der Zentralperspektive zu einer Veränderung der Repräsentation von Welt, die letztlich auf dem Gebiet des Raumbegriffs mit der ontologischen Schwelle zwischen Himmelreich und Erde brach. Diese Entwicklung führte nicht nur zu einem abstrakten Raumbegriff im irdischen Zusammenhang (oder drückte diesen aus), sie ging – ohne dabei dem alten Weltbild diskursiv zu widersprechen – auch davon aus, dass dieser Raum das gesamte Universum beinhalte. Die Distanz zwischen Gott und dem Menschen auf der Erde wird so im Sinne eines letztlich messbaren, homogenen Raumes abstrakter und allgemein artikulierter. Die Vorstellung eines von oben auf die Erde herabsehenden Gottes beginnt in der Hinsicht Sinn zu machen, dass der Bildspender der Metapher des Überblicks vom Irdischen aufs Himmlische übertragen werden kann. Wie bei Cusanus zu sehen war, konnten in dieser Situation sich entwickelnde neue Begriffe der Transzendenz, die das im homogenen, messbar werdenden Raum Platzierte säkularisierten und Gott entsprechend nicht als solches ansahen, keineswegs mit einer naiven Nutzbarmachung der Vorstellung vom göttlichen Überblick vereinbar sein. Unter gewissen Voraussetzungen konnte die entsprechende Metapher aber nun auch dann bzw. gerade dann Bedeutung bekommen, wenn ihr Bildspender isoliert, außerhalb der Metapher – verstanden als wörtlich gemeinte Behauptung – nicht glaubwürdig erschienen wäre. Die Metapher vom göttlichen Überblick ist nicht von der Vorstellung Gottes als von oben im wahrsten Sinne wahrnehmendes Wesen abhängig. Sie ist dies genauso wenig wie es die mittelalterliche vom Auge Gottes war. Sie setzt vielmehr eine markante Bedeutung, einen hohen Wert des Überblicks in menschlichen Zusammenhängen voraus – und damit einen Mangel, auf den Medien und Momente des Überblicks behebend reagieren können. Solche Mängel traten im Laufe der Renaissance deutlich in den Vordergrund: Auf verschiedenen Gebieten und aus verschiedenen Gründen brach die alte Ordnung der Schöpfung auf, die das gesamte Universum als von Gott hierarchisch geordnetes Ganzes verstand. Reflexionen auf die perspektivische Gebundenheit menschlicher Erkenntnis nahmen dieser Ordnung den Status der objektiven (Gott-)Gegebenheit. Dass im Kopernikanismus dem alten kosmologischen Weltbild eine neue Möglich1

Von der die Möglichkeit eines solchen Widerspruchs gleichsam eröffnenden Verdammung von 1277 einmal abgesehen.

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keit entgegengestellt wurde, ist nur deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung. Zwar provozierte diese auch euphorische Begrüßungen des sich menschlichen Entdeckungsbestrebungen öffnenden Weltganzen (z.B. bei Bruno) – weit öfter wurde die neue Zweifelhaftigkeit der alten Verhältnisse in vorläufiger Ermangelung neuer Ordnungsvorstellungen und Bewältigungsmechanismen aber als bedrohliche Dezentrierung auf vielen Bereichen erlebt. Auf dem Gebiet politischer Repräsentation ersetzte parallel eine neue Ontologie des Staates, sein zunehmendes Verständnis als menschliches Artefakt, langsam das alte Ordo-Denken. Dies ließ gerade vor dem Hintergrund einer subjektiven Bedeutungssteigerung der Staatszugehörigkeit im Zuge des in ersten Ansätzen aufkommenden Nationalismus diesen Bereich als etwas erscheinen, dessen „Sichtbarkeit“ zur problematischen Notwendigkeit wurde. Es galt den aus der objektiven Schöpfungsordnung gefallenen Staatskörper vom menschlichen Standpunkt aus zu verstehen, nicht nur, aber auch in seinem (überhaupt erst bedeutungsvoll werdenden) territorialen Aspekt eben zu „überblicken“. Dies konnte beispielsweise der neuen Kartographie eine metaphorische Bedeutung geben, die deren auch im ganz praktischen, machtpolitisch-militärischen Sinne bedeutende Funktion noch steigerte und im Bewusstsein vieler Menschen verankerte. Auch in anderen, oft ganz alltäglichen Bereichen setzte sich der schon bei Petrarca beobachtete Bedeutungszuwachs des Blicks als Mittel der Selbst- und Fremderkenntnis fort. Erst als der alte Ordnungsrahmen des ordo nicht mehr verlässlich war, konnte vor allem der reflexive Blick auf den nicht mehr fraglos gegebenen eigenen Kontext zum Ausdruck eines wieder gefundenen Selbstverständnisses werden. Der in diesen Bereichen mit Sinn und Funktion gefüllte Überblick war es nun, der oft als metaphorisch zu verstehendes Privileg, als den Einzelperspektiven entgegengesetzte Überperspektive an Gott abgegeben wurde. Der Mensch wurde angewiesen sich auf seinen Bereich zu beschränken und den Blick über das Ganze dieser Instanz zu überlassen, die nur als übermenschliche die Vergleichbarkeit und Widerspruchsfreiheit der als subjektrelativ erkannten menschlichen verbürgen konnte. Der Versuch eines Menschen das im Unten nur bruchstückhaft erfasste Ganze von oben als solches zu sehen, konnte erst vor diesem Hintergrund als Akt der Hybris, des verbotenen und zerstörerischen Erkenntnisdranges erscheinen – eine Diffamierung, die sich von der der voluptas oculorum gerade in dem Wert, den sie dem Anblick zumisst, deutlich unterscheidet. Diese neue Problematik des menschlichen Überblicks und seine ihr entsprechende Verbindung zur Demutsforderung soll im Folgenden an einigen Beispielen aufgezeigt werden – bevor anhand anderer etwas späterer und bereits dem Barock zuzurechnender Produkte Strategien nachgegangen werden wird, die letztlich sowohl zu einer Säkularisierung des Überblicks als auch zu der Differenzierung seiner formalen Erscheinung führten, die ihn spätestens im 19. Jahrhundert als Verknüpfung verschiedener Konzepte allgemein gegenwärtig macht. Zunächst sollen aber wiederum in diesem Zusammenhang wichtige Veränderungen auf den Gebieten der

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Visualität, des Selbstbezugs und der Repräsentation von Macht dargestellt werden – Veränderungen im Bereich derjenigen Faktoren also, die die „Zutaten“ liefern für die immer häufiger und markanter sich äußernde Bedeutung von Momenten des Überblicks in den Medien und Künsten.

R EFLEXIONEN

DES MENSCHLICHEN

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Der deutlichste Ausdruck des sich am Ende des Mittelalters ergebenden neuen Bezugs zum Raum und der neuen Reflexion auf die Abhängigkeit von Anblicken von der Position und Konstitution des Betrachters ist sicherlich die Entwicklung der zentralperspektivischen Malerei und Architektur. In diesen Veränderungen auf dem Gebiet der Kunst äußern sich neue Formen des Bezugs zur Wirklichkeit, die letztlich auch Voraussetzung der neuen Funktion von Momenten des Überblicks waren. An der Philosophie des Cusanus war bereits zu sehen, dass die Reflexion auf die perspektivische Gebundenheit der menschlichen Erkenntnis die Gefahr einer Auflösung der alten objektiven Schöpfungsordnung in sich barg und damit diejenige eines Verlustes der Position des Einzelnen in dieser Ordnung. Die Welt verlor ihr objektiv gegebenes Zentrum und der Mensch wurde als „Maß der Dinge“ erkannt – als die Instanz der Bestimmung und relativen Zentrierung einer auf dieser Ebene damit nur noch auf den Menschen bezogenen Wirklichkeit. Kurz: Eine Reaktion auf den Verlust der alten Ordnungsvorstellung war eine Rezentrierung, die den in seiner „messenden“ Tätigkeit produktiven Menschen ins Zentrum setzte. Mit dieser bei Cusanus (und nicht nur bei ihm) wiederum in der Unendlichkeit Gottes aufgehobenen Beziehung des Subjektes zur Wirklichkeit, ergibt sich eine grundsätzliche Übereinstimmung zu den Bedeutungen, die die Zentralperspektive optischen Gegebenheiten und der Möglichkeit der Geometrisierung der Wirklichkeit gab. Diese Übereinstimmung liegt zunächst einmal auf der Ebene der grundlegenden Voraussetzung der theoretischen Konstruktion der Beziehung zur Welt: der Reflexion auf den Blickpunkt des Subjektes als Stelle in einem geometrisch messbaren und konstruierbaren Raum. Die große auch philosophisch-theologische Bedeutung der Geometrie war dabei als solche keineswegs das Neue. Neu war vielmehr die Beziehung, die die Geometrie des Raumes zu einem Blickpunkt unterhielt und damit eben jene Reflexion auf die „messende“ Tätigkeit und Konstitution des Menschen, die auch für Cusanus’ erkenntnistheoretische Position entscheidend war. In dem Moment, in dem die geometrische Verfasstheit der Wirklichkeit vom zufälligen Blickpunkt eines Subjektes aus gedacht wurde, musste der dieser Konstruktion zugrundeliegende Raum als homogen betrachtet werden. Die ontologische Unterscheidung in einen irdischen Bereich, in dem die idealen geometrischen Formen und die ewigen Bewegungen nur unvollkommen sich im Stoff realisieren, und in einen himmli-

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schen, in dem sie als solche, als ideale Formen, existieren, wurde so hinfällig. Vielleicht werden die Folgen, die das konkret hatte, besonders am Beispiel der Architektur, genauer an dem der Stadtplanung deutlich. Für die mittelalterliche Stadtplanung waren geometrische Zusammenhänge und ihre theologische Bedeutung alles andere als unwichtig. – Sie waren für die Gestalt der mittelalterlichen Stadt vielmehr bestimmend. Der Unterschied zu den Neugründungen bzw. -bauten der Renaissance besteht nicht in dieser grundsätzlichen Bedeutungszuweisung, sondern eben in der Funktion eines Blickpunktes für die entsprechenden Konstruktionen: Im Mittelalter kam es nicht auf die geometrische Konstruktion von Anblicken an, sondern darauf, dass die Stadt die geometrische Form aufwies, dass ihre Form der göttlichen Ordnung der Welt entsprach – unabhängig davon, ob dies irgendjemandem ins Auge fallen konnte. Der überwiegende Teil der heutigen deutschen Städte geht auf Neugründungen aus der Zeit zwischen 1030 und 1348 (dem ersten Jahr der großen Pest) zurück. In dieser Zeit entstanden ungefähr 3000 neue Städte. In der Zeit vor und nach dieser Epoche der Stadtgründungen waren es zusammengenommen nicht mehr als 230.2 Bei diesen Neugründungen handelte es sich nun nicht etwa um eine Entwicklung, die auf ein spontanes Aufwachsen von zuvor gegebenen kleineren Siedlungen zu Städten zurückgeht, sondern um Gründungen im vollen Sinne des Wortes: Die neuen Städte wurden auf eigens dafür gerodeten und präparierten Flächen geplant und gebaut, sie entstanden teilweise innerhalb weniger Jahre.3 Es ist das Verdienst von K. Humpert und M. Schenk, in jüngerer Zeit bisher unbeachtet gebliebene Hinweise auf die Prinzipien dieser Planungen aufgezeigt zu haben. Was sich dabei ergeben hat, ist, dass die für den modernen Betrachter gewissermaßen organisch gewachsen erscheinenden mittelalterlichen Städte tatsächlich auf klaren geometrischen Formen und Vermessungen beruhen, die vermutlich auf einer Rodungsfläche abgesteckt die Grundlage für den Bau der Stadt und auch der Stadtmauer bildeten. Ausgangspunkt dieser Technik war zunächst ein mit Hilfe von Messleinen geschlagener Kreis, auf dessen Grundlage durch die Thaleskonstruktion zwei gespiegelte gleichschenklige Dreiecke, also ein Rechteck abgemessen wurde.4 Von den Eckpunkten dieses Dreiecks und sich im Verlauf der weiteren Vermessung ergebenden anderen Punkten ausgehend, wurden dann die Straßenzüge, die Krümmung der Hauptstraßen und der Stadtmauer, aber auch die Standorte der repräsentativen Gebäude, der Tore und der Brunnen bestimmt.5 Die mittelalterliche Stadt wies also – oft in erstaunlicher Genauigkeit – geometrische Formen auf. Diese Formen waren aber nach dem Errichten der Stadt kaum noch sichtbar, weil bei der Planung 2

Vgl.: K. Humpert, M. Schenk 2001, S. 58ff.

3

Vgl.: ebd. S. 62f.

4

So rekonstruieren Humpert und Schenk wenigstens das Verfahren aus der erkennbaren

5

Vgl.: ebd.

geometrischen Orientierung verschiedener Städte.

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der Stadt kein Blickpunkt in Betracht gezogen und ermöglicht wurde, der dies gewährleistet hätte: Es kam also offenbar darauf an, dass das Artefakt Stadt den geometrischen Prinzipien göttlicher Schöpfung entsprach und sich so objektiv in das Ganze der Schöpfung einfügte. Eine eindeutige und bestimmende Beziehung der Geometrie zu ihrer Sichtbarkeit bestand nicht. Das Vorbild dieser objektiven Einbezogenheit in den göttlichen Schöpfungsplan war dabei stets das himmlische Jerusalem und seine ebenfalls großen Wert auf Abmessungen legende Beschreibung in der Offenbarung. Dies wirkte sich auch auf die bildlichen Darstellungen von Städten aus, die in typisierender Form die für die mittelalterliche Stadt bestimmende Mauer zeigten – ohne deren tatsächlichem „Inhalt“ irgendeine Aufmerksamkeit im Sinne eines die Wiedererkennung der realen Stadt anstrebenden Portraits zu schenken.6 Dies ist natürlich ein deutlicher Unterschied zu der Rolle die die geometrische Konstruktion für die zentralperspektivische Malerei und Architektur spielte. Für letztere wurde der Blick des Einzelnen in der Stadt wichtiger, ebenso aber auch der Blick auf den Einzelnen. Das bestimmende Model für die Architektur wurde die Bühne, das Theater. Wie in der bildenden Kunst der Zeit wurde das Zentrum der die Gestalt des Werkes bestimmenden Perspektive der zu einem abstrakten und mathematisch erfassbaren Raum in Beziehung gesetzte Blickpunkt des Menschen. Dieser wurde in der Architektur und der Stadtplanung vorbereitet, es wurden Anblicke erzeugt, die von bestimmten Positionen in der Stadt sich eröffnen sollten: „Die Künstler und die Auftraggeber des Quatrochento – Zünfte wie Aristokraten – strebten nun auch in der Architektur danach, den Raum so zu gestalten, dass er den Idealen der Mathematik von Zahl, Maß, Harmonie und Proportion entsprach. […] Die schlechthin ideale Raumgestalt der Renaissance und der Höhepunkt in der Hierarchie der Baukunst war der Zentralbau, der, als Kreis oder Quadrat, in seiner mathematischen Vollkommenheit die Vollkommenheit des Universums symbolisierte. Dieser Raum wurde vom Mittelpunkt her gesehen und in dieser Mitte stand der neue Mensch.“7

Indem die geometrische Verfasstheit der Welt so von einem neuen, nicht mehr objektiv gegebenen, sondern kontingenten Mittelpunkt her erfasst wurde, ergab sich eine von der zweifelhaft werdenden Schöpfungsordnung älterer Prägung unabhängige Form der Rezentrierung, die – wie schon bei Cusanus gesehen – in gewisser 6

Vgl.: Peter Johanek, Die Mauer und die Heiligen – Stadtvorstellungen im Mittelalter, in: Behringer, Roeck 1999, S. 30f.

7

C.E. Haver, Landschaft und Raum im Quatrocento, in: Aertsen, Speer 1998, S. 750ff. Wie die Machtverhältnisse im späteren Ausformungen des barocken Absolutismus dazu führten, dass die architektonisch vorbereitete Perspektive einen ganz bestimmten Menschen in den Mittelpunkt setzte – nämlich den Herrscher – wird weiter unten zum Thema werden.

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Hinsicht eine Säkularisierung der erblickten Wirklichkeit bedeutete. Die im auf den Betrachterstandpunkt beziehbaren Raum sich erstreckende Wirklichkeit war ohne das Medium der Offenbarung prinzipiell messbar, also erkennbar – wenn sie auch nicht im Ganzen bereits erkannt war: „Having its measure in the beholder, artificial perspective has to mean a seculariszation of the visible.“8 Bereits die Zentralperspektive an sich stellt eine Form der technischen Aufrüstung des menschlichen Blicks dar, durch den sich dieser das von theologischen Verweisen zunächst befreite Sichtbare erschloss. Aus dieser Haltung ergab sich aber weiter auch das Konzept eines noch Unsichtbaren, welches es mit rein menschlichen, also technischen Mitteln sichtbar zu machen und so zu erkennen gilt. Die Reflexion auf die perspektivische Gebundenheit der menschlichen Erkenntnis führte dazu, dass der Glaube an die grundsätzliche Passung von Wahrnehmungsvermögen und Wirklichkeit verloren ging, von der nur göttliche Wahrheiten ausgenommen waren, die erst auf dem Wege der Offenbarung überhaupt erkannt werden konnten. Die Technik erhielt so eine Rolle als Medium der Ausweitung menschlicher Erkenntnis ins bisher Unbekannte – an den alten, den Menschen in eine passiv aufnehmende Position stellenden Konzepten der Offenbarung vorbei.9 Der zentralperspektivische Blick auf die Schöpfung erhielt aber gerade so die wiederum theologische Implikation der visuellen – also menschenmöglichen – Übernahme des Schöpferblicks: Die geometrischen Prinzipien der Schöpfung wurden als auf einen Blick bezogen gedacht und die an diesen Prinzipien orientierte Zentralperspektive ordnete den Blick in einer Weise, die die Prinzipien erkennbar werden ließ. Der perspektivisch korrekte Blick bedeutete den wahren Blick auf die geschöpfte Welt – allerdings als menschlicher, also eben perspektivisch gebundener. Der Blick Gottes wurde in dieser Situation wichtige Größe zur Verhütung eines „perspektivischen“ Skeptizismus und musste gedacht werden als alle diese für sich genommen wahren Perspektiven umfassender – jenes Konzept, das bei Cusanus seine eigentümliche Darstellung gefunden hat und für dessen metaphorische Umsetzung sich nicht zuletzt der Blick von oben schließlich anbieten würde. Als Hinweis auf diesen die jeweils kontingente Einzelperspektive transzendierenden Blick des Allsehenden wurde gerade in der Malerei in dieser Situation auch der überhaupt erst mit der Entwicklung der Zentralperspektive als formale Größe erscheinende Horizont verstanden: Er ließ sich ins Unendliche in einen den Bildraum der Einzelperspektive umgebenden „Schweigerand der unbegrenzten Vielzahl möglicher Bilder“10 erweitern, die in ihrer Totalität den unbegrenzten Blick Gottes repräsentiert hätten. Auch dieser gleichsam indi-

8

Harries 2001, S. 81.

9

Vgl.: Blumenberg 1996, S.726, Busch 1997, S. 237.

10 Koschorke 1990, S. 50.

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rekte Verweis auf den umfassenden Schöpferblick wurde gerade wegen des grundlegenden Mangels des als perspektivisch reflektierten menschlichen notwendig: „Und es ist eben die Spannung zwischen den Polen einer noch sakralen Repräsentation des Ganzen und einer alle metaphysischen Wahrheitswerte vernichtenden Polyperspektivität, die seine Geschichte [diejenige des Horizonts, MR] vom 14. bis zum 19. Jahrhundert bestimmt.“11

Ganz Ähnliches gilt auch für den in der zentralperspektivischen Anlage von Bildern und architektonischen Zusammenhängen implizierten und eben auf dem Horizont gelegenen Fluchtpunkt: Er wurde besonders in der Architektur zum Symbol für die ansonsten nicht darstellbare Unendlichkeit – jenes Umschließende der in der Perspektive selbst etablierten beschränkten Blickpunkte, er wurde zum paradoxen Versuch einer „Fixierung der Unendlichkeit“.12 Dass diese Entwicklungen sich zunächst im oberitalienischen Zentrum des neuen Marktkapitalismus ergaben ist natürlich kein Zufall: Die in wirtschaftlichen Zusammenhängen wichtige Messbarkeit und mathematische Kontrollierbarkeit der Wirklichkeit gab sowohl für die Kunst als auch für die Philosophie ein erkenntnistheoretisches Modell ab, in dem der Mensch als „Maß der Dinge“ die gottgegebene geometrisch-mathematische Struktur der Welt von seinem Stand- und Blickpunkt aus zu erkennen und nachzuvollziehen trachtete. Tatsächlich erhielt gar der in der glücklichen Handhabung der neuen wirtschaftlichen Rationalität liegende wirtschaftliche Erfolg Offenbarungscharakter in einem neuen Sinne, der dem des späteren von Weber aufgezeigten Puritanismus wohl in gewisser Hinsicht nahe kommt.13 Die wirtschaftliche und technische Funktionalität von für den Menschen nachvollziehbarer mathematischer Ordnung begann deren Status als gottgegebene Form der Welt zu verbürgen.14 Dabei begann diese mathematische Ordnung vielerorts nicht nur die Repräsentation der Welt zu prägen, sondern auch in konkreter Form diese Welt selbst: Besonders in Oberitalien, dem Zentrum der neuen Entwicklungen, schrieben sich geometrische Prinzipien in die nach neuen Maßstäben urbar gemachte und kultivierte Landschaft ein – als sichtbares Zeichen einer neuen Kontrolle des Menschen über seine Umwelt. Diese Kontrolle gefiel sich allerdings nicht in einer völligen Loslösung von der göttlich verbürgten Ordnung, sie verstand sich vielmehr als Ausdruck der Passung menschlicher Aktivität in diese Ordnung. Der Unterschied zu früheren Funktionen der Geometrie lag also auch hier in dem neuen Um-

11 Ebd. 12 Vgl.: Benevolo 1993. 13 Vgl.: Münkler 1982, S. 29. 14 Vgl.: Edgerton 2002, S. 35ff.

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weg dieser Passung über den individuellen Verstand des einzelnen menschlichen Betrachters.15 Eine dieser Haltung entsprechende Art der Repräsentation, wie es die (zentral-)perspektivische Malerei war, konnte nun das ältere Konzept der Offenbarung in Richtung auf ein erfolgreich vom menschlichen Subjekt ausgehendes Erkenntnisstreben ersetzen – eben ohne dabei den Schritt einer absoluten Säkularisierung vollziehen zu müssen. Gerade die diesem Streben aber notwendig innewohnende kontingente Perspektivität wurde umgekehrt oft genug auch zum Ausdruck eines Mangels: der Unmöglichkeit von einem bestimmten Standpunkt aus die die Verlässlichkeit des perspektivischen Blicks verbürgende Ordnung des Ganzen zu erfassen. Auch die Offenbarung würde vor diesem Hintergrund oft genug ihre Rolle behalten – allerdings unter veränderten Bedingungen. Samuel Edgerton hat – um die Folgen der Geometrisierung des Universums aufzuzeigen – Raphaels 1509 von Julius II in Auftrag gegebene Ausmalung der Stanza della Segnatura im Vatikan untersucht. Genauer betrachtet hat er dabei neben der berühmten Disputa auch die kleine gegenüberliegende Darstellung der Urania, der Muse der Astronomie (Abbildung 7).16 Dieses Fresco ist hier von großem Interesse, weil es Merkmale der neuen, homogenen Raumauffassung mit einer Identifikation mit einem göttlichen Blick von oben (bzw. außen) auf das ptolemäische Universum verbindet, den es wie gesehen in den älteren kosmologischen Darstellungen nicht gab. Bei dem ausgemalten Raum handelte es sich um eine private Bibliothek des Papstes und die Fresken auf den vier Wänden waren entsprechend den Bereichen der Theologie (eben auf der Disputa), der Philosophie, der Jurisprudenz und den schönen Künsten gewidmet. Die kleine Darstellung der Astronomie zeigt die Muse, wie sie sich über das unter ihr liegende Universum beugt, eine Hand auf die äußere Schale, das primum mobile gestützt. Das Innere des Universums ist transparent wiedergegeben, so dass auf der hinteren Seite ein Bein Uranias durchscheint. Die Sphären der Planeten sind im Einzelnen nur durch Linien dargestellt, während die Erde als Kugel im Zentrum ausgeführt ist. Die Sternbilder des Tierkreises sind auf der äußeren Begrenzung abgebildet und zwar tatsächlich so, wie sie von außen zu sehen wären. Das Entscheidende an dieser Art der Darstellung ist wohl, dass das Universum den noch neuen Prinzipien perspektivischer und geometrisch orientierter 15 Vgl.: Denis Cosgrove, The geometry of landcape, in: Cosgrove, Daniels 1988, S.265. Hier finden sich auch weitere Ausführungen zu den entsprechenden Entwicklungen in Venetien (einem Landstrich, in dem das Land nicht nur neu geordnet, sondern durch Entwässerung auch neu geschaffen wurde). Zum Verhältnis zwischen Land- und Wasserbau und den neuen Formen der Landschaftsmalerei bzw. der zeitgenössischen Kartografie heißt es dort: „Technically and theoretically therefore both the reality and the illusion of Venetian landscape were grounded in Euclidian geometry“ (S. 261). 16 Vgl.: Edgerton 1993, S. 196ff.

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Malerei entsprechend dargestellt wird – wie eine transparente Sphäre von außen betrachtet und durch eine nicht sichtbare Lichtquelle rechts oben beleuchtet. Sogar die Reflexion des einfallenden Lichtes von der äußeren Sphäre zurück auf Uranias Gesicht wurde den Gesetzen der euklidischen Optik gemäß umgesetzt. – Diese Gesetze gelten ganz selbstverständlich für den Raum innerhalb des Universums wie auch für den äußeren, von dem aus der Blick der Urania und des Betrachters auf es fällt. Dieser Raum kann aber im Rahmen des christlich interpretierten aristotelischptolemäischen Weltbildes nur der des Empyreums sein – was Raphael durch den traditionellen Goldgrund auch andeutet. Dabei materialisiert er diesen aber gleichsam und lässt ihn zurücktreten, indem er ihn wie ein Mosaik darstellt, wie einen nicht mehr zur Abbildung selbst gehörenden Hintergrund. Der Eindruck, der auf diese Weise insgesamt entsteht, ist der der Identifikation des Betrachterblickes mit einem aus dem Empyreum auf die unteren Sphären des Universums fallenden göttlichen Blicks – wobei dieser Blick ganz und gar irdischen (bzw. allgemeingültigen) optischen Gesetzen gehorcht und sich in einem Raum vollzieht, der den geometrischen Prinzipien entspricht, die in irdischen Zusammenhängen ganz genauso statt hätten: „In his small fresco Astronomy Raphael wanted to depict the concentric crystalline spheres as they should appear from God’s point of view in heaven.“17 Zumindest im Sinne der bildlichen Umsetzung dieses Blicks zeichnet dabei den göttlichen Blick nur dessen Perspektive, nicht aber dessen Wesen aus. Ausdrücklich formuliert hätte dies wohl kaum den Beifall der zeitgenössischen Theologen gefunden, die Raphaels „Urania“ zugrunde liegenden Prinzipien hatten aber natürlich keineswegs den Status von Behauptungen. Die Veränderungen auf dem Gebiet der Raumauffassung und der Visualität, die sich in seiner Arbeit aber ausdrücken, sind Teil der Voraussetzungen, die sowohl einem menschlichen, als auch einem göttlichen Überblick Funktionen geben konnten und dies auf dem Fresko im Vatikan auch tun. Bei Rafaels Fresko handelt es sich natürlich um eine relativ späte Darstellung des ptolemäischen Weltbildes. Nicht zuletzt die sich in diesem Bild ausdrückende Reflexion auf Perspektivität und die entsprechende Raumauffassung sollten schon bald auch zu Voraussetzungen des neuen kopernikanischen Weltbildes werden. Dieses enthielt wohl auch am deutlichsten oder buchstäblichsten die Drohung der in der Perspektivität menschlicher Erkenntnis liegenden Dezentrierung – zumindest, wenn es als Aussage über die physische Realität und nicht nur als mathematische Hypothese verstanden wurde. Es widersprach der alten, vertikal orientierten Ordnung der Schöpfung und erschütterte potentiell diese Ordnung auch dort, wo es zunächst eigentlich eine Aufwertung der Erde und der auf ihr lebenden Menschen zur Folge hatte – zumal eine solche Aufwertung ja auch nur im Rahmen der alten, gefährdeten Ordnungsvorstellung aus der Gleichstellung der Erde mit den Planeten folgen konnte und daher eher eine Nivellierung von Werten drohte. 17 Ebd., S. 201.

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Abbildung 7: Raffael, Urania, 1510.

Stanza della Segnatura, Vatikan. Vor allem erforderte das neue Weltbild aber etwas, was wohl nicht jeder bereits zu leisten im Stande war: eine neue Form der Selbstkontextualisierung. In dem Moment, in dem dem alten Ordo-Denken seine kosmographisch-räumliche Grundlage entzogen wurde, musste der Einzelne einen neuen „Blick“ auf sich selbst und seinen Lebensbereich einüben, der ihm in der Tradition letztlich nicht vorgegeben war – auch wenn die augustinische Ansätze dazu enthalten haben mag.18 Dieser „Blick“ stellte sich gerade in astronomischen Zusammenhängen oft im buchstäblichen Sinne als Blick von außen auf die Erde dar. Selbst an dem schließlich teleskopischen Blick hinaus ins Universum war oft genug der implizite Blick zurück auf den eigenen irdischen Ort das eigentlich Wichtige. Hans Blumenberg hat diesen Zug u.a. der galileischen Astronomie treffend als „reflexive Teleskopie“19 bezeichnet: Das Entscheidende an seinen Entdeckungen an der Oberfläche des Mondes war nicht nur dieser primäre Blick auf das Gestirn am Himmel, sondern der implizite Blick 18 Vgl.: Kleinspehn 1989, S. 37. 19 Blumenberg 1981, S. 783.

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von außen auf die Erde, den eigenen Planeten. Also: Galileo betrachtete nicht nur den Mond wie die Erde, sondern auch die Erde wie den Mond. In folgendem Zitat aus dem „sidereus nuncius“ (1610) überträgt er zunächst visuelle Erfahrungen mit der Erde auf den Mond. Dunkle Flecken, die im ansonsten beleuchteten Teil seiner Oberfläche erscheinen, sind zu erklären als Vertiefungen, die vom Sonnenlicht wie irdische Täler durch umgebende Höhen abgeschirmt sind, die wiederum auf ihrer der Sonne zugewandten Seite angestrahlt werden: „Einen ganz ähnlichen Anblick haben wir gegen Sonnenaufgang auf der Erde, wenn wir die noch nicht mit Licht gefüllten Täler sehen, die Berge aber, die sie auf der von der Sonne abgewandten Seite umgeben, bereits voll erglänzen.“20

In dem Moment aber, in dem diese Übertragung vom Irdischen auf das Gestirn möglich wird und dessen Natur erhellt, kann dieser Blick imaginär eben auch von außen auf die Erde zurückgeworfen werden. Und dieser Blick zurück, durch den der eigene Standpunkt von außen (oder noch aristotelisch bzw. gleichsam inneratmosphärisch formuliert: von oben) gesehen wird, ist vielleicht das eigentlich bedeutsame Implikat des neuen Blicks ins All gewesen. Er musste auf die eine oder andere Weise Funktionen der Selbstkontextualisierung erfüllen, die durch die alte räumliche Struktur der Schöpfungsordnung nicht mehr in jeder Hinsicht zu leisten waren. Es liegt auf der Hand, dass dieser Blick auf den auf weitgehend noch unverstandene Weise durchs All rasenden Erdball mit dieser Aufgabe nicht selten überfordert war. Bei Galileo ergibt sich dieser reflexive Blick verschiedentlich und wie nebenbei: Den großen dunklen Fleck, den er in der Mitte des Mondes erblickt, deutet er ebenfalls als Tal – und vergleicht ihn mit dem Anblick, den Böhmen von oben betrachtet bieten würde, wenn man die Erde eben von außen betrachten könnte: „Was die Beschattung und die Beleuchtung anbelangt, so zeigt sie den gleichen Anblick, den auf der Erde ein Gebiet wie Böhmen darböte, wenn es nach allen Seiten hin von sehr hohen, vollkommen kreisförmig angeordneten Bergen umschlossen wäre.“21

Mit Blumenberg: „Als Galilei das Fernrohr auf den Mond richtete, sah er ein Duplikat der Erde: Wälder, Meere, Kontinente und Inseln.“22 Dieser vorgestellte Blick von oben auf eine irdische Landschaft war eben beinahe ebenso neu, wie derjenige auf den als zerfurchte Kugel erkannten Mond. Nur beinahe so neu war er aber vor allem in der Hinsicht, dass er in seinen künstlerischen Wurzeln wohl Voraussetzung dafür war, dass Galileo die dunklen und hellen 20 Galiliei 2005, S. 104. 21 Ebd.: S. 109. 22 Blumenberg 1981, S. 783.

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Flecken, die er durch sein leistungsschwaches Teleskop erblickte, in der Weise deuten konnte, in der er es tat. Sowohl die zeitgenössische Kartografie als auch die von Malern auf neue Weise angewandte Theorie des Schattenwurfs, des Chiaroscuro, werden seinen Blick auf die Mondoberfläche vorgeprägt haben. Auch hier ging die implizite Homogenisierung des Raumes durch die neuen Formen der Repräsentation deren wissenschaftlicher Behauptung voraus. Galileo erkannte die Natur des Mondes, weil er neue Formen des Blicks auf die Erde nun auch auf den Erdtrabenten anwandte. So ist dieser auch bei ihm immer wieder mit dem reflexiven Blick zurück auf die Erde durchsetzt. Für Samuel Edgerton ist der Umstand, dass der Blick Galileos sich an der oberitalienischen zentralperspektivischen Malerei und der Geometrie des Schattenwurfs hatte schulen können auch Erklärung der Tatsache, dass ähnliche Beobachtungen des Mondes durchs Teleskop in England nicht zu vergleichbaren Konsequenzen führten.23 Diese durch die Kunst vorgeprägten Folgen der Homogenisierung des Raumes in kosmographischen Zusammenhängen führen zu einer weiteren, eng damit verbundenen Entwicklung, die sowohl im kosmologischen Weltbild als auch in gesellschaftlichen Verhältnissen eintrat, und die in beiden Bereichen zu einer Aufwertung des Blickes führte: der Herstellung von nicht durch ein System von Berührungen und Annäherungen (also allgemein durch das Prinzip der Nähe) vermittelter und überbrückter Distanz. Wie bereits erwähnt, hatte die aristotelisch geprägte Physik auf der Annahme beruht, die vom unbewegten Beweger ausgehende Kraft vermittle sich über Berührung in den gesamten Kosmos. Im 14. Jahrhundert wurde diese Vorstellung abweichend von Aristoteles durch die Theorie des „Impetus“ modifiziert, also die Idee, dass die Wirkursache der Bewegung dem Bewegten einen Impetus verschafft, der die weiterhin stetige Bewegung erklärt. Diese Vorstellung schloss die Annahme leerer Räume und gleichsam ungefüllter Distanzen nicht mehr gänzlich aus.24 Dennoch war der entsprechende Gott nach wie vor an einem der Erde fernen Ort platziert und zugleich war das Prinzip seiner Wirkung die absolute Nähe, die den Impetus auslösende Berührung. Mit den verschiedenen Ausprägungen des kopernikanischen Weltbildes änderte sich dies: Kopernikus selbst griff in Ermangelung verlässlicher physikalischer Grundlagen (der Gravitation, der Trägheit) auf eine Erklärung der Planetenbewegung zurück, die diese immerhin ohne Verweis auf den externen Anstoß des unbewegten Bewegers erklärte, nämlich als aus der absoluten Kugelgestalt der Planeten hervorgehende, ihr entsprechende spontane Kreisbewegung.25 So ergab sich führ ihn auch die Möglichkeit die für ihn gott23 Durch Thomas Harriot (1609); vgl.: Edgerton 1991, S. 235 ff. 24 Aristoteles musste die „unnatürliche“, also durch Anstoß von außen verursachte Bewegung durch einen stetigen Anstoß durch das Medium, in dem die Bewegung sich vollzieht (z.B. die Luft) erklären. Vgl.: Locqueneux 1989, S. 38ff. 25 Vgl.: Blumenberg 1981, S. 186.

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gewollte und zweckmäßig in Hinblick auf den Menschen eingerichtete Konstruktion der Welt von innen nach außen zu denken – also von der Sonne aus, die nicht der Ort Gottes war. Dessen Einfluss musste so als auf neue Weise unvermittelt und allgegenwärtig verstanden werden. Mit anderen Worten: Kopernikus geht von einem homogenen Raum aus, dessen artikulierte Distanzen Gott überwindet, ohne auf ein System lückenlos ineinander greifender Berührungen angewiesen zu sein. Sein Gott ist in dieser Hinsicht jedem Ort im Universum näher als der überkommene christlich-aristotelische, gerade weil er die Vermittlung der absoluten Nähe der Berührung nicht benötigt: „Die kopernikanische Welt ist von innen nach außen gedacht, und sie kann dies nur sein, weil sie im Gegensatz zum mittelalterlichen System der durchgängig vermittelten Wirkungen auf der Voraussetzung der Unmittelbarkeit der göttlichen Einwirkungen auf jeden Punkt der Welt beruht.“26

Erst vor diesem Hintergrund konnte es Gott metaphorisch gewissermaßen nötig haben, über die Distanz des Raumes hinwegzublicken, um durch sein unmittelbares Wirken seine Macht zu äußern. Die Macht des aristotelisch-christlichen Gottes hatte sich immer schon in jeder Bewegung geäußert – wenn auch als vom Ursprung ausgehende und über materielle Berührung vermittelte. Der neue und in neuer Hinsicht allgegenwärtige Gott findet sich nicht mehr durch dieses Prinzip auf seine Schöpfung bezogen. Ihm wird nun vielmehr der Distanzsinn des Sehens als den auf neue Weise gedachten Raum immer schon überwindendes Medium des Wissens zugeordnet (oder im Verhältnis zur Antike wieder zugeordnet). Man könnte vielleicht sagen: In dem Moment, in dem der Raum im Sinne der zentralperspektivischen Erfassung berechenbar geworden ist, wird das alte Konzept des unmittelbar wissenden Gottes räumlich konkret. Für das Mittelalter bedeutete die Allwissenheit des alles in sich schauenden Gottes den Umstand seiner nicht-sinnlichen und damit unvermittelten „Schau“ der Formen der Dinge. Vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Raumverständnisse konnte zwischen diese Dinge und den Geist Gottes eine Distanz treten, die durch ein neues Verständnis des Sehens Gottes getilgt werden musste, um dessen Allwissenheit in das neue Weltbild zu integrieren. Das neue Verständnis des Raumes, das diesen gleichsam verbindlicher, und damit zu einem in Betracht zu ziehenden Hindernis machte, störte gewissermaßen die alte Vorstellung der Allgegenwart und Allwissenheit Gottes. In besonderer Weise trat dieser Umstand schließlich Anfang des 18. Jahrhunderts an die Oberfläche des Diskurses, als Leibniz Newton vorwarf, seinen absoluten Raum als „Sensorium“ Gottes zur Wahrnehmung der Dinge erklärt zu haben. Dies stellte für ihn die Allmacht Gottes und seinen Status als Ursprung aller Dinge in Frage, da es ihn als von einem 26 Ebd.: S. 285f.

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Hilfsmittel der Wahrnehmung abhängig erscheinen ließ. Newtons Verteidiger Clarke antwortete darauf zu Beginn des berühmten Briefwechsels: „Sir Isaac Newton sagt weder, dass der Raum das Organ sei, das Gott zur Wahrnehmung der Dinge benutzt, noch dass Gott überhaupt irgendeines Hilfsmittels bedürfe, um mit ihm die Dinge wahrzunehmen, sondern im Gegenteil, dass Gott, da er allgegenwärtig ist, sämtliche Dinge aufgrund seiner unmittelbaren Gegenwart zu ihnen wahrnehme, und zwar im gesamten Raum, wo immer auch sie sich befinden mögen, ohne ein Dazwischentreten oder eine Mitwirkung irgendeines Organs oder irgendeines Hilfsmittels. […] Die Dinge des Universums fasst er [Newton] nicht so auf, als seien sie nur von gewissen Hilfsmitteln oder Organen gebildete Abbildungen, sondern er hält sie für wirkliche Dinge, die von Gott selbst erschaffen wurden und von ihm an allen Orten, wo auch immer sie sich befinden mögen, ohne ein Dazwischentreten irgendeines Hilfsmittels gesehen werden.“27

Man sieht: hier wird die Allwissenheit Gottes keineswegs eingeschränkt. Sie wird aber vor dem Hintergrund einer neuen Raumauffassung zum Problem – und dieses wird gelöst, indem der ehemals platzierte Gott allgegenwärtig gedacht wird und als immer schon über alle Räume hinweg allsehend. Betreffen diese Veränderungen im Weltbild gewissermaßen den großen Kontext des Einzelnen in seiner Beziehung zum Kosmos, so entsprechen ihnen ganz ähnliche im Kontext des Gesellschaftlichen. Auch dieser spezielle, gleichsam (im alten Sinne) untere Teil der sich auflösenden Schöpfungsordnung war von Entwicklungen betroffen, die den Blick – auch den reflexiven Blick auf sich selbst – aufwerteten und somit dem Überblick in menschlichen Zusammenhängen mit Bedeutung aufladen konnten. Im Zusammenhang mit Petrarca ist hier schon auf diesen neuen, geschärften Blick auf den Anderen hingewiesen worden, der das Gegenüber nicht immer schon als Repräsentanten einer gesellschaftlichen Kategorie erkennt, der vielmehr das Innere hinter dem Äußeren suchen, der den anderen durchschauen muss. Norbert Elias hat bekanntlich von seinem prozesstheoretischen Ansatz her eine Erklärung für diese Aufwertung des Blicks auf den Anderen geliefert: Mit der Renaissance ergaben sich in den europäischen Gesellschaften zunehmend komplexere Abhängigkeitsverhältnisse in wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen. Diese wirkten sich aber nicht nur gleichsam „äußerlich“ aus, sondern betrafen auch die psychische Verfasstheit der Zeitgenossen: Wirtschaftlicher und allgemein 27 Gottfried Wilhelm Leibniz – Briefwechsel mit Samuel Clarke, in: Dünne, Günzel, 2006, S. 58f; Für Leibniz erhielt der Blick Gottes auch vor dem Hintergrund seines Newton entgegengesetzten relationalen Raumbegriffs ebenfalls eine zentrale Bedeutung. Für ihn ergab sich der Raum als Synthese der verschiedenen Perspektiven der ihn wahrnehmenden Monaden – wobei Gott als einzige Monade alle diese Perspektiven in sich vereinigte.

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gesellschaftlicher Erfolg wurde abhängig von der Fähigkeit zur Affektkontrolle, insofern die zugrundeliegenden Strukturen zu komplex wurden, um noch auf der direkten Beeinflussung unmittelbaren Zwangs beruhen zu können. Der Einzelne musste sein eigenes Verhalten immer stärker auf das der anderen abstimmen und konnte sich dabei immer weniger auf die alten fest gefügten Ordnungs- und Verhaltensschemata verlassen. In einer solchen Situation gilt es, das eigene Verhalten wie von außen zu beobachten und zu kontrollieren, um in den Augen der anderen zu erscheinen, wie es Erfolg verspricht. Die gesellschaftliche Situation förderte so die Bedeutung des Distanzsinnes Sehen als Mittel der distanzierten (Selbst-)Betrachtung. Es ergab sich „eine verstärkte Neigung des Menschen, sich und andere zu beobachten“.28 Diese Aufwertung des Gesichtssinnes ist also Ausdruck eines allgemein stärkeren Bewusstseins für Distanz zu anderen und zu sich selbst als Objekt der Selbstbetrachtung und Selbstkontrolle. Sie ist insofern Ausdruck einer Tendenz zur Individualisierung, die, weil sie sich aus der Auflösung der alten, Sicherheit versprechenden Ordnung ergab, auch Selbstverantwortung im negativen Sinne forderte: verstanden als Angewiesenheit auf die teilweise zufälligen und immer gefährdeten Eigenschaften und Fähigkeiten der eigenen Person bzw. das Bild, das sich andere von diesen machten.29 Thomas Kleinspehn hat in seiner durch Elias geprägten Arbeit zum Thema die Folgen dieser Entwicklung für die Bedeutung des Sehens beschrieben: „Die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, die ab dem 15. Jahrhundert das Leben in Europa allmählich ganz entscheidend verändert haben, sind ohne die Vorrangstellung des Auges kaum denkbar. Der Mensch der Renaissance nimmt jetzt zum erstenmal sich selbst und seinen Körper als etwas wahr, das gegenüber Anderen eigenständig ist. Die Individuierung geht sehr eng einher mit der allmählichen Zivilisierung des Menschen, der immer mehr seine Affekte und seinen Körper zu kontrollieren sucht. Die aufgrund der Bevölkerungsdichte und wachsenden Abhängigkeiten notwendige größere Distanz der Menschen untereinander bedeutete immer auch körperliche Trennung, sichtbar z.B. auch an verstärkten Scham- und Peinlichkeitsgrenzen […]. Zugleich rückt dabei auch der Staat als Ordnungsfaktor in den Mittelpunkt, der – selbst ein ‚Kunstwerk‘ – die Ideale der rationalen Regelung des Lebens garantiert. […] So kommen in der Renaissance zwei Tendenzen zusammen, die konstitutiv sind für das bürgerliche Individuum: Zum einen die verstärkte Affektkontrolle, zum anderen entwickelt sich überhaupt erst die Möglichkeit, sich selbst und andere getrennt wahrzunehmen – und damit

28 Elias 1969, S. 102; Vgl. zum Bedeutungszuwachs des Auges auch S. 280f. 29 Vgl.: Kleinspehn 1989, S. 23f.

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auch auf ganz andere Weise Bildgegenstände wahrzunehmen. […] Die Menschen beschäftigten sich verstärkt mit sich selbst.“30

Wie diese Tendenz sich auch in konkreten Texten äußert, lässt sich sinnfällig an Machiavelli aufzeigen,31 dessen politische Philosophie früh und radikal die Konsequenzen zog aus der Auflösung der in der göttlichen Ordnung fundierten sozialen und politischen Unterordnungen. Auch in den Ratschlägen, die er seinem Fürsten gibt, spielt immer wieder die genaue Beobachtung der anderen und die Kontrolle des Anblicks, den er selbst bietet, eine wichtige Rolle. Entscheidend für seinen Erfolg bei der Erlangung oder Festigung der Macht ist es, nach außen hin bestimmte Eigenschaften zu zeigen und nach „innen“, im Verborgenen, im von anderen möglichst Ungesehenen ganz andere zu haben: „Ein Fürst braucht also nicht alle oben genannten Tugenden zu besitzen, muß aber im Rufe davon stehen. Ja, ich wage zu sagen, dass es sehr schädlich ist, sie zu besitzen und sie stets zu beachten; aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig und ehrlich zu scheinen ist nützlich. […] Ein Fürst muß sich daher wohl hüten, je ein Wort auszusprechen, das nicht voll der obengenanneten fünf Tugenden ist. Alles, was man von ihm sieht und höhrt, muß Mitleid, Treue, Menschlichkeit, Redlichkeit und Frömmigkeit ausstrahlen.“32

Der hier angelegte Gegensatz des inneren Wesens zum äußeren Schein wird von Machiavelli ausdrücklich als einer des Sichtbaren, des Anblicks den man bietet, zu dem, was es zu „fühlen“ gälte, gefasst. Er fährt fort: „Und nichts ist nötiger als der Schein dieser letzten Tugend; denn die Menschen urteilen insgesamt mehr nach den Augen als nach dem Gefühl.“33 Was aber ist dieses „Gefühl“, das das innere Wesen des anderen offenbart? Wie bereits bei Petrarcas Blick auf den verdächtigen Boten des Wahrsagers zu erahnen war, speist sich dieses Gefühl letztlich aus nichts anderem als einem genaueren, einem geschärften Blick, der die undeutlichen Anzeichen der eigentlichen Absichten usw. liest. Man sieht: die Beurteilung des Anderen und damit auch die der eige30 Ebd.: S. 66. Zur Lippe analysiert die in einem abstrakt geometrisch organisierten Raum angeordneten Gruppentänze des 16. Jahrhunderts als Selbst- und Affektkontrolle durch die Verinnerlichung des Blicks des „autritären Dritten“ – bei dem es sich in diesem Fall bezeichnender Weise um den Blick des Herrschers handelte, auf den sich die geometrische Ordnung der Tanzenden bezog: „Daß heißt, man suchte sich selbst nach den Augen des objektiven Zeitgenossen zu formen, wenn man sich bewegte, statt in originären Erfahrungen den eigenen Körper sich anzueignen“ (zur Lippe 1988, S. 274). 31 Vgl.: Kleinspehn 1989, S. 37. 32 Machiavelli 2001, S. 88. 33 Ebd.

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nen Person als Gegenstand der Selbstbetrachtung ist ungleich schwerer und unsicherer geworden, als sie sich z.B. bei Berthold von Regensburg darstellte. Für diesen war die Person durch ihren keineswegs einmaligen und individuellen Ort in der göttlichen Ordnung ausreichend bestimmt. Ebenso bestimmt war, wie sie sich zu verhalten hatte, und die Frage, ob ihr äußerliches Verhalten ihr Wesen wahrhaftig widerspiegelte, stellte sich überhaupt nicht. Kurz: Als im Zuge der Renaissance der Kontext des Einzelnen und des ihm gegenübertretenden Anderen als zunehmend ungeklärt, veränderlich und allgemein kontingent wahrgenommen wurde, erhielt der Blick als Mittel der Selbst- und Fremderkenntnis zunehmende Bedeutung. Eine seiner Funktionen wurde – auch dies kündigte sich bei Petrarca an – die metaphorische Selbstkontextualisierung in einem für abstraktere Zusammenhänge stehenden überblickten Raum als Ausdruck des Verständnisses für den Ort, das Ziel und den Weg des eigenen Lebens. An der Geschichte eines Symbols, das bereits im Mittelalter verbreitet war, materialisiert sich diese Veränderung in ihrer Verbindung zur Funktion des Raumes und der ihn überblickenden Perspektive vielleicht besonders eindrücklich: an der des Labyrinths bzw. des Irrgartens. Im Mittelalter waren Labyrinthe im eigentlichen Sinne des Wortes beispielsweise in der gotischen Kirchenarchitektur üblich. Diese Labyrinthe (das berühmteste ist vielleicht das in der Kathedrale von Chartres) waren flächig auf dem Boden angebracht und wurden von den Gläubigen durchlaufen. Es gab dabei nur einen möglichen Weg durch das Labyrinth – es war also nicht möglich sich zu verirren, zumal der Weg ja als ganzer jeder Zeit sichtbar war. Dieser Weg stand natürlich für den Weg zum Heil, der durch die mängelbehaftete, sündige Welt führt. Meist bestand die Zeichnung daher aus elf Kreisen, aus der für die Sünde und Unvollkommenheit stehenden Zahl (die zwischen der zehn der zehn Gebote und der zwölf der zwölf Apostel liegt). Ebenso befand sich der Eingang jeweils im Westen, der Region der Vergänglichkeit und des Jüngsten Gerichtes, die so ja auch auf den mappae mundi repräsentiert wurde.34 Im Zeitalter der Renaissance änderte sich diese Art der Darstellung: 1420 wurde der erste Irrgarten angelegt, also ein Labyrinth mit hohen Hecken, die die Sicht auf den zu wählenden Weg versperren. Diese Irrgärten ermöglichten zudem immer wieder mehrere Möglichkeiten der Wahl des Weges: Auch in ihrem Falle stand der Garten für den Weg zum Heil durch die sündige Welt – ein Weg, der aber in Ermangelung eines Überblicks über das Ganze dieser Welt für den Menschen immer wieder zweifelhaft war. So wurde der entsprechende Topos von einer Metapher für die Führung Gottes durch die Welt zum Heil zu einer solchen für den der Beschränktheit der menschlichen Wahrnehmung geschuldeten Zweifel des Einzelnen am einzuschlagenden Weg. Viele Irrgärten waren mit Türmen im Mittelpunkt ausgestattet, von denen herab sich am Ende des Weges ein Überblick über das Ganze ermöglichte, von denen aus 34 Vgl.: Kern1982, S. 201ff.

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die oben Stehenden auch den unten Irrenden aus einer Position des Wissens heraus zusehen konnten.35 Diese Position des Wissens war in der Logik der Metapher zudem natürlich die, die dem Allwissenden zukam – der Instanz, deren Führung man sich anvertrauen sollte, weil die eigene Wahrnehmung, das eigene ausschnitthafte Wissen, den Weg nicht weisen konnte.36 Obwohl auch im Mittelalter die Führung Gottes durch die Welt im Weg durch das Labyrinth dargestellt wurde, spielte diese erhöhte Position und das Verhältnis der Blicke unten im Labyrinth und oben über ihm keine Rolle. Ein von Kern gesammeltes (allerdings erst 1758 herausgebrachtes) Beispiel (Abbildung 8) ist hier gerade in Abgrenzung zu dem weiter oben erwähnten Lebensrad und in Parallele u.a. zu Petrarcas Blick vom Berg interessant: Eine Darstellung des Lebensweges als Irrgarten, in dem die Menschen von Lebensalter zu Lebensalter irren, während sie im Mittelpunkt der Tod mit Sense und Stundenglas erwartet. Der dem Betrachter dieser Zeichnung ermöglichte Blick von oben auf das Labyrinth entspricht in gewisser Hinsicht dem des Betrachters des Lebensrades: Mit dem Unterschied, dass die verschiedenen Blickpositionen im Unten und von oben eine bestimmende Funktion für die Metapher erhalten.37 Den deutlichsten und vor allem reflektiertesten literarisch-philosophischen Ausdruck dieser neuen Situation liefert uns vielleicht Montaigne. Der in seinen Arbeiten entwickelte neue Bezug zum Individuum zeigt einerseits deutlich, welche Probleme die Auflösung der alten Schöpfungsordnung mit sich brachte. Andererseits lässt er in der Negativität erahnen, welche Funktion die Metapher des Überblicks als Reaktion auf diese Probleme erhalten konnte.

35 Vgl.: ebd., S. 13 und 279f. 36 Ein Beispiel aus der umfassenden Sammlung Hermann Kerns zeigt einen Irrgarten, den die als Pilgerin dargestellte christliche Seele an einem von einem Engel von einem den Garten überragenden Turm herabgelassenen Faden durchläuft (Aus: Hermann Hugo: Pia Desideria, 1632): Die erhöhte Position hat eine eindeutig begründende Funktion für die des Wissens. Vgl.: Kern 1982, S. 300. 37 Vgl.: Kern 1982, S. 325.

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Abbildung 8: Gottfried Eichler d.J., Die Welt als Labyrinth.

Aus einer 1758 und 1760 in Augsburg verlegten Ausgabe von Cesare Ripas Iconologia.

Konnte Berthold die objektive Gegebenheit der Schöpfungsordnung noch voraussetzen und das Individuum über sie bestimmen und hatte Augustinus eine Tradition der Selbstvergewisserung angestoßen, die in der Innerlichkeit einen Weg zu Gott sah, die in der Wendung des Subjektes auf seine „persona“, die Begegnung mit Gott suchte, so ergab sich für Montaigne die Notwendigkeit einer neuen Form des Selbstund Weltbezugs, welche die bereits bei Cusanus abzusehende Säkularisierung des in der Verstandestätigkeit Erfassten weiter trieb. Montaigne interpretiert das Prinzip der Perspektivität in der Hinsicht radikaler als noch Cusanus, dass ihm nicht nur die hierarchische Ordnung des Universums unter Gott hinfällig wird, sondern dass seinem Denken auch jene durch die Vernunft geleistete Überschreitung des im Sinne der perspektivischen Abhängigkeit und Ungenauigkeit Nicht-Gewussten im Wissen um

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die coincidentia oppositorium abgeht. Er gibt also zumindest das Wissen um das alles Einzelne Umfassende auf: All die gegensätzlichen Meinungen, Denkmöglichkeiten und eben oft widersprüchlichen Perspektiven auf die Wirklichkeit, die er in seinen Essais anhäuft, sollen die Grenzen des Wissens aufzeigen und die daraus resultierende unübersehbare Vielheit der Welt, die sich keiner von Menschen entworfenen Ordnung fügt. Die cusanische gelehrte Unwissenheit, die in der reflexiven Erkenntnis des Nicht-Wissens bzw. der Unvereinbarkeit der Gegensätze im menschlichen Geist auf die Vereintheit im Göttlichen schließt, fehlt dabei.38 Die gerade in den zeitgenössischen Religionskriegen aufbrechenden Widersprüche, die auch den Glauben des Einzelnen oft schwanken lassen, verweisen auf keine übergeordnete Einheit. Sie erweisen vielmehr die von göttlicher Offenbarung abgeschnittene Perspektivität menschlicher Erkenntnisbestrebungen: „Wären wir dank eines lebendigen Glaubens mit Gott verbunden, wären wir mit ihm durch ihn selbst und nicht durch uns verbunden, wüssten wir auf dem göttlichen Fundament Fuß zu fassen, dann hätten die menschlichen Widerfahrnisse nicht die Macht, uns zu erschüttern, wie sie es doch tun […]“39

Die Welt, sich selbst und auch Gott erschließt der Mensch also von seinem unabänderlich perspektivischen Standpunkt aus. Die Folge dieser Haltung ist die Auflösung des Glaubens an eine objektiv gegebene Ordnung der Schöpfung und gewissermaßen eine Freisetzung des in ihr aufgehobenen Einzelnen – bis in die Form seiner Darstellung im dazu neu entwickelten Essai: „Die Vorstellung von der Welt als einer letzten, umgreifenden Totalität, die alles Vielfältige in sich erfasst, wird in Montaignes Essais in eine Vielfalt von Weltaspeken aufgelöst.“40 Dies äußert sich zunächst in den von Montaigne gewählten Formen der Darstellung der Welt und hat schließlich Folgen für den Versuch einer Selbstbestimmung und Selbstkontextualisierung in diesem Zusammenhang. Die Vielheit der Perspektiven auf die Welt – die sich unter den Bedingungen der Einebnung der alten hierarchischen Schöpfungsordnung besonders eindrücklich in dem Verweis auf die uns unbekannte Perspektive der Tiere äußert, denen wir vielleicht ganz zu Unrecht ein Verstandesvermögen absprechen41 – lässt diese Perspektive in einem Zustand permanenten Wechsels bestehen. Für diesen bietet sich die Metapher des Schwankens und Schaukelns von Symbolen der historischen und materiellen Beständigkeit an:

38 Vgl.: Gessmann, 1997, S. 132. 39 Montaigne 2004, S. 218 (II, 12). 40 Stierle 1987, S. 424. 41 Vgl.: Montaigne 2004, S. 224 (II, 12).

156 | D AS G ANZE IM B LICK „Die Welt ist nichts als ein ewiges auf und ab. Alles darin wankt und schwankt ohne Unterlass: Die Erde, die Felsen des Kaukasus und die Pyramiden Ägyptens schaukeln mit dem Ganzen und in sich. Selbst die Beständigkeit ist bloß ein verlangsamtes Schaukeln.“42

Gerade darin, dass Montaigne diese Auflösung des Glaubens an die Beständigkeit und Einheit nicht nur auf die Welt, sondern vor allem auch auf sich selbst bezieht, liegt natürlich seine Bedeutung für eine Darstellung der zeitgenössischen Formen des Selbstbezugs. Auch die Einheit der eigenen Lebensgeschichte, um die Petrarca mit seinem Blick vom Mont Ventoux rang, löst sich ihm in ein Nebeneinander von letztlich nicht mehr zu einer Einheit zu ordnenden Einzelheiten und Widersprüchen auf. Die Frucht der Auflösung der alten Möglichkeiten der Selbstbestimmung ist auch bei ihm die genaue Selbstbeobachtung als Individuum. Was sie erfasst, ist aber keineswegs ein einheitliches und als sichere Grundlage des Selbstverständnisses taugliches Subjekt, sondern ein ebenfalls schwankendes und stets veränderliches: „Ich, der ich mich näher beobachte und stets im Blick behalte, […] getraue mich kaum zu sagen, wie viel Unzulänglichkeit, ja Unvermögen ich in mir entdecke. Ich stehe auf so unsicheren und wackligen Füßen, ich gerate so leicht ins Wanken und Schwanken und sehe die Dinge in so wechselhaftem Licht, dass ich mich nüchtern als einen anderen empfinde denn nach dem Essen.“43

Mit Stierle kann man also konstatieren: „Die Progression der Vielheiten ist eine Erfahrung des auf sich selbst gestellten Ich, das sich in einer Welt zu orientieren sucht, in der jedes verbindliche Zentrum fehlt. […] Doch das Ich, das in seiner Vereinzelung der Vielheit standhält, ist selbst nicht mehr substantiell in sich geeint. Der Zerfall der Einheit in Vielheiten macht an der Grenze des Ich nicht halt.“44

So lässt der ständige Wandel sowohl des Subjektes der Erkenntnis als auch derjenige ihrer Objekte sichere Erkenntnis unmöglich erscheinen. Die cusanische Gewissheit der Ebene des Zusammenfalls von Subjekt und Objekt in der göttlichen Einheit fehlt hier oder spielt immerhin keine Rolle, insofern sie doch wieder nicht gewusst, wenn auch sicherlich gehofft werden könnte: „Aus alldem folgt: Es gibt überhaupt kein Dasein, das beständig wäre – weder das unsere ist es, noch das der Dinge. […] So lässt sich nichts Sicheres vom einen aufs andere schlie-

42 Montaigne 2004, S. 398, (III, 2). 43 Montaigne 2004, S 282 (II, 12). 44 Stierle 1987, S. 435.

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ßen, befinden sich Urteilender und Beurteiltes doch in fortwährendem Wechsel und Wandel.“45

Auch das immer schon in der Einheit der Erfahrung gegenwärtige transzendentale Subjekt der Erkenntnis, wie es in späteren Entwürfen konstruiert werden wird, fehlt bei Montaigne. Wie in Politik und Religion, so fehlt auch in der Erkenntnis allgemein ein vorurteilsloser und unabhängiger „Richter“ über die anzusetzenden Maße, eine als unveränderlich und in sich ungeteilt vorauszusetzende Instanz: „Wir brauchten einen, der frei von allen solchen Befindlichkeiten [z.B. Alter, Gesundheit, M.R.] wäre, damit er vorureilslos über diesbezügliche Fragen urteilen könne, weil sie ihn gleichgültig ließen. Wir brauchten insoweit einen Richter, wie es ihn noch nie gegeben hat.“46

Diese skeptische erkenntnistheoretische Position und die aus der genauen Selbstbeobachtung hervorgegangene Überzeugung der eigenen Unbeständigkeit und inneren Vielheit führen zu einer bestimmten Form der metaphorischen Selbstkontextualisierung, die in gewisser Hinsicht dem Überblick bei Petrarca entspricht, die aber nicht die Ebene eines solchen zumindest zunächst positiv genutzten Blicks von oben erreicht – weil ein solcher die Position und das Anliegen Montaignes auf der metaphorischen Ebene völlig konterkariert hätte. In seinem Essay zur Knabenerziehung rät er zu einer Form der Selbstbetrachtung im Kontext des Ganzen, die einerseits zugleich Mahnung zur Demut, zur Relativierung der eigenen Wichtigkeit ist und andererseits das Ganze, in dem der Einzelne klein ist, nicht als überschaubar erscheinen lässt: „Wer sich aber wie auf einem Gemälde das große Bild unserer Mutter Natur in ihrer vollen Majestät vor Augen hält, wer in ihrem Antlitz ihren unendlichen, sich ständig wandelnden Formenreichtum liest, wer sich darin, und nicht nur sich, sondern ein ganzes Königreich als winzigen Strich entdeckt, wie von der Spitze des feinsten Pinsels hingesetzt: der allein schätzt die Dinge nach ihrer wahren Größe ein.“47

Vor dem „unendlichen, sich ständig wandelnden Formenreichtum“ der Natur ist der Einzelne klein. Aber: dieser Formenreichtum ist eben vor allem von seinem Standpunkt aus nicht zu überschauen, das heißt in eine umfassende Ordnung zu bringen. Die hier geforderte Selbstkontextualisierung ist insofern nicht eine Selbstplatzierung in einem verstandenen und in der Metapher erfassten Ganzen, sondern vielmehr eine Art vertrauensvolle Selbstabgabe an das nicht mehr gekannte aber doch 45 Montaigne 2004, S. 299 (II, 12). 46 Montaigne 2004, S. 298 (II, 12). 47 Montaigne 2004, S. 86f (I, 26).

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immerhin als gegeben gewusste Ganze der Natur. Die Natur wird Montaigne zur letzten und einzigen Offenbarung der Schöpfung – schlicht in der Tatsache ihrer Gegebenheit. Ähnlich sieht sich Montaigne auch im Kontext der Traditionen. Sein Konservatismus erwächst aus dem Bewusstsein der Grenzen der eigenen Urteilsfähigkeit und beruft sich auf die relative Legitimität des Überkommenen als „Natur unter den Bedingungen der Kultur“.48 Also: Wenn man Neuerungen nicht auf sicherem Wissen – sei es um die Natur oder Gott – gründen kann, ist es besser sich an das bereits Gegebene zu halten, das man immerhin aus eigenem Erleben kennt.49 Vor diesem Hintergrund liegt auf der Hand, dass Montaigne nur Spott übrig hat für Äußerungen von menschlichen Wissensansprüchen, die in ihrer Darstellung der seinen im obigen Zitat zunächst scheinbar ähneln, die aber gerade in der Frage der Überschaubarkeit des Ganzen, in dem der Einzelne sich befindet, weniger zurückhaltend sind. So bezieht er sich z.B. auf ein Zitat von Cicero: „Doch hört nur, wie dieses arme und unglückselige Geschöpf sich in die Brust wirft: ‚Nichts ist so süß wie die Beschäftigung mit den Wissenschaften‘, behauptet Cicero, ‚jenen Wissenschaften, sage ich, durch welche die Unendlichkeit der Dinge, die grenzenlose Größe der Natur, selbst die Himmel dieser Welt, ihre Erdteile und Meere uns enthüllt werden; sie sind es, die uns den Glauben, die Mäßigung, die Weitherzigkeit gelehrt und unserer Seele der Finsternis entrissen haben, um sie alle hohen und niedrigen, alle ersten, letzten und mittleren Dinge schauen zu lassen; […].‘“50

Scheinbar möchte Cicero hier dieselbe Demut vor der „Unendlichkeit der Dinge“ hervorrufen, auf die Montaigne abzielt. Der entscheidende Unterschied ist aber sein offenbarer Glaube an die Fähigkeit des Verstandes diese Unendlichkeit zu bewältigen, sein Glaube an das Verhältnis der Passung, in dem Verstand und Welt stehen. Der Zusammenbruch der alten Ordnungsvorstellungen im Zuge der Renaissance hat dies für Montaigne unmöglich gemacht, zumal er als immer wieder auch politisch aktiver Franzose die Wirren der Religionskriege durchlebte und an einer vom Ursprung her legitimierte Auslegung der Überlieferungen nicht festhalten konnte. Seine konservative Haltung und auch sein in der politischen Praxis verfolgtes Prinzip des „minimalen Machtgebrauchs“51 hatten wie erwähnt andere Motive. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang auch Montaignes Haltung zu den neuen geografischen Entdeckungen und zur kopernikanischen Wende. Die Tatsache, dass u.a. durch die Entdeckung Amerikas die durch Ptolemäus festgelegten Grenzen der Welt verschoben wurden, wird ihm nicht etwa zum Erweis der 48 Stierle 1987, S. 437. 49 Vgl.: Gessmann 1997, S. 85f. 50 Montaigne 2004, S. 243 (II, 12). 51 Schulz 1989, S. 105.

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menschlichen Fähigkeit der Welterschließung, sondern zu einem Zeichen, dass jede Festlegung dieser Art nur vorläufig sein kann: „Ptolemaios, der ein bedeutender Mann war, hatte die Grenzen unserer Welt festgelegt, und alle Philosophen der Antike glaubten, sie in ihrer ganzen Ausdehnung zu überschauen […]. Und jetzt erleben wir, wie in diesem Jahrhundert ein unermesslich großes Festland entdeckt wird […] – und auf der Stelle versichern uns die heutigen Geographen, dass damit alles aufgefunden sei und man nunmehr alles zu Gesicht bekommen habe, […]. Da sich hierin Ptolemaios aber seinerzeit von Grund auf irrte, bleibt doch zu fragen, ob es nicht töricht wäre, wenn ich mich jetzt auf das verließe, was diese Geographen zum Thema vorbringen, und ob nicht vielmehr die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der große Körper, den wir Welt nennen, überhaupt etwas ganz anderes ist, als wir jeweils meinen.“52

Also: Die Gestalt der Welt als ganze ist mit menschlichen Mitteln nicht zu erfassen, im wahrsten Sinne nicht kartierbar – und dies erweist sich nicht trotz, sondern in gewisser Hinsicht gerade wegen der neusten Entdeckungen und der neuen oder neu entdeckten Techniken der Kartographie. Ähnliches gilt für Montaigne auch für die astronomische Modellbildung. In seiner Haltung in dieser Frage zeigt sich eine Ausprägung des Demutsbegriffs und in gewisser Hinsicht ein Konservatismus, die ganz ähnlich zur Grundlage von Produktionen werden, in denen der Blick von oben eine typische und problematische Rolle spielt – so z.B. gewisse Arbeiten Brueghels und Miltons, die ich im Folgenden genauer untersuchen werde. Auch das neue kopernikanische Modell und die Tatsache, dass es im Sinne einer mathematischen Hypothese gewissermaßen gut gerechnet ist, zeigen für ihn nur die Vorläufigkeit jedes Wissensanspruchs. Als praktische Konsequenz für den Menschen folgert er daraus eine Haltung der Gleichgültigkeit, der Enthaltsamkeit im Anspruch auf Wissen: „[…] und zu unserer Zeit hat Kopernikus diese Lehre [die heliozentrische Lehre, wie sie bereits in der Antike von einzelnen Philosophien vertreten wurde M. R.] auf eine so sichere Grundlage gestellt, dass er hieraus alle astronomischen Berechnungen völlig zuverlässig ableitet. Was können wir dem anderes entnehmen, als dass es uns wenig kümmern sollte, welche dieser beiden Auffassungen [das heliozentrische bzw. geozentrische Weltbild] richtig ist? Denn wer weiß, ob in tausend Jahren nicht eine dritte die beiden vorhergehenden über den Haufen wirft.“53

Vor diesem Hintergrund ist auch die Demutsforderung im Sinne Montaignes zu sehen: Nicht als Dezentrierungserfahrung, die sich dem Glauben an das neue Weltbild 52 Montaigne 2004, S. 285 (II, 12). 53 Montaigne 2004, S. 284 (II, 12).

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verdankt (so hätte sie durchaus auch Neuzentrierung sein können wie bei Kopernikus selbst), sondern als ebensolche, die sich aus einer Situation ergibt, in der die alte Ordnung eingeebnet, aber keine verlässliche neue an ihre Stelle getreten ist.54 Der menschliche Wissensdrang muss so als Übel erscheinen, ja sogar als Einflüsterung des Teufels in der Erbsünde: „Aus dem Gehorchen und Sichfügen erwächst jede andere Tugend, wie aus der Anmaßung jede Sünde. Und umgekehrt: Die erste Versuchung, in welche die menschliche Natur durch den Teufel geführt wurde, sein erstes Gift, das er uns einflößte, bestand in der Verheißung von Wissen und Erkenntnis: Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. […] Die Pest des Menschen ist es, dass er zu wissen wähnt. Daher wird uns von unserer Religion die Unwissenheit als dem Glauben und Gehorchen förderlich so dringend ans Herz gelegt.“55

In Miltons „Paradise lost“ wird man weiter unten sehen, wie diese „Versuchung, in welche die menschliche Natur durch den Teufel geführt wurde“ ausdrücklich und im wahrsten Sinne mit dem menschlichen Traum vom Überblick verbunden wird. Das Problem bei Montaigne ist, wie erwähnt, dass sich die Ablehnung der menschlichen Wissensansprüche auch auf die Prinzipien der Schöpfung und ihrer Ordnung erstreckt – abgesehen von der Evidenz ihrer bloßen Tatsache. Was bei ihm fehlt, ist nicht nur der Glaube an die ihre engen gegebenen Grenzen überschreitende menschliche Erkenntnisleistung, sondern auch der an eine ohne Zweifel als solche zu identifizierende Offenbarung. Was bleibt ist der Glaube an das alles umfassende Wissen Gottes als ein Wissen, das dem Menschen grundsätzlich unzugänglich ist. Der Wahn dieses Wissen zu besitzen, muss ihm daher als Anmaßung erscheinen, eben als Hybris. Als Beispiel eines anderen Weges, den man in einer prinzipiell ähnlichen Ausgangslage einschlagen konnte, mag hier kurz auf die mystische Theologie Jakob Böhmes hingewiesen werden. Diese ist vor allem auch interessant, weil sie die Ikonographie des „Auges der Vorsehung“ inspiriert hat, die im Barock weit verbreitet war. Auch Böhme bestreitet die Fähigkeit des Menschen von sich aus ein festes Wissen über die Welt zu erlangen, in deren Kontext er lebt. Ach er reagiert hierin sicherlich auf die Zweifelhaftigkeit des alten Weltbildes und die spätestens nach der Reformation endgültig erschütterte Autorität der in der Stellvertreterschaft des Papstes legitimierten Überlieferung. Ausdrücklich vollzieht Böhme den „Weltbildbruch“56, wenn er von der Bewegung der Erde um die stillstehende Sonne ausgeht.57 54 Vgl.: Gessmann, 1997, S. 58ff. 55 Montaigne 2004, S. 242f (II, 12). 56 Pältz 2001, S. 73. 57 Vgl.: Böhme 1955, 25, 60f.

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Vor allem lehnt er die alte Vorstellung des im Empyreum verorteten Gottes ab und gibt damit die ontologische Unterscheidung zwischen den sub- und translunaren Bereichen des Kosmos zugunsten einer ontologisch homogenen Raumauffassung auf.58 Sein Ausweg aus dieser Situation ist aber ein anderer als der Montaignes: Er beruft sich auf die Offenbarung als Medium der Erkenntnis, auf die in der demütigen Selbstaufgabe sich ereignende Teilhabe am Wissen um das Ganze der Schöpfung. Das durchaus Neue an dieser Form der eigentlich alten Offenbarungsvorstellung ist wohl auch hier die Rolle der Natur: Sie wird in gewisser Hinsicht zum Subjekt dieser Offenbarung. Der Blick auf Gott ist nicht mehr visio facialis im alten Sinne oder der augustinische Blick ins eigene Innere der memoria, sondern der Blick auf die Natur bzw. Ergriffen-Sein durch den gleichsam in der Natur verteilten (wenn auch von ihr unterschiedenen) Gott. So erhält der Mensch bei Böhme also einen Überblick über die Welt. Dies setzt aber voraus, dass er sein autonomes Wissensstreben ausschaltet und sich der Offenbarung durch den in der Natur (auch im einzelnen Menschen) allgegenwärtigen Gott öffnet: „In meinen eigenen Kräften bin ich so ein blinder Mensch als irgend einer ist, und vermag nichtes; aber im Geiste Gottes siehet mein ingeborner Geist durch Alles, aber nicht immerdar beharrlich; sondern wenn der Geist der Liebe Gottes durch meinen Geist durchbricht […].“59

So entfaltet Böhme in seinen Schriften also eine Darstellung der Gesamtheit der Natur und des Kosmos in ihrem Zusammenhang mit Gott, der als solcher äußerst unbescheiden erscheint – der sich aber der Vorstellung des Autors nach gerade einer Ergreifung der einzelnen Seele, die im Normalfall alles nur „stückweise“60 sieht, durch den allgegenwärtigen Geist Gottes verdankt: „So man aber will von Gott reden, was Gott sey, so muß man fleißig erwegen die Kräfte in der Natur; darzu die ganze Schöpfung, Himmel und Erden, sowohl Sternen und Elementen, und die Creaturen, so aus denselben sind herkommen, sowohl auch die heiligen Engel, Teufel und Menschen, auch Himmel und Hölle.“61

Montaigne bleibt in einer ähnlichen, wenn auch in seinem Fall – als von den Wirren der Religionskriege bereits voll betroffener Franzose – gewissermaßen dringlicheren Situation in seiner Interpretation des Wissens als Nichtwissen gleichsam noch unter dem Wissensanspruch des Cusanus. Böhme geht weit darüber hinaus, indem

58 Vgl.: ebd.: 22, 35 und 25, 20. 59 Ebd.: 22, 51. 60 Ebd.: Vorrede, 104. 61 Ebd.: 1, 1.

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er aus dem Wissen um das Nicht-Wissen den Ausweg der für den Menschen verständlichen, seinem Verstand also adäquaten Offenbarung wählt: „Im Unterschied zu Cusanus entwickelt Böhme aufgrund des Glaubensgrundsatzes jedoch nicht Vermutungen, sondern eine Erkenntnispraxis, die die Grenzen, die im Cusanischen Begriff der docta ignorantia festgelegt sind, überschreitet. Diese Überschreitung geschieht nicht durch den Versuch einer Ausdehnung menschlichen Erkenntnisvermögens, sondern […] durch eine fast gegenläufige Bewegung des demütigen ‚Einsinckens‘.“62

Der Überblick als Metapher spielt bei Böhme selbst keine Rolle. Dies hat einen ähnlichen Grund wie bei Cusanus: Böhmes Gottesvorstellung weist diesem keinen bestimmten Ort im Kosmos zu. Das Bild einer bestimmten Perspektive des Allsehenden bietet sich daher nicht an. Seine zentrale Metapher für die Allgegenwart Gottes in der Natur ist vielmehr die eines den Baum der Natur am Leben erhaltenden Saftes, der sich im Mikrokosmos des menschlichen Körpers als Blut wiederholt.63 Auch die das Ganze des Kosmos darstellbar machende Körpermetapher erhält bei ihm also große Bedeutung. Im Mikrokosmos des menschlichen Körpers entspricht dabei das Blut dem im Ganzen verteilten göttlichen Prinzip.64 Dementsprechend stellt Böhme bei der Beschreibung seines Gottes die Bedeutung der Nahsinne unmittelbar neben die alte der Fernsinne, vor allem neben die des Sehens: „[Gott, MR] ist ein allmächtiger, allweiser, allwissender, allsehender, allhörender, allriechender, allfühlender, allschmeckender Gott […].“65 Obwohl also bei Böhme selbst kein göttlicher Überblick eine Rolle spielt, trat sein Denken bzw. die Funktion und der Kontext, die es der Offenbarung gab, in zweierlei Hinsicht in eine Verbindung mit dieser Metapher: Zum einen wurden im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen seiner Werke die vor allem barocke Ikonographie des Auges der Vorsehung wichtig. Gottes Vorsehung, die bekanntlich bereits im Mittelalter mit seinem Blick verbunden war, wurde nun tatsächlich auch in der bildlichen Umsetzung durch ein über der unten liegenden Welt schwebendes Auge dargestellt. So konnte nun die Offenbarung durch Gott als durch Demut erreichte Anteilhabe an diesem Überblick über das Gaze der Welt erscheinen. Dem von sich aus dieses Ganze immer nur „stückweise“ wahrnehmenden Menschen wird im Sinne dieser Darstellungen tatsächlich ein von oben blickender, den Zusammenhang der Stücke erfassender Blick entgegengesetzt. Speziell die Darstellung des Auges Gottes in dem für die Dreieinigkeit stehenden Dreieck lässt sich auf die Ti-

62 Schoeller Reisch 1999, S. 137f. 63 Vgl.: Vorrede, 4f. 64 Vgl.: ebd.: 25, 22 („Der ganze Leib dieser Welt ist gleichwie ein menschlicher Leib.“). 65 Ebd.: 3, 11.

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telkupfer zu verschiedenen Böhmeausgaben zurückverfolgen.66 Als Beispiele für die auch ansonsten weit verbreitete Verarbeitung dieses Topos mag hier das entsprechende Emblem aus Comenius’ orbis pictus dienen (Abbildung 9). Die von Schleusener-Eichholz67 gesammelten Beispiele aus dieser Zeit verbinden das allsehende Auge Gottes noch eindeutiger mit kartographischen Überblicken über die Erde. Eine ganz andere, gleichsam entgegengesetzte Bedeutung wird die bei Böhme aufgefundene Forderung der demütigen Selbstentleerung in Karl Philip Moritz’ „Anton Reiser“ erhalten: Als Quelle der (Selbst-)Entwertung des Einzelnen. Als eine Reaktion auf diese Forderung wird dieser Text immer wieder den menschlichen Überblick erscheinen lassen – als Gegenkonzept zur nur in der Selbstverneinung ermöglichten Übernahme von Wissen um das Ganze, den eigenen Kontext und damit die eigene Bedeutung. Dies wird hier ein Beispiel sein für die Herauslösung des menschlichen Überblicks aus dem Verhältnis des menschlichen zum göttlichen Blick, ein Beispiel für die Säkularisierung des Überblicks. Man sieht also, dass die Renaissance in verschiedenen Bereichen diejenigen Mängel auftreten ließ, die dem Überblick der Selbstkontextualisierung Sinn verleihen können. Gleichzeitig hielt sie Prägungen bereit, die Misstrauen dieser Möglichkeit gegenüber nahe legten, die den Blick von oben eher als Metapher der Hybris und der unstatthaften menschlichen Wissensansprüche verstanden, denn als zu begrüßendes Mittel der autonomen Selbstbestimmung des Menschen im ausreichend verstandenen Ganzen seines Kontextes. Es scheint so, dass besonders im 16. Jahrhundert erstere Bezugnahme die Formen des Überblicks meist begleitete, während sie seit dem 17. Jahrhundert immer häufiger in gleichsam rein menschlichen Belangen auftreten. Ein wichtiges Feld dieser Belange wurde dabei dasjenige der weltlichen Macht.

66 Vgl.: Geissmar 1993. 67 Vgl.: Schleusener-Eichholz 1985, S. 1091ff und 1108.

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Abbildung 9: Das Auge der Vorsehung.

Aus: Jan Amos Comenius, Orbis Senualium Pictus, 1659 (1970).

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An der metaphorischen Funktion, die Machiavelli der Höhe in dem oben zitierten Stück aus seiner Widmung an Lorenzo Medici gibt, war bereits zu erahnen, wie die neuen Formen der Repräsentation von Welt eine Verbindung zu solchen der Macht erhielten.68 Für Machiavelli scheint es ganz selbstverständlich, Privilegien bzw. Positionen des Wissens und der Macht in der Beziehung verschiedener Perspektiven auf eine Landschaft darzustellen – und dem Überblick über das unten Liegende in diesem Verhältnis die Rolle des Blicks der Herrschaft und der politischen Kontrolle einzuräumen. Dies geschieht zwar in offensichtlich strategischem Interesse – es geht Machiavelli vor allem darum, sich selbst, den unten Stehenden und nach oben Blickenden, dem Herrscher als Träger nützlichen Wissens zu empfehlen. Gerade so offenbart sich aber die zeitgenössische Eingängigkeit der Metapher. Die Theorie der Herrschaft, die Machiavelli in seinem „Fürst“ entwirft, markiert bekanntlich eine Wende in den Ansichten zur Ontologie und Legitimation des Staates und der Geschichte. Diese Wende vollzog sich im Folgenden zwar keineswegs all-

68 Vgl.: S. 44.

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gemein oder gleichsam offiziell – zumal die absolutistisch verfassten Nationalstaaten Europas standen auf anderen ideologischen Grundlagen. Machiavelli reagierte aber auf bestimmte allgemeine Veränderungen, die letztlich darin bestanden, dass mit der Zweifelhaftigkeit der objektiven Schöpfungsordnung alter Prägung, wie sie die Reflexion auf die Perspektivität menschlicher Erkenntnis mit sich gebracht hatte, auch die objektive Gegebenheit des Staates in dieser Ordnung zweifelhaft wurde. Die alten Formen der metaphorischen Repräsentation staatlicher Einheit und von Herrschaft mussten sich in dieser Situation verändern. Machiavellis Ratschläge an den „Fürsten“ stellen hier eine äußerst radikale Stellungnahme dar und wurden auch als solche rezipiert. Aber auch andere Transformationen ließen die alte von der Körpermetapher des Staates ausgehende Form der Repräsentation nicht unverändert – wenn auch diese Metapher als solche beibehalten wurde, sich nur u.a. in der Rolle, die sie dem Souverän gab, veränderte. Diese Veränderungen gaben dem Überblick Funktionen, die sich oft (besonders im Absolutismus) unmittelbar auf die Position des Herrschers bezogen. Davon abgesehen ergab sich aber auch ein allgemeines Bedürfnis der Repräsentation staatlich-politischer Zusammenhänge als Einheiten, das Formen des Überblicks allgemein verbreitete. Ganz besonders in Gegenden Europas, die nicht oder noch nicht von absolutistischen Herrschaftsverhältnissen geprägt waren, erhielten hier die Kartographie und die Vedute große Bedeutung im Zusammenhang eines aufkommenden bürgerlichen Nationalismus oder auch Regionalpatriotismus. Die entscheidende Neuerung, die sich in der Staatsphilosophie Machiavellis vollzog, war natürlich die Säkularisierung des Staates und der Geschichte. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der wechselhaften Entwicklungen zwischen den von wirtschaftlichen Krisen und ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen heimgesuchten oberitalienischen Stadtstaaten69 setzte er als das höchste Ziel politischer Bestrebungen die Stabilität des gegebenen Staates. Damit eliminierte er jeden Hinweis auf dessen Stellung im göttlichen Heilsplan oder seine Funktion für die Erreichung moralischer Zwecke, die auf diesen verweisen. Gerade das, was im mittelalterlichen Verständnis in Bezug auf den Staat als am wenigsten problematisch erschien – seine Stabilität und Integrität als in der Ordnung der Schöpfung vorgesehene Entität70 – wurde für Machiavellis Ansatz zum eigentlichen Problem, weil diese gegebene Ordnung nicht mehr vorausgesetzt wurde. So konnte die Lösung dieses Problems – die je konkrete und letztlich auch nur vorübergehende Erreichung staatlicher Stabilität und Selbsterhaltung – für ihn zum höchsten Ziel politischen Handelns und Denkens werden.71 Er erhebt also das faktisch Gegebene, sozusagen das 69 Vgl.: Münkler 1982, S. 131ff. 70 Wenn auch bekanntlich die genauere Stellung dieser Entität im Konflikt von sacerdotium und imperium strittig war. 71 Vgl.: Münkler 1982, S. 45.

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konkrete Individuum des Staates, zum Endziel des Handelns eines Fürsten oder der Gesetzgebung einer Republik. Er fasst den Staat als durch vernünftiges und entschlossenes Handeln zu schaffendes Artefakt auf. In dieser Haltung entspricht Machiavelli tatsächlich dem neuen Wirklichkeitsbezug der zeitgenössischen Landschaftskunst, deren Blick auf die Welt er zum Modell des Herrscherwissens über das Beherrschte macht: „Die neue Naturvorstellung der Renaissance hat in den Bildern Leonardos nachhaltigen Niederschlag gefunden: Frei von allem transzendent-symbolischen Gehalt weitet sich der Blick auf eine Welt, die nur sie selbst ist und sich selbst genügt. ‚Der Naturbegriff der Renaissance ist weitgehende Freigabe der Welt aus einer vorgeprägten Dienstbarkeit für den Menschen, gerade weil der Mensch kraft seiner autonomen Vernunft für fähig gehalten wird, sich einer sich selbst zugewandten Natur gewachsen zu zeigen – bis hin zur Vorstellung von ihrer Überwältigung und Beherrschung, die nicht mehr Vollzug einer teleologischen Struktur sein kann‘. […] Parallel zu dieser Entwicklung des naturwissenschaftlichen Denkens hat Machiavelli den Gedanken einer weltimmanenten Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit geschichtlicher Abläufe begründet. Indem er alle transzendenten Einwirkungen aus der Geschichte verbannte, eröffnete er die Möglichkeit einer kausalen Geschichtserklärung, die nicht mehr auf das wie auch immer erschlossene Wollen Gottes, sondern allein auf die Natur der Menschen, ihr Verhalten und ihre Handlungen rekurrierte.“72

Für eine derartige Auffassung der Herrschaft und des Beherrschten machte die an der Landschaftskunst orientierte Metapher des Überblicks also ganz neuen Sinn: Der Staat erschien als zu schaffende und zu erhaltende, immer von Korruption bedrohte Einheit. Da zugleich die alten Formen der Darstellung einer solchen Einheit als Teil des Ganzen der Schöpfung nicht mehr verwertbar waren, bot sich der Blick von oben als Ausdruck persönlichen und auf das konkret Gegebene gerichteten Macht-Wissens an. Die oft wirren und stets veränderlichen politischen Verhältnisse waren von einem Herrscher gleichsam in einer immer wieder den Ereignissen der Zeit anzupassenden politischen „Karte“ zu bewältigen.73 War im mittelalterlichen Staatsverständnis der Fürst in die stabile, in der Struktur der Schöpfung vorgesehenen Entität des Staates integriert, ist das Verhältnis des Fürsten Machiavellis zu seinem Staat „durch Singularität, Exteriorität und Transzendenz bestimmt“.74 Der Staat ist dem Fürsten in gewisser Hinsicht fremd – und diesen in der Äußerlichkeit der Beziehung liegenden Mangel gilt es durch eine gleichsam wissenschaftliche 72 Münkler 1982, S. 243f. Zitiert wird aus: Blumenberg 1996 (1981, 1975), S. 48 73 Gerade dieses Beharren auf der Notwendigkeit sich den „Zeiten“ anzupassen, sie also als individuelle Erscheinungen hinzunehmen, zu verstehen und auf sie zu reagieren, zeichnet Machiavellis Ratschläge aus. Vgl.: Skinner 1988, S. 34; Münkler 1982, S. 40. 74 Michel Foucault, Die Gouvernementalität, in: Foucault 2005, S. 152.

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Anstrengung zu beheben; ein genauer und auf das eine Subjekt des Herrschers bezogener Blick auf den zu beherrschenden Gegenstand wird zur Voraussetzung seiner immer instabilen Kontrolle. Der Herrscher muss sich somit aus einem Bereich der Unübersichtlichkeit metaphorisch erheben, um das zu verstehen, was tatsächlich geschieht. Was geschehen soll ist im Übrigen, vom Endzweck der Stabilität abgesehen, sekundär. Gerade für dieses „Pathos des Tatsächlichen“75 in seiner Beziehung zur Macht bietet sich die Metapher der Kartographie an, auch diejenige der ebenfalls einem solchen – wie erwähnt teilweise auch theologisch begründeten – Pathos anhängenden neuen Formen der Kunst. Bei Machiavelli erscheint das Modell der Kartographie zwar nicht ausdrücklich, dieses erhielt aber nicht selten diese Bedeutung und stand zudem den von ihm genannten Arbeiten der „Landschaftszeichner“76 begrifflich so nahe, dass eine klare Unterscheidung zwischen den Metaphern des Landschaftskunstwerks und der eher kartographischen Repräsentation nicht gemacht werden kann. Dies scheint ungeachtet der Tatsache zu gelten, dass die Medien der neuzeitlichen Kartografie und der perspektivischen (Landschafts-)Kunst sich im Hinblick auf die entsprechenden Repräsentationstechniken auch wesentlich voneinander unterschieden bzw. sich im Laufe der Renaissance immer mehr voneinander zu unterscheiden begannen. Auf dem Gebiet der Kartographie gab es im Laufe der Renaissance große Veränderungen, die sich in diesem engen Verhältnis parallel und in Austausch mit denen auf dem Gebiet der Kunst vollzogen. Die (in der lateinischen Übersetzung) „Cosmographia“ des Ptolemäus stand seit 1406 wieder auf Lateinisch zur Verfügung und wurde 1475 zum ersten Mal gedruckt.77 An diesem Werk waren nicht so sehr die Inhalte der Weltbeschreibung interessant, als vielmehr die dort entwickelte Techniken der kartografischen Projektion. Zumindest eines der drei vorgeschlagenen Verfahren versuchte anzugeben, wie die Oberfläche der Erde so wiederzugeben war, wie sie von einem bestimmten Blickpunkt über der Erde zu sehen wäre – alle perspektivischen Verzerrungen eingeschlossen. Letztere sollten aber durch ein – entsprechend auf den Blickpunkt ausgerichtetes – Netz von Längen und Breitengraden objektiv aufeinander bezogen werden können.78 Allerdings setzte sich diese Projektion nicht durch, weil sie als kartografische Technik auf Grund der erzeugten Verzerrungen nicht praktikabel war und zudem natürlich immer nur eine Hälfte der Erdkugel repräsentieren konnte. Auch mit der Entwicklung der neuzeitlichen Kartografie blieb diese also streng genommen ein Medium ohne Perspektive, eine Projektion der Erdoberfläche, die keinen Blick repräsentierte und gerade dadurch das Ganze erfassen konnte.79 Dennoch scheint seit der Renaissance ein Be75 Münkler 1982, S. 41. 76 Machiavelli 2001, S. 18. 77 Vgl.: Büttner 2000, S. 49 und Schüler 2002, S. 14. 78 Vgl.: Edgerton 1993, S. 153. 79 Vgl.: Stockhammer 2007, S. 26.

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dürfnis danach bestanden zu haben, diese mathematische Natur des Mediums in Kontexten, die nicht unmittelbar auf die Praxis (der Seefahrt oder des Krieges) gerichtet waren, zu übersehen, zu kaschieren, sie als einen Mangel der Karte (im Gegensatz zum Globus) aufzufassen:80 Die Nähe der Kartografie zur bildenden Kunst liegt gerade in einer solchen Annäherung des nicht auf einen konkreten Blickpunkt bezogenen Kartenbildes an ein Landschaftsbild (oder an eine Vogelschau-Karte), das einen solchen Blickpunkt impliziert (wozu es im Übrigen nicht zentralperspektivisch konstruiert sein muss). Die neuzeitliche Kartografie förderte bis hin zur Entwicklung des Reliefeffektes in der schweizerischen Kartografie der Aufklärung in manchen ihrer Kontexte eine „ikonische Illusion“, die ihre „indexikalische Funktion“ überlagerte bzw. ergänzte:81 Die Karten ermöglichten nicht nur das Identifizieren von Gegenständen usw. auf der Erdoberfläche, sondern erweckten den Eindruck von Anblicken im Sinne der Repräsentationsform der Landschaftsmalerei – und zwar auch nachdem sie deren praktische Mängel durch neue Techniken der Projektion und der Darstellung der Erdoberfläche behoben hatte. Diese Illusion verbindet sich im Zusammenhang mit der Funktion der Identifikation zu derjenigen des Erblickens einer Position im Zusammenhang des Ganzen – und dieses Erblicken impliziert ein Subjekt über dem Erblickten. Insofern sind die Karten der Neuzeit Medien des Überblicks, obwohl sie formal keine Blicke repräsentieren. Sie erfüllen die metaphorische Funktion dieses Blicks – und zwar nicht trotz, sondern gerade auch wegen ihrer primären Funktion der Identifikation von Gegebenheiten in einem abstrakt durch die mathematische Projektion vorgegebenen Raster. Ein vordergründiges Zeichen für diese Annäherung der Kartografie an die Malerei war wohl die gängige Praxis, Zierelemente in Karten (z.B. Segelschiffe oder Schlachtszenen) wie aus leichter Schrägsicht darzustellen (mit Schattenwurf). Dies sind Mittel einer systematischen Überformung der kartografischen Projektion durch einen imaginären Blick. Darüber hinaus wird sich zeigen lassen, dass die Karten ganz ähnlich wie Globen bestimmte Funktionen erhielten, die in anderen Kontexten Blicke von oben übernehmen – so dass sich eine wesentliche Differenz in der metaphorischen Funktion der Karten zu der der Globen, die ja in jeder Hinsicht einen Blickpunkt über der repräsentierten Erdoberfläche implizieren, nicht bestanden zu haben scheint. Karten wurden und werden in solchen Funktionen durchaus als Repräsentationen von Blicken aus erhöhter Perspektive über die unten liegende Erde gelesen. Wie umgekehrt die Landschaftsmalerei sich der Kartografie annäherte wird sich auch an Breughels „Ikarussturz“ näher zeigen lassen. Die neuen Techniken der Kartografie verbreiteten sich schnell, wurden weiterentwickelt und revolutionierten die Kartographie der Renaissance. Die Unterschiede der entsprechenden Produkte zu den mittelalterlichen mappae mundi liegen auf 80 Einen Mangel, mit dem man sich freilich größere Vorteile erkaufte. 81 Vgl.: Stockhammer 2007, S. 50.

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der Hand: Nicht mehr ein vorgegebenes Schema, das um ein absolutes Zentrum der Erde herum den Weltregionen bestimmte mit Bedeutung versehene Orte fest zuweist, bestimmt, was auf der Karte zu sehen ist, sondern die mit empirischen Anspruch aufgenommene Gestalt der Erdoberfläche relativ zu der gewählten und mathematisch beschriebenen Projektionstechnik. Die neuen Karten geben – ganz wie die zentralperspektivische Malerei – ein abstraktes räumliches Raster vor, in das die Welt gleichsam einzutragen ist. Das Lesen der Karte legt nun im oben beschrieben Sinne eine Identifikation mit einem überterrestrischen Blick nahe, durch den der eigene Standpunkt auf der Erde festgestellt und mit Hilfe des abstrakten Koordinatensystems mit anderen Punkten in Beziehung gesetzt wird. Das Zentrum der Welt wird so jeweils der ermittelte, zufällige und in sich bedeutungslose Standpunkt des Benutzers der Karte. Auch die Himmelsrichtungen West und Ost verhalten sich relativ zu diesem Standpunkt und der Beziehung in der er zu anderen Orten steht, die eben westlich oder östlich von ihm liegen. Gerade im nun einsetzenden Zeitalter der Entdeckungen und der Herausbildung der Nationalstaaten in Europa erfüllt diese neue Kartographie Zwecke, die die alte nicht erfüllt hatte und die sie tendenziell von ihren theologischen Inhalten befreite, die das Bild der Welt und den scheinbar in ihr enthaltenen Blickpunkt somit säkularisierten – nicht ohne anfängliche Bedenken und eine neue Angst vor der in diesem Blick liegenden Hybris. Nach dem ersten Druck der „Cosmographia“ in Vincenza verbreitete sich die neue Kartographie zunächst im Norden Italiens und im mit diesem Bereich in engen Handelskontakten stehenden südlichen Deutschland, vor allem in Nürnberg. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden vor allem die Niederlande zum Zentrum dieser Kunst. Ein Meilenstein war das Erscheinen des „Theatrum orbis terrarum“ des Antwerpener Geographen Abraham Ortelius (1527-1598). Dieser erste Atlas der Geschichte vereinigte zunächst etwa 70, bis 1598 schließlich 184 Karten, die zum ersten Mal einen einheitlichen Maßstab besaßen. Das Buch wurde ein großer Erfolg und zu einem der verbreitetsten Bücher der Epoche.82 Neben diesem und anderen herausragenden Werken boomte die kartographische Produktion aber auch insgesamt. Es bestand in bürgerlichen und adligen Kreisen eine rege Nachfrage sowohl nach Karten, als auch nach anderen geographischen83 Medien, wie Städtebildern und Reisebeschreibungen. Die Funktionen, die diese Produkte erfüllten, waren dabei offenbar vielfältig, sind aber in diesem Zusammenhang sehr interessant, weil sie ein Medium des Überblicks mit der Ausübung und Repräsentation von Macht auf der einen und dem Bedürfnis nach Selbstkontextualisierung auf der anderen Seite verbinden. Ein wichtiger Unterschied der neuen Kartographie zu derjenigen des Mittelalters war zunächst, dass sie in der Lage war praktische Zwecke 82 Vgl.: Büttner 2000, S. 55ff. 83 Oder „kosmographischen“ – die Begriffe wurden lange Zeit synonym gebraucht. Vgl.: Büttner 2000, S. 50.

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zu erfüllen – wenn sie auch niemals nur solche Zwecke erfüllte: Die neuen Kartenwerke wurden unter anderem tatsächlich als Grundlage von Reisen verwendet, erhielten also gelegentlich ganz alltägliche Aufgaben.84 Dies gab ihnen gerade im Zusammenhang der Entdeckungen der Epoche natürlich große Bedeutung, sie wären ohne die neue Kartografie wohl kaum zu denken gewesen. Die Entdeckungen, die Aneignungen von Land und der ausgeweitete Überseehandel vollzogen sich in einem ständigen Rückkopplungsprozess zwischen Entdeckungs- bzw. Handelsreise, kartografischer Erfassung und neuerlicher Reise. Zudem verbreiteten die Karten der entdeckten Gebiete das Wissen über sie in den heimischen Bevölkerungen. Besonders entscheidend und der Produktion von Kartenmaterial förderlich war aber dessen militärische Bedeutung. Vor allem die durch die neuen Vermessungs- und Projektionstechniken möglich gewordenen Regionalkarten und genaue auf Vermessungen beruhende Wiedergaben von befestigten Städten waren in diesem Bereich Voraussetzung einer erfolgreichen Kriegsführung. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden die Niederlande auch deswegen zu einem Zentrum der neuen Technik und zudem zum wohl am besten kartographierten Gebiet der Welt, weil das zur Niederschlagung des niederländischen Aufstandes ausgesandte spanische Expeditionsheer unter Herzog Alba solche Militärkarten in großer Zahl anfertigen ließ.85 Es liegt auf der Hand, dass entsprechende Produkte dabei strenger Geheimhaltung unterlagen. Ebenso wurden Genehmigungen zur Kartierung bestimmter Gebiete oder zum Vermessen und Zeichnen von Städten aus Gründen der militärischen Geheimhaltung oft verweigert bzw. Genehmigungen mit der Auflage verbunden, keine weiteren Exemplare des jeweiligen Werkes anzufertigen und in Umlauf zu bringen.86 Landkarten waren zum Mittel und zur Voraussetzung der Macht geworden und die Kartographie somit zu einem durch die Inhaber der Macht verteidigten Privileg. Neben diesen neuen praktischen Funktionen erhielten die Karten aber auch neue ideologische, psychologische und letztlich metaphorische Funktionen, die allerdings mit ihren praktischen Aufgaben verbunden waren: Zwar konnten die genaueren neuen Karten nun tatsächlich zur Vorbereitung von Reisen verwendet werden, viel häufiger wurden sie aber wohl als Grundlage imaginärer Reisen – auch von Zeitreisen zurück zu den Schauplätzen biblischer oder antiker Erzählungen – verwendet.87 Dass diese Funktion auch bei ihrer Produktion vorgesehen war, zeigen die Formulierungen zur Verwendung seines Atlasses, die Ortelius ihm in einer Vorrede voranstellte:

84 Vgl.: Büttner 2000, S. 164ff. 85 Vgl.: ebd., S. 85. 86 Vgl.: ebd., S. 91f. 87 Vgl.: ebd, S. 166ff.

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„Dann erstlich haben wir ein General Tafel uber die gantze Welt vornen angesetzt, Darnach ihre fürnembsten Theil, […] Und wann wir dise alle durchsichtiget haben, kommen wir dann in Schweitzerlandt, Schreiten aber balt uber daz Schweitzer Gebirg in Italiam. Folgendts schiffen wir hinüber in Candiam und Cypern, bald auch in Griechenlandt […] durch etliche Länder und Kontinente geht es weiter: biß gen Jerusalem, da wir das H. Grab besuchen. […] (Weiter durch Afrika) biß auff die Strechow de Gibraltar. Und demnach wir die uberschiffet, länden wir endlich wider in Hispanien, von dannen wir unsere Reise angefangen hatten: das wir also wie ein Reisender Mann, der die gantze Welt zu beschawen, von Landt zu Landt, wie sie nach einander ligen, gezogen, letztlich gesundt und glücklich zu Hause kommen.“88

Hier wird der Betrachter der Karten also unter anderem durch deren Anordnung gleichsam durch die Welt geführt. Interessant ist dabei auch die neue und offenbar noch erklärungsbedürftige Verweisstruktur der einzelnen Karten: Die Regionalkarten beschreiben eine Art Rundreise durch die Welt, die als Ganze auf der einleitenden Weltkarte überblickt wird. Im vierten Kapitel dieses Teils werden einige Beispiele aus dem Bereich der bildenden Kunst des 17. Jahrhunderts zum Thema gemacht, die diese Struktur ganz ähnlich aufrufen – mit dem Effekt, sie als Form der Selbstkontextualisierung nutzbar zu machen. Diese Funktion hatten aber eben auch bereits die Kartenwerke als solche – und zwar in Hinsichten, die über die reine Bestimmung des eigenen Ortes auf der Erdoberfläche hinausgingen. Besonders deutlich wird dies an einem weiteren Zitat aus der Einleitung zu Ortelius’ „Theatrum“, in dem er das Bedürfnis, gerade den eigenen Ort, das eigene Vaterland auf einer Karte zu erblicken erwähnt. Er schreibt dort, dass „ein jeder zu seinem Vatterland geneygt, vnd eine besondere Tafel darüber zu sehen begierig [sei].“89 Die Funktion, den eigenen Ort in seinem weiteren Kontext wie von oben zu sehen, verbindet sich hier auf eine Weise mit einem neuen patriotischen Bezug zum „Vatterland“, die typisch bleiben wird für die metaphorisch-ideologische Funktion der Kartografie. Eine Aufgabe der Karten wurde die Repräsentation abstrakter politischer Zusammenhänge als überschaubare Einheiten. Voraussetzung dafür war wiederum das sich entwickelnde neue Raumbewusstsein, nun vor allem in Verbindung mit den sich neu etablierenden zentralistisch-monarchischen Herrschaftsformen: Auf der Grundlage eines vorausgesetzten abstrakten Raums, konnte die wesentliche Verbindung von Bevölkerung, Herrschaft und Lebensraum zugunsten des Konzeptes des Territoriums verändert werden: Ein Territorium ist ein nach außen klar abgegrenzter Herrschaftsraum, der nicht mehr seinem Wesen nach im Sinne 88 Ortelius 1602, Theatrum oder Schawbuch der gantzen Welt. Wie es der hocherfahrener Abraham Ortelius kurtz vor seines lebens ende vbersehen und mit newen Tafeln vnd Commentarien gemehret vnd verziret hat, Antwerpen 1602, fol. 3r.; zitiert nach Büttner 2000, S, 171f. 89 Ebd. fol. 5r, zitiert nach Büttner 2000, S. 164.

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einer von Gott ausgehenden Zueignung mit einer bestimmten Herrschaft verbunden ist und umgekehrt – auch wenn sich die Souveränität des Herrschers so gerade erst über den Besitz eines ihr äußerlich gegebenen Territoriums herstellt (und insofern mit dessen Verlust als gänzlich getilgt erscheinen müsste). Rudolf zur Lippe bezieht sich im Folgenden auf diesen Wandel in der Legitimation von Herrschaft zu Beginn des Absolutismus in Frankreich und auf die entsprechende Bedeutung des Raumes für die sich eigentlich ereignende, also zeitliche Herrschaft: „[…] die Monarchie hat ihre Dauer sinnlich wahrnehmbar außer sich: in Gottes Gnade nur noch nominell, inzwischen real am Staatsgebiet. Dies ist die Konzeption der Souveränität in existentieller Einheit mit dem Flächenstaat.“90

Umso wichtiger wird einem Territorialstaat die Repräsentation seines Territoriums als zusammenhängende Ganzheit und die gleichsam erst zu erreichende Einheit des Territoriums mit dem auf ihm sich befindenden Staatskörper und mit der in diesem Zusammenhang konstruierten abstrakten Gemeinschaft der Nation. Diese Veränderung vollzog sich in Europa bekanntlich zunächst nicht allgemein. Eine Folge dieser Entwicklung war es aber, dass Landkarten – vor allem Europakarten – mit gekennzeichneten Grenzen versehen wurden (allgemein seit dem 17. Jahrhundert):91 „Landkarten […] konnten als ein Symbol nationaler Identität dienen, konnten territoriale Ansprüche zum Ausdruck bringen und waren in jeder Weise geeignet ‚prächtige Triumphe zu verherrlichen.‘“92

In letzterer Bemerkung wird deutlich, dass Landkarten im Sinne dieser Funktion und ihrer ganz praktischen machtpolitisch-militärischen Bedeutung auch zur Repräsentation von Macht durch die Mächtigen selber verwendet wurden. Sie dienten so zur Verherrlichung der Kontrolle der herrschenden Instanz über ein Territorium durch das sich Souveränität repräsentierte bzw. überhaupt erst herstellte. Das Medium der Landkarte ist in dieser Funktion der Repräsentation von Macht besonders flexibel. Es ließ sich mit einer auf den Staat bezogenen Verkörperungsfunktion der Figur des Herrschers verbinden, konnte dieser gleichsam als Hintergrund dienen. In dieser besonders dem Absolutismus entsprechenden Funktion fand man Karten schon früh z.B. in der großen Sammlung Philips II im Escorial, wo die Wände durch gerahmte Karten und Veduten geschmückt waren.93 Ein besonders eindrückliches Beispiel ist wohl ein Gemälde von Marcus Gheeraerts, auf dem Elisabeth I 90 Zur Lippe 1974, S. 328. 91 Vgl.: Hale 1994, S. 32. 92 Büttner 2000, S. 98. 93 Vgl.: Büttner 2000, S. 162f.

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auf einem wie aus dem All gesehenen Globus ihre Füße auf England setzt.94 In Deutschland fanden sich an verschiedenen Residenzen Festsäle, die neben auf die theoretische Begründung der monarchischen bzw. fürstlichen Herrschaft zielenden Allegorien auch mit Ansichten der in diesem Herrschaftsbereich befindlichen Städte und entsprechenden Landkarten ausgemalt waren.95 Auf der anderen Seite bedarf der kartographische Überblick über einen Herrschaftsraum aber eines besonderen Hinweises auf eine Verbindung zu einem monarchischen Souverän. – Fehlt dieser, lässt er sich ebenso gut zur Repräsentation anderer Machtverhältnisse einsetzen. Ein sehr frühes Beispiel dafür war hier bereits die Ausmalung des Saales in Siena durch die Gebrüder Lorenzetti, die die Herrschaft einer bürgerlich-oligarchischen Gruppe ausdrückt. Ähnlich fand sie später in den Rathäusern vieler freier Städte Verwendung.96 Die im 16. Jahrhundert verbreitete nationalistische und auch regionalpatriotische Funktion kartografischer Medien enthält ebenfalls diese Möglichkeit. Ein Beispiel für diese neue, in einem frühen Sinne bürgerlich-nationalistische Funktion des kartografischen Blicks ist der „leo belgicus“, eine seinerzeit beliebte kartografische Darstellung der aufständischen Niederlande als kämpfender Löwe.97 Tatsächlich waren die Verhältnisse in diesem Gebiet besonders geeignet eine starke Identifikation auch bürgerlicher Kreise mit dem Territorium zu bewirken. Später, im Zeitalter der Aufklärung, scheint der Überblick (und nicht nur als kartographischer) gerade aus diesem Grund für die auf ein auf Volkssouveränität beruhendes Staatswesen sich einsetzenden Kreise wichtig geworden zu sein: als Mittel der Repräsentation staatlicher Einheit, das unabhängig ist von der alten und abgelehnten Verkörperungsfunktion des absolutistischen Monarchen. Auch in den Regionen, die nicht bereits nationalstaatlich geprägt waren, erhielten Karten aber schon im Laufe des 16. Jahrhunderts eine Funktion als Mittel der Bestimmung des eigenen Ortes in einem nun überschaubar repräsentierten Ganzen: „Denn zum ersten Mal regten Karten zu einer rational begreifbaren persönlichen Standortbestimmung innerhalb einer klar definierten kontinentalen Fläche an.“98 Besonders im noch lange nicht nationalstaatlich geeinten Deutschland waren dies zunächst vor allem Karten des nun als zusammengehörige Einheit empfunde94 Marcus Gheeraerts der Jüngere, Queen Elizabeth I, National Portrait Gallery London, ca. 1592. Vgl.: Adams 1994, S. 44. 95 Z.B. in München (1580er und 90er Jahre), in Stuttgart (1583) und Dresden (1627). Vgl.: T. Besing, Produktion und Publikum – Aspekte der Herstellung, Verbreitung und Rezeption frühneuzeitlicher Stadtdarstellungen, in: Behringer, Roeck 1999, S. 98. 96 Vgl.: ebd. S. 95. 97 Ein erster Kupfer mit dieser Darstellung war dem Buch „De Leone Belgico“ vorangestellt, das 1583 erschien und in dem der Autor Michael Aitzinger den niederländischen Freiheitskampf verherrlichte. Vgl.: Büttner 2000, S. 98. 98 Hale 1994, S. 39f.

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nen Europas. Diese standen neben topografischen Ansichten der jeweiligen Heimatstadt, die für die städtische Bevölkerung unter anderem zum Ausdruck eines Wunsches nach „friedlicher Urbanität in einer übergreifenden, europäischen Kultur“99 wurden. Gerade in Deutschland wurden diese auch in großen Büchern mit Veduten der Städte der Welt zusammengefassten Stadtansichten offenbar unter anderem deswegen populär, weil sie zur Verherrlichung der deutschen Städte beitrugen, die in der Konkurrenz mit den italienischen Stadtstaaten unter einem Unterlegenheitsgefühl litten.100 Das berühmteste Beispiel sind hier vielleicht die „civitates orbis terrarum“ von Braun und Hogenberg (1572 mit zunächst 139 Abbildungen erschienen). Die Städtebilder in diesem Werk waren ausdrücklich als Ergänzung der kartografischen Übersicht in Ortelius’ Atlas vorgesehen.101 Die durch neue Vermessungstechniken102 immer genauer werdenden Stadtansichten folgten dabei allgemein zwei verschiedenen Schemata: Der überblickenden Vogelschauansicht und der Gesamtansicht von der Seite. Beide hatten aber vor allem ein Ziel: die Stadt als Ganzes zu erfassen – wobei die idealisierende Tendenz darauf aus war, „mehr Ordnung, Regelmäßigkeit und eindrucksvolle Perspektiven“103 zu erzeugen, als der tatsächlichen Stadt eigen waren. Eine der berühmtesten Vogelschauveduten dieser Zeit – und zugleich ein frühes und für viele folgende vorbildliches Beispiel – ist wohl die Ansicht Venedigs von Barbari, die 1500 in Nürnberg gedruckt wurde (Abbildung 10). Auf diesem riesigen Holzschnitt, der sich umfangreichen Vermessungen verdankte, wurde die Lagunenmetropole zum ersten Mal als ganze sichtbar – von einem real nicht einzunehmenden Blickpunkt weit über ihr. So konnte die konkrete, als solche auch in Einzelheiten identifizierbare Stadt als schöne und mächtige Ganzheit erscheinen – ein Anblick der ihren Bewohnern ermöglichte, sich als Teil dieses Ganzen zu sehen (auch tatsächlich zumindest ihr Wohnviertel in diesem Zusammenhang auszumachen) und der nach außen hin Macht, Prosperität und wirtschaftliche Stärke ausdrückte.104 Henri Levfèbvre bezieht sich ganz ähnlich auf diese Entstehung der frühen vogelperspektivischen Städtebilder und ihre Funktion, die im Anfang noch der tatsächlichen Umgestaltung der Städte vorausging:

99

Behringer, Wolfgang, Die großen Städtebücher und ihre Voraussetzungen, in: Behringer, Roeck (Hg.) 1999, S. 90.

100 Vgl.: ebd.: S. 90. 101 Vgl.: ebd.: S. 85. 102 Im Zusammenhang dieser Techniken erhielten Kirchtürme nun eine neue Funktion als Aussichtspunkte, von denen herab die Städte von oben aufgenommen werden konnten. Vgl.: Erich Kleinschmidt, Textstädte – Stadtbeschreibungen im frühneuzeitlichen Deutschland, in: Behringer, Roeck 1999, S. 77. 103 Bernd Roeck, Stadtkunstwerke, in: Behringer, Roeck 1999, S. 24. 104 Vgl.: Brunckhorst 1997.

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„Noch sind sie [die zeitgenössischen Stadtpläne, M.R.] nicht abstrakte Pläne, nicht Projektionen des Stadtraumes in ein geometrisches Koordinatensystem. Vielmehr sind sie eine Mischung aus Vorstellung und Wahrnehmung, aus Kunst und Wissenschaft, zeigen die Stadt von oben und aus der Ferne gesehen, perspektivisch, als Gemälde und gleichzeitig als geometrische Darstellung. Der idealistische und zugleich realistische Blick, der Blick des Geistes, der Macht, richtet sich auf die Vertikale, in den Bereich der Erkenntnis und der Vernunft, beherrscht und schafft so ein Ganzes: die Stadt.“105

Die neuartigen Sadtportraits hatten die Funktion die Städte als in sich geordnete und klar gegen das Umland abgegrenzte Ganzheiten erscheinen zu lassen. Meist betonten die Bilder entsprechend die abgrenzende und Ordnung schaffende Stadtmauer bzw. die neuen Fortifikationen der den neuen militärischen Anforderungen angepassten Städte. Auf diese Weise speiste sich aber wiederum die metaphorisch-ideologische Funktion der Abbildungen aus deren ganz praktischer: Die Vermessungen, die auf ihrer Grundlage möglichen Zeichnungen und die ebenfalls populären dreidimensionalen Stadtmodelle106 erfüllten oft genug einen militärischen Sinn. Abbildung 10: Jacopo de Barbari, Planansicht Venedigs 1501.

Venedig, Palazzo Ducale.

Mit ihrer Hilfe wurden neue Festungswerke geplant und umgekehrt militärisches Vorgehen den Gegebenheiten angepasst. Braun und Hogenberg fühlten sich vor diesem Hintergrund veranlasst, darauf hinzuweisen, dass sie den Veduten in ihrem Städteatlas stets Trachtenszenen beigefügt hätten, um die muslimischen und einem

105 Lefèbvre1972, S. 18f. 106 Vgl.: Andrew John Martin, Stadtmodelle, in: Behringer, Roeck 1999, S. 66ff.

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Abbildungsverbot in Bezug auf den menschlichen Körper unterliegenden Türken davon abzuhalten, das Werk zu betrachten.107 In der Kartografie und der Stadtdarstellung der Renaissance erscheinen also zum ersten Mal Medien, die der Form nach einen erhöhten Betrachterstandpunkt mit einem durch ihn überschaubar gewordenen Gegenstand in Beziehung setzen. Beide Medien geben dabei dem Blick von oben zwei seiner typischen Funktionen: Zum einen ermöglichen sie einem Subjekt auch metaphorisch ein Wissen über den Zusammenhang seines Ortes mit der Welt, werden sie Mittel der Selbstbestimmung im Überblickten. Zum anderen sind sie nicht nur im wörtlichen Sinne Mittel und Voraussetzung der (militärischen) Machtentfaltung, sie werden auch metaphorischer Ausdruck der Macht – und des Zusammenhänge erkennenden Wissens, das Voraussetzung dieser Macht ist. Indem nun der imaginäre Blickpunkt eines menschlichen Subjektes in seiner Beziehung zur Welt diese Bedeutungen erhält, kollidiert er mit derjenigen Instanz, die bisher aus ihrer allwissenden und allmächtigen Position heraus das gegeben und geoffenbart hat, was das neue Medium im säkularisierten Bereich des Sichtbaren nun ganz unabhängig von ihr geben soll. Der Überblick gerät in Konflikt mit der Forderung der Demut und in den Verdacht der Hybris. Er hat metaphorische Bedeutungen erhalten, von denen es geboten erscheinen kann, sie an diese höhere Instanz, an Gott, abzugeben. Gerade, weil theologische Vorstellungen der Karte nicht mehr eigentlich immanent sind, wie dies bei den mappae mundi der Fall war, kann sie zum Ausdruck autonomen menschlichen Strebens nach Macht und Wissen auch gegen die Macht und das Wissen Gottes werden. Die den Atlas von Ortelius einleitende Weltkarte trägt in allen vier Ecken Schriftzüge mit Zitaten Senecas und Ciceros, die auch vor der Hybris angesichts des Überblicks warnen. Links unten heißt es z.B. u.a.: „O wie lächerlich sind die Begrenzungen der Sterblichen (O quam ridiculi sunt mortalium termini).“108 Der Blick von oben auf die Welt erhält hier eine Bedeutung, die er in der Antike bereits hatte109 – nun aber ins christlich geprägte Humanistische gewendet: Der Mensch soll ihn zum Anlass nehmen, gerade seine Kleinheit vor der Größe der göttlichen Schöpfung zu erkennen. Damit zieht diese Warnung aber nachträglich eine im kartografischen Überblick liegende Möglichkeit scheinbar (und letztlich vergeblich) zurück: Die Überhebung des Blickenden, der auch seine eigene Kleinheit nur aus einer Position der Selbsterhöhung, der Erfassung des Ganzen, in dem er klein ist, feststellt. Man vergleiche dies wiederum mit dem Blick Dantes zurück auf die unter ihm liegende Erde: Sein Spott trifft nicht nur seine von oben endlich festgestellte Position in diesem Anblick, sondern das Gese-

107 Vgl.: Büttner 2000, S. 92. 108 Vgl.: Wyss, S. 24. 109 Vgl.: Hadot 1991, S. 123-135.

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hene selbst – und entwertet damit auch den Blick und seine erhöhte Position. Er wendet sich folglich ab, um nach oben zu schauen. Der Betrachter der Weltkarte im „Theatrum orbis terrarum“ muss dem Überblick – und der ihm damit eingeräumten Position dieses Blicks – selbst dann noch eine große Bedeutung und einen hohen Wert einräumen, wenn er durch ihn sich selbst als klein im Verhältnis zum Anblick des Ganzen erkennt. Das ist wohl auch der Grund, warum Montaigne in diesem Zusammenhang die kartographische Integrität und Festigkeit des „Weltgemäldes“, in dem der Einzelne nur ein Pinselstrich ist, leugnen musste – und damit ausdrücklich auch die Endgültigkeit der Leistungen der zeitgenössischen Geographen und die Angemessenheit optimistischer Wissensansprüche antiker Autoren wie z.B. Cicero: Der (kartografische) Überblick über das Ganze enthält die Drohung der Hybris – aber eben auch die Verheißung von Macht und Wissen. Er wird also – bevor er endgültig säkularisiert ist – als ambivalent wahrgenommen. Im folgenden Kapitel wird dies u.a. an den Arbeiten Pieter Brueghels weiter gezeigt. Bereits hier kann aber auf einen literarischen Text hingewiesen werden, in dem sich der Überblick als Ausdruck der Hybris der Macht und des Wissens verarbeitet findet – wenn auch in Verbindung mit noch mittelalterlichen Anteilen: Erwähnte Montaigne das menschliche Streben nach Wissen als Versuchung des Teufels, so folgte er damit einem bekanntem Topos, der sich u.a. natürlich in der „Historia von Doktor Johann Fausten“ findet – und zwar immer wieder in Verbindung mit einem durch den Teufel ermöglichten Blick von oben auf die Welt. Wurde für Ortelius der Kartograph, der die aufeinander bezogenen Karten des Atlas zusammengestellt hat, zum Führer des Wissbegierigen durch die Welt, so wird es in der Geschichte vom Faust Mephistopheles. Zunächst fährt er mit ihm in einem von zwei Drachen gezogenen Wagen zu den Sternen auf (ähnlich wie Alexander in der Legende) – und zeigt ihm von dort oben auch das unten Liegende, benennt die von dort im Zusammenhang der Kontinente sichtbaren Länder: „Darnach sahe ich am Tag herab auf die Welt, da sahe ich viel Königreich, Fürstentum und Wasser, also dass ich die ganze Welt, Asiam, Africam und Europam, gnugsam sehen konnte. […] warf auch mein Gesicht jetzt hier, jetzt dorthin, gegen Aufgang, Mittag, Niedergang und Mitternacht, das es dann an einem Ort regnete, an dem anderen donnerte, hie schlug der Hagel, am andern Ort war es schön, sahe auch endlich alle Ding, die gemeiniglich in der Welt sich zutrugen.“110

Besonders sinnfällig und zudem durch den bekannten Topos des führenden Pferdes umgesetzt wird diese Führung durch den Abgesandten der Hölle, als dieser sich in ein geflügeltes Reittier verwandelt und mit Faustus – keineswegs immer auf dem direkten Reiseweg – kreuz und quer durch die Welt reist. Diese Abfolge von Be110 Spieß 2003, S. 62 („Wie Doktor Faustus in das Gestirn hinaufgefahren“).

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schreibungen von Landschaften und vor allem Städten, folgt im Wesentlichen noch einer im Mittelalter üblichen Form der summarischen Auflistung der herausgehobenen Gebäude und Einrichtungen in der Stadt, die Städte werden nicht als wiedererkennbare einzelne beschrieben.111 Die zeitgenössische Praxis der Abbildung von Städten auf den Vogelschauveduten findet sich allerdings in der immer wiederkehrenden Betonung des erhöhten Betrachterstandpunktes, der Faust ermöglicht wird, so dass er die Stadt als Ganze erblicken kann. In diesem Sinne verwendet er auch Berge als Aussichtspunkte, so z.B. den „Caucasus“: „Caucasus zwischen India und Scythia ist die höchste Insel mit seiner Höhe und Gipfel. Darob Doktor Faustus viel Landschaften und Weite des Meeres ubersehen.“112 Der von Faust eingegangene Teufelspakt versetzt ihn also in die Lage das Ganze der Welt im Fluge zu durchreisen und die einzelnen Landschaften und Städte von oben zu überschauen. Dabei folgt die Erzählung teilweise der Struktur eines Atlas: Zuerst erblickt er die ganze Erde und den Himmel, dann bereist er die einzelnen Länder, um schließlich die Reise zu wiederholen und auch die Städte im Einzelnen zu besichtigen.113 – Diese Struktur ist aber offenkundig noch nicht vollständig ausgereift, der geografische Zusammenhang der einzelnen Stationen ist nicht immer für die Reiseroute bestimmend. So reist Faust beispielsweise von Paris über Mainz nach Neapel, von dort nach Venedig, Padua und schließlich Rom. Diese Reise folgt ausdrücklich dem jeweiligen assoziativen, gewissermaßen umherschweifenden Wissensdrang Faustens – und gerade daran, dass diese gottvergessene Neugierde stets und mühelos erfüllt wird, erkennt man wohl ihren teuflischen Charakter: „Was nu dem Fausto für Städt und Landschaften in Sinn fielen, die durchwanderte er.“114 Eine Leistung der zeitgenössischen ersten Atlanten und Städtebücher bestand gerade darin, dieser assoziativen, dem geographischen Raum keine große Beachtung schenkenden Struktur der inneren Reise die Vorstellung einer realen Reise entgegenzusetzten, die sich an derjenigen eines artikulierten geographischen Raumes orientiert. Dies musste sich aber erst entwickeln und war im Falle der ersten Städtebücher und Kartenwerke keineswegs bereits selbstverständlich: Matthäus Merian begründete noch 1646 die Anordnung der Städtebilder in seinen „Topogra-

111 Vgl.: Erich Kleinschmidt, Textstädte – Stadtbeschreibungen im frühneuzeitlichen Deutschland, in: Behringer, Roeck 1999, S. 77. 112 Spieß 2003, S. 75 („Vom Paradeis“); ähnlich wird auch Krakau von einem Berg übersehen, der so hoch ist, dass er „den Himmel aufhält“ (vgl.: ebd. S. 72). 113 In den Kapiteln „Wie Doktor Faustus in das Gestirn hinaufgefahren“ und „Doktor Fausti dritte Fahrt in etliche Königreich und Fürstentum auch fürnehmste Länder und Städte“. 114 Ebd.: S. 64 („Doktor Fausti dritte Fahrt in etliche Königreich und Fürstentum auch fürnehmste Länder und Städte“).

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phiae“ damit, dass ältere Werke diese zusammengestellt hätten, als ob die „Wanders Leute […] einen Sprung zu thun begehrten“.115 Ein nachhaltiger Übergang der neuen geografischen Strategien in die kognitiven „Karten“ der Menschen ermöglichte sich wohl erst durch die allgemeine Verbindung der Medien der Weltbeschreibung mit realen Reisen, mit Handlungsmöglichkeiten, wie sie unter anderem durch die Einführung eines verlässlichen Postsystems im Laufe des 18. Jahrhunderts sich ereignete.116 Interessant ist also in diesem Zusammenhang vor allem, dass das verbotene Streben des Menschen nach Wissen und Macht, die ihm nicht zugedacht sind, sich in der Faustlegende auf wesentliche Weise mit der Möglichkeit des Überblicks verbindet. Dies galt, wie oben dargestellt, nicht für die frühere Verarbeitung der Legende vom Flug des Alexander – obwohl diese ansonsten einen ganz ähnlichen moralischen Sinn erhalten konnte. Es liegt nahe, für diese neue Bedeutung des Blicks von oben für die Darstellung der Hybris der Macht und des Wissens nicht zuletzt die Prägungen der zeitgenössischen Kartographie und Stadtdarstellung verantwortlich zu machen und die Möglichkeit der imaginären Reisen durch die Welt, die sie gaben und eben mit einer von menschlichen Subjekten einzunehmenden Perspektive des Überblicks verbanden. Ganz ähnliches gilt auch für die oben besprochenen Darstellungen der Versuchungen Christi: In dem Moment, in dem das neue Raumbewusstsein und die Perspektive in der Kunst sich etabliert haben, erhält auch der Berg der Versuchung seine Funktion als Aussichtspunkt, von dem aus der Bereich der versprochenen Herrschaft erst übersehen, d.h. als solcher eigentlich überhaupt erst gesehen werden kann. Der in spanischen Diensten stehende Flame Juan de Flandes lässt auf einem entsprechenden Gemälde, das alle drei Versuchungen zeigt, keinen Zweifel an dieser Funktion des bis an den oberen Rand des Bildes erhöhten Berges – und daran, dass die dort Stehenden von ihm herab über das Land und die Stadt blicken (Abbildung 11). Der unten sitzende Christus der ersten Versuchung wendet wohl nicht zufällig seinen Blick von diesem Anblick im Hintergrund ab. Bereits die Herrschaftsverhältnisse der Renaissance und zumindest die kartographischen und landschaftskünstlerischen Formen ihres Ausdrucks verbanden also Positionen der Macht mit solchen des Überblicks. Als sich in vielen Teilen Europas die absolutistischen Monarchien endgültig etablierten und gegen die alten feudalistischen Strukturen durchsetzten, wurde diese Verbindung in ihrem Sinne ausgestaltet und erreichte eine bisher nicht da gewesene Eindeutigkeit. In ihrer Fixierung auf die Position des einen Herrschers, erhielten Formen des Überblicks eine allgegenwärtige und nicht mehr im Sinne der kartografischen Medien flexible Funktion. 115 Vgl.: Behringer, Wolfgang, Die großen Städtebücher und ihre Voraussetzungen, in: Behringer, Roeck (Hg.) 1999, S. 87. 116 Vgl.: Kaschuba 2004, S. 59.

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Dabei ergaben sich in verschiedenen Regionen verschiedene Ausprägungen der Herrschaftsverhältnisse, die sich auf teilweise unterschiedliche, letztlich aber vor allem ähnliche Weise den Überblick der Macht zunutze machten. Besonders deutlich ist dessen Rolle im absolutistischen Frankreich. Im absolutistischen Preußen des 18. Jahrhunderts drückt sich die Macht des Königs ähnlich durch den Überblick aus – im Übergang zur Aufklärung lässt sich hier aber besonders gut eine Säkularisierung der entsprechenden Auffassungen beobachten und eine interessante Verbindung zu einer die alten Körpermetaphern ersetzenden Maschinenmetapher des Staates. In England wurde vor dem Bürgerkrieg eine spezielle Spielart der Körpermetapher entwickelt, die sich bis hin zu Thomas Hobbes neuartiger Legitimation des absolutistischen Staates verfolgen lässt und die Formen des Überblicks eine etwas andere Ausprägung verlieh. Abbildung 11: Juan de Flandes, Versuchung Christi, 1500-1504.

National Gallery of Art, Washington.

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Ein entscheidendes Merkmal absolutistischer Verhältnisse ist natürlich die Zentralisierung und Vereinheitlichung der Macht. Damit einhergehend wurden seit Ausgang des 16. Jahrhunderts zunächst besonders in Frankreich die alten feudalistischen Adelsprivilegien eingeschränkt. Vor allem erhielten sie aber ihre Legitimation nun allein vermittels der souveränen Entscheidung der monarchischen Zentralgewalt – verloren also ihre eigenständige und unmittelbare Fundierung in der Schöpfungsordnung. Sowohl der Adel als auch die erstarkende und neu sich verstehende Beamtenbürokratie wurden zu Repräsentanten des einen Zentrums der Macht, des Königs (bzw. eines entsprechenden Fürsten).117 In ihrer jeweils abgestuften Macht war stets nur diese eine allgegenwärtige Macht anwesend. Der König begann das Prinzip der Macht, der Staatlichkeit überhaupt zu verkörpern. Er bedeutete die vermittels der Macht sich realisierende Staatsordnung als solche. Besonders der französische Absolutismus hat für diese Machtverhältnisse verschiedenste metaphorische Ausdrucksformen gefunden. Eine dieser Formen ist natürlich bereits die Rede vom „Sonnenkönig“, mit der man sich auf Ludwig XIV. bezog: Indem der König mit dem Zentralgestirn identifiziert wurde, von dem das Licht und die Wärme des gesamten Systems ausgeht und auf das alle Bewegungen bezogen sind, stellte sich die Ordnung der Gesellschaft als räumlich und kausal auf den Herrscher bezogen dar.118 Der Herrscher erschien als über den Dingen thronender moderator mundi.119 Er trat im Laufe der Entwicklung des absolutistischen Herrschaftsverhältnisses immer mehr aus dem Umfeld des Beherrschten heraus in eine exzentrische, über es erhobene Position. Zumindest in der klassischen Epoche absolutistischer Herrschaft – in Frankreich eben derjenigen unter Ludwig XIV. – wurde er als Verkörperung der staatlichen Ordnung angesehen, die im Sinne einer vernünftigen Leitung den nun als Maschine metaphorisierten Staat lenkte und so eigentlich als solchen erst schuf. Die in einem Staat geeinte Nation auf ihrem einheitlichen und klar abgegrenzten Territorium wurde in jeder ihrer Vergegenwärtigungen somit zur „Konkretion königlicher Anwesenheit“.120 Diese Allgegenwart der einigenden und vereinheitlichenden Wirkung des Königs im Staatlichen, Gesellschaftlichen und Territorialen drückte sich ganz sinnfällig in der großen Verbreitung seines Bildes aus, das nicht zuletzt auf alle Münzen geprägt auch als allwaltendes Prinzip des Wirtschaftsverkehrs erschien – so dass die absolutistische Monarchie auch im Sinne des aufstrebenden Bürgertums als Voraussetzung des vernünftig geregelten Wirtschaftslebens auftrat (bevor sie schließlich als Hemmschuh dieses Bereiches wahrgenommen und gestürzt wurde). Im Verhältnis zur alten mittelalterlichen Körpermetapher des Staates bedeuteten diese neuen Verhältnisse eine Veränderung: Zwar 117 Vgl.: zur Lippe 1974, S. 39. 118 Vgl.: Konter 1984, S. 211, Larsson 1992, S. 59. 119 Vgl.: zur Lippe 1974, S. 15. 120 Ebd.: S. 43.

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wurde keineswegs auf diese Möglichkeit der Darstellung staatlicher Einheit verzichtet, der König wurde aber nun zur metaphorischen Verkörperung des Staates. In dieser Funktion bedeutete sein Körper bzw. dessen bildliche Repräsentation den Staat. Er erschien nicht mehr als Teil des Ganzen der dieses als pars pro toto vertrat. In diesem Sinne machte eben die Zuschreibung jener angeblichen königlichen Staatsdefinition Sinn: „Der Staat bin ich.“ Kurz: Bedeutete in der mittelalterlichen Logik das Haupt oder Herz des Körpers den König und die anderen Körperteile andere Institutionen oder Berufs- und Standesgruppen, so bedeutete der ganze Körper des Staates nun den Leib des Königs bzw. umgekehrt. Die Hierarchien innerhalb dieses Körpers verwiesen alle wesentlich auf diese Instanz: „Die Hierarchie des Staates war der durch beamtete Personen verlängerte Leib des Souveräns.“121 Der Staatskörper war der Körper des Königs – und zumindest in Frankreich verblasste hier die alte Unterscheidung zwischen der Person und dem Amt des Monarchen, so dass man von ersterer – von dem Mann Ludwig – behaupten konnte, er habe sich selbst als Staat betrachtet.122 Die absolutistischen Verhältnisse drückten sich in Frankreich in zumindest zwei Bereichen eindeutig durch Formen des Überblicks aus: im Hofballett und in der Architektur. Beide Formen fixierten eine Perspektive des Überblicks, die den Machtverhältnissen entsprechend einer Figur zukam: dem König. Rudolf zur Lippe hat die Entwicklung nachgezeichnet, die das französische Hofballett und die entsprechende Bühnenarchitektur seit Ende des 16. Jahrhunderts genommen hat. Er stellt dabei fest, dass in dessen früher Form die Position des Königs durch eine typische Ambivalenz geprägt ist: In einer Zeit, in der die absolutistischen Herrschaftsverhältnisse und die entsprechende Vereinheitlichung des Staates noch als zu erreichende Vision erscheinen mussten, war der König zugleich aktiv eingebundener Teil des Tanzes und exzentrischer Beobachter. Die strenge geometrische Ordnung der Tanzenden bezog sich stets auf den König als Mittelpunkt des Ganzen. – Zugleich befand sich dessen Ort aber bereits am Ende des Ballsaales, an dem Ort also, von dem der gesamte Saal zu überblicken war. Als sich die absolutistische Funktion des Königs etabliert hatte, trat ersterer Aspekt zunehmend zurück und der König wurde ganz Betrachter des auf ihn hin geordneten Ganzen. Er wurde gleichsam ganz Auge.123 In dem Moment, in dem die Macht gefestigt erschien, konnte die für die Ordnung des Staates stehende Ordnung der Tanzenden als nur noch durch einen Macht-Blick geschaffen sich darstellen. Dies war zugleich die Geburtsstunde der klassischen Bühnenarchitektur: Die Bühne wurde im Sinne der Oberfläche eines zentralperspektivischen Bildes konzipiert – ihre Vorderseite als Schnitt durch eine Sehpyramide. Das Bühnenbild verjüngte sich entsprechend auf einen Fluchtpunkt 121 Zur Lippe 1974, S. 339. 122 Vgl.: Kantorowicz 1990, S. 440. 123 Vgl.: zur Lippe 1974, S. 36ff.

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hin, während das Ganze sich auf einen idealen Augenpunkt, den Distanzpunkt, bezog. Auf diesem Punkt befand sich der König: „Das Szenengeschehen war unmittelbar einzig auf den idealen Betrachter ausgerichtet, war als derart Wirkliches nur für ihn wahrnehmbar.“124 Für die anderen Zuschauer wurde der Blick auf den König wichtiger als der Blick auf die Szene: Der so zu erblickende Blick des Souveräns verbürgte gleichsam die Passung von Wahrnehmung und Wirklichkeit, erhielt eine in der Anordnung des Theaters festgeschriebene epistemologische Funktion im Sinne Gottes bei Descartes: als diejenige Instanz, auf die man verwiesen ist, wenn man nach der Übereinstimmung von res cogitans und res extensa fragt. Der König vertritt hier tatsächlich eine göttliche Funktion: Er übernimmt jenen überperspektivischen Blick, durch den die Einheit und Einheitlichkeit all der perspektivischen Teil-Blicke verbürgt ist. Die ganze Apparatur des Theaters zielt darauf ab, seinen Blick als Ursprung und als einzige Instanz der Einheitlichkeit und Ordnung des GesellschaftsTanzes auftreten zu lassen. Die Perspektive des Blicks jedes einzelnen Untertanen ist verzerrt und von jeder anderen in ihrer Verzerrung unterschieden. – Nur der Überblick des Königs durchschaut die wahre Ordnung und dient als vereinheitlichendes Korrektiv aller Verzerrungen. Anders als der Blick Gottes in bisher besprochenen mittelalterlichen Medien ist nun aber die Funktion der erhöhten Position eindeutig und unverzichtbar: Die Überperspektive des Souveräns ist nur als Überblick zu haben und das nicht nur im Zusammenhang des Theaters: „Der König ist im Besitze jenes einzigen Punktes, von dem aus die Gesamtheit der Nation, vorgestellt und repräsentiert als Fläche des Staatsgebietes, übersehbar ist. Nur in seiner Perspektive laufen alle Elemente der sonst mehr oder weniger chaotischen Mannigfaltigkeiten real zusammen.“125

War die Bühnenarchitektur ein Zusammenhang, in dem sich diese Verhältnisse konkretisieren konnten, so war dies die Architektur der Schlösser und Parks in nicht geringerem Maße: Herausragendes Beispiel ist natürlich Versailles. Anders als die meisten Schlösser der Renaissance hatte nun das Gebäude eine Funktion für die Wahrnehmung des um es herum sich erstreckenden Gartens. Die große Terrasse in der Mitte der dem Park zugewandten Front war nun Aussichtsterrasse für den Mittelpunkt der Gesamtanordnung – für das Auge Ludwig XIV.: „Der Garten ist zunächst dafür angelegt, betrachtet zu werden, und der ideale Aussichtspunkt war die große Terrasse. Von diesem erhöhten Standpunkt aus öffnete sich die Perspektive der großen Achse am weitesten […]. Schon in der Struktur der geraden Alleen und Wege, der 124 Ebd., S. 25. 125 Zur Lippe 1974, S. 16.

184 | D AS G ANZE IM B LICK Unterordnung aller Einzelelemente unter die Vorherrschaft der Hauptachsen und des Schlosses wird sinnfällig, dass Schloss und Garten als eine Metapher für den Machtanspruch Ludwigs gelten können: sie sind das mikrokosmische Abbild Frankreichs – oder der Welt schlechthin – , über das der Sonnenkönig regierte.“126

Auf der anderen Seite des Ensembles erstreckte sich die Stadt Versailles mit den drei vom Hof des Schlosses wegstrebenden Hauptachsen, die dem Ganzen aus der Aufsicht beinahe das Aussehen einer zeitgenössischen anatomisch-optischen Skizze geben: als in die Öffnung der Pupille eindringende Sehstrahlen. Damit wurde auch der Zusammenhang von Schloss und Stadt in Versailles zum Maßstab anderer absolutistischer Planungsstädte: Die Hauptachsen der Paradestraßen bildeten Blickachsen, die im „Auge“ des Schlosses zusammenliefen. Die bis ins Extrem gesteigerte geometrische Ordnung und Symmetrie der Städte richtete sich so stets auf den ideologischen Ausgangspunkt aller staatlichen Ordnung.127 Kann man auch nicht sagen, dass die ja weitaus zahlreicheren mittelalterlichen Planungsstädte der Geometrie keine Bedeutung gaben, so ist eben gerade dieser Bezug der räumlichen Ordnung auf den von oben kommenden Blick des einen Herrschers neu. Diese von einem Punkt ausgehende Disziplinierung und Vereinheitlichung ließ sich besonders gut im rechten Winkel und eben der auf das Schloss zulaufenden Achse ausdrücken und ergänzte sich durch vereinheitlichende Bauvorschriften, die auch die einzelnen Gebäude einander anglichen. In entsprechenden Planungen in bürgerlichen Städten Deutschlands fiel dieser Hang zur Vereinheitlichung und Regularität weitaus geringer aus.128 Die Art und Weise, wie der preußische Absolutismus die Verhältnisse und Ausdrucksformen in Frankreich aufgriff ist hier interessant, weil die Rolle des Königs als Selbstherrscher, als Urheber und einzige Instanz der Ordnung in Gesellschaft und Staat in dieser späteren Ausprägung die Funktion des Überblicks nicht weniger ausdrücklich auftreten lässt. Zudem wird hier aber der Übergang zu einer langsam die Funktion des Souveräns real übernehmenden Bürokratie deutlich. Dieser Zusammenhang und die metaphorischen Wahrnehmungsverhältnisse, die auf den Umstand des den Staat regierenden anonymen, komplexen und nicht selten undurchsichtigen bürokratischen Apparates reagierten, verweisen auf spätere Zeiten, in denen die Instanz des Königs fehlt, dieser Apparat aber fortbesteht und mit ihm der Wunsch, seine Wirkungen und Maßnahmen als Ganzes zu überschauen und zu verstehen. Erst in diesem Moment wird die Form des Überblicks im vollen Sinne säku-

126 Larsson 1992, S. 61. 127 Vgl.: Gerlach 1990. 128 Vgl.: ebd., S. 31.

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larisiert sein, insofern sie auch ihre Verbindung zu dem auf den göttlichen Blick verweisenden Blick des einen Souveräns verliert. Der preußische Beamtenstaat des 18. Jahrhunderts rief bei Theoretikern der absolutistischen Verfassung immer wieder die Frage auf, in welcher Beziehung die Bürokratie der Staatsmaschine zum Souverän zu stehen hätte. Einerseits galt das Ideal der königlichen Selbstherrschaft: Die bereits im Sinne der Aufklärung als vernunftgeleitete Disziplinierung verstandene Entwicklung des Staates und der Gesellschaft wurden als vom König ausgehende „herrschergeleitete Erziehung des Individuums zum Staat“129 verstanden. Der König war Repräsentant nicht nur der Einheit des Staates, sondern auch der Vernunft. Er bildete den Staat aktiv zu einem vernünftigen Ganzen. Andererseits lag auf der Hand, dass dieses Bild im konkreten Regierungshandeln nicht ganz einzuholen war: Der König war auf eine immer komplexer werdende Bürokratie angewiesen, die in Preußen das gesamte öffentliche Leben zu erfassen begann. Dieser Komplex wirkte natürlich auch autonom, die Person des Königs, die auch in Preußen stets dazu neigte mit dessen Amt zu verschwimmen, konnte nicht den „Überblick“ über alle ihre Maßnahmen behalten – auch wenn besonders Friederich II. dies mit großem persönlichem Aufwand versuchte. Die Figur des Königs drohte also immer zu derjenigen eines „Theaterkönigs“ zu verkommen, indem sie sich in ihrer Funktion auf die reine und passive Verkörperung und Repräsentation des Staates beschränkte. Mag dies nach dem Tod Friedrichs II. auch der Fall gewesen sein, in der Zeit zuvor wirkte zumindest das Bild des Königs und bis zu einem gewissen Grade auch sein konkretes Handeln anders: Gerade die Unübersichtlichkeit der Staatsmaschine wurde nach dem tendenziellen Wegfall der Legitimation durch das Gottgnadentum zum entscheidenden Argument für den absolutistischen Selbstherrscher. Weil die Belange des Staates und die in ihm sich vollziehenden Interessenkonflikte für jeden Einzelnen undurchschaubar waren, schien der Eine gebraucht zu werden, in dessen Geist das Ganze sich zusammenfügte und der ihm durch seine Entscheidungen den richtigen Weg geben konnte. Die Politik als kohärentes System der verschiedenen Organe und Bestrebungen verwies auf eine kognitive Instanz als seiner Voraussetzung: „Ein System kann aber nur aus einem Kopfe entspringen; also muss es aus dem des Herrschers hervorgehen.“130 Der König „behielt allein den Blick über das Ganze“.131 So erhielt im aufklärerisch-absolutistischen System Preußens der König jene exzentrische Position, die er im klassischen Absolutismus in Frankreich ebenfalls innehatte: Er verhielt sich zur Maschine des Staates, wie der Maschinist. Er war dem Staat „nicht ein, sondern übergeordnet“.132 Diese übergeordnete Position wurde nun, wie auch in Frankreich, 129 Preisendörfer 2000, S. 36. 130 Friedrich II, Das politische Testament von 1752, in: Friedrich II 1913, S. 154. 131 Preisendörfer 2000, S. 33. 132 Ebd., S. 65.

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durch die Metapher des Überblicks bedeutet. Besonders eindrücklich geschieht dies bei Christian Garve, in seiner Abhandlung „Über die Verbindung der Moral mit der Politik“. Die Ambivalenz von Ein- und Überordnung erscheint in diesem Text zunächst in einem Bild, durch das die Funktion der „Vorsteher der Menschheit“ und der „Werkzeuge der Vorsehung“133 in Verbindung gesetzt wird mit der Position Gottes: „Sie [die Souveräne, M.R.] sind die ersten Triebfedern in der großen Maschine der moralischen Welt, wodurch der höchste Regierer derselben die übrigen in Bewegung setzt.“134 Der König ist gleichsam das primum mobile der moralischen Welt. Durch ihn vermittelt sich der göttliche Wille und Einfluss nach „unten“. Im Verhältnis zur höchsten Instanz, zu Gott, erscheint er also als Teil der Gesamtmaschine – in diesem Verhältnis ist es Gott, der als der Maschine transzendenter Maschinist auftritt. Wird nun aber der König in seinem Verhältnis zum Staat und zu den Untertanen betrachtet, so tritt er gleichsam aus diesem Komplex heraus und übersteigt ihn, um ihn zu verstehen und zu beherrschen. Die ihm so zugeordnete Position des Überblicks über das Ganze gibt seiner bereits im vorhergehenden Bild als erhöht erscheinenden Position eine Funktion als Wahrnehmungsprivileg. Die Nähe des Monarchen zu Gott – seine im Bild verräumlichte Gottesebenbildlichkeit – stellt sich als Wahrnehmungsverhältnis dar: Nur wer „diesen großen Gesichtskreis übersehen kann“ (gemeint ist derjenige des dem „Menschengelschlechte Nützlichen“), braucht keine vorgegebenen Regeln zu beachten und kann wahrhaft souverän handeln. „Auf einem so erhabenen Standpunkte steht kein Mensch […]“135 –, aber es gibt eben Menschen, die sich diesem Standpunkt annähern und das sind die Souveräne: „Zuerst die welche am Ruder großer Staaten sich befinden, stehen wirklich auf einer Höhe, von wo sie mehr vom menschlichen Geschlechte und von der Zukunft übersehen. Sie kennen den Zustand der Völker besser, sie haben mehr Gelegenheit die Ursachen und Triebfedern zu beobachten, aus welchen die künftigen Erfolge entstehen.“136

Aus diesem Grund müssen nun den Souveränen auch die Möglichkeiten zur Beobachtung alle dieser Zusammenhänge gegeben, darf ihre diesbezügliche Macht nicht eingeschränkt werden: „Und wenn sie in einem so großen Wirkungskreise Gutes tun sollen, so müssen sie auch in einem eben so großen Gesichtskreise beobachten und urtheilen dürfen.“137

133 Garve 1987, S. 55 bzw. 56. 134 Ebd., S. 56. 135 Ebd., S. 56f bzw. 58f. 136 Ebd., S. 59. 137 Ebd., S. 60.

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In der metaphorischen Logik dieser schon aufklärerischen Rechtfertigung des Absolutismus fällt der Wirkungskreis der Macht nun mit deren Gesichtskreis zusammen. Die so entfaltete metaphorische Funktion des Überblicks der Macht wird besonders eindrücklich in der abschließenden Zusammenfassung des Textes ausgeführt. Hier tritt als guter Souverän derjenige auf, der erhoben wird in die Position der Macht schlechthin – und als diese erscheint nun der Himmel, der auch als Ort Gottes seine Rolle als Aussichtspunkt zu spielen hat: Garve stellt sich einen Prinzen vor, der durch einen Schutzengel (der eigentlich einen im Gewissen also innerlich eingenommenen Standpunkt bedeutet) in die Höhe gehoben wird, um den unter ihm gelegenen Bereich der zukünftigen Herrschaft zu übersehen: „Ich stelle mir vor, ein Prinz werde, kurz zuvor ehe er den Thron besteigt, von seinem Schutzengel so hoch über die Erde erhoben, und mit so geschärfter Sehekraft begabt, dass er nebst seinen Staaten, zugleich die Reiche, mit welchen er künftig in Verbindung stehen wird, und alle ihre Einwohner überschauen könne, (ein Standpunct welcher allein der Größe seiner künftigen Verrichtungen angemessen ist, und in den er sich, wenn er einer solchen Rolle gewachsen ist, oft im Geiste versetzen wird.) Indem das Gemüth des jungen Fürsten durch den Anblick so vielen Lebens, so mannigfaltiger Thätigkeit, so großer von Menschen ausgeübter Tugenden, so vielfachen Genusses, und der nicht minder zahlreichen Scenen des Elendes, des Mangels und der Laster, auf einer so großen Erdfläche gerührt wäre: redete ihn sein Schutzgeist, oder sein Gewissen, welches beym Menschen die Stelle des Schutzgeistes vertritt, folgendermaßen an: ‚Siehe hier den Schauplatz deiner künftigen Thaten.‘“138

Sowohl im französischen als auch im preußischen Absolutismus verband sich also die Verkörperungsfunktion eines konkreten Monarchen mit einem Überblick, der dessen Wissen und Macht bedeutete und zugleich auch rechtfertigte. Es liegt auf der Hand, dass diese Funktionen des Monarchen in dem Moment immer stärker und unübersehbarer mit den realen Machtverhältnissen in Konflikt geraten musste, wie er zum reinen Repräsentanten von ansonsten anonymisierter, bürokratisierter staatlicher Macht wurde. In dem Moment, in dem der Monarch nur noch die andere, in der Gesellschaft gleichsam verteilte Macht des Büros repräsentiert, ist seine Funktion als Darstellung der Einheit des Staates verzichtbar. Sicherlich ist auch im Falle von Friedrich II. bereits ein Stück weit jener Prozess vollzogen, den Michel Foucault an Napoleon festmacht: Im Übergang der absolutistischen Herrschaftsform zur modernen Disziplinargesellschaft erscheinen Figuren, die beide Machttypen in ihrer Verbindung repräsentieren – die einerseits den alles als Ganzes erfassenden Blick von oben inne zu haben scheinen, und die andererseits das immer wichtiger werdende Detail nicht aus den Augen verlieren: „Er [Napoleon, M.R.] ist derjenige, 138 Ebd., S. 141f.

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der alles mit einem einzigen Blick überragt, aber dem kein Detail, wie winzig es auch sein mag, jemals entkommt.“139 Der Monarch in dieser Funktion als souveräne und singuläre Verkörperung jener Verschaltung von Blicken, die ich den Blick nach unten genannt habe, wird durch die Ausgestaltung der Machtverhältnisse und ihrer Repräsentationsformen bald verdrängt werden. Wie im entsprechenden Kapitel des dritten Teils dieser Arbeit weiter beleuchtet werden soll, vollzog sich die entsprechende – gelegentlich sehr reale – Enthauptung des Staatskörpers, die Abschaffung der Repräsentation des Ganzen durch den Einzelnen und seinen alles erfassenden Blick, gerade vermittels einer allgemeinen Zugänglichkeit der Metapher vom Überblick bzw. durch die Auflösung der Verbindung dieses Wahrnehmungsprivilegs mit der Position des einen Souveräns. Wie man sehen wird, steigerte dies die Rolle des Überblicks eher noch, als dass es sie verringerte. Die Übersicht über die in neuer Schärfe wahrgenommene Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse wurde tendenziell jedem Einzelnen zur Möglichkeit vor allem aber auch zur Aufgabe und zum Bedürfnis. Auf diese Weise verlieren die entsprechenden Formen ihre Verbindung zum Einheit verbürgenden Blick Gottes. So sind der Überblick und die Mängel, auf die er reagiert, säkularisiert, in gewisser Weise „demokratisiert“ und an die anonymisierten Ordnungsmechanismen einer neuen Form von Macht gebunden. Freilich wird die alte Form personalisierter und von einem Punkt ausgehender Macht im Hintergrund der Funktion der Überblicke für ihre Nutzer oft gegenwärtig bleiben – in eine Art identifikatorischer Nostalgie des souveränen Subjekts. Ein kurzer Blick auf die entsprechenden Verhältnisse in England scheint hier vor allem deswegen geraten, weil sie den Hintergrund bildeten zur Staatstheorie Thomas Hobbes’ und nicht zuletzt zu dem berühmten, seinem „Leviathan“ vorangestellten Frontispiz (Abbildung 12) – einer Form der Repräsentation staatlicher Einheit, die in verschiedener Hinsicht prägend blieb. Eine wichtige Eigenart der englischen Auffassungen zur Monarchie scheint es gewesen zu sein, dass die in Frankreich und Preußen sich verwischende Unterscheidung von Person und Amt des Königs dort stets präsent und auf differenzierte Weise im Rechtssystem verankert blieb. Die Repräsentations- und Verkörperungsfunktion des Königs kam diesem nicht im Sinne seines natürlichen Körpers zu. Dieser blieb klar von seinem politischen Körper unterschieden, unter dem je nach Auffassung das gesamte Staatsvolk oder das Parlament verstanden wurde. Der König blieb also – ähnlich wie in mittelalterlichen Ausprägungen der Körpermetapher – das Haupt eines Körpers, der in seiner Substanz aus anderen gebildet wurde. Als zusammenhängende und kohärente Ganzheit hing dieser politische Körper aber von seiner Bezogenheit auf den König ab: Insofern der Staat Körper des Königs war, war er eine Einheit. 139 Foucault 1994, S. 279.

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Abbildung 12: Abraham Bosse (vermutlich), Leviathan.

Frontispiz der Erstausgabe von 1651

An der Staatslehre, die Hobbes im „Leviathan“ entfaltet, wird gelegentlich deutlich, dass diese Funktion des Königs viel weniger zum Problem der Selbstherrschaft des Souveräns führte, als z.B. im späteren Preußen: Der Monarch erfüllt seine Einheit und Frieden stiftende Funktion in dem Moment, in dem ihm die absolute Macht übertragen wird und der Staat insofern metaphorisch zu einem Körper zusammengewachsen ist. Allein dadurch ist die Macht auch bereits legitimiert. – Wie sie sich konkret auf Wissen und entsprechendem vernunftgeleiteten und Vernunft herstellenden Handeln gründen kann, ist sekundär. Der entscheidende Akt der Vernunft vollzieht sich bereits im staatsbildenden Vertrag aller mit allen und der aus ihm folgenden Machtübertragung an den bevollmächtigten Stellvertreter der korporativen Person des Staates. Subjekte dieser grundlegenden Vernunft sind die einzelnen abstrakt gleichen Individuen, die sich in ihrem Vollzug zu Bürgern machen. In dieser Funktion steht der Monarch dem Staatskörper oder der Staatsmaschine nicht exzentrisch gegenüber. Wie einer allein das nötige Wissen, den nötigen Überblick über das Ganze haben kann, ist nicht wichtig: Der Überblick erscheint nicht als Voraussetzung der Einheit. Dies äußert sich schon in ganz konkreten Ratschlägen Hobbes’: Z.B. dann, wenn er anmerkt, ein unmündiger Monarch könne in der Verwaltung der Regierung durch einen Staatsdiener vertreten werden – solange dies geschehe, ohne

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dass „die Rechte des Königs […] beeinträchtigt werden“140. Der Monarch verkörpert bzw. vertritt den Staatswillen gleichsam unvermittelt – ohne den im absolutistischen Preußen so wichtigen Umweg über seine persönliche Vernunft, seinen individuellen Geist, seinen konkreten und persönlichen Willen und die Voraussetzungen seiner Bildung. Diese Verhältnisse wirken sich auch auf das den Textsinn verdeutlichende und das Prinzip des ansonsten abstrakten und unsichtbaren Staates vor Augen führende Frontispiz und die Ausgestaltung der Körpermetapher, wie sie besonders in der Einleitung des „Leviathan“ entfaltet wird, aus.141 In dieser einleitenden Metapher macht Hobbes zunächst klar, dass in seinem Verständnis die Körpermetapher und die Maschinenmetapher letztlich dasselbe erfassen, insofern Maschinen nur durch ihren Ursprung in der Kunst von natürlichen Körpern sich unterscheiden. So überführt er die alte Körpermetapher gleichsam in eine Maschinenmetapher: Der Staat ist ein „künstlicher Mensch“142 und seine einzelnen Teile und Vermögen lassen sich als Körperteile oder Eigenschaften von Körpern metaphorisieren, ohne die mittelalterliche Konsequenz zu ziehen, der Staat sei eine von Gott in der Ordnung der Schöpfung als bestimmte vorgesehene Entität: Maschinen sind künstliche Körper und der Staat ist es ebenso. Er leitet sich nicht unmittelbar aus der Natur der Schöpfung ab, sondern aus der vernünftigen Entscheidung seiner Untertanen, die sich wiederum aus dem sehr grundsätzlichen „Naturrecht“143 der Selbsterhaltung erklärt. In der metaphorischen Übertragung, die Hobbes dann im Einzelnen vornimmt, wird der Instanz, der die oberste Gewalt eingeräumt wird, die Rolle der Seele zugewiesen. Der oberste Herr des Staates (der ja nicht unbedingt monarchistisch verfasst sein muss) ist also das vereinigende Prinzip des zusammengesetzten Ganzen und damit dasjenige des künstlichen Lebens, der „Bewegung“144 der Staatsmaschine. Der ewig drohende Rückfall in den Bürgerkrieg und der entsprechende Zerfall des Staates erscheint so als metaphorischer Tod des künstlichen Menschen – als Trennung von Seele und Körper. Der Künstler, der in Zusammenarbeit mit Hobbes das Bild des Leviathan auf dem Frontispiz schuf, hat diesen Gedankengang unter Rückgriff auf die Tradition der Darstellung von Kompositkörpern wiedergegeben.145 Der Körper des Riesen setzt sich aus den nicht in ihrer jeweiligen Funktion bereits beschriebenen, also ursprünglich gleichen „Staatsatomen“ der Bürger zusammen. Diese blicken auf zum gekrönten Haupt des Ganzen, das – neben den Händen – von Einzelkörpern frei bleibt: die im Blick und in der Zuwendung vollzogene kollektive 140 Hobbes 2005, S. 212. 141 Vgl.: Bredekamp 1999, S. 72. 142 Hobbes 2005, S. 5. 143 Ebd.: S. 118f; vgl.: Bredekamp 1999 S. 118. 144 Ebd. 145 Vgl. Bredekamp 1999.

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Machtübertragung. Indem die Hände und das Haupt des Staatsriesen als nicht aus einzelnen Gestalten gebildet gezeichnet sind, wird klar, dass der Staat als einmal hergestellter Zusammenhang mehr ist als die Summe seiner Untertanen. Er ist die Einheit dieser Untertanen unter einem Haupt, unter einem Repräsentanten des Ganzen. Die Rolle dieses Repräsentanten oder Stellvertreters ist auf dem Bild somit in zweierlei Hinsicht vergegenwärtigt: Zum einen ist er eben im Sinne der für England typischen Metapher das Haupt des Staatsvolkes, das sein Körper ist. Andererseits ist er – die Seele des Staates – gegenwärtig auch als Umriss des Kompositkörpers – als zwar exzentrisches aber wesentliches Prinzip der Einheit und Form des Ganzen. Ist so die abstrakte Einheit des Staates bedeutet, erscheint diejenige des Territoriums in dem vom Leviathan überragten Gelände. Der Überblick über diese „Weltlandschaft“146 und über die Stadt im Vordergrund folgt dabei den typischen Mustern der zeitgenössischen topographischen Darstellungen. Eine Folge der Ausgestaltung der Körpermetapher ist aber wohl die hier völlig fehlende Zuordnung des Überblicks über das Land. Der Leviathan präsentiert sich als Einheit. Ein Einheit und Ordnung herstellender Überblick der Macht, wie er in Frankreich und später in Preußen üblich war, fehlt. Der Betrachter des Frontispiz kann sich ohne Konflikt mit einem Wahrnehmungsprivileg selbst als Subjekt dieses Blickes einsetzen, wie es auch die Betrachter der zeitgenössischen Karten oder Veduten taten. Auf diese Weise wird der Grundlage des Staates, der je einzelnen Macht der einander prinzipiell gleichen Individuen, die sich im Staat bündelt, nicht widersprochen. Eine auf das herausgehobene Auge des Souveräns zulaufende Struktur ließe sich mit diesem Gedanken der Herstellung der souveränen Macht durch die Abtretung der individuellen Mächte schlecht verbinden. Sie tendiert dazu die Figur des Herrschers als exzentrisch erscheinen zu lassen und ist geeignet die Mitwirkung der Einzelnen (sei es der Bürger oder auch der untergeordneten Staatsorgane) am Vollzug und an der Herstellung des Staates vergessen zu lassen. In dem Moment, in dem auch der absolutistische Staat in der ursprünglichen Vernunftentscheidung seiner Bürger begründet wird, wäre ein Privileg des Überblicks über seine Einheit und Ordnung fehl am Platze. In dieser Hinsicht enthält das Frontispiz des „Leviathan“ zwei Formen der Repräsentation staatlicher Einheit, von denen die eine – der Überblick über das Territorium – auch mit solchen Staatsauffassungen vereinbar blieb, die die andere – den aus den Einzelnen gebildeten Staatsriesen mit dem Souverän als Haupt – ablehnten.147 146 Bredekamp 1999, S. 13. 147 Bredekamp berichtet von einer schweizerischen Darstellung, auf der der Leviathan geköpft dargestellt wurde. Das so angesprochene Ideal einer Einheit von Volk und Staat ohne Vermittlung über die verkörpernde Figur des Repräsentanten verband sich, wie noch zu zeigen sein wird, gerade in der Eidgenossenschaft oft genug mit Formen des Überblicks in den Künsten. Vgl.: Bredekamp 2003, 134f.

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Diese über den zeitgenössischen Absolutismus hinausgehende „Modernität“ der Darstellung könnte sich zudem in einem weiteren Element spiegeln: Die überblickte Stadt mit ihren militärischen Befestigungen neueren Typs ist ausschließlich von zwei Arten von Menschen bevölkert, von Soldaten und von Ärzten mit Pestmasken. Folgt man auch hier den Untersuchungen Michel Foucaults, erscheinen in dieser auf Hobbes bezogenen Fantasie eines der Unordnung des Bürgerkrieges enthobenen Staates also zwei Modelle der Ordnung, die auch in Zeiten der Volkssouveränität Bestand haben konnten: diejenigen des Pestzustandes bzw. des Militärlagers und der in ihnen entwickelten „Disziplinen“. Diese andere, den praktisch Regierenden zuzuordnende Seite der zeitgenössischen Vertragstheorien, die die Wirkungen ihrer Machtstrukturen in der ganzen Gesellschaft verteilte und die unter anderem in der Verteilung von Bilckpositionen und -privilegien bestand, war es wohl auch, die letztlich neue Maßstäbe der „Ordnung“ setzte. Diese Ansprüche an gesellschaftliche Ordnung waren von der Instanz des einen Souveräns und zumal von seiner Erkenntnisfähigkeit unabhängig. Sie generierten in ihrem stellen- und zeitweisen Scheitern vor allem in den entstehenden Großstädten schließlich eine neue Form von Mangel an Ordnung und an Bestimmbarkeit des Einzelnen – insofern beides von den entsprechenden nunmehr anonymen Machttaktiken abhängig gemacht wurde, die für den Einzelnen nicht mehr überschaubar oder mit ihrer Übertragung vom abgezirkelten Bereich des Lagers, der Klinik oder der vorindustriellen Stadt auf die Umstände der Großstadt teilweise auch überfordert waren. Dieser Mangel wiederum konnte zu einer Wahrnehmung von „Unordnung“ und Selbstverlust führen, die dem Überblick neue und intensivierte metaphorische Funktionen geben konnte, in denen wiederum der eine Blick des Souveräns und der hinter ihm stehende Gottes keine unmittelbare Rolle mehr spielen mussten.148

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DES I KARUS UND DAS VERLORENE

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Pieter Bruegel An zwei Beispielen aus bildender Kunst und Literatur, an den Arbeiten Bruegels und an Miltons „Paradiese lost“, lässt sich relativ deutlich ablesen, wie der Überblick in seiner Nähe zum Blick Gottes zwischen Renaissance und Barock als ambivalent wahrgenommen werden musste – als Verheißung der Möglichkeiten einer neuen Wahrnehmung der Welt und zugleich als Ausdruck der Hybris des Wissens und der Macht.

148 Vgl.: Bredekamp 1999, S. 108 und Foucault 1994, S. 254f.

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Die Landschaftsmalerei Bruegels markiert einen Punkt in der Entwicklung des Genres, an dem sich im Übergang von der zuvor vor allem durch Patinir entwickelten Weltlandschaft hin zu einer „Überblickslandschaft“149 ein zunehmender Zug zur perspektivischen Wahrnehmung vollzieht. Die ältere Weltlandschaft stellt den gleichsam noch mittelalterlichen Versuch dar, „al der werlde wunder / und swas der himel besluizet“150 in einem nun – im Gegensatz zur Darstellungspraxis der mittelalterlichen mappae mundi – nur noch als Teil zu repräsentierenden Stück der Welt zu vergegenwärtigen. Die Antwort auf dieses künstlerische Problem war eine bildliche Synekdoche: Die abgebildete Landschaft enthielt alle Elemente der Welt und konnte so als Teil für das Ganze stehen und in dieser Hinsicht die Welt im Gegensatz zum auf das Jenseits verweisenden Heilsgeschehen vertreten. Zwar zeichnen sich die Gemälde Patinirs bereits durch eine in der Brechung der Farben umgesetzte Staffelung von Vorder-, Hinter- und Mittelgrund aus, was ihnen abgesehen davon aber weitestgehend noch fehlt ist die die „Schwäche der menschlichen Sehkraft“151 und damit den Blickpunkt des impliziten Betrachters ganz bewusst reflektierende Luftperspektive. In dieser frühen Phase der perspektivischen Landschaftsmalerei wurden alle Elemente der zusammengesetzten Welt deutlich und unverzerrt abgebildet: Ihre objektive Bedeutung als Teile des Schöpfungsganzen wurde noch dem in einer konsequent vollzogenen Luftperspektive sich ergebenden subjektiven Gesamteindruck vorgezogen. In der Malerei Bruegels finden sich einerseits Aspekte, die auf die Weltlandschaft verweisen. Andererseits hatte sich in seinem Falle der neue perspektivische Bezug zur Wirklichkeit in der Hinsicht ausgewirkt, dass seine Gemälde so weit von der „unschuldigen“ mittelalterlichen Gesamtschau abwichen, dass sich das Problem der Hybris in sie einschrieb. Nicht zuletzt die neue Kartografie wurde ihm in einer Weise zum Vorbild, welche die durch ihn ermöglichten Überblicke an den Anspruch der auf einen Blickpunkt sich beziehenden, räumlich zusammenhängenden Folie für das zeitlich gleichsam sprunghafte Geschehen banden. Für Bruegel wurde die kartografische Richtigkeit zum Maßstab und so verbot sich für ihn teilweise die freie Zusammenstellung der „Welt“ durch das Nebeneinandersetzen ihrer typisierten Elemente im Bild, wie Patinir es praktizierte. Thema und Bedeutung tragendes Element wurde so auch der erhöhte Blickpunkt als solcher: Er, also die Form der Abbildung, wurde implizit Gegenstand ihrer inhaltlichen Ebene. Was Koschorke, Friedländer zitierend, über die frühe Landschaftsmalerei sagt, gilt also auch für Bruegel:

149 Wiemann/Gaschke 2005, S. 36ff. 150 Hartmann von Aue, Erec, V. 7589f. 151 Die ja bereits von Petrarca angesprochen wurde. Vgl.: Petrarca 1995, S. 23.

194 | D AS G ANZE IM B LICK „‚Wie die Maler vom Mittelalter her eingestellt waren auf vollständige, in signifikanten Umrissen abgeschlossene Körper‘, schreibt Max Friedländer in seinen ‚Essays über die Landschaftsmalerei‘, ‚sehnten sie sich nach Totalität des Landschaftlichen und trachteten danach, den Erdkreis, den Erdball zu umfassen. Da solcher Wunsch unerfüllbar blieb, mühten sie sich, den Teil als den Vertreter des Ganzen zu gestalten, das heißt, in dem Ausschnitt alles zu zeigen, was irgend auf Erden zu erblicken wäre. Als die vornehmste Eigenschaft der Erde wurde grenzenlose Weite empfunden. Um Ausdehnung zu verbildlichen, musste der Blick von oben auf das Land gerichtet werden, […]‘. Die frühe Landschaftsmalerei neigt zu hochstehenden Horizonten. Man überschaut weite Gebiete in schräger Niedersicht, so dass die detailrealistisch ausgemalten Einzelheiten sich nicht gegenseitig verstellen. […] Es sind der Projektionsform nach landkartenähnliche Ansichten, die sich seinem Auge bieten. Eine innige Verbindung von Bildkunst und Kartographie hat sich bis ins 17. Jahrhundert, in die Blütezeit der niederländischen Malerei, hinein gehalten.“152

Indem aber die Landkarte mit ihrer Perspektive von oben zum Modell der Landschaftsmalerei wurde, verwies die abgebildete Weltgegend stets auf das nicht abzubildende Weltganze. Dadurch erhielt der Horizont eine neue Bedeutung als ins Grenzenlose verschiebbare Grenze zwischen Abgebildetem und noch nicht Abzubildenden. Er – und damit auch der von ihm formal vorausgesetzte erhöhte Blickpunkt – erhielt einen Sinn als Symbol des Weltentdeckungsstrebens und des Ausbruches aus der alten Vorstellung der objektiv gegebenen Ordnung der Schöpfung. Die Weltlandschaft pantinirscher Prägung half sich hier noch, indem sie das Ganze, vertreten in den als bekannt angenommenen Typen seiner Elemente, in den abzubildenden Ausschnitt hereinholte. Eines der berühmtesten Gemälde Bruegels ist sicherlich die „Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“ (Abbildung 13). An diesem Bild wird auch besonders deutlich, wie sich die Verbindung der Malerei zur zeitgenössischen Kartografie gestaltete und wie sich in ihr die neuen Möglichkeiten des menschlichen Wissens und der Machtentfaltung über die Welt in diesem Verhältnis reflektierten. Andererseits bleibt gerade in der Art und Weise, wie mythologische Inhalte auf der räumlichkartografischen Folie wiedergegeben werden, auch die mittelalterliche Praxis noch gegenwärtig.153 „Die Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“ hat natürlich viele Deutungen erfahren. Vor allem die Tatsache, dass Ikarus nur als winzige Figur am rechen unteren Bildrand zu sehen ist, hat viele Interpreten zu der Ansicht gebracht, Bruegel habe 152 Koschorke 1990, S. 49f. 153 Der Zug hin zur reinen „Überblickslandschaft“, die den im Bewusstsein eines Betrachtersubjektes sich ergebenden Gesamteindruck der individuellen Landschaft betont, wird bei Bruegel im Verlauf der Zeit stärker. Besonders eindrucksvoll zeichnet er sich vielleicht bei seiner „Elster auf dem Galgen“ (1568) ab, einer seiner letzten Arbeiten.

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hier die Flüchtigkeit und eben Winzigkeit des einzelnen Menschen und seines Schicksals angesichts der Größe der ihn umgebenden Schöpfung ausdrücken wollen.154 Für Bruegel ergab sich die Position und die Größe des stürzenden Ikarus aber wohl zunächst aus anderen Erwägungen heraus: Er wollte dieses durch Ovid überlieferte mythologische Ereignis auf die richtige Weise in seinen – kartographisch korrekt wiedergegebenen – räumlichen Kontext einordnen und damit einen humanistischen Anspruch auf getreue Textwiedergabe erfüllen: „Nicht anonyme, kosmische Allnatur, sondern die konkreten Schauplätze für das mythologische Geschehen liegen ausgebreitet da. Bruegel malt zum Ikarussturz die topographisch passende Landkarte.“155 Die genaue Ausgestaltung dieser Landkarte zeigt aber eben jene sich auf die Wiedergabe des Zeitlichen beziehende relative Nähe zur Darstellungspraxis der mappae mundi, von der man bei Bruegel noch ausgehen kann: Nicht nur der Raum – hier die Meerenge von Messina – wird überschaubar gemacht, vielmehr auch die Zeit. Auf der Folie des Raumes finden sich verschiedenste Hinweise auf mythologische Überlieferungen, die sich teilweise in Bildelementen mit vielschichtigem Verweischarakter verdichten: So mag es beispielsweise verwundern, dass die Sonne über dem Sturz des Ikarus untergeht – obwohl sie ja bei Ovid hoch am Himmel steht und so den Sturz verursacht. Als Grund hierfür weist Beat Wyss auf den ebenfalls von Ovid überlieferten Mythos des Sturzes von Phaeton, dem Sohn des Sonnengottes Apollo hin.156 Auch Phaeton scheiterte an seiner Überheblichkeit: Als er für einen Tag den Sonnenwagen zu lenken versucht, verliert er die Kontrolle über ihn und wird von Zeus mit einem Blitz vom Himmel geholt und getötet. Aus Trauer darüber ließ Apollo die Sonnenfahrt einen Tag lang ausfallen. Aus diesem Grund malt Bruegel auch die Meerenge von Messina: Dort, im Norden der Stadt, war nach der zeitgenössischen Kartographie, z.B. derjenigen seines Freundes Abraham Ortelius, der Phaetesinus flux gelegen, an dem die Rinder Apollos weideten und an den sich der Gott allabentlich zurückzog. Auf diese Weise braucht Bruegel auch Dädalus nicht abzubilden: Der trauernde Vater ist schon – vertreten durch den sich zurückziehenden Sonnengott – anwesend.157

154 Vgl.: Wyss, 1990, S. 14. 155 Ebd.: S. 22. 156 Vgl: Metamorphosen, Buch I, 747-779, Buch II, 1-339. 157 Vgl.: Wyss 1990, S. 24-29.

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Abbildung 13: Pieter Bruegel, Landschaft mit dem Sturz des Ikarus.

Musées Royaux des Beaux Arts, Brüssel, 1555?

Noch deutlicher wird diese Verquickung des Ungleichzeitigen auf der Folie des zusammenhängenden Raumes an den bäuerlichen Figuren im Vordergrund. Der Fischer, der Hirt und der Pflüger werden bei Ovid genannt. Sie beobachten den Flug von Dädalus und Ikarus – nicht aber den Sturz des Sohnes. Die Tatsache, dass sie keine Notiz von diesem zu nehmen scheinen, kann also nicht als Ausdruck beispielsweise der Gleichgültigkeit der Welt gegenüber dem großen Einzelschicksal gelesen werden – es ist nach Wyss vielmehr ein Ausdruck genauer humanistischer Quellenstudie, des Wunsches die Überlieferungen der Antike durch genaues Lesen von ihrer Überformung durch die mittelalterliche Allegorese zu befreien.158 Zudem können die drei Figuren in einer Richtung interpretiert werden, die die metonymische Gesamtschau der Welt mit einer Gesamtschau auch der Zeit verbin-

158 Vgl. Ebd.: S. 34. Andere Interpretationsansätze betrachten Ikarus als Vertreter eines individualistischen Strebens nach Gewinn und Macht, das die gegebene Sozialordnung – vor allem auch in den marktkapitalistisch weit entwickelten Niederlanden – gefährdete. Diese Interpretation würde zumindest der Kleinheit der Figur des Ikarus eine Funktion geben, ließe sich aber mit derjenigen von Wyss ansonsten m. E. zumindest teilweise verbinden – allerdings abgesehen davon, dass sie dem Pflüger und dem Hirten einen Sinn als Vertreter der in Demut hingenommenen göttlichen Ordnung zuweist, was die noch zu erwähnenden Elemente des Dolches im Vordergrund und der Leiche im Gebüsch letztlich unerklärt lassen muss. Vgl.: Kavaler 1999, S. 55ff.

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det: Sie stünden danach für die drei Weltzeitalter bei Ovid.159 Im Fischer und im Hirten verkörpert sich das goldene Zeitalter, in dem „nicht im Frondienst gab von sich aus alles die Erde.“160 Der Pflüger im Vordergrund vertritt das silberne Zeitalter: „Same der Frucht ward damals zuerst in des Ackerfelds langen / Furchen gesenkt, und es stöhnten, gedrückt vom Joche, die Rinder.“161 Das eiserne Zeitalter, das Zeitalter des Krieges, des Raubes und der Besitzgier (für Bruegel steht es für seine Gegenwart), liegt in Gestalt eines Dolches am linken vorderen Bildrand: „Diesem folgte als drittes Geschlecht das Eherne Alter, / wilderen Geistes, bereiter zum Griff nach der schrecklichen Waffe, […].“162 Indem Bruegel am linken Bildrand, am Ende der den Blick führenden Ackerfurchen, zudem den Kopf einer Leiche sehen lässt, verbindet er den antiken Mythos mit der biblischen Überlieferung: Der Hirt und der Pflüger können als Kain und Abel interpretiert werden – letzterer ist zweimal abgebildet, einmal lebendig, einmal tot: „Dem Bild eignet eine schillernde Ungleichzeitigkeit zwischen avancierter Raumkonstruktion und traditionell simultaner Erzählweise. Während der perspektivisch geraffte Raum die Einheit von Zeit, Ort und Handlung suggeriert, springen die Figuren infolge ihrer beweglichen Bedeutung, im Zeit-Raum vor und zurück.“163

Bruegel verarbeitet einerseits die Veränderungen der Raumwahrnehmung während der Renaissance, seine Beziehung zur Kartographie bezieht sich aber in Bezug auf die Konstruktion der Zeit noch auf diejenige des Mittelalters, auf das durch sie vermittelte Weltbild oder besser: auf die Art und Weise, wie es erzeugt wurde. Auch so musste sich für ihn aber jener Widerspruch ergeben: das Erschrecken des menschlichen Blicks vor seinen eigenen, im Verhältnis zu älteren Prägungen als anmaßend erlebten neuen Möglichkeiten. Daher erzeugt das Gemälde ein Netz von Verweisen, die alle eines enthalten: eine Warnung vor der menschlichen Überheblichkeit, der Auflehnung gegen die göttliche Ordnung, vor Hybris und Superbia. Dass dies in engem Zusammenhang steht mit dem räumlichen Überblick, den das Bild ermöglicht, liegt auf der Hand. Dieser Blick könnte dem menschlichen Betrachter eine Möglichkeit nahe legen, vor der es zu warnen gilt: diejenige des menschlichen Überblicks, des in der Überschau liegenden Wissens und Wissenwollens. Diese Fiktion eines Wissens ohne Vermittlung über den Blick Gottes ist eine Anmaßung, die zum Sturz führen wird, wie diejenige des Ikarus oder des Phaeton. 159 Vgl.: Metamorphosen, Buch I, 89-150. 160 Ebd.: I, 90-113. 161 Ebd.: I, 124-125. 162 Ebd. I, 126-128. 163 Wyss 1990, S. 47.

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Es gilt hier Verzicht zu üben, auch wenn das Mittel, durch das diese Predigt gehalten wird, das worauf verzichtet werden soll, selbst vorführt: „Der Maler predigt abgeklärt den Gleichmut, während er zugleich auf die Welt, der es zu entsagen gelte, unverwandt-inbrünstig hinsieht.“164 Diese Ambivalenz des neuen Blicks auf die Welt ist es eben wiederum, die sich gewissermaßen einer typischen Inkonsequenz verdankt, die in einem ganz ähnlichen Zusammenhang Montaigne nur dadurch nicht begeht, dass er auf die Lösung des Problems des Wissens um den Zusammenhang der Welt und des Einzelnen mit der Welt verzichtet: „Das Menschenauge kann von der Wirklichkeit nur erfassen, was seiner Aufnahmefähigkeit entspricht. Und denken wir denn nicht daran, wie elend Phaeton abstürzte, weil er mit sterblicher Hand die Zügel der Sonnenpferde seines Vaters führen wollte? In ähnliche Tiefe stürzt auch unser Geist hinab: er zerflattert und zerschellt infolge seiner Vermessenheit.“165

Mag Bruegel auch inhaltlich eine ähnliche Aussage angestrebt haben: Das Medium der kartografisch orientierten Landschaftsmalerei kollidiert in seiner Funktion auf der formalen Ebene mit ihr, und dies führt zu einem dem Bild eingeschriebenen Unbehagen seiner formalen Anlage gegenüber. Das Schiff in der Nähe des Ertrinkenden gibt einen weiteren Hinweis auf diesen inneren Widerspruch: Es ist durch die räumliche Nähe dem für seine Hybris Bestraften zugeordnet – auch das vornehmliche Medium der Entdeckung des nun als unbegrenzt erkannten Raumes, der aktiven Ausdehnung des menschlichen Horizontes, ist ein Medium der Hybris. Das Problem liegt gerade darin: Die Landkarte, die Bruegel vor uns ausbreitet, wäre ohne das Medium der Schifffahrt nicht möglich gewesen, welches der Maler als Verkörperung der Hybris in diese Karte setzt.166 Die „Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“ ist beileibe nicht das einzige Bild Bruegels, dessen eigentliches Thema dieser Widerspruch zwischen Form und Inhalt ist. In vielen seiner Gemälde und Graphiken ist die Warnung vor der Hybris des menschlichen Blicks angesichts des ermöglichten Überblicks in Form von Galgen und Rädern umgesetzt, die den Betrachter, im Bildmittelgrund platziert, an seine 164 Ebd.: S. 52. 165 Montaigne 1969, S218f (II, 12). 166 Auch hierin verbirgt sich eine Referenz auf Ovids Metamorphosen: Zum goldenen Zeitalter heißt es bei ihm: „Noch war nicht, in ihren Bergen gefällt, die Fichte in die klaren Wogen hinabgestiegen, um eine fremde Welt zu besuchen. Keine Küsten kannten die Sterblichen – außer der, die sie selbst bewohnten“ (I, 95-97), zum ehernen dagegen: „Segel vertraut man den Winden – noch kannte diese der Seemann nicht gut – und Bäume, die lange auf hohen Bergen gestanden hatten, schaukelten als Kiel eines Schiffs auf unbekannten Fluten“ (I, 133-135).

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Menschlichkeit, also Sterblichkeit erinnern sollen.167 Auch in Bezug auf die „Große Alpenlandschaft“ (1555/56) wurde dies festgestellt. Hier eröffnet sich einem Reiter im Vordergrund – und mit ihm dem Betrachter – ein weiter Überblick über die Berglandschaft. Diesem Reiter sind – wiederum durch die Nähe auf der Bildfläche – zwei Symbole zugeordnet: Der Galgen und das Rad als Erinnerung an die Vergänglichkeit und der Steinbock (soweit diese Deutung trägt) als Verkörperung der gotteslästerlichen Hybris. So könnte auch hier die Ambivalenz des durch den Überblick hervorgerufenen Lustempfindens und der entsprechenden Angst das eigentliche Thema des Bildes sein. B. Kaschek schreibt dazu: „Das verwegene Tier [der Steinbock, MR], das in seinem Übermut den höchsten Gipfel erklommen hat, symbolisiert eine Existenz, die sich ganz und gar auf sich selbst und nicht auf ihren Schöpfer verlassen will. Der Steinbock befindet sich auf einem Standpunkt über dem Rest der Welt, der eigentlich nur Gott zusteht. Doch die Perspektive, die der Reiter – und mit ihm der Bildbetrachter – einnimmt, trägt ebenfalls Züge der Hybris. Auch uns wird durch das Bild suggeriert, die ‚ganze Welt‘ vor und unter uns ausgebreitet zu sehen. […] Die Lust des Überblicks verleitet aus theologischer Sicht also zu Selbstermächtigung und Anmaßung, denn der Mensch, der sich die Welt im Schauen untertan macht, ist stets in Gefahr, seinen gnädigen Schöpfer zu vergessen. […] Es ist durchaus denkbar, dass Bruegel hier in imposanter Form seinen eigenen inneren Zwiespalt, in den er beim Durchwandern der Alpen geraten ist, ins Bild gesetzt hat.“168 167 Es ist in diesem Zusammenhang natürlich nicht möglich, wohl aber auch nicht nötig, mehr als zwei Beispiele genauer zu betrachten. Es sei hier aber zumindest auf zwei weitere und zudem sehr berühmte hingewiesen: Auf dem Gemälde „Heimkehr der Herde“ (1565, Kunsthistorisches Museum Wien) liegen Galgen und Rad beinahe genau in der Mitte der vertikalen Linie, die das rechte Drittel des Bildes vom Rest trennt. Auf dem „Turmbau von Babel“ (1563, ebd.) fehlen Galgen und Rad – sie wären als Hinweise auf die Gefahr der Hybris aber auch überflüssig. Der schräg gebaute Turm selbst ist Hinweis genug. Dies deutet darauf hin, dass der Turm für Bruegel zunächst nicht in erster Linie eine Erinnerung an den auf seine Zerstörung folgenden Zerfall der ursprünglichen Sprachgemeinschaft war, dass er von ihm vielmehr tatsächlich in seiner Bedeutung als Turm begriffen wurde: als Medium eines Überblicks, das errichtet wurde, um das Überblickte in seiner Einheit sichtbar und haltbar zu machen: „Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.“ (1.Mose, 11, 3-4). Ein Unterfangen der Hybris ist der Bau, weil er dem Menschen eine Perspektive ermöglicht, die Gott vorbehalten ist. 168 B. Kaschek, „Gottes Werk und Bruegels Beitrag – Zur Deutung der Landschaftsgraphik Pieter Bruegels D. Ä.“. in: „Pieter Bruegel invenit – Das druckgraphische Werk“, Hg.: J. Müller und U. M. Schneede, Hamburg 2001 (Katalog zur Ausstellung der Kunsthalle

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Miltons „Paradise lost“ Natürlich können hier nicht alle vorgebrachten Interpretationsvorschläge in Bezug auf Miltons Poem wiedergegeben werden. Immerhin kann aber wohl gesagt werden, dass zwei der in ihm behandelten Themen in den Bereich dieser Untersuchung der Geschichte des Überblicks fallen: Milton fragt in seiner Nachdichtung der Genesis nach der Möglichkeit, vom menschlichen Standpunkt aus ein Wissen um die Schöpfung und um Gott zu erreichen. Ist ein solches Streben legitimer menschlicher Anspruch oder ein unstatthafter Versuch, an der durch Gott gegebenen Offenbarung vorbei dem Menschen nicht zugedachtes Wissen und Macht zu erlangen? Ein auch auf der Oberfläche ausgesprochenes Problem des Gedichtes ist also das Spannungsverhältnis zwischen der Forderung nach Demut in den Wissens- und Machtansprüchen des Menschen und deren Selbstverständnis vor allem in der Wissenschaft als autonom und aus sich heraus Erfolg versprechend. Damit hängt ein weiteres Problem zusammen, das Milton bis auf die Ebene der rhetorischen Mittel zum Ausdruck bringt: Dasjenige der Darstellbarkeit, der Benenn- und Abbildbarkeit Gottes und seiner Wahrheit. Dieses an sich alte Problem erscheint bei Milton auf diese Weise im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Bedrohung der Vorstellung der Schöpfungsordnung durch die neuen Wissenschaften und das durch sie geschärfte Bewusstsein für die Abhängigkeit der Erkenntnis von den Voraussetzungen des menschlichen Verstandes. Der Überblick spielt in diesem Zusammenhang in „Paradise lost“ eine immer wiederkehrende und wichtige Rolle, indem er verschiedenen Protagonisten zugeordnet und verschieden mit Bedeutung versehen wird. Durchgängig ist aber seine Funktion als Ausdruck der Macht und des Wissens – sei es legitimen Wissens und legitimer Macht auf Seiten Gottes und seiner „Helfer“ oder aber illegitimer Machtgier und Hybris auf Seiten Satans. Zwischen diesen beiden Polen steht der dem Menschen entweder durch Gott ermöglichte Überblick oder aber dessen Versuchung durch die Verheißung des verbotenen, teuflischen Blicks von oben. Auch unabhängig von dieser wechselhaften und gleichsam symmetrischen Zuordnung von Momenten des Überblicks zu den beiden Gegnern Satan und Gott fallen an Miltons Gedicht immer wieder die erstaunlich unklare Moralstruktur und die wenigstens auf der Oberfläche einander als gleichwertige Pole entgegengesetzten Lager auf. Ganz anders als in Dantes Inferno ist Satan bei Milton ein von sich aus handelndes Subjekt, das zudem seine Handlungen auf eine Weise erklärt, die den

ab Januar 2001). Es sollte aber festgehalten werden, dass diese Deutung im Falle der „Alpenlandschaft“ weniger eindeutig st, als z.B. im Falle der „Landschaft mit dem Ikarussturz“. Zumindest Büttner widerspricht ihr bzw. bestreitet ihre Plausibilität. Vgl.: Büttner 2000, S. 182.

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Leser immer wieder zur Empathie zwingt. Beide Protagonisten, Gott und Satan, werden beschrieben und als agierend geschildert – wie zwei Befehlshaber einander bekriegender Heere. Gerade dadurch, durch diesen scheinbar unbekümmerten Umgang mit der Frage der sprachlichen Bestimmbarkeit Gottes, stellt Milton diese Frage aber besonders eindringlich. Der Leser scheint das Geschehen – also das traditionell als Glaubensinhalt Aufzunehmende, das in der Offenbarung geschenkte Wissen um die Entstehung der Welt – wie von außen von einem transzendenten Standpunkt aus zu betrachten. Die alte Vorstellung der Gottesschau, in der dem Menschen die Wahrheit um die Schöpfung im Sinne des Blicks ins Antlitz Gottes übermittelt wird, findet sich hier ersetzt durch eine Art Blick auf die Bühne des Geschehens, das doch eigentlich allumfassend ist und nicht als Ganzes von außen zu sehen wäre: „The cosmic story – the ultimate plot in which all other stories are episodes – is set before us. We are invited, for the time being, to look at it from the outside. And that is not, in itself, a religious experience […]. In the religious life man faces God and God faces man. But in the epic it is feigned for the moment, that we, as readers, can step aside and see the faces of God and man in profile.“169

Zu ergänzen ist hier, dass es zunächst eben vor allem auch Satan ist, der als Gott gegenüberstehendes Profil erscheint, noch bevor Adam und Eva ins Bild rücken. Indem er (ebenso wie Gottvater) das Geschehen kommentiert und seine Beweggründe offen legt, bieten sich dem Leser zwei Perspektiven an, zwei auch moralische Blickwinkel – und das in einem Zusammenhang, in dem die fraglose Hinnahme der Ordnung der Schöpfung bisher stets nur eine zulassen konnte. Milton dehierarchisiert zumindest die alte moralische Struktur von „oben“ und „unten“. Die astronomisch-räumliche Ordnung lässt er zunächst auf der Oberfläche bestehen: Sein Universum ist im Wesentlichen das ptolemäische. Nur die Hölle bringt er in einem durch einen Bereich des Chaos von der in der Mitte platzierten Welt und dem darüber sich erstreckenden Empyreum unter und nicht im Mittelpunkt der Erde. Diese wurde laut ihm erst nach dem Fall der abtrünnigen Engel geschaffen.170 Gerade hier wird aber die Perspektive des Teufels in ihrem Verweischarakter interessant: Er steht offenbar für ein eigentlich menschliches Verhältnis zur Welt, nämlich für das autonome menschliche Streben nach Wissen und Macht, wie es sich im Verstandes169 Lewis, C. S., A preface to Pradise lost, Oxford 1942, zitiert nach Bradford 2001, S. 103. 170 Milton 1975, I, the argument; tatsächlich erhält Milton hier die Begriffe von „oben“ und „unten“ im Räumlichen aufrecht: die Hölle ist ein Abgrund („great deep“), in den die Engel vom Himmel herabgestürzt sind. Gott ist also nach wie vor „oben“ platziert – auch wenn die Relativität dieses Begriffs hier schon deutlich werden muss, da die Erde als Referenzpunkt ja anfänglich noch fehlt.

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gebrauch der Wissenschaften und in deren zeitgenössischen Aufbruch in das nunmehr als unbegrenzt erscheinende Universum präsentierte. Auch wenn Milton das Universum scheinbar also in der alten Verfassung zeigt, enthalten seine Schilderungen deutliche Hinweise auf die Gefährdung dieser festen und ehemals verlässlichen Struktur. Diese Gefährdung stellt sich dar im Flug Satans über das Chaos hinweg zur neu geschaffenen Welt. Sie stellt sich aber genauso dar in der dem Gedicht auf verschiedenen Ebenen eingeschriebenen Multiperspektivität – und u.a. hier erhält die Überperspektive des Überblicks ihre typische Funktion: als auf die Wahrnehmung des Raumes projizierter Versuch, ein sich als visuelles darstellendes Korrektiv der ansonsten nicht ineinander zu überführenden Einzelperspektiven zu erhalten. Dass Satan die Rolle der neuen Welterklärungen der Wissenschaften übernimmt, wird dabei stellenweise sehr klar gemacht: Martin Windisch weist auf die herausgehobene Bedeutung der Beschreibung seines Schildes hin171: „[…]; his ponderous shield / Ethereal temper, massy, large and round, / Behind him cast; the broad circumference / Hung on his shoulders like the moon, whose orb / Through optic glass the Tuscan artist views / At evening from the top of Fesole, / Or in Valdarno, to descry new lands, / Rivers or mountains in her spotty globe.“172

Hier wird Satan die Stelle Galileos zugewiesen, der mit seinem Fernrohr ins All hineinblickt, um eine neue Welt – die des Mondes – zu entdecken. Galileo wird dabei als „artist“ bezeichnet: Die Methodik der empirischen Wissenschaft gerät in die Nähe eines künstlerischen Schöpfungsprozesses, die Weltendeckung erscheint als Weltschöpfung aus dem menschlichen Geist. Ein intertextuelles Moment unterstreicht noch das Neue in diesem Verhältnis zur Welt: Der Schild Satans verweist auf denjenigen des Achill.173 Dieser durch Hephaistos geschmiedete Götterschild enthält auf sich ein Bild der ganzen Welt, ein Bild des Raumes und der Zeit. Er entspricht der Tradition der eine objektiv gegebene Ordnung voraussetzenden Gesamtdarstellung der Welt, wie sie sich noch bei den mappae mundi oder bei Hartmanns Beschreibung des Pferdes Enites findet. Ähnlich wie diese Hoffnung auf einen dem Menschen sich offenbarenden Blick aufs Ganze in der bildenden Kunst bereits zerbrochen und allenfalls durch den perspektivischen Überblick über einen Ausschnitt der Welt ersetzt war, stellt sich nun bei Milton der Blick durch das Fernrohr auf die Landschaften des Mondes gleichsam als Ersatz für diesen All-Blick dar: Im Sinne der „reflexiven Teleskopie“ hat man es schon hier eigentlich mit einem Blick von oben zu tun. Der Schild Satans repräsentiert einen aus menschlicher Perspektive

171 Vgl.: Windisch 1997, S. 70ff. 172 Milton 1975, I, 284-91. 173 Im 18. Gesang der Ilias beschrieben.

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welterschließenden und in dieser Hinsicht welterschaffenden Blick.174 Dieser Blick geht an der Voraussetzung einer von Gott fest gefügten und vom subjektiven Standpunkt unabhängigen Ordnung vorbei und wird zur Grundlage einer Selbstkontextualisierung im Zusammenhang einer vom Blickpunkt des Menschen aus konstruierten Welt. Ganz wörtlich verstanden wird diese Weltschöpfung durch den in die Weiten des Alls schweifenden Entdeckergeist bei der Schilderung der Reise Satans von der Hölle durch das Chaos zur Welt: Das Chaos erscheint als Grundstoff der Schöpfung, der dieser logisch vorausgeht: „The womb of nature and perhaps her grave“.175 So erhält die Schöpfung einen regelrecht zufälligen, beliebig oft wiederholbaren Charakter. Dies wird in dem Moment zugespitzt, in dem der Tod und die Sünde in Satans Gefolge selbst eine Brücke über das Chaos zur Welt erschaffen. Diese Schöpfung unterscheidet sich scheinbar nicht wesentlich von derjenigen Gottes – wenn auch bereits betont wird, dass sie mit dessen Einwilligung geschieht, erscheint sie zunächst einmal als eigenmächtig oder doch wenigstens delegiert.176 Dieser schöpferischen Tat ebnet also Satan im wahrsten Sinne auf seiner Entdeckungsreise den Weg. Seine Reise führt ihn in einen letztlich unendlichen Raum möglicher Schöpfungen, möglicher Welten. Es ist kein Zufall, dass sie als Schiffsreise metaphorisiert wird und sich im Medium der zeitgenössischen Entdeckungsreisen vollzieht, als deren Gefolge auch von Zeitgenossen die Sünde und der Tod erkannt wurden.177 Fragen wirft aber in diesem Zusammenhang die Tatsache auf, dass das Streben Satans nicht in jeder Hinsicht abgewertet wird. Seine Entdeckungsreise und sein Streben nach Macht erscheinen vielmehr stellenweise als heroischer Kampf im Stile der antiken Dramatik und ihrer neuzeitlichen Nachfolge. Dies vermittelt sich auf typische Weise durch die Reden, die Satan zu Beginn vor seinem geschlagenen Heer hält. In ihnen drückt sich ein Stolz aus, der vor dem christlichen Hintergrund als verdächtig gelten kann, der im Kontext des klassischen Dramas aber auch zu positiver Empathie anhält. Die Erzählerkommentare zwischen den beiden Reden

174 Eine Verbindung, die, wie Blumenberg bemerkt hat, durchaus typisch war: Der Wissenschaftler, zumal der Astronom erschien als Täter, als Urheber eines Umsturzes des alten Kosmos. Vgl.: Blumenberg 1996, S. 310ff. 175 Milton 1975, II 911; vgl.: Klein 1986, S. 232f. 176 Vgl.: ebd.: II, 1025. 177 Vgl. Milton 1975, II, 1040-44; Man denke an Brunos Bemerkung, dass die Entdeckung ferner Welten im unendlichen Weltall weniger zerstörerisch vor sich geht als diejenige auf der Erde. Vgl.: Bruno 1969, S 73. Erinnert sei auch an das Schiff als Symbol der zerstörerischen Hybris bei Bruegel.

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Satans scheinen den Leser regelrecht aus seiner Empathie zurückrufen zu wollen.178 Zudem stellt sich Satan vor allem im Moment der Versuchung, in dem er Eva zum Bruch des Verbots überredet oder sie vielleicht auch überzeugt, als Vertreter der Vernunft, wiederum als rational argumentierender „Wissenschaftler“ dar.179 Um ihre Bedenken zu zerstreuen, bringt er unter anderen dieses plausible Argument vor: „What can your knowledge hurt him, or this tree / Import against his will, if all be his? / Or is it envy, and can envy dwell / In heavenly breasts?“180 Ein göttliches Verbot des Wissens macht – so das Argument des Teufels – keinen Sinn: Es gibt angesichts der (von ihm in Wahrheit nicht akzeptierten) Allmacht Gottes nichts, was es durch ein solches Verbot zu verhüten gäbe und wie könnte ein guter und von Neid freier Schöpfer seinen Geschöpfen die Frucht des Wissens also nicht gönnen? Auch sich selbst stellt er zuvor diese rhetorische Frage, in der sich der satanische Wunsch nach Wissen offenbart und der letztlich nicht auf menschlicher Rationalität beruhende Grund des Wissensverbots: „[…] Knowledge vorbidden? / Suspicious, reasonless. Why should their Lord / Envy them that? Can it be sin to know, / Can it be death?“181 So wird also die von Satan vertretene menschliche Vernunft in Verbindung mit einer großen Wertschätzung des Wissens zur Versuchung. Auf dem falschen, das unverständliche Gesetz Gottes brechenden Wege wissen zu wollen, das ist Evas Vergehen. Der dem Text eingeschriebene und in Satan verkörperte Verweis auf die Perspektive der neuen Naturwissenschaft gibt aber einen Hinweis darauf, dass die Entgegensetzung von Satan und Gott und die scheinbare Zufälligkeit der Schöpfung auf eine höhere Ebene verweist, auf der Gott den Bereich der Gegensätze und der verschiedenen Perspektiven umfasst – ganz im Sinne der cusanischen coincidentia oppositorum, im Sinne einer vom menschlichen Standpunkt aus nicht zu bestimmenden Einheit. Diese Einheit ist es, die sowohl den Menschen als auch Satan verschlossen bleiben muss, weil sie dem menschlichen Verstand unzugänglich, weil sie unverständlich ist. Auf diese Ebene wird im Text auch auf der Bedeutungsoberfläche verwiesen: Satans Macht – so argumentiert z.B. der Seraph Abdiel gegen die Aufrührer182 – ist Teil der göttlichen Schöpfung und kommt somit von Gott. Der Aufstand der gefallenen Engel ist also im Sinne eines Kampfes gegen ein Gegenüber sinn- und hoffnungslos. Satan ist wie alles Teil der Schöpfung und täte mit 178 Vgl.: Milton 1975, I, 82-124 und 241-264; Vgl.: Bradford 2001, S. 96f. Der der stolze oder auch verstockte Ausspruch Satans „Better to reign in hell, than serve in heaven“ (263) hat im Englischen sprichwörtlichen Charakter erhalten. 179 Vgl.: Milton 1975, IX, 532-779; Vgl.: Bradford 2001, S. 106. 180 Milton 1975, IX, 726-30. 181 Ebd.: IV, 515-518. 182 Vgl.: ebd.: V, 809-848.

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einer Unterwerfung unter Gott seinem Stolz somit keinen Abbruch. Der Krieg der Engel stellt sich von dieser Perspektive aus als Gegensatz innerhalb einer umfassenden Einheit dar – so wie auch die Vielheit der aus dem Chaos zu schöpfenden Welten auf die sie im Ganzen umfassende Schöpfung verweisen können, die von keinem äußerlichen Standpunkt mehr zu betrachten wäre. Das moralisch indifferente Gegenüber der beiden Lager erscheint als dem menschlichen Verstand zugängliche Darstellung eines Ganzen, das als solches nicht darstellbar ist – und dieser Blickwinkel des Verstandes ist zugleich derjenige den Satan nicht transzendieren kann, auch er versteht nicht und kann nicht verstehen, wie er selbst zum Werkzeug göttlicher Vorsehung wird. Martin Windisch weist darauf hin, dass diese Entgegensetzung eines begrenzten naturwissenschaftlichen Blicks auf die Welt und der allumfassenden Natur Gottes nicht nur in theologischen, sondern durchaus auch in naturwissenschaftlichen Zusammenhängen zugegeben wurde. Wie bereits in Bezug auf Cusanus festgestellt wurde: Die Annahme eines allumfassenden und damit unendlichen Gottes ebnete gerade den Weg zu einer Säkularisierung des begrenzten, ausschnitthaften menschlichen Blicks.183 Insofern bleibt die Wertung der neuen Wissenschaften durch Milton ambivalent: Das Vergehen ist nicht die Wissenschaft als solche, sondern das Vergessen des nicht wissenschaftlich zu durchdringenden Gottes und seines im Glauben aufzunehmenden Gesetzes. Es mag sein, dass sich neben den offensichtlichen Hinweisen auf Galileo auch vorsichtigere auf Bruno (und Cusanus) in seinem Text verbergen, insofern die das ptolemäische Weltbild gleichsam im Nebensatz sprengende Rede von einem Universum „Of amplitude almost immense, with stars / Numerous, and every star perhaps a world / Of destined habitation; […]“184 der Unendlichkeit Gottes im sozusagen „annährend“ unbegrenzten Universum eine räumliche Dimension gibt.185 Diese Frage der Darstellbarkeit und Verstehbarkeit des unendlichen Gottes wird aber bei Milton vor allem auch auf der Ebene der Sprache verhandelt. Verschiedene Autoren haben darauf hingewiesen, dass sich Milton ganz im Sinne der „Koinzidenz der Gegensätze“ in seinen sprachlichen Charakterisierungen Gottes oder auch Satans des Oxymorons bedient, abstrakte Begriffe anhäuft, die die Unanschaulichkeit des Gegenstandes deutlich machen, oder den Figuren nicht zueinander passende Tätigkeiten zuschreibt.186 Besonders deutlich wird dies vielleicht in seiner Verwendung des für das Barock typischen Topos der zugleich ent- und verhüllenden, tabernakelhaften Wolke: „Thee father first they sung omnipotent, / Immutable, immortal, infinite, / Eternal King; thee Author of all being, / Fountain of light, thyself invisible / Amidst the glorious brightness 183 Vgl.: Windisch 1997, S. 65f. 184 Milton 1975, 7, 620-22. 185 Vgl.: Windisch 1997, u.a. S. 55ff; Klein 1986. 186 Vgl.: Windisch 1997; Klein 1986.

206 | D AS G ANZE IM B LICK where thou sitt’st / Throned inaccessible, but when thou shad’st / The full blaze of thy beams, and through a cloud / Drawn round about thee like a radiant shrine, / Dark with excessive bright thy skirts appear […]“187

Eine ungebrochene Beschreibung eines Gottes, dem zugleich nicht nur Unsichtbarkeit, sondern auch Unendlichkeit zugeschrieben werden und der als „Quelle“ allen Seins verstanden wird, müsste als Widerspruch und naiver Anthropomorphismus erscheinen. Indem er aber als „dark with excessive bright“ bezeichnet wird, zeigen Sprache und Verstand ihre Grenzen, jenseits derer die Vernunft die Unendlichkeit Gottes setzt, in der die Widersprüche von Hell und Dunkel wie alle anderen zusammenfallen.188 Anders als in den theologisch-philosophischen Reflexionen des Cusanus erhält bei Milton nun der ausdrückliche Überblick, der Blick von oben seine zeittypische Bedeutung als Blick der Macht und des Wissens. Auf seiner Ebene wird der Gegensatz zwischen von Gott geoffenbartem Wissen und der Hybris des eigenmächtigen Wissensstrebens verhandelt. Anders als bei Cusanus wird der metaphorische Blick bei Milton perspektivisch – und damit zum (scheinbar) bestreitbaren und umkämpften Privileg bzw. zum möglichen Geschenk. Der Überblick erscheint so als das gewissermaßen letzte und letztlich auch nur metaphorische Mittel des menschlichen Verstandes, die Welt umfassend zu verstehen oder umfassendes Verständnis (auf Seiten Gottes) metaphorisch zu bedeuten. In gewisser Hinsicht entspricht dieses Verfahren der im Absolutismus üblichen Ersetzung des allsehenden Gottes durch den allsehenden König. Auch hier drückte sich wie bereits dargestellt die Allgegenwart und Allwissenheit nun in einem perspektivischen All-Blick aus, wodurch die erhöhte Position eine wesentliche Funktion erhielt, die in Bezug auf die Instanz Gottes zuvor nicht notwendig gewesen war. Momente des Überblicks ergeben sich in den meisten Büchern des Gedichtes und sie sind wie gesagt verschiedenen Figuren zugeordnet. Nahe liegend ist zunächst einmal die Charakterisierung Gottes über diesen allsehenden Blick. Ausdrücklich von oben blickt Gott aus dem Empyreum herab auf seine Schöpfung: „Now had the Almighty Father from above, / From the pure empyrean where he sits / High throned above all highth, bent down his eye, / His own works and their works at once to view“189

Dass diese Position eine der Macht ist, zeigt sich bereits in der Rede Belials, der in der Beratung der Teufel angesichts der himmlischen Übermacht zur Kapitulation rät: 187 Milton 1975, III, 372-380. 188 Vgl.: Windisch 1997, S. 37. 189 Milton 1975, III, 56-59.

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„War therefore, open or concealed, alike / My voice dissuades; for what can force or guile / With him, or who deceive his mind, whose eye / Views all things at one view? He from heav’n ’s highth / All these our motions vain, sees and derides; /Not more almighty to resist our might / Than wise to frustrate all our plots and wiles.“190

Wie gesagt ist dieser Besitz einer Position des Überblicks nicht exklusiv – zumindest nicht auf der Ebene der unversöhnten, unumschlossenen Gegensätze, auf der dieses Mittel seinen Platz hat. Zunächst einmal erhält also auch der Gegenspieler Satan gelegentlich diese Position. Die so erhaltenen Überblicke über die Welt oder den Garten Eden ermöglichen es ihm einerseits, zielgerichtet sein Verführungswerk anzugehen. Andererseits erfüllen sie ihn auch mit Neid auf den Schöpfer der im Überblick als schön und sinnvoll geordnet erscheinenden Welt. Auf der äußeren Seite des Universums gelandet blickt Satan am Fuße der Himmelsleiter stehend herab auf die Welt im Inneren: „Satan from hence now on the lower stair / That scaled by steps of gold to heaven gate / Looks down with wonder at the sudden view / Of all this world at once. As when a scout / Through dark and desert ways with peril gone / All night; at last by break of cheerful dawn / Obtains the brow of some high-climbing hill, / Which to his eye discovers unaware / The goodly prospect of some foreign land / First seen, or some renowned metropolis / With glistering spires and pinnacles adorned, / Which now the rising sun gilds with his beams. / Such wonder seized, though after heaven seen, / The spirit malign, but much more envy seized / At sight of all this world beheld so fair.“191

Das hier einmal mehr evozierte Bild Satans als Entdecker lässt seinen Überblick wiederum als denjenigen menschlichen Wissensdrangs erscheinen. Der Neid Satans ist also eine Art Künstler-Neid: Der Neid der an dem hochmütigen Anspruch erkrankten Wissenschaften, eine neue Welt zu erobern und so zu schaffen, auf den sich in seinen Werken zeigenden wahren Schöpfer. Dieser Neid wird für Satan zur Motivation für den Versuch seines Zerstörungswerks. Im Paradies angelangt, verschafft er sich zunächst wieder einen Überblick über diesen Schauplatz. Dies bewerkstelligt er, indem er auf den Baum des Lebens steigt – indem er also den Quell des von Gott geschaffenen Lebens, das verkörperte Prinzip der lebendigen Schöpfung, zum Wahrnehmungsinstrument degradiert: Indem er scheinbar Macht schaffendes Wissen über die ihn umgebenden Zusammenhänge erhält, übersieht er (im wahrsten Sinne) notwendig deren eigentliche, auf Gott verweisende Natur. Dieser Überblick entfremdet die Wahrnehmung von dem ihr zugedachten Guten, er wird hier ausdrücklich als verwerflich gekennzeichnet: 190 Ebd.: II, 187-193. 191 Milton 1975, III, 540-554.

208 | D AS G ANZE IM B LICK „Thence up he flew, and on the Tree of Life / the middle tree and highest there that grew, / Sat like a cormorant; yet not true life / Thereby regained, but sat devising death / To them who lived; nor on the virtue thought / Of that life-giving plant, but only used / For prospect, what well used had been the pledge / Of immortality. So little knows / Any, but God alone, to value right / The good before him, but perverts best things / To worst abuse, or to their meanest use.“192

So stellt sich im Überblick über den Garten Eden also einerseits die gottvergessene Hybris des Weltentdeckers Satan dar, andererseits erscheint er als Blindheit im negativen Sinne, als perspektivische Fixierung des Blicks, die ihn unempfänglich macht für das eigentlich Wichtige.193 Tatsächlich könnte man annehmen, dass der Gegensatz des perspektivisch gebundenen Überblicks Satans und des AllÜberblicks Gottes sich hier wiederum in einem Verhältnis des Sehens und Gesehen-Werdens anschaulich macht: Während Satan sich vom Baum des Lebens einen Überblick über das Paradies verschafft, liegen sowohl dieses als auch die Position seines Blicks im Bereich des göttlichen Überblicks – und damit in dem des göttlichen Wissens: „Meanwhile th’Eternal eye, whose sight discerns / Abstrusest thoughts, from forth his holy mount / And from within the golden lamps that burn / Nightly before him, saw without their light / Rebellion rising …“194

Der Versuch Satans, sich Überblick zu verschaffen ist also ein Akt der Hybris und des Aufruhrs, der aber angesichts der Allgegenwart und Allwissenheit Gottes nur auf der Ebene des perspektivierenden Verstandes Sinn macht. Und die Blindheit gegen diesen Umstand stellt sich wiederum – paradoxer, aber eben nur so verständlicher Weise – im Verhältnis zweier Perspektiven dar. Dass der Überblick im Verständnis Miltons nicht per se zu verdammen ist, wird klar, wenn man die Zuordnung entsprechender Momente zu den beiden menschlichen Figuren betrachtet. Solche Momente gibt es sowohl für Eva als auch für 192 Ebd.: IV, 194-204. 193 Diese Blindheit, die im Sinne der Tradition der voluptas oculorum gerade im Sehen liegt, ist von der durch den blinden Milton als positiv eingeschätzten Blindheit zu unterscheiden, deren Wert gerade darin liegt, dass sie den Autor für das göttliche Licht empfänglich macht. Diese Blindheit ist eine Veränderung der Aufnahmefähigkeit auf Seiten des Menschen, die ihn zum möglichen Vermittler einer dem menschlichen Verstand angemessenen Offenbarung machen kann, die sich über das geistige Auge einprägt. Vgl.: III, 40-55. 194 Ebd.: V, 711-515; der Zusammenhang dieser Verse ist ein etwas anderer, sie entstammen der Erzählung des Krieges der Engel durch Raphael.

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Adam. Eva neigt als „Einfallstor“ der Versuchung dem das göttliche Privileg störenden Überblick Satans zu. Adam erhält vor allem am Ende der Erzählung eine sich im Überblick darstellende Offenbarung der Geschichte der Welt. Kurz: Legitimer Überblick über zeitliche und räumliche Verhältnisse darf das göttliche Gesetz nicht herausfordern. Dem Menschen ist ein Wissen zugedacht und mit diesem muss er sich bescheiden. Dieser Akt der Demut ist die erste Voraussetzung zu wahrem, von Gott legitimiertem Wissen. Beide Formen menschlichen Wissensstrebens stellen sich in Miltons Poem also im Überblick dar – die Frage ist jeweils, ob diese Position sich einer satanischen Selbsterhöhung oder aber einem demütigen ErhöhtWerden verdankt. Auf diese Weise stellt sich also die schon in Bezug auf Bruegel beobachtete Ambivalenz des Überblicks her: Die Gefahr des für die neue Beziehung zur Welt stehenden Blicks von oben muss sozusagen religiös kanalisiert und an einige bestehenbleibende, wenn auch transformierte Elemente der alten Schöpfungsordnung zurückgebunden werden. Der aus dieser Ordnung ausbrechende, säkularisierte menschliche Blick legitimiert sich, indem er sich als in die umfassende Präsenz Gottes fallend reflektiert. Gerade daher erhält die Reflexion auf seine Begrenzungen ihre große Bedeutung: als Verweis auf das nicht mehr darstellbare Unbegrenzte jenseits dieser menschlichen Beschränkungen. Für Eva kommt der Moment des Überblicks als die Versuchung vorwegnehmender Traum. Dieser von Satan eingeflüsterte Traum wird abgebrochen – einerseits durch dessen Entdeckung und Vertreibung durch die Engel Ithuriel und Zephon am Ende des vierten Buches, andererseits durch den anbrechenden Tag, an dem Adam sie weckt und gleichsam wieder ins Licht der natürlichen, nicht satanisch entarteten Vernunft zurückholt.195 Der von Satan hervorgerufene Traum als solcher verknüpft wiederum den Überblick mit dem Kosten der verbotenen Frucht der Erkenntnis. Eva lässt sich von seinem Vorbild zum Essen dieser Frucht verleiten und fliegt daraufhin mit ihm in die Höhe, um von dort herabzublicken – ganz ähnlich wie der Taufelsdoktor Faust in der Legende: „[…] Forthwith up to the clouds / With him I flew, and underneath beheld / the earth outstretched immense, a prospect wide / And various: wond’ring at my flight and change / To this high exaltation; suddenly / My guide was gone, and I, methought, sunk down, / And fell asleep; but O how glad I waked / To find this but a dream!“196

Der vorläufige Fehlschlag Satans äußert sich hier also durch das geträumte Ende der Führung zur Position des Überblicks und im Absinken zur Erde – zu Evas gottgewolltem Platz an der Seite Adams: Das Scheitern der Versuchung ist die räumliche Erniedrigung, der Verzicht auf eigenmächtig erlangten Überblick. 195 Vgl.: Torday Gulden 1999, S. 123ff. 196 Milton 1975, V, 86-93.

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Als Gegenteil dieser Versuchung des Überblicks erscheint nun aber keineswegs der absolute Verzicht auf Wissen und metaphorisch derjenige auf diesen Blick. Vielmehr kommt es hier auf den Führer an – und auf die Haltung der Demut, in der die Offenbarung des Wissens aufgenommen bzw. das Nicht-Wissen als dem Menschen angemessen hingenommen wird. Dem entsprechenden Überblick, der sich Adam am Ende des Gedichtes unter Führung Raphaels bietet, gehen dabei im siebten und achten Buch die ebenfalls durch den Erzengel vermittelten Offenbarungen über den Bau der Welt voraus. Diese verdanken sich einer Frage Adams – und sind damit legitimes, auf die richtige Weise erlangtes Wissen. Allerdings muss die Offenbarung der Beschränktheit der menschlichen Auffassungsgabe Rechnung tragen. Auf die Bitte Adams, ihm und Eva zu berichten, wie und warum der Schöpfer die Welt schuf, antwortet Raphael: „This also thy request with caution asked / Obtain: though to recount almighty works / What words or tongue of Seraph can suffice, / Or heart of man suffice to comprehend? / Yet what thou canst attain, which best may serve / To glorify the Maker, and infer / Thee also happier, shall not be withheld / Thy hearing, such commission from above / I have received, to answer thy desire / Of knowledge within bounds; beyond abstain / To ask, nor let thine own inventions hope / Things not revealed, which th’invisible King, / Only omniscient, hath suppressed in night, / To none communicable in earth or heaven: / Enough is left besides to search and know.“197

Menschliche Wissenschaft hat also durchaus ihre Berechtigung – solange sie in den ihr vorgegebenen Grenzen bleibt. Eine dieser Grenzen wird erreicht, wenn der Mensch nach dem Bau des Universums fragt: Zu Beginn des achten Buches tut Adam dies, indem er gewissermaßen die Ökonomie des geozentrischen Universums bezweifelt und unter anderem fragt, ob es nicht sinnvoller und damit wahrscheinlicher wäre, dass die kleine Erde sich um die Sonne und relativ zu den Sternen bewegt als umgekehrt. Diese und andere astronomische Fragen beantwortet Raphael nur, indem er gleichsam die konkurrierenden Hypothesen referiert ohne zwischen ihnen zu entscheiden. Er schließt: „Solicit not thy thoughts with matters hid, / Leave them to God above, him serve and fear; / Of other creatures, as him pleases best, / Wherever placed, let him dispose: joy thou / In what he gives to thee, this paradise / And thy fair Eve; heav’n is for thee to high / To know what passes there; be lowly wise: Think only what concerns thee and thy being;“198

197 Ebd.: VII, 111-125. 198 Ebd.: VIII, 167-174.

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Aus den Begrenzungen des menschlichen Verstandes soll Adam also Demut und eine Besinnung auf die ihn angehenden, die ihm in der Nähe zugänglichen Dinge folgern. In dem Moment aber, in dem es Gott gefällt, werden ihm – nach dem Sündenfall – wesentlich weitergehende Offenbarungen zu Teil und diese stellen sich wiederum im Überblick dar. Offenbart wird Adam im elften Buch eine geografischhistorische Gesamtschau der Welt bis zur Menschwerdung des Erlösers, durch die der Sündenfall schließlich überwunden werden wird. Der Ort dieser Schau ist der höchste Berg des Paradieses, auf den Raphael Adam führt. Ausdrücklich erhält dieser so die Anschauungsform Gottes: „[…] So both ascend / In the visions of God: it was a hill / Of Paradise the highest, from whose top / The hemisphere of earth in clearest ken / Stretched out to amplest reach of prospect lay.“199

In direktem Anschluss wird dieser Blick in aller Klarheit mit seinem verwerflichem Gegenpart verglichen, dem Überblick des Verführers bzw. demjenigen der versuchten Verführung – wobei ausdrücklich betont wird, dass es nicht die Position des Blicks von oben als solche, sondern dessen Herkunft und Zweck ist, die hier den Unterschied machen: „Not higher that hill nor wider looking round, / Whereon for different cause the Tempter set / Our second Adam in the wilderness, / To show him all earth’s kingdoms and their glory.“200

Die Karte in der Kammer: Niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts Neben der großen Bedeutung, welche die Kartographie nicht zuletzt in den Niederlanden im 17. Jahrhundert erhielt, erschien sie zu diesem Zeitpunkt auch als Gegenstand der bildenden Kunst: als Abbildung von Globen oder Landkarten auf Interieurgemälden. Die Art und Weise dieser Repräsentation von Repräsentationen und die mutmaßlichen Funktionen, die sie erhielt, verweisen einerseits wiederum auf die ambivalente Einschätzung der die Welt expansiv erobernden Wissenschaften und Entdeckungsbestrebungen. Bei Milton erschien der Überblick nur dann als legitim, wenn er sich einer Haltung verdankte, die nicht in den Verdacht der anmaßenden Selbstüberhöhung geriet. Ähnlich stellten sich auch die Medien der empirischen Naturerschließung in gewissen Zusammenhängen als etwas dar, was nur in Verbin-

199 Milton 1975, XI, 376-380. 200 Ebd., XI, 381-384.

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dung mit einem auch auf Religiöses verweisenden kontemplativen Verständnis von Wissenschaft bzw. Weisheit akzeptabel war. Andererseits scheinen bestimmte Formen der ikonografischen Nutzbarmachung der Medien des Überblicks diese auch vom Verdacht der Hybris befreit zu haben: Integriert in eine aus dem Unteren heraus aufgenommene Szene konnten sie nun auch in ganz weltlichen, säkularisierten Funktionen auftreten. Als der auf die Perspektive eines menschlichen Betrachters verweisende Überblick in der Landschaftsmalerei noch die Form des neuen Mediums der Kartografie aufwies, schrieb sich die Ambivalenz des welterschließenden Blicks in die Bilder selbst ein. Als sich diese Perspektive nach unten in die „Kammer“ des reflexiv-kontemplativen Geistes verlagerte, in der die Welt im Ganzen nur noch als Abbild präsent war, ließ sich diese Ambivalenz versöhnen. Der Überblick verlor seinen gefährlichen und gottvergessenen Überschwang, hörte auf Selbsterhöhung bzw. -überhöhung zu sein. Man könnte vielleicht sagen: In dem Moment, in dem der Blick auf die Karte den in sich kartografischen Blick ersetzte, ließ sich deren wissenschaftliche Repräsentation der als geöffnet erscheinenden Welt ohne Angst nutzen. Bärbel Hedinger grenzt dies von den früheren, wie bei Bruegel mit dem Mythos des Ikarus verbundenen Vorstellungen ab: „Der Wagemut des Ikarus führt ihn zu Höhenflügen, für die er bestraft wird; er hat versucht für sich eine ‚überirdische Position‘ zu gewinnen, die allein Gott vorbehalten war. […] Erst den ‚wereltbeschrijvers‘, den Geografen, Landmessern, Kartografen und Reisenden des siebzehnten Jahrhunderts ist es zu danken, dass mit wissenschaftlichen Methoden in kartographischer Kürze ein Bild der Welt entstehen kann, das die mythische Angst vor der Grenzüberschreitung überwindet und auch dem Betrachter überwinden hilft.“201

Wie zu zeigen sein wird, setzte diese Funktion der Kartografie in der bildenden Kunst aber eine bestimmte Anordnung voraus, deren implizite erkenntnistheoretische Grundlagen diese Grenzüberschreitungen in einen Rahmen setzten, der sie verträglich machte auch mit dem alten Verbot der gottvergessenen Weltzugewandtheit. Der Überblick erhielt so als vom spezifisch menschlichen (metaphorisch unten gelegenen) Standpunkt aus erreichte und vermittelte Möglichkeit eine unverdächtige und in gewisser Hinsicht auch unverzichtbare Rolle. In dieser Bindung konnte er die gerade in der Kartografie bereits angelegten Funktionen besonders gut erfüllen. Auf diese Weise und in diesem Zusammenhang ergibt sich auch zum ersten Mal der Überblick im Sinne einer komplexen Verschaltung der Perspektiven von oben und im Unten, durch die letztere einen anderen Wert erhält. Entsprechend der genannten Anordnung des Blicks auf die Karte geschieht dies aber gewissermaßen noch umgekehrt im Verhältnis zu dem, was ich den Blick nach unten genannt habe: Der Blick konnte offenbar erst später wieder in sich kar201 Hedinger 1986, S. 20.

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tografisch oder unmittelbar überblickend werden – und so letztendlich in einer von alten Beschränkungen befreiten Weise Selbsterhöhung in Macht und Wissen metaphorisch vollziehen. Von Vermeers berühmtem Gemälde des „Astronomen“202 lässt sich wohl einiges von der zeitgenössischen Haltung den empirischen Wissenschaften gegenüber ablesen. Der „Astronom“, der in seinem Arbeitszimmer mit Hilfe der Werkzeuge seiner Zunft und unter Anleitung wissenschaftlicher Literatur den Bau des Kosmos nachzuvollziehen sucht, scheint zwar zunächst für die moderne, im 17. Jahrhundert Form annehmende empirische Wissenschaft zu stehen, die auf Grundlage von Beobachtung und Messung das Bild der Welt revolutionierte. Der Kontext, in den Vermeer den Wissenschaftler und seine Tätigkeit setzt, widersprechen einem solchen gleichsam „galileischen“ Verständnis der neuen Wissenschaft aber in gewisser Hinsicht: Repräsentiert findet sich zunächst einmal nicht der unmittelbare Blick auf den Gegenstand des Wissens. Die Tätigkeit des „Astronomen“ findet in einem nach außen abgeschlossenen Raum statt, der sein Licht durch ein undurchsichtiges Fenster erhält. Das zugrundeliegende Ideal wissenschaftlicher Weltdeutung ist offenbar nicht ausschließlich das einer Verallgemeinerung und mathematischen Reformulierung empirischer Beobachtungsdaten. Dass es Vermeer vielmehr um eine Rückbindung der neueren Formen von Wissenschaft an ein älteres, auf religiöse Inhalte verweisendes Konzept von Weisheit geht, offenbart sich in dem Bild im Bild im Hintergrund des Gemäldes: Dieses Gemälde zeigt Moses, den Stammvater der Astronomie und denjenigen der älteren, das (göttliche) Wesen der Dinge erfassenden „mosaischen Wissenschaft“.203 Was sich in der Kammer des Astronomen also ereignet ist nicht ein entfesselter Weltendeckungsdrang, der die Welt nur um ihrer selbst willen und an jedem religiös zu verstehenden Verweischarakter vorbei erfassen möchte. Die Astronomie erscheint vielmehr als Rückbindung des Blicks auf die Welt an ein Konzept „innerer“ Kontemplation, das die Bedeutung und Natur der Welt aus sich heraus erschließt. Sie wird zu einem letztlich autonomen geistigen Vorgang, der aus dem „oberflächlichen“ Anblick der Welt religiöse Bedeutungen oder überhaupt erst Bedeutungen konstruiert. Der Wissenschaftler wird somit nur in einem bestimmten Stadium seiner Tätigkeit gezeigt: In dem der Reflexion, der „inneren“ Konstruktion eines Weltbildes. Der andere Aspekt der modernen Astronomie, das tatsächliche Messen, die empirische Beobachtung als solche, erscheint nicht. Ähnliches galt bei Vermeer und anderen Zeitgenossen auch für die Repräsentation der Geo- bzw. Kartografie. Auf den Zusammenhang, den ein Emblem Adriaan Spinnikers hier ermöglicht, wurde in der Literatur verschiedentlich hinge-

202 Musée du Louvre, Paris, 1668. 203 Vgl.: van Berkel 1996, S. 19ff.

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wiesen204 (Abbildung 14): Unter dem Titel „Zo gaat men veilig (So reist man sicher)“ zeigt die Zeichnung einen Gelehrten, der in einem Raum verschiedene Kartenwerke studiert. Von seinem auf einer Regionalkarte auf Holland gerichteten Zeigefinger aus erfassen diese seinen eigenen räumlichen Kontext im Zusammenhang: Ein topographisches Werk auf dem Tisch geht sozusagen ins Detail (zeigt die einzelne Stadt), die Europakarte im Hintergrund und der Globus auf dem Tisch erweitern den räumlichen Kontext stückweise. Es ergibt sich eine Verschachtelungsstruktur, die im Sinne der zeitgenössischen Atlanten den eigenen Ort im Ganzen finden lässt.205 Als subscriptio dient dem Emblem unter anderem Johannes XIV, 6: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ So wird das moderne Medium der Weltenddeckung moralisierend an den alten Weg des Heils zurückgebunden, der nicht im Übermut des in sich genügsamen Blicks auf die Welt liegt, sondern in der Besinnung auf die in Demut aufzunehmende Bestimmung durch Gott. Gerade die Tatsache, dass Metapher dieser Selbstbestimmung und des grundlegenden Verhältnisses zur Welt hier aber die Kartografie wird, zeigt wiederum, dass sie allgemein diese Funktion ausübte: Der Mensch erfasst sich im Bild der Welt, das die Karte ihm gibt. Er soll dabei aber nicht vergessen – so die emblematische Sicht –, dass die räumliche Bestimmung bzw. Bewegung nicht die moralische zu ersetzen vermag. Die eigentliche Bestimmung des Einzelnen liegt jenseits der naturwissenschaftlichen Kenntnis der Welt und des eigenen Ortes in ihr. Das Wissen um diese Bestimmung verdankt sich nicht dieser Kenntnis, gründet nicht in Erfahrung, nicht im „Blick“ auf die Welt.

204 Der offenbar erste, von J. A. Welu aufgegriffene Hinweis auf diese mögliche Übertragung stammt von E. de Johngh. Vgl.: Welu 1981, S. 117. 205 Vgl.: Hedinger 1983, S. 124.

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Abbildung 14: Adriaan Spinniker, Geograf.

Aus: Leerzame Zinnebeelden, Haarlem 1714, Koninklijke Bibliotheek, Den Haag.

Ob Vermeers Repräsentation der Geografie auf seinem „Geographen“206 auf ähnliche Weise emblematisch zu lesen ist, ist umstritten.207 Immerhin setzt aber auch dieses Gemälde die Tätigkeit des Wissenschaftlers in den Kontext des nach außen abgeschlossenen Interieurs und zeigt gleichsam „hinter“ seinem konzentriert sinnie-

206 Städel, Frankfurt, 1668/69 207 Hedinger lehnt diese Konsequenz ab. Vgl.: Hedinger 1983, S. 123f.

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renden Blick den Moment der im Subjekt sich vollziehenden Konstruktion von Welt. Dabei verweist der Zirkel in seiner Hand auf den alten Topos des architectus mundi:208 Der „messende Wesensgrund“209 der Welt hat sich auch hier aus dem umfassenden Geist Gottes ins menschliche Subjekt verlagert. Dies stellt zweifelsohne einerseits ein Beispiel für eine Aufwertung der neu sich etablierenden Subjektivität dar – andererseits ist es aber eine Form der Bescheidenheit, die sich im Verhältnis zur nicht repräsentierten Welt vor dem Fenster ergibt: Der Wissenschaft ist hier ihr weltergreifender, ihr im wahrsten Sinne erobernder Zug genommen – und damit ein eminent wichtiges Element der tatsächlichen Geografie in den mit der Erschließung und Kolonisation der Welt befassten Niederlanden des 17. Jahrhunderts. Das Subjekt als Ausgangspunkt der geistigen Konstruktion von Welt bleibt buchstäblich in den Grenzen seiner Beschränkungen, die sich im geschlossenen Zimmer des „Geographen“ bedeuten. Bleibt der Mensch sich auf diese Weise der Begrenztheit seiner je einzelnen Perspektive bewusst, trägt der räumliche Überblick der Kartografie oder auch der Astronomie nicht das Stigma eines anmaßenden Stolzes, der blind bleiben muss für die alle Grenzen umfassende Instanz Gottes. Hier liegt eben der Unterschied zur Haltung des miltonschen Satans in seiner Bedeutung als Vertreter einer entdeckenden und erobernden, sozusagen teuflisch selbstgenügsamen Naturwissenschaft. Gerade im Zusammenhang mit Vermeer wurde immer wieder auf die Bedeutung rationalistischer Erkenntnistheorien für dessen Werk hingewiesen. Tatsächlich scheint deren Verbindung zur zentralperspektivischen Interieurmalerei auch einiges über die Funktion des kartografischen Überblicks in solchen Gemälden zu verraten. Von hier aus erschließt sich auch einiges von ihrer Verbindung zu religiösen Inhalten, zu einem gleichsam implizit gerade durch die ausdrückliche Abgeschlossenheit und „Fensterlosigkeit“ der Räume angesprochenen umfassenden Zusammenhang, der eben nur – aber immerhin – in der Repräsentation der Karte im Bild erscheinen kann. Diese Karten, so zeigt es der „Geograph“, sind Früchte einer dem Menschen möglichen und angemessenen Konstruktion von Welt, die nicht kollidieren könnte mit einem allumfassenden und unmittelbaren Überblick Gottes. Das barocke Interieurgemälde ist in besonderer Weise ein Ausdruck des starken Bewusstseins für die Perspektivität, die irreduzible Subjektbezogenheit der Wahrnehmung. Einerseits vollzieht es in seiner zentralperspektivischen Anlage die Konstruktion von Raum relativ zu dem einen Punkt des Subjektes nach. Darüber hinaus kennzeichnet es diesen Raum als privaten Innenraum – als gleichsam innerste räumliche Umhüllung der ursprünglich unräumlichen res cogitans, um es in der Terminologie Descartes’ zu sagen. Diese findet ihren bildlichen Ausdruck somit im über den Fluchtpunkt fixierten Distanzpunkt. Der sich vom Fluchtpunkt „ausdeh208 Vgl.: ebd., S. 123. 209 Cusanus, de beryllo, 5.

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nende“ Innenraum ist Konkretisation einer vom Subjekt ausgehenden Konstruktion von Welt, die ihren Anfang nimmt in einer Bestimmung des Subjektes selbst als räumlich, als nach außen abgeschlossener Innenraum. Die Welt erscheint gewissermaßen als „aufgeblasener“210 (Subjekt-)Punkt. Das neue Bewusstsein für das Subjekt als sicherer und autonomer Mittelpunkt der Welt stellt sich dar in einem durch die Gemälde gefeierten „frisch eroberten Innenraumgefühl“.211 Gerade deswegen wird wohl die schlüssige Verbindung von Betrachterraum und Bildraum so wichtig: als Möglichkeit, die Einheit des Subjektes der Konstruktion mit der Konstruktion selbst zu erleben, gewissermaßen die Abgeschlossenheit und Vollständigkeit der aus den Prinzipien des Geistes „aufgeblasenen“ Raum- oder Weltkugel. Bekanntlich brachte der Bezug des Raumes auf den einen Subjekt-Punkt eine Rationalisierung der Konstruktion des Raumes und des Diskurses über ihn mit sich – zum ersten Male ausdrücklich bei Descartes. Gerade das Interieurgemälde offenbart aber auch einen Preis dieser Fixierung von Raum: Es droht eine nicht vermittelte Pluralität von Räumen. Die Frage „Wo liegt dieses Zimmer?“, die von jedem Interieur zu stellen wäre, entspricht der Frage nach einer Instanz, die die Vergleichbarkeit und Übereinstimmung verschiedener Konstruktionen garantiert. Der äußere, der eben objektive Ort des Innenraums wird für das Genre des Interieurs somit zum bleibenden Thema – und hier tritt eben die Repräsentation der Repräsentation, die in den Innenraum „gedrungene“ Karte oder auch das Landschaftsbild auf den Plan. Diese Repräsentationen sind es, über welche die fensterlose Monade des Innenraums sich in den Kontext einer zusammenhängenden Welt setzen kann. Im Negativen ist auch hier wieder das Konzept eines unvermittelten alles in einem erfassenden Blicks angesprochen. Dieser Blick kommt dem Menschen aber nicht zu, auch wenn er sich vielleicht auf ihn verlassen kann – wie sich Descartes auf die göttlich verbürgte Passung von res cogitans und res extensa verließ. Diese Funktion z.B. der Wandkarte als zulässiges Mittel der Kontextualisierung des im Innenraum festgehaltenen Subjekts ist dabei u.a. bei Vermeer auch ganz konkret zu verstehen: gelegentlich als politisch-historische Zuordnung. Dies gilt wohl unter anderem für die Karte auf seiner „Malkunst“ (Abbildung 15). Dieses Bild eröffnet einen Blick auf den Arbeitsraum eines Malers – ein zurückgeschlagener Vorhang gibt ihn frei, eine Rahmung im Rahmen als Vermittlung zwischen Bild- und Betrachterraum. Dort posiert ein als Klio, als Muse und Verkörperung der Malkunst212 verkleidetes Mädchen vor dem von hinten zu sehenden Maler an der Staffelei. Im Hintergrund, an der Wand des Raumes, hängt eine große Karte der siebzehn Provinzen der Niederlande. Diese Karte ist zunächst für sich genommen, 210 Vgl.: Serres 1995, S. 15. 211 Leonard 2003, S. 54. 212 Ich werde hier auf den allegorischen Gehalt dieser Szene nicht weiter eingehen. Vgl. dazu: Asemissen 1988, S. 48f.

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dann in ihrer Funktion für das Gemälde interessant. Sie kann – aufgrund der teilweise sichtbaren Inschrift auf dem Titelstreifen – als eine von Nicolaes Visscher herausgegebene und von seinem Vater angefertigte identifiziert werden. Abbildung 15: Jan Vermeer van Delft, Die Allegorie der Malerei.

Wien, Kunsthistorisches Museum, um 1666.

Zumindest ein Exemplar dieses Drucks ist erhalten, es sind also Vergleiche der Vorlage mit dem Bild im Bild möglich.213 Die Karte zeigt einen geographischen Zusammenhang, der zu Vermeers Zeiten politisch gespalten war: in die unabhängigen sieben Nordprovinzen und die unter der Herrschaft der Habsburger verbliebenen restlichen Südprovinzen.214 Der Überblick, den sie ermöglicht, wird schon von Visscher in die Nähe der Landschaftsmalerei gerückt, indem die Karte das Land

213 Vgl. Asemissen 1988, S. 27f. 214 Vgl.: ebd., S. 25.

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scheinbar aus leichter Schrägsicht zeigt – so wie es unsere heutigen Panoramakarten tun. Diesen Effekt hat Vermeer in seinem Gemälde noch verstärkt: „In ihrem Aufbau entspricht so die Karte dem in der Landschaftsmalerei beliebten Typus des weiten Überblicks über das Land mit dem Meer im Hintergrund. Visscher betont diese Affinität, indem er die kartographische Wiedergabe des Landes in eine bildliche Darstellung schon der Zuidersee und erst recht des Meeres übergehen lässt: die Schiffe auf beiden sind in seitlicher Perspektive gesehen, ihre Segel sind vom Wind gebläht, und sie werfen Schatten. Bei Vermeer verstärkt sich noch der bildähnliche Charakter der Karte. Die Falten und Knicke, mit denen er sie wiedergibt, wirken zugleich ein wenig wie Täler und Höhenzüge des Landes. Entsprechend ambivalent ist die Zuordnung von Licht und Schatten: das Licht, das auf die Karte fällt, scheint auch auf Land und Meer zu liegen, und die Hauptgruppe der Schiffe segelt wie im Wolkenschatten.“215

In gewisser Hinsicht taucht hier im Kontext des Interieurs – und damit in seiner Funktion und Wirkung völlig verändert – also jenes ältere Konzept der unmittelbar überblickenden Landschaftsmalerei auf, wie es u.a. von Bruegel bekannt ist. Gerahmt ist die Karte durch eine Reihe von Stadtansichten auf Veduten. Diese Ansichten sind aus ebenerdiger Perspektive aufgenommen und lassen sich in den durch die Karte ermöglichten Überblick einordnen. Im Unten Teil der Randleiste finden sich zudem Texte, die geographische aber auch historische Gegebenheiten betreffen, wie man aus der kartographischen Praxis der Zeit schließen kann: „Texte, kartographisches Kartenbild und Illustrationen zusammen bieten ein umfassendes, vielfältiges Informationsprogramm, ein Panorama der ‚Siebzehn Provinzen‘ aus Geschichte, Kartographie und topographischer Landschaftsbeschreibung.“216

Dieser Bezug von Zeit und Raum, des Blickes im Unten und von oben, wird von Vermeer ins Bild hinein gewissermaßen fortgesetzt: Indem er den Blick in das Zimmer des Malers auf den durch die Karte gegebenen Überblick bezieht, ordnet er diesen ansonsten abgeschlossenen Innenraum räumlich und zeitlich in einen bestimmten Kontext ein. Der Ort des Malers lässt sich – politisch und geographisch, also metaphorisch und im wörtlichen Sinn – auf der Landkarte in einem größeren Zusammenhang bestimmen. Dies verdeutlicht sich besonders durch die auffällige Falte in der Mitte der Karte: Diese Falte markiert die Grenzen Hollands:217 215 Ebd., S. 31. 216 Hedinger 1986, S. 111. 217 In diesem Punkt gibt es in der Forschung divergierende Meinungen. B. Hedinger z.B. geht davon aus, dass durch die Falte die Grenze zwischen den nördlichen und südlichen Provinzen repräsentiert ist (vgl.: Hedinger 1986, S. 116). U. Asemissen weist aber da-

220 | D AS G ANZE IM B LICK „So verstanden, hat der Kartenknick im Bild der Malkunst auch Sinn über die Karte hinaus. Er betont die Zuordnung des Malers zur rechten Seite der Karte, wo Holland liegt – mit Delft über seinem Kopf und der markanten Zuidersee unmittelbar über der Staffelei.“218

Die Karte ermöglicht es, den im Unten gesehenen Einzelnen in einen größeren, von oben gesehenen Zusammenhang einzuordnen. – Sie ist ein Instrument der Selbstbestimmung im Überblickten. Der aus dem Unteren betrachtete bzw. konstruierte Einzelraum fügt sich in den von oben dargestellten Gesamt-Raum oder doch in eine größere räumliche Entität, zu der unvermittelt kein Weg aus dem Innenraum des Interieurs führen könnte. Ähnliches gilt für die zeitliche Dimension: Die Kleidung des Malers und des Modells zitieren historische Moden, kombinieren sie aber z.B. mit zeitgenössischer Haartracht.219 So breitet sich auch der zeitliche Überblick der Karte auf die gesamte Szene aus – auch der historische Ort des Malers fügt sich in einen Überblick über die Geschichte. Der Einzelne findet sich in Raum und Zeit und bleibt doch in der „Kammer“ seiner eigenen Konstruktion von Welt. Vielleicht noch deutlicher wird die Bedeutung des kartografischen Überblicks im Zusammenhang des Interieurs vielleicht auf einem Gemälde Cornelis de Mans, seinen „Geographen bei der Arbeit“ (Abbildung 16). Das Bild zeigt eine Versammlung dreier Männer, die in einem Zimmer um einen Tisch herum sitzen, auf dem ein Globus steht. Beleuchtet wird die Szene einerseits durch ein Fenster, von dem nur ein Teil des Rahmens am linken Bildrand noch zu sehen ist und andererseits durch den Treppenaufgang im Hintergrund. Das Interieur ist also tatsächlich in der Hinsicht fensterlos, dass seine Öffnungen zur Außenwelt selbst nicht abgebildet sind. Zur Natur des Bildgegenstandes findet sich u.a. bei Hedinger eine Interpretation: Die sitzende Figur links stellt einen Seemann dar, die beiden anderen sind wohl Geografen oder aber seine Auftraggeber.220 Der Praktiker der Welterkundung gibt also den Theoretikern – mit Hilfe der abgebildeten Karte – seine Informationen weiter. Erfasst ist der Rückkopplungsprozess zwischen der im Raum sich real vollziehenden Wahrnehmung von Welt und der Konstruktion des Weltbildes. Wichtig erscheint dabei, dass dieser Moment sich auf dem Territorium der kontemplativen Weltkonstruktion abspielt: im sozusagen ausdrücklich abgeschlossenen und von der Welt abgeschiedenen Interieur, von dem aus kein unvermittelter Blick auf eine äußere Wirklichkeit möglich ist. Blicke spielen für die Szene allerdings in anderer Hinsicht eine bestimmende Rolle: Um den Globus im Mittelpunkt herum ergibt sich gleichsam ein Netz von Blickachsen. Der Seefahrer links blickt auf den stehenden „Geografen“, rauf hin, dass die Provinz Seeland so im linken, südlichen Teil liegen würde, obwohl sie politisch zum Norden gehört (vgl.: Asemissen 1988, S. 32). 218 Asemissen 1988, S. 34. 219 Vgl.: Hedinger 1986, S. 113. 220 Vgl.: ebd., S. 12.

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der wiederum die bezeichnete Position auf dem Globus anblickt, durch die geöffnete Hand darüber regelrecht festhält. Der sitzende Mann blickt dabei über den Globus hinweg in den Spiegel im Hintergrund – um dort den Blick des Betrachters zu treffen. Auf diese Weise wird also auf durchaus typische Weise einerseits der Bildraum des Interieurs mit der Position des Betrachters und damit dem Betrachterraum verschmolzen. Der Betrachter wird in den Zusammenhang der Blicke hineingezogen und das Interieur gewissermaßen auch auf seinen Blickpunkt hin abgeschlossen. Der Globus im Mittelpunkt verdoppelt so diese gleichsam aus zwei „Halbräumen“ verbundene Ganzheit im Bild selbst. Andererseits bedeutet die Überschneidung der Blickachsen, dass jede der Figuren sieht und gesehen wird – möglicherweise mit Ausnahme des Stehenden. Aber auch der vollzieht immerhin durch seinen Blick den zeittypischen Akt der Selbstbestimmung im Kontext des Bildes des Ganzen, im Kontext des kartografisch ermöglichten Überblicks. Man könnte sagen: In diesem letzten Blick auf den Globus endet das Identität herstellende Sehen und Gesehen-Werden. Durch ihn setzt sich der Innenraum des Selbst in den Kontext der Welt. Dieser Blick stellt so betrachtet also den Blick auf sich selbst dar, der im Netz der Blicke ansonsten fehlte. Ohne die Möglichkeit dieses Blicks der Selbstkontextualisierung im Ganzen müsste sich wohl ein beklemmender Eindruck einstellen: Derjenige von unendlich hin und her geworfenen Blicken zwischen den in den Figuren verkörperten geistigen Fakultäten der Wahrnehmung und der sie prüfenden Instanz der Reflexion – ohne dass je ein verlässliches „Äußeres“ dadurch entstünde, in dem das Subjekt sich objektiv verorten könnte. Man sieht: Die neu empfundene Subjektivität und das Bewusstsein für die Bezogenheit der Welt auf den „messenden Wesensgrund“ des Subjektes schaffen das Problem, diese abgeschlossene Monade im Kontext eines zusammenhängenden und nicht immer schon subjektiv verzerrten Ganzen zu sehen. Neben dem Globus, der sich hier als Lösung dieses Problems anbietet, hat de Man noch eine weitere Repräsentation von Außenwelt in sein Interieur „eindringen“ lassen: das Landschaftsgemälde über dem Spiegel. Dieses Bild entspricht dabei der typischen zeitgenössischen Landschaftsdarstellung in den Niederlanden. In gewisser Hinsicht vertritt es wohl die Funktion eines Fensters bzw. des Blicks durch ein solches: Es verortet den Innenraum im Zusammenhang der näheren Umgebung. Andererseits unterscheidet sich das Bild im Bild natürlich von dem eines Fensters. Diese zweite Repräsentation von Äußerem ergänzt die erste, den Globus, in seiner Funktion der Selbstkontextualisierung und der Fixierung des eigenen Standortes auf eine Weise, die ein Blick durch ein Fenster gerade nicht hätte liefern können. Zudem verrät die Motivation der im 17. Jahrhundert aufkommenden neuen Art der Landschaftsmalerei vielleicht einiges darüber, wie gerade reale Veränderungen der Lebenswelt jenen Rückzug von dieser Welt ins nach außen sich metaphorisch abschließende Selbst motivierten, der sich im Interieur äußert – und von dem aus eben ein Rückweg zum eigenen Ort im Ganzen gefunden werden musste.

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Abbildung 16: Cornelis de Man (1621-1706), Geografen bei der Arbeit.

Kunsthalle Hamburg, undatiert. Foto: Elke Walford.

Mit Beginn des Barocks vollzieht sich in der Landschaftsmalerei der Niederlande eine Wende. In deren Zuge verliert die Kartographie ihre bestimmende Bedeutung für die Landschaftsmalerei: Der hohe Horizont senkt sich ab, die Perspektive wird auf diejenige eines auf ebener Erde stehenden Menschen verlagert. Berge werden – falls überhaupt – von unten betrachtet und verlieren vorerst ihre Funktion als Ermöglicher des Überblicks. Zudem wird vornehmlich das Nahe zum Gegenstand der Bilder: Gemalt werden nicht mehr ferne, mit Hinweisen auf mythologische Zusammenhänge durchsetzte Landschaften, sondern diejenigen, die vor den Türen und Fenstern der Betrachter selbst lagen. Allerdings sahen diese im Bild auf aufschlussreiche Weise anders aus als vor den Fenstern. In der Malerei der Niederlande wurde

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die Heimat zum im Bild festgehaltenen Raum. Zudem ergab sich eine Einheit von Raum und Zeit, deren Voraussetzung für die Interpretation noch der Bilder Bruegels zu völligem Unverständnis führen würde. Die Gründe, die man für diesen relativ plötzlichen Wandel anführen kann, sind nun in diesem Zusammenhang interessant und geben der Rede vom „festgehaltenen“ Raum einen ganz eigenen Sinn: Die Malerei reagierte u.a. auf Erlebnisse der Flüchtigkeit – einer Flüchtigkeit auf der Ebene des Erblickten und auf der Ebene des Blicks. Das Nahe begann für die Menschen auf eine Weise unsicher und eben flüchtig zu werden, die eine Reaktion durch die Kunst motivierte. Diese Entwicklung lässt sich beispielhaft anhand der Gemälde Jacob van Ruisdaels, verdeutlichen. Geprägt ist sie durch Bedingungen, die zunächst für die Niederlande typisch waren, die diese vom Rest Europas unterschieden, die sich aber im Laufe der Zeit auch in anderen Bereichen zunehmend durchsetzten. Ann Jensen Adams hat in einem Aufsatz einige aufschlussreiche Thesen zur Landschaftsmalerei u.a. van Ruisdaels zusammengetragen: Die Niederlande waren im beginnenden 17. Jahrhundert das Zentrum des Marktkapitalismus in Europa und dadurch nicht zuletzt derjenige Teil das Kontinents mit der reichsten und größten, nicht von den Bedingungen des Feudalismus betroffenen bürgerlichen Schicht.221 So konnten sich hier Umstände ausprägen, die sich anderswo erst mit dem Niedergang des Feudalismus oder gar erst mit dem beginnenden Industriekapitalismus ergaben. Dies hatte Folgen für die Landschaftsmalerei oder zunächst für die Malerei überhaupt: insofern ersteres Genre – anders als in feudalistisch strukturierten Gegenden und Gesellschaften – eine Funktion für die Repräsentation der Einheit des Landes, des Staates und des Volkes erhielt. Die absolutistischen Monarchien wählten bekanntlich den ihnen angemessenen Weg: die Verkörperung des Staates im Monarchen. In den Niederlanden (zumindest in den nördlichen Provinzen) gab es, nach der Unabhängigkeit von Spanien 1579, zunächst keinen Monarchen. Da sich auch vorher kaum Adlige für das wenig attraktive Land interessiert hatten, war es im Besitz seiner Bewohner. So konnte es zum einen zur verfügbaren Ware, zum Objekt groß angelegter Umgestaltung, und zum anderen – besonders auf den so weit verbreiteten Landkarten repräsentiert – zur Verkörperung des Staates und der Gemeinschaft werden, zum Identifikationspunkt früher nationalistischer Bestrebungen oder Ideen. Andererseits war das Land in den Niederlanden auch eine im wahrsten Sinne flüchtige Grundlage: Große Teile des Gebietes waren ca. seit 1590 dem Meer abgerungen worden, waren so aber immer auch von ihm bedroht. Das Land war stets gefährdet und, weil es mit großem finanziellem Aufwand geschaffen worden war, auch wertvoll.222 Ein weiteres Element der Flüchtigkeit ergab sich durch ein neues für die Niederlande besonders wichtiges Transportsystem: die begradigten und ausgebauten Wasserstraßen und den auf ihnen möglichen teilweise 221 Vgl.: Adams 1994, S. 41f. 222 Vgl.: ebd., S. 40f.

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im Stundentakt verkehrenden Personenverkehr. Dieser Verkehr mit den sogenannten „trekschuiten“ zeitigte Folgen, die in anderen Teilen Europas erst die Einführung der Eisenbahn bringen sollte: „Perhaps the most telling indication of their importance was the observation made in the eighteenth century by Benjamin Silliman that ‚on account of the equal motion of the Schuits, the Dutch reckon their distances by time.‘“223

Die räumliche Distanz verschwand in den Niederlanden tendenziell zugunsten der zeitlichen, der Raum setzte der Bewegung so wenig Widerstand entgegen, dass er bereits einer Tilgung ausgesetzt war, die andernorts noch auf sich warten ließ. Dies führte wohl aber auch zu einer Flüchtigkeit der Raumwahrnehmung: Die realen Landschaften wurden insbesondere von den Bewohnern der Städte nur noch im Vorbeieilen wahrgenommen. Eine dritte Besonderheit der Niederlande war die mit der Mobilität ihrer Bewohner zusammenhängende Erfahrung von alltäglicher Fremdheit und gesellschaftlicher Disparität. Der relativ stark über die Gesellschaft verteilte Reichtum und die herrschende Freiheit, hatten nach der Unabhängigkeit dazu geführt, dass das Land von großen Mengen von Flüchtlingen und Einwanderern aufgesucht wurde.224 Zudem gab es religiöse Unterschiede zwischen dem protestantischen Norden und dem katholischen Süden, auch führte der florierende wirtschaftliche Aufschwung zur rapiden Veränderung der Landschaft und der Lebensverhältnisse vieler Bewohner.225 All diese Faktoren beeinflussten die Malerei. Zum einen wurde die Identifikation mit dem Land als Träger der gemeinschaftlichen Identität zu einer Möglichkeit, eine solche angesichts der gesellschaftlichen Desintegrations- und Fremdheitserfahrungen zu erreichen, die Einheit gesellschaftlicher Zusammenhänge in räumlichen erfahrbar zu machen. Dies erklärt sicherlich weiter die große Popularität von Landkarten, vor allem Regionalkarten in den Niederlanden. Besonders die niederländische Landschaftsmalerei des Barock reagierte in dieser Situation mit einer gewissen Nostalgie oder einer im wahrsten Sinne konservativen Haltung auf die Erfahrungen von Flüchtigkeit: Van Ruisdael beispielsweise – und seinen Arbeiten ähnelt das Bild in de Mans Interieur – malte mit Vorliebe von sehr alten Bäumen bestandene Landschaften aus niedriger Perspektive. Solche Bäume gab es in den Niederlanden tatsächlich selten, sie dienen gewissermaßen als Beweis des Alters und der Festigkeit des Landes auf dem sie stehen. Die Darstellung von Kanälen war ebenfalls sehr populär – allerdings nur diejenige von unbegradigten und von langsamen Boten al223 Ebd., S. 54; vgl. auch Kaschuba 2004, S. 35f. 224 Vgl.: ebd., S. 41. 225 Vgl.: ebd., S. 58.

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ten Stils befahrenen. Die Malerei erstattete ihren Betrachtern die Festigkeit des gefährdeten Landes zurück und befreite die Wahrnehmung des Raumes von ihrer Flüchtigkeit, sie fixierte das Wahrgenommene, das sich in der alltäglichen Wahrnehmung zu schnell veränderte, zu sehr von Fremdem durchsetzt und zu kurz gesehen war. Damit ähneln ihre Bestrebungen – bei aller sonstigen Unterschiedlichkeit – denjenigen der Fixierung von Raum durch die Zentralperspektive oder die ihr entsprechende Rationalisierung der res extensa z.B. bei Descartes. Man kann also sagen, dass die Absenkung des Blickpunktes in der barocken Landschaftsmalerei der Niederlande zunächst eine Reaktion auf die Flüchtigkeit der alltäglichen Lebenswelten war. Die Faszination und der Schrecken angesichts der neuen Möglichkeiten des Überblicks über die der Entdeckung geöffneten Räume der Welt wurden abgelöst durch den fixierenden Blick auf das nicht mehr selbstverständlich und unveränderlich gegebene Nahe. Die menschliche Perspektive im Unten erfasst nun menschliche Belange, wie sie waren – an die Stelle der Warnung vor der Hybris, vor dem Wahn, die Welt sei für den Menschen verfügbar, tritt die Nostalgie, die Fixierung der unsicher gewordenen und das Subjekt verunsichernden Gegenwart, gleichsam ihre Rettung vor der Zukunft. Einen solchen „Ausblick“ integriert de Man nun also in den Arbeitsraum seiner Geografen. Die nationalistisch geprägte Fixierung des Nahraums tritt so neben die Kontextualisierung der eigenen Position im Gesamtraum der Erde und ergänzt sie. Die die Identität gefährdenden Auflösungserscheinungen vor dem „realen“ Fenster des Innenraums werden so ausgeschlossen. – Der Rückzug von der Welt ermöglicht eine aus dem Subjekt hervorgehende geschlossene und geordnete Konstruktion von Welt, die diesem Subjekt entspricht, die von ihm fixiert ist und rückwirkend das Selbst fixieren hilft. Von dieser Funktion und Einbettung des Überblicks in der Malerei lässt sich wohl auch eine erhellende Verbindung zu den Gedanken eines der wichtigsten Vertreter des Rationalismus nach Descartes herstellen, zu denjenigen Leibniz’. In der Rede von der „Monade“ des Innenraums habe ich das oben ja bereits angedeutet. Jonathan Crary weist in seiner Arbeit zu den Transformationen des Betrachters im Übergang zur Moderne auf die Orientierung einer berühmten Metapher aus der „Monadologie“ hin: Leibniz stelle in § 58 seiner Abhandlung das Verhältnis der bewussten Weltkonstruktion der einzelnen Monade zum alles in einem erfassenden Blick Gottes in einem impliziten Vergleich der perspektivischen Wahrnehmung einer Stadt mit deren überblickender Gesamtdarstellung („bird eyes view“) dar: „Und gleichwie eine einzige Stadt, wann sie aus verschiedenen Gegenden angesehen wird, ganz anders erscheinet, und gleichsam auf perspectivische Art verändert und vervielfältiget wird; so geschiehet es auch, dass durch die unendliche Menge der einfachen Substanzen gleichsam ebenso viele verschiedene Welt-Gebäude zu sein scheinen, welche doch nur so

226 | D AS G ANZE IM B LICK viele perspectivische Abrisse einer einzigen Welt sind, wornach sie von einer jedwelchen Monade aus verschiedenen Ständen und Gegenden betrachtet und abgeschildert wird.“226

Der ausdrücklich genannten zentralperspektivischen Wahrnehmung im Unten, die der Monade zukommt, stelle, so Crary, Leibniz hier unausgesprochen eine kartografisch-überblickende entgegen, die den Gesamtzusammenhang erfasst, aus dem erstere stets nur Ausschnitte wiedergibt. In letzterer verberge sich also ein Verweis auf die kartografische Darstellungspraxis der Zeit, während in ersterer diejenige der zentralperspektivischen Vedute angesprochen ist. Crary bezieht dies beispielhaft auf einen Vergleich der Veduten Canalettos mit dem Holzschnitt Barbaris.227 Auch für Leibniz stellt sich so betrachtet das Problem des Übergangs vom perspektivischen Ausschnitt zum Überblick, von der subjektiven Konstruktion von Welt in der isolierten Monade des Subjekts zur Wahrnehmungsform einer alle Perspektiven umfassenden göttlichen Monade, die den gemeinsamen in dieser Hinsicht „objektiven“ Ort aller Monaden gewährleistet. Es könnte lohnend sein, einen kurzen Blick auf den weiteren Kontext dieser Überblicks-Metapher zu werfen. Die leibnizsche Monadologie ist wohl eines der späten Beispiele dafür, wie das Verhältnis des menschlichen Blicks zum göttlichen Überblick eine differenzierte Ausgestaltung erfährt und eine wichtige epistomologische Funktion erfüllt. Zudem zeigt diese Ausgestaltung, wie im Zeitalter der Aufklärung der menschliche „Blick“ aufgewertet wird, wie er in seinen perspektivischen Grenzen nur noch quantitativ hinter dem göttlichen Überblick zurücksteht – wenn diese quantitative Differenz auch diejenige der Unendlichkeit ist (die Leibniz bekanntlich zuerst berechenbar machte). Ähnlich wie die Karte im niederländischen Interieur das Ganze aus der Perspektive des im Unten platzierten monadischen Subjektes heraus ermöglicht, stellt sich auch für Leibniz das Erfassen des Ganzen durch den Menschen als prinzipiell möglich dar – wenn es sich auch nur in einer stetigen Annäherung über die Grenzen des Einzelnen und der Zeit hinweg realisieren kann. Die Beziehung zwischen Welt und Monade fasst Leibniz im der zitierten Stelle vorausgehenden Paragraphen durch eine weiter Metapher: Die Monade ist ein „beständiger lebendiger Spiegel des ganzen großen Welt-Gebäudes.“228 Bezog sich diese Metapher bei Cusanus noch auf Gott, so verschiebt sie sich also jetzt im 17. Jahrhundert auf das menschliche Subjekt. Dieses enthält in sich immer schon eine allerdings verworrene Repräsentation des Ganzen. Bei Leibniz erscheint entsprechend auch die „Einfaltung“ des Universums nun als Eigenschaft jeder einzelnen Monade, wo sie bei dem mittelalterlichen Kardinal noch als Metapher für das allumfassende Sein Gottes diente. Die leibnizsche Monade faltet in 226 Leibniz, Monadologie § 58; dazu: Crary 1992, S. 51f. 227 Vgl.: Crary 1996, S. 60f. 228 Monadologie § 57.

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sich das Wissen um das Universum ein. – Das Bewusstsein faltet Teile dieses Wissens gleichsam wieder aus.229 Der Ausschnitt der je individuellen Perspektive beleuchtet im Vollzug der Erkenntnis einzelne Wissensinhalte und legt sie sich deutlich vor Augen. Verschiedene dieser „Ausfaltungen“ ließen sich additiv zu einer vollständigen Gesamtrepräsentation des Ganzen des „Welt-Gebäudes“ zusammenfügen. Der Unterschied dieser Möglichkeit zur Erkenntnisform Gottes ist letztlich quantitativ: Die göttliche Monade erfasst das unendliche Ganze unmittelbar oder in der Terminologie Leibniz’ intuitiv.230 Der menschliche Verstand muss die Inhalte dieser allumfassenden intuitiven Erkenntnis gleichsam „nachrechnen“, indem sie in einzelnen aufeinanderfolgenden (Repräsentations-) Akten die unendliche Komplexität der Welt durch Zusammenfassung reduziert bzw. in nacheinander erfassbare Einzelheiten zergliedert. So muss auch die Vorstellung der im Ganzen zusammenfallenden Widersprüche in der für das menschliche Bewusstsein unverständlichen coincidentia oppositorum derjenigen einer universellen Harmonie weichen: Müssen doch alle in die Monade „eingefalteten“ Inhalte mit denjenigen aller anderen Monaden zusammenstimmen. Die prinzipiell repräsentierbaren, bewusstseinsfähigen Inhalte dürfen sich als solche nicht widersprechen. Diese neue Passung der göttlichen und menschlichen Wahrnehmungsweise drückt sich letztlich auch in der oben zitierten Metapher der aus verschiedenen Perspektiven gesehenen Stadt aus: Die Wahrnehmungsform Gottes ist den einzelnen Perspektiven der anderen Monaden als eine entgegengesetzt, die ihrer Form nach die Möglichkeit aller anderen enthält und somit als allgemeines Korrektiv aller Einzelperspektiven dienen kann. Horst Bredekamp weist auf Leibniz’ entsprechende Unterscheidung zwischen der Scenographie der Monaden und der Ichnographie Gottes hin, eben der Unterscheidung zwischen den zentralperspektivischen Ansichten und der geometrisch-planimetrischen „Aufsicht“: „In den Bestimmungen der Scenographia und der Ichnographia lag die Differenz zwischen der göttlichen und der menschlichen Perspektive: ‚Und zwischen der Erscheinung der Körper uns und Gott gegenüber besteht gewissermaßen ein Unterschied wie zwischen einer scenographia und einer ichnographia. Es gibt nämlich je nach Lage des Betrachters viele Scenographien, dagegen nur eine Ichnographie oder geometrische Repräsentation.‘ Während Gott die Dinge unverstellt erkennt, sieht sie der Mensch in seiner je individuellen Perspektive in zahllosen anamorphotischen Verzerrungen.“231

229 Bredekamp geht dieser Metapher des „Einfaltens“ bei Leibniz nach: Vgl.: Bredekamp 2004. 230 Vgl.: Poser 2005, S. 102ff. 231 Bredekamp 2004, S. 81f.

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Jonathan Crary übersetzt seiner Deutung entsprechend die „ichnographia“ mit der „Vogelperspektive“. Dies erscheint nicht ganz gerechtfertigt – vielleicht aber auch nicht ganz falsch: Insofern die Vogelperspektive eine bestimmte Perspektive ist, können natürlich den unendlich vielen möglichen „Scenographien“ auch ebenso viele Vogelperspektiven entsprechen. Die „geometrische Repräsentation“ des Ganzen (die „ichnographia“) ist insofern natürlich nicht eigentlich von oben aufgenommen – ganz genau wie im Falle der kartografischen Repräsentationen seit der Renaissance kommt in dem sie ermöglichenden mathematischen Verfahren kein perspektivisch bestimmter Blickpunkt vor.232 Offenbar bietet sich zu ihrer metaphorischen Darstellung der Blick von oben aber an – so wie er eben der planimetrischen Darstellung (gerade in der zeitgenössischen, der Landschaftsmalerei noch nahe stehenden Kartografie) unabhängig von ihrer Genese hartnäckig anhängt. Es beginnt metaphorisch Sinn zu machen unter jener einen Repräsentation des Ganzen die eine Perspektive des Überblicks zu verstehen, letztere also als Metapher für erstere zu gebrauchen. Genau dies geschähe in der Stadt-Metapher in § 58 der Monadologie in dem Moment, wo man nach einer Wahrnehmungsform fragt, die den unendlich vielen zentralperspektivischen Ansichten im Unten entgegengesetzt wäre – in dem Moment, in dem versucht würde den abstrakten philosophischen Punkt metaphorisch vorstellbar zu machen, indem man Wissen durch (Sinnes-)Wahrnehmung bedeutet. Dann bietet sich die Perspektive von oben an, in der allein jeder einzelne Blickpunkt im Unten bestimmt und mit jedem anderen in Beziehung gesetzt werden kann, und die gerade deswegen ihre Natur als bestimmte und eingeschränkte Perspektive leicht vergessen lässt. Leibniz selbst geht diesen metaphorischen Schritt teilweise. In seiner „Monadologie“ setzt er beispielsweise metaphorisch den „verworren(en)“ Blickwinkeln der einzelnen Monaden einen „richtigen Blickwinkel“ entgegen, der in diesem Verhältnis die Anschauungsform Gottes bedeutet: „Gott aber verwendet mit wunderbarem Geschick alle Mängel dieser kleinen Welt zur größeren Zier seiner großen Welt. Es ist damit gerade wie mit jenen perspektivischen Erfindungen, wo gewisse schöne Zeichnungen völlig verworren erscheinen, bis man sie aus dem richtigen Blickwinkel oder durch ein gewisses Glas oder einen Spiegel betrachtet.“233

Natürlich kann im Rahmen der leibnizschen Philosophie diese Charakterisierung Gottes über einen Blickpunkt nur als Metapher erscheinen: Von einem bestimmten Blickpunkt aus können nicht alle anderen repräsentiert werden. Anders als für Cusanus liegt die Metapher des Blickpunktes Leibniz aber nahe – eben weil er die Dif232 Laut Bredekamp hat Leibniz den Begriff von Vitruv übernommen, bei dem er einen klaren Grundriss bedeutet. Bei Leibniz werde er freilich metaphorisiert. Vgl.: Bredekamp 2004, S. 81. 233 Monadologie § 147; zitiert bei: Bredekamp 2004, S. 83.

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ferenz zwischen der göttlichen und der menschlichen Anschauung quantitativ fasst. Crary hat also mit seiner Zuordnung wohl in gewisser Hinsicht Recht – obwohl die Übersetzung der „ichnographia“ durch „Vogelperspektive“ zu gewagt erscheint. Der Blick von oben lässt sich den zentralperspektivischen Ansichten insofern entgegensetzen, als er einerseits deren Blickpunkte als Objekte erfassen und in ihrer Beziehung erkennen kann, und weil er zudem gleichsam in einer allgemeineren Weise „bestimmt“ ist: Von welchem Punkt über der Stadt genau er aufgenommen ist, spielt in seinem Verhältnis zu den Blicken im Unten keine Rolle. Von dort oben ist die Stadt in jedem Falle als Ganze sichtbar und damit all die möglichen Blickpunkte in ihr erfasst. So betrachtet besteht also durchaus eine Ähnlichkeit in der Funktion des Bildes der Karte, so wie es in der niederländischen Interieurmalerei und in der rationalistischen Philosophie Leibniz’ erscheint: Durch die Darstellung bzw. die Metapher der „überblickenden“ Karte ist die Instanz angesprochen, durch die sich die individuelle Weltsicht des Subjektes in das Ganze einer von dieser Sicht unabhängigen Welt fügt. Die Technik und Praxis der Kartografie mit ihrer mathematisch-geometrischen Grundlage erscheint so als Zugang des menschlichen Verstandes zur Wahrnehmungsweise dieser Instanz. Dass dieser Zugang an die Beschränkungen eben dieses Verstandes gebunden bleibt, drückt das Interieur dadurch aus, dass es die Karte des Ganzen in der „Kammer“ des Subjektes darstellt. Im Sinne Leibniz’ müsste man sagen: Die menschliche geometrische Darstellungspraxis ist ein „Nachrechnen“, eine übersichtliche Darstellung mit Hilfe von Symbolen. Durch diese Praxis wird aber mit menschlichen Mitteln eine nicht-intuitive Erkenntnis dessen ermöglicht, wovon Gott stets eine intuitive hat. Auch letztere sich anzumaßen, hieße in der Metapher der überblickten Stadt: nicht nur den abstrakten Plan unten vor sich zu haben, sondern von oben unmittelbar das Ganze übersehen zu wollen. Dieser Überschwang des für das einzelne Subjekt möglichen und erstrebenswerten unmittelbaren Überblicks erschiene so als Anmaßung und Verkennung.

Von der Aufklärung zur Moderne

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Sowohl auf dem Gebiet des Selbstbezugs als auch auf dem der Repräsentation von Macht ergaben sich seit dem späten 18. Jahrhunderts tief greifende Veränderungen. Prinzipiell hatte zuvor auf beiden Gebieten eine Struktur der Vermittlung geherrscht: Die vernünftige und geordnete Einrichtung des Staates vermittelte sich über das eine Subjekt des Souveräns, das als autonomes Subjekt eines Überblickswissens die Einheitlichkeit, Kohärenz und Zweckmäßigkeit der Macht garantierte. Der Bezug des Einzelnen zu sich selbst als Teil größerer Zusammenhänge vermittelte sich über das Wissen einer göttlichen oder einer sie vertretenden und durch sie gerechtfertigten herrschaftlichen Instanz. Diese Instanz des Wissens um das Ganze stand seit Ende des Mittelalters einer sich verändernden Kennzeichnung der menschlichen Perspektivität gegenüber, die mit der frühen Aufklärung die Möglichkeit öffnete, zwischen beiden ein Verhältnis der Passung, der Vermittelbarkeit anzunehmen. Im Laufe der späteren Aufklärung, vor allem aber der aus den neu entstehenden Großstädten geborenen Moderne sollte dieses Verhältnis in gewisser Hinsicht endgültig an Komplexität verlieren: Indem es zu einer nunmehr zweistelligen, zudem innerhalb eines Subjektes angesiedelten Relation wurde. Der Selbstbezug im Sinne der Selbstplatzierung im „Großen Ganzen“ verlor seine Vermittlung über ein anderes Subjekt des von ihm vorausgesetzten Wissens um diesen Bereich. Der Einzelne konnte und sollte selbst wissen, wo er „stand“. Jedes einzelne Subjekt erhielt tendenziell die Aufgabe sich selbst in den Zusammenhängen, die es betrafen, zu verorten. Das Wissen um den eigenen Ort wurde zur Möglichkeit des Einzelnen – und damit zu einem stets ihn begleitenden Mangel. Zwar ergaben sich in manchen Zusammenhängen immer wieder Formen, die auf diesen Mangel durch eine Art der Identifikation mit einem anderen wissenden Subjekt reagierten. Diese Formen der Identifikation wären aber in Bezug auf den allwissenden Gott oder den durch ihn legitimierten absoluten Souverän nicht denkbar gewesen. Die Identifikation mit

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dem wissenden Blick z.B. eines modernen Führers oder Feldherren hatte neue Entwicklungen zur Voraussetzung und brachte neue Funktionen des Überblicks hervor. Besonders deutlich werden die Veränderungen in den Formen des Selbstbezugs vielleicht in der klassischen Bestimmung der „Aufklärung“, wie Kant sie gegeben hat. Indem Kant Aufklärung als den Prozess des „Ausgang(s) des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ fasst, begreift er sie zunächst als eine Form des unvermittelten Selbstbezugs. Der Einzelne soll sich in einer Weise auf sich selbst beziehen, die ihn verändert. Grundlage dieses Prozesses ist der allen Menschen prinzipiell gegebene Verstand. Die in dieser Aufklärung liegende Freiheit des Einzelnen wird so aber unmittelbar zur Aufgabe, zur Forderung – womit sie sich als Mangel bestimmt: Das Subjekt ist auf Grund eigener Eigenschaften – aus Trägheit und Angst – nicht aufgeklärt und an die Vermittlung an übergeordnete Instanzen, an „Vormünder“ gebunden. Es ist von ihm zu fordern, dass es sich selbst von diesen Instanzen befreit, indem es sich unmittelbar auf sich selbst bezieht, sich eben selbst aufklärt: „Der Mensch soll nicht nur die Welt mit eigenen Augen erfahren, sondern er muss auch sich selbst erfahren. Er muss sich selbst aufklären.“1 Aufklärung in diesem Sinne ist also ein reflexiver Prozess innerhalb eines Subjektes, eine Form des Selbstbezugs, der sich gegen ältere Formen der vermittelten Selbstbestimmung richtet. Unaufgeklärtheit wurde für jedes einzelne Subjekt unabhängig von seiner gesellschaftlichen Position zum Makel. Für Montaigne beispielsweise konnte sich dies in gewisser Hinsicht noch gegensätzlich darstellen. Der Selbstbezug war für ihn immer dann Zeichen der Hybris, wenn er sich als abschließend erfolgreiche Selbstverortung in einem in seiner Ordnung überblickten Ganzen darstellte. Entsprechend stünde ein aus unvermittelter Selbstbestimmung hervorgehendes Handeln immer auf tönernen Füßen: „Es darf nicht der Einsichtsfähigkeit jedes einzelnen anheimgestellt bleiben, seine Pflicht zu erkennen; man muss sie ihm auferlegen, statt sie seinem Gutdünken zu überlassen – sonst würden wir uns der Windigkeit und unendlichen Vielfältigkeit unserer Meinungen entsprechend schließlich Pflichten zurechtbasteln, die dazu führten, dass wir uns gegenseitig auffräßen.“2

Freilich hatte aber auch die aufklärerische Forderung Voraussetzungen, die wiederum Instanzen der Vermittlung einführten – gewissermaßen als Mittel zum Zweck: Aufklärung in Kants Sinne vollzog sich im Bereich der „Öffentlichkeit“ und diese setzte die Medien voraus, die sie schufen, in denen sich der vernünftige Diskurs zu vollziehen hatte. So konnte auch der Staat, zunächst sogar der Souverän, im Sinne des aufgeklärten Absolutismus weiter eine Funktion erfüllen, namentlich diejenige 1

Abels 2006, S. 134.

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Montaigne 2004, S. 242, II, 12.

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der Bildung des Volkes, das es überhaupt erst zur Selbstaufklärung fähig zu machen galt. Zwar war das Vertrauen in die natürliche Vernunft und ihre Möglichkeiten (in den gerade durch Kant neu gezogenen Grenzen) gestiegen. – Gerade „was Pflicht ist“ stellte sich als aus der eigenen Rationalität heraus zu klären dar. Dennoch musste das Subjekt zu öffentlichem Diskurs fähig gemacht werden, denn erst in diesem könnten die alten Vermittlungsinstanzen gleichsam aufgelöst werden. Dass der Einzelne sich auf sich gestellt aufklären kann, ist zweifelhaft, „dass aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich“.3 Der Staat behielt auch nach dem letztlich erfolgreichen bürgerlichen Widerstand gegen die politische Macht des einen Souveräns und die mit ihm verbundenen Formen der Verkörperung die daraus hervorgehende bzw. entsprechend legitimierte Funktion – eine Funktion der Herstellung von Ordnung und der disziplinarischen Rationalisierung gesellschaftlichen Lebens, die „unvernünftige“ Bestrebungen eliminieren sollte. An die Stelle der das Ganze dieser Ordnung verkörpernden und so metaphorisch verbürgenden Figur des Herrschers traten aber Strukturen, die nicht mehr an bestimmte Subjekte gebunden waren – mit der Folge einer entsprechenden „Demokratisierung“ des Überblicks als metaphorischem Ausdruck des verstehenden und ordnenden Bezugs zur Gesellschaft und zum Ort des Einzelnen in ihr. Tatsächlich konnte der „bürgerliche“, jedem freistehende Überblick zu einem Ausdruck des politischen Kampfes gegen die Funktion des Souveräns werden, mit dessen Position er zuvor so eng verbunden war. Auch ganz allgemein veränderte aber der (geforderte) Wegfall von vermittelnden Instanzen im Vollzug der Selbstbestimmung die Funktion und Struktur von Blicken. Seit der Renaissance war besonders in höfischen Zusammenhängen die Rolle der Selbstbeobachtung und der Beobachtung des anderen wichtig geworden. In einem komplexer werdenden Geflecht von Beziehungen und wechselseitigen Abhängigkeiten galt es, die Zeichen zu lesen, die einerseits die gesellschaftliche Stellung, den Rang des einzelnen bedeuteten und die andererseits dessen hinter der Fassade der äußeren Erscheinung verborgenen Absichten offenbaren konnten. Indem sich im Laufe des 18. Jahrhunderts nun aber das Bürgertum (zunächst wirtschaftlich) vom Hof emanzipierte, entwickelte sich auch in diesem gesellschaftlichen Bereich die entsprechende Notwendigkeit der genaueren Beobachtung, des Versuchs die alltäglichen, aber sich verändernden Gegebenheiten zu verstehen und in ihrer Bedeutung abzuschätzen. Besonders in den entstehenden Großstädten traf die Wahrnehmung dabei aber auf neue Hindernisse der kognitiven Bewältigung. An den Höfen hatte sich bereits ein ausdifferenziertes und streng reglementiertes semiotisches System etabliert, das den Wert und die Bedeutung des Einzelnen durch eine klare Zuordnung zu bestimmten Zeichen erkennbar werden ließ – z.B. durch 3

Immanuel Kant, Was ist Aufklärung, in: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, S. 514ff

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den jeweiligen Habitus oder die Kleidung. Zwar verbarg sich auch hier hinter der gesellschaftlichen Maske das zu entziffernde Subjekt der eigentlichen Absichten. – Die Sprache der Masken war aber verständlich, Irritationen der Wahrnehmung gleichsam eindeutig als Fehler zu identifizieren. In der immer mehr der Durchdringung durch die zentrale Gewalt entgehenden bürgerlichen Welt galt dies nicht: Das Anwachsen der Städte und die Veränderungen auf wirtschaftlichem und technischem Gebiet führten dazu, dass der Einzelne den Einzelnen nicht mehr ohne Weiteres einer bestimmten Kategorie zuordnen konnte, dass es einer neuen und genaueren Beobachtung bedurfte, um ihn und die von ihm zu erwartenden Handlungen zu verstehen und zu antizipieren. Besonders in Frankreich musste dies zu einer klaren Entgegensetzung von Hof und Stadt führen, von Versailles und Paris: „Während in Versailles die Frage des Ranges schon prinzipiell geklärt ist, bedarf es in Paris einer immer feineren Semiotik der Distinktion, um in der Unübersehbarkeit der großen Stadt den Wert des einzelnen, sein gesellschaftliches Gewicht auszumachen.“4

Gerade weil die (wirtschaftliche) Mobilität des Bürgertums aber zu neuen und weiteren Beziehungen und Abhängigkeiten führte, war eine Kenntnis des jeweils anderen wichtig und die Irritation des verstehenden Blicks ein Faktor der Gefahr und der Machtlosigkeit. Luis Sebastien Mercier begründet die von ihm in neuer und geradezu monumentaler Weise durchgeführte Einübung in den genauen Blick und das „Lesen“ der ihn gegenwärtig umgebenden Stadt in seinem Tableau de Paris wie folgt: „Viel näher als er [als der Mensch der Antike – das bevorzugte Objekt der Geschichtsschreibung, M.R.] steht mir doch mein Zeitgenosse, mein Landsmann, dessen Wesen bis in die letzte Nuance zu erfassen mir schon deshalb so unermesslich wichtig ist, weil ich auf ihn angewiesen bin.“5

Von den Beziehungen dieses literarischen Versuchs eines ersten oder frühen Flaneurs zu Formen des Überblicks wird gelegentlich noch zu reden sein. Nicht so sehr bei ihm, wohl aber in anderen Zusammenhängen lieferten diese Formen in neuer Funktion eine räumliche Wahrnehmungsfolie, die jedes durch den „bis in die letzte Nuance“ gehenden Blick erfasste Einzelne in seinen größeren Kontext einordnen konnte. Indem auch der Ordnung verbürgende Blick des einen Souveräns an den auf neue Weise unübersichtlichen Zuständen der großen Stadt gleichsam abprallte, wurden Ordnung und Wissen zur Aufgabe jedes Einzelnen in dieser Stadt. Auch der Blick von oben als dem unten stets vom Scheitern bedrohten Erfassen entgegenge4

Stierle 1993, S. 64.

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Mercier 1979, S. 15.

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setztes Konzept legte sich so allen Einzelnen nahe – was ihn, wie gesagt, zunächst aber zum Mittel des Ausdrucks politischer Kämpfe werden ließ. Das Privileg des göttlichen Überblicks, das sich im Laufe der Renaissance etabliert hatte, war auf den Blick des Königs übergegangen und mit dessen Macht sollte es schließlich fallen. Dies führte nicht zur Aufhebung aller Blick-Privilegien oder gar des Blicks als Ausdruck von Macht. Das Subjekt der Macht kennzeichnete sich metaphorisch unter den neuen Verhältnissen aber nunmehr auf neue Weise durch die Position dieses Blicks, weil die Position als solche als prinzipiell offen erschien. Sie wurde abstrakter, insofern sie sich nicht mehr mit einem wesentlich durch die Position gekennzeichneten Subjekt verband. Diese auf politischem Gebiet sich vollziehende Lösung des Überblicks vom Subjekt des Herrschers vollzog sich in mancher Hinsicht auch in religiösen Zusammenhängen bzw. in der Haltung bürgerlicher Subjekte zu den ihnen von der Religion gebotenen Formen der Subjektivierung. In der Geschichte der Formen des Selbstbezugs stellten zunächst einmal die verschiedenen Ausprägungen des Protestantismus eine deutliche Veränderung dar. Vor allem der Puritanismus brach, gerade weil er von einer durch den Menschen nicht zu kontrollierenden Prädestination ausging, mit dem alten Konzept der göttlichen Führung. Die gottgefällige asketische Lebensführung des Einzelnen wurde zum Ausdruck seines individuellen Gnadenstandes und zur alltäglichen, methodisch zu organisierenden Aufgabe. Sie wurde dadurch als unvermittelte Arbeit an sich selbst aufgefasst, die veränderten religiösen Grundlagen verlegten die „Anleitung zum richtigen Handeln in das Individuum selbst.“6 Die entsprechende Durchrationalisierung des Lebens führte bekanntlich nicht zuletzt zu einer sich gleichsam als Nebenprodukt verselbstständigenden Akkumulation von Wohlstand, der im Sinne der Rationalität nur wiederum in die Lebensweise investiert werden konnte, die ihn hervorgebracht hatte – führte also letztlich zur kapitalistischen Wirtschaftsform oder förderte deren Entstehung wenigstens. Abgesehen davon konnten die verschiedenen Ausformungen des Protestantismus aber zu einer eigentümlichen und paradoxalen Konsequenz führen, die ähnlich bereits an Böhme nachzuvollziehen war: Die neue Form des unvermittelten Selbstbezugs hatte Selbstverzicht zum Ziel. Äußerte sich dies beim Puritanismus in einem asketischen Lebensideal, zog z.B. der Pietismus die Konsequenz einer mystischen Selbstentleerung des Subjektes, das auf jede nicht auf Gott bezogene Bestrebung verzichten sollte, um sich metaphorisch zum Gefäß des göttlichen Geistes zu machen. Gerade diese Einstellung förderte eine genaue und bis ins Detail gehende Selbstprüfung, -beobachtung und -kontrolle. Bei Böhme war bereits zu sehen, wie eine solche Selbstaufgabe auf dem Umweg der demütig aufgenommenen Offenbarung zu äußerst umfassenden Wissensansprüchen führen konnte. Solche Entwicklungen er6

Abels 2006, S. 117.

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scheinen vor allem dann interessant, wenn sie mit Prägungen konfrontiert werden, welche die bereits detaillierte und im Subjekt selbst angesiedelte Selbstbeobachtung und Selbstplanung von ihrer religiösen Bindung befreien wollen. Karl Philip Moritz vollzieht die aus dieser Situation hervorgehenden Versuche, sich von der über die Position Gottes vermittelten Selbstbestimmung zu befreien in seinem „Anton Reiser“ nach. Dabei erhält der Überblick als Metapher eines zeitweise erreichten unvermittelten Selbstverständnisses im Kontext des Überblickten große Bedeutung: Als Ausdruck des Versuchs des Subjektes sich selbst als kohärentes Ganzes in verstandenen Zusammenhängen zu betrachten. In diesem Überblick wird sich eine endgültige Säkularisierung des Blicks von oben äußern, eines Blicks in dessen Funktion die Position Gottes keine Rolle mehr spielt, der sich vielmehr direkt gegen entsprechende Konzepte der Selbstverortung richtet.7 Anders als bei Petrarca wird der Weg nach unten, das Verlassen der Position des Überblicks, in diesem Kontext nicht mehr als Hinwendung zu Gott zu verstehen sein, sondern vielmehr nur als Rückkehr in den im Unten nicht zu überschauenden Bereich der Verirrung, der Unfähigkeit das eigene Leben als Einheit zu betrachten. Auf dem Gebiet der Philosophie scheint zumindest der gewissermaßen ungebrochene Einsatz von Formen des Überblicks vor allem im Laufe der beginnenden Moderne selten zu werden. Die rezentrierenden Funktionen des Überblicks widersprachen zumindest denjenigen philosophischen Bestrebungen, die gerade auf eine Dezentrierung des Subjektes aus waren, das sich selbst und seine scheinbare Souveränität als Effekt nicht kontrollierter Faktoren verstehen sollte. Ein Philosoph dessen Ziel es bekanntlich in besonderer Weise war, bestimmte Formen der Rezentrierung durch Reflexion auf ihre historischen und sprachlichen Bedingungen, allgemein auf das „Perspektivische, die Grundbedingung allen Lebens“8, aufzulösen, war natürlich Nietzsche. Gerade bei ihm findet sich entsprechend auch eine ausdrückliche Zurückweisung des Überblicks als Blick der Selbstverortung. Dieser Blick als metaphorisches Mittel einer rezentrierenden Selbstbetrachtung muss mit der Zurückweisung dieses Selbstbezugs ebenfalls zurückgewiesen werden: Die über die „Selbstverkleinerung“ „später Zivilisationen“ erhabene „vornehme Seele“ hat die Selbstbeobachtung nicht nötig. Der Versuch und die Mittel der Selbstbestimmung sind ein Zeichen eines Mangels – und dieser Mangel ist für Nietzsche gewissermaßen eine zu diagnostizierende Krankheit der modernen Zivilisation und der von ihr geprägten Subjekte. So kann er mit Goethe sagen: „Wahrhaft hoch achten kann man nur, wer sich nicht selbst sucht.“9 Dass der Blick von oben eine Reaktion auf diesen Mangel war, äußert sich in diesem Zusammenhang in seiner ausdrückli7

Auch wenn auf der Seite des Inhalts des Überblicks religiöse Konzepte auch bei Moritz wichtig bleiben, wie noch zu zeigen sein wird.

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Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Vorrede von 1885.

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Ebd., § 265f.

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chen Zurückweisung: „‚Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhaben.‘ – Es gibt aber eine umgekehrte Art von Menschen, welche auch auf der Höhe ist und auch die Aussicht frei hat – aber hinabblickt.“10 Die Funktion des Überblicks wird sich also nicht in diesen oder vergleichbaren Zusammenhängen der Philosophie äußern. Es waren andere Zusammenhänge, die den Überblick in seiner affirmativen Funktion nutzten. Sie taten dies aber mit Beginn der Moderne in immer deutlicherer, allgemeinerer und eben auch zugänglicherer Form – eben weil die entsprechenden Mängel sich veränderten, allgemeiner wurden und damit eine breitere Zugänglichkeit der sie als behoben darstellenden Produkte nahe legten. Dennoch wird zu zeigen sein, dass der Überblick seine Funktion auch in Zusammenhängen erhält, die den Einzelnen zunächst als Effekt oder Teilfunktion eines ihn bestimmenden Ganzen sehen. Er wird dann zum Mittel jener eigentümlichen Bewegung, durch die sich so manche Dezentrierung auf einer „höheren Ebene“ eigentlich in ihr Gegenteil verkehrt: indem sie gerade die Erkenntnis der die Souveränität des Subjektes ausschließenden Faktoren als Triumph des Wissens und der Macht dieses Subjektes erscheinen lässt. Die Erkenntnis „nicht mehr Herr im eigenen Haus“ zu sein, ist wohl dann kaum noch ein Moment der Zersetzung der Souveränität des Subjektes, wenn sie verspricht, gleichsam in sich selbst den Schlüssel zum Verständnis dieses Gebäudes mitzuliefern. Ganz ähnlich wird der Blick von oben gelegentlich zum Moment einer solchen in einer Dezentrierung sich vollziehenden Rezentrierung: Wenn das Subjekt des Überblicks sich durch ihn als solches des Wissens um seine eigene Position in einem es eigentlich (also: unten) determinierenden Geflecht von Zusammenhängen darstellt. Um die Bedingungen zu beschreiben, unter denen sich die Funktion des Überblicks zu verändern begann, scheinen drei Bereiche bzw. Ansätze hilfreich zu sein, die sich auf die Veränderungen gesellschaftlicher Verhältnisse in ihrer Wirkung auf die Funktion der Visualität im Allgemeinen richten: Was sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ereignete, war zum ersten eine sich von der absolutistischen Zentralmacht emanzipierende bürgerliche Wirtschaft. Unter anderem diese hatte eine funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft zur Folge, welche neue Formen der Subjektivierung mit der Rolle von Blicken verband. Weiter führten neue Techniken und Organisationsstrukturen zu einer Mobilisierung der Menschen – und damit auch zu einer Mobilisierung ihrer Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung wurde damit von einer neu erlebten Flüchtigkeit betroffen, während der Raum, in dem sie sich vollzog, in gewisser Weise einer Abstraktion unterlag. Die Ordnungsstrukturen der Gesellschaft folgten überdies neuen Ansprüchen und Rationalitäten, die sich auf 10 Ebd., § 286.

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weite Teile der Gesellschaft ausweiteten und sich in neuer Weise auf einzelne Individuen richteten – und die unter den Begriff der Disziplin gefasst worden sind. Alle diese Transformationen führten zu Mängeln, die einzelne Subjekte betrafen. Diese Mängel konnten den Formen des Überblicks seine „moderne“ Funktion als Mittel der Selbstkontextualisierung geben. Die Etablierung eines „bürgerlichen Subjektes“ vollzog sich zunächst in besonderem Maße auf wirtschaftlichem Gebiet: Für den absolutistischen Staat stellte die wirtschaftliche Sphäre, wie auch der einzelne Bürger, der sich in ihr bewegte, ein auf die zentrale Herrschaft bezogenes Element dar: „Die Subordination der Ökonomie unter die königliche (Frankreich) oder landesfürstliche (Deutschland) Suprematie bedeutet nicht nur eine Veränderung ‚wirtschaftspolitischer‘ Perspektiven und Praktiken, sie ist Teil der strukturellen Transformation von Herrschaft zum (nominellen) Werk eines Herrschers statt eines Verbandes von Herrschaftsträgern.“11

Durch die klare Gegenüberstellung der Sphären der Herrschaft und ihres Werkzeuges, der Wirtschaft, ergab sich aber bereits eine Eigenständigkeit der Ökonomie und der sie tragenden bürgerlichen Klasse. Zwar erschien diese zunächst nur als Mittel zur Mehrung der Macht des Herrschers, sie stellte sich aber zunehmend auch als eigendynamisch sich entwickelnder, prinzipiell eigenständiger Bereich dar. Die Zentrierung auf die Herrschaft konnte schließlich als Beschränkung, als Hemmschuh dieses Bereichs wahrgenommen werden. Indem sich dieses Bewusstsein aber in bürgerlichen Kreisen durchsetzte, begann sich die Ökonomie von der Herrschaft, also von Staat und Politik, abzukoppeln. Der einzelne Bürger betrachtete sich als eigenständiges Element des nun eigenständigen wirtschaftlichen Zusammenhangs, seine Verbindung zur zentralen Herrschaft wurde zufällig. Im Zuge der sich nun entwickelnden funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft galt dies aber nicht nur für den Bereich der Ökonomie. Es entwickelten sich vielmehr verschiedene gesellschaftliche Systeme, die Handlungsrollen vorgaben, in denen der Einzelne sich bewegte oder nicht bewegte. Diese Systeme honorierten gewisse Handlungsweisen und Dispositionen des Einzelnen, sanktionierten aber andere. So ergab sich eine Verteilung des Individuums auf die verschieden Handlungsfelder, die für es relevant waren, oder besser: in denen es eine Rolle spielte. So wurden ganz allgemein psychische Eigenschaften Einzelner zunehmend thematisiert: als im Sinne des jeweiligen Systems mehr oder weniger hilfreiche Dispositionen. Dabei konnten solche im Sinne der Rationalität des Systems hilfreichen Eigenschaften derart sein, dass sie in anderen Zusammenhängen etablierten (moralischen) Forderungen widersprachen. Im Wirtschaftssystem wurde z.B. der Eigennutz als hilfreich beschrieben – eine Eigenschaft, die als solche der ungeteilten Person und auch im Sinne der 11 Sonntag 1999, S. 150.

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christlichen Moral als verwerflich, als Sünde erscheinen musste.12 Der Einzelne hatte die hilfreichen Dispositionen in sich zu entwickeln, die schädlichen zu unterdrücken – er konnte nun für sich selbst arbeiten, musste aber auch – im Sinne einer ganz konkreten „Aufklärung“ – an sich selbst arbeiten, um dabei erfolgreich zu sein.13 Diese Entwicklung hat zwei Folgen: Der Einzelne nimmt sich zunehmend als Produzent seines eigenen Werdeganges, letztlich seiner selbst wahr und stellt entsprechende Ansprüche an sich selbst, an denen er auch scheitern kann. – Andererseits muss er Anteile seiner selbst unterdrücken, darf er ihnen nur noch in bestimmten Zusammenhängen Raum geben. Für viele dieser Anteile war der sich in Gegensatz zum öffentlichen ausdifferenzierende private Bereich zuständig, aber auch die sich als eigenständiges System etablierende Kunst: „Das Individuum handelt in seinen jeweiligen Rollen nicht mehr als Gesamtsubjekt, sondern in (abstrakten) Ausschnitten; d.h. ausdifferenzierte Sozialordnungen lassen nur noch individuelle ‚Teilschicksale‘ zu. In sozialen Rollen wird kein allzu persönliches Auftreten erwartet, was die Selbstdarstellung zu sehr binden könnte; stattdessen wird ein unpersönlicher Umgangston vorausgesetzt. Emotionen werden in den Privatbereich verbannt; Ansprüche müssen auf Leistung und Bildung statt auf Herkunft begründet werden. Je stärker in Philosophie und Kunst ein emphatischer Persönlichkeitsindividualismus vertreten wird, der Selbstverwirklichung durch harmonische Ausbildung der ganzen menschlichen Natur verlangt, desto mehr erfordert faktisch der sich autonomisierende Markt soziale Kooperation auf der Basis gegenseitiger Indifferenz. Person und Amt treten auseinander.“14

In diesem Zusammenhang ist diese Entwicklung in zweierlei Hinsicht interessant: Sie führt zu einer Irritation der Selbstwahrnehmung des Einzelnen und zu einer solchen des Anderen. Die Verteilung des Individuums auf verschiedene Handlungsrollen und die dadurch erzwungene Unterdrückung bestimmter Dispositionen, gibt dem in der Kunst vermittelten Ideal einer einheitlichen Persönlichkeit seinen Sinn: Unter den Bedingungen der Fiktionalität kann der „ganze Mensch“ erscheinen, der in der Wirklichkeit nicht gefunden wird – im fiktionalen Raum der Kunst kann das sich auf verschiedene, teils sich widersprechende Bereiche verteilte Subjekt sich von dieser Teilung gewissermaßen erholen.15 In Bezug auf den Anderen oder die 12 Vgl.: ebd., S. 160ff; besonders gilt dies natürlich für liberalistische Wirtschaftstheorien seit Adam Smith. 13 Vgl.: ebd., 161. 14 Schmidt 1989, S. 69. 15 Was den entsprechenden Formen der Kunst und Kultur z.B. bei Marcuse den Vorwurf eingebracht hat „affirmative Kultur“ zu sein – eine Kultur, die einen der „bürgerlichen Praxis“ gegenüberstehenden „Reservatbereich“ bereitstellt, in dem von dieser Praxis ausgeschlossene Bedürfnisse verschoben werden können, um in diesem der Reproduktion

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Andere ergeben sich ebenfalls Mängel: Da ein persönlicher Umgang mit ihnen immer nur über Rollen vermittelt stattfindet, muss er bzw. sie – wie ein Schauspieler auf der Bühne – anhand von äußeren Zeichen erkannt und verstanden werden. Da diese Zeichen aber außerhalb des semiotischen Reservats der Höfe als arbiträr gedacht werden und keiner verlässlichen Konvention mehr folgen, kann der Erkennbarkeit des anderen mit Misstrauen begegnet werden, kann sie zu einem – in der der Fiktion gegebenenfalls behobenen – Mangel werden. Besonders in der Großstadt führt die Menge der Menschen, ihrer Tätigkeiten und ihre oft unklare Herkunft zu Erfahrungen der Fremdheit. Das in der Philosophie bereits seit Hobbes sich ausdrückende Verständnis des einzelnen Individuums als Atom größerer Zusammenhänge führt also zu einem Widerspruch: Einerseits liegt es verstärkt im Blick, wird es aufgewertet, andererseits verteilt es sich auf verschiedene systemspezifische Rollen. Das Atom des Individuums ist also einerseits gespalten, andererseits aber seinem Selbstverständnis nach eben Atom, ein eigenwertiges, nicht abschließend aus seinen kollektiven Bindungen zu erklärendes Individuum der Gesellschaft. Es kann nach dem eigentlichen, dem ungeteilten Individuum hinter der „Maske“ der jeweilig eingenommenen Rolle gefragt werden. – Und diese Frage manifestiert sich in erster Linie im fixierenden Blick auf das Selbst und den Anderen: „Aus dem Widerspruch zwischen der Ideologie des freien, autonomen Individuums und der Abhängigkeit vom Urteil anderer ist die weit verbreitete Unsicherheit und Angst des Bürgers zu verstehen, die allerdings zu ganz unterschiedlichen psychischen Verarbeitungsformen führen können: die nach außen gerichtete, mit den gesellschaftlichen Normen konform gehende Fassade (Panzer), die psychische Konflikte und weitergehende Wünsche verdeckt; oder die mit Hilfe eines strengen Über-Ich ausgeprägte Selbstkontrolle, durch die der Mensch sich nicht nur einem vorgegebenen, objektiven Muster (Bild) anpaßt, sondern tendenziell auch seine Lebendigkeit verliert. […] Gemeinsam ist ihnen vor allem die distanzierte Selbstbeobachtung und die Abspaltung abgelehnter Teile des eigenen Ich. Dieses wird gleichsam als Objekt behandelt und mit den Augen eines ‚objektiven‘, mit den gesellschaftlichen Normen konform gehenden Zeitgenossen betrachtet. […] Bei näherer Betrachtung ist es deswegen nicht weiter überraschend, dass in der Literatur, Philosophie und sogar in den angrenzenden Naturwissenschaften ab dem 18. Jahrhundert verstärkt nach der Abbildung, der Verdopplung, der Antinomie zwischen innen und außen gefragt wird. Dahinter ist unschwer die Suche nach dem Subjekt zu erkennen, der Wunsch sich selbst zu sehen, um sich besser erkennen zu können.“16 der „Zivilisation“ transzendeten Bereich fiktional befriedigt zu werden, ohne eine Gefahr für sie darzustellen. (Vgl.: „Über den affirmativen Charakter der Kultur“, in: Marcuse 1965). 16 Kleinspehn 1991, S. 185.

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Eine Möglichkeit dieses selbstverstehenden Blicks ist aber der Überblick in seiner metaphorischen Funktion: Indem der ganze Bereich der gesellschaftlichen Differenzierung in diesem Sinne „überblickt“ und das Individuum in ihm fixiert wird, kann sein ganzer Kontext als verstanden imaginiert werden. Der Überblick ist sozusagen die andere, nach außen gewendete Seite der Ideologie vom „ganzen Menschen“. Der Blick der Selbstbeobachtung kann einerseits möglichst tief ins „Innere“ dringen, um verdrängte Anteile des Selbst – gegebenenfalls in Objekten oder Doppelgängern verkörpert – aufzufinden, er kann aber auch den Bereich der Differenzierungen als räumlichen darstellen und überblicken, um dem Selbst und dem anderen in ihnen ihren Ort zu geben. Der Ort als inhärente Eigenschaft des Individuums machte dies im Mittelalter und in vielen Zusammenhängen auch später unmöglich, aber auch unnötig – der Einzelne hatte immer schon seinen Ort. Spätestens seit der beginnenden Moderne musste der Einzelne seinen Ort bestimmen, finden. Fand er ihn, hatte er sich verstanden. Auch in ganz konkreter Hinsicht führte die sich entwickelnde kapitalistische Wirtschaftsordnung zu einer Auflösung der Verbindung des Individuums mit seinem Ort: Die Wirtschaft forderte einen freieren Austausch von Waren und Menschen und der ermöglichte sich durch neue Transportmittel. Zunächst wurde dies durch eine Veränderung der Organisationsformen der älteren Transportsysteme und eine Verbesserung der Verkehrswege erreicht. Später kamen natürlich neue Transportmittel hinzu, vor allem die Eisenbahn, in den Städten auch der Omnibus oder die Straßenbahn. Diese neuen Formen des Transportes im Raum folgten zunächst einmal einer neuen zeitlichen Struktur: derjenigen des Fahrplans. Die Folgen, die dies in den früh in diese Richtung entwickelten Niederlanden gehabt hatte, äußerten sich nun in weiten Teilen Europas: Die Bewegung im Raum wurde planbar und vollzog sich zudem immer schneller – der Raum widersetzte sich der Mobilität des Menschen und der Ware nicht mehr. Die Rationalität des wirtschaftlichen Zusammenhanges hatte nicht mehr so sehr mit dem Raum als mit der Zeit zu rechnen. Gerade in diesem Zusammenhang sollte man aber die entsprechende Transformation der Raumwahrnehmung und des Raumkonzeptes nicht bloß negativ fassen – als „Tilgung“ des Raumes zugunsten der Zeit. Vielmehr ist gerade die positiv gewendete Veränderung der Raumauffassung interessant: der Raum wurde abstrakter. Das Liniennetz der neuen Verkehrsmittel ließ die zu durchquerenden Räume selbst als abstrakte Netze erscheinen, die das räumlich Gegebene als einheitlich und zusammenhängend darstellten. Zudem verband sich dieses Raumnetz der Wege auf ganz neue und hier wiederum konkrete Weise mit dem Vorgang der Durchquerung des Raumes. Die alte kartografische Wahrnehmung, die zuvor noch in besonderer Weise imaginären Reisen zugrunde lag, verband sich mit alltäglicher werdenden tatsächlichen Reisen und damit mit einer neuen Wahrnehmung des Durchquerten, die die Abstraktheit des Streckenplans durch eine Flüchtigkeit der auf der Reise ge-

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machten Wahrnehmungen ergänzte. Dies führte zu einer wechselseitigen Bestimmung der Konzeptualisierung des Raumes und des ihn repräsentierenden Mediums: „Man lernt den Raum als Karte und die Karte als Raum zu denken.“17 Abstraktheit und Flüchtigkeit der Wahrnehmung waren also zunächst die Bedingungen unter denen räumliche Zusammenhänge als ganze erfassbar und nun auch wahrnehmbar wurden: „Europa wird überschaubarer, ja es konstituiert durch dieses feste Transportsystem [das Postsystem seit Mitte des 18. Jahrhunderts, M.R.] überhaupt erstmals einen empirisch zusammenhängenden Raum.“18 In besonderer Weise äußerten sich diese Folgen der Mobilität in den Großstädten. Tatsächlich waren neue Formen des Verkehrs natürlich zunächst einmal Voraussetzungen dafür, dass die Städte sich überhaupt zu Großstädten entwickeln konnten. – Arbeitskräfte und Konsumenten mussten in großen Mengen transportiert werden, um das Leben der räumlich ausgedehnten Stadt zu ermöglichen. Besonders hier wurden die Netze der Transportsysteme aber immer mehr zu Mitteln der Darstellung der Stadt als zusammenhängendes Ganzes: „Der Fahrplan der Omnibuslinien schließt die Stadt gleichsam erst zum Zeit-Raum-Netz zusammen.“ – mit der Folge eines „Abstraktionsschub(es) im Leben der großen Stadt“.19 Um die Rolle zu reflektieren, die in diesem Zusammenhang der Überblick erfüllen konnte, muss man zunächst bedenken, dass die abstrakter werdende Wahrnehmung des Raumes als Raum-Netz vor allem Ausdruck eines Mangels war: Desjenigen nämlich, dass die konkrete Wahrnehmung im Raum, sozusagen „vor Ort“, von Flüchtigkeit betroffen und von Unverständnis begleitet war – dass der Blick im Unten auf die typische Weise scheiterte. Die schnellere Bewegung durch den Raum (in der Stadt auch die Zusammenballung von Wahrnehmbarem in einem Raum) führten dazu, dass das einzelne Wahrgenommene schlicht kurz wahrgenommen wurde und sich zudem eine Abfolge von in ihrer Verbindung unklaren Einzelwahrnehmungen ergab. In Verbindung mit der gleichzeitigen Forderung des genauen, die unverlässlich gewordenen Zeichen lesenden Blicks musste dies zu einer Irritation der Wahrnehmung führen, solange sie diejenigen kognitiven und medialen Mittel in Anschlag brachte, die älteren Bedingungen entsprungen waren. Im Zusammenhang der niederländischen Landschaftsmalerei war schon von einer Strategie die Rede, die hier Abhilfe schuf: Ganz allgemein ausgedrückt musste das Flüchtige fixiert werden und das Einzelne in einen größeren Kontext eingeordnet werden. Allerdings konnte diese Anforderung auf verschiedenen Wegen erfüllt werden. Einige dieser Wege erreichten dies durch zeitliche Strategien, andere durch räumliche – und natürlich konnte beides sich zu komplexeren Formen verbinden. 17 Kaschuba 2004, S. 50. 18 Ebd., S. 59. 19 Stierle 1993, S. 211.

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Heinz Brüggemann stellt seiner Untersuchung der literarischen Wahrnehmungsformen der entstehenden Großstadt ein Beispiel voran, das sich bei aller Geringfügigkeit doch eignet, die Anpassung alter Formen der medialen Gestaltung des Zugangs zur Welt an die neuen Zustände aufzuzeigen: In einer Ausgabe des Journals „London und Paris“ von 1798 findet er einen Artikel über einen fahrbaren Guckkasten, der das Prinzip der camera obscura mit dem Element der Beweglichkeit verbindet. Interessierte konnten sich in diesem Gefährt durch die Straßen Londons fahren lassen, um die flüchtigen Erscheinungen auf die alte Weise gerahmt und fixiert zu erfassen. Der Rahmen als solcher reicht aber offenbar nicht mehr aus, die Anforderungen der neuen „Merkwelt“ zu erfüllen. – Der fixierende Blick im Unten kann die einzelnen Erscheinungen nicht festhalten, sie würden ihn durchwandern, ohne dass ihre Herkunft und ihr Ziel, ohne dass ihr Kontext im Rahmen selbst erscheinen könnte. Auf dieses Problem reagiert der fahrende Guckkasten, indem er den Rahmen in Bewegung bringt, um der Erscheinung folgen zu können, um aus einer Vielzahl von Anblicken und Perspektiven einen Kontext für das Einzelne zu konstruieren. Für Brüggemann wird dieser wandernde Rahmen zu einem Sinnbild auch für die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelnden literarischen Formen der Aneignung von Großstadt: „Ganz auf das statische Guckkastenprinzip eingerichtet, versucht das Gerät doch mit einer seiner Eigenschaften der Beschaffenheit seines Wahrnehmungsobjektes zu entsprechen: Der Bewegtheit, dem schnellen Wechsel der Straßenszenen und der Vielfalt visueller Reize kommt es mit der eigenen Beweglichkeit entgegen, so dass der feststehende Standpunkt des Beobachters aufgehoben scheint, aber es zugleich doch nicht ist.“20

Eine Möglichkeit, die alten, vor den neuen Wahrnehmungsanforderungen kapitulierenden Formen anzupassen, war also die Beweglichkeit des Rahmens. Wurde diese im Beispiel des fahrbaren Guckkastens noch im ganz wörtlichen Sinne umgesetzt, bildete sich unter den neuen Umständen ein Wahrnehmungsverhalten heraus, das den Blick des Einzelnen in ganz ähnlicher Weise steuerte, ohne dass dazu noch äußere technische Mittel nötig gewesen wären: das Flanieren. Der immer wieder auch als Modell verschiedener Aneignungen der Stadt in der Literatur reflektierte Flaneur reagierte auf die Irritationen der Wahrnehmung zunächst einmal durch eine bewusst verlangsamte Bewegung im Raum. Indem er ohne bestimmtes Ziel ging, das Gehen und vor allem das im Gehen sich vollziehende Sehen zum eigentlichen Ziel machte, konnte er zum Subjekt eines genauen, eben bis in „die letzte Nuance“ gehenden Blicks werden. Machte er sich selbst so gleichsam zum wandelnden Rahmen, konnte er eine Vielzahl von allerdings schnell wechselnden Eindrücken aufnehmen. Hinter diesem Verhalten musste gerade aufgrund dieses notwendigen 20 Brüggemann 1985, S. 14f.

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schnellen Wechsels der Einzelwahrnehmungen aber eine weitergehende kognitive Strategie stehen, die dem Einzelnen eine allgemeine Wahrnehmungsfolie zugrunde legte, auf der es sich zu einem Ganzen vereinigen konnte. Im Falle des Flaneurs war diese Strategie zeitlich bestimmt: Es war eine Strategie der Erinnerung. Die einzelnen flüchtigen Beobachtungen konnten gleichsam zu einem Bild des Ganzen (der Stadt) addiert werden, indem sie jeweils in einen Zusammenhang mit einer Abfolge des im Moment Abwesenden, in der Erinnerung Fixierten gebracht wurden. Der Flaneur konstruiert das Ganze in der Zeit: „Der Flaneur ist das Auge der Stadt. Seine Passion ist das Sehen, die banale oder denkwürdige Erscheinung des Augenblicks, die sich sogleich hinter einer neuen Erscheinung entzieht. Der Flaneur genießt das Schauspiel der flüchtigen Erscheinung. Aber er lernt auch, die Erscheinung im Horizont dessen wahrzunehmen, was sie verdeckt. Der Flaneur kommt zum Stadtbewusstsein erst dann, wenn er das Gegenwärtige im Horizont des Abwesenden, vor dem Hintergrund einer unabsehbaren Erinnerung an andere Anblicke wahrnimmt.“21

Diese zeitliche Strategie der Konstruktion des Ganzen findet ihren Niederschlag in vielen – vor allem literarischen – Zeugnissen. Sie findet gelegentlich aber ihre räumliche Ergänzung durch Formen, die solche des Überblicks sind. Denkt man im Rahmen der vor allem im Laufe des frühen 19. Jahrhunderts sich durchsetzenden Text-Metapher der Stadt,22 könnte man sagen: Die Strategie des Flaneurs entspricht dem Lesen des Textes – der Konstruktion eines zusammenhängenden Sinns im Vollzug der zeitlichen Abfolge der Wahrnehmung einzelner Zeichen. Der Überblick über den zu bewältigenden Bereich dagegen entspricht der Wahrnehmung der strukturellen Gliederung des „Textkörpers“ – seiner Aufteilung in Einheiten, die im Lesen zu einer Abfolge im Sinn werden, die aber auch zuvor bereits im Raum in einer Ordnung vorliegen. Das Lesen des Textes ist prinzipiell denkbar als rein zeitliche Abfolge von Eindrücken. – Die Struktur des Textes oder des Buches liegt aber unabhängig davon im Raum vor. In dem Moment, in dem beide Strategien sich verbinden, entsteht das, was ich den Blick nach unten genannt habe: Der einzelne vermittels der Erinnerung in das Ganze einer Abfolge gestellte Eindruck kann an seinem Ort in der räumlich bedeuteten Struktur des Ganzen verortet werden. Die Abfolge der Eindrücke bewegt sich metaphorisch auf einer räumlichen Folie und es sind Formen des Überblicks, die genau diese Folie als Ausgangspunkt der Metapher liefern können. Besonders im deutschsprachigen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts wurde die Text-Metapher oftmals ergänzt durch diejenige der „Oberfläche“ oder auch des 21 Stierle 1993, S. 214. 22 Vgl. zu den im französischen Raum allgegenwärtig werdenden Zeugnissen dieser Buchoder Textmetapher für Paris: Stierle 1993, S. 218ff.

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„Ornaments“.23 Indem man von einer überkommen Dialektik des hinter dem Schein verborgenen Seins abging, in deren Sinne das äußerlich sich Darbietende das Eigentliche immer nur verbarg, konnte die „Oberfläche“ der sich in der Stadt darbietenden Phänomene im Sinne eines Textes gelesen werden. Der Sinn, die Bedeutung des sichtbaren menschlichen Verhaltens verbargen sich nicht, sie drückten sich vielmehr im Sichtbaren aus. Siegfried Kracauer formulierte diesen Gedanken in besonders präziser Form in seinem berühmten Aufsatz „Das Ornament der Masse“. Anhand der „Mädchenkomplexe“24 der Tiller Girls oder ähnlicher Tanzformationen erläutert er die Beziehung des Ornaments zu seinen Bestandteilen: „Als Massenglieder allein, nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein glauben, sind die Menschen Bruchteile einer Figur.“25 Zudem erhält der Einzelne im Ornament kein Bild des Ganzen, in dem er sich verhält: „Das Ornament wird von den Massen, die es zustande bringen, nicht mitgedacht.“26 Diese Geometrisierung der Masse zu „Oberflächen“ entspräche der Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft, deren Rationalität dem Einzelnen eine „Teilfunktion“27 zuweist, ohne dass er das Ganze des Produktionsprozesses kennt. Letztlich analysiert Kracauer das Ornament der Masse als Reaktion auf die Wirkungen der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die sich im wirtschaftlichen Bereich besonders konkret und deutlich zeigten. Der affirmative Nutzen der ästhetischen Form kann dabei auf Seiten des Betrachters vermutet werden: Er ist es, der das Ornament als Ganzes sieht. Ihm öffnet sich ein Blick, der das Einzelne als funktionalen Teil des Ganzen verstehen kann und der ihm für seine eigene Position in Zusammenhängen fehlt, die ihn selbst nutzbar machen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse der Moderne etablieren die Unauffindbarkeit des „ganzen Menschen“, der sich als „Massenteilchen“28 in unverstandenen Ganzheiten verliert, als Mangel. Die wie gesagt gewissermaßen nach „außen“, auf die Oberfläche einer zusammenhängenden räumlichen Folie gebrachte Lösung dieses Mangels ist der Blick auf das Ganze einer als räumlich sich darstellenden Ordnung. Dass sich als Position dieses Blicks in besonderer Weise diejenige von oben anbietet, wird auch bei Kracauer klar: „Es [das Ornament, M.R.] gleicht dabei den Flugbildern der Landschaften und Städte, dass es nicht dem Innern der Gegebenheiten erwächst, sondern über ihnen erscheint.“29 Die Position des Überblicks erfasst das Ganze, distanziert ihr Subjekt aber zugleich von ihm – der Überblick erwächst nicht aus der Position im Überblickten. Gerade deswegen ist eine 23 Vgl.: Roskothen 2003, S. 69ff. 24 Kracauer 1977, S. 50. 25 Ebd., S. 51. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 54. 28 Ebd., S. 53. 29 Ebd., S. 52.

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besondere Strategie der Verschaltung der Positionen notwendig, wenn es darum geht den Überblick zum Blick auf die eigene Position in einem Ganzen zu machen, eine Synthese zwischen dem durch den Blick von oben gesetzten und dem im Blick im Unten nicht verstehenden Subjekt zu erreichen. Man sieht also, dass auch die Metapher des Ornamentes oder der Oberfläche in ihrer Verbindung zu der der Lesbarkeit eine Affinität zu derjenigen des Überblicks hat. Der abstrakter werdende, schließlich auch nicht mehr durch die rein zeitliche Strategie des Flaneurs zu bewältigende „Text“ der Großstadt oder auch der zunehmend vernetzten Welt muss als räumlich organisierter Zusammenhang überschaut werden, um „gelesen“ werden zu können. Der Rahmen im Topos der „Rahmenschau“ muss von oben kommen, will er sich nicht im Unten verlieren. Ein Autor, der die entsprechende Funktion des Überblicks im frühen 20. Jahrhundert in herausstechender Klarheit nutze, war Ernst Jünger. Jüngers Ausführungen aus den 30er Jahren changieren dabei gewissermaßen zwischen der deskriptiven Gegenwartsanalyse und der normativen (Zukunfts-)Forderung oder Begrüßung des Zustandes der „totalen Mobilmachung“ der Gesellschaft.30 Dieser Zustand stellt für ihn einen solchen dar, in dem die totale Erfassung ganzer Staaten und Nationen durch den Krieg sich auch auf die Zivilgesellschaft überträgt, in dem jeder Einzelne sich als Teil einer Maschinerie begreift, die als ganze auf ein Ziel hinsteuert – ohne dass er aus der Maschinerie heraus je diese als ganze erfassen könnte. Diesen „Fetischismus der Maschine“31 diagnostiziert er einerseits, wie es letztlich auch Kracauer tut, er aktualisiert ihn aber auch, indem er selbst von der „Maschinerie“32 der Gesellschaft oder auch des ihr zum Vorbild werdenden Krieges spricht, also selbst die Metapher verwendet, die den Krieg und die Gesellschaft als riesigen Arbeitsprozess begreift, zu dem der Einzelne seinen Teil beiträgt und wohl auch beizutragen hat. Besonders das revolutionäre Russland wird ihm dabei zum Beispiel eines Staates, der diesen Weg zur totalen Mobilmachung bereits sehr weit beschritten hat. Hier und in vielfältigen Erscheinungen der Zeit schlage „der Druck der Massen […] in Kristallbildung um“.33 Diese Kristallbildung war es eben, die Siegfried Kracauer in den zeitgenössischen „Massenornamenten“ vorfand. Die positive Bewertung entsprechender Phänomene bei Jünger wird an einer Passage aus seinem Text „Der Arbeiter – Herrschaft und Gestalt“ besonders anschaulich, die es lohnt auch als etwas längeres Zitat einzufügen: „Die großen Städte, in denen wir leben, bestehen in unserer Vorstellung mit Recht als die Brennpunkte aller Gegensätze, die denkbar sind. Zwei Straßenzüge können voneinander ent30 E. Jünger, „Die totale Mobilmachung“, in: Jünger 1981, Bd. 7. 31 Ebd., S. 140. 32 Ebd., S. 126. 33 Ebd., S. 128.

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fernter als Nord- und Südpol sein. Die Kälte der Beziehungen zwischen den Einzelnen, den Passanten, ist außerordentlich. Es gibt hier den Erwerb, das Vergnügen, den Verkehr, den Kampf und die wirtschaftliche und politische Macht. Jedes Gebäude ist aus einem bestimmten Entschlusse und zu einem bestimmten Zwecke erbaut. Die Stile haben sich mannigfaltig ineinander eingeschachtelt; die alten Kulturstätten sind von Bahnhöfen und Warenhäusern umringt, in den Vorstädten sind noch Bauernhöfe in das Netz von Fabriken, Sportplätzen und Villenvierteln eingesprengt. Nun gut, dieses Ganze lässt sich vielfach durchdringen, je nachdem, mit welchen Mitteln und mit welchen Fragestellungen es geschieht. […] Jede der funktional untereinander verbundenen Einzelwissenschaften vermag ihre Begriffe als Nenner unter dieses Getriebe zu setzen, und neue Wissenschaften entstehen täglich, je nach Bedarf. […] Abgesehen davon leben in einer solchen Stadt Millionen von Menschen, die ihre Lage weniger durch die abstrakte als durch die unmittelbare Anschauung zu beurteilen vermögen – von entsprechender Mannigfaltigkeit sind die Aussagen über das Wozu ihrer Existenz. […] Stellen wir uns nun diese Stadt aus einer Entfernung vor, die größer ist, als wir sie bis jetzt mit unseren Mitteln zu erreichen vermögen – etwa so, als ob sie von der Oberfläche des Mondes aus teleskopisch zu betrachten sei. Auf eine so große Entfernung schmilzt die Verschiedenheit der Ziele und Zwecke ineinander ein. Die Anteilnahme des Betrachtenden wird irgendwie kälter und brennender zugleich, auf jeden Fall aber anders als die Beziehung, die der Einzelne dort unten als Teil zum Ganzen besitzt. […] Einem Blicke, der durch kosmischen Abstand vom Spiel und Gegenspiel der Bewegungen geschieden ist, kann es nicht entgehen, dass hier eine Einheit ihr räumliches Abbild geschaffen hat. Diese Art der Betrachtung unterscheidet sich von den Bestrebungen, die Einheit des Lebens in ihrer flachsten Möglichkeit, nämlich als Addition, zu begreifen dadurch, dass sie das schöpferische Gebilde, das Werk erfasst, das sich trotz aller Gegensätze oder mit ihrer Hilfe ergibt.“34

Der imaginierte Blick aus dem Weltraum ist es also, der den Bereich vielfältiger funktionaler Differenzierungen und Vernetzungen übersieht und der das Ganze der Gesellschaft erfasst – der Überblick ist die eigentlich gültige Auffassung der Gesellschaft. Erst durch den Überblick erscheint das „räumliche Abbild“ der „Einheit des Lebens“, in der der Inhaber dieses Blicks sich platziert sieht. Die Dezentrierung des Einzelnen in den Gegensätzen der Gesellschaft kann so als überwunden erscheinen, indem die großflächige räumliche Vernetzung dieser sich gegenüberstehenden Gegensätze zu einem sinnvollen Ganzen nachvollzogen wird – zu einer modernen und nunmehr für den Menschen erfahrbaren coincidentia oppositorum sozusagen. Durch diesen Blick – so Jünger – schlage das „flache“ Verständnis der Einheit als Addition in ein anderes um, das das Ganze als „Werk“ erkennt. Letztlich erscheint diese Betrachtungsweise also ausschließlich ermöglicht durch den Blick 34 Jünger, „Der Arbeiter – Gestalt und Herrschaft“, In ders.: Sämtliche Werke Bd. 8, Stuttgart 1981, S. 67f.

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von oben, der allein das „räumliche Abbild“ als Ganzes erfassen kann. Aus dieser Perspektive offenbart die Oberfläche sich als sinnvolle Gesamtfunktion, deren Subjekt ein Kollektiv sein müsste, das sich ebenfalls nicht als Addition der Einzelnen verstehen ließe. Im Verhältnis zur kritischen Analyse Kracauers reproduziert Jünger die entsprechende Funktion des Überblicks also, vollzieht er ihre rezentrierende Funktion nach, nutz er sie. Eine das einzelne Subjekt zunächst scheinbar dezentrierende Haltung schlägt so in typischer Weise in eine Rezentrierung um: Der Einzelne gibt sich als Subjekt des „Werk(s)“ oder auch der alle Gegensätze konkreter Arbeiten umfassenden totalen Arbeit – der eben „Der Arbeiter“ gewidmet ist – an ein umfassendes Subjekt, letztlich die Geschichte, ab.35 Indem er dies tut, erhält er aber gerade die Perspektive dieser gestaltenden Instanz der Geschichte oder des in ihr wirkenden Kollektivs. – Und diese ihn als Subjekt des Wissens wieder einsetzende Perspektive ist eben die des Überblicks. Ein Medium, das durchaus vergleichbare, wenn auch weniger spektakulär sich äußernde Funktionen bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts für die Bewohner der Städte erfüllte, war das Panorama. Einerseits reagierte es auf die Kapitulation der fixierten Rahmenschau vor der Flüchtigkeit der den Rahmen durchwandernden Gegenstände dadurch, dass es die Begrenzung des Rahmens schlicht aufhob. Andererseits machte es sich aber gerade als Stadtpanorama den erhöhten Betrachterstandpunkt zunutze. Ausgangspunkt der Konstruktion der Bilder waren erhöhte Orte wie z.B. Kirchtürme. Sowohl von diesen medialen Strategien des Überblicks als auch von den (meist literarischen) der zeitlichen Konstruktion des Ganzen wird im Einzelnen noch zu reden sein – und natürlich von der Verbindung, die beide eingingen. In diesen Kontext werden sich auch Formen einordnen lassen, die sich nicht auf die Großstadt beziehen: Die moderne, in der Schweiz entstehende Kartografie machte sich beispielsweise das Konzept eines beweglichen, über das repräsentierte Land „fliegenden“ Blickpunktes zunutze, der das Ganze auf neue Weise erscheinen lassen konnte – und das in einem Land, dessen nationale Einheit zuvor schon durch das Nacheinander von Reiseeindrücken gezielt kognitiv konstruiert werden sollte, gewissermaßen durch eine Form ländlicher und nationaler Flanerie. Da diese Formen eine deutliche Verbindung zu neu sich etablierenden Strategien der Repräsentation von Macht unterhielten, ist es sinnvoll, sie in diesem Zusammenhang zu betrachten.36 Die kulturhistorischen Bedingungen, die diese Entwicklungen in der Funktion des Überblicks zur Voraussetzung hatten, können wohl durch einen dritten Ansatz der Beschreibung der Veränderungen seit der Aufklärung weiter geklärt werden. Dieser 35 Vgl.: Tralau 2005, S. 100ff. 36 Also im nächsten Kapitel dieses Teils.

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Ansatz fasst sich unter dem Begriff der „Disziplin“ zusammen. Besonders Michel Foucault hat aufgezeigt, wie entsprechende „Dispositive“ unter anderem über eine Struktur von Blicken oder Blickpositionen funktionierten. So kann das Konzept weiteres Licht werfen auf den Zusammenhang von Selbstbestimmung und Visualität – und auf die abstrakter werdende und sich öffnende Struktur der entsprechenden Subjektpositionen. Foucaults These, so wie er sie in „Überwachen und Strafen“ erarbeitet, ist diejenige, dass sich im Laufe des 18. Jahrhunderts verschiedene gesellschaftliche Zusammenhänge bilden, in denen sich eine Rationalität der Disziplin herausbildet. Modellcharakter erhalten dabei solche abgeschlossenen Bereiche wie das Gefängnis, die Fabrik, die Kaserne oder die Schule. In diesen Bereichen konnten sich neue und erfolgreiche Mechanismen der Ordnung etablieren, die einiges gemeinsam haben: Sie richten sich auf das einzelne Individuum, indem sie es in eine klare räumliche Struktur eingliedern, in der es jederzeit geortet werden kann. So wird der Einzelne zum Gegenstand von bis ins Kleinste gehenden körperlichen Abrichtungsprozessen, die ihn zum im Sinne der Rationalität des Ganzen nutzbaren Subjekt machen. Voraussetzung dieser Möglichkeit ist eine vor allem auch visuelle Überwachung, die stets weiß, wo der Einzelne sich befindet und was er tut. In Anlehnung an die architektonische Einrichtung des (von Bentham geplanten) Panoptikums, fasst er die entsprechende Struktur der überwachenden Blicke bekanntlich unter den Begriff des „Panoptismus“. Zunächst geht es in diesen ökonomischen, militärischen und pädagogischen „Dispositiven“ also „um die Organisation des Vielfältigen, das überschaut und gemeistert, dem eine Ordnung verliehen werden muss.“37 Erstes Mittel dieser Ordnung sind Mechanismen, die ein „bleibendes Strukturgitter (bilden), das alle Unübersichtlichkeiten beseitigt“.38 Innerhalb dieses Strukturgitters erhält jedes Individuum einen klar zu definierenden Ort, der mit genau beschriebenen Tätigkeiten verbunden ist, die in sich sequenziert und entlang der zeitlichen Abfolge dieser Sequenzen eingeübt werden. Der Raum wird also abstrakt – aber in der Architektur auch konkret – parzelliert und das Individuum der ihm zugewiesenen Parzelle entsprechend subjektiviert. Wichtiges Mittel der Herstellung dieser Ordnung ist nun eben der kontrollierende Blick: Ganz besonders im Kontext des Gefängnisses wird durch bestimmte Einrichtungen die Allgegenwart eines „zwingende(n) Blick(s)“39 hergestellt. In Benthams Panoptikum gelingt dies durch die zentrale Position eines Überwachungsturms in der Mitte der kreisförmig darum angeordneten Zellen. Der Beobachter im Turm kann jederzeit jeden Gefangenen im Innern seiner (Par-)Zelle sehen, wird aber selbst nicht gesehen. Von der (pädagogischen) Rationalität des Gefängnisses abweichende Tätigkeiten können sofort geortet und unterbunden werden. 37 Foucault 1994, S. 190. 38 Ebd., S. 186. 39 Ebd., S. 221.

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Da der Gefangene zudem stets damit rechnen muss beobachtet zu werden, ohne es je zu wissen, wird er die Wirkungen der Macht schließlich verinnerlichen und ohne äußere Machteinwirkung (körperliche Strafen usw.) reproduzieren. Interessant in diesem Zusammenhang ist nun besonders die Abweichung dieser Blickstruktur von der ideologischen Funktion des Blicks des einen Souveräns, wie sie der Absolutismus sich zunutze gemacht hatte: Wer die Rolle des Beobachters übernimmt, ist für die Funktion des Panoptikums irrelevant. Die der Struktur entsprechende Kennzeichnung des Beobachtersubjektes ist abstrakt oder im bisher verwendeten Sinne „demokratisch“. Bentham betont ausdrücklich, dass beispielsweise die Familienmitglieder des Aufsehers oder auch beliebige Besucher diese Funktion übernehmen können.40 Eine wesentliche Beziehung zwischen einem bestimmten Subjekt und der Position des (Macht-)Blicks besteht so nicht mehr. Das Panoptikum kann zum politischen Modell einer neuen von der Rolle des Souveräns befreiten Ordnung der Gesellschaft werden. Es kann so auch zum Modell einer auf die ganze Gesellschaft bezogenen Forderung von Ordnung werden, die diese in neuer und gewissermaßen durchdringender Weise ergreifen könnte: „Der Panoptismus ist das allgemeine Prinzip einer neuen ‚politischen Anatomie‘, die es nicht mit dem Verhältnis der Souveränität, sondern mit den Beziehungen der Disziplin zu tun hat. In seinem durchsichtigen kreisrunden Käfig auf dem hohen Turm von Wissen und Macht mag es Bentham darum gehen, eine vollkommene Disziplinsituation zu entwerfen; aber es geht auch um den Aufweis, wie man die Disziplinen ‚entsperren‘ und diffus, vielseitig, polyvalent im gesamten Gesellschaftskörper wirken lassen kann.“41

Auch in Deutschland wurde auf diese Weise das Gefängnis zum Modell für die Gesellschaft und den Staat. Nikolaus Heinrich Julius bestimmte in seinen „Vorlesungen über die Gefängniskunde“ die neue Aufgabe dahingehend, dass es nunmehr – im Gegensatz zur Antike, die Vielen das Überschauen Weniger zu ermöglichen versuchte (z.B. im antiken Theater) – darum ginge, „Wenigen oder einem Einzelnen, die Übersicht Vieler zu gewähren.“42 Dies sei eben im Gefängnis durch die „Mittelpunktsübersicht“43 zu gewährleisten. Dass es dabei aber nicht nur um eine neue Gefängnisarchitektur geht, wird auch über den historischen Vergleich mit der Architektur der Antike hinaus deutlich gemacht: „Erst der neuesten Zeit blieb es, wie ich später ausführlich darlegen werde, aufbehalten, mit der umfassenderen Lenkung des Staates, und dessen stets tieferem Eindringen in die Zustände 40 Vgl. ebd., S. 266; vgl. auch: Julius 1828, S. 111. 41 Ebd., S. 268. 42 Julius 1828, S. 108. 43 Ebd., S. 110.

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und Verhältnisse des bürgerlichen Lebens, zu den Hülfsmitteln der Vervollständigung jener, auch schon die, auf Überschauung berechnete Bauart und Einrichtung, für eine zahlreiche Menschenmenge bestimmter Wohn- oder Aufenthaltsorte, mitwirkend herbeizuziehen, und in Anspruch zu nehmen.“44

Die Übersicht im Gefängnis ist also Ausdruck einer neuartigen Durchdringung der Gesellschaft durch den Staat, durch seine bürokratischen (sicherlich polizeilichen) Mechanismen und ihre die Machtstruktur reproduzierenden Wirkungen in den einzelnen Subjekten. Julius offenbart in seiner Auseinandersetzung mit dem Gefängnis dabei auch einen zugrundeliegenden Mangel, der sowohl diese verwaltungsmäßige Durchdringung, als auch die ordnende Parzellierung des Gefängnisses, die in ihm herbeigeführte „Abteilung“ der Gefangenen motiviert: Diese dient nicht nur dem Zweck der besseren Kontrolle, sie richtet sich vielmehr auch gegen eine der Grunderfahrungen der Moderne, gegen den Verlust des Einzelnen in der „Masse“ – gegen einen Verlust, der oft genug eine Form des Selbstverlustes darstellt: „Die Abteilung der, zur Verwahrung in einem und dem nämlichen Gefängnisse bestimmten Verhafteten, hat einen doppelten Nutzen. Zuvörderst dient sie als Ergänzung und Vervollständigung der soeben betrachteten Beaufsichtigung, und dies ist als ihr sächlicher, materieller Vorteil zu betrachten. Andrerseits aber, und noch tiefgreifender, wird ihr sittlicher Nutzen, indem sie dem betrübten, bei allen großen, viele Menschen vereinigenden Anstalten und Einrichtungen, sehr bald herrschenden Mechanischen und Maschinenartigen, entgegenarbeitet. Es ist nämlich eine alte Erfahrung, daß die Zunahme und Überwucht der Masse, sey es nun in der Verwaltung eines Staates, der Führung eines Heeres, oder in der Leitung einer Erziehungsanstalt, eines Siechhauses, Arbeitshauses oder Gefängnisses, unausbleiblich die Vernachlässigung der einzelnen Bestandteile des Ganzen, also noch viel mehr jegliches Menschen, zur Folge hat, daß mit einem Worte, das Individuum in der Masse untergeht.“45

Die ordnende Struktur, die den Einzelnen einen klar definierten Ort gibt, der sie bestimmbar und kontrollierbar macht, reagiert also auf die bedrohliche Unkontrollierbarkeit der Masse. Die Mechanismen der Kontrolle sind Mechanismen der Auffindbarkeit und Bestimmbarkeit des Einzelnen – Mechanismen, die sich also gegen die Drohung des Selbstverlustes und des Verlustes des anderen richten, die sich wiederum in der Metapher des „Mechanischen“ bedeuten. Angewandt werden sie von bürokratischen Verwaltungsapparaten. Die Selbstbestimmung und Selbstfindung nimmt den Weg über die anonyme Bürokratie, die in ihrer Ordnung zwar ein Wissen um das Ganze schafft, die dieses Wissen aber nie einem einzelnen, souveränen Subjekt als Ganzes zur Verfügung stellt. Hier wird deutlich, wie die veränder44 Ebd., S. 108f. 45 Ebd., S. 112.

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ten Bedingungen der Moderne neue Anforderungen an Ordnung etablieren und diese auf den Einzelnen beziehen. Eine für die Funktion von Überblicken bestimmende Mangelsituation scheint im 19. Jahrhundert entsprechend die geworden zu sein, dass die Gesellschaft gewissermaßen kein Gefängnis wurde. Die in abgeschlossenen Gesellschaftsmodellen eingeübten Strukturen konnten zu neuen Ansprüchen an Ordnung werden, die der Einzelne auch auf sich selbst, auf die Bestimmbarkeit seines „Ortes“ und seine Rolle in der Rationalität eines Ganzen anwenden konnte. Die Stadt wurde aber nicht abschließend zur Fabrik oder zum Arbeitshaus und der eine, der von einem Subjekt in Bezug auf das Ganze einzunehmende Punkt des alles erfassenden Blicks ergab sich nicht. Die Ordnung wurde gestört, indem sich gleichsam zwischen den Maschen des Ordnungsnetzes Individuen oder Einzeleindrücke bewegten, deren Funktion unklar, deren Herkunft ungewiss und deren zukünftige Bewegung nicht antizipierbar war. Gerade in dieser Situation bot sich der Überblick über das Ganze als Metapher des Wissens und der Macht an – denn gerade er stellte die neue Ordnungsforderung als erfüllt dar und setzte zudem beliebige Subjekte an die Stelle der von der Blickstruktur vorbereiteten Machtposition. Wie sich bürokratische und auch architektonische Maßnahmen der Disziplin auch außerhalb bestimmter Institutionen durchsetzten und zudem mit den neuen Strukturen des Verkehrs und der Mobilität verbanden, ist gut am Beispiel von Paris abzulesen: Gleich nach der Revolution wurden dort 1793 Büros eingerichtet, in denen Informationen von Agenten zusammenliefen, die über mögliche Unruhen, Gerüchte usw. berichteten. Diese „observateurs parisienes“ lieferten eine Vielzahl von Einzelbeobachtungen, die – ohne ein einzelnes Subjekt des Machtwissens zu etablieren – eine Repräsentation des Ganzen in den Dienst der Disziplinierung und Kontrolle stellten: „Erstmals gab es damit eine zentrale politische Stelle, in der ein Bild der ganzen Stadt zusammenkam.“46 Als ab 1852 die vom Baron Haussmann organisierte städtebauliche Neuordnung erfolgte, wurde auch die Stadt selbst den entsprechenden Forderungen angepasst. Die neuen Boulevards ermöglichten eine schnellere und freiere Zirkulation von Waren und Menschen, dienten aber auch der leichteren Kontrolle. Sie machten die Stadt und die Vorgänge in ihr gleichsam durchsichtiger – aber nicht mehr für jenen zentralisierten einen Blick, in dessen Mittelpunkt die Achsen der Boulevards von Versailles noch zusammengelaufen waren: „Anders als noch in den absolutistischen Staaten ist hier der Blick allerdings nicht auf den Herrscher gerichtet, dessen Macht im Zentrum repräsentiert ist und an der die Untertanen durch Identifizierung narzisstisch teilnehmen konnten, er hat sich vielmehr umgekehrt. Jetzt herrscht das Modell des kontrollierenden Blicks, der den Raum immer beherrscht.“47 46 Stierle 1993, S. 138. 47 Kleinspehn 1991, S. 246.

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Auch der Blick der Kontrolle verteilt sich also auf verschiedene Subjekte und wird im Raum der Stadt mobil. Die Mechanismen der bürokratischen Überwachung der Stadt entsprechen in vielerlei Hinsicht der wandernden Wahrnehmung und sukzessiven Konstruktion eines Gesamtbildes, wie sie sich der Flaneur zunutze machte. Entsprechend wurden nicht zuletzt die neuen Boulevards, die dem erfassenden Blick neuen Raum gaben, zum vorzüglichen Wegenetz flanierenden Gehens. Noch deutlicher als bei Haussmann wurde die Funktion dieses kontrollierenden Blicks für die Stadtplanung, als dieser Blick bereits im Prozess der Planung selbst als Blick von oben seine Rolle spielen konnte, als die Stadtplanung sich das Luftbild zunutze machte. Die Architekten reagierten hier z.B. auch am Bauhaus der 30er Jahre auf die als chaotisch und unübersichtlich empfundene Gesellschaft, indem sie die Stadt von oben aus der Perspektive dieser Bilder planten. Von oben betrachtet, konnte das chaotische Geflecht der Stadt mit den unkontrollierbaren Vorgängen in ihr in eine klare, man möchte sagen kristalline Form umgeprägt werden. Bei dieser Entwicklung tat sich als Theoretiker besonders Ludwig Hilbersheimer hervor, der am Bauhaus das Fach Stadtplanung unterrichtete. 1927 veröffentlichte er seine Reflexion „Großstadtarchitektur“. Dort heißt es: „Die Notwendigkeit, eine oft ungeheure, heterogene Materialmasse nach einem für jedes Element gleichermaßen gültigen Formengesetz zu bilden, fordert eine Reduktion der architektonischen Form auf das knappste, notwendigste, allgemeinste. Eine Beschränkung auf die geometrisch kubischen Formen: die Grundelemente aller Architektur […] Große Massen bei Unterdrückung der Vielerleiheit nach einem allgemeinen Gesetz zu formen, ist, was Nietzsche unter Stil überhaupt versteht: Der allgemeine Fall, das Gesetz wird verehrt und herausgehoben: Die Ausnahme wird umgekehrt beiseite gestellt, die Nuance weggewischt, das Maß wird Herr, das Chaos gezwungen, Form zu werden: logisch, unzweideutig, Mathematik, Gesetz.“48

Bei diesen Formulierungen wird die Verbindung des Blicks von oben zur Kontrolle, zur Macht aber wohl auch zu der damit in Verbindung stehenden Rezentrierung angesichts der „Vielerleiheit“ des unkontrollierten Bereichs der Unordnung sehr deutlich. Was bei einem solchen Verständnis der Stadtplanung natürlich völlig aus dem Blick gerät, ist das Einzelne im Überblickten, sein eigener Wert, seine eigene Aktivität und eben: seine eigene Perspektive. Als nach dem Zweiten Weltkrieg diese Form der Architektur Wirklichkeit wurde, führte dies in verschiedenen modernen Städten dazu, dass die aus der Perspektive des Luftbildes in die Stadt gebrachte

48 L. Hilbersheimer, „Großstadtarchitektur. Die Baubücher Bd. 3“, Stuttgart 1927, zitiert nach: V. Magnago Lampugnani, „Die Moderne und die Architektur der Großstadt“, S. 47, in: Riley und B. Bergdoll 2001.

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Ordnung aus dem Unten der Stadt selbst gesehen zu Erfahrungen des Unverständnisses führte – zu einem Scheitern der „kognitiven Kartierung“.49 Andererseits lassen sich städtebauliche Maßnahmen wie die von Hausmann oder die durchaus vergleichbaren Planungen von Hilbersheimer aber eben keineswegs mit totalitären bzw. im älteren Sinne monarchistischen Herrschaftsstrukturen identifizieren. Die Disziplin und die abstrakte Ordnung, die sie abbilden und schaffen wollen, bezieht sich nicht auf ein bestimmtes Subjekt der Macht. Gleiches gilt von dem metaphorisch genutzten Blick von oben, durch den ihre Ordnung gegebenenfalls ihre rezentrierende Wirkung entfalten kann – dieser Blick kann offen sein für alle, wenn er es auch nicht unter allen Umständen in jeder Hinsicht blieb. Die Folgen, die sich vor diesem Hintergrund auch für die literarische Wahrnehmung vor allem der Großstadt ergaben, lassen sich vielleicht zunächst gut an einem frühen Beispiel dieser Auseinandersetzung aufzeigen: Der „Hinkende Teufel“ von Alain René Lesage ist ein Zeugnis des Versuchs, die Stadt literarisch in den Griff zu bekommen, der teilweise den Bedingungen der beginnenden Moderne entsprungen ist, der aber genauso an ältere Formen der Funktion von Blicken gebunden ist.50 Die Geschichte des Romans spielt in Madrid – allerdings ohne dieses topografisch im Einzelnen zu portraitieren. Der junge Student Don Cléophas gelangt auf der Flucht vor den Häschern einer Dame, die ihn nach einer Liebesnacht zur Heirat zwingen will, in die Kammer eines Astrologen und befreit dort den Teufel Asmodeé, den Teufel der Unzucht. Dieser verspricht ihm als Gegenleistung, er werde ihm „von allem unterrichten, was in der Welt vorgeht.“51 Einen Hinweis auf welchen Lebensbereich dieses Versprechen sich bezieht, trägt der Teufel gewissermaßen schon auf dem Leibe: Auf einem Mantel, der, wie es der Schild Achilles für dessen Taten leistet, eine Gesamtrepräsentation europäischer Unzucht liefert. Nach Nationalitäten geordnet ist dort zu sehen, wie der Nationalcharakter jeweils die Anbahnung von Ausschweifungen gestaltet. Nach diesem „Überblick“ über den Gegenstand der zu erwartenden Enthüllungen erfolgen nun diese selbst – und zwar vermittels eines Blicks von oben im wörtlichen Sinne: Der Teufel führt den Studenten im Flug auf den Turm von San Salvador. Von dort blicken die beiden nun hinab in die Stadt. Die Zaubermacht des Teufels entfernt dabei die Hindernisse, die diesem Blick im Wege stehen könnten:

49 Vgl.: Lynch 1965; vgl. auch: D. Gausmann, „‚Dämme brechende Flut‘ – Zur Ikonographie städtischer Räume in der Stadtplanung der fünfziger Jahre. Das Beispiel ErnstReuter-Platz in Berlin“, in: Graczyk 1996, S. 150. 50 Vgl. zu diesem Roman: Klotz 1987, S.22ff; Corbineau-Hoffmann 2003, S. 14ff. 51 Lesage 1954, S. 9.

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„Ich will euch alles zeigen, was in Madrid geschieht. Und da ich mit diesem Stadtteil hier beginnen möchte, könnte ich gar keinen geeigneteren Beobachtungsposten finden, als diesen hier. Ich werde mit Hilfe meiner Teufelsgewalt die Dächer von den Häusern heben: und trotz der nächtlichen Finsternis wird sich das Innere Euren Augen eröffnen.“52

Diese Maßnahme stellt aber für sich genommen noch keine nützliche Wahrnehmungsstrategie dar. Die einzelnen Wahrnehmungen im Überblickten müssen als solche verständlich werden – und dies geschieht durch Erklärungen bzw. Erzählungen, durch die der Teufel das Gesehene jeweils mit Sinn versieht. So wird er zu einer die Instanz eines allwissenden Erzählers verkörpernden Figur in der Rahmenhandlung der Erzählung selbst: „[…] diese verwirrende Vielfalt von Dingen, die ihr da mit solchem Vergnügen betrachtet, ist bestimmt ein lustiger Anblick; im Grunde ist es aber ein recht billiges Vergnügen. Ich aber will Euch dieses Bild nutzbar machen. Um Euch eine lückenlose Kenntnis vom Wesen des menschlichen Daseins zu vermitteln, will ich Euch erklären, was all die Leute tun, die Ihr da seht. Ich will euch die Beweggründe ihrer Handlungen verraten und Euch selbst ihre geheimsten Gedanken mitteilen.“53

Die entsprechenden Darlegungen des Teufels, die als Abfolge mehr oder weniger kurzer Novellen die Struktur der Erzählung bestimmen, wenden dabei drei Strategien an, um den jeweils am Anfang stehenden Einzeleindruck zu fixieren und verständlich werden zu lassen: die Isolierung der Einzeleindrücke in der schlaglichtartig beleuchteten Dunkelheit, die Typisierung der Figuren und ihre Einordnung in einen parzellierten Raum. Die beiden letzteren Elemente sind es, die die Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungsbedingungen der Großstadt bei Lesage in die Nähe späterer Produktionen rücken. Durch die Wahl der Nacht als erzählte Zeit umgeht Lesage zunächst einmal eine Problematik der Wahrnehmung, die sich am Tage ergeben müsste: Er wirft gewissermaßen begrenzte Lichter auf einzelne Figuren in der transparent gemachten Stadt. So erscheinen diese immer schon als isolierter Eindruck, ohne dass der Kontext der ganzen Stadt mit all den in ihr noch möglichen Eindrücken zu bewältigen wäre. Die Masse, in der ein Einzelner untergehen könnte – sei es die Masse der Häuser oder die der Menschen – erscheint nicht. Das Mittel der Typisierung ist zwar keineswegs spezifisch modern, es wird aber im Zusammenhang der in der Stadt sich auflösenden eindeutigen Lesbarkeit der den Typ etablierenden Zeichen besonders wichtig werden, gerade weil es sich als gefährdet darstellt. Ausgangspunkt der sich um die gesehenen Figuren rankenden Erzählungen des Teufels ist also zunächst einmal ihre Zuordnung zu einem gesellschaftli52 Ebd., S. 15f. 53 Ebd.

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chen Typ: Es handelt sich um den „geizigen Bürger“, „eine alternde Kokotte“, eine „hochwohlgeborene Frau“54 oder um ähnliche Kategorien, die den Gang der jeweiligen Geschichte vorgeben und das Individuum auf den Begriff bringen. Implizites Mittel weiterer Ordnung ist dabei die Gegensätzlichkeit dieser Typen: Indem diese Paare bilden, die in einem Aspekt Extreme verkörpern, erscheint die ganze Bandbreite möglichen Verhaltens gleichsam umgriffen und die Vielfältigkeit gemeistert.55 Das zweite Mittel, das dies ermöglicht, ist die Fixierung der Figuren in einem sie jeweils isolierenden Raum: in den Zellen des Irrenhauses und des Gefängnisses, den Gräbern des Friedhof oder schlicht in den Zimmern ihrer Häuser, in die der Teufel dem Studenten Einblick verschafft hat. Letzteres ist ganz allgemein das Prinzip, nach dem die meisten der betrachteten Typen räumlich fixiert werden. Zu Beginn der Erzählung macht Asmodeé Cleophas beispielsweise auf einen Dichter in seiner „Kammer“ aufmerksam: „‚Nun schaut aber dort nach rechts und versucht auf einem Dachboden einen Mann zu entdecken, der beim Schein einer schwachen Lampe im Nachthemd auf und ab geht.‘ ‚Ich sehe die Kammer so deutlich‘, sagte der Student, ‚dass ich die einzelnen Gegenstände aufzählen könnte, die darin stehen […]‘“56

Dieses Prinzip wird an drei Stellen noch weiter getrieben, an denen die Erzählung sich die architektonische „Abteilung“ von Individuen in Zellen zunutze macht, wie sie das Gefängnis, die Irrenanstalt oder der Friedhof vorgeben. Der ungehemmte Blick der Betrachter schreitet die einzelnen Zellen dabei gleichsam ab und erfasst ein Individuum nach dem anderen. Die Gegensätzlichkeit und Vielfältigkeit des Lebens, die wie gesagt auch an sich durch die Gegenüberstellung von Extremen bereits teilweise gebändigt erscheint, findet sich so in einer räumlichen Struktur aufgehoben und in eine klare Ordnung gebracht: „Zambrullo [Don Cleophas, M.R.] musterte mit neugierigen Blicken alle Zellen und nachdem er die Närrinnen und Narren betrachtet hatte, die darin untergebracht waren, sagte der Teufel: ‚Ihr seht hier Irre von jeglicher Art. Es gibt Männer wie Frauen, Junge wie Alte, Traurige wie Heitere. Ich will euch nun sagen, weshalb sie wahnsinnig geworden sind. Gehen wir von Zel57 le zu Zelle und fangen wir bei den Männern an.‘“

54 Ebd., S. 16ff. 55 So entspricht der „alternden Kokotte“ etwa eine jung erscheinende Frau, die diesen Eindruck nur durch verschiedene Hilfsmittel, wie einen falschen Busen erweckt. Vgl., S. 17. 56 Ebd., S. 20. 57 Ebd., S. 110.

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Beinahe könnte man an diesen Stellen von einem „Menschenmuseum“ sprechen, in dem das Ausgestellte fixiert, eingeordnet und kategorisiert ist. Im Falle der Gräber des Friedhofs kommt als weiterer Faktor die „Feststellung“ der Einzelnen durch den Tod hinzu. – Aber auch hier folgt die Reihe der Erzählungen der Durchmusterung der aufgereihten Parzellen: „Gehen wir alle Gräber durch, sie sollen uns enthüllen, was sie enthalten. Das erste Grab rechts birgt die traurigen Überreste eines Generals […]. Im zweiten liegt ein junger Mann aus sehr gutem Hause […]. Und im dritten liegt ein alter Prälat […]. Das Vierte Grab gehört einem Höfling […]. Das fünfte Grab enthält die sterblichen Überreste eines Edelmannes […]. Wenden wir und nun den Gräbern auf der anderen Seite zu.“58

Ganz unabhängig von der Frage, ob sich in dieser Ordnungsstrategie der Modellcharakter der in bestimmten Institutionen eingeübten „Disziplinen“ äußert, zeigt ihre Anwendung zur Bewältigung der großstädtischen Wahrnehmungssituation, dass sie eine Aufrüstung des Blicks darstellt, die auf diese Situation reagieren kann. Die Parzellierung gibt dem Blick einen Rahmen und erfüllt so einen Anspruch an Ordnung, der in der realen Wahrnehmung oft unerfüllt blieb. In Lesages Roman ergänzt diese Ordnung den Blick von oben. Sie fixiert die „verwirrende Vielfalt von Dingen“, die dieser zunächst im Ganzen umfasst, indem sie den Blick auf das Einzelne zum Blick durch einen – allerdings beweglichen, von einem Gegenstand zum nächsten wandernden – Rahmen macht. Der erzählerische Blick auf die einzelne Figur kann diese so immer schon im Ganzen einer im wahrsten Sinne überblickten Ordnung verstehen – er wird zum Blick nach unten. Dabei wird er zudem durchaus auf die typische Weise zum Blick auf das Selbst im Überblickten: Don Cleophas entsteigt zu Beginn der Rahmenhandlung selbst gleichsam einer der Geschichten, die später Ausdruck des Wissens um die einzelnen Figuren werden. Er steigt tatsächlich im wahrsten Sinne über die Dächer der Stadt hinauf, um von dort oben schließlich den Blick des Wissens zu erhalten. Am Ende der Geschichte kehrt er nach einem langen „todesähnlichen“59 Schlaf wieder in eine dieser Geschichten zurück: Er erhält eine Tochter aus gutem Hause zur Frau, weil Asmodeé diese zuvor in seiner Gestalt aus einem brennenden Haus gerettet hat. Stellt der Text in diesem Sinne durchaus ein Beispiel für Formen des modernen Bezugs zum anderen und zum Selbst dar, so verbindet er dies mit Elementen, die auf die Funktion des Überblicks zu Zeiten des Absolutismus verweisen – was gerade sein Interesse an dieser Stelle ausmachen könnte. Zunächst einmal macht sich Lesage den alten Topos der Führung zunutze. Diese Führung durch den Teufel vollzieht sich zudem fliegend – und greift damit den alten Blick der Versuchung 58 Ebd., S. 148. 59 Ebd., S. 272.

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auf, wie er sich z.B. in der Geschichte vom Doktor Faust äußert. Der Teufel Lesages erscheint aber nur noch als ein Zitat dieser Vorstellung. Die Bindung des Überblicks an ein göttliches Subjekt ist aufgehoben, sodass der kaum noch bedrohliche Teufel nunmehr als Verkörperung einer Erzählsituation fungieren kann, die kaum mit der Sünde der Hybris behaftet sein dürfte. Was sich im „hinkenden Teufel“ allerdings ungebrochener äußert, ist die Instanz, auf die das Privileg des Blicks von oben übergegangen war: diejenige des souveränen Blicks des einen Herrschers. Auch in der Führung dieses Herrschers in der Fiktion Garves, in der ein Engel den Prinzen in die Höhe bringt, um ihn das Ganze seines Herrschaftsbereiches sehen zu lassen, verkörpert die Figur des Führers einen bestimmten Anspruch an die Erkenntnismöglichkeiten des Souveräns. Sie bedeutet keine „realistische“ Auffassung religiöser Vorstellungen von himmlischen Wesen. Dennoch etabliert der Topos der Führung hier wie dort eine Blickposition, die nicht im oben beschriebenen Sinne „offen“ ist. Der Blick Don Cleophas’ ist wie der Blick des preußischen Prinzen souverän und singulär. Hierin ist er insofern keineswegs „modern“, auch wenn noch aufgezeigt werden wird, welche Entwicklungen im Laufe der Moderne dazu führten, dass sich die Offenheit des Überblicks mit einer Bindung an privilegierte Subjekte vereinbaren konnte. Der Ordnungsrahmen, den Lesage aufbaut, schließt darüber hinaus wie gesagt etwas aus, was später zu einem Problem wurde, auf das reagiert werden musste: die Masse. Das in seinen „inneren“ Einzelheiten nicht mehr zu erfassende Ganze der Stadt oder der Menschen in ihr erscheint gleichsam nur im Nebensatz als „verwirrende Vielfalt von Dingen“, die es sogleich in eine Ordnung zu bringen gilt. In dem Moment, in dem die Gefahr drängend wird, dass „das Individuum in der Masse untergeht“, werden zwar (wie an der Gefängnistheorie von Julius zu sehen war) genau solche Formen der Ordnung angewendet, wie sie Lesage erzählerisch umsetzt – es wird aber nötig werden, das Problem zu benennen, die Masse erscheinen zu lassen. Im Falle der Rezeption des „hinkenden Teufels“ ergab sich im 19. Jahrhundert ein Moment, in dem das Neue deutlich ausgedrückt wurde: 1831 erschien ein fünfbändiges Werk, das Auseinandersetzungen mit der Stadt Paris von verschiedensten Autoren versammelte. Sein Titel lautete in Anspielung auf die große Zahl von Autoren „Paris oder das Buch der Hundertundeinen“. Im Eingangskapitel setzt sich der Autor (Janin) mit der neuen Form der Aneignung der Stadt auseinander, indem er sich auf Lesages Asmodeé bezieht. Der Unterschied bestehe darin, dass dessen Beobachterposition nunmehr auf die Allgemeinheit übergegangen sei: „Asmodeé, das ist nicht mehr ein einzelner, Asmodeé ist jedermann.“60

60 Zitiert nach Stierle 1993, S. 235.

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Diesem Vorgang entspräche eben die multiperspektivische Beleuchtung des Gegenstandes, der im Zeitalter der Moderne ohnehin seine verborgene Wahrheit besser hinter unverbindlichen Oberflächen verberge.61 Letzteres hängt sicherlich auch mit Veränderungen zusammen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Kontrolle der äußeren Erscheinung der Menschen ergaben – mit den Zeichen also, die es einem Beobachter erlauben, ein Gegenüber einem Typ zuzuordnen. Das Mittel der am Theater orientierten Typisierung kann als solches sicherlich weder der Moderne noch früheren Zeiten zugeordnet werden. Bei Lesage orientiert es sich aber noch an den zeitgenössischen Typen, wie sie das Theater als pars pro toto gesellschaftlicher Kategorien einsetzte – im Kontext einer noch nicht gänzlich irritierten Lesbarkeit der entsprechenden Zeichen. Indem diese sich aber als Mangel einstellte, veränderte die Technik der Typisierung ihren Kontext und damit sich selbst. Der Blick auf das Einzelne als pars pro toto musste immer feinere Nuancen erfassen. Richard Sennet hat in seiner Untersuchung „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ Hinweise zusammengetragen, die etwas aussagen über die Art und Weise, wie sich dieser suchende und verstehende Blick auf den anderen im Laufe des 19. Jahrhunderts veränderte. Diese Entwicklungen sind es auch, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Lesages Konzept des Blicks nach unten und demjenigen späterer Autoren verständlich werden lassen können. Deutlich werden sie unter anderem an der jeweiligen Bedeutung des Theaters in seiner Beziehung zu den vorherrschenden Formen der Öffentlichkeit. Der Strategie der Typisierung folgend, wie sie u.a. Lesage noch anwandte, kann der Einzelne durch den ihn erfassenden und bestimmenden Blick einer bestimmten gesellschaftlichen Kategorie zugeordnet werden und dies wiederum ermöglicht die um ihn gerankte Erzählung. Also: das äußere Zeichen steht zunächst für die gesellschaftliche Kategorie und diese dient dann als Ausgangspunkt der Narration. Folgt man nun aber Sennet, so muss man sagen, dass sich dieses Verhältnis im Laufe des 19. Jahrhunderts in gewisser Hinsicht umkehrt: Das äußere Zeichen beginnt Hinweis auf die Persönlichkeit des anderen zu werden und diese wiederum kann – einmal durch das Lesen der Zeichen ergründet – zum Hinweis auf gesellschaftliche Zusammenhänge werden. Ob es sich hier tatsächlich um eine Umkehrung oder um eine Verschärfung des Problems handelt, sei dahingestellt. In jedem Fall beginnen die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Kategorien, auf die man im 18. Jahrhundert noch zurückgreifen konnte, so undurchschaubar zu werden, dass sie nicht mehr als ausreichend für das Verständnis des Individuums begriffen werden konnten. Dies galt besonders für den wirtschaftlichen Bereich, der einen großen Teil der öffentlichen Erfahrung der Bürger bestimmte. Dieser wurde von den in ihm sich

61 Vgl. ebd, S. 234.

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bewegenden Zeitgenossen als unverstanden und von unbekannten Triebkräften und dem Zufall regiert erlebt: „Die Geschäftsleute und Bürokraten des letzten Jahrhunderts hatten kaum das Gefühl, an einem geordneten System teilzuhaben. Da sie dieses System leiteten, neigen wir heute zu der Annahme, dass sie zumindest ihre eigene Funktion darin verstanden. Das stimmt keineswegs.“62

Dieses Unverständnis betraf also das System als Ganzes und die eigene Position in ihm. Folge hiervon war de facto und im Erleben der Menschen, dass die gesellschaftlichen Kategorien und die Zugehörigkeit zu ihnen, die natürlich mit der jeweiligen Stellung im Erwerbsleben zusammenhängen, in Bewegung gerieten und nicht mehr verlässlich waren – sie waren Produkte des Zufalls und konnten sich jederzeit ändern, ohne dass das eigene Verhalten oder andere Zusammenhänge als Begründung hätte verstanden werden können.63 Auch hier war eine Folge dieser undurchschaubaren Verhältnisse, dass der lesende Blick auf den anderen zu einer allgemeinen Erfahrung wurde – die bürgerliche Welt blieb also gewissermaßen nicht passives Objekt der Betrachtung durch den außerhalb ihrer platzierten Blick eines souveränen Herrscher- oder Künstlerblicks. Vielmehr reagierten die Menschen auf die alltägliche Erfahrung „gelesen“ zu werden mit einer Angst vor dem Setzen falscher Zeichen und damit mit dem Versuch, möglichst wenig von sich zu offenbaren. Da in der komplexer werdenden Gesellschaft jede Begegnung mit Unklarheit und Fremdheit einherging, musste man versuchen das Gegenüber anhand der Zeichen, die es setzte, zu verstehen. Diese Zeichen musste man nun aber als solche für die Persönlichkeit des Anderen auffassen, da die gesellschaftliche Kategorie, in die er fiel, nicht mehr ohne weiteres erkennbar war. Um nun aber nicht unwillkürlich und unreflektiert selbst Zeichen zu produzieren, die die Mitmenschen zu ungewollten Schlüssen führen würden, musste man zugleich möglichst unauffällig sein. Der Blick der Anderen wurde gleichsam zum steten Risiko. Der verstehende Blick musste sich an somit immer wichtiger werdenden Details, Nuancen festmachen, durch die die Erscheinung noch bedeutsam sein konnte. So wurde die äußere Erscheinung der Menschen gleichzeitig mit Bedeutung aufgeladen – mystifiziert – und in der Realität gleichförmiger. Besonders deutlich wurde dies im Bereich der Mode, die durch die industrielle Produktion, aber auch durch das Bedürfnis der Menschen, immer mehr standardisiert, aber – im Sinne des aufkommenden Warenfetischismus – auch immer mehr mit einem auf die Persönlichkeit des Trägers verweisenden Zeichencharakter versehen wurde:

62 Sennet, 2001, S. 182. 63 Vgl.: ebd., S. 181ff.

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„Im Bereich der Bekleidungsindustrie schritt die Mystifikation der äußeren Erscheinung mit sehr viel einfacheren Mitteln voran [als im Falle von Haushaltswaren, MR]; die billigsten maschinengefertigten Kleidungsstücke waren jene, die nur weniger Materialien bedurften und nach einigen wenigen Grundmustern geschnitten waren, so dass viele Leute in ihrem Erscheinungsbild einander stark ähnelten. Wer waren sie? Nach dem Aussehen ließ sich das jetzt nicht mehr entscheiden.“64

Um aber dennoch ein Verständnis des oder der Anderen imaginieren zu können, musste der Blick also schärfer werden. Für Lesage lagen die Zeichen der gesellschaftlichen Position gewissermaßen noch offen da, auch wenn es einer besonderen Wahrnehmungstechnik bedurfte, sie zu erkennen und zu ordnen. Laut Sennet war nun das Theater jene Institution, die ein Gegenbild zu diesen Zuständen entwerfen konnte, die Fiktion einer Welt, in der der Einzelne noch zweifelsfrei auf Grund seiner Erscheinung verstanden werden konnte: „Im Zuschauerraum des Theaters saßen Männer und Frauen, die so gekleidet waren, dass man sie mit einem Blick nicht ‚durchschauen‘ konnte. Und doch waren diese Menschen überzeugt, dass Kleidung ein intimes Wissen offenbare. Im Theater nun suchten sie eine Welt, in der man sicher sein konnte, die Gestalten als das zu sehen, was sie waren. Eine Täuschung, eine falsche Schlußfolgerung konnte es hier nicht geben. Auf dem Theater schirmte sich das Leben, anders als auf der Straße nicht ab; es erschien als das, was es war.[…] Die Gesellschaft war auf die Kunst geradezu angewiesen, um der Mystifikation ein Ende zu setzen, um eine Wahrheit zu artikulieren, zu der die Menschen anders nur auf dem Weg über oft irrtümliche Schlußfolgerungen aus miniaturisierten Indizien gelangen konnten.“65

64 Ebd., S. 191. 65 Ebd., S. 227f.

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Abbildung 17: Robert Genouette, Über den Dächern von Paris.

Kunsthalle Bremen, 1885. Foto: Lars Lohrisch. Diese Entwicklung führte auch dazu, dass in der Öffentlichkeit stehende Menschen wie Schauspieler und Politiker zunehmend als Persönlichkeiten wahrgenommen wurden, als solche allerdings, die im Gegensatz zu den Menschen auf der Straße ihrer Persönlichkeit kontrolliert Ausdruck verleihen konnten, die gerade dafür bewundert wurden und die so die Sehnsucht der passiv ihrem Auftritt Beiwohnenden verkörperten.66 Diese Funktion der öffentlichen Persönlichkeit konnte sich mit der Vorstellung der Macht, der Fähigkeit, das für den einzelnen Beobachter Undurchschaubare kontrollieren zu können, verbinden – ein Zug, der im 20. Jahrhundert zur

66 Vgl.: ebd., S. 254-272.

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Imagination der Kontrollierbarkeit der Gesellschaft im Phänomenen des Führerkults entwickelt wird. Auf den Bühnen der Politik und des Theaters standen also zunehmend lesbare und verständliche öffentliche Persönlichkeiten einer gleichförmigen, unleserlichen Masse gegenüber. Dies wird durchaus auch Folgen für das Verhältnis der drei Konzepte des Blicks haben: Sowohl der Blick von oben als auch der nach unten werden besonders in vielen Erscheinungsformen des frühen 20. Jahrhunderts für den Einzelnen nur noch durch eine Identifikation mit dem Blick einer solchen machtvollen, im wahrsten Sinne des Wortes über der Masse stehenden Persönlichkeit zu haben sein. Wie sich die auf verschiedene Weise beschriebenen Phänomene der Moderne in Texten, Bildern oder anderen Phänomenen wie z.B. der Weltausstellung äußerten, soll im Folgenden noch eingehender betrachtet werden. Die Wahrnehmung seiner selbst als in bestimmte gesellschaftliche Rollen gespalten, die Abstraktion der Raumwahrnehmung, der sich schärfende Blick in (und über) der Stadt und die disziplinarischen Forderungen an einen Zustand der Ordnung haben sich in ganz verschiedene Produkte eingeschrieben. Insofern sie dabei Formen des Überblicks Funktionen gaben, werden einige davon untersucht werden, nachdem auch die aufklärerische und moderne Verbindung der Macht zu solchen Formen weiter beschrieben wurde. Um zunächst aber das bisher Gesagte zusammenzufassen, sollte ein Blick auf ein Bild geworfen werden, das in gewisser Weise genau dies ist: eine Zusammenfassung der modernen Formen der Selbstverortung im überblickten Ganzen einer aus dem Unten gesehen unübersichtlichen Umgebung: Die Radierung „Über den Dächern von Paris“ von Robert Genouette (Abbildung 17).67 Das Bild zeigt eine Dame, der sich von einer Terrasse auf dem Montmartre aus der Blick von oben über Paris eröffnet. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein Stadtplan: Mittel der Erfassung des abstrakten Raumnetzes, das die Stadt zu einem übersichtlichen Ganzen werden lässt. Das Fernglas auf diesem Plan schafft die Verbindung zwischen der Abstraktion und dem konkreten Blick von oben. Es ermöglicht einen wechselseitigen Verweis und zudem einen Blick hinab auf das Einzelne im überblickten Ganzen. – Es ermöglicht den Blick nach unten. Der Hinweis auf die Wahrnehmungsbedingungen in der Stadt – auf den verstehenden Blick, auf das Sehen und Gesehenwerden im Verhältnis zu den Anderen – ist nicht so offensichtlich. Bei dem Fernglas handelt es sich um ein Opernglas, zudem um eines, in dessen Verlängerung ein besonderes Gebäude aus dem Dächermeer der unten liegenden Stadt hervorragt: die neue Pariser Oper (sie wurde 1875, zehn Jahre vor Genouettes Zeichnung fertig gestellt). Auf diese Weise ist auch die Institution, der Wahrnehmungsrahmen anwesend, in dem der Blick sich in seiner das Wesen und die Bestimmung des Anderen (und des Selbst) erfassenden Schärfe einüben konnte. Das Bild enthält ein regel67 Vgl. dazu: Döring 2002, S. 42.

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rechtes Programm der Begreifbarmachung der großstädtischen Lebenswelt, in dem auch verschiedene Medien ihre Rolle spielen: die Kartografie, das Panorama bzw. der entsprechende Überblick und das Theater bzw. die Oper. Dass der so erhaltene Blick des Wissens kein privilegierter Blick eines bestimmten Subjektes mehr ist, wird auch hier deutlich: Er eröffnet sich dem Betrachter und ist im Bild einer Dame zugeordnet. Wie die Überwachung im Wahrnehmungsrahmen des modernen Gefängnisses auch von der Frau des Aufsehers übernommen werden kann, weil die Position des Überblicks abstrakt und „offen“ ist, kann auch hier ein weibliches Subjekt auf der Position des verstehenden und kognitiv bewältigenden Blickes erscheinen. Dieser Blick ist für alle, weil alle dem Mangel und den Ansprüchen ausgesetzt sind, die er als behoben erscheinen lässt. Die Macht, die dieser Blick auch weiterhin ausdrückt, ist somit in gewisser Hinsicht eine verallgemeinerte, abstrahierte Macht. Wie sich dies seit der Aufklärung äußerte und begründete und wie es immer wieder dennoch zur Aufrichtung privilegierter Subjekte des Macht-Wissens und damit des Macht-Blicks kam, wird nun zu betrachten sein.

S ICH ÜBERBLICKENDE M ÄCHTE : B LICKE DER M ACHT IM 19. J AHRHUNDERT Bei dem Unterfangen, die Funktion des Überblicks als Ausdruck von Macht unter den veränderten Bedingungen der Aufklärung und der Moderne weiter und konkreter zu reflektieren, erscheint eine Eingrenzung des Gegenstandes sinnvoll. In besonderer Weise bietet sich hier zunächst eine Untersuchung der entsprechenden Phänomene in der Schweiz an. Der Funktionswandel des Überblicks erfährt dort seit Mitte des 18. Jahrhunderts interessante Neuerungen sowohl auf der Ebene der Funktion als auch auf derjenigen der in Frage stehenden Medien. Gerade vor dem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund der Entstehung des demokratischen schweizerischen Nationalstaates offenbaren diese zudem ihre Verbindungen zum Konzept der Macht sehr deutlich. Eine zweite Eingrenzung wird schließlich diejenige auf die Wahrnehmungsverhältnisse im ersten Weltkrieg sein, bei denen die Verknüpfung des Überblicks mit neu gestalteten Wahrnehmungsprivilegien sehr wichtig wird. Diese neue Gestaltung des Überblicks und seiner Zuordnung zu Subjekten drückt sich auch in späteren Nutzbarmachungen des Überblicks aus, wie sie vor allem (aber nicht nur) totalitäre politische Systeme hervorbrachten. Die Betrachtung des Zusammenhangs des Überblicks mit der Repräsentation von Machtverhältnissen wird sich also zwischen diesen beiden Polen des demokratischbürgerlichen Überblicks und des im modernen Krieg hervortretenden modernen Überblicks der Macht bewegen. Beide Konzepte unterscheiden sich – sie stellen aber wohl keine unmittelbar entgegengesetzten Funktionsgebungen des Überblicks

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dar, wie man dies vielleicht vom Überblick des absolutistischen Herrschers und dem demokratisch-bürgerlichen Überblick sagen könnte. Entwicklungen, die sich teilweise bereits in den Niederlanden des „Goldenen Zeitalters“ ergeben hatten, prägten auch die Schweiz seit Ende des 18. Jahrhunderts nachhaltig. Gerade wegen ihrer gebirgigen Natur und einer großen politischen und kulturell-sprachlichen Heterogenität konnten sich hier Formen der Repräsentation politischer Einheit ausprägen, die sich auch den Überblick zunutze machten. Was in der Schweiz der Aufklärung entwickelt wurde, war eine Form des nationalistischen Überblicks, der auch auf dem Gebiet der Macht den Blick von oben von seiner Bindung an ein bestimmtes souveränes Subjekt löste, um so in der Lage zu sein, jedem beliebigen Subjekt einen metaphorisch erzeugten Eindruck von Souveränität zu verschaffen. Zunächst einmal wurde die Gebirgswelt gegen Ende des 18. Jahrhunderts aber zum Betätigungsfeld einer aufklärerischen Allianz zwischen der wissenschaftlichen und künstlerischen Aneignung der Natur. Die unzugängliche Alpenwelt wurde zum Prüfstein einer mathematisch-naturwissenschaftlichen Erfassung und Beherrschung, die auch in der bildenden Kunst ihren Niederschlag und Ausdruck fand. Beides – die Produktion von Bildern und von z.B. geologischen Beschreibungen – vollzog sich dabei auf Kunst- oder Forschungsreisen, die nun nicht die Zentren der Kultur, mithin die Städte, zum Ziel hatten, sondern eben die Natur. So wurde die Schweiz vom Transitland zum Ziel dieser Reisen. Bis ins späte 18. Jahrhundert hinein finden sich in den Berichten über Reisen ins Gebirge nur selten Schilderungen der Hochgebirgsnatur. Auch Reisenden, die sich tatsächlich dort aufgehalten hatten, fehlten die sprachlichen Mittel und das Interesse, um überhaupt über diesen Raum zu schreiben. Was allerdings seit dem späten 18. Jahrhundert immer häufiger in Erscheinung tritt, ist der Blick herab von den Bergen. Diese wurden bereits als Aussichtspunkte verwendet, bevor die Natur des Hochgebirges als solche mit Bedeutung aufgeladen und beschreibbar geworden war.68 Der Beginn des Alpinismus – wenn man überhaupt von einem solchen sprechen möchte – war also zunächst in erster Linie ein „Aussichtsalpinismus“. Besonders der St. Gotthardpass erhielt häufig diese Funktion. Aber auch als im Laufe des 18. Jahrhunderts die Erforschung der Alpenwelt für sich genommen wichtig wurde, erhielten Mittel des Überblicks in diesem Kontext Funktionen, die eine Verbindung von Kunst und Wissenschaft herstellten. Diese Produkte bekamen in der Schweiz aber auch eine metaphorischpolitische Bedeutung. Ein besonders wirkungsmächtiges Medium war in diesem Zusammenhang die Kartografie, die in der Schweiz schließlich weltweit nachhaltige Entwicklungen erlebte, an denen im Zusammenhang einer Geschichte des Überblicks nicht vorbeigegangen werden kann. Der Überblick als Mittel der Repräsenta68 Vgl. Gugerli, Speich 2002, S. 214ff.

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tion von Einheiten erschien aber auch vorher schon in verschiedenen anderen Medien. Zunächst einmal waren es Frühformen des Panoramas, die halfen die unübersichtliche Bergwelt als zusammenhängendes Ganzes zu betrachten. Dies wurde nicht nur im topografischen Sinne nutzbar, es war z.B. auch Bedingung einer geologischen Beschreibung des Gebirges. Der erste Wissenschaftler, der letzteres versuchte, war Horace-Bénédict de Saussure (1740-1799), der in diesem Zusammenhang auch den Montblanc bestieg. Für ihn, wie für andere Pioniere der Naturwissenschaften zur Zeit der Aufklärung, wurden Momente und Medien des Blicks von oben wichtige Hilfsmittel: „Die authentische Erfahrung des Überblicks brachte für die Wissensgebiete Topografie und Geologie entscheidende neue Einsichten. So war Saussure durch die Gipfelbesteigung des Montblanc überhaupt erst imstande, bestimmte geologische Strukturen der umliegenden Gebirgszüge klar zu erkennen, welche vorher nur spekulativ umrissen werden konnten: ‚Was ich […] mit der größten Klarheit sahe, war das Ganze aller dieser hohen Gipfel, wovon ich den Bau schon lange zu kennen wünschte. ‘“69

Zunächst einmal erhielt der Überblick also die Funktion einen unbekannten und zuvor auch weitestgehend unbeachteten Naturraum in seiner Differenziertheit als Einheit beschreiben zu können. Diesem wissenschaftlichen Blick trat früh ein gewissermaßen touristischer Blick zur Seite, der die Bergwelt in ihren ästhetischen Eigenschaften – als Landschaft – erfuhr und zunehmend eben auch erwanderte.70 Beide Konzepte bzw. Funktionsgebungen ergänzten sich, sie konnten aber auch gegeneinander ausgespielt werden. Besonders unter den schweizerischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts wurde der Alpinismus im Gegensatz zur „englischen“ touristisch-ästhetischen Auffassung als nationale wissenschaftliche Aufgabe aufgefasst, die sich u.a. in einer bestätigenden Rückkopplung zwischen der Bewegung in der Bergwelt und deren Repräsentation z.B. in der Kartografie äußern sollte.71 Der Typus des frühen Touristen, der seine Eroberung der (Berg-)Welt in einem auf den Gipfeln erreichten Überblick ausdrückt, begegnet z.B. bereits in den Aufzeichnungen Goethes über seinen zweiten Aufenthalt in den Alpen im Jahre 1779. Er berichtet dort von der oberhalb von Chamonix gelegenen Hütte eines Engländers namens Blaire, „wo man am Feuer sitzend zu einem Fenster hinaus das ganze Eistal übersehen kann.“72

69 Keller 2002, S. 30; zitiert wird aus: Saussure 1788, S. 14. 70 Vgl.: M. Wagner, Das Gletschererlebnis – visuelle Naturaneignung im frühen Tourismus, in: Großklaus, Oldemeier (Hgg.) 1983. 71 Vgl.: Gugerli, Speich 2002, S. 177. 72 Goethe 1977, S. 27.

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Gerahmt durch das Fenster dieser Hütte eröffnet sich dem Touristen-Subjekt so ein Überblick, der es unabhängig von bestimmten religiösen oder politischen Machtprivilegien als Inhaber eines Blicks des Wissens und der Macht über die Natur einsetzt – im Sinne eines „bürgerlichen Überblicks“ als durchaus austauschbaren Inhaber. Der „Seh-Punkt“73 den die Hütte Blairs im Wesentlichen darstellt, erscheint als prinzipiell offen, als nicht mehr von konkreten sich über ein Blickprivileg ausdrückenden Machtprivilegien betroffen. Natürlich wurde es vor diesem Hintergrund wünschenswert, die entsprechenden Überblicke medial zu repräsentieren – sei es zu wissenschaftlichen Zwecken oder um sie auch allgemein Menschen medial zugänglich zu machen, die sie real nicht haben konnten. Ermöglicht wurde dies nun auch in neuen Formen, z.B. durch Zirkularansichten, die eine Folge von Einzelperspektiven zu einer Rundumsicht vereinigten oder auch durch dreidimensionale Modelle der Bergwelt, die nun typischerweise an die Seite der älteren Stadtmodelle traten. Die Zirkularansichten konstruierten ihren Überblick von einem bestimmten (Aussichts-)Punkt aus, so als drehe sich der Betrachter auf diesem Punkt im Kreis. Zwar ermöglichten sie nicht – im Sinne des eigentlichen Panoramas – diesen sich um sich selbst drehenden Blick auch im Lesen der Repräsentation körperlich nachzuvollziehen (sie waren für den Druck bestimmt), dennoch hoben sie aber die seitliche Begrenzung des Rahmens auf und erfassten ein nur noch durch den Horizont begrenztes Ganzes. Ihren Ursprung hatte diese Darstellungsform also einerseits in der wissenschaftlichen Aneignung der Bergwelt. – Andererseits wurden entsprechende alpine Sujets auch zu den beliebtesten Gegenständen der ab Ende des 18. Jahrhunderts populären Großpanoramen, die der bürgerlichen Öffentlichkeit das Vergnügen einer ÜberblicksIllusion auch in den Großstädten des Kontinents ermöglichten.74 Besonders deutlich wird die Verbindung zwischen Medien des Überblicks, die die Bergwelt zum Inhalt hatten, und den in ihnen sich ausdrückenden politischen Machtverhältnissen vielleicht am Beispiel des seinerzeit berühmten „Relief(s) der Urschweiz“ des ehemaligen Luzerner Generals Franz Ludwig Pfyffer von Wyher (1716-1802).75 Dieses großformatige Relief war eine bekannte touristische Attraktion Luzerns. Auch Louis-Sébastien Mercier besuchte es 1785. Angesichts des 25qm großen Modells wurde ihm die nun als Einheit wahrnehmbare Bergwelt zu einem Ort der durch die räumlichen Verhältnisse verbürgten Freiheit. Anders als im Falle von Paris erwandert er sich diese Auffassung der Bergwelt aber nicht. Der großstädtische Flaneur verfügt noch nicht über die Ordnungs- und Wahrnehmungs73 Götz Großklaus, Der Naturraum des Kultusbürgers, in: Großklaus u. Oldemeyer 1983, S. 183. Vgl. hierzu auch. S. 178ff. 74 Vgl.: Stephan Oettermann, Berge weiten den Blick, in: Stephan Kunz (Hg.) 1997, S. 49f. 75 Es wurde 1762-1786 fertiggestellt. Vgl. dazu: Andreas Bürgi, Höhenflüge, in: Kunz 1997, S. 33ff.

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techniken, die ihn die Unübersichtlichkeit der Bergwelt unvermittelt bewältigen lassen. Er nutzt entsprechend das kartografische Medium, um auf zeittypische Weise die Höhe der Berge als Gegenwelt zu den von ihm so facettenreich gespiegelten Niederungen der Großstadt aufzubauen. Auf diese Weise vermeidet er zudem von vornherein enttäuschende Konfrontationen der ideologischen Nutzbarmachung der Bergwelt mit Wahrnehmungen vor Ort.76 In dieser Verbindung der Höhe mit Ideen der bürgerlichen Emanzipation liegt auch eine Funktionszuschreibung in Bezug auf den Überblick: Der Blick von oben als von Privilegien befreite Möglichkeit auf politische Macht bezogene Einheiten darstellbar zu machen, wurde zum wichtigen Ausdrucksmittel. Dies galt umso mehr, als er es ermöglichte, solche Einheiten erscheinen zu lassen, ohne sie im Sinne des Absolutismus in der Person eines Herrschersubjektes zu verkörpern. Einheit ohne Verkörperung zu schaffen wurde zu einer wichtigen Funktion des geöffneten, in seiner Zuordnung zu Subjekten abstrakten Überblicks. Andreas Bürgi stellt in diesem Zusammenhang entsprechend die rhetorische Frage, ob „daraus geschlossen werden [kann], dass Freiheit und Überblick etwas miteinander zu tun haben“. Er beantwortet sie durch einen Hinweis auf den Zusammenhang des Überblicks, wie ihn das Relief oder auch die später unternommenen ersten Ballonflüge über der Schweiz77 ermöglichten, zum Komplex der Macht: „Aufschluss gibt die Bemerkung eines anderen Besuchers, des Zürcher Geografieprofessors Leonard Meister. Wie Zeus fühle man sich, wenn man sich über diese Landschaftsdarstellung beuge und sie á vue d’oiseau mit dem Vergrößerungsglas betrachte, schrieb er. So erhalte man die Illusion, vom Olymp auf die Erdgebirge hinunterzublicken. […] Über dem Relief wie im Ballon hatte der von der Erdenschwere losgelöste Blick sein Ausgeliefertsein an die verwirrenden topografischen Verhältnisse überwunden. Der Abstand erhob ihn zu einem göttlichen, wie wenn der Mensch sich diesen Standpunkt nicht zutrauen würde. Diese Scheu kann auch so verstanden werden, dass die vue d’oiseau nicht als unschuldiger Vogelblick empfunden wurde, sondern als im Kontext von Macht und Herrschaft stehend.“78

Der Blick von oben und der in der Betrachtung mit dem Vergrößerungsglas sinnfällig umgesetzte Blick nach unten werden hier in eine Nähe zu einem antiken Götterblick gerückt – nicht, um im Sinne der Renaissance vor menschlicher Hybris zu warnen, sondern vielmehr, um einen allzu deutlich sich aussprechenden menschlichen Machtanspruch durch Hinweis auf gleichsam nicht mehr gültige göttliche 76 Vgl. Kunz 1997, S. 33. 77 Der europaweit bekannte Ballonpionier Eduard Spelterini transportierte 1882 zum ersten Mal Passagiere über der Schweiz. Aber auch Pfyffer von Wyher hatte bereits einen solchen Flug in Lyon geplant, der aber nicht zustande kam. Vgl.: ebd.. 78 Ebd., S. 34.

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Verhältnisse zu verbrämen. In der Einnahme einer olympischen Perspektive liegt kein Konflikt mit religiösen Forderungen mehr. Auch öffnet das Medium jedem die Möglichkeit dieser Identifikation – dieser Olymp ist eine touristische Attraktion ohne konkrete Bindung an ein privilegiertes Subjekt. Gerade in letzterem musste aber die politische Brisanz eines solchen geöffneten Blicks der Selbstbestimmung und der Macht liegen, solange die tatsächlichen politischen Verhältnisse Privilegien des Wissens und der Macht voraussetzten. Der Hinweis auf das Göttliche der Blicke von oben und nach unten hat hier eben nur noch die Funktion, solche konkreten Verweise zu überspielen. Ein früher und wichtiger Text, der diesen Zusammenhang des Überblicks mit der Macht ausdrückt – ganz ohne solche Verbrämungen – sind sicherlich Albrecht von Hallers „Alpen“. Von einer schweizerischen Nation und einem einheitlichen Staat kann im eigentlichen Sinne frühestens seit der Besetzung des Landes durch französische Revolutionstruppen und die dadurch hervorgerufene Gründung der Helvetischen Republik (1798-1803) die Rede sein. Schon vorher ergaben sich aber in der zersplitterten und von verschiedenen, teils republikanischen, teils feudalistischen, teils monarchistischen Herrschaftsformen geprägten Eidgenossenschaft Entwicklungen, die auf eine Einheit der Schweiz und ihrer Bevölkerung auf Grundlage der Volkssouveränität aus waren. Wortführer dieser Entwicklung waren bürgerliche Gelehrte – unter anderen eben Haller – und die Mittel, die sie anwandten, waren solche der Identifikation der schweizerischen „Nation“ mit der sie umgebenden Gebirgslandschaft und mit den Tugenden der durch diese Landschaft geprägten, natürlich lebenden und von Natur aus freien Bevölkerung.79 Um die Verquickung der Identifikation des Volkes mit der „natürlichen“ Bevölkerung mit dem Überblick über das Land aufzuzeigen, ist vielleicht schon hier ein Vorgriff auf die Darstellung dieses Zusammenhangs im Medium der modernen schweizerischen Kartografie angebracht, von der weiter unten noch ausführlicher zu reden sein wird. So kann der Entwicklungsrahmen abgesteckt werden, der mit den Bestrebungen der Aufklärer einsetzt, die Einheit abstrakter politischer Zusammenhänge konkret erfahrbar zu machen: Auf der schweizerischen Landesausstellung von 1883 wurde den Besuchern der Abteilung Moderne Kunst der Anblick einer Marmorstatue eines Hirtenknaben geboten, der auf eine Karte der Schweiz blickt. Bei dieser Karte handelte es sich um eine retuschierte Ausgabe der „Dufour-Karte“, die durch den ganz neuartigen Reliefeffekt den Eindruck eines konkreten Überblicks erweckte (Abbildung 18). Benannt wurde diese erste zusammenhängende kartographische Gesamtdarstellung der Schweiz nach dem General Guillaume-Henri Dufour, dem Vorsitzenden einer Kommission, die seit 1832 damit beauftragt war, Vermessungen durchzuführen, die 79 Vgl.: C. Guggenbühl, „Biedermänner und Musterbürger im ‚Mutterland der Weltfreyheit‘ – Konzepte der Nation in der helvetischen Republick“, in: Altermatt, Bosshart-Pfluger, Tanner 1998, S. 34f.

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Ergebnisse früherer Vermessungen zusammenzutragen, diese zu vereinheitlichen und in eine Karte der Schweiz umzusetzen.80 Schon die Entscheidung, ein solches überaus aufwändiges und teures Unterfangen zu beginnen, war unter anderem durch den Wunsch motiviert, eine dem bürgerlichen Nationalismus der Zeit angemessene Darstellungsform nationaler Einheit zu erhalten, welche die Heterogenität und Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit in der Einheitlichkeit des Mediums verschwinden ließ. Diese Darstellungsform ermöglichte es zugleich die den Raum in eine abstrakte, rationale Form überführende Vermessung zur Metapher einer überschaubaren und verständlichen Einheit werden zu lassen. Besonders der heute für viele kartographische Produkte selbstverständliche Reliefeffekt, eine wegweisende Entwicklung der schweizerischen Kartographie jener Zeit, wurde dabei als eine Errungenschaft betrachtet, die beeindruckende Anschaulichkeit mit abstrakter Präzision verband. Werner Oeder zitiert in diesem Zusammenhang eine zeitgenössische Rezension der Ausstellung: „Das ausgestellte Exemplar, auf welches das Portrait des Generals Dufour herabschaut, gewährt einen überraschend großartigen Überblick über die Schweiz, welche nicht allein im Alpengebiete, sondern auch im langgestreckten Jura vollständig reliefartig hervortritt. […] Wess’ Schweizers Brust wird nicht mit gerechtem Stolz erfüllt, wenn er die zu vertheidigende Landesherrlichkeit in der grossartigen, unübertrefflichen Dufourkarte auf dem Ehrenplatz visá-vis des Hauptportales im Industriegebäude repräsentirt sieht und mit einem Blick umfasst? Dies Ausstellungsobjekt ist die Perle der ganzen Ausstellung, es stellt in würdigster Weise die politische Einheit der Schweiz dar.“81

Indem nun 1883 dieses Medium des Überblicks mit der Darstellung des für das schweizerische Volk stehenden Hirtenknabens verbunden wurde, setzte sich eine Tradition fort, die bereits in der Dichtung Hallers ihren Anfang nimmt, die ihre Wurzeln im Zeitalter der Aufklärung hat. Besonders deutlich wird dies an den „Alpen“ (1729), seinem sicherlich bekanntesten Gedicht. Dieser Text verbindet drei in diesem Zusammenhang interessante Elemente: den Blick von oben – vom Berg – als Möglichkeit, die auf abstrakte Zusammenhänge bezogene Einheit anschaulich zu machen, die Verklärung der „natürlichen“ Bergbevölkerung als mit dem überblickten Raum verwachsenes Volk und die Ablehnung des monarchistischen, nicht auf Volkssouveränität beruhenden Staates. Anders gewendet enthält er also die auch im Überblick sich ausdrückende Utopie eines mit einem Territorium identifi80 Vgl.: D. Gugerli, „Kartographie und Bundesstaat – Zur Lesbarkeit der Nation im 19. Jahrhundert“, in: Ernst, Tanner , Weishaupt 1998, S. 199ff. 81 „Die Landesausstellung in militärischer Beziehung“, in: „Allgemeine Schweizerische Militär-Zeitung“, 1883, S. 280. Zitiert in: W. Oeder, „Zwischen Manier und Manie – militärische Dispositionen des Reliefeffekts“, in: Gugerli 1999.

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zierten Volkes unter einer bestimmten politisch-gesellschaftlichen Ordnung – eine nationalistische Utopie mithin. Zudem markiert Hallers Umgang mit dem Überblick den Übergang zur endgültigen Säkularisierung dieser Form: Die Möglichkeit der simultanen Erfassung des Ganzen ist schon angelegt, ruft aber noch Abwehr hervor. Es ist ein an die Fixierung des Nahen im Unten gewöhnter Blick, der hier in die Höhe gehoben wird. Das Wechselspiel von Überschau und Aufsuchen des Einzelnen im Überblickten, welches der Blick nach unten ermöglicht, bereitet noch Schwierigkeiten. Andererseits gibt es im Umgang mit diesen Herausforderungen der Darstellung und Verarbeitung keinen Hinweis mehr auf religiös begründete grundsätzliche Widerstände dem Überblick gegenüber. Hallers Gedicht lebt vor allem von einem Gegensatz: demjenigen zwischen „der Städte Rauch“82 und der im Einklang mit der Natur und damit der Vernunft lebenden Bergbevölkerung. Letztere lebt gesund und ist, ohne von Besitzgier ergriffen zu sein, im natürlichen Sinne tätig, also zum Selbsterhalt. In den Städten lebt die vom Handelskapitalismus geprägte Bevölkerung, die Besitz um des Besitzes willen anhäuft und damit unnatürlich lebt: „Verblendete Sterbliche! Die, bis zum nahen Grabe, / Geiz, Ehr und Wollust stets an eitlen Hamen hält, / Die ihr der kurzen Zeit genau gezählte Gabe / Mit immer neuer Sorg und leerer Müh vergällt, / Die ihr das stille Glück des Mittelstands verschmähet / Und mehr vom Schicksal heischt als die Natur von euch, / Die ihr zur Notdurft macht, worum nur Torheit flehet: / O glaubts, kein Stern macht froh, kein Schmuck von Perlen reich! / Seht ein verachtet Volk zur Müh und Armut lachen, / Die mäßige Natur allein kann glücklich machen.“83

Das „Volk“ in den Bergen wird nicht nur als natürlicher und glücklicher lebend gekennzeichnet, sondern auch als das eigentliche Volk der schweizerischen Heimat, das mit dieser untrennbar verbunden und nicht durch schädliche, äußere Einflüsse verdorben ist: „In ihren Adern fließt ein unverfälscht Geblüte / Darin kein erblich Gift von siechen Vätern schleicht, / Das Kummer nicht vergällt, kein fremder Wein befeuert, / Kein geiles Eiter fäult, kein welscher Koch versäuert.“84

Indem dieses Volk im Sinne der Natur lebt, lebt es zudem frei – ohne durch Herren oder Herrscher unterdrückt zu sein – und somit wiederum im Gegensatz zu den Zuständen vor allem im absolutistisch verfassten „Welschland“.85 Haller lässt einen 82 Haller, „Die Alpen“, Vers 162. 83 Ebd.: V. 441-450. 84 Ebd.: V. 167-170. 85 Vgl.: ebd. V. 291-300.

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alten Greis sein Wissen über die Geschichte der Befreiung des Landes weitergeben und darüber, „wie Tell mit kühnem Mut das harte Joch zertreten“.86 Indem der Volksheld Wilhelm Tell hier als Held der Bergbevölkerung auftritt, wird diese zum eigentlichen Volk und in ihrer Verbindung zu Territorium und politischer Verfassung zur in der Geschichte gleichsam immer schon vorgesehenen Nation. Der Bereich, der diesen auch an räumliche Zusammenhänge gebundenen Gegensatz enthält, wird schließlich vom Gotthard herab überblickt: „Wenn Titans erster Strahl der Gipfel Schnee vergüldet / Und sein verklärter Blick die Nebel unterdrückt, / So wird, was die Natur am prächtigsten gebildet, / Mit immer neuer Lust von einem Berg erblickt; / Durch den zerfahrnen Dunst von einer dünnen Wolke / Eröffnet sich zugleich der Schauplatz einer Welt, / Ein weiter Aufenthalt von mehr als einem Volke / zeigt alles auf einmal, was sein Bezirk enthält; / Ein sanfter Schwindel schließt die allzu schwachen Augen, / Die den zu breiten Kreis nicht durchzustrahlen taugen. / Ein angenehm Gemisch von Bergen, Fels und Seen / Fällt nach und nach erbleicht, doch deutlich ins Gesicht.“87

Der Überblick wird einerseits als lustvoll, andererseits aber als den Menschen überfordernd erlebt. Es ist aber zu bemerken, dass sich dieser Schwindel nur auf den Überblick im Sinne des Blicks von oben bezieht: Er tritt auf, wenn das als Ganzes Überblickte, jener „Schauplatz einer Welt“, „auf einmal“ erfasst werden soll. Das Überblickte verweist auf die Unendlichkeit der Welt jenseits des Horizontes, es kann nicht als Ganzes fixiert werden. Dieses Problem löst sich aber schnell: Der Blick beginnt in einer Abfolge das Einzelne im Überblickten zu fixieren, „nach und nach“ fällt es „ins Gesicht“. Hier findet sich also eine charakteristische Bewegung: Zunächst wird das Ganze von oben überblickt, dann fixiert der Blick das Einzelne im Überblickten – man blickt nach unten. Der fixierende Blick im Unten wurde in eine Höhe versetzt, die ihn mit einem Blick von oben in Beziehung setzen kann. – Auch wenn dieser als solcher noch Schwindel hervorruft, hat er eine Funktion, dient er der Kontextualisierung des fixierten Einzelnen. In den „Alpen“ bereitet sich also in einer Hinsicht bereits die Verquickung der drei Perspektiven im Unten, von oben und nach unten vor, die für die Moderne typisch ist. Darüber hinaus tritt die zuvor wichtige Konfrontation mit dem göttlichen Blick bei Haller in den Hintergrund und macht gewissermaßen rein technischen Schwierigkeiten bei der Verarbeitung des Anblicks Platz. Koschorke schreibt dazu: „Das rhythmisch beschleunigte ‚alles auf einmal‘ ruft ein Schwindelgefühl hervor, Zeichen der Disproportion zwischen der ungeordneten Überfülle der Objekte und dem organisatorischen Vermögen des Blicks. Der Schwindel schließt dem Betrachter schützend die Augen. 86 Ebd. V. 295. 87 Ebd.: V. 321-332.

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Haller setzt damit eine für die Technik der Rahmenschau typische Abwehrgeste ins Physiologische um. […] Und wenn Hallers Protokoll des Sehvorgangs in einem zweiten Anlauf den optischen Kontakt wiederherstellt, bleibt die Totalität des Gesichtsfeldes ausgeblendet.“88

Der Blick vom Berg flieht also in die rahmende Fixierung des Einzelnen. – Der Rahmen kommt nun aber von oben. Umgesetzt findet sich hier aber eben auch der Überblick in seiner politischen Bedeutung, die ihn von alten religiösen Implikationen löst, um ihn als befreiten bürgerlich-nationalistischen Überblick den in ihrer Nachfolge stehenden Bindungen an konkrete Machtpositionen entgegen zu stellen. Indem Haller die überblickte Berglandschaft mit der in ihr lebenden Bevölkerung identifiziert und diese wiederum gewissermaßen als Grundstock der in Freiheit lebenden Nation behandelt, erhält der Überblick bei ihm jene Bedeutung, die er noch 1883 auf der Landesausstellung haben wird: Er gibt die Möglichkeit die Einheit der Nation im überblickten Land darzustellen. Zu diesem Zeitpunkt wird freilich jeder Rest von Schwindel verflogen sein. Auch ein anderer späterer Blick vom Gotthard ist von diesem Schwindel nicht mehr betroffen: derjenige den Heine 1836 seinen „Tannhäuser“ werfen lässt. Für ihn birgt er nur noch ein Wissen, welches den unten Gebliebenen abgeht. Dennoch drückt sich in ihm letztlich dieselbe Funktion aus, die auch Haller ihm zu seiner Zeit bereits gegeben hatte: „Und als ich auf dem Sankt Gotthard stand, / Da hört ich Deutschland schnarchen; / Es schlief da unten in sanfter Hut / von sechsunddreißig Monarchen“89 Der Überblick erfasst auch hier einen Bereich in Gänze, der die Einheit einer Nation bedeuten kann. Für den im Unten Verbleibenden ist der politisch geteilte Bereich nicht als zusammenhängend erfahrbar. – Aber wer ihn nicht als solchen erfährt, schläft eben bzw. hat überfällige Entwicklungen verschlafen. So wie man die zersplitterten politischen Verhältnisse im Deutschland der Restauration vielleicht mit Marx als die Tragödie der Geschichte wiederholende Komödie betrachten könnte, so verliert auch der in der Tragödie zu Bedeutung gekommene bürgerliche Überblick hier seine Tragik, wird er komisch. Das bereits angesprochene Projekt der Dufour-Karte (Abbildung 18) spiegelt das Verhältnis von Macht und Überblick im 19. Jahrhundert in so paradigmatischer Weise, dass ein näherer Blick auf diesen Zusammenhang hier geboten erscheint – zumal er in jüngerer Zeit eine umfassende Darstellung und Interpretation erfahren hat, die hier sehr hilfreich sein kann.90 Gerade im für andere europäische Staaten beginnenden bzw. sich verstärkt fortsetzenden Zeitalter des Imperialismus erhielten natürlich kartografische Produkte auch andernorts wichtige ideologische Funktio88 Koschorke 1990, S. 121. 89 H. Heine, „Der Tannhäuser“, Strophe 47. 90 Gugerli, Speich 2002.

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nen, indem sie die zu erhaltende Einheit eines weltweiten Imperiums repräsentieren und zugleich den Appell seiner Ausweitung transportieren konnten.91 Auch vermittelte der imperialistisch-kartografische Überblick auf typische Weise zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen des kollektiv erreichten Zusammenhangs eines kontrollierten Raumes, sodass das in dieser Kontrolle sich ausdrückende Macht-Wissen auch auf dieses vereinzelte Betrachtersubjekt zurückfallen konnte. Es scheint aber so, dass gerade in der keineswegs imperialistischen Schweiz die entsprechenden Mittel in besonderer Klarheit zu Tage traten. Die unter der Leitung Dufours stehende Kommission wurde noch vor der Gründung des schweizerischen Bundesstaates im Jahre 1848 mit dem Projekt der landesweiten Vermessung beauftragt. Der lockere eidgenössische Bund mit seinen kaum miteinander kooperierenden Verwaltungssystemen und seinen verschiedenen politischen Gegebenheiten brachte also schon vor der Etablierung eines einheitlichen Staates mit einer entsprechenden Verwaltungsstruktur die im Raum sich darstellende Utopie staatlicher Einheit hervor. Zudem lieferte die zur einheitlichen Vermessung des Raumes notwendige Bürokratie gleichsam den Prototypen der nationalstaatlichen Verwaltung. Dies vermittelte sich in besonders nachhaltiger Weise, als 1848 u.a. diese Organisation und das aus ihr bereits hervorgegangene kartografische Wissen General Dufour im Sonderbundskrieg mit zum Sieg verhalf – als also die Nützlichkeit der Kartografie im Krieg gleichsam ihre metaphorischideologische Funktion stützte und vermittelte.92 Zugleich lieferte dieser Vorgang aber auch ein Produkt, das in besonderer Weise geeignet war, dieser Utopie Ausdruck zu verleihen und sie auch in appellativer Form auf seine Betrachter zu beziehen. Als die große Karte der Schweiz auf den Weltausstellungen in Paris (1867), Wien (1873) und Philadelphia (1876) und schließlich auf der Landesausstellung von 1883 einem großen Publikum bekannt gemacht wurde, lieferte sie einen allgemein zugänglichen Überblick, in dem der im Ganzen überschaute Raum zum Ausdruck der noch immer im Prozess der Bildung befindlichen Nation werden konnte. Der einzelne Betrachter konnte sich selbst in diesem kollektiv etablierten Herrschaftsraum verorten. Die von ihm geforderte Rolle in diesem Ganzen konnte ihm im Sinne eines zu verinnerlichenden Anspruches auf diese Weise zudem sinnfällig präsentiert werden. Gugerli und Speich zitieren in diesem Zusammenhang die Eröffnungsrede eines Bundesrates, in der er als Motto für die Landesausstellung das delphische „Erkenne dich selbst“ vorschlägt: „‚Erkenne dich selbst! […] Diese Lehre verdiente in goldenen Buchstaben auf dem Giebel der Landesausstellung, deren Zweck sie vollständig wiedergibt, eingegraben zu werden.‘ Seine im Singular formulierte Aufforderung führte auf das Kollektive übertragen dazu, dass das 91 Vgl.: J.B. Harley, Maps, knowledge and power, in: Cosgrove, Daniels 1988, S. 282ff. 92 Ebd., S. 88f.

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anwesende Publikum für die kurze Dauer des Ausstellungsbesuchs die imaginäre nationale Zusammengehörigkeit mit einem konkreten Gemeinschaftserlebnis verbinden konnte. Auf der individuellen und auf der kollektiven Ebene wurde so eine orientierungsstiftende Selbstverortung möglich, die als zentrale Funktion der Landesausstellung bezeichnet werden kann.“93

Abbildung 18: G. H. Dufour, Topographische Karte der Schweiz, Blatt 22 (1861).

Schweizerisches Bundesamt für Landestopografie.

Hier wird auf eine für die Landes- und Weltausstellungen des späten 19. Jahrhunderts typische Weise also der Überblick in seiner Funktion der Selbstkontextualisierung mit dem Konzept der politischen Macht verbunden. Das Subjekt bestimmt seinen „Ort“ in einem Ganzen, dessen Konstitution und Beherrschung an es selbst verwiesen wird. Im das Ganze der Nation überschauenden Blick liegt die Forderung an jedes Subjekt, dieses Ganze im Kollektiv der anderen mitzugestalten. Der Blick der Macht hat – wie derjenige der Selbstverortung – seine Vermittlung verloren. Tatsächlich haben sowohl diese Ausgestaltung der Metapher des Überblicks, als auch die ganz konkreten Privilegien des Wissens und der Macht in der Anfangsphase des dufourschen Projektes und bei früheren kartografischen Versuchen zu typischen Konflikten geführt: Das kartografische Unterfangen wurde zum Ausdruck

93 Ebd. S. 12.

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politischer Kämpfe, die es letztlich zu einem Projekt des Liberalismus und der demokratischen Verfassung werden ließen. In den monarchistisch bzw. feudalistisch regierten Kantonen der Schweiz trafen im Ancien Régime kartografische Vermessungen auf Skepsis. Das Wissen über den Raum galt als Herrschaftswissen und war Privileg der Herrscher. Entsprechend unterlagen die Daten und ihre Umsetzung in Karten der Geheimhaltung. Entsprechende Bemühungen konnten also durchaus im Sinne der Herrschaft sein. Zumal ein sich als aufgeklärt verstehender Absolutismus benötigt zur Verwaltung des Landes Wissen über das Land. Dieses Wissen war aber unmittelbar auf die Macht des einen Souveräns zu beziehen. Gugerli und Speich weisen darauf hin, wie sich diese Frage der Ambivalenz kartografischen MachtWissens bis in die Repräsentationstechnik selbst verlegte: Als Bruch des Privilegs konnten kartografische Produkte gelten, die von wechselnden Blickpunkten aus konstruiert waren. Der eine Punkt des Überblicks war Ausdruck des absoluten Herrschers, er war sein Ort. Wird der Raum in seiner Repräsentation gleichsam multiperspektivisch transparent gemacht, wird dem Herrschersubjekt dieser Ort genommen: „Die politische Dimension einer solchen Arbeit lag darin, dass ihre vom Beobachter unabhängige Perspektive es dem Publikum erlaubte selbst Beobachter zu sein und letztlich die Arbeit des Kartografen kontrollierend nachzuvollziehen.“94 Als sich im Laufe des frühen 19. Jahrhunderts zunächst auf der Ebene der Kantone ein liberales Staatsverständnis durchsetzte, änderte sich entsprechend auch die Einschätzung der Kartografie. Mit der wirtschaftlichen und politischen Emanzipation der bürgerlichen Eidgenossen sollte eine „Emanzipation des Blicks“95 dieser Subjekte einhergehen. Tatsächlich wurde die Kartografie in den liberalen Kantonen gefördert, die Geheimhaltungspraxis endete hier.96 Das Herrschaftswissen sollte dem Souverän zugänglich sein – auch im auf Volkssouveränität beruhenden Systemen: „Eine […] Überzeugung der liberalen Konzeption bestand im direkten Verhältnis zwischen Bürger und Staat und forderte daher die öffentliche Zugänglichkeit des Wissens, das dem Regierungshandeln zu Grunde lag. Über die Grösse und Beschaffenheit des eigenen Landes Bescheid zu wissen, galt als eines der Rechte der wirtschaftstätigen Bürger einer Republik, denn der Souverän sollte auch im liberalen System sein Herrschaftsgebiet überblicken können.“97

94 Ebd., S. 25f; Dieses Zitat bezieht sich auf den Fall des genfer Kartografen Micheli du Crest, der 1749 zu lebenslanger Festungshaft verurteilt wurde. Gugerli und Speich führen seine Einordnung als Staatsfeind u.a. auf seine entsprechende kartografische Praxis zurück. 95 Ebd., S. 26. 96 Vgl.: ebd., S. 42ff. 97 Ebd., S. 36.

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Das Projekt der Dufour-Karte entsprach genau dieser Funktion: Noch bevor der Bundesstaat überhaupt existierte, sollte die Karte das entsprechende Territorium als Ganzes überschaubar machen. Das Vermessungsprojekt stand im Kontext verschiedener Bestrebungen, die die Einheit der Nation schaffen wollten, indem sie sie erfahrbar zu machen suchten. Sollte die Karte einen metaphorischen Überblick über das Ganze überhaupt erst ermöglichen, so verfolgte beispielsweise die bürgerliche Tradition der „Schweizerreisen“98 eine andere Strategie zur Erreichung desselben Ziels. Indem „helvetisch“ gesonnene Familien ihre männlichen Jugendlichen auf Touren durch die schweizerische „Heimat“ schickten, sollte der politisch keineswegs gegebene nationale Zusammenhang bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert erlebbar gemacht werden. Dieser Weg sollte das Ganze der Nation in einem Nacheinander gesammelter Reiseeindrücke erscheinen lassen – in gewisser Hinsicht ganz im Sinne der zeitlichen Strategie des Flaneurs. Auf einer abstrakten Ebene ergänzte sich im nationalen Rahmen der Schweiz also die zeitliche Konstruktion des Ganzen ähnlich mit der räumlichen des Überblicks, wie es in den Großstädten der beginnenden Moderne der Fall sein sollte. Dies galt nicht nur für die Schweizerreisen im engeren Sinn, letztlich verfolgte das im 19. Jahrhundert auch unter Einheimischen populär werdende Bereisen der Gebirgswelt einen ähnlichen Zweck der Selbstverortung im nationalen Rahmen. Wie erwähnt, grenzten die schweizerischen Reisenden und Alpinisten ihre entsprechende Haltung durch eine wissenschaftliche Sinngebung vom reinen Tourismus ab. Die entsprechende Durchdringung des Landes und seiner Bewohner, die sich auch in einer Kontrolle und Korrektur der Karten und topografischen Beschreibungen niederschlagen sollte, wurde aber eben als nationale Aufgabe verstanden – als Beitrag zur Schaffung einer in sich kohärenten Nation auf der Folie eines bekannt gemachten und lückenlos beschriebenen Raumes.99 Im Falle der Dufour-Karte und des in ihr erstmals umgesetzten Reliefeffektes wird besonders deutlich, wie sich diese Funktionen des medialen Produktes mit der Form des Überblicks verbanden. Zunächst kann es auch hier wieder als durchaus zweifelhaft erscheinen, ob Karten überhaupt als Repräsentationen von Blicken zu verstehen sind. Ausgangspunkt der entsprechenden Produkte ist kein „im Terrain aufgenommener Blick auf die Landschaft“,100 sondern Triangulation und die anschließende Projektion der Daten auf das Kartenblatt. Gerade der Reliefeffekt der Dufour-Karten verdankt sich aber einer Strategie, die versucht, dieses hinter der Karte stehende Abbildungsverfahren im Bewusstsein des Betrachters zum Verschwinden zu bringen. Dass dies gelang, zeigen zeitgenössische Rezeptionszeugnis98

Vgl.: Manfred Hettling, Die Schweiz als Erlebnis, in: Altermatt, Bosshart-Pfluger, Tan-

99

Vgl. Gugerli u. Speich, S. 176f.

ner 1998, S. 22ff. 100 Ebd., S. 117.

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se. Besonders eindrücklich ist hier der Dufour-Biograf Senn-Barbieux in seinem 1878 erschienenen Buch: „Die Mehrzahl unserer Leser hat wohl schon die ganze Düfourkarte, in einem Stück aufgezogen, gesehen, war’s an den Weltausstellungen in Paris, Wien, Philadelphia etc. oder im Bundespalast in Bern, im Athenäum in Genf oder anderswo, oder sie kennt wenigstens das eine oder andere der fünfundzwanzig Blätter, aus welchen dieselbe besteht. Dann wird sie wissen, dass es keinen Fussweg, keine Brücke, kein Haus, kein Bächlein im ganzen Lande von der Ebene bis zu den höchsten Alpen hinauf gibt, die nicht am richtigen Platze und in korrekter Form auf derselben verzeichnet wären, von der bildlichen Darstellung der Bodengestaltung gar nicht zu sprechen, welche hier in allen Einzelheiten so genau und mit solch’ plastischer Wirkung aufgeführt ist, als könnte man, wie ein Adler hoch über dem Lande schwebend, auf dasselbe herunterblicken und Fels und Kluft, Hügel und Halde, Grund und Grat in Wirklichkeit mit scharfem Blicke durchforschen.“101

Der Reliefeffekt hatte zunächst einmal den Zweck, ein Repräsentationsverfahren für die dritte Dimension zu liefern, das das Lesen der Karte erleichterte. Besonders in militärischen Kontexten war das auch zuvor bereits als wünschenswert erschienen. Letztlich setzte sich trotz anfänglicher Widerstände die dufoursche Technik durch, die den Versuch darstellte, die Erhöhungen so darzustellen, als ob sie von oben gesehen würden – allerdings nicht durch einen feststehenden Blick aus einer Perspektive, sondern durch einen gewissermaßen wandernden oder fliegenden Blickpunkt, von dem aus die einzelnen Erhöhungen bei senkrechter Beleuchtung betrachtet werden. Das Gelände wie von oben gesehen darzustellen, war durchaus bereits ein Mittel älterer Kartenwerke gewesen. Sie wurden aber von einem Blickpunkt aus konstruiert und stellten z.B. Gebirgszüge als von diesem erhöhten Punkt aus gesehene „Maulwurfshügel“ dar – mit dem entscheidenden Nachteil, dass das jeweils dahinter gelegene Terrain nicht abgebildet werden konnte. Die Abbildungen der Berge warfen gewissermaßen Schatten. Der Reliefeffekt der Dufour-Karte löste dieses Problem. Einerseits konnte er als Repräsentation eines Blicks von oben gelesen werden, andererseits musste dieser Blick mobilisiert werden, da Erhöhungen aufgenommen wurden „als ob man über ihnen schwebe und sich Stück um Stück über ihre unterschiedlichen Partien begäbe.“102 War das dieser Technik entsprechende Lesen der Karten einmal eingeübt, konnte das Kartenbild entsprechend als Repräsentation eines Blicks verstanden werden, der Betrachter konnte gleichsam zum „imaginären Flieger“103 werden. Damit wird 101 Zitiert nach: Gugerli u. Speich 2002, S. 93. 102 Ebd., S. 202. 103 Ebd., S. 203; tatsächlich führte das so weit, dass die ersten Ballonfahrer über der Schweiz, von dem „flachen“ Eindruck des Terrains enttäuscht waren, weil sie die Kar-

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etwas für die Funktion des entsprechenden Überblicks äußerst Wichtiges erreicht: Die als objektiv bzw. nichtperspektivisch zu verstehende, sich der Vermessung und geometrischen Prinzipien verdankende Erfassung des Geländes stellt sich nun dar als Wahrnehmungsform des einen Subjektes der Betrachtung. Die „Objektivität“ liegt gerade in einem Absehen von bestimmten Perspektiven. – Indem dieses Absehen aber wiederum im Bewusstsein des Kartenlesers übersehen wird, kann sie als Eigenschaft seiner Perspektive erscheinen. In gewisser Hinsicht werden hier die beiden ehemals unvereinbaren Konzepte der göttlichen und der menschlichen Wahrnehmungsform gleichsam übereinander geschoben. Oder um mit Leibniz zu sprechen: Die Ichnographia scheint Scenogaphia, die nicht durch eine bestimmte Perspektive verstellte Objektivität scheint Anblick zu werden. An dem obigen Zitat Senn-Barbieux’ wird dies ganz deutlich: Er zeigt sich überzeugt davon, dass die Karte alles „am richtigen Platze und in korrekter Form“ repräsentiert und diese objektive Richtigkeit wird ihm eben zur Eigenschaft seines „Adlerblicks“. Auf einer Karte aber „am richtigen Platze“ zu sein bedeutet für einen Eintrag, den Daten der triangulatorischen Vermessung und den entsprechenden geometrischen Prinzipien gemäß erzeugt zu sein. Es hat nichts zu tun mit einer Form von „Korrektheit“, die man einem visuellen Eindruck zusprechen könnte. Die Verwechslung von erblicktem Land und Karte, die sich hier äußert, wird deutlich, wenn man danach fragt, woher Senn-Barbieux zu wissen meint, die Einträge seien korrekt. Der Karte ansehen kann er dies natürlich nicht. – Sein Zitat scheint aber genau diese Möglichkeit nahe zu legen. Eine entsprechende Entwicklung in der metaphorischen Funktion des Überblicks der Karte erscheint so auch als eine Folge der sich für die Zeitgenossen als unvermittelt darstellenden Bezugs zum Wissen und zur Macht: Das Subjekt sieht sich der Forderung gegenüber, selbst und als solches zu wissen und sich selbst an der Gestaltung und Kontrolle des Gegenstandes des Wissens zu beteiligen. Eine Aufteilung nicht nur quantitativ verschiedener Formen des Wissens und der Macht auf verschiedene Subjekte widerspricht dieser Forderung. Ebenso widerspricht ihr die Verteilung des metaphorisch genutzten Überblicks auf solche durch Privilegien voneinander wesentlich unterschiedenen Subjekte. Der „emanzipierte“ nationalistische Überblick der modernen Kartografie ist ein geöffneter Überblick, der das Subjekt des Blicks im Unten mit demjenigen des Blicks von oben identifiziert. Diese Identifikation als solche wird aber letztlich auch dann bestehen bleiben, wenn z.B. in totalitären politischen Systemen wieder konkrete Menschen bzw. Figuren fest mit der Position des Überblicks verbunden werden. Auch der Blick eines modernen Herrschers erscheint als „offen“ – als für andere über die Identifikation einzunehmender Blick des Wissens und der Macht. Der Unterschied zum bürgerten zuvor für Repräsentationen des real noch nicht möglichen Blicks von oben betrachtet hatten. Vgl.: ebd., S. 208f.

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lich-demokratischen Überblick, wie er in der Schweiz eingeübt wurde, liegt dann darin, dass das Subjekt des mit Mängeln behafteten Blicks im Unten sich nur noch mit sich selbst als Subjekt des Blicks von oben identifizieren kann, indem es sich zugleich mit einer bestimmten Person oder Figur identifiziert. Der Unterschied dieser Form zu älteren wiederum liegt darin, dass eine entsprechende Identifikation möglich erscheint und tatsächlich auch vorgesehen ist. Der Überblick beispielsweise Ludwig XIV. im Theater eröffnete sich den Untertanen-Subjekten, die ihn nicht hatten, niemals. Der König sah die Dinge richtig, weil er von der innerhalb der Struktur vorgesehen Stelle des Wissens und der Macht herabblickte. Diese Stelle war aber von ihm eingenommen und von anderen nicht einnehmbar. Sie mussten sich auf den Überblick des Herrschers gleichsam verlassen, ohne ihn je haben zu können. Der Blick des modernen Führer- oder Herrschersubjektes erscheint somit also als eine Art „Kompromiss“ zwischen den beiden Konzepten des absolutistischen und des bürgerlich-demokratischen Überblicks: Die entsprechende Struktur macht das Subjekt des Blicks im Unten auf eine Vermittlung angewiesen, durch die ihm die Blicke von oben und nach unten ermöglicht werden – sie werden ihm aber eben ermöglicht. Der metaphorische „Punkt“ dieser Verschaltung von Subjekt und Blickpositionen ist es dabei offenbar, die rezentrierende und damit affirmative Wirkung des Überblicks zu entfalten, sie aber zugleich an eine bestimmte und konkrete Herrschaftsstruktur zu binden. In besonders reiner Form wird man dies z.B. an Riefenstahls „Triumph des Willens“ betrachten können. Bevor man aber zu solchen klaren Verhältnissen kommt, ist wohl ein Blick auf die Funktionen sinnvoll, die der Überblick der Macht im modernen Krieg erfüllte – denn diese waren es, die zweifelsohne eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der entsprechenden Formen der Überblicks-Privilegien gespielt haben. Der Krieg war schon immer ein Bereich, in dem der Überblick und die Medien, die ihn ermöglichen, eine wesentliche Rolle gespielt haben. Schon für Aristoteles war der begrenzende Faktor der idealen Größe des idealen Staates dessen Überschaubarkeit – eine Eigenschaft, die für ihn in ihrer Beziehung zum Militärischen denkbar konkret wird: „Weiterhin, wie wir von der Menge der Menschen sagten, dass sie leicht übersehbar sein müsse, so muss das auch beim Land der Fall sein. Leichte Übersehbarkeit aber bedeutet die leichte Verteidigung des Landes.“104

Die Kontrollierbarkeit und Verständlichkeit der Schlacht steht und fällt mit ihrer Überschaubarkeit für denjenigen, der sie leiten soll, für den oder die Feldherren oder Befehlshaber. Dasjenige „Medium“ des militärischen Überblicks, das lange 104 Aristoteles, „Politik“, 1326b.

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Zeit bestimmend blieb, war der Feldherrenhügel. So wie dieser ganz praktisch eine Bedeutung in der Schlacht hatte, so prägte er auch die Wahrnehmung des Krieges durch die nicht an ihm Beteiligten: Die Schlachtenpanoramen des 19. Jahrhunderts beispielsweise stellten jeden zahlenden Bürger auf diese Hügel, um ihm den die ganze Schlacht erfassenden Blick des Feldherren imaginär zu ermöglichen. Auch im Falle der Dufour-Karte lag ja in gewisser Weise eine solche Identifikation vor: Sie erschien als Leistung des einen Mannes, der auf ihrer Grundlage den Krieg um die Einheit der Schweiz gewann. In diesem historischen Moment fielen also die Positionen des Feldherren und des Kartografen in eine Person – was selbst in der zur Demokratie strebenden Schweiz zu einer gewissen Identifikation des nationalistischen und militärischen Überblicks mit dieser Person führen konnte.105 Auch der Begriff des „Kriegsschauplatzes“ oder der ältere des „Kriegstheaters“ weisen auf die Abhängigkeit eines isolierbaren, als Zusammenhang verständlichen Bereichs des Krieges von dessen visueller Erfassbarkeit hin – einer Sichtbarkeit, einer Durchschaubarkeit, die mit der zunehmenden Größe und Komplexität dieses Bereiches immer stärker nur noch als metaphorische zu verstehen war.106 Wie so vieles änderte der Erste Weltkrieg, der hier aus nahe liegenden Gründen stellvertretend stehen soll für den modernen Krieg, auch die militärischen Wahrnehmungsverhältnisse: Er nahm Ausmaße an, die den panoramatischen Überblick vom Hügel sinnlos und meist sogar unmöglich machten. – Allenfalls in taktischen Zusammenhängen konnte er noch eine begrenzte Rolle spielen. Dies war aber nur möglich, insofern neue Medien des Überblicks zur Verfügung standen, so dass die Schlacht im Maße ihrer erweiterten Überblickbarkeit wachsen konnte. Das wichtigste dieser Medien wurde neben dem alten und für die Kriegsführung schon sehr lange bestimmenden der Kartografie das Flugzeug. Diese technische Errungenschaft entwickelte sich – verstanden als Medium der Wahrnehmung – zur notwendigen Bedingung des modernen Krieges, es prägte ihn ebenso nachhaltig, wie das Maschinengewehr, die verbesserte industrielle Produktion von Sprengstoffen und 105 Vgl.: Gugerli u. Speich 2002, S. 88f. 106 Zum Begriff des „Kriegstheaters“ vgl.: C.v. Clausewitz, „Vom Kriege“, Buch 5, Kap. 2. In Kap. 18 weist Clausewitz auch auf die Gefahr hin, eine Stellung auf erhöhtem Gelände könne in militärischen Kontexten einen falschen Eindruck von „Überlegenheit und Sicherheit“ hervorrufen, der durch die scheinbar in der erhöhten Position liegenden Elemente des „Dominierens, Überhöhens, Beherrschens“ motiviert sei – er warnt also vor einem Eindruck, der demjenigen ganz ähnlich ist, der hier als ein in ÜberblicksFormen ganz allgemein liegender behauptet wird. Im Krieg kann ein solcher gewissermaßen ideologischer Effekt aber zu einem tatsächlichem Unverständnis und damit zu Fehlern im Handeln führen. Wird er in der Kunst nutzbar gemacht, fehlt diese direkte Rückkopplung mit dem Handeln und damit die unmittelbare Strafe für die Verkennung. Vgl.: Clausewitz 1980, S. 607f.

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die Eisenbahn als Mittel des militärischen Massentransportes. Dies galt in besonderem Maße, als es mit der Photographie verbunden eine schnelle und von der unmittelbaren Wahrnehmung der Flieger unabhängige Aktualisierung und Korrektur der Kartografie ermöglichte. Der erste Weltkrieg war der erste Krieg, der aus der Perspektive der fliegenden Kamera geleitet wurde. Dies führte aber dazu, dass er als zusammenhängendes Ganzes, als Bereich relativ zu dem die einzelnen taktischen Unternehmungen oder die Handlungen und Positionen der Einzelnen überhaupt als sinnvoll und verständlich erscheinen konnten – als Kriegsschauplatz, als Kriegstheater – nur noch aus genau dieser Perspektive erscheinen konnte. Verständlich war der Krieg – auf ähnliche Weise, aber noch radikaler und vor allem konkreter als die Großstädte – nur noch im Blick von oben und der Einzelne in ihm konnte als sinnvolles Element eines Zusammenhangs nur durch den Blick nach unten begriffen werden. So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Darstellung des Krieges in den Massenmedien kein Interesse daran haben konnte, ihn so zu zeigen, wie ihn diejenigen erlebten, die in ihm selbst sich bewegten. Im Unten gesehen war der Krieg nicht verständlich. Die Rezipienten der ersten Kriegsfilme oder der illustrierten Zeitungen wollten aber den Eindruck erhalten ihn zu verstehen. Im Ersten Weltkrieg wurde die Schere der Wahrnehmung zwischen den Befehlshabern und der durch Medien des Überblicks mit deren Position identifizierten, nicht am Krieg direkt beteiligten Öffentlichkeit auf der einen und den unmittelbar Kämpfenden so groß wie nie zuvor. Die Soldaten im Schützengraben hatten im wahrsten Sinne des Wortes keinen Überblick über die Schlachten, derer Teil sie waren. – Sie bewegten sich ausschließlich unter der Erde. Wollten sie auch nur den Frontabschnitt, an dem sie sich befanden, in seiner Rolle für die ganze Schlacht oder gar den ganzen Krieg verstehen, mussten sie Zeitung lesen, mussten sie dieselbe Zeitung lesen, die auch hunderte Kilometer hinter der Front zur Verfügung stand. Je höher aber ein Einzelner in der militärischen Hierarchie stand, desto mehr Anteil erhielt er an den Medien des Überblicks und damit an abstraktem Verständnis für das Ganze der Schlacht oder des Krieges, standen ihm die Luftbilder und aktuellen Karten seines Abschnittes zur Verfügung. Welche Folgen das für das Bewusstsein der Befehlshaber haben konnte, hat Stanley Kubrick in „Wege zum Ruhm“ (1957) recht eindrücklich deutlich gemacht: Bei einem Besuch im Graben beauftragt der General den dort befehligenden Colonel mit einem Angriff. Er erläutert den Plan vor einer beleuchteten Landkarte in einem ansonsten dunklen Unterstand, die beinahe an eine Kinoleinwand erinnert. Als er dagegen durch ein Scherenfernrohr einen realen Blick auf die feindlichen Stellungen wirft, hat er nur Belangloses zu sagen: Ein solcher Blick hat zum Verständnis des Krieges nichts beizutragen, der Krieg wird von oben gesehen verständlich, er wird für den Befehlshaber zu einer imaginären Angelegenheit, so wie er für den Soldaten im Graben zu einer unverständlichen, wenn auch realen zu werden droht.

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Abbildung 19: Panoramakarte Warschaus mit darüber fliegendem Flugzeug (Ausschnitt). Titel: „Deutscher Flieger über Warschau: Vogelschauansicht der gegenwärtig heftig umstrittenen Stadt und Festung Warschau“.

Leibziger Illustrierte Zeitung, Nr. 3748, 1915, Privatarchiv des Autors.

Diese Wirkungen unter anderem der Luftaufklärung hatten ihre Auswirkungen auf die Darstellung des Krieges im Film und vor allem in der natürlich wesentlich zugänglicheren (illustrierten) Zeitung. Auf die Bedeutung des Flugzeuges als Medium des Überblicks und auf dessen Verbindung zum Film hat P. Virillio in seiner Schrift zur „Logistik der Wahrnehmung“ hingewiesen:

284 | D AS G ANZE IM B LICK „Film und Luftfahrt traten gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gleichzeitig in Erscheinung. Seit 1914 ist die Luftfahrt eigentlich kein Mittel mehr zum Fliegen, zur Aufstellung von Rekorden – die Deperdussin flog schon 1913 mehr als zweihundert Stundenkilometer -, sie wird zu einer Sehweise oder vielmehr zum eigentlichen Mittel des Sehens überhaupt. Im Gegensatz zur allgemeinen Annahme steht am Anfang der Militärfliegerei die Luftaufklärung – der Einsatz bewaffneter Flugzeuge wurde von den Generalstäben zunächst abgelehnt. Aber auch in der Luftaufklärung, zur Information der Bodentruppen, zur Korrektur von Artilleriebeschuß, für Aufnahme von Fotos, wurde das Flugzeug zunächst als eine Art fliegender Mirador verstanden, ähnlich den bewegungslosen Aerostaten und ihren mit Papier und Bleistift ausgerüsteten Kartographen.“107

Diese Bewegungslosigkeit verlor das Flugzeug natürlich im Laufe der Zeit und es wurde zu einem allgegenwärtigen Medium des (fotographischen) Überblicks, das die Kartographen nicht überflüssig machte, das aber ihre Arbeit veränderte. In einer Arbeit über das Verhältnis von Krieg und Kriegsfilm von J. Gethmann finden sich weitere Hinweise auf die Beziehung zwischen Luftaufklärung und Film. Wir lesen dort: „In der Zeit des ersten Weltkriegs, in der der Krieg nicht mehr filmbar erschien, das Schlachtfeld von den Kammeraleuten als unfilmisch und völlig leer beschrieben wurde, die Filmkamera also nicht nur von den Militärs von der Front ferngehalten werden sollte, sondern dort auch nichts mehr fand, bei dessen Aufnahme der damals so genannte Operateur nicht erschossen würde, in diesem Moment übernahm paradoxerweise die Kamera das Kommando auf dem Kriegsschauplatz. […] Damit wurde der Ort des Krieges unter das Zeichen der photographischen Aufnahme gestellt, so dass allein die Kamera in der Lage war, das gültige Bild des Krieges zu liefern, nach dem gehandelt werden konnte. Zunächst herrschte aber striktes Misstrauen gegen jede Form des Sehens, die den ersten Augenschein vom Feldherrenhügel respektive Pferd herab unterlief. Zu dieser Entwicklung wurden wieder Kinoleute benötigt, weil die Aufnahmen des Krieges nämlich nur von einem Apparat aus aufgenommen werden konnten, der sich der Reichweite der feindlichen Artillerie und Ballistik entzog: dem Flugzeug.“108

Mit der großen Bedeutung, die die Luftaufklärung also erhielt, ergab sich eine Verschränkung von Krieg und Film bzw. Photographie. So wie der Krieg nur noch durch den photographischen Blick aus dem Flugzeug zu leiten war, so war er auch 107 Paul Virilio, „Krieg und Kino – Logistik der Wahrnehmung“, München, 1986, S. 30. 108 D. Gethmann, „Das Narvik Projekt: Film und Krieg“, Bonn 1998, S. 51f. In L. Milestones „Im Westen nichts Neues“ (1929) wird dies schließlich durch neue Entwicklungen in der Kameratechnik ermöglicht, durch fahrbare Kräne usw., die das Schlachtfeld von oben filmen und den Bewegungen folgen können.

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nur noch als verständlich zu imaginieren durch mediale Produkte – u.a. Filme –, die ihn von oben aufnahmen. Der Regisseur D.W. Griffith brach 1917 mit seinen Kameraleuten zur Front auf, um einen Film über den Krieg zu drehen. Er gab dieses Unterfangen auf, als er merkte, dass der Krieg als verständlicher Zusammenhang nicht im Unten gefilmt bzw. erzählt werden konnte. Als auch sein Ansuchen, ihm für seinen Film 20.000 Soldaten als Statisten und sechs Flugzeuge zur Verfügung zu stellen, abgelehnt wurde, drehte er „Hearts of the World“ größtenteils in den USA.109 Andere Regisseure erkannten die Wahrnehmungsverhältnisse des Krieges besser und verwendeten Flugzeuge, um den realen Krieg von oben zu filmen: „Erst mittels einer Aneignung des Blicks der sogenannten Luftaufklärung, die als einzige mithilfe des Flugzeugs in der Lage war, das Bild des Ersten Weltkriegs zu liefern, vollzogen die Aufnahmen der späteren Kriegsfilme diese Entwicklung für das Medium nach.“110 Abbildung 20: „Meldehund im Graben“.

Leibziger Illustrierte Zeitung, Nr. 3911, Juni 1918.

Die illustrierten Zeitungen machten sich die Medien des Überblicks auf ähnliche Weise zunutze und gerade dieses Massenmedium war es wohl auch, durch das entsprechende metaphorische Funktionen des Überblicks in Bezug auf den Krieg für die nicht unmittelbar an ihm Beteiligten vor allem erfüllt wurden. Die Illustrierte

109 Vgl.: ebd.: S. 33. 110 Ebd.: S. 34.

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Zeitung hat vor allem zwei Mittel, mit deren Hilfe sie einen Eindruck von Überblick über den Krieg liefern kann: die (Panorama-)Karte und die Kriegschronik. Erstere zeigen oft ganze Fronten oder Kriegsschauplätze – meist aus leichter Schrägsicht – und erläutern mit Hilfe von Linien, Pfeilen und Beschriftungen ggf. die Ereignisse (Abbildung 19). Die Kriegschronik erfasst diese Ereignisse zeitlich geordnet. Sie füllt gewissermaßen die räumliche Folie der Panoramakarte mit Einzelheiten, sie ist auf diese bezogen. Ortsnamen, die in ihr vorkommen, können auf der Karte gesucht und gefunden werden. So ergibt sich ein räumlicher und zeitlicher Überblick über den Krieg und damit der Eindruck, er sei als Ganzer verstanden. Der Blick im Unten auf den Krieg ist dabei nur scheinbar in der Zeitung präsent: Zwar handelt es sich bei den meisten Abbildungen um Zeichnungen, die das Leben im Krieg aus der Nähe betrachten, auch eignet diesen Bildern eine Flüchtigkeit, die beispielsweise den Schlachtengemälden früherer Kriege abging, sie sind aber stets auf den kartographischen Überblick und auf die Kriegschronik bezogen. Ihre Titel ordnen sie in das Ganze ein, die Flüchtigkeit bleibt relativ, das Abgebildete erscheint als sinnvoll, weil sein Ort bekannt ist. Daran ändern auch die Nennungen der Autoren und die häufige Betonung, es handele sich bei ihnen um Kriegsteilnehmer, nichts, sie erzeugt einen Schein von Unmittelbarkeit. Was weiter auffällig ist an diesen Kriegsszenen, ist, dass es sich bei ihnen gewissermaßen um Genreszenen handelt (Abbildung 20): Der abgebildete Einzelne erscheint hier nie als solcher, sondern als Typ – sein Sinn erschöpft sich in der Exemplifikation einer Tätigkeit oder in seiner Verbindung zu einem Kriegsgerät. Wie in der kognitiven Bewältigung der Großstadt die Typisierung des Theaters zum Modell der Erkennbarkeit des anderen wurde, wird auch in der unübersichtlichen Landschaft des Krieges der Einzelne durch Zuordnung zu einem Typ zu einem in seiner Funktion für das Ganze verständlichem Element. Auch hier korrespondiert also der räumliche Überblick in seiner metaphorischen Funktion mit der typisierenden Verkörperung. Dies geht hin bis zu einer Verkörperung Deutschlands in der „Gestalt“111 des deutschen Soldaten. Die Illustrierte liefert ein Informationsprogramm, durch das der ganze Krieg überblickt, die einzelne militärische Aktivität in ihm bekannt gemacht und der einzelne Soldat als typisiertes Atom dieses Ganzen dargestellt werden kann. Das einzelne Subjekt aber, dem dieser Überblick geliefert wird, der einzelne Zeitungsleser, wird auf diese Weise eben zur Identifikation mit den Herren der Schlacht, den Feldherren gebracht. Er erhält passiven Anteil an ihrer imaginierten 111 Ernst Jünger thematisiert die Anteilnahme an dieser Gestalt des Arbeiter-Soldaten als zeitgemäße Möglichkeit, Anteil an einem übergeordneten Sinn zu erhalten, unabhängig von den überkommenen Formen des humanistischen Individualismus (Vgl.: Jünger, „Der Arbeiter“, Teil 1, Kap. 3). Vgl. dazu auch: D. Hoffmann, „Das Volk in Waffen – Die Kreation des deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg“, In: „Das Volk“, Hg.: A. Graczyk, Berlin 1996, S. 83-100.

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Überblicks-Macht, auch wenn er sich selbst eigentlich als eines jener nur in ihrer Beziehung zum Ganzen sinnvollen Atome betrachtet oder betrachten müsste.112 Demgemäß waren die obersten Feldherren in Deutschland – Ludendorff und Hindenburg – von einem Führerkult betroffen, der in dieser Form neu war. In einem Artikel über „Hindenburg als Organisator“ in der Leipziger Illustrierten Zeitung findet sich eine aufschlussreiche Charakterisierung des neuen Typus des Feldherren: „Namentlich die neue Art der Kriegsführung nähert die beiden Begriffe Feldherr und Organisator einander bis zum Verwechseln. Wir lachen heute beim Anblick jener alten Stiche über dem Biedermeiersofa, die einen Feldherrn auf gewölbtem Hügel darstellen, wie er, hoch zu Roß, seine sich bäumenden Apfelschimmel mit den Schenkeln bändigt, während die vorgestreckte Rechte mit dem Marschallstab auf das Angriffsziel weist. […] Hindenburg könnte man heute den Verwalter der europäischen Kriegsschauplätze nennen. […] Er behält auf seinem Kartentisch alle Linien der Kriegsführung im Auge, ordnet die deutschen Streitkräfte und ihre Kampfmittel nach allen Fronten hin bis über Europa hinaus und sorgt, dass an jeder Stelle die erforderliche Kräfteentfaltung gewährleistet wird, sei es in der Verteidigung oder im Angriff, dass die ‚große Kriegsmaschine‘, wie die Engländer unsere Heereseinrichtungen genannt haben, in keinem Augenblick versagt.“113

Die ganze Organisationsleistung der „großen Kriegsmaschine“ findet sich hier verkörpert in einer Person, in Hindenburg. Dieser schwebt gleichsam über den Fronten und erfasst mit seinem Blick alles, Ordnung im unübersichtlichen Krieg gewährleistend. In einer in den Artikel hineingesetzten Zeichnung, einer „Allegorie auf Hindenburg als Chef des Generalstabs des Feldheeres“, schwebt Hindenburgs Portrait über dem Feldherrenhügel und dem dort platzierten Kartentisch. Als Metapher ist ihm der fliegende Adler zugeordnet (Abbildung 21). Im Kontext des Krieges wird also nun jene Struktur nutzbar gemacht, die den Überblick einerseits metaphorisch ermöglicht, die ihn aber andererseits mit einem privilegierten Subjekt identifiziert: Die Zeitung ist ein Medium, das verschiedene andere Medien so koordiniert, dass sie das Bedürfnis des Lesers nach einem Verständnis des Ganzen des Krieges zu erfüllen scheinen. Hindenburg als Führer-Subjekt erscheint aber zugleich in einer Position eines unvermittelten Wissens, die sich entsprechend in der Position des Blicks von oben bedeutet. Das dem einzelnen Leser ermöglichte Wissen über das 112 Dass bei dieser Identifikation mit der Position des Überblicks das Flugzeug eine vermittelnde Rolle spielte wird auch an vielen Werbeanzeigen in der Leibziger Illustrierten Zeitung deutlich: In einer seit 1918 regelmäßig enthaltenen Werbung für Benz Motoren blickt ein Offizier mit Hilfe eines Fernglases zu einem über ihm schwebenden Flugzeug auf – was als Zeichen für den Wunsch nach dieser Indentifikation mit dem Medium des Überblicks schlechthin gelesen werden kann (Abbildung 24). 113 Leipziger Illustrierten Zeitung, Nr. 3874, Sept. 1917.

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Ganze vermittelt sich so über genau diese eine Position. Der unüberschaubare, in keinem einzelnen Subjekt repräsentierbare Wissens-Apparat der militärischen Bürokratie erscheint als in einem Subjekt vereinigt. Die Unüberschaubarkeit des Weltkrieges und damit die Flüchtigkeit der eigenen Position in diesem Ganzen scheinen dank dieser Struktur der Vermittlung gebändigt. Abbildung 21: „Allegorie auf Hindenburg als Chef des Generalstabs des Feldheeres“.

Leibziger Illustrierte Zeitung Nr. 3874, September 1917.

Was man bei der Erfassung des Einzelnen durch die Illustrierte beobachten kann, ist zudem eine Form des Blicks nach unten, in der der Blick im Unten letztlich als wertlos ausgeblendet wird. Diese blieb natürlich nicht unangefochten. – Wenn E.M. Remarque seinen Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“ nennt, dann spielt er damit beispielsweise auf die Kluft zwischen der Wahrnehmung des Krieges durch die Heeresleitung und die durch sie informierte Öffentlichkeit (durch den Heeresbe-

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richt) und den dem Krieg verständnislos gegenüberstehenden Individuen in ihm an.114 Überhaupt war der Gegensatz zwischen der Wahrnehmung des Krieges im Unten und der von oben das zentrale Thema vieler sich gegen den Krieg richtender Produktionen der Nachkriegszeit. Besonders deutlich wird dies aber an einem Dialog aus „Im Westen nichts Neues“. Hier unterhält sich der Heimaturlauber Bäumer in einer Gaststätte in Deutschland mit drei älteren Herren über den Krieg, während diese sich über eine Karte der Kriegsgebiete beugen: „Ich antworte, dass nach unserer Meinung ein Durchbruch unmöglich sei. Die drüben hätten zuviel Reserven. Außerdem wäre der Krieg doch anders, als man sich das so denke. Er wehrt überlegen ab und beweist mir, dass ich davon nichts verstehe. ‚Gewiß, der einzelne‘, sagt er, ‚aber es kommt doch auf das Gesamte an. Und das können Sie nicht so beurteilen. Sie sehen nur Ihren kleinen Abschnitt und haben deshalb keine Übersicht. Sie tun Ihre Pflicht, Sie setzen Ihr Leben ein, das ist höchster Ehren wert – jeder von euch müsste das Eiserne Kreuz haben – , aber vor allem muss die gegnerische Front in Flandern durchbrochen und dann von oben aufgerollt werden.‘“115

Der Öffentlichkeit in der Heimat scheint ihre überblickende Wahrnehmung des Krieges also als die eigentlich angemessene – der Blick des Soldaten an der Front versteht das Ganze nicht, derjenige, der im Krieg sich befindet, versteht ihn nicht. Diese Haltung verbirgt sich aber in gewisser Hinsicht auch in dezidiert pazifistischen Texten über den Krieg: Henri Barbusses „Le Feu“ ist hier ein Beispiel. Dieser Text beginnt damit, dass der Erzähler von einem Berg – einem Sanatorium am Mont Blanc – metaphorisch gesprochen hinab steigt in den Krieg. Er bleibt auch dort, in Kauf nehmend, dass die Episoden, die er erzählt, bruchstückhaft nebeneinander stehen müssen, ohne eine mögliche Einordnung in einen Kontext, der nur durch einen Überblick zu erfassen wäre. Solange er sich aber auf dem Berg befindet, hat er – mit seinen Figuren – diesen Überblick und damit eine Möglichkeit, die der Text den Soldaten an der Front erst ganz am Ende des Buches zugesteht (als es einen durch eine Überschwemmung erzwungenen Waffenstillstand gibt und die Soldaten plötzlich ungefährdet im freien Gelände stehen können): Die Möglichkeit, die Masse der Kämpfenden als Ganzes wahrzunehmen, das zu erfassen, was denen dort unten gemeinsam ist. Die Folge dieses Überblicks ist die Forderung nach einer Vereinigung derjenigen, die bisher durch ihren mangelnden Überblick an einer solchen gehindert werden. So bekommt auch hier das „Wahrnehmungsmedium“ Berg 114 Ganz ähnlich Edlef Köppens „Heeresbericht“ (1931): Hier sind den einzelnen Kapiteln Ausschnitte eben aus dem Heeresbericht, aus Zeitungen, aus der Werbung usw. vorangestellt, wodurch die große Distanz zwischen diesen Texten und der dann folgenden Schilderung des Erlebens an der Front thematisiert wird. 115 E.M. Remarque, „Im Westen nichts Neues“, Köln 1998, S. 118.

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eine Bedeutung, die es als Ermöglicher realer, nicht vermittelter Blicke nie haben könnte. Die Todkranken auf dem Mont Blanc, die durch ihr Wahrnehmungsprivileg und durch die Krankheit, die sie in gewisser Hinsicht auch aus der Zeit und aus ihren Anforderungen fallen lässt, sind in ihren Wahrnehmungsmöglichkeiten von dem unterschieden, was sie unter sich erblicken, sie sind es aber, die die richtige Wahrnehmung haben, sie erfassen das Ganze, den Zusammenhang: „Der letzte in der Reihe ruft: ‚Dort unten kriecht was!‘ ‚Ja … es scheinen lebende Wesen zu sein.‘ ‚Sie gleichen Pflanzen…‘ ‚Nein, Menschen.‘ Im gräßlichen Leuchten der Blitze, unter den zerfetzten dunklen Wolken, die sich dehnen und über die Erde strecken wie böse Engel, scheint es ihnen, als sähen sie eine weite, fahle Ebene. In der Vision tauchen Gestalten aus ihr hervor, die Schlamm und Wasser ist, und klammern sich, schiffbrüchige Scheusale, an die Oberfläche der Erde, zurückgezogen vom Schlamm, der sie blind macht. Die Beschauer glauben Soldaten zu erkennen. Die triefende Ebene, von langen parallelen Kanälen durchfurcht und voller Wasserlöcher, ist ohne Grenzen und die Schiffbrüchigen, die sich aus der Erde zu befreien versuchen, sind unzählig.[ …] Aber die dreißig Millionen Versklavten, die Verbrechen und Irrtum in den Krieg des Schlamms gestürzt haben, heben ihr Menschenantlitz empor, auf dem endlich ein Wollen keimt. Die Zukunft liegt in den Händen der Versklavten, und man erkennt, dass die alte Welt eines Tages durch die Verbrüderung jener, deren Zahl und Elend übergroß sind, verändert werden wird.“116

Mit dem nächsten Kapitel kommt der Schnitt hinab in das, was auf diese Weise zunächst von oben erblickt wurde. Und sofort tritt auch dasjenige Medium auf, was im Krieg den Überblick real ermöglicht, der vom Berg herab nur metaphorisch zu haben war, das Flugzeug. Jetzt, aus der Perspektive im Unten, aus der Perspektive des Überblickten, erscheint es aber als gefährlicher Feind. Eine Identifizierung mit diesem Wahrnehmungsmedium ist denen nicht möglich, die es wahrnehmen und töten hilft: „Donner füllt den hohen, bleichen Himmel; jeder Einschlag, der einem der roten Blitze folgt, lässt dort, wo es noch dunkel ist, einen Feuerschein erkennen und eine Wolke, wo es tagt. Hoch oben, ganz hoch und fern, hört man den Flug grausamer, unsichtbarer Vögel, die mit lautem stoßweisem Brausen aufsteigen, die Erde zu betrachten.“117

Ernst Jünger hat von Barbusse gesagt, er sei ein – auch in seiner pazifistischen Haltung – eigentlich von der „totalen Mobilmachung“ betroffener Autor.118 Dies äußert 116 H. Barbusse, „Le Feu“, Frankfurt 1986, S.10. 117 Ebd.: S. 11.

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sich in seinem Kriegsroman auch in der Perspektive, in der Perspektive von oben, in der der Wunsch sich ausdrückt, das im Unten Sinnlose als Ganzes zu betrachten, relativ zu dem auch der Einzelne sich als sinnvolles Element bestimmen könnte – nur, dass dieses Ganze für ihn nicht der Krieg, sondern das blind für seine mögliche Einheit in ihm kämpfende Volk ist. In Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ wird noch viel deutlicher, wie die „totale Mobilmachung“ einer Gesellschaft sich eine bestimmte Form und Funktion des Überblicks zunutze machen kann. Dieser Film kann hier gewissermaßen als Höhepunkt jener Verbindung des „geöffneten“ Überblicks mit der Identifikation mit einem privilegierten Herrscher-Subjekt verstanden werden: Durch diese Technik der Verschaltung von Blickpositionen gelingt es zum einen, dem „Massenteilchen“ im „Massenornament“ seinen eigenen Ort im sinnvoll geordneten Ganzen zu vergegenwärtigen und zugleich diese Vergegenwärtigung als Anteilnahme am Wissen und an der Macht eines bestimmten souveränen Subjektes erscheinen zu lassen. Anders als die Regisseure teilweise vergleichbarer Agitationsfilme, wie z.B. Eisenstein, musste sich Riefenstahl beim Drehen von „Triumph des Willens“ wohl kaum noch Gedanken darüber machen, wie sie aus einer Menge von Menschen ein Ganzes machen konnte. Die Menge, die sie zu filmen hatte, war vielmehr schon vorgeformt in klar abgegrenzte Quader und Formen, in „Marschblöcken“, in Massenornamenten eben. Sie ist durch die Macht geformt, ihre Form gehorcht dem Befehl und nicht einer spontanen Solidarisierung und Begeisterung, wie dies z.B. für Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ gilt, jenem anderen großen Propagandafilm eines zeitgenössischen Regimes, das zumindest bereits auf der Schwelle zum Führerkult stand. In beiden Filmen ist eine Bedingung für die Wahrnehmbarkeit der Masse als geordnetes Ganzes aber der Blick von oben, durch den in „Triumph des Willens“ die Menschenquader überblickt werden können. Die Bedeutung dieser Blicke wird durch ihr Verhältnis zur Anfangssequenz des Films besonders deutlich: Hier erhält man zunächst einen noch größeren Überblick, nämlich den aus einem Flugzeug (mit dem Hitler in die Stadt fliegt) auf das unten liegende Nürnberg. Dieser Überblick wiederholt sich dann in den Einstellungen von oben auf den Paradeplatz. Der Eindruck, den der Blick von oben erzeugen kann, indem er seine metaphorische Funktion erfüllt, wird dadurch noch verstärkt, dass das Überblickte im Sinne des Ornaments selbst schon eine Bild-Metapher ist: Die geometrische Ordnung der Masse steht für die Ordnung im Volk, im Land, für eine Art von Ordnung also, die mit Geometrie nichts zu tun hat. Wichtig für die Repräsentation von Macht durch den Film ist nun aber, dass die Einstellungen von oben oft den Eindruck von subjektiver Kameraführung erwe118 E. Jünger, „Die totale Mobilmachung“, in: ders. 1981, S. 136.

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cken. Sie scheinen die Blicke eines bestimmten Subjekts zu repräsentieren, nämlich diejenigen Hitlers. Dies wird erreicht, indem die Blicke von oben von Blicken auf Hitlers Gesicht, also von Blicken auf den von oben blickenden Hitler abgewechselt werden. Diese Einstellungen auf Hitler sind meist von unten nach oben aufgenommen – aus der Perspektive der unten Stehenden, aus der Perspektive der in geometrischen Formen Marschierenden. Auf diese Weise ergibt sich also eine Interessante Struktur: zunächst erhält man den Blick im Unten, durch den man keinen Überblick über das Ganze bekommt. Dann aber eröffnet sich dieser Überblick auf das Ganze, in dem man selbst kurz vorher noch zu stehen schien. Dieser Überblick muss aber mit der Schaffung eines imaginären Subjektes dieses Blicks einhergehen, soll er als Blick verstanden werden und dieses Subjekt ist Hitler. Man muss sich also mit ihm identifizieren, um den Überblick zu erhalten. Der Geführte ohne Überblick erhält einen Überblick, indem er sich mit dem Blick des Führers identifiziert. Vermittels dieser Identifikation können nun die Blicke hinab zu Einzelheiten im Ganzen als Blicke nach unten erscheinen. Einerseits findet sich hier also die typische Spaltung des Subjektes in ein nicht erkennendes, im Unten blickendes und in ein erkennendes, von oben blickendes überwunden. Anders als in jenen anderen abstrakten und geöffneten Strukturen, welche die in ihnen auftauchenden Subjekte nicht wesentlich mit einer bestimmten Position verbinden, geschieht dies aber nun auf dem Umweg der Identifikation mit dem Führer-Subjekt, mit einer bestimmten Figur, die einen Namen trägt und die ihren wesentlichen Ort dort oben auf der Position des Überblicks hat. In einer Sequenz des Filmes sieht man durch die von unten aufgenommenen Reihen der Marschierenden über ihnen den erleuchteten Reichsadler, unter dem Hitler steht. Ihn selbst kann man kaum oder gar nicht erkennen. Das Symbol der Macht scheint hier regelrecht mit der Figur des Führers zu verschmelzen, mit ihm identisch zu sein – und der Reichsadler ist ein Vogel, ein Tier, das fliegen kann, das die Dinge von oben sieht. In derselben Funktion war dieses Symbol wie gesehen bereits Hindenburg, dem Organisator des modernen Krieges zugeordnet worden – und tatsächlich hat man es in beiden Fällen mit derselben Funktion des Überblicks und derselben Verschaltung der in ihm enthaltenen Positionen zu tun. Hier wie da wird ein Kulminationssubjekt der Macht geschaffen, von dem alles auszugehen scheint und das als einziges Subjekt wesentlich mit einer Position des Überblicks verbunden ist, zumal es diese Position mit der Macht zur Rückwirkung auf das Überblickte verbindet. Diese Macht hat der Rezipient der entsprechenden Texte nicht, aber er nimmt Anteil an ihr, indem er sich mit diesem Subjekt der Macht identifiziert. Dadurch ist er zugleich gezwungen die Machtposition dieses Subjektes anzuerkennen. Seine Möglichkeit der rezentrierenden Erkenntnis des eigenen Ortes im sinnvollen Ganzen steht und fällt mit dieser Position. Die eigene Entmachtung als Masseteilchen kann nur als überwunden dargestellt werden, wenn zugleich eine andere Macht anerkannt wird.

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Natürlich finden sich in entsprechenden Umsetzungen des Überblicks auch strukturelle Elemente, die nicht nur im modernen Krieg, sondern bereits in den Großstädten des 19. Jahrhunderts entstanden waren: Die Uniformität im äußeren Erscheinungsbild, die Richard Sennet für diesen Bereich begründen konnte, findet sich nun ganz wörtlich in den Uniformen der marschierenden Masse. In der Figur des Führers blickt nun – ebenso wie im Theater des späten 19. Jahrhunderts – eine öffentliche Persönlichkeit zu diesen Massen hinab und dient als Punkt der Identifikation. Es scheint nur so, dass die moderne Erfahrung der Disparität, der Fremdheit und eben der Unübersichtlichkeit sich – wohl auch als Folge der entsprechenden Verhältnisse im Krieg – so gesteigert haben, dass die auf sie behebend reagierenden Techniken in besonderer Deutlichkeit hervortreten müssen. Dass auch die von Foucault beschriebenen Techniken der „Disziplin“ sich nunmehr als durch und durch in die Gesellschaft übergegangen darstellen, liegt wohl auf der Hand. Der Unterschied zu den Formen, in denen sie sich entwickelten, ist wie gesagt allerdings, dass ihrer durchdringenden, anonymen Verteilung im totalitären Staat ein souveränes und konkretes Macht-Subjekt gleichsam aufgesetzt wird. So kann dieses Subjekt wieder im Sinne älterer Funktionen der Verkörperung als Garant des Zusammenhalts des Ganzen erscheinen – um so das Wissen um das Ganze, die Macht über das Ganze und das Prinzip des Zusammenhalts in einem Punkt zu bündeln, ohne diesen Punkt zugleich hermetisch gegen identifizierende Teilhabe abzudichten. Insofern erscheinen entsprechende Formen den Überblick in eine letztlich neue Struktur einzubetten, die allerdings ältere Formen nutzt. Es finden sich also auch Vergleichspunkte beispielsweise zum Absolutismus oder noch eher zu Darstellungsformen, die der Staatsauffassung von Hobbes entsprechen. Dies wird besonders deutlich an einem Beispiel der faschistischen Plakatwerbung in Italien, auf das in entsprechenden Zusammenhängen bereits hingewiesen wurde: Auf einem Plakat von 1934 wird der Körper Mussolinis von einer hineinmontierten Menschenmenge gebildet.119 Der „Volkskörper“ ist der Körper des Führers, bzw. des Duces, und so ermöglicht sich sein Zusammenhalt und der Platz des Einzelnen als Teil eines beständigen Ganzen. Ganz ähnlich findet sich diese Verkörperungsfunktion in folgenden Versen Heinrich Anackers: „Aufgeblüht der Leib, und reckt die braunen Glieder / Ins große Ganze fügt sich Teil um Teil, / Und hunderttausendfach dröhnt donnernd wieder / Der deutschen Zukunft sonnengläubig ‚Heil!‘ / Da streift ein Wissen uns mit heißem Schauern, / Dass es das sturmverwirrte Fühlen klär: / Nie würden wir bestehn und zeitlos dauern, / Wenn nicht der Führer und die Fahne wär.“120 119 Vgl. Susanne von Falkenhausen, Vom Ballhausschwur zum Duce. Visuelle Repräsentation von Volkssouveränität zwischen Demokratie und Autokratie, in: Graczyk 1996, S. 3ff; Bredekamp 2003, S. 140f. 120 H. Anacker, „Fahneneinmarsch (Zum Parteitag 1933)“, in: Conrady 1995, S. 577 (Auszug).

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Auch hier fungiert der Führer offenbar als Verkörperung des Ganzen, in dem sich der einzelne aufgehoben und gleichsam vor der Belanglosigkeit angesichts des Verfalls gerettet findet. Anders als im aufgeklärten Absolutismus erscheint der Herrscher aber nicht als Subjekt eines absoluten Wissensprivilegs. Das „Wissen“ um das es hier geht, „streift […] uns“.

D ER B LICK VOM T URM : D ER Ü BERBLICK IM U MFELD DER W ELTAUSSTELLUNGEN Die Funktionen, die der Überblick im Zusammenhang mit Ausdrucksformen der Macht und des Selbstbezuges im Laufe der Moderne erhielt, spiegelten sich zweifelsohne in vielen Erscheinungsformen und Verhaltensweisen. Hier sollen sie weiter an einigen besonders exponierten Beispielen aufgezeigt werden, zunächst an solchen, die dem Bereich der populären Kultur entstammen und die sich nicht zuletzt seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Terrain der Weltausstellungen zu einem relativ überschaubaren Komplex verbanden. Die Weltausstellung – und die ihr sehr ähnliche neue Institution des Warenhauses – verbanden eine Gesamtrepräsentation der Welt des Imperialismus mit Momenten des Überblicks, wie sie Medien wie die Panoramen, die bereits behandelte moderne Kartografie oder auch der Eiffelturm liefern konnten. Anhand dieser Verkopplung verschiedener Strategien der Repräsentation von Einheit, Verständlichkeit und Beherrschbarkeit kann der „bürgerliche“ Überblick der Moderne weiter beleuchtet werden, kann auch die Darstellung der Mängel, die ihm Sinn gaben, ergänzt werden. Das Panorama ist ein Medium, dessen Besonderheit durch das Zusammentreffen mehrerer Merkmale bestimmt ist.121 Zum einen ist es eben in den überwiegenden Fällen ein Medium des Überblicks. Es konstruiert einen Beobachterstandpunkt über dem Bereich, der seine thematische Ebene ausmacht, über der Gebirgslandschaft, der Stadt oder über der Schlacht, um die häufigsten Gegenstände zu nennen. Diesen Aspekt kombiniert es aber natürlich mit der Rundumsicht, mit der Aneinanderreihung vieler in sich zentralperspektivisch konstruierter Anblicke zu einem rahmenlosen, also grenzenlosen Rund. So löste dieses neue Massenmedium das Problem, auf welches z.B. der oben erwähnte bewegte Guckkasten eben durch seine Beweglichkeit reagierte, auf seine Weise: Es eröffnete einen Blick, der buchstäblich alles

121 Vgl. zum Panorama: Oettermann 1980; Comment 2000; Kunst und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland 1993; Ricken 1991; Busch 1995, S. 142ff; Großklaus 1995, S. 113ff; Koschorke, „Das Panorama. Die Anfänge der modernen Sensomotorik um 1800“, in: Segeberg 1996, S. 147ff; Kaschuba 2004, S. 122ff.

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umfasste, dem kein Einzelnes aus dem Rahmen geraten konnte. Es gab den Anblick jedes Einzelnen und des ganzen Kontextes jedes Einzelnen. – Mit einer Einschränkung: Der Blick wurde durch den Horizont begrenzt, weil er von der Perspektive eines im Mittelpunkt platzierten Subjektes ausging. Sicherlich nicht zuletzt, um scheinbar alle Einzelheiten erfassen zu können, musste es zudem den Eindruck absoluter Präzision und Detailtreue erwecken – eine Eigenschaft, die zur größtmöglichen Illusion des Realitätseindruckes gesteigert wurde, des Eindrucks also, der die Künstlichkeit und Abhängigkeit von der abstrahierenden Technik der Vermessung und Projektion nach Kräften verleugnete. Dieser Eindruck führte aber beim Panorama durch die Beschränkung auf den distanzierenden Gesichtssinn wohl nicht zum Gefühl einer völligen Auslieferung an die Repräsentation, auch wenn die bewusste Unterdrückung jedes Vergleichs der Repräsentation mit dem Repräsentierten, jeder Realitätsprüfung, dies andererseits förderte. Wie der Blick vom Berg bei Haller Schwindel hervorrief, schwindelte es auch die Besucher der Panoramen anfangs nicht selten. Andererseits rief der umfassende Überblick ein Lustempfinden hervor, das den kommerziellen Erfolg und die weite Verbreitung der Rundgemälde in ihren Rotunden erklärt. Diese Lust am Überblick ist einerseits natürlich eine Reaktion auf die Flüchtigkeit und Unverständlichkeit der großstädtischen Lebenswelt, auf die quantitative und qualitative Reizüberflutung, die sie zur Folge hatte. Koschorke weist in diesem Zusammenhang auch auf die Wirkung der sich verbessernden Transportmittel hin: „Denn zum erstenmal drängt sich im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert das heutzutage vertraute Problem auf, wie der einzelne die steigenden Umlaufmengen von Information – zunehmende gesellschaftliche Verflechtungen und Mobilität, Urbanisierung, aufkommenden Zeitungen, expandierender Buchmarkt und seine Folgen, Krisenphänomene wie die ‚Lesesucht‘ – bewältigen kann. Unter diesem Aspekt dienen die Panoramen mit ihren topographischen und historischen Übersichten als Schulungsstätten der modernen Apperzeptionsfähigkeit. Sie instituieren eine Blicksituation, die seither eine große Karriere durchlaufen hat: den Blick aus einem an jeden Platz der Welt zu setzenden Interieur ins ‚Freie‘. Der Geschichte der Transportmittel und damit der Beschleunigung des täglichen Lebens steht eine Serie von Typen des Interieurblicks gegenüber. Panorama und Postkutschenverkehr, Diorama und Eisenbahnfahrt, Kino und Automobil bilden solche kinetisch-kognitiven Paarungen. Das Vehikel führt dem Betrachter die Reizdichte zu, das Interieur schirmt ihn ab, während der Sehsinn trainiert wird, immer größere Mengen nicht zusammenhängender Dinge in immer kürzeren Zeiträumen zu synthetisieren.“122

122 A. Koschorke, „Das Panorama. Die Anfänge der modernen Sensomotorik um 1800“, in: Segeberg 1996, S. 165.

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Verschiedene Medien liefern also kontrollierbare Wahrnehmungszusammenhänge, um auf den Mangel einer zunächst nicht kontrollierten und bewältigten Wahrnehmungssituation zu reagieren. Der Überblick unter anderem des Panoramas liefert auf die bereits beschriebene Weise die räumliche Folie, auf der die entsprechende Synthese der Gegensätze gelingen kann. Die Funktion des Panoramas oder auch die des Dioramas gänzlich auf die von Koschorke angesprochene Beziehung zu bestimmten Transportmitteln zu beschränken, wäre sicherlich eine Verkürzung. Die Mängelsituation, auf die diese Formen reagierten, wurde z.B. im Blick aus einer Kutsche des modernisierten Postverkehrs oder dem Abteil der neuen Eisenbahn nur besonders dringlich.123 Diese neuen Mobilisierungen des Menschen und seines Blicks gaben dem Panorama, dem Diorama oder dem Moving Panorama124 ihren Sinn als Schule der Wahrnehmung – einer Schule also, in der die angesichts der neuen Ansprüche aufgetretenen Defizite behoben werden sollten. Es wäre somit in einer bestimmten Hinsicht falsch, den Blick des Eisenbahnreisenden des 19. Jahrhunderts als „panoramatisch“ zu kennzeichnen. Er war vielmehr in gewissen Aspekten das genaue Gegenteil – und diese Aspekte waren es, die das Panorama oder das Moving Panorama systematisch auszuschließen versuchten. Die an ihm aufgetretenen Mängel erschienen in der Wahrnehmung des Panoramas als behoben: Der Flüchtigkeit der Anblicke, in der das Gesehene viel zu schnell der Unsicherheit und Subjektivität der Erinnerung ausgeliefert wurde, wirkte auf Seiten des Panoramas der Detailreichtum und die illusionistische Beglaubigung des Gesehenen als „so gut, als ob ihr dort stündet“ entgegen, wie Mercier sich zu Beginn des Jahrhunderts ausdrückte.125 Die Schwierigkeit, die verfließenden Eindrücke vermittels der Erinnerung in einer zeitlichen Synthese zu einem Ganzen werden zu lassen, schien durch die durch das Panorama gelieferte überschaubare räumliche Folie oder durch die verlangsamte und sich auf entsprechend „entfernte“ Gegenstände beschränkende Bewegung des Moving Panoramas behoben, das den Ablauf der Anblicke gleichsam wieder in Richtung der Geschwindigkeit des Flaneurs herabbremste. So konnten die Medien eine geschützte und abgeschwächte Übungssituation erzeugen, in der Blick und Kognition die im „wirklichen Leben“ nicht überwundenen Kon123 Man könnte den drei von Koschorke genannten Beispielen vielleicht noch das Paar aus der niederländischen Landschaftsmalerei des Barock und dem Blick aus einer zeitgenössischen Kanalfähre hinzufügen. 124 Beim Moving Panorama wurde ein aufgerolltes Gemälde vor den Augen der Betrachter abgerollt. Diese blickten dabei jeweils auf einen gerahmten Ausschnitt einer sich längst eines Verkehrsweges (eines Flusses z.B.) erstreckenden Landschaft, so dass die Struktur den Blick aus dem Fenster eines Schiffes oder der Eisenbahn imitierte. Vgl.: Monika Wagner, Bewegte Bilder und mobile Blicke. Darstellungsstratgien in der Malerei des neunzehnten Jahrhunderts, in: Segeberg 1996, S. 177ff. 125 Pinkerton, Mercier, Cramer 1980, S. 135.

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flikte bewältigten. Entscheidend für diese Simulationen war neben der Herabsetzung der Intensität, dass sie die Wahrnehmungssituation gewissermaßen auch qualitativ „reinigten“: Alle Eindrücke, die in der Realität auftraten, die aber die kognitive Synthese eines kontrollierbaren Gesamteindrucks störten, wurden vermieden, indem die Tätigkeit des Betrachters so weit wie möglich auf das Blicken beschränkt wurde. So erreichte der Betrachter einen „Zugewinn an Distanzfähigkeit“126, die ihn den an ihn gerichteten Anspruch an Souveränität als erfüllt erleben ließ. In einer solchen Betrachtung sind aber bisher Aspekte ausgeblendet, die den Blick auf die Panoramen zu einem spezifisch bürgerlichen Überblick machten, zu einer endgültig säkularisierten und im oben beschriebenen Sinne „offenen“ Form der Selbstbestimmung im als beherrschbar erlebten Ganzen eines Machtbereiches. Der Mangel an Fixierbarkeit des Einzelnen innerhalb eines stark ausgeweiteten Wahrnehmungsumfeldes, von dem die Wahrnehmung des Eisenbahnreisenden zunächst geprägt war, konnte nur zum Mangel werden vor dem Hintergrund des grundsätzlichen Anspruchs an das moderne bürgerliche Subjekt, in einem kontrollierten räumlich-gesellschaftlichen Umfeld auf Grundlage eigener souveräner Entscheidungen zu handeln, sich selbst und sein Umfeld in diesem Sinne zu verstehen und zu beherrschen. Ähnlich wie auch die ihm entsprechende moderne Kartografie versuchte das Panorama das Problem der Dezentrierung des Subjektes angesichts dieses an ihn gestellten Anspruches als gelöst darzustellen: Es platzierte das Subjekt eines Blicks im Mittelpunkt eines in der Illusion kontrollierbar und fixierbar gewordenen Stückes Welt, das – nunmehr als Ganzes überschaut – als pars pro toto das Ganze vertreten konnte. Zudem konnte durch eine Verbindung verschiedener solcher Welt-Metonymien der Eindruck einer gleichsam durchgemusterten kolonialen Welt hervorgerufen werden. Eine präsentierte Anzahl von Bildern ferner Gegenden konnte als Repräsentation des Ganzen wirken. Dabei sollte man aber nicht übersehen, dass tatsächlich viele Panoramen ihren Besuchern nicht die Ferne zeigten, sondern die Stadt, in der sie sich gerade befanden – allerdings eben aus der Distanz des aufs Visuelle sich beschränkenden Überblicks und in der erwähnten vor Überforderungen schützenden Situation. Ein weiterer Aspekt, der jenes Lustempfinden angesichts des ermöglichten Panoramablicks erklären kann, ist also die auch dem einzelnen Bürger ermöglichte Identifikation seiner sich anfänglich noch gegen die vertikale Hierarchie der Monarchie durchsetzenden Souveränität mit dem Standpunkt des Überblicks. Dieser Ausdruck einer neuen Form von Macht ereignete sich dabei im Rahmen der neuen „demokratisierten“ Strukturen, in denen diese Macht und Kontrolle sich vollzog: Tatsächlich ging ja die „Öffnung“ der Positionen der Macht, ihre Loslösung von auf bestimmte Weise gekennzeichneten Figuren, einher mit einer Verbreitung und Differenzierung der „Disziplin“ und der sie etablierenden Macht-Blicke. Im Mittel126 Koschorke, in: Segeberg 1996, S. 163.

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punkt des Panoramas zu stehen, bietet dem Einzelnen gleichsam die Möglichkeit, sich selbst als Inhaber eines solchen verallgemeinerten Macht-Blicks zu erleben – als ob eine Position möglich wäre, auf der man ganz Macht und Kontrolle sein kann, ohne wiederum kontrolliert zu werden. In dieser Hinsicht hat das Panorama dieselbe Struktur wie das Panopticon. Es ermöglicht jedem gegen Bezahlung das erhebende Erlebnis des Blicks der Macht – eine abstrakte allgemeine Zugänglichkeit, die gerade das Prinzip dieser Machtstruktur darstellt.127 Zunächst einmal drückten die Panoramen also einen gegen die alten Machtverhältnisse gerichteten bürgerlichen Anspruch aus: „Zunächst ist es evident, dass sich in der Mode der Panoramen eine bestimmte soziologische Umschichtung spiegelt. [...] Wenn die Pariser wenige Jahre nach der Revolution imaginär auf dem Dach der Tuilerien promenierten, dann liegt darin natürlich ein symbolischer Triumph über die Monarchie. Und wenn Schlachtenszenen den Bürger perspektivisch an die Seite des Feldherren rücken, dann artikuliert sich in dieser Kunstform auch eine neue, patriotische Öffentlichkeit.“128

Das Panorama verlor aber nach der Machtübernahme des Bürgertums keineswegs seine Bedeutung. Seine Rolle erschöpfte sich nicht im Triumph über die absolute Monarchie, weil seine hauptsächlichen Funktionen in der Darstellung der Souveränität des bürgerlichen Subjektes lagen. So ist anzunehmen, dass diese Souveränität sich auch auf eine Sphäre bezog, über die die bürgerliche Klasse sich im Wesentlichen definierte und aus deren Rationalität die modernen Macht- und Disziplinverhältnisse immer auch hervorgegangen waren, auf die Ökonomie. Ricken weist in einer Arbeit über das Panorama und den Panoramaroman auf die Bedeutung des Panoramas und des neuen „Mediums“ des Ballons für die bürgerliche Ideologie hin. Diese habe sich den Überblick zunutze gemacht, um die an die monarchistischen Herrschaftsverhältnisse gekoppelte Begrenzung der bürgerlichen Freiheit, vor allem auch diejenige der Wirtschaft, imaginär zu beheben: „Die Hoffnungen, die im grenzüberschreitenden Ballon ihr Bild fanden, waren, so allgemein menschlich sie sich gaben, von eminent politischer Natur. Denn die Grenzen und Zollschranken der damaligen Zeit waren das größte Hindernis für die sich gerade entwickelnde bürgerliche Industrie, die einen Absatz auf dem freien Markt stark behinderten oder unmöglich machten. So wie die Montgolfieren als ‚Fahrzeuge ohne Grenzen‘ empfunden wurden, so sprach man vom Panorama als ‚Tableau sans bornes‘, als ‚Gemälde ohne Grenzen‘. Sie waren zum

127 Vgl.: Busch 1995, S. 143f. 128 Ebd.: S. 161f ; vgl.: Coment, Das Panorama, S. 29.

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einen das Gewißheit verheißende Symbol am Horizont aufscheinender bürgerlicher Freiheit, zum anderen auch ein Kampfruf […].“129

Die hier noch in einem „Kampfruf“ geforderte Überwindung der politischen Beschränkungen der Ökonomie zeitigte allerdings bald Folgen, die durch die Entgrenzung des Kapitals und des Warenaustausches den für den Einzelnen zu „überschauenden“ Bereich ebenfalls entgrenzten, seine kognitive Bewältigung damit schwer werden ließen. Die im Überblick metaphorisch erzeugte Selbstbestimmung des bürgerlichen Subjektes in einem als überschaubar und beherrschbar erlebten Ganzen erzeugte auch den Eindruck einer Souveränität des Subjektes angesichts einer sich stetig ausweitenden und „unübersichtlicher“ werdenden ökonomischen Sphäre. Der Überblick als Ausdruck „geöffneter“ politischer Macht, als Repräsentation nationaler Einheit und als Darstellung der Freiheit des Kapitals, also der Grundlage bürgerlicher Macht, verbanden sich mit dem in ihm sich scheinbar vollziehenden jeweiligen Wissen zu einer Gesamtfunktion. Dieser Funktion entsprachen bestimmte Mängel: Die Tatsache, allgemein und nicht nur im wirtschaftlichen Leben einer zunehmenden Kontrolle der „Disziplin“ unterworfen zu sein und sich auch in der politischen Sphäre gleichsam „zu verlieren“; die Wahrnehmung von nicht zu bewältigender Disparität und Widersprüchlichkeit im nationalen Rahmen oder auch im Rahmen der Großstadt oder der imperialen Welt; die Unfähigkeit, die ökonomischen Zusammenhänge als verständliches Ganzes zu begreifen, der Eindruck, diesen unverstandenen Kräften passiv ausgeliefert zu sein. Ein weiterer Zusammenhang, der solche Funktionen auf ganz ähnliche Weise erfüllte, war nun die Weltausstellung. In ihr wurde eine zeitgemäße Verbindung von metonymischer Verkörperung von Ganzheiten und dem Überblick über sie geliefert. Um ersteren Aspekt zu verstehen ist ein Hinweis auf die Funktion des Warenhauses für seine Besucher angebracht.130 Diese Institution war nämlich nicht einfach eine der neuen industriellen Fertigung entsprechende Art und Weise, Waren zu verkaufen. – Die Waren wurden vielmehr verkauft, indem sie bestimmte Bedürfnisse der Kunden befriedigten, die nichts mit ihrem „Gebrauchswert“ zu tun hatten – und eines dieser Bedürfnisse war das Gefühl der Orientierung, das Gefühl der als undurchschaubar und unübersichtlich erlebten Welt in einer Weise entgegentreten zu können, die sie als ganze verständlich und verfügbar machte. Der in die Präsentationsform der Ware investierte Aufwand erzeugte ideologischen Mehrwert, der sich unmittelbar in Mehrwert schlechthin auszahlte. Die Erfindung der ersten Warenhäuser fällt in eine Zeit, in der nicht nur die industrielle Produktion an Bedeu129 Ricken 1991, S. 43ff; zur politischen Bedeutung des Ballons vgl. auch Kaschuba 2004, S. 69. 130 Vgl.: Sennet 1986, S. 186ff.

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tung gewann, in der vielmehr das System dieser Produktion auch jede klare und nachvollziehbare Verbindung zu überschaubaren topographischen Zusammenhängen verlor, in der der Kapitalismus nicht nur industriell, sondern auch imperialistisch wurde. Der für das Verständnis der Großstädte relevante Kontext hatte nunmehr letztlich jede Grenze verloren und fiel tendenziell mit der gesamten Erde zusammen. Viele Elemente der Fremdheit, die dem Einzelnen in der Stadt begegneten, verwiesen ihn auf unbekannte Zusammenhänge, die nicht in der Stadt, sondern irgendwo anders in der Welt zu suchen waren – nicht zuletzt als unbekannte Ausgangspunkte der in der Stadt endenden Warenströme. In der Einleitung wurde hier bereits darauf hingewiesen, dass Frederic Jameson diese Zustände als solche begreift, die die kognitive Kartierung erschweren, die Fähigkeit des Einzelnen, sich eine geistige Karte zu schaffen, die ihm die Funktionsweise der Gesellschaft und seinen eigenen Ort in ihr repräsentiert, die ihm Orientierung in diesem Zusammenhang gibt. Um ihn nochmals zu zitieren: „But the truth of that experience no longer coincides with the place in which it takes place. The truth of that limited daily experience of London lies, rather, in India or Jamaica or Hong Kong; it is bound up with the whole colonial system of the British Empire that determines the very quality of the individual’s subjective life. Yet those structural coordinates are no longer accessible to immediate lived experience and are often not even conceptualizable for most people.“131

Um diesem Zustand der Orientierungslosigkeit entgegenzuwirken, waren Formen der kognitiven Kartierung vonnöten und das Warenhaus war eine davon. Zudem konnte es aus dem Gefühl von Orientierung, die es seinen Besuchern lieferte, wirtschaftlichen Gewinn schlagen. Paradoxer Weise gelang dies gerade durch eine Desorientierung auf anderer Ebene: einer Desorientierung der Käufer in Bezug auf den Gebrauchswert und die konkreten und funktionalen Eigenschaften der jeweiligen Ware. Ähnlich wie das äußere Erscheinungsbild der Menschen mystifiziert wurde, geschah dies im Sinne des von Marx diagnostizierten Warenfetischismus auch mit der Ware, die ja nicht zuletzt das war, was die äußere Erscheinung herstellte. Bekanntlich begriff Marx unter dem „Fetischcharakter“132 der Ware den eigentümlichen Effekt im Bewusstsein der Konsumenten, in dem der Warenwert als „naturwüchsige“ Eigenschaft des Gegenstandes der Ware erscheint, anstatt als Effekt einer gesellschaftlichen Beziehung erkannt zu werden, vermöge welcher Arbeit zu im Gegenstand der Ware objektiv werdendem Tauschwert „gerinnt“. Vermittels dieser Umkehrung der Verhältnisse im Bewusstsein des Konsumenten konnte der einzelne Käufer beginnen, sich über den Besitz der Ware Bedeutung zu verleihen. 131 F. Jameson, „Cognitive Mapping“, in: Grossberg und Nelson 1988. 132 Das Kapital, Bd. I; Sennet 1986, S. 190ff.

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Die gesellschaftlich erzeugte Bedeutung erschien als etwas, was durch den Kauf auf die Person übertragen werden konnte. Die Konsumenten begannen nicht zuletzt ihren jeweiligen „Ort“ in der Gesellschaft über den Kauf von Dingen zu suchen und zu definieren. Das Arrangement der Warenhäuser fungierte dabei nicht nur als unstrukturiertes Angebot dieser Möglichkeiten. Es bildete auch für sich genommen die unübersichtliche Welt in einer übersichtlichen Weise ab. Es erzeugte den Eindruck einer Orientierung, indem es die Ware als Metonymie und den Raum als Metapher nutzte. Die entsprechende Orientierung gelang also in erster Linie auf dem Wege der metonymischen Verkörperung der Gesellschaft und der imperialen Welt in den Waren und ihre Einbettung in eine Bedeutung tragenden räumlichen Struktur. Über diese Verkörperung konnte die einzelne Ware als Vertreterin einer ansonsten auf unklare Weise mit der Lebenswelt der Käufer in Verbindung stehenden (kolonialen) Welt aufgefasst werden und als eine solche von Bereichen der Gesellschaft, die dem Käufer, soziologisch betrachtet, unzugänglich waren. Indem diese Verkörperung aber gekauft, besessen werden konnte, wurde das, was sie vertrat, als erfassbar, verfügbar erlebt. Der Kauf war nun aber gleichzeitig die einzige aktive Handlung, die den Käufer am Gewinn der scheinbaren Orientierung noch beteiligte. Die kognitive Karte wurde ihm geliefert, er nahm sie passiv auf, eine Rückkopplung von „Karte“ und Welterfahrung war nicht möglich. Der „Überblick“, den die Warenhäuser scheinbar lieferten, verdankte sich also einer Fiktion von Wissen über die Welt oder ihrer Verfügbarkeit – ganz ähnlich wie der Blick von oben sie in seiner metaphorischen Funktion entwickeln konnte. Auch im Bereich des Konsums vermittelte sich somit der Bezug des Einzelnen zur Welt verstärkt über den Blick. Und dieser Bereich und mit ihm das Warenhaus als sein hauptsächlicher Schauplatz wurde besonders für die unteren Schichten, die sich am wenigsten real in der Welt und in der Gesellschaft bewegen konnten, zu einem Ort der kosmopolitischen Erfahrung. Das Warenhaus mit seiner immer schon konsumierbaren, sich dem Blick darbietenden Ordnung wurde zum vornehmlichen Ort, an dem der Einzelne sich in einem größeren Kontext platziert wahrnehmen konnte, als ihn die Struktur seiner Nutzbarmachung im Prozess der geteilten Arbeit und die diesem Prozess entsprechende soziologische Struktur der Stadt lieferte: „Der einzige alltägliche Weg, den Angehörige der Arbeiterklasse in andere Pariser Stadtviertel machten, führte sie in eines der neuen Warenhäuser. Kurz, Kosmopolitismus – als Erfahrung von Vielfalt innerhalb der Stadt – wurde für die Arbeiterklasse zu einer Konsumerfahrung“133

Die Verkörperungsfunktion der Ware im Warenhaus tritt im Falle der Weltausstellungen noch deutlicher hervor: Hier war es nun zweifelsfrei die Welt, die sich in 133 Sennet 1986, S. 180.

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den Ausstellungsgegenständen und in den Pavillons bzw. Abteilungen verkörperte. Die ganze Ausstellung ist eine riesige Metonymie der Welt. Diese Metonymie hatte aber mit einem Problem zu kämpfen: Sie musste in ihrer Orientierungsfunktion versagen, wenn sie als solche als ähnlich unübersichtlich und überfordernd erlebt wurde wie die Welt selbst. Es ergab sich ein Darstellungsproblem, also ein Problem der Präsentation. Auf der ersten Weltausstellung von 1851 in London wurde dieses Problem – nicht immer zur vollsten Zufriedenheit aller Besucher – ähnlich wie in den Warenhäusern durch die Struktur der Ausstellung und ihrer Abteilungen im Kristallpalast gelöst. Das Gebäude selbst führte dabei nicht selten zu Erlebnissen der Entgrenzung: Die moderne, industriell gefertigte Architektur aus Stahl und Glas ließ die Abgrenzung des Inneren zum Äußeren verschwimmen. Sie überforderte viele Besucher.134 Demgegenüber bildeten die in einem Rundgang zu durchschreitenden Abteilungen ihrem Anspruch nach die gesamte koloniale Welt ab – in den quantitativen Verhältnissen den Herrschafts- und Führungsanspruch des britischen Empire ausdrückend. In den Waren verkörperte sich eine im Sinne der bürgerlichen Ideologie gereinigte, kontrollierte, nutzbar gemachte Welt, gleichsam ein geordnetes, verständliches und konsumierbares Bild der Utopie eines im Sinne des Bürgertums gestalteten Ganzen: „Längst in internationalen Austausch verwickelt, hielt sich die industrielle Bourgeoisie die zukünftige Welt unter ihrer Obhut vor Augen. Ihr Besuch der Weltausstellung geriet zu einer billigen, risiko- und mühelosen imaginären Reise in ihre Welt, die sie sich zur Selbstverherrlichung im Crystal Palace eingerichtet hatte.“135

An den Erfolgen, die die Dufourkarte auf verschiedenen späteren Ausstellungen erlebte, war schon zu sehen, in welche Richtung die nahe liegende Lösung der im Kristallpalast noch enthaltenen Unsicherheitsfaktoren ging: Die metonymische Verkörperung wurde mit dem Blick von oben über das Ganze verkoppelt, um in der Übersicht über die Ausstellung metaphorisch ein Kontrolle und ein Wissen in Bezug auf das von ihr Repräsentierte zu erzeugen. Auf der Pariser Weltausstellung von 1889 bezog sich dieser Überblick thematisch besonders konkret auf den Raum der Ausstellung selbst und die ihn enthaltende Weltstadt: Sie wurde bekanntlich vom Eiffelturm überragt, einem Turm mit ausschließlicher Aussichts-, also Überblicksfunktion. Von diesem Turm herab konnte die ganze Welt-Ausstellung und die ganze Welt-Stadt überblickt werden. Zudem war dieses Medium des Überblicks eines, das ähnlich den Panoramen prinzipiell jedem offen stand. Der Eindruck von Wissen und Kontrolle, den es erwecken konnte, verdankte sich einer Beobachterposition, auf die sich jeder für einen Moment begeben konnte. 134 Friemert 1984, S. 39f. 135 Ebd., S. 46.

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Roland Barthes hat in einem Aufsatz die symbolische Funktion des Eiffelturms untersucht und dabei auch einiges Augenmerk auf seine Funktion als Mittel des Überblicks gelegt. Zunächst einmal weist er auf die doppelte Funktion des Turms zum einen als Gegenstand und zum anderen als Mittel von Blicken hin: Von unten aus der Stadt heraus gesehen bilde er ein „festes Zentrum“136 der Stadt, einen von allen ihren Bereichen aus sichtbaren Bezugspunkt. Andererseits ist er eben Aussichtsturm, gibt er die Möglichkeit sich gleichsam mit seinem Überblick über Paris zu identifizieren: „Der Eiffelturm ist ein Objekt, das sieht, ein Blick, der gesehen wird, ein vollständiges, gleichzeitig aktives und passives Verb, dem keine Funktion fehlt.“137 Das eine dieser beiden „Geschlechter des Blicks“138 ist natürlich der Überblick. Die Wirkung und Funktion dieses Blicks wird dabei von Barthes differenziert beschrieben – so dass die beiden Aspekte dieses Konzeptes, die ich als den Blick von oben und den nach unten bezeichnet habe, hervortreten. Der Blick von oben erfasse die Stadt zunächst als harmonisches Ganzes, so Barthes. Indem dieser Blick aber aktiv, indem er zum „Lesen“, zum „Entziffern“139 wird, beginnt er diese Ganzheit als Struktur zu erkennen, in die sich die aus der Erinnerung, aus der Wahrnehmung im Unten bekannten Elemente eingebettet finden. Der Blick von oben bietet in seiner Distanziertheit die Möglichkeit einer zusammenhängenden Raumfolie, auf der das jeweils Einzelne seinen Ort im Kontext des Ganzen findet. Dabei lässt sich dieser Vorgang aber eben in die auch zeitlich zu trennenden Elemente zweier Konzepte des Blicks analysieren: Zunächst erscheint das harmonische Ganze, dann beginnt das Identifizieren und Einordnen von Einzelbeobachtungen – so dass diese Bruchstücke der Stadt im Gegensatz zu ihrer Wahrnehmung im Unten eben im Kontext dieser Harmonie verbleiben können. Barthes fasst den entsprechenden Gegensatz als Verhältnis zwischen einer ästhetischen Einstellung dem Gegenstand gegenüber und dessen Funktion als Ausgangspunkt der „Wirkung des Verstehens“:140 „Damit nähern wir uns der komplexen dialektischen Natur jeder panoramaartigen Sicht. Einerseits handelt es sich um einen euphorischen Blick, denn er kann langsam und leicht über ein kontinuierliches Bild von Paris gleiten, kein Riß zerstört zunächst dieses große Tuch mineralischer und vegetarischer Flächen, die aus der Ferne im Glücksgefühl der Höhe wahrgenommen werden. Andererseits aber zieht diese Kontinuität den Geist in einen gewissen Kampf, sie will entziffert werden, man muß in ihr Zeichen finden, […] deshalb kann ein Panorama nie wie ein Kunstwerk konsumiert werden, denn das ästhetische Interesse an einem 136 Barthes 1970, S. 27. 137 Ebd., S. 28. 138 Ebd. 139 Ebd., S. 43. 140 Ebd.

304 | D AS G ANZE IM B LICK Bild hört auf, sobald man versucht, in ihm besondere, aus dem Wissen auftauchende Punkte wiederzuerkennen. Feststellen, daß es eine Schönheit des zu Füßen des Turmes ausgebreiteten Paris gibt, bedeutet ohne Zweifel die Euphorie des Blicks aus der Höhe eingestehen, der nichts anderes kennt, als einen gut verknüpften Raum, doch es bedeutet auch, die ganz und gar intellektuelle Bemühung des Blickes angesichts eines Objekts vertuschen, das danach verlangt, aufgeteilt, identifiziert und mit dem Gedächtnis verknüpft zu werden.“141

Diese Komplexität des Überblicks als Verbund des Blicks von oben und desjenigen nach unten ist es, die sich angesprochen findet beispielsweise in dem Opernglas auf Genouettes Zeichnung, in dem Blick hinab zu den privaten Verwicklungen einzelner Figuren bei Lesage142 oder auch in der Detailtreue, der Identifizierbarkeit des Einzelnen beim Panoramagemälde. Auch anhand literarischer Auseinandersetzungen wird sie unten weiter betrachtet werden können. In ungewöhnlich ausdrücklicher Weise wird diese Verschaltung zweier Konzepte des Blicks in E.T.A. Hoffmanns „Des Vetters Eckfenster“ umgesetzt. Die Funktion des Turmes war also diejenige des modernen Überblicks: Durch seine Verschaltung der Blicke von oben und nach unten ermöglichte er es, den einzelnen Subjekten die beschriebenen Defizite des Blicks im Unten als bewältigt wahrzunehmen. Zudem bot er sich auch von unten gesehen zum stets gegenwärtigen Zeichen dieser Möglichkeit an, zum für Identifikationen geöffneten Garanten des Überblicks, zum Garanten der Einheit des im Unten zunächst nicht als Einheit Wahrnehmbaren. Vor allem diese letztere Funktion offenbart der Eiffelturm auch, wenn man die Rolle betrachtet, die er in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts für die moderne bildende Kunst zu spielen begann. Besonders für einen einflussreichen modernen Künstler wurde er regelrecht zum Markenzeichen seiner Malerei: für Robert Delaunay. Beim Werk Delaunays wird häufig zwischen einer destruktiven und einer konstruktiven Phase unterschieden. Im Mittelpunkt beider Phasen steht aber immer wieder der Eiffelturm. Kennzeichnend für seine frühe, die destruktive Phase ist zunächst seine Orientierung am Kubismus. Zumindest in dieser Phase war Delaunay tatsächlich Kubist und er stellte auch zusammen mit anderen Kubisten aus.143 Der Kubismus als solcher kann dabei wohl schon als eine Reaktion auf die Verunsicherung der alten Wahrnehmungsformen auf die Situation in der großstädtischen Le141 Ebd., S. 43f. 142 Auf diesen Übergang zur Imagination des Privaten im überblickten Ganzen (und auf sein Erscheinen im Blick des Teufels Asmodee) weist auch Barthes hin. Vgl.: S. 44. 143 Z.B. 1911 zusammen mit Albert Gleizes, Jean Metzinger und anderen auf der Ausstellung der „Independants“ in Paris.

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benswelt begriffen werden, als eine Reaktion, die diese ursprüngliche Verunsicherung gewissermaßen als Möglichkeit verstand. In einem Anblick zeigt das kubistische Bild die Spur verschiedener Blickpunkte – und aktualisiert so die Unfähigkeit der zentralperspektivisch ausgerichteten Sicht, die von ihr jeweils als scheinbar gesichert vorgestellten Anblicke davor zu bewahren, Bruchstücke zu sein. Es fasst das, was der fahrbare Guckkasten in London zu Beginn des Jahrhunderts in einer Abfolge von gerahmten Bildern zeigte, simultan in einem Anblick zusammen. Von den anderen Kubisten unterschied sich Delaunay zunächst vor allem durch die Wahl der Objekte, die er durch die simultane Repräsentation der verschiedensten Blickwinkel zerlegte bzw. zusammensetzte. Er malte eben vor allem den Eiffelturm, also ein sehr großes und nur aus einiger Entfernung als Ganzes zu fassendes Objekt, während die meisten anderen Kubisten kleine, handliche und letztlich durch die Tradition überlieferte Objekte, wie Gitarren, Vasen und menschliche Gesichter malten. Tauchte der Eiffelturm auf diesen frühen Bildern auf, so brach er meist zusammen. Darin kann man eine bewusste oder unbewusste Anspielung auf die Zerstörung des Turms zu Babel sehen und es wurde auch als solche gesehen.144 Der Turm stand hier also vielleicht für die Hybris der Menschen, diesmal für die im Zeitalter der Industrie. Folgerichtig nahm Delaunay seinen Zusammenbruch vorweg oder besser: Er brachte ihn in Bewegung, er nahm ihm seine Stabilität, wodurch sich ein gewisser Pessimismus den neuen technischen Möglichkeiten und den Möglichkeiten der Erzeugung von Überblick gegenüber ausgedrückt haben mag, der in seinen späteren Bildern fehlt. Kurz könnte man vielleicht sagen: Die Wahrnehmung des Eiffelturms ist in Delaunays frühen Bildern schwindelerregend, die Vielzahl der Blickwinkel löst Ordnungszusammenhänge auf – noch ohne wirklich verlässliche neue zu schaffen. Interessant ist hier auch, dass in diesen Bildern häufig das alte Motiv des Fensters auftaucht, das im Bild den Rahmen des Bildes verdoppelt. Die Funktion des Rahmens als Instrument, als Medium, das half, die Fülle des Wahrgenommenen zu ordnen und isoliert zu erfassen, hielt Delaunay als Kubist für unzeitgemäß. Diese Möglichkeit war im Zeitalter der Großstadt in Gefahr. Sie war von der Kapitulation des Blicks im Unten vor der Flut der Wahrnehmungen betroffen. Ein Ausdruck, den Delaunay hierfür fand, war der bemalte Rahmen. Vor dem Fenster zerbrach die alte Ordnung und so musste das Fenster seine abgrenzende und ordnende Wirkung verlieren. Der fiktive Raum hinter dem Fenster, der Ort, von dem man als Betrachter scheinbar auf das Abgebildete blickt, wurde in die Unordnung vor dem Fenster hineingezogen, die Trennung war nicht aufrechtzuerhalten.

144 Z.B. von Michael Hoog: „La tour 1909-11“, in: „Robert Delaunay“, Baden Baden, 1976, S. 112.

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Dies spielte sich in der destruktiven Phase Delaunays ab. Aber diese Phase endete: Der Thematisierung der Auflösung alter Formen folgte die Entwicklung neuer bzw. die Nutzbarmachung der bereits im Laufe des Jahrhunderts entwickelten Formen auch für die moderne Kunst und damit in gewisser Hinsicht ein Ende des Kubismus. Diese Wende kündigt sich schon in „Simultanfenster auf die Stadt“ (Abbildung 22) von 1912 an. Zwar war hier der Zusammenbruch der alten Ordnungsmedien vollzogen, aber die neuen waren schon vertreten: vertreten durch den Eiffelturm, das einzige identifizierbare Einzelding in „Simultanfenster auf die Stadt“, das einzige Ding, welches sich der Auflösung widersetzt. War der Turm in den früheren Bildern noch ins Wanken geraten, so wurde er nun zum einzig Festen, wurde er eben im Sinne Barthes’ „festes Zentrum“. Diese Stellung des Eiffelturms ist in „Simultanfenster auf die Stadt“ noch ziemlich undeutlich. Sie wurde aber deutlicher in einer ganzen Serie von Bildern, die seit 1912 entstanden und die den Titel „Die Mannschaft von Cardiff“ trugen (Abbildung 23). Hier verliert auch der Eiffelturm seine Vorrangstellung und zwei weitere Medien des Überblicks geraten ins Bild: das Riesenrad und das Flugzeug. Der Turm steht nur noch als grauer Urahn im Hintergrund. Gerade dadurch wird aber die Wirkung deutlich, die er als Medium hatte und die nun auch andere Medien erfüllen können: einen ordnenden Blick von oben auf das zu ermöglichen, was aus ihm selbst heraus gesehen nicht mehr zu ordnen ist. Dieser Blick von oben ist hier nur in Form der Orte präsent, die ihn ermöglichen. Gerade dies ermöglicht aber eine bestimmte Art von Simultanität, die Gleichzeitigkeit der Abbildung des „Mediums“ des Blicks von oben und dessen Folge: die Wahrnehmung des im Unten Unübersichtlichen als zusammenhängendes Ganzes. Im Vordergrund des Bildes schaut man von unten in den Trubel eines Jahrmarktes und eines Rugbyspiels hinein. Die Gesichter der Spieler sind – wenn überhaupt – nur sehr undeutlich zu erkennen, und auch ihre Körper verschwimmen miteinander, sind nicht klar voneinander abgegrenzt.

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Abbildung 22: Robert Delaunay, Die Simultanfenster (1. Teil, 2. Motiv, 1. Replik).

Hamburger Kunsthalle, 1912

Abbildung 23: Robert Delaunay, Die Mannschaft von Cardiff.

Bayrische Staatsgemäldesammlungen, 1912/13

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Die Szene ist also kaum als Erzählung eines Ablaufs zu lesen, sie vermittelt sich vielmehr unmittelbar als Gesamteindruck und damit als etwas, was man mit Barthes durchaus als Folge des Blicks von oben bestimmen kann, ganz ähnlich jenem „große(n) Tuch mineralischer und vegetarischer Formen“. Die Bewegung des Einzelnen, der einzelnen Figur, tritt also zugunsten der Bewegung des Ganzen zurück, sie trägt als Einzelnes nur noch zu der Gesamtbewegung bei. So ist aber das Merkmal schon dieser Szene nicht mehr die Auflösung, die sich in Delaunays frühen Bildern des Eiffelturms bemerkbar gemacht hat. Die einzelne Form, der einzelne Körper wurde aufgelöst, aber an seine Stelle tritt jetzt eine höhere Einheit. Das Bild wirkt so sehr viel harmonischer und geordneter als die Bilder des instabilen Turms. Diese neue Ordnung hat ihren Grund eben in dem, was über der Szene, in die man aus ebenerdiger Perspektive hineinblickt, in den Himmel ragt. Dort bietet uns das Bild gewissermaßen die drei Orte zur Identifikation an, die klar abgegrenzt in einen freien Himmel ragen, das Flugzeug, das Riesenrad und den Turm. In den frühen Turm-Bildern von Delaunay gab es eigentlich keinen Himmel. Die Luft um den Turm war vielmehr stets von ineinander verschachtelten Formen, von Wolkenblasen, blauen Zacken und Linien eingenommen, die mit den ins Rutschen geratenen Häusern vor dem Turm verschmelzen, deren rahmende Wirkung so in Zweifel gezogen wird. Nun, über der „Mannschaft von Cardiff“, ist der Himmel frei. Nur einige, wohlgeordnete, klar identifizierbare Wolken sind zu sehen und eben jene drei erhöhten Orte, die Mittel, die den Blick von oben ermöglichen. Zumindest zwei dieser Orte am Himmel haben offenkundig auch in der Realität nur einen praktischen Sinn, nämlich den, ein Subjekt in die Höhe zu befördern, damit es von oben nach unten blicken kann: der Turm und das Riesenrad. Aber auch das Flugzeug hatte diesen Sinn und natürlich war gerade die Möglichkeit eines bis dahin nicht möglichen Blicks von oben für dessen faszinierende Wirkung verantwortlich oder mitverantwortlich. Im bald ausbrechendem Ersten Weltkrieg wurde diese Möglichkeit wie erwähnt zum wichtigsten, anfangs zum einzigen Zweck dieses Mediums. Aus dieser Zeit stammt auch eine in diesem Zusammenhang interessante Werbeanzeige (Abbildung 24). Hier wird der durch das Fernglas von unten nach oben auf das Flugzeug gerichtete Blick des Soldaten zum Zeichen seiner imaginären Identifikation mit diesem nunmehr militärischen Wahrnehmungsmittel. Die „Mannschaft von Cardiff“ fügt dieser Struktur zusätzlich die Frucht des Blicks von oben hinzu, diejenige des Blicks, der hier dem Betrachter des Bildes zur Identifikation angeboten wird: die Wahrnehmung des aus dem Unten heraus nicht Fixierbaren als organisches Ganzes. Das Riesenrad führt den Blick im Unten nach oben und gibt ihn an den Turm und das Flugzeug ab. So lenkt es ihn zu dem freien Raum über dem Jahrmarkt, von dem aus dieser von oben gesehen und so als geordnetes Ganzes wahrgenommen werden kann. Dieser Blick von oben ist in dem Bild nicht explizit umgesetzt, aber er entfaltet seine Wirkung und auch die Bedingungen seiner Möglichkeit sind präsent. In einer noch späteren Phase seiner Malerei tut Delaunay auch

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den letzten Schritt und malt sein Objekt, den Eiffelturm, tatsächlich von oben. Dabei verwendet er als Vorlage Luftbilder, Fotos, die aus dem Flugzeug aufgenommen wurden. Seine Tendenz hin zu einer neuen Ordnung ist in diesen Bildern abgeschlossen. Abbildung 24: Werbung für Benz Automobile und Flugmotoren.

Leibziger Illustrierte Zeitung, Nr. 3902, April 1918

In einer Hinsicht widersteht die Malerei Delaunays so aber scheinbar den zeitgenössischen Formen des Blicks nach unten: Sie ermöglicht nicht das Aufsuchen des isoliert erfassten Einzelnen im Ganzen. – Sie betont gewissermaßen das Kollektiv, sie muss den nach dem eigenen Ort im Überblickten suchenden Blick enttäuschen, sollte er auf der Abgeschlossenheit des Selbst oder des Anderen in seiner Beziehung zum Ganzen beharren. Bei Delaunay zeichnet sich eine Tendenz ab, die das eigene Dasein nur noch in seiner Beziehung zum Ganzen erblicken möchte. Vielleicht könnte man sagen: Die Synthese des „ganzen Menschen“ wird abgelöst durch die Synthese des Ganzen, die ihr bisher als metaphorischer Ausdruck zur Seite stand. Es wird hier aber nicht wirklich auf den Blick nach unten verzichtet – die Beziehung des Einzelnen zum Ganzen bleibt das bestimmende Thema: Es wird ja seine Auflösung im Ganzen regelrecht gefeiert. Allerdings kann man beobachten, dass

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diese Betonung der „vegetarische(n) Fläche“ zuungunsten der einzelnen „Pflanze“ nur möglich wird, wenn das Ganze vom Standpunkt des Überblicks erfasst wird – nur wenn das Subjekt des Blicks von oben souverän bleibt, kann es seine Souveränität als sein eigenes Objekt an das Ganze abgeben. Abbildung 25: Alexander Rodtschenko, Fotomontage.

Aus: Wladimir W. Majakovski, „Darüber“, 1923.

Die Feier des Kollektivismus setzt einen Punkt des souveränen Überblicks voraus, der zumindest im Sinne einer vermittelnden Identifikation als offen erscheint. Dieses Moment betonte Rodtchenko in einer deutlich auf die „Mannschaft von Cardiff“ verweisenden Fotomontage, die er für Majakowskis Gedichtband „Pro eto“ („Darüber“) anfertigte (Abbildung 25): Hier wird nun eine in der Straße sich hinziehende Menschenmasse vom Flugzeug, vom Turm und von einem als Rad fungierenden Autoreifen herab überschaubar. Rodtchenko platziert aber eben auf dem Turm zudem den gewissermaßen zum Flug bereiten Künstler, dem es gegeben ist das Ganze von oben zu sehen und zu verstehen. An der Stelle dieser Künstlerfigur fand sich, wie bereits beschrieben wurde, in anderen Zusammenhängen diejenige des „Führers“.

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Wie bereits an Lesage mit gewissen Einschränkungen zu sehen war, reagierten auch literarische Texte durch das Mittel des Überblicks auf die sich verändernden Bedingungen in der Großstadt und auf die von ihnen an den Einzelnen gestellten Anforderungen. Mit der beginnenden Moderne wird dieser literarische Einsatz von Momenten des Überblicks zu einem häufigen Phänomen, das hier abschließend an einigen besonders geeigneten Beispielen betrachtet und in seinen feineren Nuancen beleuchtet werden soll. Karl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“ Der Überblick in seiner Funktion als Metapher der Selbstfindung, als metaphorische Voraussetzung der Synthese eines unter einem Mangel an Souveränität leidenden Subjektes zur Einheit eines „ganzen Manschen“ geht den oben beschriebenen Entwicklungen voraus. Schon bevor vor allem die Großstadt die Bedingungen der Moderne in einem nur noch von oben überschaubaren Raum zusammenzog, ließen die neuen Ausprägungen des Selbstbezugs und der Selbstkontextualisierung den Überblick auf den Plan treten. Tatsächlich kann die Betrachtung dieser Momente des Überblicks in der Literatur darauf hinweisen, dass die Großstadt mit dem in ihr auftretenden Problem der „Masse“ den Traum vom „ganzen Menschen“ enden ließ – zumindest soweit dieser als Gegenstand einer (Selbst-)Beobachtung verstanden wird. Besonders ausdrücklich wird der Überblick als Ausdruck der Einheit des Selbst in Karl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“ genutzt. In dieser Geschichte einer aus religiös motivierter Selbstauslöschung hervorgehenden (zumindest versuchten) Selbstfindung fällt der oft quälende, am Idealbild sich messende Blick auf sich selbst mit dem räumlichen Überblick sowohl als Metapher des erreichten Selbstverständnisses als auch des Selbstverlustes, der Verirrung, zusammen. Schon in dem kleinen Vorwort des Herausgebers zum ersten Teil drückt Moritz aus, das Bestreben seines „psychologischen Romans“145 sei es, „die Aufmerksamkeit der Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen“.146 Ausgangspunkt der entsprechenden Lebensgeschichte ist dabei der Versuch des einer vom Quietismus beeinflussten Sekte angehörenden Vaters, das Kind im Sinne

145 Der Untertitel bzw. die Gattungsbezeichnung des Buches lautet: „Ein psychologischer Roman“. 146 Moritz 1997, S. 7.

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dieser ursprünglich katholischen Richtung der Mystik zu erziehen, die von pietistisch orientierten Protestanten zu jener Zeit aufgegriffen wurde. Als Ziel der entsprechenden Lebensführung erscheint dabei ein religiös vermittelter Selbstbezug: Der Einzelne soll von sich selbst absehen, die Ansprüche seines Selbst auslöschen, um sich metaphorisch zum Gefäß des Göttlichen zu machen. Ähnlich wie im Falle des Pietismus führte dieses Programm der Selbsterhöhung durch Selbsterniedrigung oder gar -auslöschung zu der paradoxen Konsequenz einer intensiven Selbstbeobachtung und -thematisierung: Um die auszuschaltenden Regungen in sich zu erkennen, ist eine strenge autobiografische Selbstreflexion vonnöten – eine permanente Selbstaufklärung gewissermaßen. Über diese Beschäftigung mit den eigenen psychischen Zuständen, Erlebnissen und Akten kann man schließlich zu deren zumindest zeitweisen Ausschaltung gelangen. Dieses Programm beschreibt Moritz in seinem Roman sehr klar. Es wurde in den niedersächsischen Quietistenzirkeln durch die Schriften der Madame Guyon verbreitet, die auch Anton Reiser zu lesen bekommt: „Hierin ward gezeigt, wie man nach und nach dahinkommen könne, sich im eigenen Verstande mit Gott zu unterreden und seine Stimme im Herzen, oder das eigentliche innere Wort, deutlich zu vernehmen; indem man sich nämlich zuerst so viel wie möglich von den Sinnen los zu machen und sich mit sich selbst und seinen Gedanken zu beschäftigen suchte, oder meditieren lernte, welches aber auch erst aufhören und man sich selbst sogar erst vergessen müsse, ehe man fähig sei, die Stimme Gottes in sich zu vernehmen.“147

Diese Form des Selbstbezugs ist dabei sicherlich etwas, was Moritz auch in der Abkehr von ihrer religiösen Begründung und Zielsetzung in gewisser Weise beibehält. Seine genaue psychologische (Selbst-) Beobachtung folgt der religiösen Praxis der Selbsterforschung. – Sie tut dies aber in einer um die Stelle Gottes verminderten Selbstbeziehung, in der der Einzelne sich als Komplex kausaler Einwirkungen und psychischer Folgen verstehen möchte. An die Stelle der Offenbarung setzt sie die Reflexion. Ziel dieses Selbstverständnisses ist nicht mehr die Selbstauflösung, sondern die Selbstkontrolle und die vernünftige – eben aufgeklärte – Gestaltung des „individuelle(n) Dasein(s)“. Die genaue Erfassung und Ordnung des Einzelnen ist dabei sowohl Programm der durch den Erzähler vertretenen Reflexion als auch der Figur Anton: In der Einleitung zum zweiten Teil des Romans wird dieses Programm durch den „Herausgeber“ genauer bestimmt. Es gehe um die „Darstellung eines Menschenlebens, bis auf seine kleinsten Nuancen.“148 Das Leben bestehe „aus einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten, die alle in dieser Verflechtung äußerst

147 Ebd. S. 22. 148 Ebd. S. 113.

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wichtig werden, so unbedeutend sie an sich erscheinen.“149 Diese wichtigen Kleinigkeiten gelte es, genau in den Blick zu nehmen und in ihrer zugrundeliegenden Ordnung und Harmonie zu erkennen: „Wer auf sein vergangenes Leben aufmerksam wird, der glaubt zuerst oft nichts als Zwecklosigkeit, abgerissne Fäden, Verwirrung, Nacht und Dunkelheit zu sehen; je mehr sich aber sein Blick darauf heftet, desto mehr verschwindet die Dunkelheit, die Zwecklosigkeit verliert sich allmälig, die abgerißnen Fäden knüpfen sich wieder an, das Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet sich – und das Mißtönende löset sich unvermerkt in Harmonie und Wohlklang auf.“150

Sowohl das Mittel der hierin enthaltenen Metapher des Blicks, des Sehens für die Selbstreflexion als auch die Hoffnung auf eine durch diesen Blick zu erkennende „Harmonie“ des Daseins im Ganzen finden sich auch der Figur Anton zugeordnet. Von frühster Jugend an ist er fasziniert von kohärenten Ganzheiten, die eine Mannigfaltigkeit von Einzelheiten in eine Ordnung bringen – und die insofern durchaus der überlieferten leibnizschen Definition des Harmoniebegriffs entsprechen. Dies bezieht sich zunächst in erster Linie auf Texte, seien es die Reize einer „schönen, zusammenhängenden Erzählung“151 oder die von ihm geschätzten Predigten, die er aufschreibt, um ihre innere Ordnung zu erkennen: […] er wollte nicht nur durch einzelne Stellen erschüttert werden, sondern das Ganze der Predigt fassen […].“152 In seinem Umgang mit wissenschaftlichen Fakten und Diskursen verschafft er sich Übersicht, indem er Tabellen anlegt, „wo er das Detail immer dem Ganzen gehörig unterordnete“. Bereits hier bietet sich dem Erzähler die verräumlichende Metapher der Kartografie an: „Alles, was er noch nicht durchdacht hatte, lag auf dieser Charte wie ein unbekanntes Land vor ihm.“153 In dem Moment nun, in dem der entsprechende ordnende Blick sich schließlich in ausdrücklicher Weise auf sein „Dasein“ richtet, verbindet er sich in typischer Weise mit dem Blick von oben, durch den der Gesamtzusammenhang der Harmonie der Einzelheiten des Lebens als räumlicher metaphorisiert werden kann – und zwar auf die Einheit des Selbst, des „ganzen Menschen“ bezogen, nicht nur im älteren Sinne auf die der Welt. Ein ontologischer Unterschied zwischen den Texten, deren Harmonie Reiser genießt, und den Gegebenheiten und Zusammenhängen des Lebens wird dabei letztlich nicht gemacht: Die Harmonie des Lebens hat denselben Status wie die der Texte. Eine Unterscheidung zwischen hergestellter und gegebe149 Ebd. 150 Ebd. 151 Ebd. S. 26. 152 Ebd. S. 91. 153 Beide Zitate: ebd. S. 231f.

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ner Harmonie findet sich zumindest nicht ausdrücklich – und es wird daher noch zu fragen sein, welches Konzept Moritz hier in Bezug auf das „Dasein“ voraussetzt. Die Funktion der überblickenden Verräumlichung des Selbst wird besonders klar, wenn man zunächst die ambivalente Rolle des Blicks auf den Einzelnen zwischen Dezentrierung und Rezentrierung ins Auge fasst: Der Blick auf sich selbst und auch der Blick der Anderen auf seine Person haben für Reiser stets zwei Seiten. Neben der Wirkung, ihn „wichtiger zu machen“ können beide auch Ausdruck des Gegenteils, einer Dezentrierung werden, in der er sich nur noch als unbedeutend und verzichtbar erscheint. Diese Form der ungewollten Selbstvernichtung ist es, gegen die sich das Programm der rezentrierenden Selbstbetrachtung richtet. Der Blick der Anderen wird Reiser zum Grund einer Scham, die sein „innerste(s) Wesen, […] sein eigentliche(s) Selbst“154 betrifft, die ihn „vor sich selbst vernichtet“.155 Andererseits hat er Angst davor, er könne „keines Menschen Aufmerksamkeit auf sich mehr“156 erregen. Der Blick der Anderen kann ihn vernichten und ihn andererseits in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Er ist zu fürchten und wird zugleich gesucht. Als Grund für Reisers einsame Spaziergänge vor den Toren Hannovers wird angegeben, dass er durch sie „den hämischen Blicken seiner versammelten Mitschüler und der gänzlichen Vernachlässigung und dem unerträglichen Nichtbemerktwerden, das ihm bevorstand, entfloh“.157 Eine besondere Ausprägung dieser Blicke des „Nichtbemerktwerden(s)“ sind solche, in denen Reiser sich selbst als unbedeutenden Teil in einem ungeordneten Ganzen wahrnimmt. Seine stete Sorge, die „ihm oft sein Dasein lästig machte“, ist „diese Unbedeutsamkeit, dies Verlieren unter der Menge“.158 Die Menge – verstanden als unstrukturierte Masse, als nicht auf eine „höhere“ Ordnung bezogene Unordnung – reduziert den Einzelnen auf ein unbedeutendes Teilchen, eine flüchtige Nuance, die nicht zu einer übergeordneten „Harmonie“ beiträgt: „[…] man ist unter so vielen, die sind und gewesen sind, nur einer.“159 Demgegenüber steht Reisers Sehnsucht danach, sich als sinnvollen Teil eines harmonischen Ganzen zu betrachten, „in Reih und Glied“ mit anderen zu stehen, wie es verschiedentlich in einer militärischen Metapher heißt.160 Ein Mittel, dies zu erreichen, ist für Reiser auch das Theater. Auf der Bühne sind die Blicke in einer Weise auf ihn gerichtet, die ihn wichtig erscheinen lässt, die ihn zum Teil eines harmonischen Ganzen macht. Als Form des Selbstbezugs gibt ihm dies aber vor allem die Gelegenheit, sich als „gan154 Ebd. S. 156. 155 Ebd. 156 Ebd. S. 157. 157 Ebd. S. 253. 158 Ebd. S. 242. 159 Ebd. S. 239. 160 Ebd. S. 60, 188.

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zer Mensch“ zu präsentieren, diejenigen Anteile seiner selbst zu aktivieren, die ansonsten unbeachtet und unterdrückt bleiben müssten. Dieser angestrebte das Ganze des Selbst erkennende und aktivierende Selbstbezug stellt wohl auch das Hauptanliegen sowohl Antons als auch des Erzählers dar: „Und dann konnte er auf dem Theater alles sein, wo er in der wirklichen Welt nie Gelegenheit hatte […].“161 Was sich im „Anton Reiser“ also unter anderem ausgedrückt findet, ist das Leiden an den Mängeln, die die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft in dem Moment erzeugen musste, als sie auf den ihr entgegengesetzten bürgerlichen Anspruch traf, der Einzelne solle sich als „ganzer Mensch“ selbst erkennen und gestalten. Ausdruck dieser Situation ist die durchaus an die Moderne erinnernde Angst vor dem Selbstverlust in der Menge bzw. Masse. Anders als deutlicher von der Konfrontation mit diesem Komplex von Phänomenen betroffene spätere Texte findet die Selbstbetrachtung hier ihren Gegenstand aber eben nicht nur in „Reih und Glied“ als Teil eines Ganzen, sondern auch ihn selbst als Ganzes. Der „Anton Reiser“ teilt also Aspekte mit modernen aber auch mit eher der Aufklärung entstammenden Texten. Die unter den Vielen drohende Selbstentwertung findet sich auch an einer Stelle angesprochen, die beinahe schon an spätere Schilderungen der großstädtischen Lebenswelt erinnert. Zwar war das Hannover des ausgehenden 18. Jahrhunderts natürlich keineswegs eine Großstadt. Deren Wirkungen entstanden aber eben nicht nur aus einer rein quantitativen Reizüberflutung. Sie hatten ihre Ursachen auch in den Ansprüchen an eine gelungene Selbstkontextualisierung im Zusammenhang mit den Anderen und dem Anderen. – Und an diesen im Laufe der Aufklärung entstanden Ansprüchen konnte man auch im „Gewühl“ einer kleineren Stadt scheitern – auch wenn weiter unten in Abgrenzung zu späterer Großstadtliteratur noch zu zeigen sein wird, dass sich die Funktion des Überblicks in dem Moment, in dem die Masse eindeutig auf den Plan tritt, ein wenig verschiebt. Reiser reagiert auf dieses Scheitern durch eine räumliche Distanzierung von ihrem Ort, die diesen, die Stadt, zugleich in typischer Manier in Opposition zur befreienden Natur setzt: „Sobald er aus dem Gewühle der Stadt war und die Türme von Hannover hinter sich sah, bemächtigten sich seiner tausend abwechselnde Empfindungen. – Alles stellte sich ihm auf einmal aus einem anderen Gesichtspunkte dar – er fühlte sich aus alle den kleinlichen Verhältnissen, die ihn in jener Stadt mit den vier Türmen einengten, quälten und drückten, auf einmal in die große offene Natur versetzt und atmete wieder freier – sein Stolz und sein Selbstgefühl strebten empor – sein Blick schärfte sich auf das, was hinter ihm lag, und fasste es in einem kleinen Umfange zusammen. […] Alles schien ihm da [in der Stadt, M.R.] so dicht, so klein in einander zu laufen, wie der zusammengedrängte Haufen Häuser, den er noch in der Ferne sahe – und nun dachte er sich hier auf dem freien Felde die Stille und dass ihn niemand bemerkte, niemand ihm eine hämische Miene machte – und dort das lärmende Ge161 Ebd. S. 180.

316 | D AS G ANZE IM B LICK wühl, das Rasseln der Wagen, denen er aus dem Weg gehen musste, die Blicke der Menschen, die er scheute […].“162

Diese Distanzierung, die es ihm erlaubt den Bereich, in dem er sich zuvor verlor, als Ganzen in den Blick zu nehmen, wird im Falle einer späteren Großstadt eben nur noch aus dem „Gesichtspunkte“ des Überblicks zu haben sein. Dieser Überblick findet sich auch in Moritz’ Roman an mehreren Stellen. Der Blick von oben wird für Reiser wiederholt zu derjenigen Perspektive, durch die er sein Dasein als Ganzes in den Blick zu nehmen scheint, durch die er den Anspruch sich selbst als ganzen Menschen, als harmonischen Komplex von „Nuancen“ zu sehen, als erfüllt erleben kann. Ermöglicht wird dieser Blick also nicht nur dann, wenn Anton die jeweilige Stadt, in der er wohnt von außen als ganze erfasst, wenn er sie von ihrer Stadtmauer umfasst erblickt, sondern auch dann, wenn er sie, wie im Falle Erfurts, vom Wall herab überblickt: „Hinter dem Hause war gleich die alte Stadtmauer, von welcher man die Aussicht nach dem Kartäuserkloster hatte. Die Mauer war oben zum Teil mit Gras bewachsen und an verschiedenen Orten halb eingefallen, so dass man bequem hinaufsteigen und alsdann die großen Pläne von Gärten, womit Erfurt noch innerhalb seiner Mauer umgeben ist, übersehen konnte. […] Wenn er auf den Wällen von Erfurt um die Stadt spazieren ging, so fühlte er lebhaft, dass er durch eigene Anstrengung sich aus seinem unerträglichen Zustande gerissen und seinen Standpunkt in der Welt aus eigener Kraft verändert hatte. […] Und dies waren die glücklichsten Momente seines Lebens, wo sein eigenes Dasein erst anfing ihn zu interessieren, weil er es in einem gewissen Zusammenhange und nicht einzeln und zerstückt betrachtete. Das Einzelne, Abgerissene und Zerstückte in seinem Dasein war es immer, was ihm Verdruß und Ekel erweckte.“163

In dieser verräumlichenden Metapher des Daseins liegt auch die umgekehrte Möglichkeit, die Unfähigkeit, das eigene Leben zu verstehen, als Verirrung darzustellen. Auf diese kann dann wiederum der Blick von oben behebend reagieren. Zwischen Gotha und Eisenach umherirrend erlebt Anton einen zwischenzeitlichen Lichtblick, als er die Wartburg erklimmt, um von dort oben einen Überblick über das Umland zu erhalten: „Nachdem er nun in dem Gasthofe seine Zeche bezahlt hatte, so blieben ihm von seinem ganzen Vermögen noch fünf oder sechs Dreier übrig, womit er auf die Wartenburg stieg und von da die weite und schöne Gegend vor sich übersahe. […] Er fühlte sich, indem er um sich herblickte, auf einem Standpunkte über seinem Schicksal erhaben.“ 162 Ebd. S. 252. 163 Ebd. S. 411f.

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Wieder unten, verirrt er sich aber erneut: „So labyrinthisch, wie sein Schicksal war, wurden nun auch seine Wanderungen, er wußte sich aus beiden nicht mehr herauszufinden; vor Gotha schien sich seine Straße zurückzubiegen, und er musste doch wieder durch, wenn er seinen Weg nach Mühlhausen fortsetzen wollte; und weil er nun die geraden Straßen scheute, so war es ihm gewissermaßen lieb, wenn er sich verirrte.“164

Interessant ist in diesem Zusammenhang nun die Frage, inwieweit man es im Falle der Momente des Überblicks bei Moritz mit deren Säkularisierung zu tun hat. Natürlich ist durch das Konzept der Harmonie zweifelsohne der entsprechende auf Leibniz zurückgehende Begriff angesprochen. Die Harmonie erscheint bei Moritz als etwas, was als Eigenschaft des Daseins des Einzelnen hergestellt oder aber entdeckt werden kann – und zwar durch den (Über-)Blick der Selbstbetrachtung. Insofern stellt er die Instanz der Reflexion im Subjekt an die Stelle, an der bei Leibniz die das Ganze in Einem spiegelnde Monade stand. Entsprechend wird nun eben auch die Metapher des Überblicks, durch die die Harmonie als räumlicher Komplex darstellbar wird, als Nebeneinander von Elementen, dem menschlichen Subjekt zugeordnet, das bei Leibniz noch das in ihm gespiegelte Ganze in einem Nacheinander „ausfalten“ musste. In seinen „Aussichten zu einer Experimentalseelenkunde“ wird Moritz in diesem Punkt sehr ausdrücklich: „Nun wird aber dasjenige in der Nebeneinanderstellung oft zur Harmonie, was einzeln genommen mißtönen würde: Dies trifft auch beim Menschen ein. Welche Harmonie muss der höchste Verstand vernehmen, in dem alles nebeneinander steht, und zugleich tönet, was uns aufeinander zu folgen, und einzeln zu tönen scheinet! Etwas Ähnliches wird vielleicht einmal das Resultat von allen nebeneinadergestellten Bemerkungen des Menschenbeobachters sein. […] Aber wer gibt dem Beobachter des Menschen immer Kälte und Heiterkeit der Seele dazu, alles was geschieht, so wie ein Schauspiel zu beobachten, und die Personen, die ihn kränken, wie Schauspieler? Ja wenn er nur nicht selber mit im Spiele begriffen wäre, und wenn nur kein solcher Rollenneid statt fände? – Aber was soll einer denn tun, wenn er von Menschen oder von seinem Schicksale unterdrückt wird, und nun nicht weiter kann? Was Bessers und Edlers, als sich hinaus versetzen über diese Erde, und über sich selber, gleichsam, als ob er ein anderes von sich selber verschiedenes Wesen wäre, das in einer höhern Region, aller dieser Dinge lächelt – und auf die Art über sich selber, über seine eigenen Klagen und Beschwerden – lächeln – das alles wie ein Schauspiel zu betrachten – welche Wonne, welch eine Erhebung zum allesumfassenden Schöpfer des Weltalls!“165

164 Ebd. S. 394f. 165 Moritz 1981, S. 94.

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Ausgehend von einer deutlichen Bezugnahme auf die leibnizsche Unterscheidung der göttlichen und der menschlichen Anschauungsform vollzieht Moritz hier eine Säkularisierung der ersteren: Das menschliche Subjekt der Selbstreflexion erkennt die Harmonie des Ganzen, indem es sich über sich erhebt und so das Ganze als Nebeneinanderstellung von Einzelnem betrachtet. Die Säkularisierung geschieht hier gerade durch die in der Metapher des Blicks von oben liegenden Verräumlichung. Die Ausfaltung des Ganzen in einem nie abzuschließenden Nacheinander wird umgangen und der Anblick, d.h. das Verständnis des Ganzen, erscheint als Möglichkeit der menschlichen Anschauung – solange sie sich auf das „individuelle Dasein“ bezieht. Die Eigenschaften Gottes gehen so über auf das reflektierende Subjekt: „Dem pseudogöttlichen Auge weitet sich im Zuge seiner Säkularisierung der Horizont zu immer umfassenderem Überblick über das Ganze.“166 Ob hier nun aber tatsächlich von einer vollständigen Säkularisierung der Funktion des Überblicks die Rede sein sollte, hängt wohl auch an der Einschätzung des durch diesen Überblick erfassten Inhaltes: an der Frage, ob Moritz die erkannte Harmonie des Ganzen als gemachte oder entdeckte fasst. In ersterem Fall erschiene der Überblick als Mittel der Konstruktion einer Ganzheit des Daseins, des ganzen Menschen. In letzterem verwiese die Frucht des an sich vom Blick Gottes übernommenen Überblicks wiederum auf eine durch die göttliche Schöpfung verbürgte immer schon gegebene Harmonie. Es spricht einiges dafür, dass Moritz im Sinne der letzteren Möglichkeit noch an die Grundhoffnung auch der (frühen) Aufklärung gebunden blieb – eben an jene grundsätzliche Voraussetzung einer immer schon gegebenen Harmonie des Ganzen. So verstanden erschiene das diese Harmonie aufdeckende Nebeneinanderstellen der Gegebenheiten des Daseins eben als genau dies: eine Aufdeckung. Es erschiene nicht als Herstellung der Harmonie durch das Subjekt und seine Erkenntnis stiftende Perspektive der Retrospektion (also des Überblicks). Eine Maßgabe, die Moritz in seinen „Aussichten“ für die empirische Beobachtung des menschlichen Seelenlebens gibt, ist die folgende: „Die Wissenschaft würde sich auf die Weise allmählich selber bilden, und wie fest würde dies Gebäude werden, wo die Lücken nicht durch leere Spekulationen zugestopft, sondern durch Tatsachen ausgefüllt würden. […] Aber wie soll ein solches Werk jemals vollendet werden? – Dann ist es vollendet, wenn alle Ausnahmen bemerkt sind, wenn die Fakta sich immer so einfinden, dass sie keine Ausnahmen mehr von der Regel machen. – Das System der Moral, das wir besitzen, kann immer als ein ohngefärer Grundriss betrachtet werden, damit man doch nicht ganz aufs Ohngefähr hinarbeitet: aber man muss dies System auch so schwankend, wie möglich nehmen; bloß einige Punkte festsetzen, aber noch nicht von einem Punkte zum anderen Linien ziehen, sondern nun warten, bis diese Linien gleichsam sich selber ziehen.“167 166 Vgl. Kestenholz 1986, S. 40f. 167 Moritz 1981, S. 91.

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Auch im Blick der Selbstbeobachtung müssten sich die Linien der (kausalen) Verknüpfungen zwischen Einflüssen und Reaktionen also „selber ziehen“. Das heißt, bei entsprechend distanzierter Betrachtung wird die wahre Natur dieser Verbindungen erkannt, willkürliche Konstruktionen der Reflexionsinstanz können ausgeschaltet werden. Insofern der zu erkennende Zusammenhang als Harmonie des Ganzen gekennzeichnet ist, erschiene Harmonie so als die Wahrheit des Gegebenen, die erkannt wird, wenn auf „Spekulationen“ verzichtet wird, eine Konstruktion von Zusammenhängen also unterbleibt. Geschieht dies, so ziehen sich die Linien der Harmonie „selber“ – und Harmonie wird entdeckt, nicht hergestellt. Hee-Ju Kim bezieht sich wie folgt auf die oben bereits zitierte Einleitung des Herausgebers zum zweiten Teil des „Anton Reiser“ – und nimmt damit einen anderen Standpunkt ein als Kestenholz, wenn sie annimmt „Harmonie (sei)“ für Moritz „Resultat von Harmonisierung“168: „Der Herausgeber erweckt den Eindruck, als würden sich die einstmaligen Dissonanzen eines Lebens in der vergegenwärtigenden Erinnerung selbsttätig in ‚Harmonie und Wohlklang‘ auflösen. Ein Ordnung schaffender und Sinn stiftender Automatismus scheint sich in Gang zu setzen, sobald man sein Augenmerk auf das Lebensgewirr der Vergangenheit richtet. Da dem fokussierenden ‚Blick‘ Vorurteil und subjektive Zutat fremd seien, postuliert der Herausgeber, dass die ‚abgerissnen Fäden‘ ohne Zutun des Selbstbeobachters sich ‚unvermerkt‘ ‚wieder‘ knüpfen und die einzelnen biographischen Teile sich zu Ordnung und Zweckmäßigkeit des Ganzen fügen.“169 In diesem Zusammenhang ist auch Reisers Faszination für Türme und den Mechanismus des Glockenwerks in ihnen erhellend: „Doch das Bild vom neustädtischen Turme wich nie aus seinen Gedanken, es verfolgte ihn nach Braunschweig und schwebte ihm dort oft in nächtlichen Träumen auf hohen Treppen in tausend labyrinthischen Krümmungen vor, wo er den Turm hinauf stieg, auf der Galerie stand und mit unaussprechlichem Vergnügen das Zifferblatt am Turme betastete, und dann inwendig nicht nur die große Glocke, sondern noch unzählige andere kleinere, nebst mehr wunderbaren Dingen dicht vor Augen sahe, bis er etwa mit dem Kopfe an den unübersehbaren Rand der großen Glocke stieß und erwachte.“170

Moritz liefert in seinen „Aussichten“ selbst die Deutung der hier zugrundeliegenden Metapher:

168 Kestenholz 1986, S. 39. 169 Kim 2004, S. 64f. 170 Ebd. S. 90.

320 | D AS G ANZE IM B LICK „Von dem Leben der Menschen, deren Geschichte beschrieben ist, kennen wir nur Oberfläche. Wir sehen wohl, wie der Zeiger an der Uhr sich drehet, aber wir kennen nicht das innere Triebwerk, das ihn bewegt.“171

Der erhöhte Standort des Turms und das Verständnis für den inneren Mechanismus des Uhrwerks werden auch Reiser zu Zeichen eines Verständnisses für sich und sein Leben, das ihm ansonsten nur als Labyrinth erscheint. Bezeichnenderweise kommt es nie dazu, dass er den Turm tatsächlich besteigt, er fungiert als stets präsentes Zeichen eines möglichen, aber nie dauerhaft erlangten Überblicks über die Verknüpfungen seiner Lebensgeschichte und über die „Mechanik“ seiner Seele. Wirklich erstiegen hat Anton Reiser diesen Turm erst in Gestalt des Erzählers, der sich von ihm distanzierenden Instanz der Selbstreflexion. Die Figur Anton, das Objekt dieser Reflexion, erhält den Überblick und den ins Innere des Mechanismus dringenden Blick nur zeitweise bzw. als Traum. Mit seiner Verarbeitung des Turm-Motivs ruft Moritz aber auch einen zu seiner Zeit durchaus geläufigen Topos auf, welcher der um sich greifenden „Sucht“ nach Überblicken entspricht: der Säkularisierung des Kirchturms als Mittel des menschlichen Überblicks. Bei Oettermann lesen wir: „Dieser Aspekt [die sakrale Funktion des Kirchturms, MR] interessierte die Aufklärung am wenigsten. Es kommt in dieser Zeit […] zu einer Säkularisation des Kirchturms. […] man blickt nicht mehr an ihnen hinauf, sondern, selbst gottähnlich geworden, von ihnen herab. Sie dienen nicht mehr der Ehre Gottes, sondern allein zur Befriedigung der Sehsucht.“172

Wie am „Anton Reiser“ zu sehen ist, hatte diese „Sehsucht“ aber eben eine spezifische Funktion. Sie konnte helfen, einen neuen Anspruch an das Selbstverständnis als erfüllt darzustellen, nämlich den, ein „ganzer Mensch“ zu sein und sich als solchen zu verstehen. In gewisser Hinsicht ist es dabei, wie erwähnt, sicherlich richtig, von einer Säkularisierung des entsprechenden Überblicks zu sprechen: Dieser Blick fand sich nun unvermittelt menschlichen Subjekten zugeordnet. Um den historischen Rahmen der Veränderung sehr grob abzustecken, könnte man einen Vergleich zwischen „Anton Reiser“ und dem „Erec“ ziehen: In beiden gibt es einen Moment, in dem der Held einen „Überblick“ erhält – in letzterem vermittelt durch die Weltdarstellung auf dem Pferd Enites, in ersterem durch Blicke von oben auf das Land oder die Stadt. Für Erec sind sie Zeichen und Offenbarung einer göttlichen Führung, einer aus All-Wissen hervorgehenden Vorsehung. Für Anton stehen sie dafür, „dass er durch eigene Anstrengung sich aus seinem unerträglichen Zustande gerissen und seinen Standpunkt in der Welt aus eigener Kraft verändert hat171 Moritz 1981, S. 92. 172 Oettermann 1980, S. 11.

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te“. Bei Petrarca schließlich erschien der Überblick in genau dieser Form – und musste zu seiner Zeit mit religiösen Konzepten kollidieren, die die Feststellung des „Standpunkt(es)“ des Einzelnen in der Welt nicht seiner „eigene(n) Kraft“ überließen, sondern derjenigen Gottes. Diese Kollision unterbleibt im „Anton Reiser“ völlig. Andererseits bedeutet die Säkularisierung des Überblicks im Dienste der menschlichen Selbstbestimmung eben nicht, dass er jeden Bezug zu religiösen Inhalten verlor. Indem Moritz die Anforderung an das Subjekt als durch Selbstaufklärung zu entdeckende Harmonie von kausalen Verbindungen im (Seelen-)Leben kennzeichnet, überträgt er letztlich das stets im Hintergrund auch der Aufklärung stehende Konzept einer Welt-Harmonie auf das „individuelle Dasein“ – und macht damit den diese Harmonie erkennenden Überblick unzweifelhaft zu einem das Gegebene metaphorisch simultan erfassenden Blick auf das Selbst, wo er zuvor – z.B. bei Leibniz – ein Blick auf die (allerdings bereits im Selbst gespiegelte) Welt war, durch den diese sukzessive ausgefaltet wird. Dennoch ist die zu entdeckende Harmonie des Daseins weiterhin ein Hinweis auf die göttlich verbürgte und objektiv gegebene Harmonie des Ganzen. Indem der Überblick seinem Subjekt ohne jede Vermittlung einen Teil dieser Gesamtharmonie offenbart, rückt er in die Nähe des göttlichen Blicks, der alles mit einem Blick umfasst. Er wird im Sinne der entsprechenden Konzepte eine dem Menschen nunmehr zugängliche und auch erlaubte Übernahme dieser göttlichen Anschauungsform. Die entsprechende Bestimmung Gottes setzt auch Anton Reiser mit impliziter Billigung des Erzählers voraus, um die Einheit des Seins und des Individuums zu gewährleisten, die ihm angesichts der Tatsache zu entgleiten drohen, dass deren Zusammenhang immer nur im Nacheinander der Erinnerung konstruiert erscheint: „Die wahre Existenz schien ihm nur auf das eigentliche Individuum begrenzt zu sein – und außer einem ewig unveränderlichen, alles mit einem Blick umfassenden Wesen konnte er sich kein wahres Individuum denken. – Am Ende seiner Untersuchungen dünkte ihm sein eigenes Dasein eine bloße Täuschung, eine abstrakte Idee – ein Zusammenfassen der Ähnlichkeiten, die jeder folgende Moment in seinem Leben mit dem entschwundenen hatte. – Durch diese Begriffe von seiner eigenen Eingeschränktheit veredelten sich seine Begriffe von der Gottheit – er fing an, nun in diesem großen Begriffe sein eigenes Dasein zu fühlen, das ihm ohnedem unter den Händen zu verschwinden, ohne Zweck, abgerissen und zerstückt zu sein schien.“173

Der Überblick, in dem die Erkenntnis der Einheit und des inneren Zusammenhangs des Daseins liegen, erschiene so eben in der Funktion der metaphorischen Darstellung der göttlichen, aber nunmehr im vollen Sinne mit menschlichen Mitteln übernommenen Anschauungsform.

173 Moritz 1997, S. 247.

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Was geschieht, wenn auch der Hintergrund der immer schon gegebenen, im Sinne der Uhrwerkmetapher hinter der Oberfläche zu suchenden Harmonie der Kausalzusammenhänge verloren geht, war hier bereits an der Bedeutung der Oberflächenmetaphorik zu Zeiten der Moderne zu sehen: Wenn die geordnete Oberfläche ihren ganzen Sinn in sich trägt, verliert ihre Ordnung den Bezug auf jede ihr zugrunde liegende „Harmonie“. Dass dies die Funktion des Überblicks keineswegs erübrigt, zeigt, dass er seine rezentrierende Wirkung schon allein durch die in ihm liegende Selbstkontextualisierung erfüllen kann – unabhängig von einem „höheren“ Sinn oder einer „tieferen“ Bedeutung der durch ihn erfassten Struktur des Ganzen. Im Falle von Moritz scheint durch die Säkularisierung des Überblicks eine wichtige Voraussetzung dafür bereits gegeben zu sein, auch wenn bei ihm noch nicht jeder Verweis auf eine gegebene, nicht gemachte Harmonie des Ganzen aufgegeben wird. E.T.A. Hoffmanns „Des Vetters Eckfenster“ Ein Text, der wie kein anderer die sich verändernden Wahrnehmungsverhältnisse der beginnenden Moderne widerspiegelt und der gerade deswegen zu einem in ähnlichen Zusammenhängen viel zitierten Beispiel geworden ist, ist E.T.A. Hoffmanns „Des Vetters Eckfenster“ (1822). In diesem Text fallen gleich mehrere Aspekte des Überblicks zusammen: Alle drei Konzepte des Blicks, der im Unten, der von oben und der nach unten, werden auf typische Weise miteinander in Verbindung gesetzt. Der Blick nach unten als Möglichkeit der Fixierung des Einzelnen im zuvor Überblickten streift dazu gewissermaßen am Rande diejenige Institution, welche auch in der Moderne und der Stadt der Moderne zumindest prinzipiell ihren Modellcharakter behielt: das Theater. Zudem gibt der in diesem Text erscheinende Überblick keinerlei Hinweise mehr auf einen Bezug zur Anschauungsform Gottes. Im Falle des hier mit Funktion versehen Überblicks wird die entsprechende Leistung als ein Verständnis gekennzeichnet, das nicht nur dem menschlichen Subjekt mit seiner Perspektive zugeordnet wird, wie es auch schon bei Moritz der Falle war. Bei Hoffmann erscheint dieses Verständnis nun vielmehr als (literarische) Konstruktionsleistung, als vom betrachtenden Subjekt ausgehende Verknüpfung von gesehenen Einzelheiten zu einem sinnvollen Zusammenhang. Der entsprechenden Narrativierung des Einzelnen unterliegt so keine immer schon gegebene Ebene eines objektiv, wenn auch verborgen vorliegenden Gesamtzusammenhangs mehr, der auf die Ordnung der Schöpfung verweisen könnte. Mit der spätromantischen Entdifferenzierung von Fiktion und Realität wird auch der Realismus der „Harmonie“ bzw. der dem Ganzen zugrundeliegenden, von der Perspektive des Betrachtersubjekts unabhängigen Ordnung fragwürdig. In dieser Situation zeichnet sich darüber hinaus ab, dass auch der Gegenstand dieser Harmonie als solcher abhanden kommt bzw.

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dass er sich aus dem Inhalt des Überblickten heraus ganz in die Instanz des Subjektes dieses Blicks verlagert: der „ganze Mensch“. Die erzählte Geschichte ist in Kürze folgende: Der Ich-Erzähler blickt, während er einen überfüllten Marktplatz in Berlin überquert, hoch zum über dem Markt gelegenen Eckfenster seines Vetters, dessen Zimmer „ziemlich hoch“174 im Haus liegt, und sieht jenen dort stehen: „Es war gerade Markttag, als ich, mich durch das Volksgewühl durchdrängend, die Straße hinab kam, wo man schon aus weiter Ferne meines Vetters Eckfenster erblickt. Nicht wenig erstaunte ich, als mir aus diesem Fenster das wohlbekannte rote Mützchen entgegenleuchtete, welches mein Vetter in guten Tagen zu tragen pflegte. Noch mehr! Als ich näher kam, gewahrte ich, dass mein Vetter seinen stattlichen Warschauer Schlafrock angelegt und aus einer türkischen Sonntagspfeife Tabak rauchte. – Ich winkte ihm zu, ich wehte mit dem Schnupftuch hinauf.“175

Als er zu seinem Vetter hinauf gestiegen ist, ergibt sich ein Dialog zwischen den beiden, in dem der Vetter, ein Schriftsteller, dem Ich-Erzähler seine – eben schriftstellerische – Wahrnehmungstechnik erläutert, die es ihm erlaubt, die einzelnen Erscheinungen, die für letzteren nicht fixierbar sind und flüchtig bleiben, isoliert zu betrachten, zu fixieren und – sie interpretierend – zu verstehen. Der Ich-Erzähler kennzeichnet seine Wahrnehmung des Marktes dabei zunächst wie folgt: „Ich setzte mich, dem Vetter gegenüber, auf ein kleines Taburett, das gerade noch im Fensterraum Platz hatte. Der Anblick war in der Tat seltsam und überraschend. Der ganze Markt schien eine einzige, dicht zusammengedrängte Volksmasse, so dass man glauben musste, ein dazwischengeworfener Apfel könne niemals zur Erde gelangen. Die verschiedensten Farben glänzten im Sonnenschein, und zwar in ganz kleine Flecken, auf mich machte dies den Eindruck eines großen, vom Winde bewegten, hin und her wogenden Tulpenbeets, und ich musste mir gestehen, dass der Anblick zwar recht artig, aber auf die Länge ermüdend sei, ja wohl gar aufgereizten Personen einen kleinen Schwindel verursachen könne, der dem nicht unangenehmen Delirieren des nahenden Traumes gliche.“176

Er sieht das Getriebe auf dem Markt von dort oben also als Ganzes. Dieser Eindruck ist ihm nicht unangenehm, er versetzt ihn aber in einen etwas entrückten, traumartigen Zustand und verursacht ihm Schwindel. Der entsprechende Zustand entspricht hier genau dem von Barthes geschilderten „große(n) Tuch mineralischer 174 Hoffmann 1996, S. 4. 175 Ebd., S. 5. 176 Ebd., S. 6f.

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und vegetarischer Flächen“, das sich dem Blick vom Eiffelturm darbietet, bevor der Blick von oben seine „Wirkung des Verstehens“177 entfaltet. Der Blick des Vetters dagegen hat ebendiese Wirkung: Er geht von dem erhöhten Standort hinab zu den Einzelheiten in dem vom Ich-Erzähler vorher als Ganzheit Gesehenen und hält sie fest, fixiert sie, indem er sie unter anderem als Zeichen auffasst, die interpretiert und miteinander in Beziehung gesetzt werden können, die so verständlich werden. Die Wahrnehmung des Erzählers erscheint ihm demgegenüber defizient: „Vetter, Vetter! Nun sehe ich wohl, dass nicht das kleinste Fünkchen von Schriftstellertalent in dir glüht. Das erste Erfordernis fehlt dir dazu, um jemals in die Fußstapfen deines würdigen lahmen Vetters zu treten; nämlich ein Auge, welches wirklich schaut. Jener Markt bietet dir nichts dar als den Anblick eines scheckichten, sinnverwirrenden Gewühls des in bedeutungsloser Tätigkeit bewegten Volks. Hoho, mein Freund, mir entwickelt sich daraus die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens, und mein Geist, ein wackerer Callot oder moderner Chodowiecki, entwirft eine Skizze nach der anderen, deren Umrisse oft keck genug sind.“178

Dass wirklich schauen heißt, das Erblickte zu fixieren, wird dabei klar ausgedrückt: „Gut, Vetter, das Fixieren des Blicks erzeugt das deutliche Schauen“179, heißt es etwas weiter unten. Hier haben wir es also mit der Verknüpfung der drei Perspektiven des Blicks in Reinform zu tun: Zunächst steht der Ich-Erzähler unten im „Volksgewühl“ – er blickt im Unten.180 Dann steigt er von unten nach oben und erhält den Blick von oben, durch den er die Menge auf dem Markt als Ganze erfasst. Der Vetter schließlich verfügt über eine – als spezifisch literarisch gekennzeichnete – weitere Möglichkeit: den Blick nach unten, der hinab geht zu den einzelnen Personen (besser vielleicht: Figuren) auf dem Platz. Der Blick von oben wird dabei von Hoffmann ausdrücklich in die Nähe des für ihn noch neuen Panoramas gerückt: Der Vetter übersehe von seinem Fenster „mit einem Blick das ganze Panorama des grandiosen

177 Vgl. Barthes 1970, S. 43. 178 Ebd, S. 7. 179 Ebd., S. 8. 180 Götz Großklaus übersieht in einer ansonsten genauen Auseinandersetzung mit dem Text diesen Umstand, wenn er schreibt: „Die Ausgangssituation ist die folgende: die beiden Vettern blicken von einem erhöhten Beobachterstandpunkt aus herunter auf das Getriebe eines Marktes.“ („Wirklichkeit als visuelle Chiffre – Zur ‚visuellen Methode‘ in der Literatur und Photographie zwischen 1820 und 1860“, in: Segeberg 1996, S. 192). Aber dies ist ja gerade nicht die Ausgangssituation. Wäre sie es, fehlte dem Text ein wichtiges Element: der Blick im Unten in seiner Mangelhaftigkeit, die demjenigen von oben und nach unten erst Sinn verleiht.

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Platzes“.181 Dieser Panoramablick ist dabei Voraussetzung des Blickes nach unten. Bei Großklaus lesen wir: „Die panoramatische Übersicht über ‚eine einzige, dicht zusammengedrängte Volksmasse‘ – über das ‚scheckichte, sinnverwirrende Gewühl des in bedeutungsloser Tätigkeit bewegten Volkes‘ verschafft dem neuen selektierenden Blick die sinnliche Folie, über die seine Leistung der Ausschnittsbegrenzung und der Herauslösung charakteristischer visueller Felder erst möglich wird.“182

Interessant ist nun natürlich, was der Blick nach unten im „Eckfenster“ von oben kommend fixiert. Es sind nämlich Ausschnitte aus der „Volksmasse“, also einzelne Individuen. Von oben blickend erscheinen sie als kompakter Block, in dem sich unverständliche, also „bedeutungslose(r)“ Tätigkeiten abspielen. Diese Individuen fängt der Blick nach unten ein – er hält sie fest, um sie anhand ihrer äußeren Erscheinung zu interpretieren, ihrer Erscheinung in der Fiktion einen Sinn zu verleihen. Darauf, wie dies vonstattengeht, gibt ein bestimmtes Moment der Rahmung in der Erzählung Auskunft: Um den Blick fixieren zu können, rät der Vetter dem Erzähler an einer Stelle, „in die dritte Türöffnung des Theaters“183 zu blicken, um zwei alte Weiber auszumachen. Als dieser Anblick verarbeitet ist, möchte er, „ehe wir uns von der Theaterwand abwenden“184, noch einen Blick auf eine dort sitzende „dicke gemütliche Frau“185 werfen. Dass sich hier die Fixierung der einzelnen Individuen gerade vor der Theaterwand abspielt, ist sicherlich kein Zufall. Es gibt vielmehr einen Hinweis darauf, dass die Figurengestaltung und Typisierung, wie sie auf dem Theater ein Verständnis der Figuren ermöglichte, das Model auch der Fixierung und Interpretation des Anderen in der Stadt ist, darauf, dass dieser andere in der „Volksmasse“ interpretiert und verstanden wird, indem er als Figur aufgefasst wird. Nicht so eindeutig wie bei Lesage geschieht auch hier dabei eine Parzellierung des Raumes, die die Isolierung und Fixierung des Einzelnen erleichtert: Die „dritte Türöffnung“ leistet dies. Über die Typisierung erhält die Interpretation des Gesehenen die Möglichkeit, den Einzelnen in einen fiktiven Kontext zu stellen, ihm eine Geschichte zu geben: Ein von den beiden am Fenster beobachtetes „Frauenzimmer, die sich an der Ecke dort, unerachtet das Gedränge gar nicht zu groß, mit beiden spitzen Ellenbogen Platz macht“186, wird von dem Vetter als zu einem be181 Hoffmann 1996, S. 5. 182 G. Großklaus, „Wirklichkeit als visuelle Chiffre – Zur ‚visuellen Methode‘ in der Literatur und Photographie zwischen 1820 und 1860“, in: Segeberg 1996, S. 192f. 183 Hoffmann 1996, S.9. 184 Ebd., S. 10. 185 Ebd. 186 Ebd., S. 8.

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stimmten Typ gehörend bestimmt: „Ich nenne diese Person, die keinen Markttag fehlt, die rabiate Hausfrau.“187 Die äußeren Zeichen des Verhaltens, der Kleidung usw. werden Zeichen für die Zuordnung der einzelnen fremden Person zu einem gesellschaftlichen Typ. Der spezifisch literarische, sich am Theater orientierende Blick lässt den Einzelnen verständlich werden, indem er die fragwürdig gewordene Verbindung zwischen Erscheinung und Wesen in der Fiktion wiederherstellt. Dadurch wird aber auf dem Marktplatz nicht einfach irgendeine Volksmenge, sondern ein zusammenhängender Komplex von die (bürgerliche) Gesellschaft als Ganze metonymisch verkörpernden Figuren überblickt. – Es ist eine „Szenerie des bürgerlichen Lebens“188, die sich dort ausbreitet (und muss man vielleicht anmerken: zu der der Vetter selbst nicht gehört): „Im Fenster eines Ausschnittes erscheint dann herausgelöst aus der Masse die fremde Person, deren individuelles Geheimnis ans Licht gebracht werden soll. Der neue Blick überführt die irritierende Bedeutungslosigkeit der Tätigkeit des bewegten Volkes in die Bedeutung der enträtselten Geschichte eines einzelnen Individuums. Die Neue Wahrnehmung – wie sie hier Literarisch und vor-photographisch dargestellt wird – arretiert schon Phantasiebilder im Bewegungsfluß der Masse, um an ihnen die Zeichen des individuellen Körpers erkennen und lesen zu können. Über die Körperzeichen enthüllt sich die verborgene Geschichte der fremden Person. In den über den Körper verstreuten Signifikanten ist die vergangene Geschichte der Person präsent. Die Präsenz der erkannten und gelesenen Zeichen wird für den Vetter immer wieder Anlass weitläufiger semiotischer Anschlüsse und Verkettungen auf der Linie der Zeit: er narrativiert die Wahrnehmungserlebnisse und kommt so zum Konstrukt von erzählbaren Geschichten – zum Konstrukt von Bedeutung.“189

„Des Vetters Eckfenster“ ermöglicht also auf der Folie des durch den Blick von oben erfassten Ganzen eine im Blick nach unten liegende Fixierung, Rahmung des Einzelnen und – vermittelt über Typisierung und Narrativierung – dessen Verständnis in der Fiktion. Im Unterschied zu Moritz fehlt diesem Verständnis aber eben der Zug zur Objektivität, der zugrundeliegende Realismus der entdeckten, nicht hergestellten Ordnung. Die Frage, ob die vom Vetter entworfenen Geschichten wahr in der Hinsicht sind, dass sie eine tatsächlich zugrundeliegende Ordnung erfassen, stellt sich nicht in der Weise, wie sie für Moritz bestimmend blieb. Dies gilt auch bis in die Wortwahl hinein für die Selbstthematisierung des Vetters und seiner Methode. Er setzt keineswegs voraus, die Einzelnen im Gewühl als einem bestimmten, objektiv gegebenen Typ zugehörig zu erkennen. Vielmehr ist er es selbst, der diesen 187 Ebd., S. 9. 188 Ebd., S. 7. 189 G. Großklaus, „Wirklichkeit als visuelle Chiffre – Zur ‚visuellen Methode‘ in der Literatur und Photographie zwischen 1820 und 1860“, in: Segeberg 1996, S. 193.

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Typ literarisch beschreibt, um sie ihm zuordnen zu können. Er ist es, der hier die Ordnung herstellt: „Ich nenne diese Person, die keinen Markttag fehlt, die rabiate Hausfrau.“ Bei Lesage hieß es an entsprechender Stelle: „Lasst uns zunächst in dem Haus dort rechts jenen Greis beobachten, der Gold und Silber zählt: das ist ein geiziger Bürger.“190 Hier wird ein Typ hinter der Oberfläche der Erscheinung entdeckt – die Gesellschaft erschien noch als Komplex sicher gegebener Typen. Bei Hoffmann wird ein Typ definiert, um die Oberfläche in eine Ordnung zu bringen, sie verständlich zu machen. Das überblickte Ganze als Folie, auf der die „Linien“ der lebensgeschichtlichen Verknüpfungen erkennbar werden, wird perspektiviert – die Linien ziehen sich nicht mehr selbst, sie werden gezogen. So wird auch der entsprechende Überblick bei Hoffmann in vollem Maße zur Perspektive eines menschlichen Subjektes. Hier verliert er jede Beziehung zu einem überperspektivischen (göttlichen) Blick und wird ganz, also auch in dem, was er als geordnet und sinnvoll erfasst, zur Erkenntnisleistung des nicht mehr in seinem Wesen ausgezeichneten Beobachters. Der Überblick hört hier ganz auf, Nachahmung oder Offenbarung zu sein – und auch die Erkenntnis, die er gibt, wiederholt nicht mehr eine vorgängige Sinngebung in Bezug auf das Ganze. Die hier entstehende Drohung einer Verwischung von Realität und Fiktion war entsprechend auch immer wieder Thema Hoffmanns früherer Texte. In seiner bekanntesten Erzählung, dem „Sandmann“, ist der Moment des endgültigen Scheiterns einer klaren Unterscheidung zwischen beidem, der Moment der endgültigen Kapitulation vor der schwankenden Perspektivität der Wahrnehmung, sicherlich nicht zufällig derjenige eines Blicks vom Turm. Der Kirchturm (bzw. der Ratsturm im „Sandmann“) als Mittel des Überblicks stand für den sich säkularisierenden Blick der Selbstbestimmung, durch den das Dasein des Einzelnen sich als Ganzes und er selbst als ganzer Mensch offenbart. Die nicht zu überwindende innere Zersplitterung Nathanaels, die sich in der Unmöglichkeit der aufklärerischen Unterscheidung zwischen Realität und Fantasie äußert, wird daher besonders eindrücklich dadurch, dass der so verstandene Überblick vom Turm in seinem Falle versagt: „Da standen die beiden Liebenden [Clara und Nathanael, M.R.] Arm in Arm auf der höchsten Galerie des Turmes und schauten hinein in die duftigen Waldungen, hinter denen das blaue Gebirge, wie eine Riesenstadt sich erhob.“191 Bekanntlich endet die Geschichte nicht an diesem Punkt eines gemeinsamen Überblicks, durch den ein gemeinsames Dasein hätte überschaut werden können. Vielmehr fixiert Nathanael durch sein Perspektiv gewissermaßen seine fixe Idee, die er nicht in das Ganze seiner Person integrieren kann – und verlässt den Turm des Überblicks auf endgültige Weise. Was hier im Vergleich zum „Anton Reiser“ fehlt, ist die relativ souveräne Instanz des Erzählers und dessen Perspektive, die 190 Lesage 1954, S. 16; Hervorhebungen von mir. 191 Hoffmann 1991, S. 39.

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gleichsam abschließend auf der Höhe des Turms angekommen ist, während die Figur sich immer wieder unten verliert. Dadurch wird der Überblick hier nie in Erfolg versprechender Weise zum Blick auf das Ganze des „Daseins“ auf den im Raum sich darstellenden „ganzen Menschen“. Die Frage in Bezug auf das „Eckfenster“ wäre also abschließend noch, inwieweit der dort geschilderte Überblick auch ein (vielleicht erfolgreicherer) Blick auf das Selbst sein kann. Für Großklaus bezieht sich das durch die Perspektive des Wissens gespendete Verständnis hier zunächst auf den Anderen, auf den Fremden oder die Fremde, die im Gewühl der im Unten gesehenen Stadt immer nur flüchtig und unverstanden erscheinen. Auch hierin liegt ein Unterschied zur Verwendung des Überblicks über das „Dasein“ bei Moritz, der anhand von Hugos „Glöckner von Notre-Dame“ im Folgenden noch deutlicher gemacht werden kann: Bei Moritz bedeutete das überblickte Ganze das Ganze des betrachteten einzelnen Menschen mit all den in ihm sich vereinigenden „Linien“ der kausalen Verknüpfungen mit der Welt der Anderen. Der Blick des Vetters bei Hoffmann erklärt aber die einzelnen Figuren aus ihrem Zusammenhang zum Ganzen. Er erfasst sie immer nur als beschränkte Teile des Ganzen, die sich aus diesem heraus erklären lassen. Der das Ganze als Ganzes erfassende Blick von oben muss auch deswegen vor dem fixierenden Blick auf das Einzelne kommen. Beide Überblicke haben eines gemeinsam: Sie kontextualisieren das einzelne Subjekt im Zusammenhang des Überblickten und lassen es so als verständlich erscheinen. Anders als Moritz lässt Hoffmann aber die Einzelnen nicht als ganz erscheinen. Sie tragen in ihrer Funktion als Typen nur als Teile zum Ganzen bei. Ein ganzer Mensch findet sich im Überblickten nicht dargestellt. Der Bereich des Überblickten ist ein Bereich von funktional und in Bezug auf ihren Typ differenzierten Figuren. Dennoch erfüllt der Überblick natürlich seine ordnende und rezentrierende Funktion: insofern er auf die typische Weise ein Blick des Wissens um das Ganze ist, in dem das Einzelne aufgehoben erscheint. In Hoffmanns Text gibt es aber auch Hinweise darauf, wie die Subjekte des Blicks von oben und desjenigen nach unten auch sich selbst als Objekte erfassen und mit dem Überblickten in Verbindung setzen. Schon das, was der Ich-Erzähler von oben überblickt und im Einzelnen erfasst, ist, insofern er es zunächst von unten kommend verlassen musste, der Ort seiner eigenen Herkunft, ein Ort, über den er sich nur vorübergehend erhebt. Das Verständnis, welches er unter Anleitung seines Vetters erhält, wird er aber wieder mit hinunter ins Gewühl nehmen, es lässt sich vermuten, dass er die Wahrnehmungstechnik, die er erlernt hat, als solche auch auf sich selbst anwenden kann – auch er als Individuum lässt sich fiktional von oben bzw. nach unten blickend in der Masse ausmachen und kontextualisieren. Um einen Begriff anzuwenden, auf den ich weiter oben hingewiesen habe: Die neue Wahrnehmungstechnik kann für ihn zu einem Mittel der kognitiven Kartierung werden. Mit der neuen Möglichkeit ausgestattet wird er nicht mehr darauf angewiesen sein, nur im Unten, von dem durch den Ort seiner Augen festgelegten Punkt aus, einen

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begrenzten, von flüchtigen Anblicken durchwanderten Raum zu erfassen. Dieser perspektivisch begrenzte Raum wird sich für ihn in einen von oben überblickten Kontext einordnen, in dem auch der Blickpunkt im Unten selbst als Objekt eines fiktiven Blicks von oben eingetragen ist. Dass dies in Bezug auf Hoffmanns „Eckfenster“ nicht reine Spekulation ist, lässt sich durch einen Hinweis darauf erhärten, dass der Vetter selbst sich als sein eigenes Objekt bereits dort unten auf dem Markt erblickt – bezeichnender Weise mit einer gewissen ironischen Selbstdistanz, seinen Wunsch und seine Möglichkeit betreffend, mit dem dort versammelten Volk in Beziehung zu treten: Eine der Geschichten, die er um das Betrachtete rankt, betrifft ihn selbst, wie er einem Blumenmädchen, das eines seiner Bücher liest, eröffnet, dass er der Autor ihrer Lektüre ist. Dieser Versuch einer Kontaktaufnahme, der Herstellung eines Bezugs zu jener „bürgerlichen Szenerie“, scheitert aber: Das Blumenmädchen ist sich der Existenz von realen Urhebern von Literatur offenbar nicht bewusst und ein solches Bewusstsein ist dem Genuss ihrer Lektüre wohl auch nicht gerade förderlich. Es bleibt dem Autor versagt sich selbst als funktionales, sinnvolles Element des Ganzen der Gesellschaft zu betrachten – aber er versucht es immerhin.192 Dieser Versuch entspricht in gewisser Weise dem, was Moritz seiner Figur Anton als Sehnsucht zuordnet, diejenige, „in Reih und Glied“ mit den anderen zu stehen – Teil eines geordneten Ganzen zu sein. Dass der Überblick sich im „Anton Reiser“ aber letztlich in erster Linie nicht in dieser Funktion findet, sondern als Blick auf das „Dasein“ des „ganzen Menschen“, zeigt wohl eines: Das Problem der Masse ist noch nicht so weit in den Vordergrund getreten, dass die Selbstkontextualisierung ihm dadurch Rechnung tragen muss, dass sie das Überblickte Ganze als Kontext des Einzelnen auffassen muss, der diesen erklärt, ohne von ihm ganz umfasst zu werden. Bei Hoffmann und stärker noch bei Hugo kann der Einzelne als Objekt des Überblicks nicht mehr als ganzer Mensch erscheinen. Er erhält aber als Subjekt dieses Blicks die hier verlorene Souveränität zurück – und nimmt sie im Sinne des Blicks nach unten auch hinab zu den im Kontext des Ganzen verstandenen Einzelnen. Der ganze Mensch muss in dieser Situation sozusagen einen Umweg über die Position des Überblicks machen, aus der heraus er das Ganze erkennen kann, in dem er als begrenzter Mensch aufgehoben ist. Victor Hugos „Notre-Dame de Paris“ Das zweite Kapitel des dritten Buches von „Notre-Dame de Paris“ enthält eine ausführliche Schilderung eines panoramatischen Überblicks über Paris. Dieser Blick von oben und entsprechende anderen Stellen des Textes geben deutlich Auskunft

192 Vgl.: Hoffmann 1996, S. 17f.

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über die Funktionen des Überblicks zu einer Zeit, in der das Ganze des Überblickten als dem einzelnen Subjekt vorgängig verstanden wurde, als nicht mehr der „ganze Mensch“, sondern der Mensch im Ganzen Gegenstand der Betrachtung wurde. Die Harmonie dieses Ganzen stellt auch hier noch eine zugrundeliegende Hoffnung dar, sie wird aber aus ihrer Beziehung zum Wissen und Wollen Gottes heraus in den Bereich der Geschichte verlagert – und zwar interessanter Weise verstanden nicht nur als in der Erzählung erzählte Geschichte, sondern auch als Weltgeschichte, als Historie. Was der Überblick in Hugos Text also erfasst, sind einzelne Figuren, die einem sie umschließenden Ganzen der Geschichte untergeordnet werden. Das Ganze der Geschichte erklärt sie und ihr Schicksal. Gleichzeitig wird dieses erklärende, sinnstiftende Ganze überblickbar gemacht, indem es metaphorisch in der räumlichen Ordnung der Stadt verkörpert wird. Die Figuren erscheinen entsprechend als „Einrichtungen dieser Stadt“193, als von ihr geschaffener und geprägter natürlicher Inhalt. Der Erzähler und mit ihm der Leser erhalten einen souveränen Überblick über das Ganze, der den Figuren versagt bleibt oder dessen Möglichkeiten ihnen verschlossen bleiben, wenn sie ihn haben könnten. Bei Hugo verlagert sich also auch die von ihm erkannte Harmonie des Ganzen in einen Bereich, der nicht mehr auf eine göttliche Sinngebung angewiesen ist, und der dennoch dem Einzelnen einen sinnstiftenden Kontext geben kann. Hugo unterteilt die Geschichte in zwei Abschnitte, über die hinweg der synthetisierende Überblick geht: Der erste ist derjenige einer gewissermaßen konkreten Harmonie – es ist eine Zeit, in der die Geschichte selbst die Menschen zu Ganzheiten ordnet, um sich in sichtbarer Form in ihnen abzubilden. Der zweite Abschnitt tritt dagegen zunächst einmal als derjenige der Individualität auf. In ihm erscheint das Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Ganzen als gestört, sofern man von ihm verlangt sich in der älteren Konkretion zu offenbaren. Das „Wachstum“ des Ganzen, ehemals langsame, sich vermittels der unbewussten Beihilfe der Einzelnen vollziehende Entwicklung, geht nun vom jeweils individuellen Einzelnen aus – Unordnung des Ganzen ist die Folge. Andererseits ist diesem Abschnitt der Geschichte der Überblick zugeordnet – als Blick auf die Gegenwart und die Vergangenheit, als Blick auf die Geschichte als Ganzes. Gerade die scheinbar gestörte Harmonie ermöglicht die in ihm liegende neue Souveränität des Wissens, die sich vom Subjekt der „Geschichte“ auf das einzelne menschliche Subjekt verlagert. Zugleich ordnet Hugo diesen historischen Gestalten der Beziehung des Einzelnen zum Ganzen zwei vornehmliche Medien zu, in denen sie sich jeweils ausdrücken: die Architektur als Medium der historisch gewachsenen, konkreten Harmonie und der gedruckte Text als solches der Autonomisierung des Subjektes – und im gedruckten Wort vermittelt sich eben auch der literarische Überblick als Bemeisterung der Zeit und des Raumes. 193 Klotz 1987, S. 109.

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Die Architektur erscheint also als Ausdruck einer den Einzelnen übersteigenden Harmonie. Sie tritt auf als umfassendes, sinnvolles und geordnetes Ganzes, in dem der bzw. das Einzelne seinen Ort immer schon hat – ohne ihn als solchen zu sehen. Dies bezieht sich dabei ebenso auf die Schilderung der Kathedrale, wie auf diejenige der von ihrer Höhe aus übersehenen Stadt. Die Fassade von Notre-Dame bildet als Produkt der Geschichte in ihrer Harmonie die Harmonie der Schöpfung ab. Auch sie ordnet eine Vielzahl an Mannigfaltigkeiten zu einem sinnvollen Ganzen: „Hier enthüllen sich vor dem Auge allmählich und doch gleichzeitig drei gotisch gewölbte Portale, der gezackte und von achtundzwanzig Königsnischen eingefasste Bogenkranz, die riesige Mittelrosette, die von zwei Fenstern flankiert wird gleich einem Priester, dem Diakon und Subdiakon zur Seite stehen, die hohe und zierliche Galerie aus Kreuzwölbungen, die auf ihren zarten Säulchen eine mächtige Plattform trägt, endlich die zwei schwarzen, massiven Türme mit ihren Schieferdächern als harmonische Teile eines prachtvollen, in fünf gigantischen Stockwerken übereinandergetürmten Ganzen, das sich dem Auge vielgestalt und doch nicht verwirrend darbietet, mit den zahllosen Einzelheiten an Statuen, Bildhauer- und Schnitzarbeiten, die kühn zur ruhigen Größe der Gesamtheit vereinigt sind; – es ist sozusagen eine gewaltige Symphonie aus Stein, das ungeheure Werk eines Mannes und eines Volkes; das Ganze ist einheitlich und vielfältig zugleich wie die Ilias und die Romanzeros, deren Schwester diese Kirche ist; es ist das wunderbare Erzeugnis aller Kräfte einer Epoche […].“194

In der harmonischen Ordnung der Kathedrale tritt dem Betrachter also das Werk einer ganzen Epoche entgegen. Die Epoche hat sich die Arbeit der Einzelnen zunutze gemacht, um sich abzubilden. Die Ordnung des Ganzen offenbart sich dabei in jener typischen Dialektik von Räumlichkeit und Zeitlichkeit: Das Ganze liegt uns in einem Nebeneinader vor Augen und wir müssen es in einem Nacheinander „ausfalten“: „allmählich und doch gleichzeitig“ enthüllt es sich. So stellt sich also in dieser Schilderung der Kathedrale bereits die alte nicht nur dem Mittelalter, sondern in dieser Fassung eher der Aufklärung entsprechende Hoffnung auf eine den Einzelnen gewissermaßen beheimatenden Harmonie des Ganzen dar. Diese Hoffnung findet sich nun aber projiziert auf die Geschichte, auf das Ganze, welches das „Wachstum“ der Bauwerke bedingte: „Wahrlich, man könnte den Stoff zu dicken Büchern und manchmal zu einer ganzen Universalgeschichte der Menschheit in diesen aufeinanderfolgenden Lötstellen finden, die an ein und demselben Bauwerk in seinen verschiedenen Schichten auszumachen sind. Der Mensch, der Künstler, das Individuum verschwinden in diesen großen Massen ohne Urhebernamen; es

194 Hugo 1994, S. 123f.

332 | D AS G ANZE IM B LICK ist der Geist der Menschheit, die sich hier zusammenfasst und als Ganzes erscheint. Die Zeit ist der Baumeister, das Volk der Maurer.“195

Wenn es darum geht, die Harmonie der gesamten Stadt zu erkennen, tritt der Überblick auf den Plan. Dieser Überblick erscheint zunächst als Blick zurück, als Blick der Nostalgie: Er behauptet Paris so zu erfassen, wie es von Notre-Dame aus betrachtet im 15. Jahrhundert ausgesehen hätte. Dieser Überblick folgt dabei dem bekannten Muster des modernen Überblicks: Der Blick von oben erfasst zunächst das Ganze als verwirrenden Gesamteindruck. Erst, wenn einzelne Markpunkte in diesem Ganzen ausgemacht und in ihrer Verbindung erkannt werden, offenbart sich dem die Stadt sukzessive gewissermaßen abtastenden Blick ihre Harmonie als Ordnung der Mannigfaltigkeiten: „Welchen Blick bot dieses Ganze nun, aus der Höhe der Türme von Notre-Dame gesehen, im Jahre 1482? Das zu schildern wollen wir versuchen. Dem Blick des Betrachters, der außer Atem auf dieser Höhe ankam, bot sich zuerst eine verwirrende Menge von Dächern, Schornsteinen, Straßen, Brücken, Plätzen, Turmspitzen und Glockentürmen dar. Alles fiel ihm auf einmal in die Augen: der spitze Giebel, das steile Dach, das auf den Mauerwinkeln schwebende Türmchen, die steinerne Pyramide aus dem elften, der Schieferobelisk aus dem fünfzehnten Jahrhundert, der runde und kalte Wartturm, der viereckige, verzierte Kirchturm, Großes und Kleines, Schwerfälliges und Luftiges. Der Blick verlor sich lange und schwerfällig in diesem Labyrinth, […]. Sobald sich jedoch das Auge an dieses wirre Gedränge von Gebäuden gewöhnt hatte, konnte man einige größere Gruppen unterscheiden.“196

Wie sich solche „größere Gruppen“ zu einem Ganzen vereinigen, wurde zuvor bereits anhand der verkehrsmäßigen Verbindung der Stadtviertel vorgeführt: „Aus der Vogelschau gesehen boten diese drei Stadtteile: Altstadt, Universitätsviertel und Neustadt, jeder für sich dem Auge ein unentwirrbares Netz seltsam verschlungener Straßen dar. Doch erkannte man auf den ersten Blick, dass diese drei Bruchstücke ein einziges Ganzes bildeten. Man sah sofort drei lange, parallel laufende Straßen, die ohne Unterbrechung und Störung, fast in gerader Linie, die drei Stadtteile von einem Ende bis zum anderen durchschnitten, sie vom Süden zum Norden und die Seine entlang verbanden, vereinigten, ineinanderzogen, und -gossen, ohne Unterlass die Bevölkerung von dieser in die Mauern jener hinüberfluten ließen und dadurch aus den dreien eine einzige herstellten.“197

195 Ebd. S. 130. 196 Ebd. S. 138f. 197 Ebd. S. 137.

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Diese Vision einer vermittels des „Stromes“ der auf den „Verkehrsadern“ sich bewegenden Bevölkerung zu einem Ganzen verwachsenen Stadt ist natürlich genauso aus den Bedingungen der Moderne hervorgegangen wie der Überblick selbst, der diese Ordnung sichtbar macht. Gerade deswegen ist aber die literarische Zuordnung zu einer früheren Epoche, die nostalgische Umdeutung dieses Blickes interessant. Durch sie gelingt es, die durch den Überblick gespendete Souveränität mit einem geschichtsphilosophischen Konzept zu verbinden: Im Ganzen der Geschichte äußert sich der „Geist der Menschheit“ – und nun, im Zeitalter der identifizierbaren Autoren, der bis auf die einzelnen Subjekte zurückführbaren Kommunikation über das gedruckte Wort, kann auch der Einzelne den Sinn dieses Ganzen überschauen. Als Teil des Ganzen muss er sich und jeden anderen als in der Masse verschwindend erkennen. Als Subjekt des Überblicks über den Raum und über die Zeit erkennt er aber Sinn und Ordnung dieses Ganzen seines Kontextes. Dies bezieht sich dabei keineswegs nur nostalgisch auf die verlorene Harmonie einer alten Kultur. Die Harmonie des den Einzelnen umfassenden Ganzen hat sich nur verlagert. Sie ist aus der räumlichen Struktur, aus dem Nebeneinander der Architektur übergegangen auf die kommunikativen Vernetzungen der Texte. Diese einzelnen Texte erscheinen aus einer dem Überblick über die alte Stadt analogen, nunmehr offenkundig metaphorischen Perspektive als harmonischer Gesamt-Text, dessen Urheber wiederum der „Geist der Menschheit“ ist. So offenbart der Überblick über die Stadt seine eigentliche Funktion: Er liefert den Bildspender der Metapher, die diesen Übergang ermöglicht. Bei Hugo wird diese Metapher in ihrer geschichtsphilosophischen Projektion verzeitlicht, wird der ihr ohnehin innewohnende Zug zur Abstraktion als historische Entwicklung behauptet. Die metaphorische Übertragung vom Blick von oben auf den „Überblick“ wird hier zum Übergang von der räumlichen Ordnung der Stadt zur Ordnung der Texte. Das Zeitalter der individuellen Rede, des individuellen Ausdrucks erscheint so also keineswegs mehr rein negativ als Mangel an Harmonie. Vielmehr ermöglicht die Vernetzung der Texte zu einem harmonischen Ganzen der Kultur eine Verbindung dieser nunmehr abstrakteren Harmonie mit ihrer metaphorischen „Sichtbarkeit“. Der Einzelne im Überblickten ist erst jetzt fähig, den Bereich seines historischen Wirkens als solchen zu erkennen. Und Metapher dieser Fähigkeit ist eben auch der in Hugos Text evozierte Überblick selbst. Er gipfelt denn auch in einer regelrechten Anhäufung von weiteren Metaphern, die ausgehend von der durch ihn vorgeführten konkreten Harmonie der Architektur, des „Gebäude(s)“, auch jene abstraktere der Texte zu erfassen suchen: „Wenn man indessen ein vollkommenes Bild von der Gesamtheit der Buchdruckerzeugnisse bis in unsere Zeit zu bekommen sucht, erscheint uns dann diese Gesamtheit nicht wie ein ungeheures Gebäude, das auf der ganzen Welt ruht, an dem die Menschheit ununterbrochen arbeitet und dessen Giebel im tiefen Dunkel der Zukunft verschwindet? Das ist der Ameisen-

334 | D AS G ANZE IM B LICK haufen der geistigen Kräfte, der Bienenstock, in den diese goldschimmernden Bienen ihren Honig tragen. Der Bau hat unzählige Stockwerke. Hier und da sieht man die dunklen Gänge der Wissenschaft, die sein Inneres durchschneiden, nach den Zugängen hin ausmünden. Überall an seiner Außenseite zeigt die Kunst ihre reichverschlungenen Arabesken, ihre Rosetten, ihre spitzenartigen Verzierungen. Dort hat jeder einzelne Bau, so kapriziös und absonderlich er auch erscheinen mag, seine Stelle und seine Wirkung. Die Harmonie ergibt sich aus dem Zusammenklang des Ganzen. Von der Kathedrale Shakespeares an bis zur Moschee Byrons erheben sich unzählige Türmchen in buntem Gemisch über dieser Metropole des Weltgedankens.“198

Auf dieser, durch die implizite Metapher der überblickten Stadt erst „sichtbaren“ Ebene der Harmonie erscheinen nun auch diejenigen Äußerungen in einem Ganzen aufgehoben, die als Ausdruck des Individuums zunächst „kapriziös und absonderlich“ wirkten. So erweist sich durch die vollzogene Abstraktion auch der Eindruck einer in der Gegenwart gestörten Harmonie als verfrüht. Indem das Individuum den Anspruch erhebt sich als solches in seinen Werken zu äußern, stört es die konkrete Harmonie der historisch gewachsenen Gestalt der Stadt. Es bleibt jedoch aufgehoben in der Harmonie der Geschichte, die sich durch die Metapher des Überblicks als „wahrnehmbar“ erweist. Wenn Hugo seine ironische Abhandlung der neuen architektonischen Errungenschaften mit dem Eindruck schließt, den das neue Paris aus einem Ballon gesehen bieten würde, wird wie am Rande deutlich, welche Entwicklungen die entsprechende Übertragung motivieren: Es ist der auch in der architektonischen Gestalt sich äußernde „Abstraktionsschub im Leben der großen Stadt“199, der die Harmonie des Ganzen auf der abstrakteren Ebene der Vernetzung der Texte suchen lässt, der eben die Gestalt der überblickten Stadt letztlich als Metapher dieser Vernetzung auffasst: „Wir haben hier also ohne jeden Zweifel sehr prächtige Bauten. Fügen wir noch die Fülle schöner, unterhaltsamer und abwechslungsreicher Straßen hinzu, wie die Rue de Rivoli, so zweifle ich nicht, dass Paris, aus einem aufsteigenden Ballon gesehen, dem Auge jenen Reichtum an Linien, jenen Überfluss an Einzelheiten, jene Mannigfaltigkeit an Bildern, jenes eigentümlich Großartige in der Einfachheit und Überraschende in der Schönheit bietet, das ein Damebrett kennzeichnet.“200

Wie in diesem abstrakt gewordenen räumlichen Netz der neuen Stadt dennoch ein harmonisches Ganzes gesehen werden kann, in dem der Einzelne seinen sinnstiftenden Platz erkennt, führt Hugo eben an jenem in der Zeit zurückgehenden Blick 198 Ebd. S. 220. 199 Stierle 1993, S. 211. 200 Hugo 1994, S. 157.

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auf die konkrete Harmonie der mittelalterlichen Stadt vor: indem die Einzelnen als das räumliche Ganze „durchströmendes“, es vereinigendes Element betrachtet werden. Unter dieser Bedingung erscheinen nun Formulierungen, die auch der alten Stadt eine durchaus an ein Damebrett erinnernde geometrische Ordnung zusprechen nicht mehr als Verneinung einer gewachsenen Harmonie: „Man sah sofort drei lange, parallel laufende Straßen, die ohne Unterbrechung und Störung, fast in gerader Linie, die drei Stadtteile von einem Ende bis zum anderen durchschnitten […].“201 Selbst die Metapher des Dame- oder Schachbrettes findet sich so als Merkmal einer schönen Harmonie, wenn sie sich auf die alte Stadt bezieht, genauer auf den Palais des Tournelles: „Man hätte das Ganze ein riesenhaftes Schachbrett nennen können.“202 In Hugos Roman findet sich somit eine Zuordnung der drei Formen des Blicks, die dem Leser den Standpunkt eines souveränen Wissens über die Geschichte und die Historie zuweist: Der Erzähler überschaut aus der Distanz des Blicks von oben – der zugleich ein Blick zurück in die Geschichte ist – das Treiben der Figuren. Diese erklären sich aus ihrer Beziehung zum Ganzen der Stadt – sie wissen dies aber nicht, sie blicken im Unten. So kann der „Blick“ des Erzählers auf das Einzelne im Geschehen zum Blick nach unten werden, zu einem Erfassen der einzelnen Figur und ihrer Erlebnisse, hinter dem das Wissen um das Ganze steht. Der Blick der Figuren erscheint dagegen als in gewisser Weise blind für dieses Ganze, auch dann, wenn er es eigentlich sehen könnte, weil er von oben kommt. Ihr Blick ist im wahrsten Sinne fixiert, von einer „fixen Idee“ beherrscht. Er ist das Gegenteil derjenigen Distanz zum eigenen Ort, zum unmittelbaren Erleben, die sich im Blick von oben darstellt und Ausgangspunkt des Überblicks wird. Ganz ähnlich wie Hoffmanns Nathanael sieht auch der Archidiakon Claude Frollo von oben blickend nicht das, was der Erzähler längst als harmonisches Ganzes hat erscheinen lassen. Sein Auge „hängt“ an dem einen Gegenstand seiner Begierde. Er wird beherrscht, der Überblick kann ihm nicht zum Ausdruck der Herrschaft oder des Verständnisses werden: „Da stand er, ernst, bewegungslos in einen Blick und einen Gedanken versunken. Ganz Paris lag zu seinen Füßen mit den tausend Spitzdächern seiner Gebäude und den sanft aufsteigenden Hügeln ringsumher am Horizont, mit seinem unter Brücken sich hinschlängelnden Fluss, seiner in den Straßen wogenden Bevölkerung, seinen Rauchwolken, der hügelartigen Kette von Dächern, die mit immer dichter werdenden Ringen Notre-Dame einschließt. Aber in die-

201 Ebd., S. 137. 202 Ebd., S. 148.

336 | D AS G ANZE IM B LICK ser weiten Stadt sah der Archidiakon nur auf einen Punkt: auf den Domhofsplatz; in dieser wogenden Menge sah er nur eine Gestalt: die der Zigeunerin.“203

So kann der Überblick der Figur nicht das geben, was er dem Erzähler und mit ihm dem Leser bereits gegeben hat. Ihr Blick ist stets von dem Mangel betroffen, den dieser Blick beheben soll. Diese Mängel des Blicks im Unten zeigen sich dabei jenseits ihrer historischen Zuordnung durch Hugos Text durchaus gelegentlich als das, was sie sind: die Mängel des modernen, von den Verhältnissen der Großstadt geprägten Blicks. Der verwirrt und von Wahnvorstellungen gepeinigte Claude, verliert stellenweise seine Fähigkeit der Isolierung und Fixierung von Eindrücken. Die Wahrnehmungen dringen als nicht zu bewältigender Gesamteindruck auf ihn ein, als „Chaos“: „Als er wieder durch die Straßen eilte, kamen ihm die Passanten, die sich vor den erleuchteten Schaufenstern drängten, wie hin- und hergeisternde Gespenster vor. Ein seltsames Brausen drang an sein Ohr; sonderbare Bilder verwirrten seinen Geist. Er sah weder die Häuser noch das Pflaster noch Wagen, weder Männer noch Frauen, sondern ein Chaos von unbestimmten Gegenständen, die an den Rändern ineinander verschmolzen.“204

Das Bild der „Passanten, die sich vor den erleuchteten Schaufenstern drängten“, ist wohl eher dem zeitgenössischen Paris entnommen, als der Bemühung geschuldet, dasjenige des Mittelalters zu schildern. Ebenso ist hinter dem Versagen der kognitiven Bewältigung der Eindrücke wohl die Wirkung der entgrenzten, mit Fremdem angefüllten Großstadt zu vermuten, die im Unten betrachtet nicht als geordnetes Ganzes erscheinen kann, in dem das jeweils Einzelne fixierbar wird. Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ Die Rolle, die der Überblick im Werk von Döblin spielt, soll diesen kurzen Durchgang durch seine Ausprägungen in der modernen Literatur abschließen. Im Kontext der „positivismuskritischen“ Lebensphilosophie der 20er Jahre erhält er nochmals eine wichtige, typische und gewissermaßen umfassende Bedeutung. Dabei entspricht diese Rolle bis zu einem gewissen Punkt durchaus der älteren Funktion einer Sichtbarmachung der allumfassenden „Harmonie“. Hier zeigt sich also, dass der

203 Hugo 1994, S. 295f. Vgl. auch S. 584. Hier heißt es über Claude, der die Hinrichtung Esmaraldas vom Turm aus beobachtet: „In diesem unendlichen Gesichtskreis, der so viele Anblicke rings um ihn gewährte, war seine Betrachtung nur auf einen einzigen Punkt gerichtet.“ 204 Ebd., S. 423.

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Überblick auch im 20. Jahrhundert diese Nähe zum Konzept einer verborgenen „Wahrheit“ im Überblickten behalten konnte – allerdings ohne dass darin unbedingt die Teleologie einer im Ganzen sinnvoll ausgerichteten und auf den Plan des Schöpfers verweisenden Schöpfung noch mitgedacht würde. Der Überblick ist insofern im vollen Sinne „säkularisiert“, er erfüllt aber Funktionen, die ihn zu früheren Zeiten durchaus an theologische Inhalte knüpften. Die Selbstkontextualisierung des Einzelnen im überblickten Ganzen – bei Döblin nun der „Natur“ – ist nicht abhängig von der Gerichtetheit und entsprechend „von außen“ bestimmten Sinnhaftigkeit dieses Komplexes. Als aufgehoben in einem Ganzen kann das Einzelne betrachtet werden, auch wenn das Ganze und mit ihm das aufgehobene Einzelne nicht auf ein Ziel, einen Sinn hin geordnet erscheint. In gewisser Wiese erscheint auch bei Döblin so die moderne Auffassung der Oberfläche als in sich Bedeutung tragend – und so wird auch für ihn der Überblick wichtig als diejenige Perspektive, aus der diese Bedeutung des Ganzen in sich, der durch die moderne, „positivistische“ Naturwissenschaft nie erfasste „Begriff von einem Ganzen“, einer „größeren Wahrheit“205 sichtbar und damit erlebbar wird. In seiner philosophisch-literarischen Reflexion „Unser Dasein“ legt Döblin seine Ansichten zum Verhältnis des einzelnen „Ichs“ zur Welt dar. Er setzt dabei mit einer Situation ein, die stark an diejenige erinnert, mit der Descartes seine Besinnung auf die Möglichkeit einer unmittelbar evidenten Wahrheit, auf jenes „cogito ergo sum“ beginnt: Der für einen Moment aus dem Trubel der Großstadt entlassene Mensch sitzt in seinem nach außen hin abgeschirmten Zimmer und macht sich auf die „Ichsuche“.206 Das erste Ergebnis dieser Suche entspricht dabei zunächst demjenigen Descartes bis zu einem gewissen Grad: Die Existenz des Ichs offenbart sich unmittelbar in der Tatsache des Denkens und Erlebens: „Wie steht es um die einfache, so einfache Antwort: Ich bin da – im Empfinden, Fühlen, Denken, Wollen? Diese Antwort ist einfach, und – dennoch richtig! […] Ja, ich bin nicht in der wüsten Natur da. Ich bin nicht in dem wüsten mannigfaltigen, verwickelten Körper, dieser tollen Fabrik, da. Ich bin nicht in den höchst verwickelten Augen da. Die Augen empfinde ich wie andres. Da bin ich unmittelbar – im Sehen! Im einfachen glatten Sehen bin ich, habe ich mich. Als Sehender bin ich da.“207

So ergibt sich für Döblin eine Trennung des Ichs in sich selbst als Subjekt und Objekt einer Betrachtung. Zunächst noch in beinahe idealistischer Manier rekonstruiert Döblin nun die Welt aus der ursprünglichen Entgegensetzung einer anschauenden 205 Zitiert nach Schwelling 2005, S. 86ff. 206 So die Überschrift des zweiten Kapitels: Döblin 1963, S.16. 207 Ebd., S. 23.

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und einer angeschauten Tätigkeit des Ich. Die Konsequenz, zu der er dabei gelangt ähnelt der des Idealismus in gewisser Hinsicht, sie kehrt aber die Richtung der Begründung gewissermaßen um: Die Entgegensetzung des Ich als Objekt und des Ich als dieses „erblickendes“ Subjekt wird in einer höheren Synthese aufgehoben: Das Ich als Objekt – der Körper, die Person – ist ein auf die Welt bezogenes Element der Welt, es ist kein abgeschlossenes Atom, sondern ein „offenes System“208, ein immer schon auf das Ganze verweisender, immer schon mit ihm in Austausch stehender Teil. Dieses System aber nimmt die Welt in sich auf, es ist ein Element, das in „Resonanz“209 mit der Welt steht, indem es Erleben produziert. Auch das Ich als Subjekt erscheint so als Funktion der Welt, gleichzeitig aber bleibt es ihr Gegenstück. Auch die scheinbare Parallele zu Descartes löst sich also auf: Das Ich ist ein Effekt des „isolierenden Formtriebs“210 des offenen Systems der Person, ist selbst also ein Effekt der sich formenden Welt bzw. Natur: „Wie nun tritt Ich den Gestalten der Welt in der Natur gegenüber? Der Ausdruck ‚gegenüber‘ und ‚Gegenstück‘ muss mit einer gewissen Weite verstanden werden. Ich ist ein ‚Und‘ zu den tausend Gestalten der Natur. Es ist freilich kein bloß neben-hingestelltes Zweites, Gestalten sind da, und das Ich, das Erleben ist da, sondern: die beiden, Gestalten der Natur und das Erleben, sind eine reale Einheit, die wirkliche Realität, und nicht auseinanderzureißen.“211

Döblins Ziel ist es also, die beiden Pole – das Ich als Folie des unmittelbaren Erlebens und das Ich als Objekt dieses Erlebens und Gegenstand der Identifikation (als Person) – zu verbinden, ohne ihre Entgegensetzung gänzlich zu leugnen. Dies erreicht er, indem er beiden einen Ort in einem Ganzen gibt, der Welt als Zusammenhang von wechselseitig aufeinander bezogener Natur und Erleben. Interessant ist nun die Metaphorik, mit der Döblin diesen Zusammenhang des erlebenden Ich mit dem Ganzen der Natur beschreibt – und natürlich die Verbindung seiner philosophischen Ausführungen zum Zustand seiner Zeit. Eine Metapher, die er wählt, um die Beziehung des Einzelnen zum Ganzen zu fassen, ist die des „Stromes“: „Es ist ein Kontinuum in Zeit und Raum. Allein dieser Prozeß und sein ununterbrochener Fluß hat Dasein und ist Dasein. Auch das einzelne Ding hat Dasein, also auch die Person – aber nur im Fortgang des Prozesses, in welchem sie auftaucht und vergeht. Wer will hier etwas isolieren und dazu Ganzheit sagen? Wer glaubt andererseits hier sich zu verlieren, wenn er erkennt, dass er in diesem großen Fortgang steht und untergeht? Es gilt gegenüber einer 208 Ebd., 95. 209 Ebd., S. 168. 210 Ebd., S. 97. 211 Ebd., S. 49.

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Übertreibung unserer Vereinzelung und zufälligen Ding- und Personengestalt unsere Lagerung in dem wirklichen großen natürlichen Prozeß zu erkennen. […] Wir ertrinken nicht, sagt diese erste Antwort. Da es keine Vereinzelung gibt, gibt es auch keine Beendigung der Vereinzelung. Wir sorgen uns sinnlos. Es ist ein Strom mit riesigen Wellen da, und da sind Schwimmer drin, sie werden geworfen, aber es kann nichts ertrinken, der Strom trägt sie alle.“212

Schon hier lässt sich eines erahnen: Der schlimmste Feind einer solchen beruhigenden Imagination von Zusammenhang mit dem Ganzen ist die mangelnde Übersichtlichkeit des Ganzen für den Einzelnen. –Der Strom kann als ganzer nur erscheinen, wenn er überblickt wird. Man könnte vielleicht sagen: Auf diese Überblickbarkeit des „Stromes“ zu verzichten, würde vor allem eines erfordern: Vertrauen. Dieses Vertrauen hat Döblin letztlich nicht. Er verbindet die vertrauensvolle Abgabe eigener Souveränität an das Ganze mit dem Bild des Ganzen, dem Überblick über das Ganze, durch die ein Element von imaginärer Kontrolle zurückerstattet wird. Umgekehrt wird der Überblick über das Ganze zu einer Voraussetzung für die Betrachtung der eigenen Person als zum Ganzen hin offener Teil des Ganzen. So findet sich in „Unser Dasein“ auch ein Überblick über den ganzen Planeten, der demjenigen des Zeitgenossen Jüngers in gewisser Hinsicht ähnelt, der aber die Welt als natürlichen Organismus – als Zusammenhang miteinander korrespondierender geologischer, physikalischer und biologischer Zusammenhänge – betrachtet, in dem der Mensch seine Stelle einnimmt, aus dem er auch hervorgeht und mit dem er zeitlebens, also so lange, wie sein „isolierender Formtrieb“ sich auswirkt, verbunden bleibt wie das Kind mit der Nabelschnur.213 Indem sich Döblin nun auf die politische Situation und damit auch auf die Kollektivismen seiner Zeit bezieht, wird eines deutlich: Die Gegenwart ist für ihn eine 212 Ebd., S. 70f. 213 Vgl. z.B.: Döblin 1963, S.139ff . Die Formulierungen Döblins legen hier natürlich einen Vergleich zur späteren Systemtheorie nahe. Ein solcher Vergleich – was für Gemeinsamkeiten er auch immer zu Tage fördern könnte – müsste aber meines Erachtens einen grundsätzlichen Unterschied feststellen, den ich hier nur erwähnen möchte um Döblins Gedanken zu charakterisieren: Die Systemtheorie schließt letztlich die Beobachtung eines Systems der Systeme, also der Gesellschaft als ganzer, aus. Genau eine solche versucht Döblin aber metaphorisch zu ermöglichen. Eine der von ihm verwendeten Metaphern ist eben diejenige des Überblicks. Peter Fuchs beispielsweise wählt diese, um von seinem systemtheoretischen Hintergrund aus, gerade im Gegenteil die Möglichkeit einer theoretischen „Erreichbarkeit der Gesellschaft“ zu verneinen: „Und wieder scheint zu gelten, dass es keinen Kommunikationstyp gibt, von dem aus – gleichsam vogelperspektivisch – das Gemeinsame der Besonderungen formuliert werden könnte.“ (Fuchs 1992, S. 12).

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Zeit, in der diese Übersichtlichkeit für den Einzelnen nicht mehr gegeben ist, in der er somit zum Spielball von Kollektiven wird, die ihn vereinnahmen, ohne um seinetwillen und durch ihn da zu sein. Diese Kollektive geben ihm eine Heimat nur, indem sie von ihm fordern er solle sich dieser Heimat anpassen, ohne sie nach seinen Bedürfnissen zu gestalten. Um nun gute Formen des Kollektivs von schlechten, um auch die „echten Arten von Öffentlichkeit“ von einer falschen „‚Öffentlichkeit‘“214 abzugrenzen, fährt Döblin ein ganzes Arsenal von Metaphern auf, die begreifbar machen sollen, dass die Kollektivismen seiner Zeit den Einzelnen „schlucken“215 wollen, dass aber die richtigen Formen des Kollektivs gewissermaßen den natürlichen Formen des Zusammenhangs des Einzelnen mit dem Ganzen Rechnung tragen, aus ihnen sich begründen. Als Subjekt der Verarmung und Vereinnahmung des einzelnen Ich tritt dabei der „Großstaat“ auf. Er überzieht die Landschaft mit einem Netz aus sichtbaren Verkehrs- und Kommunikationswegen und mit dem unsichtbaren Geflecht der Öffentlichkeit: „Die Länder waren für einen Wanderer sichtbar als Ebenen, Hügel, Gebirge, darauf waren Städte, Dörfer errichtet, aber wer etwa im Flugzeug dicht über die Länder flog, erkannte das Netz, das sich auf die Länder, Städte und Dörfer legte, das wie ein dichtes Gespinst an ihre Leiber sich anschloß, sie umschloß, sie einschnürte, sie festhielt: die Eisenbahnschienen, die Telegraphendrähte, die Hochspannungskabel und unsichtbar waren da noch von den Funktürmen ausgesannte Wellen. Dieses sichtbare Netz war aber noch lose und weit gegen das ungeheure, enge Filzwerk, die Parasitenarbeit, das Schimmelgeflecht – die Öffentlichkeit.“216

Der Blick von oben wird für Döblin also zur Möglichkeit für zweierlei Erkenntnis: Zum einen kann er als Blick auf die ganze Welt, den ganzen Planeten die natürlichen Verbindungen des Einzelnen zu diesem Ganzen erfassen. Zum anderen kann er, als Blick von oben auf die künstlichen Netze der gegebenen Gesellschaft, erfassen, wie der Einzelne in diesem ihn nur zum Mittel, nicht aber zum Zweck habenden Ganzen gleichsam gefangen ist, ohne dass er dies im Unten blickend wahrnehmen könnte. Unterschiedlich ist hier nur der Wert des Erblickten, der Überblick ist stets ein Mittel einer anzustrebenden Erkenntnis. So wird aber auch die Unübersichtlichkeit der Gesellschaft und des Staates für Döblin zum eigentlichen Problem seiner Zeit: Nur indem die Netze der Großstaaten und der falschen Öffentlichkeit sich ihrer Überblickbarkeit durch den Einzelnen entziehen, können sie ihn bestimmen, ohne durch ihn bestimmt zu werden:

214 Döblin 1963, S. 420. 215 Ebd., S. 418. 216 Ebd., S. 423.

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„Wir, in solchen Saaten-Unstaaten lebend und scheinbar eine einzige Menschheit, haben nicht die deutliche alte grausame Zerklüftung in Frei und Sklave [wie sie in der noch überschaubaren griechischen Polis gegeben war, MR], aber dafür die finstere anonyme Fesselung, die Zufallsgeburt in Armut oder in Wohlstand, das Leben, das damit schon halb vorgeschrieben ist, Halbsklaven, Halbfreie, den Staat, die Regierung, das Parlament, das Kabinett, Ministerien mit vielen Personen, die Wirtschaft, die Parteien. Es ist sicher: der Verlust der Übersichtlichkeit bedeutet nicht den Anbruch der Freiheit.“217

Was in einer solchen Situation zu fordern ist, liegt auf der Hand: Der Zustand der Übersichtlichkeit muss wiederhergestellt werden – die für den Einzelnen relevanten „Räume“ der Gesellschaft und des Staates müssen so weit verkleinert und geordnet werden, dass jede Bewegung in ihnen vom Einzelnen wieder erfasst und verstanden werden kann: „Da es nun in diesen Staaten keine beweisbare ‚Menschlichkeit‘ gibt, die eigentlich gewährleistet sein sollte, so kann der Weg dazu nur über die Zurückdrängung, Abschwächung der unkontrollierbaren Machtgebilde Staat, Regierung führen und zur Verkleinerung aller Gebilde, zur Gewinnung übersichtlicher Ordnungen innerhalb der Gesellschaft.“218

So wird aber für Döblin, wie beispielsweise auch für seinen Zeitgenossen Jünger, der Überblick zu einer Form, die die Möglichkeit des Verständnisses für die Beziehung des Einzelnen zu dem Ganzen, dessen Teil er ist, in sich trägt. Beide nutzen diese Form, das Ganze überschaubar zu machen und die Position des Einzelnen in ihm festzustellen – im Gegensatz zu Jünger hält Döblin die differenzierte Gesellschaft der Gegenwart aber für prinzipiell unübersichtlich, fordert er, sie selbst müsse sich ändern, nicht nur die Haltung des Einzelnen ihr gegenüber. Beide eignen sich die Gesellschaft durch dieselbe Form an, im Dissens liegen sie in Bezug auf die Tauglichkeit dieser Gesellschaft, Gegenstand, Inhalt dieser Form zu sein. Dass Döblin nun diesen Überblick auch in seinem literarischen Werk nutzt, wird am Beispiel von „Berlin Alexanderplatz“ überaus deutlich. Abstrakt formuliert ist das Thema dieses Romans zweifelsohne die Beziehung des Einzelnen – vertreten durch Franz Biberkopf – zum Ganzen der Gesellschaft – vertreten durch die Stadt Berlin. Die Ausgangssituation ist dabei die Entlassung, die „Aussetzung“219 Biberkopfs aus dem Gefängnis. Dieser „Geburt“ des Einzelnen in das bereits vorgegebene Ganze der Stadt folgt sein Weg in die Stadt – die Stadt kommt gewissermaßen und holt ihn ab, die Elektrische fährt ihn auf der vorgegebenen Struktur des Schie217 Ebd., S. 432f. 218 Ebd., S. 433. 219 Vgl.: Döblin 1999, S. 8.

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nennetzes in ein für ihn unübersichtliches Gewühl hinein. Der Blick im Unten versagt dabei vor der Flut der unverstandenen Wahrnehmung völlig – wird das Fenster zur Welt zum Fenster einer durch die Stadt fahrenden Straßenbahn, so muss seine rahmende, fixierende Wirkung scheitern. Die Stadt drängt sich in die Erzählung selbst, wie sie sich auf den frühen Bildern Delaunays über den Rahmen ausbreitete. Aus der Perspektive im Unten wird so nicht nur Biberkopf, sondern auch der Erzähler von der Stadt vereinnahmt: In seine Erzählung mengen sich Texte, Bruchstücke der Stadt, ohne dass sie von ihr dominiert würden, sie werden nicht zitiert, sondern finden sich in den Text hineinmontiert: „Er drehte den Kopf zurück nach der roten Mauer, aber die Elektrische sauste mit ihm auf den Schienen weg, dann stand nur noch sein Kopf in der Richtung des Gefängnisses. Der Wagen machte eine Biegung, Bäume Häuser traten dazwischen. Lebhafte Straßen tauchten auf, die Seestraße, Leute stiegen ein und aus. In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los. Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backe schwirrte es. ‚Zwölf Uhr Mittagszeitung‘, ‚B.Z.‘, ‚Die neuste Illustrierte‘, ‚Die Funkstunde neu‘, ‚Noch jemand zugestiegen?‘ Die Schupos haben jetzt blaue Uniformen. Er stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen. Was war denn? Nichts. Haltung, ausgehungertes Schwein, reiß dich zusammen, kriegst meine Faust zu riechen. Gewimmel, welch Gewimmel.“220

Dieser Perspektive im Unten entflieht nun der Erzähler gelegentlich in diejenige von oben. Von dort aus der Distanz betrachtet, kann er den Zusammenhang erfassen, in dem der Einzelne unten steht, ohne ihn zu sehen: „Die Schupo beherrscht gewaltig den Platz. Sie steht in mehreren Exemplaren auf dem Platz. Jedes Exemplar wirft Kennerblicke nach zwei Seiten und weiß die Verkehrsregeln auswendig. Es hat Wickelgamaschen an den Beinen, ein Gummiknüppel hängt ihm an der rechten Seite, die Arme schwenkt es horizontal von Westen nach Osten, da kann Norden, Süden nicht weiter und der Osten ergießt sich nach Westen, der Westen nach Osten.“221

So erscheint die im Unten immer nur als Dauerbeschuss von Bruchstücken erscheinende Menge als (Verkehrs-)Strom, als Ganzes. Es wird aber auch deutlich, dass dies nur zum Preis einer Entfremdung vom Gesehenen möglich ist. – Der Einzelne erscheint nur als Teilchen einer großen Maschinerie, der Schupo auf der Kreuzung wird als rein funktionales Element des Ganzen wahrgenommen. Was in „Berlin Alexanderplatz“ fehlt, ist die Vermittlung zwischen dem Ganzen und seinem Teil, wie sie der Blick nach unten ermöglichen könnte. Die Wahrnehmung des durch die Stadt vertretenen „Großstaates“ als den Einzelnen vereinnahmender unübersichtli220 Ebd., S. 8f. 221 Ebd., S. 147.

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cher Zusammenhang wird thematisiert durch die Unmöglichkeit einer Vermittlung der Perspektive des Einzelnen im Unten und derjenigen von oben. Harald Jähner fasst dies wie folgt: „In beziehungsvollem Wechsel prägen beide Perspektiven die Grundstruktur des Romans; mal springt er in die eine Blickrichtung, den ‚Blick auf gleicher Höhe‘, mal in die andere, den ‚Blick von oben‘. Beide Blickrichtungen lassen sich exemplarisch an der Fahrt mit der Elektrischen vergegenwärtigen. Der überspitzte Ausdruck der distanzlosen, ebenerdigen Perspektive wäre das beständige Starren auf einen Ausschnitt, in den geschoßartig eine unaufhörliche Reihe von Eindrücken hineinprasseln würde – eben so, wie es Biberkopf beim ersten Betreten Berlins tatsächlich erlebte. Zur Ruhe käme dieser unaushaltbare Trubel erst durch einen zu imaginierenden Blick von oben, der den Kontext der Einzeleindrücke erkennen und wahrnehmen ließe. Geruhsam würde man von oben die Straßenbahn über das festgefügte Schienennetz dahinziehen sehen. […] Er (der Einzelne) ist nur das stoffliche Teilchen einer Figur, die er selbst nicht zu verstehen oder auch nur zu überblicken vermag. Insofern kollidieren der Blick von oben und der von unten miteinander, beide sind gezwungen, sich wechselseitig abzulösen, denn der eine kompensiert nur die Mängel des anderen und so fort. Während die niedere Perspektive naturgemäß am Besonderen interessiert ist, gehorcht der Blick von oben der Tendenz, den einzelnen Menschen nur als gesichtsloses Massenpartikel wahrzunehmen: als geschäftigen Ameisentier oder als tumben Fisch in einem treibenden Schwarm.“222

Eine Möglichkeit den Zustand zu reflektieren, in dem der Einzelne um des für ihn nicht verständlichen, nicht kartierbaren Ganzen da ist, dieses aber nicht um seinetwillen, ist es also, die Perspektiven von oben und im Unten unvermittelt gegeneinander zu setzen. An „Unser Dasein“ war zu sehen, wie Döblin sich die Lösung dieser Unvereinbarkeit vorstellt: Das Ganze müsste sich so verändern, dass der Einzelne in ihm Anteil haben könnte an der Perspektive von oben, um diese mit derjenigen von unten in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen – das Ganze müsste überschaubar werden.

222 Jähner 1984, S.69ff.

Schluss und Ausblick

In der modernen Ausprägung des Überblicks ist eine Form beschrieben, die bis heute eine wichtige „Orientierungsfunktion“ erfüllt. Im Laufe der Geschichte haben sich verschiedene Möglichkeiten der metaphorischen Nutzbarmachung des Blicks von oben in ihren Kontexten entwickelt. Wie die im Zusammenhang der Konzepte der Macht und des Selbstbezugs entstehenden Mängellagen dies seit dem Mittelalter prägten, war Gegenstand dieser Untersuchung. Der moderne Überblick stellt dabei eine Möglichkeit dar, ein Subjekt auch dann noch metaphorisch in einem verstandenen und insofern „beherrschten“ Ganzen zu verorten, wenn die Konzepte des „ganzen Menschen“ und der in diesem wurzelnden Funktion des überblickten Raumes als „Emblematik des Selbst“1 nicht mehr eigentlich glaubwürdig erscheinen. Der Überblick behält selbst in dieser Situation seine rezentrierende und insofern affirmative Funktion, indem er metaphorisch ein souveränes Subjekt des Wissens und der Macht etabliert. Dass diese Form bis heute ein Element unseres Weltbezugs darstellt, liegt wohl auf der Hand: Die in gegenwärtigen Bildmedien übliche Verwendung der Kartografie im Zusammenhang z.B. von Nachrichtensendungen oder „Infotainmentprogrammen“ zu historischen Gegenständen machen sich die im Laufe der Moderne entwickelte Form zunutze, so dass sie auch heute allgegenwärtige Hintergrundfolie unseres Bildes der Welt und der Geschichte ist. Wie in dieser Weise neuere Medien die ältere Form in ihren nach wie vor aktuellen Funktionen nutzbar machen, wird besonders an einem Programm deutlich, das innerhalb eines Jahrzehnts große Bedeutung für den privaten Gebrauch und auch als Inhalt des Mediums Fernsehen erlangt hat: an „Google Earth“. Google übernahm im Jahre 2004 das von der Firma Keyhole Corp. bereits seit 2001 entwickelte Programm „Keyhole“ und erweiterte es zu „Google Earth“. Diese Software vereinigt nun die hier herausgearbeiteten Elemente des Überblicks vollständig: Ausgehend

1

Stierle 2003, S. 297.

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von einem wie aus dem Weltraum gesehenen, frei drehbaren Globus kann der Nutzer jeden beliebigen Punkt auf der Erde ansteuern. Wie durch eine Fahrt bzw. einen Flug einer Kamera werden die Orte sichtbar, durch die Vergrößerung der Satellitenfotos, durch welche die Erdoberfläche repräsentiert wird. Auf diese Weise lassen sich einzelne Städte oder Landschaften bis in die Details hinein „aufsuchen“. In dieser gewissermaßen organischen und frei zu steuernden Bewegung hinab zum Einzelnen im zuvor Überblickten aktualisiert sich einmal mehr der „Blick nach unten“ – in seiner modernen, „demokratischen“ Form nun nicht nur jedem zugänglich, sondern auch in seiner suchenden Bewegung von jedem individuell zu steuern. Andererseits muss aber die Auflösung der Satellitenfotografien (obwohl teilweise recht beträchtlich) diesen Blick zum Einzelnen ab einer gewissen Vergrößerung natürlich enttäuschen. Noch größere Auflösungen sind auch hier den Augen der militärischen und geheimdienstlichen Aufklärung vorbehalten. – Der Eindruck von Wissen und Macht über das Überblickte muss als „demokratische“, geöffnete Möglichkeit wiederum metaphorisch bleiben, vor allem was das letztere Element dieses Paares angeht. „Google Earth“ belässt es aber nicht bei dieser Enttäuschung. Die typische Verschaltung von Blicken geht durch zwei zusätzliche Funktionen weiter: Registrierte Nutzer haben die Möglichkeit ihre eigenen Fotos über einen Link auf dem Satellitenbild zugänglich zu machen. Insofern diese im Allgemeinen die entsprechenden Orte aus einer Perspektive „im Unten“ zeigen, ergibt sich der Eindruck man könne die Fahrt bis ganz in das zuvor Überblickte hinab fortsetzen. Zudem führt diese Fahrt gleichsam in die individuelle Perspektive eines konkreten Anderen: Im Unten gesehen droht die Welt als in Einzelperspektiven zerbrochen zu erscheinen, zur „Scherbenwelt“ zu werden; ordnen sich diese in einen gewissermaßen öffentlichen Überblick über das Ganze ein, erscheinen sie aufgehoben in einer räumlich sich darstellenden und intersubjektiv vermittelten „Einheit der Apperzeption“, die jeden Standpunkt und Widerspruch in einer Synthese mit jedem anderen verbindet. Noch eindrücklicher setzt eine zweite Funktion den Blick nach unten um: Der ursprünglich für google maps entwickelte „street view“ ermöglicht einen Rundumblick in den zuvor von oben gesehen Straßen. Die entsprechenden Bilddaten werden von Kamerafahrzeugen geliefert, die weltweit Straßen aufnehmen. So kann der Nutzer die Straße gleichsam abfahren, von Perspektive zu Perspektive sich „voranklickend“. Diese frei schweifende Überblickbarkeit und „Aufsuchbarkeit“ der Welt stellt insofern eine neue Raffinesse in der metaphorischen Erfüllung der im Laufe der Moderne aufgetretenen Mängel dar, wie sie hier Thema waren. So scheint es auch, als ob nun jeder teilhaben könnte an jenen euphorischen Einheitserfahrungen angesichts des erblickten Ganzen, die die ersten Raumfahrer oder auch manche ihrer unten zurückgebliebenen Zeitgenossen noch mit solchen Hoffnungen erfüllten – als „Überblicksgläubige“, wenn man so will. Aber in gewisser Weise scheint sich diese ungebrochene Nutzbarmachung von Momenten des Überblicks auch überholt zu ha-

S CHLUSS

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ben. – Oder vorsichtiger: Sie wird möglicherweise zunehmend begleitet von einem Misstrauen, das sie ambivalent erscheinen lässt, das zeigt, dass sich die Mängel des Subjekts in solchen Formen nicht ganz zum Schweigen bringen lassen. Abschließend soll hier also noch die Frage angerissen werden, ob auch der Überblick in seiner metaphorischen Funktion in seiner „Postmoderne“ angekommen ist – im Sinne einer erhöhten Reflektier- und gleichsam „Hintergehbarkeit“. Zeichnet sich heute die Vorstellbarkeit einer Kultur ohne die Nutzbarmachung der immer auch affirmativen Funktion der Metapher vom Überblick im hier beschriebenen Sinne ab? Diese Frage kann an dieser Stelle allenfalls aufgeworfen, sicher aber nicht beantwortet werden. Zwei theoretische Stellungnahmen, die hier beide schon zu Wort gekommen sind, weisen aber immerhin gewissermaßen in die Richtung einer „Kritik des Überblicks“ und sollen deshalb den Schlusspunkt dieser Arbeit liefern: diejenigen von de Certeau und Jameson. Aber eigentlich stellte ja bereits die im vorigen Kapitel wiedergegebene Haltung Döblins eine Reflektion auf das Scheitern des Überblicks dar: Auf die letztlich fehlende Vermittlung zwischen dem Blick auf das Ganze und dem Blick auf das Einzelne, – auf jenen Bruch, den Medienprodukte wie Google Earth zum Verschwinden bringen wollen. Andererseits äußerte sich hier nicht eigentlich ein absolutes Misstrauen dem Überblick gegenüber: Was beklagt wurde, war ja gerade mangelnder „Überblick“. Die „Schuld“ wenn man so will wurde dem unübersichtlich gewordenen Bereich des Überblickten gegeben. – Und an Produkten wie jenem Film auf der Expo 2000 war zu sehen, wie ein gleichsam aufgerüsteter Überblick hier Abhilfe schaffen kann, um uns doch wieder zu zeigen, „was so vielen Menschen zu allen Zeiten gemein war und ist“.2 Ein Stück weit könnte also die Reaktion auf die „neue Unübersichtlichkeit“ der Welt eine Verbesserung und Differenzierung der Metaphorik des Überblicks sein – so wie sie sich im Laufe der Moderne tatsächlich vollzogen hat und wie sie sich im zeitgemäßen Medium des Computers bzw. des Internets auch weiter vollzieht. Für de Certeau ist aber scheinbar solchen Mitteln des Überblicks immer ein bleibender Mangel eingeschrieben, jenes „Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge“.3 Die Praxis – bei ihm sich zusammenfassend im „Gehen in der Stadt“ – stellt sich ihm als wesentlich im Unten dar. Sie ist die – im Sinne des Überblicks – blinde Aktualisierung eines Textes, ein Spielen mit „Räumen, in denen sie [die Stadtbenutzer] sich ebenso blind auskennen, wie sich die Körper von Liebenden verstehen“.4 So verstanden ist es also ein wesentlicher Zug der „Praxis“, des Benutzens der Stadt, in gewisser Weise unwissend zu sein: Der Zusammenhang meiner Praxis 2

„Brücken in die Zukunft“, Broschüre zum deutschen Pavillon auf der Expo 2000.

3

De Certeau 1999, S. 266

4

Ebd.

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mit der aller anderen, ihr Platziert-Sein in einem gemeinsamen „Text“ entgeht mir, insofern ich Subjekt eines solchen „praktischen Vorgangs“ bin. Die Subjekte des Blicks von oben sind also nicht solche dieser Vorgänge. – Ihr Eingreifen in die Stadt kann dasjenige einer fremden Macht sein, die an der Praxis vorbei Ordnungsprinzipien und Subjektmodelle aufprägt. Die Frage wäre hier, ob dies auch allgemein, vom engeren Kontext der Stadtplanung gelöst, eine zeitgenössische Kritik des Überblicks darstellt, eine Äußerung des Misstrauens und der Ablehnung seinen im Laufe der Moderne ausdifferenzierten metaphorischen Möglichkeiten gegenüber. Ich denke, dass dies nicht der Fall ist. Das Bedürfnis nach Überblick, also die Mängel, die es speisen, scheinen auch in dem von de Certeau angesprochenen Gegensatz von gleichsam „verkennendem Verständnis“ und „Blindheit“ wirksam zu bleiben. Ganz auf die metaphorisch überblickende Darstellung meines Ortes in dem Ganzen zu verzichten, in dem ich tätig bin, hieße eben dies: zufrieden sein mit meinem Nicht-Kennen des Ganzen und bestenfalls zu vertrauen auf dessen Gegebenheit. Eine solche Haltung entspräche aber in keiner Weise dem Weg, den die Funktionen des Überblicks seit der Moderne genommen haben. – Eher könnte sich eine solche Haltung z.B. auf diejenige Montaignes berufen, in jedem Falle wäre sie durch eine Nähe zu religiösen Demutsvorstellungen oder auch mystischen Ansätzen geprägt. Gibt es hier einen Rückweg oder eine Erneuerung? Dies scheint in de Certeaus Überlegungen nicht der Fall zu sein: Der Überblick in dem Sinne, wie er hier untersucht wurde, steht auch hinter seinen Ausführungen, er wurde hier nicht „hintergangen“. Letztlich fordern diese nur eines: Den Blick nach unten als Vermittlung zwischen demjenigen von oben und der als „mythisch“ und „metaphorisch“5 gekennzeichneten Perspektive der „Wandersmänner“. Gefordert ist jener Kreislauf der Blickperspektiven, wie ihn die Moderne entwickelt hat und eine ihm (endlich?) entsprechende Praxis, eine Raumordnung von unten nach oben sozusagen. – Gefordert ist nicht eine Aufgabe des Überblicks. Folge einer solchen Aufgabe wäre eine absolute Blindheit der „Wandersmänner“ dem „Text“ gegenüber und damit auch die Aufgabe dieser Metapher für die Stadt, insofern letztere in ihrem verräumlichenden Aspekt dessen metaphorische Überblickbarkeit voraussetzt. Folge wäre aber so auf der Ebene der Metaphorik de Certeaus auch eine Stummheit jener Benutzer der Stadt: Ihre Bewegungen in der Stadt haben in seinem Sinne symbolischen Wert, sie produzieren den Text der Stadt, indem sie deren „topographisches System“6 aktualisieren, wie es Sprechakte mit einer Sprache tun. Dass sie aber auf diese Weise durch ihr blindes Tun etwas Sinnvolles, Lesbares „schreiben“ muss aus irgendeiner Perspektive als zusammenhängendes Ganzes sichtbar werden.

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Ebd., S. 279ff.

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Ebd., S. 272.

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Fehlte diese Perspektive auf das lesbare Ganze des „Textes“, blieben nur noch zwei mögliche Haltungen: Vertrauen in das Unbekannte oder Misstrauen in das Unbekannte. Diese beiden Haltungen wären es, die einen wahrhaft blinden „Wandersmann“ kennzeichneten. Erstere würde gewissermaßen die Mängel der „Unübersichtlichkeit“ beheben, ohne die Formen des Überblicks nutzbar zu machen, letztere würde deren Scheitern erleben, ohne die Mängel anderweitig beheben zu können. Erstere Haltung scheint der Moderne fremd oder unmöglich zu sein – und auch de Certeau fordert nichts Entsprechendes, seine Rede vom „Schriftbild eines städtischen ‚Textes‘, den sie [Die Wandersmänner] schreiben, ohne ihn lesen zu können“7 oder den „Netze(n) dieser voranschreitenden und sich überkreuzenden Schriften“8 schließt dies auf der Ebene der metaphorischen Logik aus. Tatsächlich hat der Überblick seine Formen wohl so grundsätzlich mit der Kultur und ihren Strategien der Subjektivierung verwoben, dass eine solche Haltung noch nicht einmal als gegenwärtige vorstellbar erscheint. Und: Da nun einmal der Überblick der Macht seine Folgen erlebbar in die Stadt oder die Welt einschreibt, – hieße nicht der Verzicht auf die metaphorische Übernahme dieser Perspektive und das gleichzeitige Vertrauen in einen sinnvollen Zusammenhang des Ganzen immer Vertrauen in diese Macht? Ein solches Vertrauen neigt wohl dazu schnell in sein Gegenteil umzuschlagen. Die entsprechende Haltung des Misstrauens in das Unbekannte ist es vielleicht, die Jameson in seinen Untersuchungen herausgearbeitet hat und die er als „postmodern“ charakterisiert. Auch Jameson stößt in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Metapher des Textes. In dem von ihm untersuchten Produkten, z.B. den Romanen von Thomas Pynchon, wird sie aber in Verbindung mit derjenigen des Überblicks über diese „Texte“ gerade verwendet, um die Frage nach der Lesbarkeit überhaupt zu stellen – und unbeantwortet zu lassen. Als zeitgenössische Form kognitiver Kartierung untersucht er in erster Linie die Verschwörungsgeschichte.9 Ihre Funktion lässt sich wie schon angedeutet kurz wie folgt beschreiben: Als ganze durchschaubare und sichtbare Beziehungen zwischen einzelnen Figuren, die für Vertreter bestimmter gesellschaftlicher Positionen stehen, stehen metonymisch für die abstrakten Zusammenhänge und Strukturen, von denen diese Positionen und damit die auf ihnen sich befindenden Subjekte bestimmt sind. So schafft die Wahrnehmung des Konkreten einen kognitiven Zugang zum Abstrakten. Auch hier lässt es sich scheinbar sichtbar machen und insofern verstehen. Ein Effekt dieser Form ist es, dass die abstrakten Strukturen und Zusammenhänge, die eigentlich Ursachen der Vorgänge sind, überhaupt nicht oder nur als Wirkungen erscheinen – als Wirkungen der Handlungen und nicht wiederum aus den abstrakten 7

Ebd., S. 266.

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Ebd.

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Vgl.: F. Jameson 1992.

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Hintergründen zu erklärenden (autonomen) Absichten der Figuren. Das Ganze lässt sich verstehen als ursprünglich von einzelnen, wahrnehmbaren Figuren (bzw. Personen) bestimmt oder wenigstens prinzipiell bestimmbar. Die Verschwörungstheorie oder Erzählung arbeitet sicherlich auch mit dem Mittel der Typisierung, wie es in älteren Beispielen begegnete, sie geht aber noch darüber hinaus: Ihr Merkmal ist es, dass sie in der Wahrnehmung des Einzelnen eigentlich ungeregelte, sich selbst regelnde oder überhaupt unverständliche und unzugängliche Prozesse als von diesen Figuren kontrolliert darstellt. Ein wichtiges Thema der Verschwörungstheorie ist die Macht bzw. ihre Möglichkeit – nicht die abstrakte Macht, die von abstrakten Strukturen ausgeübt wird oder wie sie sich im „Willen des Volkes“, im „Wählerwillen“ oder Ähnlichem äußert, sondern die Macht einzelner Figuren, die darin besteht, dass sie ohne Vermittlung abstrakter Zusammenhänge den Lauf der Welt kontrollieren und damit eben nicht zuletzt diese abstrakten Zusammenhänge selbst. In dieser Hinsicht entspricht sie der Funktion der Führerfigur beispielsweise in „Triumph des Willens“. Wird die Verschwörung langsam enthüllt, stellt sich heraus, dass hinter dem, was scheinbar sinnlos oder unverständlich geschah, die Absichten von einzelnen bestimm- und wahrnehmbaren Figuren standen. Daraus ergibt sich ein Eindruck von Ordnung und Verständnis, der selbst die düsterste Verschwörungsvision zu einer im Prinzip positiven Erfahrung macht. Die Vorstellung der Verschwörung ist eine Reaktion auf den Mangel der Machtlosigkeit des Einzelnen angesichts der ihn bestimmenden Strukturen. Ein weiteres Merkmal zumindest der neueren Verschwörungsgeschichten, auf das Jameson hinweist, ist ihre Verbindung zum Raum und den ihn durchdringenden Netzen der Kommunikationsmittel. Das dem gegenwärtigen Zustand des Kapitalismus und den simultan funktionierenden Kommunikationsmedien entsprechende Raumkonzept, so Jameson, sei eines, in dem in einzelnen, unzusammenhängenden Räumen Informationen und Lärm auftauchten, scheinbar ohne einen Zwischenraum, eine Distanz bewältigt zu haben.10 Die Verschwörungen, die dieser Wahrnehmung des Raumes entsprechen, sind nun solche, in denen das, was in den eigentlich getilgten Zwischenräumen liegt zum Ort der Verschwörung wird: die Vernetzungen der Kommunikationsmittel und diese selbst – also das, was als normalerweise Übersehenes hinter der Oberfläche (der Bildschirme) liegt. Die neueren Verschwörungsgeschichten, auf die Jameson sich bezieht, folgen also ungefähr diesem Schema: Es stellt sich heraus, dass die materielle Grundlagen der Kommunikation, die in dem in der Wahrnehmung normalerweise getilgten Raum zwischen den Enden der Kabel usw. liegen, in der Hand einer aus bestimmten Figuren bestehenden Verschwörung sind und dass diejenigen, die die Kommunikationsmittel nutzen, von diesen kontrolliert werden. So wird der Raum selbst zu 10 Vgl.: Jameson 1988, S. 350f. Die entspricht in etwa der Tilgung des Raumes als Folge der elektronischen Medien, die z.B. G. Großklaus diagnostiziert. Vgl.: Großklaus 1995.

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einem Thema dieser Erzählungen. In ihm, dem scheinbar getilgten, ist die Verschwörung angesiedelt und in ihm finden die Kämpfe statt, es geht um die Kontrolle des Raumes. Insofern geht es aber immer auch um die Wahrnehmung des Raumes, um ein Wissen über ihn – um den „Überblick“ über das, was sich in ihm ereignet. Dadurch erhält die zweite Form des kognitiven Kartierens ihre Bedeutung, die des metaphorischen Überblicks. Die Verbindung dieser beiden Formen lässt sich gut an einem Beispiel aufzeigen, das Jameson selbst verwendet, an einem Text, der im Allgemeinen als „postmodern“ etikettiert wird: an Pynchons „The crying of lot 49“ (1966). Dieser Text bedient sich der Verschwörungsgeschichte nicht um eine Möglichkeit aufzuzeigen, Unverstandenes in einen verständlich machenden Kontext zu stellen – dieser Versuch wird in dieser Geschichte vielmehr durchgespielt, um am Ende ins Nichts zu führen. Wir sollen nicht in der Fiktion von der Realität der Verschwörungen überzeugt werden, vielmehr soll unsere Frage nach ihr scheitern. Die Verschwörungstheorie als Mittel kognitiver Kartierung erhält hier ihre Bedeutung durch ihr Scheitern, dadurch, dass die Interpretation der Welt, die sie möglich macht, am Ende als prinzipiell nicht überprüfbar erscheint. Sie bleibt etwas Privates, intersubjektiv nicht Vermittelbares, mit dem die „Dedektivin“, Oedipa Maas, alleine bleibt – so dass sie am Ende zwischen Paranoia und Wahrheit nicht mehr unterscheiden kann: „Entweder steckte Oedipa in den elastischen Klauen echten Irrsinns oder Tristero11 existierte tatsächlich. Denn entweder gab es dieses Tristero hinter dem Vermächtnis, das da Amerika hieß, oder es gab einfach nur Amerika, und wenn es einfach nur Amerika gab, dann schien der einzige Weg, den sie folgerichtig würde zu Ende gehen können, jener zu sein, der direkt in den kalten glatten, vollen imaginären Kreis der Paranoia hineinführte.“12

Ob Oedipa den Weg in die Paranoia gehen wird, scheint hier regelrecht von ihrer Entscheidung abzuhängen – einfach, weil es keine andere Grundlage für die Unterscheidung zwischen Wahnsinn und Wahrheit gibt. Auch die Instanz, die eigentlich für solche Entscheidungen verantwortlich wäre, stellt sich als völlig unverlässlich heraus: Oedipas Psychiater gibt sich als ehemaliger KZ-Arzt zu erkennen, der selbst unter Paranoia oder berechtigter Angst vor der Nachstellung durch jüdische Nazijäger leidet – auch hier ist eine Unterscheidung nicht möglich.13

11 Die von Oedipa vermutete Verschwörung ist eine im Postsystem. Trystero ist der, von ihr in alten Texten gefundene Name des (möglichen) Gründers einer Post-Verschwörung, die seit Jahrhunderten das Monopol des Hauses Turn und Taxis und deren Nachfolger unterläuft – in ihm fasst sich für sie der ganze Verschwörungskomplex zusammen. 12 Pynchon 1994, S. 201. 13 Vgl. ebd., S. 145-152.

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Eine ähnlich unauflösliche Unklarheit darüber, ob eine Form des kognitiven Kartierens zu einem verlässlichen Ergebnis führen könnte, erzeugt der Text auch in Bezug auf den metaphorischen Überblick. Die entsprechende kognitive Karte wäre eine, in der die Stadt und die Welt als ein in einer klaren Ordnung vernetztes Gitter zeigt, welches von oben betrachtet als Ganzes sichtbar wird und in dem Kommunikationen stattfinden, wie in den Schaltkreisen eines riesigen Computers. Aber auch hier steht die Frage am Ende, ob dieses Gitter nur ein sinnloses Labyrinth ist oder ein leserlicher Text, den es zu verstehen gilt. Der erste Blick Oedipas auf San Naciso – eine kalifornische Stadt, die in ihrer Einheitlichkeit und kristallinen Ordnung im Sinne gewisser Stadtplaner der Moderne wie z.B. Hilbersheimer gewesen sein dürfte – geht von einer erhöhten Straße hinab und veranlasst sie die Straßennetze mit dem Schaltkreis eines Radios zu vergleichen:14 „Von ihrem erhöhten Beobachtungsstandpunkt aus sprang ihr jetzt dieser wohlgeordnete, von Straßen durchzogene Häuserhaufen mit derselben unerwarteten und erstaunlichen Klarheit in die Augen, wie damals der Schaltplan. Obwohl sie über Radios womöglich noch weniger wußte als über Südkalifornier, war in beiden Fällen in den Mustern, die nach außen hin sichtbar wurden, ein hieroglyphisch verschlüsselter, aber unzweifelhaft vorhandener Sinn zu erkennen, eine feste Entschlossenheit zur Kommunikation.“15

Die Hoffnung diesen nach außen hin unbegrenzten Text lesen zu können, erfüllt sich aber nicht. Es bleibt am Ende nur die unbeantwortete Frage, ob er überhaupt leserlich und sinnvoll ist, oder ob er nicht einfach nur auf sich selbst verweist, einfach da ist: „Jetzt war es, als ginge man zwischen den Matrizen eines riesigen Digitalrechners spazieren, über einem und vor einem hingen symmetrisch geordnet, nach links und rechts genau ausbalanciert wie Mobiles, die Nullen und Einsen, dick und fett, vielleicht endlos weit. Entweder es verbarg sich irgendein transzendenter Sinn hinter diesen hieroglyphischen Straßen oder es war nur einfach Erde da, am Ende der Wege.“16

Auch der metaphorische Überblick scheitert also als Form des kognitiven Kartierens. Er wird, wie die Verschwörungstheorie, zitiert, um als nicht mehr funktionierend thematisiert zu werden. Drückt sich möglicherweise eine „neue Unübersichtlichkeit“ der Welt in einem solchen in der Fiktion durchgespielten Scheitern der modernen Form des Überblicks 14 Diese Textstelle zitiert auch Jameson: 1992, S. 17. 15 Pynchon 1994, S. 23. 16 Ebd., S. 200.

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aus? Drückt sich auch hier der erkannte oder erlebte, möglicherweise für die „Postmoderne“ typische Mangel aus, „dass es keinen Kommunikationstyp gibt, von dem aus – gleichsam vogelperspektivisch – das Gemeinsame der Besonderungen formuliert werden könnte“?17 In jedem Fall ließe sich die entsprechende Haltung eben unter den Begriff des Misstrauens in das Unbekannte bringen. Jenseits des Überblicks bleibt so betrachtet nur dies: eine Haltung, von der kein Weg mehr führt zum Verständnis und zur Einwirkung. Die metaphorische Nutzbarmachung von Formen des Überblicks ist insofern wohl auf sehr grundsätzliche Weise mit unserer Kultur und den ihr entsprechenden Formen der Subjektivität verbunden. Der Blick auf das Ganze in seiner metaphorischen Wirksamkeit ist nicht nur in einem oberflächlichen Sinne affirmativ diesen kulturellen Formen gegenüber. – Er stellt vielmehr eine so grundsätzliche Beziehung zu unseren Kontexten dar, dass selbst die Kritik an manchen seiner Wirkungen noch vor seinem Hintergrund formuliert werden muss.

17 Fuchs 1992, S. 12.

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Ricken, A., Panorama und Panoramaroman – Parallelen zwischen der PanoramaMalerei und der Literatur im 19. Jahrhundert dargestellt an Eugene Sues Geheimnissen von Paris und Karl Gutzkows Rittern vom Geist, Frankfurt/M 1991 Riley, T., Bergdoll, B., (Hg.), Mies in Berlin, München 2001 Robert Delaunay, Baden Baden, 1976 (Ausstellungskatalog) Roskothen, Johannes, Verkehr – Zu einer poetischen Theorie der Moderne, München 2003 Ruhberg, Uwe., Mappae Mundi des Mittelalters im Zusammenwirken von Text und Bild, in: Text und Bild: Aspekte d. Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, Hg.: C. Meier, U. Ruhberg, Wiesbaden 1980 Safranski, Rüdiger, Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?, München 2003 Saussure, H. B. de, Kurzer Bericht von einer Reise auf den Gipfel des Montblanc, im August 1787, München 1928 Schiller, Gertrud, Ikonographie der christlichen Kunst (Bd. I), Gütersloh 1966 Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter, München 1985 Schmidt, S.J., Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt 1989 Schmidt, Victor M., A Legend and ist Image – The Aerial Flight of Alexander the Great in Medieval Art, Groningen 1995 Schneider, Ute, Die Macht der Karten – Eine Geschichte der Kartografie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2006 Schoeller Reisch, Donata, Erhöhter Gott – vertiefter Mensch: Zur Bedeutung der Demut, ausgehend von Meister Eckhart und Jakob Böhme, München 1999 Schüler, Mechthild, Weltbild – Kartenbild – Geographie und Kartographie in der frühen Neuzeit, Göttingen 2002 Schulz, Uwe, Montaigne, Reinbek bei Hamburg 1989 Schwelling, Michael, Der stille Ozean der Dinge – Zu Alfred Döblins naturphilosophischem Denken, Stuttgart 2005 Segeberg, Harro., (Hg.), Die Mobilisierung des Sehens, München 1996 Sennett, Richard, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt 1986 Serres, Michel, Über Malerei – Vermeer, La Tour, Turner, Basel 1995 Skinner, Quentin, Machiavelli zur Einführung, Hamburg 1988 Sonntag, Michael, Das Verborgene des Herzens – Zur Geschichte der Individualität, Hamburg 1999 Spanke, Daniel, Portrait-Ikone-Kunst – Methodologische Studien zum Portrait in der Kunstliteratur – Zu einer Bildtheorie der Kunst, München 2004 Spies, Johann (Hg.), Historia von Doktor Johann Fausten, dem weitbeschreiten Zauberer und Schwarzkünstler (1587); in: Deutsche Volksbücher Bd. III, E. Weber, P. Suchsland (Hgg.), Augsburg 2003 (Berlin 1968) Stierle, Karlheinz, Der Mythos von Paris – Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München 1993

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Kultur- und Medientheorie Sabine Fabo, Melanie Kurz (Hg.) Vielen Dank für Ihren Einkauf Konsumkultur aus Sicht von Design, Kunst und Medien November 2012, 188 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2170-9

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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