Autodidaktik, Artistik, Medienpraktik: Erscheinungsweisen des Dilettantismus bei Karl Philipp Moritz, Carl Einstein und Thomas Bernhard [1 ed.] 9783737005807, 9783847105800

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Autodidaktik, Artistik, Medienpraktik: Erscheinungsweisen des Dilettantismus bei Karl Philipp Moritz, Carl Einstein und Thomas Bernhard [1 ed.]
 9783737005807, 9783847105800

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Palaestra Untersuchungen zur europäischen Literatur

Band 344

Begründet von Erich Schmidt und Alois Brandl Herausgegeben von Bernd Auerochs, Heinrich Detering und Maria Moog-Grünewald

Editorial Board: Irene Albers, Elisabeth Galvan, Julika Griem, Achim Hölter, Karin Hoff, Frank Kelleter, Katrin Kohl, Paul Michael Lützeler, Per Øhrgaard

Julia Kerscher

Autodidaktik, Artistik, Medienpraktik Erscheinungsweisen des Dilettantismus bei Karl Philipp Moritz, Carl Einstein und Thomas Bernhard

Mit 8 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0303-4607 ISBN 978-3-7370-0580-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de  2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Kunstmagazin ART, Verlag Gruner + Jahr

Für Ulrich und Sophia

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Einleitung: Der Dilettantismus tritt in Erscheinung . . . . . . . . . .

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B. Dilettantismus im 18. und 19. Jahrhundert: Positionen und Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wider das Dilettantische, für den Dilettantismus: Positionen um 1800 und um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.1. Wider das Dilettantische: Rhetorisches und Programmatisches in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts . . I.2. Wider das Dilettantische: Anthropologisches in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . I.3. Für und wider den Dilettantismus: Kulturpsychologisches und Poetologisches um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Dilettantismus und Wissenschaft(en) im 18. und 19. Jahrhundert: Praktiken und Episteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1. Sammeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2. Musealisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.3. Experimentieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren: Pädagogische und künstlerische Modelle des Selbst- und Fremdbezugs in Karl Philipp Moritz, Anton Reiser (1785–1790) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Autodidaktik als Prüfstein der Selbsterziehung und des Bildungsromans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.1. Der Autodidakt. Eine begriffsgeschichtliche Annäherung . I.2. Autodidaktik in Anton Reiser . . . . . . . . . . . . . . . . I.3. Lernen in der Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31 33 33 47 57 69 75 84 94

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Inhalt

II. Das pädagogische Projekt Anton Reiser: Projektieren, Projektion, Protektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1. Der ›Projektor‹ Anton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2. Der protektierende Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fühlen und Füllen: Anton Reisers künstlerischer Dilettantismus . III.1. ›Poetik‹ der Lücke, Drama der Kompensation . . . . . . . . III.2. Einfühlung anthropologisch, Einfühlung schauspielerisch . III.3. Epilog: Reisers Scheitern und der Untergang der Wanderbühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus: Erscheinungsweisen des Dilettantismus in Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders (1912) . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Konzept des Artistischen im Werk Carl Einsteins . . . . . . II. Artistik um 1900: Zirkus, Variet8, (niedere) Unterhaltungskunst III. Artistik in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders: Paradigma des anthropologischen und des poetologischen Wunders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1. Zirkus und zirzensische Künste . . . . . . . . . . . . . . . III.2. Zirzensische Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Europäische Puppen: Jahrmarktfigur, Schaufensterpuppe, kubistisches Mannequin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1. Von der Jahrmarktfigur zur Schaufensterpuppe . . . . . . IV.2. Zwischen Schaufensterpuppe und afrikanischer Plastik . . V. Afrikanische Puppen: Spielzeug, Kunstgegenstand, Kultobjekt, Ausstellungsstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1. Afrikanische Puppen in Einsteins Negerplastik . . . . . . V.2. Afrikanische Puppen in der modernen, europäischen Großstadt(literatur Bebuquin) . . . . . . . . . . . . . . . VI. Literarischer Primitivismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140 141 145 160 160 176 187

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Prolog: Von Carl Einsteins Artistik zu Thomas Bernhards Artisten – Dilettantismus zwischen Primitivismus und Lebenskunst . . . . . . . .

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E. Dilettantismus als Lebenskunst oder : Das Medium ist das Genie. Thomas Bernhard, Der Untergeher (1983) . . . . . . . . . . . . . I. (künstlerische) Subjektivität: Ich rede/schreibe/spiele (nicht), also bin ich (nicht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.1. Subjektivität sprachlich konstruiert . . . . . . . . . . . I.2. Genialität medial dekonstruiert . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

I.3.

Textsubjekte und Subjekttexte im Zeichen der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Selbstsorge: programmatischer Dilettantismus und die Praktiken des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1. Selbstsorge und Schreiben, Lebenskunst und Dilettantismus: Wahlverwandtschaften . . . . . . . . . . . . II.2. (ausbleibende) Selbstsorge im Schreiben: Der Untergeher . II.2.1. Körper-Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.2. Geistes-Haltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.3. Selbst-Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Medialität in und von Der Untergeher . . . . . . . . . . . . . . . . III.1. Medien in Der Untergeher I: Zeitung und Schallplatte oder : vom gedruckten zum elektronischen Medium . . . . . . . . III.2. Medien in Der Untergeher II: Manuskripte und Bücher oder : vom Manuskripteschreiben ins elektronische Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Glenn Goulds Musiktheorie und Thomas Bernhards Poetik: Postmoderne avant la / / la lettre . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1. Glenn Goulds Kunstauffassung: Postmoderne avant la lettre IV.2. Die Kunst-Verfassung von Der Untergeher : Postmoderne / la lettre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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F. Resümee: Dilettantismus und kein Ende . . . . . . . . . . . . . . . .

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G. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Zum Entstehen dieser Dissertation hat wesentlich das Promotionsstipendium, das mir die Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg in den Jahren 2009–2011 gewährt hat, beigetragen. Die Drucklegung wurde möglich durch die großzügige Unterstützung meiner Eltern, meines Großvaters sowie meiner Freunde Evelyn und Florian mit Familie. Das Gedeihen einer solchen Arbeit liegt nicht ausschließlich in den Händen der Autorin. Unverzichtbare Unterstützung kommt aus dem privaten Umfeld. Meine tiefempfundene Dankbarkeit gehört Evelyn, Carolin, Lena, Daniel und Katja, Vjeko, Erwin sowie Elke. Begleitet, unterstützt und gefördert auf meinem Ausbildungs- und bisherigen Berufsweg haben mich vor allen Prof. Dr. Barbara Thums, Prof. Dr. Jürgen Wertheimer und Prof. Dr. Eckart Goebel. Barbara Thums und Eckart Goebel danke ich im Besonderen dafür, dass sie mir den Weg in die ›Wissenschaft als Beruf‹ geebnet haben, der unter anderen Umständen möglicherweise versperrt geblieben wäre. Aufrichtig danke ich meiner Betreuerin und Erstgutachterin Prof. Dr. Barbara Thums und den weiteren Gutachtern Prof. Dr. Jürgen Wertheimer und Prof. Dr. Bernhard Greiner für ihre konstruktive Kritik und die vielen Anregungen, die zum Gehalt der Arbeit erheblich beigetragen haben. Prof. Dr. Bernd Auerochs, Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Detering und Prof. Dr. Maria Moog-Grünewald gilt mein herzlicher Dank für die Aufnahme dieses Buchs in die Reihe »Palaestra« sowie Susanne Köhler, Marie-Carolin Vondracek und JohannaThea Mohrmann für die engagierte Unterstützung von Seiten des Verlags. Meinen Wunsch, das art-Mixtape zum Titelbild zu machen, haben erfreulicherweise die Verantwortlichen von art Das Kunstmagazin, namentlich Ralf Schlüter, sowie von ByteFM erfüllt. Die Dissertation wurde ausgezeichnet mit dem Promotionspreis der Philosophischen Fakultät (Fachbereich Neuphilologie) der Eberhard Karls Universität Tübingen.

A.

Einleitung: Der Dilettantismus tritt in Erscheinung

Der Begriff »Dilettantismus« ist in seiner gegenwärtigen, alltäglichen Verwendung pejorativ konnotiert und wird mit Oberflächlichkeit und/oder Inkompetenz assoziiert.1 Im 21. Jahrhundert kommt das Etikett »Dilettantismus/dilettantisch« im künstlerischen, wissenschaftlichen und handwerklichen Bereich gleichermaßen zur Anwendung und greift auch auf Alltagspraktiken aus. Dilettant_innen2 können in diesem Horizont definiert werden als »Leute, die etwas produzieren, aber durch die Gruppe der Fachleute und Kritiker aus der Produktion ausgeschlossen werden, oder eigentlich ausgeschlossen werden sollen, weil sie bestimmte Standards, Werte, Normen, Fertigkeiten nicht anerkennen und/oder beherrschen.«3 Gerade in Zeiten des – in seinen Anfängen als basisdemokratisches Medium par excellence gefeierten – Internets verursache der »ungezügelte Laie, so erklärt die Profiseite […], […] die totale Entwertung von Wissen und Kompetenz.«4 Auf der ›Dilettantenseite‹ wiederum ist eine »epidemisch[e]«5 Verbreitung des Selbstbewusstseins der multimedial versierten »Medienamateure«6 zu verzeichnen. In der Folge von Theodor W. Adornos und 1 Vgl. Simone Leistner : Dilettantismus. In: Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent-Grotesk. Stuttgart/Weimar 2001. S. 63–87. Hier: S. 63. 2 Ich verwende diese genderneutrale Schreibweise mit drei Ausnahmen: 1. wenn es um Zuschreibungen eines spezifisch weiblichen oder männlichen Dilettantismus geht, 2. wenn die historischen Umstände verfälscht würden und 3. wenn der Lesefluss durch doppelte Artikel o. ä. allzu sehr beeinträchtigt würde. 3 Erhard Schüttpelz: Die Akademie der Dilettanten (Back to D.). In: Stephan Dillemuth (Hg.): Akademie. Köln 1995. S. 40–57. Hier: S. 40. 4 Till Briegleb: Wir Dilettanten. In: Süddeutsche Zeitung. 17./18. 10. 2009. S. V2/1. Andrew Keen polemisiert beispielsweise in: The Cult of the Amateur. How Today’s Internet is Killing Our Culture. New York u. a. 2007 gegen die Amateur-Beiträge im Internet. Bloggen stuft er als Bedrohung für den Qualitätsjournalismus ein, die Amateurkultur als Verfallserscheinung der Kulturindustrie. 5 Ebd. S. V2/1. 6 Ramjn Reichert: Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0. Bielefeld 2008. S. 9. Reichert führt aus: »Mit den Web-2.0-Technologien haben sich ›anwen-

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Einleitung: Der Dilettantismus tritt in Erscheinung

Max Horkheimers Auseinandersetzungen mit der ›Kulturinindustrie‹ wird behauptet, der »Dilettant als ›Medienstar‹ […] [lasse] bereits durch die rasante Verringerung des Zeitwerts seiner Künste Fragen des Könnens, der Qualität, der Bildung und des Kunstgenusses obsolet werden.«7 Dem steht gleichzeitig ein Lob des Dilettantismus gegenüber, wenn dieser als Ausdruck von Skepsis im Sinne einer Kritik am tendenziell bornierten Spezialistentum diskutiert wird.8 Denn konzentrierter Könnerschaft drohe stets die Gefahr, in Dogmatismus umzuschlagen. »Der Dilettant ist dann oft der Einzige, der dem Druck zur Spezialisierung, den das kapitalistische Leistungsgesetz aufbaut, entweicht«.9 Umgekehrt droht den Dilettant_innen, die keinen Unterschied zwischen Arbeit und Liebhaberei machen, heute, »im Zeitalter des emotionalen Kapitalismus«10, und unter den Vorzeichen einer »lückenlosen Ökonomisierung der eigenen Existenz«11 die Gefahr des entgrenzten Selbstverlusts. Die hier grob umrissenen Positionen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts dem Phänomen Dilettantismus gegenüber bezogen werden, sind natürlich historisch klar verortet und können (und sollen) nicht zu Aussagen über ›den‹ Dilettantismus überhaupt verallgemeinert werden. Gleichwohl stehen die oben genannten Argumente für und wider den Dilettantismus in einer langen Tradition der Auseinandersetzung mit dem Anderen der Kunst, der Wissenschaft und des Handwerks. Im 18. Jahrhundert, als die programmatische Auseinandersetzung mit dem Dilettantismus beginnt, ist Oberflächlichkeit eines der wesentlichen Charakteristika, die Dilettant_innen zugschrieben werden.12 Zu dieser Zeit wird intensiv über das Verhältnis von Arbeit und Lieberhaberei/Muße nachgedacht und es wird eine rege – v. a. im Bereich der Ästhetik statthabende – Diskussion um Standards, Normen und Fertigkeiten sowie (die Klage über) das Obsoletwerden dieser Standards, Normen und Fertigkeiten geführt.13 Das Verhältnis von

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derfreundliche‹ Softwarelösungen etabliert, die auch ›unerfahrene‹ User-/innen in die Lage versetzen sollen, ›Do-It-Yourself‹-Strategien zu verfolgen und multimediale Formate im Internet zu publizieren. Mit der Verbreitung der Social Software ist ein bewegliches diskursiv-operatives Netz entstanden, denn Nutzer-/innen verstehen sich weniger als passiv Konsumierende, sondern verorten sich vielmehr als aktiv ermächtigende Subjekte in Amateur- und Subkulturen.« Ebd. Leistner (Anm. 1). S. 66. Vgl. Briegleb (Anm. 4). S. V2/1. Ebd. Andreas Bernard und Till Krause: Dem Amateur ist nichts zu schwör. In: Süddeutsche Zeitung Magazin 24 (15. 06. 2012). S. 22–27. Hier: S. 27. Ebd. »Der Dilettant scheut allemal das Gründliche, überspringt die Entfernung notwendiger Kenntnisse, um zur Ausübung zu gelangen«. Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller : Über den Dilettantismus. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998. S. 739–786. Hier: S. 746. Goethe eröffnet die Propyläen beispielsweise mit entsprechenden Überlegungen: »Der echte

Einleitung: Der Dilettantismus tritt in Erscheinung

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Kunst und Wissenschaft sowie von Experten und Laien wird wiederum im 19. Jahrhundert verstärkt reflektiert. Im 20. Jahrhundert wird u. a. die aus dem Klassizismus Goethescher Prägung überlieferte Ansicht, der Dilettant kultiviere »etwas wichtiges an dem Menschen«14, da er zur Produktivität anrege, neu beurteilt. Im Zuge dieser Revision tritt der Dilettantismus in einen Diskussionszusammenhang mit Fragestellungen und Konzeptionen zur Lebenskunst.15 Im 21. Jahrhundert wird, wie gesehen, im Rahmen einer allgemeinen kritischen Hinterfragung der neoliberalistischen Arbeitswelt16 mit der Selbstausbeutung als ihrer spezifischen Signatur die zum Selbstverlust neigende Leidenschaft der Dilettant_innen problematisiert. Unter den Bedingungen flexibilisierter Arbeitsverhältnisse wird der antiökonomisch ausgerichtete Dilettantismus17 zugleich aber auch als Refugium einer »verloren geglaubte[n] schöpferische[n] Konzeption von Arbeit«18 gefeiert. In dieser Perspektive erlaubt der Dilettantismus, die »Utopie des ›Berufs als Lebenswerk‹ […] paradoxerweise nicht im Feld der eigentlichen beruflichen Tätigkeit, sondern in jenen kurzen Momenten, die er der Auszeit zugunsten des Hobbys gestohlen hat«19, zu verwirklichen. Der kurze Überblick zeigt, dass die Einschätzungen des Dilettantismus sich diachron gewandelt haben: Was unter Dilettantismus zu fassen ist, verhandelt jede Epoche für sich neu. Der Blick auf solche Aushandlungsprozesse zeigt außerdem, dass auch synchron die Positionen zum Dilettantismus durchaus nicht immer deckungsgleich sind. Das gilt auch für das dilettantische Selbstverständnis, innerhalb dessen die Jahrhundertwenden um 1800 und um 1900 zentrale Umbrüche markieren: Um 1800 wird der Begriff »Dilettant« von einer (adeligen) positiven Selbstbezeichnung zu einer negativen Fremdbezeichnung, um 1900 wird »Dilettant(ismus)« wieder zu einer Selbstbezeichnung.20 Ange-

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gesetzgebende Künstler strebt nach Kunstwahrheit, der Gesetzlose, der einem blinden Trieb folgt, nach Naturwirklichkeit, durch jenen wird die Kunst zum höchsten Gipfel, durch diesen auf ihre niedrigste Stufe gebracht.« Johann Wolfgang Goethe: Einleitung in die Propyläen. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998. S. 457– 488. Hier: S. 469. Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 746. Als ein Beispiel ist Paul Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein zu nennen. Vgl. Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt/M. 2014. Die Produkte von Dilettant_innen stehen in der Regel nicht zum Verkauf, sie müssen sich also nicht ökonomisch auf dem Markt behaupten. Barbara Wittmann: Das Steckenpferd als Lebenswerk. Ironie und Utopie der Dilettanten in der Kunst der Moderne. In: Safia Azzouni und Uwe Wirth (Hg.): Dilettantismus als Beruf. Berlin 2010. S. 181–199. Hier: S. 198. Ebd. Vgl. Georg Stanitzek: Poetologien des Dilettantismus – ironisch? In: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes. Frankfurt/M. 2000. S. 404–414. Hier: S. 410. Die Entwicklung von der Jahrhundertwende um 1800 zu der um 1900 beschreibt Hans

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Einleitung: Der Dilettantismus tritt in Erscheinung

sichts der negativen Konnotation des ›Dilettantischen‹ im allgemeinen Sprachgebrauch der Moderne erfüllt die entsprechende Selbstbezeichnung dann zuweilen eine ironische Funktion21 – wobei nicht vergessen werden sollte, dass die Selbstherabwürdigung, das Understatement »ein Kriterium des traditionellen Oberschichtendiskurses«22 ist. Hier schließt die Postmoderne an die Moderne – diese auch in diesem Punkt radikalisierend – an. Die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek meint: »Wir sind ja auch alle Dilettanten. Schreiben kann man ja kaum lernen. Man kann auf nichts, auf keine feste Basis zurückgreifen.«23 Im Bereich der Musik propagieren in den 1980er Jahren prominent die Genialen Dilletanten – zu ihnen gehörten beispielsweise die Einstürzenden Neubauten oder Die Tödliche Doris – das bewusste und intentionale Dilettieren. Die orthographisch unkorrekte Schreibweise ihrer Selbstbezeichnung als »Dilletanten« war dabei Programm. An Elfriede Jelineks Selbstaussage und der Selbstbezeichnung nonkonformistischer Musiker_innen als Geniale Dilletanten wird exemplarisch die pragmatische Funktion des Dilettantismusbegriffs deutlich: Mit ihm werden stets die jeweiligen Kunstverhältnisse reflektiert; seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts dient der Dilettant(ismus) als – freilich je unterschiedlich beurteiltes und instrumentalisiertes – Reflexionsmodell des künstlerischen Selbstverständnisses. Bezogen auf die Kunst ist der systematische Gehalt der Kategorie ›Dilettantismus‹ auf drei Ebenen zu verorten: Historisch ist er »an kulturelle Situationen gebunden, in denen eine Neubewertung künstlerischer Produktion hinsichtlich ihrer theoretisch-philosophischen oder gesellschaftlichen Funktion erfolgt.«24 Evaluativ wird er instrumentalisiert als »Wertungskategorie problematischer oder gescheiterter Künstlerschaft respektive einer verfehlten Haltung zu Kunst und Leben«25. Reflexiv schließlich »fluktuiert [er] innerhalb schöpferischer, kritischer und konsumtiver Kompetenzen, die modellhaft bestimmte Einstel-

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Rudolf Vaget folgendermaßen: »Der Dilettant wird nun oft zum achtbaren Sonntagsmaler, zur musizierenden höheren Tochter oder zum begeisterten Laienschauspieler. Er tritt in die Fußstapfen jenes im Grunde genommen harmlosen, gelegentlich sentimentalisierten Kunstfreunds, den das 18. Jahrhundert den ›praktischen Liebhaber‹ nannte. Dieser Typ des bemühten, nicht untalentierten, aber letztlich unschöpferischen Kunstproduzenten wird nun gleichsam offiziell anerkannt und gewürdigt.« Hans Rudolf Vaget: Der Dilettant. Eine Skizze der Wort- und Bedeutungsgeschichte. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970). S. 131–158. Hier: S. 149. Vgl. Stanitzek: Poetologien des Dilettantismus (Anm. 20). S. 414. Ebd. Gunna Wendt: »Es geht immer alles prekär aus – wie in der Wirklichkeit.« Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Elfriede Jelinek über die Unmündigkeit der Gesellschaft und den Autismus des Schreibens. In: Frankfurter Rundschau 14. 03. 1992. S. ZB 3. Leistner (Anm. 1). S. 64. Ebd.

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lungen und Verhaltensweisen zur Kunst umschreiben und/oder anderen gegenüber favorisieren.«26 Dilettantismus wird offensichtlich als eine heuristische Kategorie eingesetzt. Darin sind sich so unterschiedliche Künstler_innen wie Friedrich Schiller oder die Genialen Dilletanten einig. Schiller gesteht den Dilettieren heuristisches Potenzial zu und bezieht es sogar als Initiationsphase in ein schließlich alle Normen, Standards und Fertigkeiten einlösendes Künstlerleben ein: »Ich habe mehr, als irgend ein anderer meiner Kunstbrüder in Deutschland durch Fehler gelernt, und dies, deucht mir, führt mehr als der sichere Gang eines nie irrenden Genies zur deutlichen Einsicht in das Heiligtum der Kunst.«27 Die ›Falsch‹-Schreibung des Wortes »Dilletanten« wiederum sollte die Möglichkeit, durch Ver-spielen oder Ver-schreiben zu neuen, noch unbekannten künstlerischen Ausdrucksformen zu gelangen, möglichst universell andeuten.28 Die hier stellvertretend von Schiller und den Genialen Dilletanten artikulierte produktiv-heuristische Funktion des Dilettierens ist natürlich nicht nur auf den Bereich der Kunst beschränkt. Grundsätzlich »gehorcht das dilettantische Dispositiv einer Logik des Übergangs, des unmethodischen Abtastens, der bricolage.«29 D. h. die Dilettant_in kann auch im Bereich der Wissenschaft durchaus 26 Ebd. 27 Friedrich Schiller : Briefe an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg. In: Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt/M. 1992. S. 491–555. Hier: S. 493. 28 Vgl. Wolfgang Müller : Die wahren Dilletanten. In: ders. (Hg.): Geniale Dilletanten. Berlin 1982. S. 9–16. Hier : S. 10. Das Programm der Genialen Dilletanten lautet: »›Fehlerhafte‹ sprachliche Ausdrucksformen, wie Stottern, das Verschlucken von Wörtern, Vergessen von Textteilen bei Gesangseinlagen sind für den Dilletanten eben Realität und interessantes Forschungsgebiet, das bei eingehender Betrachtung neue Formen und Inhalte erzeugt. Die ›Genialität‹, die doch nichts anderes vage umschreibt, als intensive Intensität bei der Auseinandersetzung mit dem Stoff, gilt als Vorsatz des Dilletanten, der nicht bei purer Volkskunst Halt machen will. Die Musik-Experimente vergangener Zeiten, die meist isoliert in künstlerischem Rahmen, dem Volk wenig Interesse entlocken konnten […] finden in einer Symbiose mit do-it-yourself-Versuchen, eben neuem Verständnis der Begrifflichkeit ›Volksmusik‹, ›Stil‹ genialen Un-Wissens, bzw. Wissens. Dilletantismus auf musikalischen (aber auch allen anderen möglichen) Bereichen hat nichts mit Stillstand durch Nicht-Professionalität zu tun – ganz im Gegenteil – Entwicklung unter Einbeziehung aller möglichen und angeblich unmöglichen Bereiche, kann ein [sic] universellen Ausdruck finden, dem die Profis hilflos unterlegen sind.« Ebd. S. 10f. 29 Uwe Wirth: Dilettantische Konjekturen. In: ders. und Safia Azzouni (Hg.): Dilettantismus als Beruf. Berlin 2010. S. 11–29. Hier : S. 24. Diesen Gedanken konkretisiert Wirth an anderer Stelle an Karl Philipp Moritz’ Konzept des falschen Bildungstriebs. Dieser stellt nach Moritz auf verzerrte Weise nur das zusammen, was vorher schon unverstellt da war, und weist diese Zusammenstellung dann als ein eigenes Werk aus (vgl. Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1997. S. 958–991. Hier: S. 982.). »Wenn nun aber der falsche Bildungstrieb lediglich auf ein Re-Arrangement bereits vorhandener Teile abzielt, dann gerät der Dilettant

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Einleitung: Der Dilettantismus tritt in Erscheinung

als ein »epistemic hero«30 gelten. Die Tatsache, dass Innovation immer auch Veränderung der künstlerischen, wissenschaftlichen oder handwerklichen Standards meint, bedeutet, dass jede Erneuerung aus der Warte der Etablierten notwendigerweise zunächst als Dilettantismus angesehen wird – um später dann u. U. als verbindliche Norm gelehrt zu werden.31 Entsprechend bildet der Dilettantismusvorwurf häufig schlicht die Blindheit der Gegenwart einer Disziplin für ihre eigene Zukunft ab.32 Wissenschaftsintern regt beispielsweise die Nähe zwischen populärwissenschaftlichen Praktiken/Diskursen und Dilettantismus zur Befragung des fachwissenschaftlichen Selbstverständnisses an. Wissenschaftsgeschichtlich sind bekanntermaßen viele Errungenschaften gerade Dilettant_innen – die im Bereich der Wissenschaften häufig »Amateure« oder »Laien« heißen – zu verdanken. In der Geschichte wissenschaftlicher Pioniertaten finden sich viele klingende Namen von Amateuren, die ihr Hobby zum Nutzen der Menschen betrieben haben. Der Mönch Gregor Mendel entdeckte die Grundlagen der Genetik, der Kaufmann Heinrich Schliemann grub Troja aus, […] Darwin begann als Enthusiast, und Frauen, nach Goethe und Schiller Dilettantinnen qua Geschlecht, entdeckten die Radioaktivität (Marie Curie), die Kernspaltung (Lise Meitner) […].33

In seinem berühmtem Vortrag Wissenschaft als Beruf vertritt Max Weber 1917 die Ansicht: »Der Einfall eines Dilettanten kann wissenschaftlich genau die gleiche oder größere Tragweite haben wie der des Fachmanns. Viele unserer allerbesten Problemstellungen und Erkenntnisse verdanken wir gerade Dilettanten.«34 Knapp 100 Jahre später, im Jahr 2014, ist unter der Überschrift »Bürgerwissenschaften. ›Den letzten Rest Anarchie erhalten‹« in Der Spiegel ein Interview mit dem Wissenschaftstheoretiker Peter Finke über das Projekt

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in die Nähe zum bricoleur im Sinne von Claude L8vi-Strauss. Das heißt, der Dilettant wird zum Bastler, ›der mit seinen Händen werkelt und dabei Mittel anwendet, die im Vergleich zu denen des Fachmanns abwegig sind‹.« Uwe Wirth: »Dilettantenarbeit« – Virtuosität und performative Pfuscherei. In: Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann (Hg.): Genie, Virtuose, Dilettant. Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik. Würzburg 2011. S. 277–288. Hier: S. 286. Zitat im Zitat: Claude L8vi-Strauss: Das wilde Denken. Frankfurt/M. 1973. S. 29f. Wirth: »Dilettantenarbeit« (Anm. 29). S. 26. Vgl. dazu auch die eingangs genannten »informellen Medienaneignungspraktiken der Amateure, die konstitutiv für die Erfindung und Entwicklung von technischen Medien sind und ein wildes und subversives Amateurwissen ausgebildet haben«. Reichert (Anm. 6). S. 23. Vgl. Schüttpelz: Die Akademie der Dilettanten (Anm. 3). S. 42. Vgl. ebd. S. 54. Briegleb (Anm. 4). S. V2/1. Dass der Autor die Frauen in Klammern schreibt, nimmt seinem Befund glücklicherweise nicht den Gehalt. Max Weber : Wissenschaft als Beruf. In: Max Weber. Gesamtausgabe. Abteilung I: Schriften und Reden. Bd. 17: Wissenschaft als Beruf 1917/1919, Politik als Beruf 1919. Tübingen 1992. S. 71–111. Hier : S. 82.

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»Gewiss«, welches die Laienforschung vorantreiben soll, erschienen.35 »Dass Bürger ihr persönliches Umfeld erforschen, hat bei uns seit der Aufklärung Tradition. Diese Forschung ist praxisnah und relevant und deckt viele Bereiche ab – von Botanik über Geschichte bis zu Wirtschaftswissenschaften.«36 Die »Bürgerwissenschaften« – Finkes Diktion ist idiosynkratisch – sind als Gegenbild zu den »Berufswissenschaften« zu verstehen, als »der letzte Rest anarchischer Forschung, die nicht von den Interessen von Politik oder Wirtschaft bestimmt ist.«37 ›Bürgerwissenschaften‹ als Gegenbild zu den ›Berufswissenschaften‹, Amateur- bzw. Populärwissenschaften als Gegenbild zu den Fachwissenschaften – dies sind die Oppositionen, in welche der wissenschaftliche Dilettantismus eingespannt ist. Getragen werden sie von Amateuren und Laien im Gegensatz zu Fachleuten und Experten.38 All diese Oppositionspaare sind allerdings durchaus ambivalent. Die Dilettant_in in den Wissenschaften wird aus berechtigten Gründen aus der scientific community ausgeschlossen,39 gleichwohl wird der Wert ihrer Beiträge zum System Wissenschaft – wie gesehen 1917 bei Max Weber – nicht in Zweifel gezogen. Schon im 18. Jahrhundert hat die allmähliche Herausbildung der fachwissenschaftlichen Disziplinen von den Amateurwissenschaftlern in hohem Maße profitiert, da diese ihr die empirischen Grundlagen lieferten.40 Das Gleiche gilt für das Feld der Kunst: Dort stehen sich seit dem 18. Jahrhundert der Liebhaber und der Künstler, der Dilettant und das Genie bzw. der Meister gegenüber. V. a. für die Zeit um 1800 ist dabei jedoch zu beobachten, dass der Dilettant zwar »als Intimfeind des meisterhaft genialischen Schöpfertums [figuriert], gleichzeitig […] aber aus dem Kunstbetrieb nicht wegzudenken und in seiner Eigenschaft als Rezipient und auch Konsument unabkömmlich«41 ist. Eine Kartierung des Feldes ›Dilettantismus‹ kommt also zu folgenden ersten zentralen Befunden: Als ein in Kunst, Wissenschaft und Handwerk anzutreffendes Phänomen ist der Dilettantismus stets eingebunden in die Etablierung, Verteidigung, Aufweichung und Außerkraftsetzung von Normen und Standards. Daraus lässt sich die Hypothese ableiten, dass die Herausbildung und die weitere Entwicklung des Systems Kunst/Wissenschaft/Handwerk ohne eine Auseinandersetzung mit dem, was als Dilettantismus zu gelten hat, nicht möglich wären. 35 Vgl. Bürgerwissenschaften. »Den letzten Rest Anarchie erhalten«. In: Der Spiegel 29/2014. S. 103. (Interview mit Peter Finke) 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Vgl. Safia Azzouni und Uwe Wirth: Vorbemerkung. In: dies. (Hg.): Dilettantismus als Beruf. Berlin 2010. S. 7–9. Hier: S. 8. 39 Vgl. ebd. 40 Vgl. S. 73f. dieser Arbeit. 41 Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz: Vorwort: Dilettantismus um 1800 – eine Annäherung. In: dies. (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 9–16. Hier: S. 9.

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In meiner Untersuchung möchte ich entsprechend (I.) der Frage nachgehen, welches die historischen und systematischen (Soll)Bruchstellen – v. a. im Bereich der Kunst – sind, an welchen der Dilettantismus entscheidend ist für die Bestimmung des status quo und für das Entwerfen von in die Zukunft gerichteten Programmatiken. Als (rhetorisch-)strategische Kategorie der Selbst- und Fremdbezeichnung ist ›Dilettantismus‹ immer eine Zuschreibung, eine Konstruktion. Aus den Beobachtungen wiederum, dass erstens die jeweilige Semantik des Etiketts ›Dilettant_in‹ diachron variiert und synchron (potentiell) polyvalent ist sowie dass zweitens der Bezug auf den Dilettantismus durchaus auch affirmativ sein kann, ergibt sich folgende Hypothese: Der Begriff »Dilettant(ismus)« bezeichnet stets die Kehrseite historisch markierter und wandelbarer Auffassungen vom ›Wahren‹ einer (künstlerischen/wissenschaftlichen/handwerklichen) Disziplin. D. h. die Zuschreibung ist relativ und bildet (lediglich) ab, was zu einem bestimmten Zeitpunkt etabliert und anerkannt ist und was nicht. Es gilt also, sich (II.) der Frage zuzuwenden, inwiefern der Verlauf der – hier v. a. Literatur- – Geschichte als Geschichte der Positionierungen zu einem je unterschiedlich konstruierten ›Dilettantismus‹ zu verstehen ist. Dass Dilettantismus zudem eine heuristische Kategorie ist, anhand derer die Produktivität, Kreativität und der Innovationsgehalt neuer – und zwar (rückblickend) gelingender ebenso wie scheiternder – Ansätze sinnfällig wird, legt nahe, den Dilettantismus grundsätzlich als Triebfeder für jede Form von (künstlerischem/wissenschaftlichem/handwerklichem) Fortschritt zu begreifen. Diese Überlegung ruft (III.) dazu auf, die unterschwellige Allianz von Dilettantismus und Genialität anhand konkreter Beispiele – hier aus dem Bereich der Literatur – anschaulich zu machen. Wendet man sich als germanistische Literaturwissenschaftler_in der Erforschung des Dilettantismus zu, muss die Zeit ›um 1800‹ – wie schon mehrfach angedeutet – nahezu notwendigerweise den historischen Ausgangspunkt der Untersuchung bilden. Denn vor den 1790er Jahren ist im Deutschen der Begriff »Dilettant« kaum, das Wort »Dilettantismus« überhaupt nicht gebräuchlich gewesen.42 Erst 1799 findet in den von Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller und Johann Heinrich Meyer gemeinsam verfassten43 Schemata Über den 42 Vgl. Leistner (Anm. 1). S. 68. 43 Das erste Schema ist von Goethe niedergelegt worden, alle übrigen sind in der Handschrift Schillers oder Geists, dem Schreiber Goethes, überliefert. Auch sie sind aber mit eigenhändigen Zusätzen Goethes und Meyers versehen (vgl. Jochen Golz: »Dilettantismus« bei Goethe. Anmerkungen zur Geschichte des Begriffs. In: Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 27–39. Hier: S. 27.). »In ihrer Substanz sind die Schemata als geistiges Eigentum Goethes und Schillers anzusehen.« (ebd.) Im Einzelnen ist die jeweilige Autorschaft nicht nachzuweisen, die Schemata sind als Ge-

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Dilettantismus die Etablierung des Begriffs »Dilettantismus« sowie die erste systematische Aufarbeitung dieses Phänomens – also die Erfindung des Konzepts »Dilettantismus« – statt. Literatur- und ästhetikgeschichtlich kann der Stellenwert der Schemata Über den Dilettantismus nicht überschätzt werden. Rückblickend kommt die Forschung zu dem Schluss, dass sie – obgleich erst nachträglich publiziert – als das Hauptdokument des Weimarer Klassizismus zu betrachten seien.44 Denn zum einen sind die Schemata als eine explizit kulturprogrammatische Schrift im Rahmen der Propyläen konzipiert gewesen,45 zum anderen stellen sie »die einzige umfassende kunsttheoretische Auseinandersetzung mit dem Dilettantismus überhaupt dar.«46 Das heißt: Der deutsche Klassizismus, seine ästhetische Ausrichtung und seine programmatisch-polemische Haltung gegenüber konkurrierenden und/oder jüngeren ästhetischen bzw. poetologischen Ansätzen sind ohne eine Auseinandersetzung mit dem Dilettantismus nicht vollstellbar.47 Denn der Dilettant ist als eingeschlossen Ausgeschlossener für die klassizistische Ästhetik grundlegend konstitutiv. Was die Auseinandersetzung mit dem Dilettant(ismus) in der literaturwissenschaftlichen Forschung betrifft, hat Hans Rudolf Vaget in den 1970er Jahren wichtige Pionierarbeit geleistet. Ihm sind die begriffsgeschichtliche Erschließung von »Dilettant« und »Dilettantismus«48 sowie eine umfängliche und präzise Einordnung der Schemata in Goethes kunsttheoretische Überlegungen zu verdanken.49 Ist es Vagets Studie Dilettantismus und Meisterschaft ohnehin um eine synchrone Bestandsaufnahme zu tun, fällt bei seiner Aufarbeitung der Begriffsgeschichte auf, dass diese im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts endet. Vaget kommt zu dem Schluss, dass »[m]it Thomas Mann […] der Endpunkt einer gewissen historischen Entwicklung des Dilettantismusbegriffs erreicht zu sein«50 scheint. Ein Anliegen meiner Arbeit ist nachzuweisen, dass das Interesse an der Entwicklung des Dilettantismusbegriffs nicht beim Werk Thomas

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meinschaftsprojekt zu verstehen. Vgl. Alexander Rosenbaum: Der Amateur als Künstler. Studien zu Geschichte und Funktion des Dilettantismus im 18. Jahrhundert. Berlin 2010. S. 141. Vgl. Hans Rudolf Vaget: Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe: Praxis, Theorie, Zeitkritik. München 1971. S. 10. Vgl. Leistner (Anm. 1). S. 77. Im Kommentar zur »Einleitung in die Propyläen« ist die Rede von einem »Kampfblatt«, das ausgerichtet gewesen ist »gegen die sich formierende romantische bzw. religiös-patriotische Kunstauffassung, wie sie sich in Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796) und Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen (1798) äußerte.« Kommentar zur »Einleitung in die Propyläen«. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. I. Abteilung, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998. S. 1244–1253. Hier : S. 1245. Leistner (Anm. 1). S. 77. Zu den Strategien im Einzelnen vgl. Kapitel B. I. 1. Vgl. Vaget: Der Dilettant (Anm. 20). Vgl. Vaget: Dilettantismus und Meisterschaft (Anm. 44). Vaget: Der Dilettant (Anm. 20). S. 157.

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Manns51 enden darf und dass die Entwicklungen jenseits dieser ›gewissen historischen‹ aus guten Gründen nicht zu vernachlässigen sind. Im Gegenteil: Der Dilettantismus fungiert auch später im 20. und noch im 21. Jahrhundert als Reflexionsmodell für Künstlerschaft, postmoderne Künstler_innen beziehen sich bspw. affirmativ auf ihn. (Dies konnte Vaget 1970 allerdings noch nicht absehen.) Georg Stanitzek hat den letztgenannten Aspekt zumindest punktuell beleuchtet.52 Stanitzek, der sich sonst ebenfalls eingehend mit dem Dilettantismus vor und um 1900 befasst hat, verhandelt diesen »[i]n Termini der soziologischen Systemtheorie«53 und begreift die Dilettant_in als Sozialfigur.54 Entsprechend leitet er Umbrüche im Dilettantismusdiskurs aus dem Übergang der vormodernen, ständisch-stratifikatorischen Ordnung zur funktional differenzierten modernen Gesellschaft ab und ist der Ansicht, dass die Begriffsverwendung ihre Prägnanz verliere, sofern sie keinen Halt an institutionalisierten Unterscheidungen wie ›Professionelle/Laien‹ finde.55 Die systemtheoretische Herangehensweise an den Dilettantismus, die diesen als Ergebnis und Ausdruck von Prozessen der Inklusion und der Exklusion (bezogen auf das System Kunst) begreift, hat jüngst Matthias Plumpe verdienstreich fortgesetzt.56 Allerdings läuft dieser Ansatz Gefahr, die Diversität und den Facettenreichtum der konkreten Erscheinungsweisen des Dilettantismus nicht hinreichend erfassen und erklären zu können,57 weil er mit den großen Rastern sozialer und institutioneller Differenzbildungen arbeitet. Deshalb möchte ich diesen Ansatz um die Betrachtung der Wissensgebiete erweitern, im Austausch mit welchen sich der 51 Monographien zum Dilettantismus im Werk Heinrich Manns und Thomas Manns haben Michael Wieler und Paolo Panizzo vorgelegt. Vgl. Michael Wieler : Dilettantismus – Wesen und Geschichte. Am Beispiel von Heinrich und Thomas Mann. Würzburg 1996 und Paolo Panizzo: Ästhetizismus und Demagogie. Der Dilettant in Thomas Manns Frühwerk. Würzburg 2007. Dem Dilettantismus bei Robert Walser hat jüngst Hendrik Stiemer eine Untersuchung gewidmet. Vgl. Hendrik Stiemer : Über scheinbar naive und dilettantische Dichtung. Text- und Kontextstudien zu Robert Walser. Saarbrücken 2013. 52 Vgl. Stanitzek: Poetologien des Dilettantismus (Anm. 20). 53 Ebd. S. 409. 54 »Der sachliche Kern des Begriffs ist ein sozialer«, stellt Stanitzek fest. Georg Stanitzek: Dilettant. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar. Bd. 1: A-G. Berlin/New York 1997. S. 364–366. Hier: S. 364. 55 Vgl. ebd. S. 365. 56 Vgl. Matthias Plumpe: Dilettant/Genie. Zur Entstehung einer ästhetischen Unterscheidung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41 (2011). S. 150–175. 57 Ähnliches gilt aus anderen Gründen auch für Simone Leistners umfangreichen Artikel zum »Dilettantismus« in den Ästhetische[n] Grundbegriffe[n], der sich – der Konzeption des Lexikons entsprechend – ausschließlich Dilettantismusauffassungen zuwendet, die mit ästhetischen Fragestellungen verbunden sind (vgl. Leistner [Anm. 1]. S. 63), und den »Aufstieg [des Wortes ›Dilettantismus‹] zu einem ästhetischen Grundbegriff« (ebd. S. 64) nachzeichnet. Das Kapitel »IV. Dilettantismus als Ästhetisierungskonzept historischer Wissenschaften« bezieht sich (nur) auf die Kunstgeschichte und den Historismus. Vgl. ebd. S. 79– 82.

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Dilettantismus historisch jeweils genau formiert und literarisch inszeniert, reflektiert und transformiert wird. Denn, so meine These, der Begriff »Dilettantismus« verliert nicht seine Prägnanz, wenn er nicht (ausschließlich) in institutionelle Unterscheidungen eingespannt ist. Im Gegenteil: Wird der Dilettantismus als Ausdruck einer – historisch je spezifischen und wandelbaren – diskursiven Formation von Literatur und kulturellem Wissen verstanden, so avanciert er zu einem Schlüsselkonzept für eine kulturwissenschaftlich interessierte Literaturwissenschaft.58 Marie-Theres Federhofer hat eingeklagt, dass »durch die Fokussierung auf das Oppositionsverhältnis von Künstler und Dilettant durchaus emanzipatorische Aspekte des Dilettantismus, etwa im Bereich der Gelehrsamkeit und Wissenschaften« »[a]usgeblendet« würden.59 Mit ihrer Aufarbeitung des naturwissenschaftlichen Dilettantismus im 18. Jahrhundert und seiner Reflexion im Werk Johann Heinrich Mercks hat Federhofer begonnen, das von ihr benannte Forschungsdesiderat zu füllen. Einer Verhältnisbestimmung der Figuren Dilettant, Experte und Laie für die Zeit um 1900 gehen wiederum die Beiträge des Bandes Dilettantismus als Beruf nach.60 Systematische Kategorien, die für weitere literaturwissenschaftliche Untersuchungen fruchtbar gemacht werden können, sind damit jedoch nicht gewonnen. In dieser Hinsicht hat Uwe Wirth mit der Kategorie der »performativen Aufwandsdifferenz«61 und dem Verfahren des Aufpfropfens62 anschlussfähige Konzepte für die Analyse des Dilettantismus entwickelt. Er leitet diese Konzepte in bewährter Tradition aus dem Dilettan58 Einen Forschungsüberblick zu diesem Paradigma gibt: Aglaia Blioumi: Kultur als textuelle Konfiguration. Perspektiven für eine »kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft«. In: Willi Benning, Katherina Mitralexi und Evi Petropoulou (Hg.): Das Argument in der Literaturwissenschaft. Oberhausen 2006. S. 170–184. 59 Marie-Theres Federhofer : »Moi simple amateur«. Johann Heinrich Merck und der naturwissenschaftliche Dilettantismus im 18. Jahrhundert. Hannover 2001. S. 22. 60 Vgl. Safia Azzouni und Uwe Wirth (Hg.): Dilettantismus als Beruf. Berlin 2010. 61 Uwe Wirths These ist, »daß die psychologische Kategorie der Empfindungsfähigkeit [um 1800] durch die prozedurale Kategorie des ›anstrengenden Studiums‹ gerahmt wird« (Uwe Wirth: Der Dilettantismusbegriff um 1800 im Spannungsfeld psychologischer und prozeduraler Argumentationen. In: Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 41–49. Hier : S. 44.). Das heißt: »Der Dilettant macht es sich in spezifischer Weise zu leicht – das Wesen des Dilettantismus besteht so besehen in einer performativen Aufwandsdifferenz, die letztlich psychologisch begründet ist: zu viel Gefühl, zu wenig Werk.« Ebd. S. 46. 62 Die dilettantische Produktion folgt, so Wirth, demselben Prinzip wie das Verfahren des Aufpfropfens: »Während das Talent des Künstlers seine Wurzeln direkt in der Natur hat, zapft der Dilettant die Kräfte der Natur offenbar nur vermittelt durch eine ›Unterlage‹ an. Und eben hier offenbart sich der Vergleichspunkt zwischen Dilettantismus und Aufpfropfung: Die Aufpfropfung ist ein Verfahren zur Heranzüchtung von Pflanzensorten, bei der die ›feste Sicherheit der Arbeitsmethode‹ darüber entscheidet, ob das Resultat der Pfropf-Prozedur die Mühe wert war.« Ebd. S. 49.

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tismusdiskurs, wie er um 1800 geführt worden ist, ab.63 Mit meiner Arbeit möchte ich ähnliches für das frühe und das späte 20. Jahrhundert leisten. Der Ertrag, den meine Untersuchung in literarhistorischer Hinsicht für die Dilettantismusforschung verspricht, liegt darin, dass ich die bislang vernachlässigte Entwicklung des Dilettantismusdiskurses im 20. Jahrhundert für die germanistische Literaturwissenschaft erschließen und unter einer kulturwissenschaftlichen Perspektive aufarbeiten möchte. Der Anspruch dabei ist, nicht nur für sich stehende Textanalysen zu liefern, sondern repräsentative, typologische Modelle herauszuarbeiten. Damit ist auch der systematische Gewinn benannt, den die vorliegende Arbeit für die literaturwissenschaftliche Erforschung des Dilettantismus in Aussicht stellt. Es sollen unterschiedliche typologische Modelle des Zusammenhangs von künstlerischem Dilettantismus und kulturellem Wissen herausgearbeitet und ihre jeweiligen kulturgeschichtlichen Signaturen und literarischen Formgebungen analysiert werden. Mit dem Dilettantismus wende ich mich – so viel ist deutlich geworden – der Kunst- und Wissenschaftsausübung in der Variante ihres Scheiterns zu. Das Scheitern als Fokus zu wählen, begünstigt eine reflexiv-kritische Perspektive auf historische Konzepte von Kunst bzw. Künstlerschaft sowie von Wissenschaft und ist geeignet, deren innere Widersprüche, Fallstricke und blinde Flecken zu erhellen. Als einer literaturwissenschaftlichen Arbeit gilt das Interesse hier vorrangig der Literatur. Die spezifischen historischen Erscheinungsweisen des Dilettantismus, so die Ausgangsthese meiner Arbeit, sind Ausdruck der jeweiligen Interaktionen der Literatur mit ihren kulturellen bzw. wissensgeschichtlichen Kontexten. Sprich: Die Art und Weise, wie der Dilettantismus literarisch zur Erscheinung kommt, hängt wesentlich davon ab, aus welchen diskursiven Feldern die Literatur ihr Wissen bezieht. Mit dieser Annahme schließe ich an den Diskursbegriff Michel Foucaults insofern an, als ich von einer diskursiven Ordnung ausgehe, die Wissen und Literatur gleichermaßen hervorbringt.64 Anders als für Foucault ist für meine Untersuchung jedoch weniger von Interesse, nach den sozialen oder institutionellen Bedingungen und den machtförmigen Ausprägungen und Regulierungen der Diskurse zu fragen. Vielmehr geht es mir darum, die von Foucaults Diskursbegriff angeregte Diskussion innerhalb 63 Die in- und extensive Aufarbeitung des Dilettantismusdiskurses dieser Zeit belegt auch der von Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz herausgegebene Band Dilettantismus um 1800 mit Beiträgen u. a. zum Liebhabertheater, zur Almanach- und Taschenbuchmode, zum Übersetzen, zum Orientalismus, zum philosophischen und fürstlichen Dilettieren sowie zum Dilettantismus in diversen Wissenschaften. 64 Zu Aneignungen der Foucaultschen Diskursanalyse im methodischen Paradigma ›Literatur und Wissen‹ vgl. Yvonne Wübben: Forschungsskizze: Literatur und Wissen nach 1945. In: Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes und Yvonne Wübben (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2013. S. 5–16. Hier: S. 7 und S. 10.

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der Literaturwissenschaft »um die wissensgeschichtliche Kontextualisierbarkeit literarischer Texte und um die zentralen Paradigmen der Hermeneutik (z. B. Autorintention […])«65 produktiv fortzuführen. Das Anliegen dieser Arbeit ist, Text-Kontext-Verhältnisse in der Weise in den Blick zu nehmen, die die spezifisch literarischen Ausgestaltungen des Dilettantismus als Ergebnisse von Interaktionen zwischen Literatur und kulturellem Wissen lesbar machen. Es gilt also erstens das diskursive Umfeld der literarischen Texte zu erschließen, zweitens die Wissensaneignungen und -produktionen, welche die Literatur genau vornimmt, zu erfassen und drittens den spezifischen Gehalt des dadurch entstehenden genuin literarischen Wissens herauszupräparieren.66 Der ›spezifische Gehalt‹ eines ›genuin literarischen Wissens‹ ist dabei in den literarästhetischen Formen, in welchen das Wissen zur Darstellung kommt, genauso zu suchen wie in den inhaltlichen Positionierungen der literarischen Texte.67 Das In-Erscheinung-Treten des Dilettantismus konkretisiert sich, so eine meiner Basisannahmen, in bestimmten Figuren/Trägern des Dilettantischen und den von ihnen vollzogenen Praktiken, wobei diese Praktiken unter Rekurs auf bestimmte Wissensfelder ausgebildet werden. Der Klassizismus des 18. Jahrhunderts bezieht sein Wissen im Verbund mit der parallel sich etablierenden Ästhetik u. a. aus dem psychologisch-anthropologischen Diskurs68 und 65 Harald Neumeyer : Diskurs. In: Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes und Yvonne Wübben (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/ Weimar 2013. S. 33–36. Hier: S. 32. 66 Ich setze mir also nicht zum Ziel, im Paradigma ›Poetologie(n) des Wissens‹ »die spezifischen Korrespondenzen zwischen Wissen und Darstellungsweisen« (Armin Schäfer : Poetologie des Wissens. In: Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes und Yvonne Wübben (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2013. S. 36–41. Hier: S. 36.) herauszuarbeiten. Ein solches Verfahren wäre daran interessiert, »die rhetorische, symbolische, literarische und mediale Verfasstheit [zu] analysieren, in der ein Wissen erscheint, dargestellt wird und in Umlauf kommt.« Ebd. S. 39. 67 Ich teile die Annahme, dass der Literatur »aufgrund exemplarischer Erzählweisen, der ihr eigenen poetischen Sprache, ihrer humanistischen und existentialistischen Dimension ein spezifisches Wissen eignet«. Dieses Wissen, »das der Literatur aufgrund von formalen Eigenschaften zugesprochen werden kann« (Wübben [Anm. 64]. S. 14), ist m. E. dabei durchaus im Verbund mit den propositionalen Aussagen der literarischen Texte zu betrachten. 68 Vgl. dazu Helmut Pfotenhauer : Anthropologie, Transzendentalphilosophie, Klassizismus. Begründungen des Ästhetischen bei Schiller, Herder und Kant. In: Jürgen Barkhoff und Eda Sagarra (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992. S. 72–97, Barbara Thums: Aufmerksamkeit: Zur Ästhetisierung eines anthropologischen Paradigmas im 18. Jahrhundert. In: Jörn Steigerwald und Daniela Watzke (Hg.): Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680– 1830). Würzburg 2003. S. 55–74, die Beiträge in: Maximilian Bergengruen, Roland Borgards und Johannes Friedrich Lehmann (Hg.): Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800. Würzburg 2001 sowie Sabine Schneider : Die schwierige Sprache des Schönen. Moritz’ und Schillers Semiotik der Sinnlichkeit. Würzburg 1998.

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arbeitet sich am Liebhaber, am Pfuscher, am Stümper und ihren Verwandten, also an (behaupteten) Trägern des Dilettantischen ab. Im Zuge dessen wird vorrangig die Triebstruktur problematisiert. Die Schemata Über den Dilettantismus legen in der Zuordnung der verschiedenen Künste zum Äußerungs-, Lust-, Nachahmungs- oder zum Bildungstrieb69 ein eindrückliches Zeugnis hierfür ab. Das prominenteste von zahlreichen weiteren Beispielen ist Karl Philipp Moritz’ Theorie des falschen Bildungstriebs als Kennzeichen des Dilettanten.70 Moritz und sein Roman Anton Reiser stehen außerdem für eine im Austausch mit dem pädagogischen Wissen ausgebildete Praktik des Dilettantismus: die Autodidaktik. Literarische Texte des Realismus im 19. Jahrhundert bringen den Dilettantismus dagegen vor dem Hintergrund bestimmter Konzepte von Amateur- und Laienwissenschaft in den Praktiken Experimentieren, Sammeln, Musealisieren und Wissen Popularisieren zur Erscheinung. Die Avantgarde um 1900, wie sie von Carl Einstein mit Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders vertreten wird, verleiht dem Dilettantismus Gestalt in der Artistik, die sich vor dem Horizont des Wissens von Primitivismus und Kolonialismus als Praktik eines europäisch-großstädtisch gewendeten Primitiven erweist. Thomas Bernhard schließlich bringt den Dilettantismus im Kontext von postmodernen Lebenskunstmodellen in Selbst(sorge)praktiken sowie in Bezug auf das musikund medientheoretische Wissen seiner Zeit in medialen Praktiken zur Anschauung. Mit diesen drei exemplarischen Texten sind Gegenstände gewählt, die den Dilettantismus (I.) als Modell der künstlerischen Selbstreflexion (Anton Reiser), (II.) als Ausdruck einer dezidierten Neuausrichtung der Kunst (Bebuquin) sowie (III.) als Versuch einer programmatischen Allianz mit Genialität (Der Untergeher) verhandeln. Vor allem aber schließen die genannten drei Texte an das Gründungsmanifest der Dilettantismusdiskussion, die Schemata Über den Dilettantismus, an. Die Überlegungen Goethes, Schillers und Meyers bilden sowohl den historischen als auch den systematischen Ausgangspunkt für meine Untersuchung. Entsprechend ist mein Korpus so gewählt, dass die zu analysierenden literarischen Texte auf zentralen Feldern der Schemata angesiedelt sind: Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser setzt sich mit der Schauspielerei auseinander, 69 Vgl. Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 739. 70 Moritz gibt zu bedenken: »Freilich kann nun der Punkt, wo Bildungs- und Empfindungskraft sich scheidet, so äußerst leicht verfehlt und überschritten werden, daß es gar nicht zu verwundern ist, wenn immer tausend falsche, angemaßte Abdrücke des höchsten Schönen, gegen einen echten, durch den falschen Bildungstrieb, in den Werken der Kunst entstehen.« (Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen [Anm. 29]. S. 977) Konkret gestaltet sich dies laut Moritz folgendermaßen: »Je mehrere Reize der Stoff an sich hat, um destomehr wird es den nachfolgenden Bildungstrieb in Verzweiflung setzen. Der falsche Bildungstrieb wird am ersten darnach haschen; Anfang, Mittel, und Ende tauschen; und dies verzerrte, entstellte Ganze, das unverzerrt und unentstellt vor ihm schon da war, als sein eignes Werk betrachten, das ihm sein Dasein dankt.« Ebd. S. 982.

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Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders steht in einem Kontext mit der bildenden Kunst (Kubismus und Negerplastik sind die zu nennenden Schlagworte) und die Protagonisten von Thomas Bernhards Der Untergeher sind Musiker. Die drei Weimarer Kunstfreunde machen in den Schemata u. a. die Unterscheidung, dass es in allen Künsten ein Objektives und ein Subjektives [gäbe], und je nachdem das eine oder das andere darin die hervorstechende Seite ist, hat der Dilettantism Wert oder Unwert. Wo das Subjektive für sich allein schon viel bedeutet, muß der Dilettant sich dem Künstler nähern, z. B. Tanz, Musik, schöne Sprache, lyrische Poesie. Wo es umgekehrt ist, scheiden sich der Künstler und Dilettant strenger und der Dilettantism kann schädlicher wirken, wie bei der Architektur, Zeichenkunst, Schauspielkunst, epischen oder dramatischen Kunst.71

Von den hier genannten objektiven Künsten, in welchen der Dilettant geringe Chancen hat, sich dem Künstler zu nähern, wird in meiner Arbeit die Schauspielkunst am Beispiel von Karl Philipp Moritz’ Roman Anton Reiser (1785– 1790) untersucht werden. Zum »Schaden [der Schauspielkunst] fürs Subjekt« erklären Goethe, Schiller und Meyer die »Karikatur der eigenen Fehler wegen der Rollenauswahl nach der Individualität.«72 Anton Reiser wird in dieser Hinsicht tatsächlich einigen Schaden nehmen; an ihm zeigen sich, so meine These, die fatalen Auswirkungen, die eine wechselseitige Übertragung von bestimmten pädagogischen und künstlerischen Modellen des Selbst- und Fremdbezugs zeitigen können. Denn das Wissensgebiet, auf welches sich Anton Reiser bei der Inszenierung des Dilettantismus bezieht, ist die sich zeitgenössisch formierende Pädagogik. D. h. der schauspielerische Dilettantismus steht in einem Wechselverhältnis mit der Autodidaktik als weiterer Praktik des Dilettantismus. Karl Philipp Moritz setzt sich in Anton Reiser mit dem aufklärerischen Programm der Selbstbildung kritisch auseinander und hinterfragt am Beispiel der wechselseitigen Affinität von Dilettantismus und der Gattung Bildungsroman73 den status quo der künstlerischen Produktion seiner Zeit (Kapitel C). Bei der Entfaltung ihrer These, der »Nachahmungstrieb deutet gar nicht auf angebornes Genie«, reihen Goethe, Schiller und Meyer »Soldaten, Schauspieler, Seiltänzer« aneinander.74 Die hier suggerierte Nähe von Schauspieler_innen und 71 Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 778. 72 Ebd. S. 742. 73 Die These, dass die Tradition des deutschen Bildungsromans von Anton Reiser über Wilhelm Meister und Joseph Berglinger bis zu Heinrich Lee einer Auseinandersetzung mit dem Dilettantismus entstammt, vertritt Vaget: Der Dilettant (Anm. 20). S. 132. 74 Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 782. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.

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Artist_innen wird ein Jahrhundert später in Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders (1912) programmatisch gewendet werden. Auf den Untergang der Wanderbühne, der Anton Reiser beschließt, folgt die ›Geburt‹ des Zirkus als Ort der nun promovierten Unterhaltungskünste. Mit der Artistik als wesentlicher Praktik nutzt Einstein den Dilettantismus als Provokation der etablierten, bürgerlichen Kunst. Zum einen stellt das Personal von Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders die moderne, europäische, großstädtische Variante des Primitiven dar, zum anderen erklärt Einstein in Negerplastik die primitive Kunst zum Vorbild für seine bildkünstlerischen Zeitgenossen. Einsteins affirmativer Bezug auf den Dilettantismus tritt also als ein Beispiel für Zäsuren in der Literaturgeschichte ein, die sich einer grundlegenden Revision im Verständnis dessen, was als Dilettantismus angesehen wird, verdanken (Kapitel D). Von den in den Schemata Über den Dilettantismus genannten subjektiven Künsten, in welchen der Dilettant größere Chancen hat, sich dem Künstler zu nähern, wird in dieser Arbeit die Musik am Beispiel von Thomas Bernhards Roman Der Untergeher exemplarisch analysiert werden.75 Der »Ausübung« von Musik in der »Neue[n] Zeit« attestieren Goethe, Schiller und Meyer : »Mehr Wert gelegt auf mechanische Fertigkeit, Schwierigkeit und Künstlichkeit, weniger Zusammenhang mit Leben und Leidenschaft. Geht in Konzerte über. Mehr Nahrung der Eitelkeit.«76 In diese Tradition der Virtuosenkritik reiht Bernhard 75 Zur Entstehungszeit der Schemata bringt v. a. die Musik bereits eine dilettantische Tradition mit. Dass der Begriff »Dilettant« im 18. Jahrhundert in erster Linie in der Bedeutung von »Liebhaber der Musik« verwendet wurde (vgl. Vaget: Der Dilettant [Anm. 20]. S. 133), ist auf Christian Joseph Jagemanns Übersetzung des italienischen Worts »Dilettante« mit »adj. ergötzlich, lieblich, anmutig. Subst. ein Liebhaber, Kenner der Musik, oder anderer schönen Künste« (Christian Joseph Jagemann: Italienisch-deutsches und deutsch-italienisches Wörterbuch. Ersten Bandes erster Theil A–M. Weissenfels/Leipzig 1790. S. 330.) und der mit dieser Übersetzung transportierten vormodernen Dilettantismustradition zu erklären. Zum ersten Mal eingedeutscht worden ist der Begriff »dilettante« (nach heutigem Kenntnisstand) 1752 in Johann Joachim Quantz’ Versuch einer Anweisung die Flöte traversiHre zu spielen. Vgl. Plumpe (Anm. 56). S. 154. 76 Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 757. Zum »Nutzen fürs Ganze« bei der Ausübung von Musik erklärt das entsprechende Schema von 1799 die »[g]esellige Verbindung der Menschen, ohne bestimmtes Interesse, mit Unterhaltung. Stimmt zu einer idealen Existenz, selbst wenn es nur den Tanz aufregt. […] Vierstimmige Choräle.« (ebd. S. 756) An Thomas Bernhards Der Untergeher von 1983 lassen sich auch und gerade am Prinzip der Mehrstimmigkeit – das in diesem Roman das konstitutive Textverfahren bildet – Kontinuitäten und Transformationen im Verständnis dessen, was als musikalischer Dilettantismus klassifiziert wird, zeigen. Es ist bemerkenswert, dass die Komposition, um die sich Bernhards Roman dreht, Bachs Goldbergvariationen, geeignet ist, eine eigene kleine Geschichte des Dilettantismus zu schreiben. Schon Johannes Kreisler spielt 1810/14 in E. T. A. Hoffmanns unter dem Titel Kreisleriana versammelten Künstlertexten die »Johann Sebastian Bachschen Variationen« (E. T. A. Hoffmann: Kreisleriana Nro. I: Johannes Kreisler’s, des Kapellmeisters Musikalische Leiden. In: E. T. A. Hoffmann. Sämtliche Werke in sechs Bän-

Einleitung: Der Dilettantismus tritt in Erscheinung

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seinen Protagonisten Glenn Gould ein; und auch das Stichwort für den programmatischen Dilettantismus des Erzählers in Der Untergeher wird schon von Goethe, Schiller und Meyer geliefert: »Lebenskunst«77. Thomas Bernhards Roman versieht Genialität und Dilettantismus mit neuen Vorzeichen: Genialität ist unter den Bedingungen der Postmoderne nur mehr im Verbund mit Medien und in der Ausübung medialer Praktiken zu haben; Originalität und Schöpfertum werden obsolet. Dilettantismus wiederum kann vor dem Hintergrund von Selbstsorgekonzepten der zeitgenössischen Philosophie positiv zur Lebenskunst gewendet werden. Im Ausloten verschiedener Allianzen von Genialität und Dilettantismus spielt Der Untergeher nicht zuletzt deren Tragfähigkeit als Triebfedern für die künstlerische Zukunft überhaupt durch (Kapitel E). Die Querverbindungen, die zwischen den Schemata Über den Dilettantismus, Anton Reiser, Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders und Der Untergeher bestehen, machen überdies zentrale Transformationen innerhalb des Dilettantismusverständnisses vom 18. zum 20. Jahrhundert transparent. Eine dieser Querverbindungen besteht in der Auseinandersetzung mit der Perfektibilität. Vom Dilettanten, der die Dinge spielerisch angeht, behaupten Goethe, Schiller und Meyer: »Er überspringt die Stufen, beharrt auf gewissen Stufen, die er als Ziel ansieht, und hält sich berechtigt, von da aus das Ganze zu beurteilen, hindert also seine Perfektibilität.«78 In Moritz’ Anton Reiser wird Perfektibilität in der Trias ›Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung und Selbstveredelung‹ virulent und in der Autodidaktik praktisch angestrebt. Ende des 20. Jahrhunderts tritt in Thomas Bernhards Der Untergeher Selbstbildung als Praktik des Dilettantismus erneut in Erscheinung. Die »Lebenskunst« des Erzählers ist ebenfalls eine Form der Selbstbildung; aber sie ist nicht mehr primär pädagogisch fundiert.79 Perfektibiden. Bd. 2, 1: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814. Hg. von Hartmut Steinecke. Frankfurt/M. 1993. S. 34–41. Hier: S. 35.). Und noch der Stardirigent Kent Nagano empfiehlt 2014 in einem Interview Klavieranfänger_innen dieses Stück: »Spiegel: Wenn jemand zu ihnen kommt, der bis dahin keinen Zugang zu klassischer Musik gehabt hat, und Sie bittet, das eine Musikstück zu empfehlen, das ihm diesen Zugang eröffnen könnte, was würden sie empfehlen? Nagano: Das passiert häufig, und die Antwort sollte idealerweise auf jeden einzelnen Fragesteller zugeschnitten sein. Trotzdem: Oft schlage ich Bach vor, häufig die ›Goldberg-Variationen‹. Es ist doch kein Zufall: Wer das Klavierspielen erlernen will, beginnt auch heute, Jahrhunderte später, mit Bach.« Können kann befreien. In: Der Spiegel 42/2014. S. 136. (Interview mit Kent Nagano) 77 Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 784. 78 Ebd. S. 744. 79 »Von dem Augenblick an, da die Sorge um sich selbst eine Beschäftigung des Erwachsenen geworden ist, die das ganze Leben begleitet, tritt die pädagogische Funktion mehr und mehr in den Hintergrund«, schreibt Michel Foucault, der zentrale Theoretiker dieser Variante von Perfektibilität. Michel Foucault: Die Hermeneutik des Subjekts. In: Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. von Daniel Defert und FranÅois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin

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Einleitung: Der Dilettantismus tritt in Erscheinung

lität ist im Zeichen der Postmoderne überhaupt ambivalent geworden: Glenn Gould, der im Text die Genie-Position besetzt, zieht sich in die Isolation seines Tonstudios zurück und »perfektioniert[…] sich«80. Selbstoptimierung ist in Der Untergeher von Selbstausbeutung jedoch nicht mehr zu trennen. Dieser – im Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts dann noch verschärften – Tendenz setzt Bernhard einen programmatischen Dilettantismus als ebenfalls geniale Lebenskunst entgegen.81 Dass Der Untergeher historisch betrachtet sehr früh ein Problem reflektiert, das sich in aller Schärfe erst im 21. Jahrhundert herauskristallisiert, wird erkennbar nur im Horizont eines kulturwissenschaftlich erweiterten Blicks auf die Geschichte des Dilettantismus. Den Gewinn einer solchen Geschichte des für den künstlerischen Dilettantismus relevanten kulturellen Wissens möchte ich mit dieser Arbeit für die germanistische Literaturwissenschaft erschließen.

Saar. Übersetzt von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Frankfurt/M. 2007. S. 123–136. Hier: S. 127. 80 Thomas Bernhard: Der Untergeher. Hg. von Renate Langer. Frankfurt/M. 2006 (= Thomas Bernhard: Werke. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Bd. 6.). S. 24. 81 Einen Zusammenhang zwischen der ›Selbst‹-Zentriertheit des frühen 21. Jahrhunderts und den Selbsttechnologien stellt Tanja Prokic´ her : »Das Suffix ›Selbst‹ hat in unserer aktualen Gesellschaft Hochkonjunktur – Selbstbeziehung, Selbsterfindung, Selbstbeobachtung, Selbstreferenz, Selbstkultur, Selbstorganisation, Selbstpolitik, Selbststeuerung, Selbstverantwortung, – womit die Nähe zur Selbsttechnologie unmittelbar auf der Hand liegt.« Tanja Prokic´ : Kritik des narrativen Selbst. Von der (Un)Möglichkeit der Selbsttechnologien in der Moderne. Eine Erzählung. Würzburg 2011. S. 13.

B.

Dilettantismus im 18. und 19. Jahrhundert: Positionen und Konstellationen

Im 18. Jahrhundert beginnt die programmatische Auseinandersetzung mit dem Dilettantischen bzw. dem Dilettantismus in der Ästhetik, für das 19. Jahrhundert ist eine Erweiterung dieser Diskussion in Richtung des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft(en) zu konstatieren. Diese zentralen Phasen des Dilettantismusdiskurses, diejenige seiner Begründung und die einer ersten grundlegenden Transformation, sollen nun näher betrachtet sowie ein Ausblick auf eine zweite grundlegende Transformation, nämlich die kulturpsychologische Wendung im Dilettantismusverständnis um 1900, gegeben werden.1 Das Anliegen dabei ist, den Nachweis zu erbringen, dass Literatur, Ästhetik und unterschiedlichste Wissenschaften – vor allem in der Phase ihrer Formierung – am Dilettantismusdiskurs teilhaben und umgekehrt wesentlich von diesem gesteuert werden. Es soll gezeigt werden, dass ›Dilettantismus‹ als Schlüsselkategorie für die Analyse des Wechselspiels von Ästhetik und anderen Wissensgebieten (vornehmlich im 18. Jahrhundert) bzw. von Literatur und Wissenschaft(en) (vornehmlich im 19. Jahrhundert) eingesetzt werden kann. Die Ästhetik des 18. Jahrhunderts mit dem Fokus auf deren Charakterisierung des Dilettantischen/Dilettanten zu betrachten, gibt Aufschluss u. a. über die anthropologische Fundierung des ästhetischen Wissens; denn Dilettantismus wird als Ausdruck einer bestimmten menschlichen Triebstruktur verstanden. Die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts auf ihren Umgang mit Dilettantismus zu befragen, legt eine Akzentverschiebung von ästhetisch-anthropologischen zu erkenntnistheoretischen und wissenschaftspraktischen Fragestellungen frei. ›Dilettantismus‹ erweist sich so als Indikator für literatur- und wissensgeschichtliche Umbrüche gleichermaßen. Darüberhinaus ist es ein Anliegen dieses Kapitels, die folgenden Modell1 Die Zeit um 1800 modellhaft vertiefend, wird sich Kapitel C mit Anton Reiser befassen; die weitere Entwicklung des Dilettantismusdiskurses nach 1900 wird dann anhand von Modellanalysen zu Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders und Der Untergeher in den Kapiteln D und E eingeholt werden.

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Dilettantismus im 18. und 19. Jahrhundert: Positionen und Konstellationen

analysen – als Ergänzung zur systematischen Begründung in der Einleitung2 – historisch vorzubereiten. Die ästhetisch-anthropologischen Fragestellungen, die Anton Reiser in pädagogischer Perspektive formuliert, werden hier hergeleitet; die kulturpsychologische Ausweitung des Dilettantismusverständnisses, vor deren Hintergrund Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders konzipiert ist, wird hier skizziert; und die spezifische Tradition des musikalischen Dilettantismus, an welche Der Untergeher anschließt, wird hier eingeführt. Folgende Fragen bilden den Rahmen des Kapitels: Welche Funktion übernimmt der Dilettantismusdiskurs für die (Formierung der) Ästhetik im 18. Jahrhundert? Mit welchen rhetorischen Verfahrensweisen und performativen Inszenierungen ist das Dilettantische bzw. der Dilettant(ismus) an der Durchsetzung ästhetischer Programme und Normen beteiligt? Wie steuert der Dilettantismus den klassizistischen und den romantischen Geniediskurs bzw. die entsprechenden Parameter Einbildungskraft, Empfindung, Autonomie und Originalität? Inwiefern ist die Zuschreibung ›Dilettantismus‹ geeignet, um die historisch jeweils gültigen Wissensordnungen zu reflektieren und deren Brüche bzw. Transformationen greifbar zu machen? Worin besteht die spezifische Leistung der Literatur bei der Darstellung und Reflexion dieser ästhetischen und wissensgeschichtlichen Problemstellungen? Welchen Gehalt besitzt die Kategorie ›Dilettantismus‹ für die eigene Standortbestimmung literarischer Texte? Erörtert werden diese Fragen integrativ in zwei Etappen: In einem ersten Schritt werden repräsentative rhetorische Strategien, welche die Ästhetik im Umgang mit dem Dilettantischen ausgebildet hat, nachgezeichnet. Die programmatischen Zuschreibungen, die im Zuge dessen gemacht werden, geben Aufschluss über die anthropologische Unterfütterung des Dilettantismusbegriffs und der Ästhetik um 1800 überhaupt. Dies wird an zwei Beispielen, den Kategorien ›Geschmack‹ und ›Geschlecht‹, dargelegt. Dem folgt ein vergleichender Ausblick auf die kulturpsychologische Fassung des Dilettantismus um 1900, die mit der »›Achsendrehung im Begriff des Menschen‹«3, der neuartigen Fundierung der Anthropologie in der Sexualität, einhergeht. In einem zweiten Schritt soll anschließend die Öffnung des literarischen Dilettantismusdiskurses in Richtung der (Natur-)Wissenschaften im 19. Jahrhundert nachgezeichnet und das kulturwissenschaftliche Potential einer Un-

2 Vgl. S. 26 dieser Arbeit. 3 Wolfgang Riedel: »Homo natura«. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin/New York 1996. S. 151.

Wider das Dilettantische, für den Dilettantismus

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tersuchung der Erscheinungsweisen des Dilettantismus in der Literatur v. a. des Realismus erschlossen werden.

I.

Wider das Dilettantische, für den Dilettantismus: Positionen um 1800 und um 1900

Diachrone Transformationen und synchrone Akzentverlagerungen im Wissenshorizont der Ästhetik und der Literatur sind allein schon durch die unterschiedlichen Figuren, die zu Trägern des Dilettantischen bestimmt werden, angezeigt: Während Liebhaber und Amateure den dilettantischen Genuss repräsentieren, stehen Stümper und Pfuscher für dilettantisch-misslungenes Handwerk; während Philister und Epigonen sich auf je eigene Art dem Fortschritt verweigern und als nachidealistische Dilettanten gescholten werden, firmieren Dandys und Bohemiens als gefeierte Helden einer dekadent-dilettantischen Existenz. Sie alle, Liebhaber, Amateure, Stümper, Pfuscher, Dilettanten, Philister, Epigonen, Dandys und Bohemiens,4 fungieren als historisch bzw. evaluativ spezifische Signaturen des Dilettantismusdiskurses vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Diese sollen nun näher untersucht werden.

I.1.

Wider das Dilettantische: Rhetorisches und Programmatisches in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts

Die Begriffsgeschichte des ›Dilettantismus‹ ist bereits umfangreich aufgearbeitet worden.5 Es muss also nicht ein weiteres Mal die gesamte Entwicklung des 4 Zur Typologie des Dilettantischen vgl. auch Hans Rudolf Vaget: Der Dilettant. Eine Skizze der Wort- und Bedeutungsgeschichte. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970). S. 131–158. Hier : S. 131. In systemtheoretischer Perspektive bilden Typologien des Dilettantischen In- und Exklusionsprozesse des Systems Kunst ab. Vgl. Georg Stanitzek: Poetologien des Dilettantismus – ironisch? In: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes. Frankfurt/M. 2000. S. 404–414. Hier: S. 407. 5 Vgl. – hier in chronologischer Reihenfolge aufgeführt – Vaget: Der Dilettant (Anm. 4), Jürgen Stenzel: »Hochadeliche dilettantische Richtersprüche«. Zur frühesten Verwendung des Wortes »Dilettant« in Deutschland. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974). S. 235–244, Georg Stanitzek: Dilettant. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar. Bd. 1: A–G. Berlin/New York 1997. S. 364–366, Stanitzek: Poetologien des Dilettantismus (Anm. 4), Marie-Theres Federhofer : »Moi simple amateur«. Johann Heinrich Merck und der naturwissenschaftliche Dilettantismus im 18. Jahrhundert. Hannover 2001, Simone Leistner : Dilettantismus. In: Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent-Grotesk. Stuttgart/Weimar 2001. S. 63–87, Alexander Rosenbaum: Der Amateur als Künstler. Studien zu Geschichte und Funktion des Dilettantismus im 18. Jahrhundert. Berlin

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Dilettantismus im 18. und 19. Jahrhundert: Positionen und Konstellationen

Wortes ›Dilettant/Dilettantismus‹ in all ihren Facetten aufgerollt werden. Vielmehr geht es darum, beispielhafte rhetorische Strategien und programmatische Zuschreibungen, die sich schließlich in einer Begriffsgeschichte niedergeschlagen haben, nachzuverfolgen und auf ihre genaue Funktion zu prüfen. 1767/69 kündigt beispielsweise Gotthold Ephraim Lessing seine Hamburgische Dramaturgie unter anderem mit dem Satz an: »Nicht jeder Liebhaber ist Kenner«.6 Adressat_innen von Poetiken und ästhetischen Programmschriften nach ihrem Grad von (Nicht-)Kennerschaft zu untergliedern, ist eine gängige Strategie der rhetorischen Selbst- und Fremdverortung. Herausgreifen unter zahlreichen möglichen Beispielen7 möchte ich Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste von 1771/74, die ausdrücklich nicht an Dilettanten gerichtet ist und damit exemplarisch für die begriffsgeschichtliche Zäsur der Scheidung von positiv konnotiertem Liebhaber und negativ konnotiertem Dilettanten stehen kann.8 Sulzers Werk ist gedacht »[f]ür den Liebhaber, nämlich nicht für den curiösen Liebhaber, oder D i l e t t a n t e , der ein Spiel und einen Zeitvertreib aus den Schönen Künsten macht, sondern für den, der den wahren Genuß von den Werken des Geschmaks haben soll«9. Sulzer unterscheidet zwei Formen von Liebhabern, nämlich den Liebhaber, der zu wahrem Genuss fähig ist und den ›curiösen Liebhaber, oder Dilettante‹. Zum Dilettanten erklärt Sulzer denjenigen, der die schönen Künste spielerisch und zum Zeitvertreib angeht. Dass bei Sulzer – wie bei zahlreichen anderen – ›curiöser‹ bzw. negativ konnotierter Liebhaber und Dilettant synonym verwendet werden, kann etymologisch erklärt werden. Das Wort ›Dilettant‹ leitet sich ab von lateinisch delectare = ›vergnügen‹ oder ›ergötzen‹ und ist mit dem Motiv der Neigung und des Zeit-

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2010. S. 12–14 und S. 143f, Uwe Wirth: »Dilettantenarbeit« – Virtuosität und performative Pfuscherei. In: Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann (Hg.): Genie, Virtuose, Dilettant. Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik. Würzburg 2011. S. 277–288, Matthias Plumpe: Dilettant/Genie. Zur Entstehung einer ästhetischen Unterscheidung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41 (2011). S. 150–175. – Zur Verhältnisbestimmung von Genie, Virtuose und Dilettant in der Romantik vgl. außerdem die Beiträge in Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann (Hg.): Genie, Virtuose, Dilettant. Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik. Würzburg 2011. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Erster Band. In: Lessings Werke. Zweiter Band: Schriften I: Schriften zur Poetik, Dramaturgie, Literaturkritik. Hg. von Kurt Wölfel. Frankfurt/M. 1967. S. 121–533. Hier : S. 122. Allein bei Schiller lassen sich mehrere Beispiele finden, nämlich die Schriften Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen und Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten oder – in geschichtsphilosophischer Perspektive – seine Notizen zur Philosophie und Ästhetik: Bildungsstufen. Zu Sulzers Zugang zum Dilettanten vgl. Rosenbaum: Der Amateur als Künstler (Anm. 5). S. 127–131. Zur Ablehnung der Sulzerschen Theorie durch den jungen Goethe vgl. ebd. S. 130. Johann Georg Sulzer : Vorrede zu der ersten Ausgabe. In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Erster Theil. Leipzig 1792. S. XII–XX. Hier : S. XVI.

Wider das Dilettantische, für den Dilettantismus

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vertreibs, eben der Liebhaberei, verbunden.10 Bei Denkern, die der Aufklärung angehören oder ihrem Erbe im Sinne einer Beförderung des prodesse verpflichtet sind, liegt es auf der Hand, dass sie den Liebhaber als Dilettant/Delektant nicht goutieren können.11 Dass Unernsthaftigkeit, Unseriösität und Zeitvertreib die Zuschreibungen sind, die der Dilettant als sich delektierender Liebhaber erfährt, verwundert angesichts der historisch-disziplinären Situation Sulzers – der auch hierin seine Kollegen vertritt – nicht: Gerade in der Formierungsphase einer wissenschaftlichen Disziplin – in diesem Fall: der Ästhetik – werden alle rhetorischen Mittel aufgeboten, um die eigene Ernsthaftigkeit, Seriosität und Professionalität herauszustellen. Eine erste wichtige Einsicht lautet also: Der ›curiöse[…] Liebhaber, oder Dilettante‹ ist ein rhetorisches Produkt des Legitimationsdrucks, unter dem die junge Disziplin Ästhetik im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts steht. Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller und Johann Heinrich Meyer greifen 1799 in den Schemata Über den Dilettantismus diese Argumentation wieder auf: »[D]er Künstler, der echte Kenner hat ein unbedingtes ganzes Interesse und Ernst [an] der Kunst und am Kunstwerk. Der Dilettant immer nur ein halbes, er treibt alles als ein Spiel, als Zeitvertreib, hat meist noch einen Nebenzweck, eine Neigung zu stillen, der Laune nachzugehen«.12 Gerichtet ist die Argumentation jedoch nicht wie bei Sulzer auf die dilettantische Rezeption, sondern auf die dilettantische Produktion.13 Dies bedeutet in letzter Konsequenz, dass der Dilettant zu einer zentralen Reflexionsfigur für die Autono-

10 Vgl. Leistner (Anm. 5). S. 63. Noch in Die Wahlverwandtschaften sagt der Hauptmann über Charlotte: »Es ist ihr, wie allen denen, die sich nur aus Liebhaberei mit solchen Dingen beschäftigen, mehr daran gelegen, daß sie etwas tue, als daß etwas getan werde.« (Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus u. a. I. Abteilung, Bd. 8: Die Leiden des jungen Werthers, Die Wahlverwandtschaften, Kleine Prosa. In Zusammenarbeit mit Christoph Brecht hg. von Waltraud Wiethölter. Frankfurt/M. 1994. S. 269–529. Hier : S. 291.) Der Aspekt Zeitvertreib ist eine Konstante im Dilettantismusdiskurs, die trotz aller Brüche und Transformationen (auch über Die Wahlverwandtschaften hinaus) bis weit in das 19. Jahrhundert hinein stabil geblieben ist. 11 Vgl. Vaget: Der Dilettant (Anm. 4). S. 142. 12 Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller : Über den Dilettantismus. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. I. Abteilung, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998. S. 739–786. Hier: S. 747. 13 Zur Grenzziehung zwischen positiv und negativ gewertetem Dilettantismus anhand des Wechsels von der Rezeption zur Produktion vgl. auch Jochen Golz: »Dilettantismus« bei Goethe. Anmerkungen zur Geschichte des Begriffs. In: Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 27–39. Hier: S. 33 sowie Uwe Wirth: Der Dilettantismusbegriff um 1800 im Spannungsfeld psychologischer und prozeduraler Argumentationen. In: Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 41–49. Hier: S. 42–44.

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Dilettantismus im 18. und 19. Jahrhundert: Positionen und Konstellationen

mie(ästhetik)14 wird – und zwar in systemisch-institutioneller und in künstlerisch-poetologischer Perspektive gleichermaßen. Der Dilettant wird zum Gegenspieler autonomieästhetischer Ansprüche erklärt, indem ihm ein bloß geteiltes Interesse an der Kunst sowie diverse ›Nebenzwecke‹ unterstellt werden. Zugleich lösen der dem Dilettanten zugeschriebene spielerische Zugang und die nicht institutionell begründete Neigung zur Kunst den autonomieästhetischen Imperativ einer Zweckfreiheit gerade ein.15 An Goethes, Schillers und Meyers Argumentation kann repräsentativ gezeigt werden, dass und wie die Figur des Dilettanten um 1800 zur Illustration und Verkörperung (des Verfehlens) autonomieästhetischer Theoreme funktionalisiert worden ist.16 Die besondere Leistung des Blicks auf die ästhetische Konzeption des Dilettanten besteht also 14 In der klassizistischen Ästhetik meint Autonomie die Eigengesetzlichkeit der Kunst, ihre Freiheit von heteronomen Zwecken. Die Selbstbestimmtheit und Selbstgesetzgebung der Kunst schlägt sich u. a. darin nieder, dass sie vom Nachahmungszwang befreit ist (vgl. Michael Einfalt: Autonomie. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. von Karlheinz Barck u. a. Bd. 1: Absenz-Darstellung. Stuttgart/Weimar 2000. S. 431–479. Hier: S. 444f.). »In künstlerisch-poetologischer Perspektive betrifft Autonomie einmal die zunehmende Autonomisierung der Kunst gegenüber poetologischen Vorgaben, dann auch die wachsende Emanzipation von ihrer ursprünglichen Abbildfunktion. Ist erstere Entwicklung an die Entstehung des Geniebegriffs gebunden, so […] gipfelt [letztere] in der gegenstandslosen Selbstreferentialität von Kunst/Literatur in der Moderne.« (ebd. S. 435) Zur hier nicht näher verfolgten Vorgeschichte der Autonomieästhetik vgl. Frauke Berndt: Die Erfindung des Genies. F. G. Klopstocks rhetorische Konstruktion des Au(c)tors im Vorfeld der Autonomieästhetik. In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart/Weimar 2002. S. 24–43 und mit Fokus auf die Allianz von Physiologie und Ästhetik: Caroline Welsh: Von der Ästhetik der Rührung zur Autonomieästhetik. Physiologie und Ästhetik bei Kant und Schiller. In: Marie Guthmüller und Wolfgang Klein (Hg.): Ästhetik von unten. Empirie und ästhetisches Wissen. Tübingen 2006. S. 113–139. 15 Aus diesem Grund erklärt Barbara Wittmann die Zweckfreiheit des Dilettantismus zur Verwirklichung der bürgerlichen ›hohen‹ Kunst »unter den Vorzeichen der Parodie«. Barbara Wittmann: Das Steckenpferd als Lebenswerk. Ironie und Utopie der Dilettanten in der Kunst der Moderne. In: Safia Azzouni und Uwe Wirth (Hg.): Dilettantismus als Beruf. Berlin 2010. S. 181–199. Hier: S. 192f. Sie folgert daraus, dass Dilettant_innen die Zweckfreiheit der Kunst um den Preis einer radikalen Privatisierung der Kunst realisieren. Vgl. ebd. S. 193. 16 Der führende Theoretiker der Autonomieästhetik, Karl Philipp Moritz, adressiert in seinem Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff »des in sich selbst Vollendeten« den Dilettanten sogar direkt: »Ist aber die Vorstellung des Beifalls dein Hauptgedanke, und ist dir dein Werk nur in so fern wert, als es dir Ruhm verschafft; so tu Verzicht auf den Beifall der Edeln. Du arbeitest nach einer eigennützigen Richtung: der Brennpunkt deines Werks wird außer dem Werke fallen, du bringst es nicht um sein selbst willen, und also auch nichts ganzes, in sich Vollendetes hervor. Du wirst falschen Schimmer suchen, der vielleicht eine Zeitlang das Auge des Pöbels blendet, aber vor dem Blick des Weisen wie Nebel verschwindet.« Karl Philipp Moritz: Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten. In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1997. S. 943–949. Hier: S. 948.

Wider das Dilettantische, für den Dilettantismus

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darin, Fallstricke, Ambivalenzen und Aporien innerhalb der ästhetischen Debatten im späten 18. Jahrhundert greifbar zu machen.17 (De-)Legitimiert werden müssen zum Zwecke der Etablierung der Disziplin Ästhetik natürlich nicht nur Personen – also dilettantische Rezipient_innen und Produzent_innen –, sondern vor allem ästhetische bzw. poetische Positionen. Lessing zum Beispiel dient drei Jahrzehnte vor den Goetheschen Schemata der Stümper dazu, sich von der Regelpoetik abzugrenzen. Er ist der Ansicht, dass das, worauf »alles […] ankömmt, […] noch einzig das Werk des Genies«18 sei. Bezogen auf die Kleopatra-Geschichte fragt Lessing: »Was fehlt ihr also noch zum Stoff einer Tragödie?« und gibt selbst die Antwort: »Für das Genie fehlt ihr nichts: für den Stümper alles.«19 Lessing setzt das Genie als Agenten für das Inkommensurable der Kunst ein, den Stümper als bloßen Regelbefolger.20 Dieses rhetorische Manöver folgt einer metonymischen Verschiebung: Das »alles« der künstlerischen Leistung wird auf das Genie verschoben, das »nichts« auf den Stümper. Die Signaturen ›Genie‹ und ›Stümper‹ werden so zu Superkategorien, die schließlich passepartoutartig eingesetzt werden können und aufgrund ihres Supplementcharakters die positive Formulierung ästhetischer Positionen theoretisch unnötig machen. Ist die Dichotomie von Genie und Stümper erst 17 Mit dem Dilettanten/der Dilettantin können diverse Aspekte in einer Reflexionsfigur eingeholt werden, die in bisherigen Untersuchungen zu den Widersprüchen innerhalb der klassizistischen Ästhetik gesondert diskutiert worden sind. Zur allgemeinen Problematik vgl. z. B. Sabine Schneider: Die Krise der Kunst und die Emphase der Kunsttheorie. Aporien der Autonomieästhetik bei Carl Ludwig Fernow und Friedrich Schiller. In: Michael Knoche und Harald Tausch (Hg.): Von Rom nach Weimar – Carl Ludwig Fernow. Tübingen 2000. S. 52–68. Anthropologischen Aporien in Schillers philosophischen Schriften geht Carsten Zelle nach. Vgl. Carsten Zelle: Die Notstandsgesetzgebung im ästhetischen Staat. Anthropologische Aporien in Schillers philosophischen Schriften. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Stuttgart/Weimar 1994. S. 440–468. 18 Lessing: Hamburgische Dramaturgie (Anm. 6). S. 227. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 19 Ebd. S. 241. 20 Moses Mendelssohn, um ein weiteres Beispiel zu geben, setzt sich mit dem Stümper im Rahmen der zeitgenössisch hochkonjunkturellen Debatte um die Mediendifferenz auseinander. »Stümper in der Musik« brechen die semiotischen Gesetze ebenso wie »die allerelendsten Stümper« in der Malerei es tun (Moses Mendelssohn: Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften. In: Moses Mendelssohn. Ästhetische Schriften. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Anne Pollock. Hamburg 2006. S. 188–215. Hier: S. 203 und S. 212.). – Signifikant für die Differenzlinien innerhalb des Dilettantismusdiskurses ist die Tatsache, dass der so heftig gegen die Stümper wetternde Mendelssohn selbst Autodidakt gewesen ist (vgl. Anne Pollok: Einleitung. In: Moses Mendelssohn. Ästhetische Schriften. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Anne Pollock. Hamburg 2006. S. VII–LI. Hier: S. VII–IX.). Die Person Mendelssohns tritt also exemplarisch ein für die weithin zu beobachtende Festigung der eigenen ästhetischen Position mit Hilfe von Praktiken des rhetorisch-strategischen Abwertens und Ausschließens. Zugleich wird an Mendelssohn sichtbar, dass eigenes Autodidaktentum nicht notwendigerweise mit einer Milderung der Dilettantismuskritik einhergeht.

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Dilettantismus im 18. und 19. Jahrhundert: Positionen und Konstellationen

einmal etabliert, erhält sie – scheinbar – den Rang eines Arguments. Bei Lessing lässt sich im Umgang mit Genialität und Stümperei eine rhetorische Strategie nachweisen, welche die spätere Konzeption des Dilettanten als »ästhetische[s] Phantasma, dem alles zugerechnet werden kann, das aus der Perspektive einer bestimmten Norm aus als defizitär erscheint«21, an Radikalität noch übersteigt. Das Interesse auf die Träger des Dilettantischen zu richten, die vor der festen Etablierung des Begriffs ›Dilettant‹ ›Stümper‹ oder auch ›Pfuscher‹ heißen, ist gerade im Hinblick auf Verschiebungen bei der Funktionalisierung des Dilettantischen im Rahmen ästhetischer Standortbestimmungen sehr lohnenswert. Denn die Poetik bzw. die Ästhetik ist auf den Stümper/Pfuscher/Dilettanten als Projektionsfläche für alles künstlerisch Verwerfliche – unabhängig davon, ob dieses Verwerfliche nun eine Leerstelle bleibt oder klar artikuliert wird – notwendig angewiesen. Es ist bemerkenswert, dass der Stümper/Pfuscher/Dilettant je nach strategischer Ausrichtung dabei auch zum Träger überkommener Vorstellungen von Genialität werden kann. Die Forschung hat herausgearbeitet, dass »[i]n der Figur des Dilettanten […] mit der Genielehre der Empfindsamkeit abgerechnet«22 wird und speziell Schiller programmatisch den Kunstenthusiasmus des Sturm-und-Drang-Genies in die Konstitution des Dilettanten verlagert hat.23 Speziell für Goethe ist umgekehrt festgestellt worden, dass die dem

21 Plumpe (Anm. 5). S. 162. 22 Leistner (Anm. 5). S. 78. Zu den Verschiebungen und Aporien der Genie-Konzeptionen im 18. Jahrhundert vgl. außerdem Günter Peters: Der zerrissene Engel. Genieästhetik und literarische Selbstdarstellung im achtzehnten Jahrhundert. Stuttgart 1982. S. 53–75 sowie Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1954. Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. 2., durchgesehene Auflage. Darmstadt 1988. 23 Vgl. dazu Nikolas Immer : Der Dilettant als Nachahmer. In: Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 51–67. Hier: S. 62. Illustriert werden können Simone Leistners und Nikolas Immers Thesen an Schillers Verwendung der Feuer-Metapher. In den Proben einer teutschen Aeneis polemisiert Schiller allgemein: »Überall strotzts von jugendlichem Tatendurst, von Unsterblichkeit, von empfindsamen Tränen (welche, inzidenter anzumerken, endlich einmal aus der Mode kommen dörften) […]. Der Dichter bratet uns an seinem Genie-Feuer, welches doch ein bißchen zu kannibalisch schmeckt.« (Friedrich Schiller : Proben einer teutschen Aeneis nebst lyrischen Gedichten von Gotthold Friderich Stäudlin (1781). In: Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt/M. 1992. S. 866–875. Hier: S. 874f.) Explizit auf den Dilettantismus bezieht Schiller die gemeinhin für das Genie reservierte Metaphorik des Fackelanzündens (vgl. dazu auch Immer, S. 56) in seiner Schrift Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. Zum »untrügliche[n] Probierstein […], woran man den bloßen Dilettanten von dem wahrhaften Kunstgenie unterscheiden kann«, erklärt Schiller die Fähigkeit, sich vom »Feuer womit es [= das Große und Schöne] die jugendliche Imagination entzündet«, nicht täuschen und zu eigener Produktion hinreißen zu lassen. Friedrich Schiller : Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. In: Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden.

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Dilettanten zugestandene kreative Produktivität sich mit den Prinzipien seiner Genieästhetik überschneidet.24 Der Dilettant ist in jeder seiner jeweiligen Konzeptionen eine verdienstvolle Reflexionsfigur für die Entwicklung ästhetischer Programme im 18. Jahrhundert. Darin ist der Dilettant dem Genie nicht nur gleichgestellt, sondern aufgrund der vielfach suggerierten, aporetischen Wesensverwandtschaft diesem heuristisch betrachtet sogar übergeordnet.25 Diese Reflexionsleistung bezieht sich auch auf das Spannungsverhältnis, in welches die Genieästhetik und die Konzeption von Meisterschaft im Weimarer Klassizismus treten,26 und das an der Figur des Dilettanten argumentativ ausgetragen wird. Was die Regelbefolgung angeht, ist die Debatte mit Lessings Abkehr von der Regelpoetik nämlich bekanntermaßen nicht beendet. Auch Goethe, Schiller und Meyer setzen sich in den Schemata Über den Dilettantismus dreißig Jahre nach Lessings Hamburgische[r] Dramaturgie noch mit der Regelbefolgung auseinander. Sie sprechen jedoch nicht mehr vom Stümper, sondern vom Pfuscher und diskutieren diesen als Pendant im Bereich des Handwerks zum künstlerischen Dilettanten. Das deutsche Wort ›pfuschen‹, schreiben sie, beziehe sich auf das Handwerk. »Es [= das Handwerk] setzt voraus, daß irgend eine Fertigkeit nach Regeln gelernt und auf die bestimmteste Weise nach der Vorschrift und unter dem Schutze des Gesetzes ausgeübt werde. […] Der Dilettant verhält sich zur Kunst wie der Pfuscher zum Handwerk.«27 Und sie setzen hinzu: »Vom Handwerk kann man sich zur Kunst erheben. / Vom Pfuschen nie.«28 Der Handwerker befindet sich im Propylon der Kunst, nämlich in einer Relation von Schülerschaft und Meisterschaft, d. h. er kann in eine Bildungsgeschichte eintreten.29 Mit der Ersetzung des Stümpers durch den Pfuscher als Signatur des Dilettantischen30 ist eine wichtige Transformation in der Dilettantismusdiskussion

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Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt/M. 1992. S. 677–705. Hier: S. 696. Vgl. Golz (Anm. 13). S. 28. Bestimmungen des Genies über den Dilettanten wiederum werden kaum zu finden sein. Vgl. dazu auch Wirth: Dilettantenarbeit (Anm. 5). S. 287. Simone Leistner macht in der Ambivalenz des Dilettantismusbegriffs, die aus der Verknüpfung des Autonomiekonzepts mit einem Erziehungsprogramm resultiert, den Grund für das Scheitern der Abhandlung Über den Dilettantismus (die ja nicht publiziert worden ist) aus. Vgl. Leistner (Anm. 5). S. 78. Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 781. An anderer Stelle gibt Goethe die Losung aus: »Nichts ist dem Dilettantism mehr entgegen als feste Grundsätze und strenge Anwendung derselben.« Johann Wolfgang Goethe: Über strenge Urteile. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998. S. 556–558. Hier: S. 556. Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 784. Vgl. Heinrich Bosse: Das Liebhabertheater als Pappkamerad. Der Krieg gegen die Halbheit und die »Greuel des Dilettantismus«. In: Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 69–90. Hier: S. 75. Dies gilt zumindest bei der Rede über das Handwerk. Das Goethe-Wörterbuch listet im

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markiert: Regelhaftigkeit wird nicht rundweg abgelehnt, denn der ästhetische Gegner heißt 1799 nicht mehr Regelpoetik. Vielmehr tritt im Horizont einer ästhetischen Erziehung die Figurenkonstellation ›Schüler-Meister‹ auf den Plan, die über den Dilettantismus und dessen angestrebte Überwindung organisiert wird. Dies lässt sich schon in Goethes Drama Künstlers Apotheose von 1789 nachweisen, worin die Frage des Dilettantismus in Gestalt einer Unterredung zwischen Schüler und Meister verhandelt wird und der Liebhaber in den Hintergrund rückt.31 Die zentrale Rolle, die dem Dilettantismus um 1800 als AusArtikel »Dilettant« folgende Verwendungen des Begriffs auf: a) der eine Kunst als Amateur Ausübende, nicht professioneller Wissenschaftler, b) in kritischer Hinsicht, öfter pejorativ verschärft im Sinne von Pfuscher, Stümper (vgl. Artikel Dilettant. In: Goethe-Wörterbuch. Hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Zweiter Band: B-einweisen. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1989. Sp. 1205–1206.) Der Artikel empfiehlt: »vgl[.] zu a Autodidakt Kenner Kunstkenner Kunstliebhaber Liebhaber zu b Afterkünstler Halbkenner Halbkünstler […] Pfuscher Schmierer Stümper Versucher«. Ebd. Sp. 1206. 31 In Künstlers Apotheose wird außerdem die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Original und Nachahmung auf das Verhältnis von Meister und Schüler projiziert. Der Schüler klagt: »So gut mein Aug’ sie sehen mag, / Ahm’ ich nach meinem Muster nach; […] Und sehe hin und sehe her, / Als ob’s getan mit Sehen wär’; / Ich stehe hinter meinem Stuhl / Und schwitze wie im Schwefelpfuhl – / Und dennoch wird zu meiner Qual / Nie die Kopie Original.« (Johann Wolfgang Goethe: Künstlers Apotheose. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung, Bd. 5: Dramen 1776–1790. Unter Mitarbeit von Peter Huber hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt/M. 1988. S. 721–730. Hier: S. 723.) Ein »Liebhaber« spricht dem Schüler daraufhin das Genie ab, »[d]enn die Natur ist aller Meister Meister!« (ebd. S. 724) Der Meister wiederum ist der Ansicht: »Dem glücklichsten Genie wird’s kaum einmal gelingen, / Sich durch Natur und durch Instinkt allein / Zum Ungemeinen aufzuschwingen« (ebd. S. 725f.). Mit der Mimesis wird eine Basiskategorie der Ästhetik im Spannungsfeld von Dilettantismus und Genialität, von Schüler-, Meister- und Liebhabertum erörtert. Umgekehrt werden Dilettant_innen um 1800 anthropologisch über den Nachahmungstrieb definiert: »Wir sprechen bloß von denen, welche ohne ein besonderes Talent zu dieser oder jener Kunst zu besitzen, bloß den allgemeinen Nachahmungstrieb bei sich walten lassen.« (Goethe: Über den Dilettantismus [Anm. 12]. S. 781) Der Meister in Künstlers Apotheose fordert: »Man muß die Kunst, und nicht das Muster lieben.« (Goethe: Künstlers Apotheose, S. 726) Goethe selbst formuliert: »Die vornehmste Forderung, die an den Künstler gemacht wird, bleibt immer die: daß er sich an die Natur halten, sie studieren, sie nachbilden, etwas, das ihren Erscheinungen ähnlich ist, hervorbringen solle.« (Johann Wolfgang Goethe: Einleitung in die Propyläen. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998. S. 457–488. Hier: S. 461.) Am Dilettantismus werden grundsätzliche Fragen der ›richtigen‹ Mimesis verhandelt. Nach Goethe verfehlt der Dilettant die rechte Nachahmung im Sinne der natura naturans. Karl Philipp Moritz lädt in seiner Formel von der ›Bildenden Nachahmung‹ den Mimesisbegriff epigenetisch auf (vgl. Helmut Pfotenhauer : Apoll und Armpolyp. Die Nachbarschaft klassizistischer Kreationsmodelle zur Biologie. In: David E. Wellbery und Christian Begemann (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg i.Br. 2002. S. 203–224. Hier : S. 219.). Anhand intermedialer Problemstellungen diskutieren so unterschiedliche Autoren wie Moses Mendelssohn und Adalbert Stifter den Zusammenhang von Nachahmung und Dilettantismus.

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gangpunkt und Gegenstand für eine ästhetische Erziehung zukommt,32 kann gar nicht überschätzt werden: Schiller klagt mit Blick auf die dilettantische Rezeption beispielsweise die Notwendigkeit ein, das »Publikum für seine Bühne« zu bilden, bevor »die Bühne ihr Publikum bilden«33 kann. Auf Geschmackserziehung gerichtet, gibt er entsprechend folgende »dramaturgische Preisfrage« aus: »›Kann der Schauspieler, sowohl als eine Theaterdirektion dem falschen Geschmack des Publikums wahre Richtung geben, und durch welche Gattung Schauspiele wird der gute Geschmack am meisten verfeinert?‹«34 Goethe wiederum denkt mit Blick auf die Produktion u. a. nach über die Vorteile, die ein junger Maler haben könnte, der sich zuerst bei einem Bildhauer in die Lehre gäbe. An der Figur des Dilettanten, im Speziellen an der »Zweisträngigkeit von pädagogischen und polemischen Tendenzen«35 im Umgang mit ihr, werden sämtliche Problemstellungen einer ästhetischen Erziehung, ihre Möglichkeiten und Grenzen, ausgelotet. Überdies wird am Dilettanten eine zentrale Denkverlegenheit des Klassizismus sinnfällig: die konzeptionelle Unvereinbarkeit von Meisterschaft (die durch Arbeit und Lernen erreichbarer ist) und Genialität (die

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Mendelssohns ästhetischer Position zufolge ignorieren Dilettanten die semiotischen Gesetze, und »[d]aher nehmen nur die allerelendsten Stümper in der Malerei ihre Zuflucht zu einem Zettel mit Worten, den sie aus dem Munde ihrer Personen gehen lassen;« (Mendelssohn: Über die Hauptgrundsätze [Anm. 20]. S. 212f) Stifter wiederum gestaltet auf literarische Weise am Beispiel eines dilettierenden Landschaftsmalers die Erschütterung der Vorrangstellung, die die Malerei bis zur Erfindung der Photographie in Sachen Nachahmung innehatte (vgl. S. 57 dieser Arbeit). Die Reflexionsleistung, welche das Phänomen ›Dilettantismus‹ bezüglich der Nachahmung für die Ästhetik im 18. und 19. Jahrhundert erbracht hat, ist hiermit jedoch nicht erschöpfend dargestellt und wäre eine eigene Untersuchung wert. Zum publizistischen Diskurs in diesem Zusammenhang vgl. York-Gothart Mix: Die ästhetische Erziehung des Dilettanten. Die literarische Öffentlichkeit, die Klassizität der Poesie und das Schema über den Dilettantismus von Fr. Schiller, J. W. Goethe und L. H. Meyer. In: Hans-Wolf Jäger (Hg.): »Öffentlichkeit« im 18. Jahrhundert. (= Das achtzehnte Jahrhundert, Supplementa Bd. 4). Göttingen 1997. S. 327–343. Friedrich Schiller : Über das gegenwärtige teutsche Theater (1782). In: Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt/M. 1992. S. 167–175. Hier : S. 170. Die anthropologische Fundierung der ästhetischen Kategorie ›Dilettantismus‹ wird im größeren Zusammenhang einer ästhetischen Erziehung besonders evident. »Rohe[…] Gemüter[…]«, »[m]oralische[…] Gemüter[…]« und »ästhetisch verfeinerte[…] Seelen« unterscheidet Schiller nach dem Grad an »moralischer und an ästhetischer Bildung«; die Instanz, welche die letzteren auszeichnet, ist der »Geschmack«. Friedrich Schiller : Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten. In: Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt/M. 1992. S. 811–821. Hier: S. 814. Friedrich Schiller : Dramaturgische Preisfragen. In: Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt/M. 1992. S. 914–917. Hier: S. 916. Vgl. Hans Rudolf Vaget: Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe: Praxis, Theorie, Zeitkritik. München 1971. S. 86.

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von Natur aus angeboren ist). In den Schemata Über den Dilettantismus stellen Goethe, Schiller und Meyer nämlich klar, dass gelingende Kunst nicht allein in handwerklicher Meisterschaft besteht, sondern durchaus auch angeborene Fähigkeiten voraussetzt. Denn »[d]er Dilettantism wird abgeleitet. / Der Künstler wird geboren. / Er ist eine von Natur aus privilegierte Person.«36 Rhetorisch-strategisch betrachtet, dienen die Geburtsmetapher und die Verankerung des Künstlerstatus in der Natur (und nicht im Bereich des Lernbaren) der Durchsetzung des eigenen ästhetischen Programms über den Weg der Negativität: Als Naturgabe ist Künstlerschaft/Genialität nicht kodifizierbar.37 Kodifizierbar ist nur der ›abgeleitete‹ Dilettantismus: Dieser kann in Schemata rubriziert und einer systematischen Charakterisierung unterzogen werden. Aufgrund ihrer antiempfindsamen38 und antiromantischen Ausrichtung werden die Schemata rückblickend als »letzte[r] Schlachtplan aus dem Krieg gegen die Halbheit«39 eingestuft. Mit den 1789 gegründeten, kulturprogrammatischen Propyläen40 als ihrem geplantem Erscheinungsort stellen die Schemata Über den Dilettantismus ein Paradebeispiel für die enorme Relevanz dar, die Konzeptionen von Dilettantismus als kulturpolitischen Instrumenten zukommt. Die Rubriken des Schemas mit ihrer psychologischen, soziologischen, historischen und kulturvergleichenden Dimension41 machen dies besonders evident. 36 Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 781. 37 »Die Geburt des Genies ist das Tor, wodurch das Nicht-Kodifizierbare (die Natur) Eingang in die kulturellen Kodes (die Kunst) findet, um sie zu bereichern und zu erneuern.« (David E. Wellbery : Kunst – Zeugung – Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen Grundfigur. In: ders. und Christian Begemann (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg i.Br. 2002. S. 9–36. Hier: S. 15.) An Kants Geniebegriff legt David Wellbery dar, dass die geniale Produktion sich zwar nicht durch kulturelle Regeln normieren lässt, aber trotzdem Normatives hervorbringt (vgl. ebd. S. 14f). Mit diesem Paradox hat auch noch der klassizistische Geniediskurs zu kämpfen. 38 Am Beispiel des Schemas über lyrische Poesie hat Hans Rudolf Vaget nachgewiesen, dass die Dilettantismuskritik auch historisch rückwärts in Richtung Spätaufklärung und Empfindsamkeit gerichtet ist. Vgl. Vaget: Dilettantismus und Meisterschaft (Anm. 35). S. 174. 39 Bosse (Anm. 29). S. 78. Als die beiden großen ›Schlachten‹ im ›Krieg gegen die Halbheit‹ gelten Goethes Aufsatz Litterarischer Sanscülottismus von 1795 und die Xenien im Musen-Almanach auf das Jahr 1797. Vgl. ebd. 40 Zu Goethes Versuch, mit den Propyläen »die zeitgenössische deutsche Kunst auf einen höchsten, normativen Kunstbegriff zu verpflichten und einer tiefgreifenden Regeneration zuzuführen«, vgl. Vaget: Dilettantismus und Meisterschaft (Anm. 35). S. 85. Zur Ableitung einer »Fundamentalkritik am Dilettantismus« aus dem ästhetischen Erziehungsprogramm, das den Propyläen zugrunde lag, vgl. Michael Niedermeier : Dilettantismus. In: Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto (Hg.): Goethe-Handbuch. Bd. 4, 1: Personen, Sachen, Begriffe A–K. Stuttgart/Weimar 1998. S. 212–214. Hier: S. 213. 41 Die Rubriken, innerhalb derer der Dilettantismus erörtert wird, sind: Fach, Nutzen fürs Subjekt, Schaden fürs Subjekt, Nutzen fürs Ganze, Schaden fürs Ganze, Alte Zeit in Deutschland, Neue Zeit in Deutschland, Ausland. Vgl. Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 740f.

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Die Kategorie ›Dilettantismus‹ kunstprogrammatisch zu instrumentalisieren, ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal des Weimarer Klassizismus und seiner Abwehr empfindsamer und romantischer Poetiken. Die in den Schemata attackierten Romantiker nutzen ihrerseits Konzeptionen des Dilettantischen zur strategischen ästhetisch-poetologischen Positionierung: Sie verhandeln den Dilettantismus unter der Signatur ›Philister‹.42 Clemens Brentanos Philisterkritik in Der Philister vor, in und nach der Geschichte von 1811 wird in der Forschung als Erbe bzw. Fortsetzung der Dilettantismuskritik Goethes, Schillers und Meyers diskutiert.43 Als »Schnittmenge […,] die die frühe Romantik und der Weimarer Klassizismus in ihrem Philisterverständnis teilen«, ist »eine Indienstnahme von Kunst und Poesie für heteronome Alltagszwecke«44 ausgemacht worden. Es zeigt sich erneut, dass der Blick auf Träger des Dilettantischen lohnenswert ist, auch wenn diese nicht ›Dilettanten‹ heißen. Am Beispiel der ›Philister‹ besteht der Gewinn darin, die Komplementarität von Klassizismus und Romantik45 veranschaulichen und reflektieren zu können. Oppositiv komplementär sind Klassizismus und Romantik, wenn das Romantische mit dem Dilettantischen identifiziert und bekämpft wird. (Man denke in diesem Zusammenhang auch an Goethes berühmten Ausspruch: »Classisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke«.46) Ergänzend komplementär sind Klassi42 Seit seinem ersten Erscheinen in der Bibel tritt der Philister in Opposition zu unterschiedlichen Figuren: zum Helden, zum Frommen, zum Studenten, zum Genie, zum Burschenschaftler, zum Engagierten, zum Boh8mien, zum Suchenden, zum Intellektuellen (vgl. Remigius Bunia, Till Dembeck und Georg Stanitzek: Vorrede. In: dies. (Hg.): Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur. Berlin 2011. S. 9–11. Hier: S. 9.). Die Phase, in welcher der Philister in Opposition zum Genie tritt, beginnt mit Goethes Werther und erstreckt sich bis in die Romantik (vgl. Remigius Bunia, Till Dembeck und Georg Stanitzek: Elemente einer Literatur- und Kulturgeschichte des Philisters. Einleitung. In. dies. (Hg.): Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur. Berlin 2011. S. 13–51. Hier: S. 25.). Zur Begriffsverwendung von ›Philister‹ und ›Dilettant‹ in der Romantik vgl. auch Wolfgang Frühwald: Der Philister als Dilettant. Zu den satirischen Texten Joseph von Eichendorffs. In: Aurora 36 (1976). S. 7–26. 43 Vgl. Matthias Buschmeier : Der Philister als literaturgeschichtliche Reflexionsfigur. Eichendorffs »Krieg den Philistern!« als Abgesang der Romantik. In: Remigius Bunia, Till Dembeck und Georg Stanitzek (Hg.): Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur. Berlin 2011. S. 337–353. Hier : S. 337. 44 Bunia, Dembeck und Stanitzk: Elemente einer Literatur- und Kulturgeschichte des Philisters (Anm. 42). S. 25. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 45 Vgl. zu diesem Forschungsparadigma Sabine M. Schneider : Klassizismus und Romantik – Zwei Konfigurationen der einen ästhetischen Moderne. Konzeptuelle Überlegungen und neuere Forschungsperspektiven. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 37 (2002). S. 86– 128. 46 Johann Wolfgang Goethe: Klassisch und romantisch. (Datierbarer Nachlass). In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung, Bd. 13: Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen. Hg. von Harald Fricke. Frankfurt/M. 1993. S. 239.

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zismus und Romantik, wenn der Philister das Erbe des Dilettanten als Gegenstand vehementer Kunstkritik antritt. Komplementarität liegt auch auf der Ebene der Textgattungen vor. Während im Klassizismus, genauer : in den Schemata Über den Dilettantismus, Ästhetiker über die Kunst bzw. Literatur theoretisieren, findet in der Romantik ein reger literarischer Kampf gegen das Philistertum – und das meint hier : Gelehrtentum – statt.47 Joseph von Eichendorff erklärt 1824 in seinem gleichnamigen Drama: Krieg den Philistern. Die entsprechenden Figuren stattet er mit – heute topischen – Charakteristika wie Pedanterie und Besserwisserei aus48 und kleidet sie »in Amtskleidung und mit Perücken«49. Sein Drama, das u. a. mit dem formalen Mittel der romantischen Ironie arbeitet, ist nicht nur zu lesen als Kritik an der Romantik im Gewand des Romantischen,50 sondern auch als Kritik an einem rein theoretischen (um nicht zu sagen: schematischen) Zugang zur Kunst im Gewand (buchstäblich: in Amtskleidung und mit Perücken) des Philisters. Dass der Genie-, der Bildungs-, der Humanitäts-, der Kunstautonomie- und der Romantikbegriff allesamt im ›Philister‹ einen Gegenbegriff haben,51 rückt diesen in eine enge, eben komplementäre, Verwandtschaft zum Dilettanten. Im empfindsamen und romantischen Geniediskurs wird die sonst hauptsächlich aus dem Bereich ›Bildung‹ sich speisende Philistersemantik52 auf die Sphäre der Kunst bezogen und so mit dem Dilettantismusdiskurs verschwistert.53 Dies kann beispielsweise an Eichendorffs satirischer Erzählung Viel Lärmen um nichts nachgewiesen werden. In der allegorischen Figur »Herr Publikum«, die »ein eifriger Dilettant in allen schönen Künsten war«54, zeigt sich hier die Funktion des Philisters/Dilettanten als Ge47 Man könnte an dieser Stelle einwenden, Goethe habe sich in Die Wahlverwandtschaften sehr wohl literarisch mit dem Dilettantismus auseinandergesetzt, Brentanos Philister-Schrift wiederum sei kein literarischer Text im engen Sinn. Beides stimmt natürlich. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass sich Goethe zur Zeit der Wahlverwandtschaften bereits der romantischen Poetologie geöffnet hatte und Brentanos Text den Untertitel »Eine scherzhafte Abhandlung« trägt. 48 Joseph von Eichendorff: Krieg den Philistern. In: Joseph von Eichendorff. Werke in sechs Bänden. Bd. 4: Dramen. Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt/M. 1988. S. 27–128. Hier: S. 50f. 49 Ebd. S. 52. Eine Interpretation dieses Textes als Abrechnung mit der Romantik Tiecks hat Matthias Buschmeier vorgelegt. Er ist der Ansicht, dass der Philister in Eichendorffs Drama als »Differenzierungs- und Diffamierungsbegriff […] im Rahmen der Kritik einer unwahrhaften, protestantisch-philiströsen und der Affirmation einer aufrichtig katholisch-poetischen Romantik« auftritt. Buschmeier (Anm. 43). S. 340. 50 Vgl. ebd. S. 339. 51 Vgl. Bunia, Dembeck und Stanitzek: Elemente einer Literatur- und Kulturgeschichte des Philisters (Anm. 42). S. 29. 52 Ebd. S. 19. 53 Das ist auch der Grund, warum gerade diese Phase des Philisterdiskurses in meiner Arbeit thematisiert wird und andere Phasen, in welchen beispielsweise theologische oder bildungspraktische Aspekte dominierend waren, nicht. 54 Joseph von Eichendorff: Viel Lärmen um Nichts. In: Joseph von Eichendorff. Werke in sechs

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stalt, an welcher historische Transformationen im Verständnis von Dilettantismus anschaulich gemacht werden können,55 besonders deutlich. Über einen »ermüdete[n] Poet[en]«56 der Romantik wird berichtet: Der Entschlafene […] war in der letzten Zeit als Hofdichter bei’m Herrn Publikum angestellt. – Das ging auch anfangs vortrefflich, er wurde gehau’n, geschnitten, gestochen, ich meine: in Stein und Kupfer, die Damen rissen sich ordentlich um seine Romantik. Als sie nun aber nach und nach ein wenig abgerissen wurde, da war nichts weiter dahinter. Es war ein Skandal! Es konnte nicht so geschwind die neumodische klassische Toga umschlagen, verwickelte sich in der Hast mit Arm und Beinen in die schottischen Plaids und gab immer mehr Blößen – ja zuletzt sagte ihm Herr Publikum gerade auf den Kopf: er sei nun gänzlich aus der Mode geraten […]57.

Wie Schiller kämpft Eichendorff gegen einen verdorbenen Publikumsgeschmack, der in dilettantischer Manier lediglich der Mode folgt, einzig die Mode ist eine andere als bei Schiller. Hieran wird erneut deutlich, dass und wie die Dilettantismus- bzw. Philisterkritik in ästhetischen Umbruchsphasen zur Verteidigung ästhetischer Standpunkte und Programme gegenüber neuen (Mode)Erscheinungen funktionalisiert wird. Mit Lessings und Sulzers rhetorischer Selbst- und Fremdverortung im ästhetischen Feld durch die Exklusion einer dilettantischen Leserschaft, mit Lessings rhetorischer Delegitimierung bestimmter poetischer Programme durch deren Subsumierung unter die Superkategorie ›Stümperei‹, mit dem Ausschluss des Dilettanten aus der künstlerischen Produktion durch die Weimarer Kunstfreunde und dem essayistischen bzw. literarischen Krieg gegen die Philister bei Brentano und Eichendorff sind einige repräsentative Strategien des Umgangs mit dem Dilettant(isch)en vom letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts benannt. Als Negativfolie des Genies ist der Dilettant gleichermaßen auszuschließendes wie konstitutives Element v. a. des Klassizismus. Denn die Erfindung des Dilettanten bzw. des Dilettantismus trägt zur Konturierung der klassizistischen Kunst als einer »Grenzziehungskunst«, die sich »gegen die Übermacht des Zufälligen, Amorphen, Ungebildeten und Geschmacklosen der zeitgenössischen Umwelt abschirmen will und muß«58, we-

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Bänden. Bd. 3: Dichter und ihre Gesellen. Erzählungen II. Hg. von Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Frankfurt/M. 1993. S. 9–82. Hier : S. 29. Vgl. dazu Stanitzek: Dilettant (Anm. 5). S. 365. Eichendorff: Viel Lärmen um Nichts (Anm. 54). S. 20. Ebd. S. 21. Günter Oesterle: »Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente«. Kontroverse Formprobleme zwischen Aufklärung, Klassizismus und Romantik am Beispiel der Arabeske. In: Herbert Beck (Hg.): Ideal und Wirklichkeit in der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert. Berlin 1984. S. 119–139. Hier: S. 119. Dieses von Günter Oesterle als Hauptcharakteristikum des Klassizismus ausgemachte Strukturprinzip findet sich unter anderem in folgenden Leitdifferenzen realisiert: in der Vernunft und ihrem Anderen (vgl. Hartmut und Gernot Böhme:

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sentlich bei. Dass die Abgrenzungsbemühungen u. a. auf das Ungebildete und Geschmacklose gerichtet sind, bedeutet, dass die oben nachgezeichneten rhetorischen Ausschlussverfahren nicht ›nur‹ strukturell oder systemisch wirken. Vielmehr sind sie geeignet, die anthropologische Grundierung der (klassizistischen) Ästhetik freizulegen. Die rhetorischen Prozesse der Grenzziehung äußern sich nämlich u. a. in Diffamierungen und Schmähungen, die anthropologische Kategorien instrumentalisieren. So bezeichnet Lessing beispielsweise ein Bild von Johann Philipp Palthen als ein »Vomitiv«59, Karl Philipp Moritz wiederum hält es angesichts des Dramas Kabale und Liebe für »ekelhaft, in solchem Schillerschen Wust zu wühlen«60 ; und er fügt hinzu: »[I]ch wasche meine Hände von diesem Schillerschen Schmutze, und werde mich wohl hüten, mich je wieder damit zu befassen!«61 Der Ekel wird offensichtlich als anthropologisches Fundament für abwertende Rezeptionsstrategien instrumentalisiert, d. h. die anthropologische Kategorie hat die ästhetische Abwertung als gewissermaßen unhintergehbare Naturwahrheit zu beglaubigen. Auch der Dilettant, der bloß seiner Neigung und Laune folgt, betreibt die Kunst aus einem anthropologischen Bedürfnis heraus.62 Umgekehrt wird der positiv konnotierte Liebhaber als derjenige bestimmt, der zu wahrem Genuss fähig ist63 und Geschmack besitzt. Die Einsicht, dass anthropologisches Wissen die Basis der klassizistischen Ästhetik bildet,64 kann anhand der Figur des Dilettanten erhärtet und veranschaulicht

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Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/M. 1983.), im Gegensatz von kalokagathischem Ideal und versehrtem Körper (vgl. Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals. Göttingen 2001.), im Widerspiel von Aufmerksamkeit und Zerstreuung (vgl. Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008.) oder auch in der Auseinandersetzung mit dem Ekel (vgl. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt/M. 1999.). Die programmatische Opposition von Genie und Dilettant bildet eine weitere derartige Leitdifferenz, wobei der Fokus auf die Produzenten bzw. Agenten des Amorphen, Ungebildeten oder Geschmacklosen gerichtet wird. Diese Vokabel fällt im 5. Literaturbrief vom 11. 01. 1759 und wird hier zitiert nach dem Kommentar zu Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5, 2: Werke 1766–1769. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt/M. 1990. S. 621–916. Hier : S. 634. Karl Philipp Moritz: Noch etwas über das Schillersche Trauerspiel: Kabale und Liebe. In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1997. S. 853–859. Hier: S. 854. Ebd. S. 859. Vgl. S. 35 dieser Arbeit. Vgl. S. 34 dieser Arbeit. Vgl. dazu z. B. Helmut Pfotenhauer : Anthropologie, Transzendentalphilosophie, Klassizismus. Begründungen des Ästhetischen bei Schiller, Herder und Kant. In: Jürgen Barkhoff und Eda Sagarra (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992. S. 72–97, Barbara Thums: Aufmerksamkeit: Zur Ästhetisierung eines anthropologischen Paradigmas im

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werden; der Dilettant verkörpert diese diskursive Formation geradezu vorbildhaft.

I.2.

Wider das Dilettantische: Anthropologisches in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts

Diente Sulzer die etymologische Herleitung des Begriffs ›Dilettant‹ von lat. delectare vorrangig dazu, das dilettantische delectare gegen das prodesse (u. a. der eigenen Schrift) auszuspielen, setzen andere Theoretiker stärker am anthropologischen Aspekt des Genießens an. Hans Rudolf Vaget hat nachgewiesen, dass der allgemeine Gebrauch des Begriffs ›Dilettant‹ im späten 18. Jahrhundert Christian Joseph Jagemanns Übersetzung von ›Dilettante‹ in seinem italienisch-deutschen Wörterbuch von 1790 entspricht.65 Jagemann verwendet (genauso wie schon Johann Christoph Adelung in seinem Wörterbuch von 177766) ›Dilettant‹ als Fremdwort für ›Liebhaber‹, was von seiner Übersetzung des italienischen »Dilettante« mit »Liebhaber, Kenner der Musik, oder anderer schönen Künste«67 herrührt. »Dilettare« übersetzt Jagemann mit »ergötzen, belus18. Jahrhundert. In: Jörn Steigerwald und Daniela Watzke (Hg.): Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680– 1830). Würzburg 2003. S. 55–74 sowie Sabine Schneider: Die schwierige Sprache des Schönen. Moritz’ und Schillers Semiotik der Sinnlichkeit. Würzburg 1998. 65 Vgl. Vaget: Der Dilettant (Anm. 4). S. 133. Zum »Wortgebrauch in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts« vgl. das so betitelte Unterkapitel in ebd. S. 133–138. Noch die Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie für die gebildeten Stände in der fünften Auflage von 1822 greift die Herkunft des Begriffs aus dem Italienischen auf: »D i l e t t a n t wird nach einem italienischen Ausdrucke der Liebhaber von Kunst und Wissenschaft, und sein Vergnügen an diesen Gegenständen, so wie seine Beschäftigung damit D i l e t t a n t i s m u s genannt. Letzterer ist der Meister= und Kennerschaft entgegengesetzt, obgleich er diese oft an Wärme übertrifft. Denn auch die Liebhaberei ist verschiedener Art, und es gibt geistvolle und geistlose.« Art. Dilettant. In: Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie für die gebildeten Stände. (Conversations=Lexicon) In zehn Bänden. Dritter Band: D bis F. Fünfte Original=Auflage. Leipzig 1822. S. 194. 66 Im Artikel »Der Liebhaber« heißt es: »Eben so ist in den Schönen Künsten der Liebhaber, Ital. Dilettante, derjenige, welcher eine vorzügliche Neigung zu diesen Künsten und den Kunstwerken träget, ohne selbst ein Künstler zu seyn. Nicht alle Liebhaber sind zugleich Kenner.« Art. Der Liebhaber. In: Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs Der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Dritter Theil, von L-Scha. Leipzig 1777. S. 210. 67 Christian Joseph Jagemann: Italienisch-deutsches und deutsch-italienisches Wörterbuch. Ersten Bandes erster Theil A-M. Weissenfels/Leipzig 1790. S. 330. Für den Dilettantismusdiskurs ist außerdem die Vorrede zu Jagemanns Italienische[r] Sprachlehre aufschlussreich. Darin plädiert Jagemann nämlich für eine autodidaktische Aneignung der italienischen Sprache auf der Basis seiner Sprachlehre (vgl. Christian Joseph Jagemann: Italiänische Sprachlehre zum Gebrauche derer, welche die Italiänische Sprache gründlich erlernen

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tigen, vergnügen«, »dilettarsi« mit »sich woran vergnügen, seine Freude, seinen Gefallen woran haben.«68 Das Sich-Ergötzen und -Vergnügen, sprich: das Sich-Delektieren, das der Begriff ›Dilettant‹ etymologisch mit sich bringt, ist eine anthropologische Kategorie. Aus diesem Grund können führende Theoretiker einer anthropologisch fundierten Ästhetik wie Karl Philipp Moritz oder die Weimarer Kunstfreunde Goethe, Schiller und Meyer den Dilettantismus an zentrale ästhetische Paradigmen wie den Geschmack, die Empfindungskraft (inklusive Selbsttäuschung69), den Bildungstrieb oder die Einbildungskraft anbinden. Moritz unterscheidet in Über die bildende Nachahmung des Schönen den »echten« vom »falschen Bildungstrieb«70 und leitet aus dieser anthropologischen Konstitution seine Differenzierung von Künstlern und Dilettanten her. »Dilettantism«, behaupten Goethe, Schiller und Meyer, gibt einem »unruhigen Produktionstriebe«71 nach. Die Schemata Über den Dilettantismus schließen explizit an die Jagemannsche Begriffsbestimmung an: »Bei Jagemann« bedeute ›Dilettant‹ »einen Liebhaber der Künste, der nicht allein betrachten und genießen sondern auch an ihrer Ausübung teilnehmen will.«72 Die Signatur ›Dilettant‹ unterscheidet sich von der Signatur ›Liebhaber‹ darin, dass sich der Dilettant mit dem Genuss nicht zufrieden gibt und der Selbsttäuschung unterliegt, er könne selbst als Künstler aktiv tätig werden. Die Grenzlinie zwischen Rezeption und Produktion wird auch von Moritz unter anthropologischen Vorzeichen bespielt. Er postuliert: »Wer zu der hervorbringenden Klasse gehört, muß Genie und Geschmack zugleich, wer zu der genießenden gehört, darf nur Geschmack, oder

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wollen. Leipzig 1792. S. IX.). Sprachlehrer empfiehlt Jagemann lediglich »der Aussprache wegen einem jeden für einige Zeit« (ebd.). Das ›gründliche Erlernen‹ des Italienischen verträgt sich nicht mit dem »dilettarsi di alcuna cosa«, damit, »Vergnügen an etwas [zu] haben« (ebd. S. 230). In diesem Sinne ist Autodidaktik (noch) nicht als Praktik des Dilettantismus zu werten. Im Horizont eines Verständnisses von Dilettantismus als genießender Liebhaberei kann die Autodidaktik noch keine Erscheinungsweise des Dilettantismus sein. Die historische Semantik des Begriffs wird jedoch genau um diesen Konnex angereichert werden. Jagemann: Italienisch-deutsches und deutsch-italienisches Wörterbuch (Anm. 67). S. 330. »Weil der Dilettant seinen Beruf zum Selbstproduzieren erst aus den Wirkungen der Kunstwerke auf sich empfängt, so verwechselt er diese Wirkungen mit den objektiven Ursachen und Motiven, und meint nun den Empfindungszustand, in den er versetzt ist, auch produktiv und praktisch zu machen, wie wenn man mit dem Geruch einer Blume die Blume selbst hervorzubringen gedächte.« Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 778. Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1997. S. 958–991. Hier : S. 977. Als »Selbsttäuschung« (ebd. S. 978) bezeichnet Moritz den Moment, wenn »der Punkt, wo Bildungsund Empfindungskraft sich scheidet, […] verfehlt und überschritten« wird. Ebd. S. 977. Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 764/766. »Überhaupt will der Dilettant in seiner Selbstverkennung das Passive an die Stelle des Aktiven setzen, und weil er auf eine lebhafte Weise Wirkungen erleidet, so glaubt er mit diesen erlittnen Wirkungen wirken zu können.« Ebd. S. 779. Ebd. S. 780f.

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die Fähigkeit haben, das von dem schaffenden Genie hervorgebrachte Schöne, gehörig zu empfinden.«73 Und noch Franz Grillparzer differenziert 1825/26 in seinem Brief über den Dilettantismus das Künstlerspektrum anhand des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand: »Wer das Schöne weder weiß noch fühlt ist ein Tropf; wer es fühlt, ein Liebhaber ; wer es weiß, ein Kunstphilosoph; wer, was er davon fühlt und weiß auszuführen strebt, ein Dilettant; wer es ausführt, ein Künstler.«74 Genießen, Empfinden und Fühlen werden offenbar diskursübergreifend als die anthropologischen Voraussetzungen des Dilettantismus bestimmt. Dementsprechend fußen die Schemata Über den Dilettantismus auf einer »anthropologische[n] Grundlegung der Künste aus den […] menschlichen Trieben«75. Goethe, Schiller und Meyer zufolge gehorcht die Poesie dem Äußerungstrieb, die Musik und der Tanz gehorchen dem Lusttrieb, auf dem Nachahmungstrieb basieren Zeichnung, Malerei und Skulptur, der Bildungstrieb schließlich fundiert die Architektur und die Gartenkunst.76 Die erste Verwendung des Begriffs »Dilettantism« bei Schiller erfolgt vier Jahre vor den Schemata ebenfalls im Kontext von Geschmack und Geschmackserziehung.77 Zu englischen Gärten vertritt Schiller, der Sohn eines Gärtners, in Über den Gartenkalender auf das Jahr 1795 folgende Ansicht: 73 Karl Philipp Moritz: Über eine Preisfrage: Wie kann der Nationalgeschmack durch die Nachahmung der fremden Werke, aus der alten sowohl als neuern Literatur, entwickelt und vervollkommnet werden? In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1997. S. 1025–1029. Hier: S. 1026. Zur Kategorie ›Geschmack‹ vgl. Natalie Binczek: Kontakt. Der Tastsinn in Texten der Aufklärung. Göttingen 2007, Wilhelm Amann: »Die stille Arbeit des Geschmacks«. Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung. Würzburg 1999, Dominik Brückner: Geschmack. Untersuchungen zu Wortsemantik und Begriff im 18. und 19. Jahrhundert (gleichzeitig ein Beitrag zur Lexikographie von Begriffswörtern Geschmack). Berlin/New York 2003 sowie als exemplarische historische Quelle Johann Jakob Bodmers und Johann Jakob Breitingers Brief-Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmacks. 74 Franz Grillparzer : Brief über den Dilettantismus. In: Franz Grillparzer. Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Bd. 3: Satiren – Fabeln und Parabeln – Erzählungen und Prosafragmente – Studien und Aufsätze. Hg. von Peter Frank und Karl Pörnacher. Darmstadt 1963. S. 252–254. Hier : S. 253. In Grillparzers Erzählung Der arme Spielmann wiederum wird eine prekäre sowie perspektivisch gebrochene Situation zwischen Virtuosität und Dilettantismus modelliert. Vgl. Franz Grillparzer : Der arme Spielmann. In: Franz Grillparzer. Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Bd. 3: Satiren – Fabeln und Parabeln – Erzählungen und Prosafragmente – Studien und Aufsätze. Hg. von Peter Frank und Karl Pörnacher. Darmstadt 1963. S. 146–186. 75 Bosse (Anm. 29). S. 70. 76 Vgl. Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 739. Ohne Zuordnung zu einem natürlichen Trieb ist im Allgemeinen Schema abschließend das Theater aufgeführt. Zu dieser »unbegreifliche[n] Leerstelle« vgl. Bosse (Anm. 29). S. 70. 77 Ich stimme hier Christa Bürgers These zu, »[i]m Geschmack, in der genießenden Teilnahme

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Diese Geburten des nördlichen Geschmacks sind von einer so zweideutigen Abkunft, und haben bis jetzt einen so unsichern Charakter gezeigt, daß es dem echten Kunstfreunde zu verzeihen ist, wenn er sie kaum einer flüchtigen Aufmerksamkeit würdigte, und dem Dilettantism zum Spiele dahin gab.78

Das kunstpädagogische Anliegen des Kalenders begrüßt Schiller dezidiert: »Den irregeleiteten Geschmack in dieser Kunst zu berichtigen, werden in diesem Kalender vortreffliche Winke gegeben, die von dem Kunstfreunde näher geprüft, und von dem Gartenliebhaber befolgt zu werden verdienen.«79 (In den Schemata Über den Dilettantismus wird dann die »Französische Gartenkunst von ihrer guten Seite, und besonders vis / vis des neuesten [= englischen] Geschmacks betrachtet.«80) Mit der Dichotomie Aufmerksamkeit vs. Zerstreuung werden zwei weitere Basiskategorien der Ästhetik um 180081 durch den Dilettantismus konturiert. Dass die Aufmerksamkeit den englischen Gärten – und das heißt in Schillers Rezension: dem Dilettantism(us) – entzogen werden soll, lässt sich darüber hinaus als Positionierung zur romantischen Favorisierung des englischen Gartens82 lesen. Für die These einer Komplementarität von Klassizismus und Romantik ist die jeweils angenommene anthropologische Konstitution von Künstlern und Dilettanten besonders aufschlussreich. Karl Philipp Moritz’ Unterscheidung zwischen Genie und Dilettant anhand von Bildungs- und Empfindungskraft ist beispielsweise 1797 von Wilhelm Heinrich Wackenroder in Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger aufgegriffen worden.83

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an einer allgemeinen Kultur [hätten] […] Dilettantismus und Kunst ihren Vereinigungspunkt«. Christa Bürger: »Dilettantism der Weiber«. In: dies.: Leben schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Stuttgart 1990. S. 19–31. Hier: S. 30. Friedrich Schiller : Über den Gartenkalender auf das Jahr 1795. In: Friedrich Schiller. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt/M. 1992. S. 1007–1015. Hier : S. 1007. Ebd. Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 761. Vgl. dazu Thums: Aufmerksamkeit (Anm. 58). Vgl. mit Akzent auf die Romantik: Heidi Ebbinghaus: Der Landschaftsgarten. Natur und Phantasie in der deutschen Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. u. a. 1997 und – mit Einbezug der Architektur – Harald Tausch: »Die Architektur ist die Nachtseite der Kunst«. Erdichtete Architekturen und Gärten in der deutschsprachigen Literatur zwischen Frühaufklärung und Romantik. Würzburg 2006. Vgl. mit Akzent auf die Klassik: Stefan Groß: Die Weimarer Klassik und die Gartenkunst. Über den Gattungsdiskurs und die »Bildenden Künste« in den theoretischen Schriften von Goethe, Schiller und Krause. Frankfurt/M. u. a. 2009, Michael Gamper : »Die Natur ist republikanisch«. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert. Würzburg 1998 sowie Günter Oesterle: Zwischen Dilettantismus und Professionalität: Goethes Gartenkunst. In: Goethe-Jahrbuch 125 (2008). S. 147–155. Die prägende Wirkung von Moritz’ italienischer Ästhetik für die romantische Kunstauffassung bezeugt auch August Wilhelm Schlegel, der 1798 in seiner Jenaer Vorlesung lobend auf Über die bildende Nachahmung des Schönen verweist. Vgl. den Kommentar zu »Über die

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Unter dem Eindruck des Musikhörens drängten »[a]lle diese mannigfaltigen Empfindungen […] in seiner Seele immer entsprechende sinnliche Bilder und neue Gedanken hervor«84, wird über Joseph Berglinger berichtet. Die ausgeprägte Empfindungsfähigkeit führt hier im frühromantischen wie im klassizistischen Paradigma zu dem Wunsch, von der Rezeption zur Produktion überzugehen und selbst Künstler zu werden. Dem geht jedoch eine besondere Anregung der Einbildungskraft voraus: ›sinnliche Bilder und neue Gedanken‹ steigen in Berglinger auf. Moritz und dem Klassizismus ist es darum zu tun, »nichts [zu] dulde[n], wodurch die Einbildungskraft zu unnützen Spielen verleitet, und die Aufmerksamkeit von dem Hauptgegenstande abgelenkt wird«85, und die Figur Anton Reiser ist Moritz’ abschreckendes literarisches Beispiel für diese Art von Dilettantismus.86 Der Frühromantiker Wackenroder setzt einen solchen Fall in religiös überhöhter Form87 ins Bild. Bezüglich der anthropologischen Ausgangsbedingungen von Künstlerschaft und Dilettantismus ist Wackenroder sich mit Moritz einig. Die Einbildungskraft ist allerdings in Wackenroders Text88 deutlich positiver besetzt als in Anton Reiser und der Erzähler begleitet – anders als der Erzähler des Anton Reiser – Berglingers Leiden beim ›Herumklettern‹ »in dem unbehülflichen Gerüst und Käfig der Kunstgrammatik«89 mit Sympathie.90

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bildende Nachahmung des Schönen«. In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1997. S. 1289–1295. Hier: S. 1293.) Jean Paul führt diese Linie in der Vorschule der Ästhetik fort. Seine Unterscheidung zwischen einem aktiven und einem passiven Genie entspricht Moritz’ Gegenüberstellung von Bildungskraft und Empfindungsfähigkeit (vgl. ebd. S. 1293f). Zum Dilettantismus bei Jean Paul vgl. Jörg Paulus: »Gespräch zwischen den beiden Gesichtern des Janus«. Jean Paul und der Dilettantismus in der Zeit des »Hesperus«. In: Jutta Müller-Tamm und Cornelia Ortlieb (Hg.): Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Literatur und bildende Kunst in Klassizismus und Romantik. Freiburg i.Br. 2004. S. 265–282. Wilhelm Heinrich Wackenroder : Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger. In zwey Hauptstücken. In: Wilhelm Heinrich Wackenroder. Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Silvio Vietta und Richard Littlejohns. Bd. 1: Werke. Hg. von Silvio Vietta. Heidelberg 1991. S. 130–145. Hier: S. 134. Karl Philipp Moritz: Einfachheit und Klarheit. In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1997. S. 1034–1037. Hier: S. 1035. Vgl. Kapitel C. Berglinger hegt die »Überzeugung, daß er von Gott deshalb auf die Welt gesetzt sey, um ein recht vorzüglicher Künstler in der Musik zu werden«. Wackenroder (Anm. 84). S. 136. Einbildungskraft bei Tieck und Novalis diskutiert Caroline Welsh: Die Physiologie der Einbildungskraft um 1800. Zum Verhältnis zwischen Physiologie und Autonomieästhetik bei Tieck und Novalis. In: Maximilian Bergengruen, Roland Borgards und Johannes Friedrich Lehmann (Hg.): Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800. Würzburg 2001. S. 113–134. Wackenroder (Anm. 84). S. 139. Dass in der Frühromantik Musik und Einbildungskraft positiv rückgekoppelt werden, ist

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Von Moritz über Wackenroder, Schiller und Goethe bis zu Grillparzer und über diesen hinaus ist ein »anthropologische[r] Influxus im Ästhetischen«91 eine spezifische historische Signatur im Diskurs über den musikalischen Dilettantismus, die auch im Zusammenhang mit der romantischen Favorisierung von ›sprachloser‹ Instrumentalmusik zu sehen ist. (Zum musikalischen Dilettantismus in der Romantik, v. a. zum Salon als Ort weiblichen Musizierens vgl. Gabriele Brandstetter : Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik I. Virtuosen und Dilettanten. Verflechtungen von Künstlerszenen der Romantik. In: dies. und Gerhard Neumann (Hg.): Genie, Virtuose, Dilettant. Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik. Würzburg 2011. S. 13–25. Hier: S. 17.) An die Referenzlosigkeit der Musik sehr kritisch anknüpfend, wählt später Robert Walser die Musik als Austragungsort seiner Überlegungen zum Dilettantismus. Er ist der Ansicht: »Die inhaltsloseste Musik wird am raschesten verstanden, denn sie macht Stimmung, und Stimmung macht den Dilettanten; daher sind Konzerthörer meist Dilettanten.« (Robert Walser : Dilettanten. In: Robert Walser. Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. von Jochen Grewen. Bd. 15: Bedenkliche Geschichten. Prosa aus der Berliner Zeit 1906–1912. Zürich/Frankfurt/M. 1985. S. 60–63. Hier: S. 60.) Die Musik ist überhaupt ein zentraler Strang im Dilettantismusdiskurs und besitzt dort eine lange Tradition. Erstmals eingedeutscht wird – nach heutigem Kenntnisstand – nämlich der italienische Begriff »dilettante« 1752 von Johann Joachim Quantz, der im Versuch einer Anweisung die Flöte traversiHre zu spielen eine Selbstbezeichnung als »dilettante« bzw. »Dilettant« vornimmt (vgl. dazu Leistner [Anm. 5]. S. 74). Im gesamten 18. Jahrhundert kommt das Wort »Dilettant« aufgrund der Jagemannschen Übersetzung von »dilettante« in erster Linie in der Bedeutung von »Liebhaber der Musik« vor (vgl. Vaget: Der Dilettant [Anm. 4]. S. 133). (Die Nachwirkung der Flöte als bevorzugtes Instrument vormodernen, adligen Dilettierens bezeugen beispielsweise das Flötenspiel des adligen Dilettanten Eduard aus Die Wahlverwandtschaften oder Rudolf Kassner, der 1910 rückblickend festhält: »Der alte Dilettant war meist ein großer Herr, ein Prinz, ein Kardinal und blies die Flöte«. Rudolf Kassner: Der Dilettantismus. Frankfurt/M. 1910. S. 18.) Auch die Schemata Über den Dilettantismus enthalten selbstverständlich ein Schema zur Musik. Als »Schaden fürs Subjekt« werden »Gedankenleerheit« und »Sinnlichkeit« ausgemacht (Goethe: Über den Dilettantismus [Anm. 12]. S. 740), zum Nutzen wird erklärt: »Tiefere Ausbildung des Sinns. Mathematische Bestimmungen des Organs werden kennen gelernt und zu Empfindungs- und Schönheitszwecken gebraucht.« (ebd. S. 756) Was die Musikausübung in der »Neue[n] Zeit« angeht, beklagen Goethe, Schiller und Meyer eine Tendenz zur Oberflächlichkeit: »Flügel und Violin. Mehr Wert gelegt auf mechanische Fertigkeit, Schwierigkeit und Künstlichkeit, weniger Zusammenhang mit Leben und Leidenschaft. Geht in Konzerte über. Mehr Nahrung der Eitelkeit.« (ebd. S. 757) Die Dilettantismuskritik des Schemas schließt hier interessanterweise an den Topos der Virtuosenkritik seit der Geschichte des Flötenspielers Marsyas in Ovids Metamorphosen an. In der Folge führen beispielsweise auch Heinrich Heine in den Florentinische[n] Nächte[n] (mit Paganini und der Violine) und Thomas Bernhard in Der Untergeher (mit Gould und dem Flügel) diesen Topos – freilich auf sehr unterschiedliche Weise – fort. 91 Helmut Pfotenhauer : Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik. Tübingen 1991. S. 216. Rüdiger Campe begründet die Physiologisierung der Kunsttheorie mit einem Epistemewechsel in deren Wissenshorizont: »Eine solche Physiologisierung kann sich im Vakuum der Kunsttheorien ausbreiten, das Rhetorik und Poetik hinterließen, als die neuen Wissenschaften des 17. und 18. Jahrhunderts deren eigene physiologische und psychologische Verstrebungen demontiert hatten, die vom aristotelisch-galenischen Stand medizinischen und physiologischen Wissens geprägt gewesen waren.« Rüdiger Campe: Zeugen und Fortzeugen in Karl Philipp Moritz’ »Über die bildende Nachahmung des Schönen«. In: David E. Wellbery und Christian Begemann (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt.

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nachzuweisen, der sich in Konzeptionen des Dilettanten als Überempfindenden – auch im Sinne eines Ungleichgewichts von Sinnlichkeit und Verstand – zeigt. Die ästhetischen Vorstellungen von Dilettantismus und Genialität, die um 1800 leitend sind, unterliegen dabei zusätzlich einem spezifisch geschlechteranthropologischen Influxus. Den Dilettantismus mit traditionell weiblich konnotierten Zuschreibungen wie ausgeprägter Empfindungsfähigkeit zu versehen, ist eine Strategie, erstens den Dilettantismus zu verweiblichen und zweitens dadurch zugleich einen Dilettantismus alles Weiblichen zu insinuieren und Genialität als männlich zu konzipieren. Eine prominente Vorlage für dieses Modell liefert Karl Philipp Moritz 1788 in Über die bildende Nachahmung des Schönen. Dort heißt es: »Bildungskraft und Empfindungsfähigkeit verhalten sich zu einander, wie Mann und Weib.«92 Wilhelm von Humboldt postuliert 1794 Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur : »Die geistige Zeugungskraft ist das Genie.«93 Er überblendet weibliche und dilettantische Empfänglichkeit, wenn er ausführt: Die zeugende Kraft ist mehr zur Einwirkung, die empfangende mehr zur Rückwirkung gestimmt. Was von der erstern belebt wird, nennen wir männlich, was die letztere beseelt, weiblich. Alles Männliche zeigt mehr Selbstthätigkeit, alles Weibliche mehr leidende Empfänglichkeit.94

Der für die Zeit um 1800 zu beobachtende enge Zusammenhang zwischen dem – vornehmlich aus der Biologie gespeisten – semantischen Feld der (Pro)Kreation Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg i.Br. 2002. S. 225– 249. Hier: S. 235. 92 Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen (Anm. 70). S. 978. Rüdiger Campe hat nachgewiesen, dass im Fortgang der Moritzschen Argumentation das geschlechtliche Verhältnis von Frau und Mann im Akt der Zeugung in ein Modell der Selbstfortzeugung unter dem Aspekt der Prokreation überführt wird. Vgl. Campe (Anm. 91). S. 234. 93 Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur [1794]. In: Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. 3. Auflage. Darmstadt 1980. S. 268–295. Hier: S. 274. Zu Humboldts Aufsatz vgl. für den vorliegenden Zusammenhang ausführlicher Peter-Henning Haischer : Dichterinnen, Dilettanten: Episch-Weibliches im Umfeld Schillers und Goethes. In: Katharina von Hammerstein und Katrin Horn (Hg.): Sophie Mereau. Verbindungslinien in Zeit und Raum. Heidelberg 2008. S. 61–80. Hier: S. 67f. Weiterführend vgl. Christina Dongowski: Die zwei Körper des Menschen. Wilhelm von Humboldts Versuch, den Sinn der Fortpflanzung zu denken. In: Maximilian Bergengruen, Roland Borgards und Johannes Friedrich Lehmann (Hg.): Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800. Würzburg 2001. S. 159–181. 94 Humboldt (Anm. 93). S. 277f. Auch die für die Differenzierung von Genialität und Dilettantismus zentrale Kategorie ›Einbildungskraft‹ ist bei Humboldt geschlechtsspezifisch codiert. Die »weibliche Fülle« zeichne sich durch ein »Uebergewicht der Phantasie« (ebd. S. 279) aus, während beim Genie eine »Uebereinstimmung der Phantasie mit der Vernunft« (ebd.) vorliege; die Vernunft wiederum wird im selben Satz als »männlich[…]« (ebd.) qualifiziert.

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und dem der künstlerisch-geistigen Produktion95 kann mit Hilfe der Kategorie ›Dilettantismus‹ auf seine problematische Kehrseite geprüft werden. Während einerseits die »Figur der Selbstzeugung […] mit Begriffen der Originalität, der Autonomie, der Selbstsetzung solidarisch«96 ist, generiert sie zugleich andererseits eine »Angst vorm Zufälligen, Hinfälligen, Heteronomen«97. Ästhetisch betrachtet, ist die mit dem Geniegedanken einhergehende Kontingenzangst98 auf den Dilettantismus gerichtet. Am Dilettantismus werden also Probleme innerhalb der zeitgenössisch anerkannten Schöpfungsmodelle in der Weise ausgetragen, dass dieser effeminiert wird und die prekären Momente der Zeugung auf ihn projiziert werden. An der Konzeption eines spezifisch weiblichen Dilettantismus – mit Frauen als seinen exklusiven Trägerinnen – schließlich wird die Tendenz, die tierisch-geistige bzw. sinnlich-vernünftige Doppelnatur des Menschen in zwei ungleich-komplementäre Hälften zu spalten, auf den Geschlechtergegensatz zu übertragen99 und ästhetisch nutzbar zu machen, noch verschärft. Die Schemata Über den Dilettantismus stehen hierfür Pate. In beschränktem Umfang konnten Goethe, Schiller und Meyer dem weiblichen Dilettantismus etwas Positives abgewinnen, denn sie sind der Ansicht: »Dilettantismus der Kinder […], der Weiber, der Reichen, der Vornehmen. Ist Zeichen eines gewissen Vorschrittes.«100 Außerdem fand – dem Verdikt des Dilettantismus zum Trotz – um 1800 eine rege literarische Produktion von Frauen statt.101 Im Schema zur lyrischen 95 Vgl. Wellbery (Anm. 37). Zu weiteren Denkmodellen, die in der Zeit um 1800 die künstlerische Produktion und die biologische Reproduktion aufeinander projizieren, vgl. ebd. S. 16ff. 96 Ebd. S. 28. Zur Orientierung ästhetischer Kreationsmodelle an der Biologie und zur dadurch entstehenden Plausibilität der Vorstellungen von Autonomie und Originalität vgl. außerdem Pfotenhauer : Apoll und Armpolyp (Anm. 31). 97 Ebd. S. 222. 98 Zur Kontingenzabwehr als Hauptanliegen von Moritz’ epigenetischer Kunstauffassung vgl. ebd. S. 218. 99 Vgl. dazu Riedel (Anm. 3). S. 178. 100 Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 780. 101 Vgl. Bürger (Anm. 77), Haischer (Anm. 93), Heidi Ritter : Vom Nutzen des »Dilettantismus der Weiber«. Die Beiträgerinnen in Schillers »Die Horen«. In: Dieter Bähtz (Hg.): Dem freien Geiste freien Flug. Beiträge zur deutschen Literatur. Leipzig 2003. S. 27–32 sowie Konrad Feilchenfeldt: »Virtuosinnen in dem Kunstgebiet der freien Geselligkeit«. Die deutsche Salonkultur um 1800 zwischen emanzipatorischem Aufbruch und ästhetischem Programm. In: Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann (Hg.): Genie, Virtuose, Dilettant. Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik. Würzburg 2011. S. 261–275. In das Programm einer ›Kanonrevision‹ fügt sich ein: Eva Kammler : Zwischen Professionalisierung und Dilettantismus. Romane und ihre Autorinnen um 1800. Opladen 1992. – Zu Textgattungen und Publikationsorganen, die bei poetischen Dilettanten und Dilettantinnen besonders beliebt waren, vgl. die Beiträge von York-Gothart Mix: Der wahre Dichter und die Ware Literatur. Almanachkultur und literarischer Dilettantismus zwischen Rokoko und Romantik. In: Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft 14 (2002). S. 67–95 sowie York-Gothart

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Poesie ist dieser Umstand unter der Rubrik »Neue Zeit« in einem deutlich weniger milden Ton dokumentiert, von ›Vorschritt‹ ist nicht die Rede: »Impudenz des neuesten Dilettantism, durch Reminiszenzen aus einer reichen kultivierten Dichtersprache, und durch die Leichtigkeit eines guten mechanischen Äußern geweckt und unterhalten. Belletristerei auf Universität […]. Frauenzimmergedichte.«102 In diversen ästhetischen Programmschriften findet vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Geschlechteranthropologie eine Naturalisierung des Dilettantismus im Hinblick auf Weiblichkeit statt. Der den Dilettantismus allgemein charakterisierenden »Verwechslung ist die Jugend, das Frauenzimmer, ein großer Teil der nordischen KunstLiebhaber [besonders] ausgesetzt«103, schreibt Goethe in den Propyläen. Jungen Menschen, Frauen und ›nordischen Kunstliebhabern‹ – man denke außerdem zurück an die von Schiller beklagte nordische Geschmacksverirrung104 – wird hier eine besondere Affinität zum Dilettantismus unterstellt. Auf die Wissenschaft bezogen, schreibt Schiller : »Das andre Geschlecht kann und darf, seiner Natur und seiner schönen Bestimmung nach, mit dem Männlichen nie die Wissenschaft […] teilen.«105 Dass die Wissenschaft den Frauen – im Gegensatz zu den Männern – nicht zugänglich sein soll, begründet Schiller mit dem »ganze[n] innre[n] Bau seines [= des ›Weibes‹] Wesens«106. Schiller argumentiert hier mit der – angeblichen – biologischen Verankerung des Dilettantismus im Körper und Wesen der Frau. Der de facto existierende weitgehende Ausschluss von Frauen aus der Wissenschaft stützt freilich eine derartige Argumentation. Da Schiller sich für Die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen interessiert (also nach den Möglichkeiten und Grenzen einer Wissenspoetik fragt), kann er die ästhetische Dimension nicht außer Acht lassen. Die – unterstellte – Neigung der Frauen zu den schönen Formen, sprich: zum Ästhetischen, wertet Schiller mit den anthropologisch-ästhetischen (man könnte hier auch sagen: gyno-logisch-ästhetischen) Argumenten ›Empfindung‹ und ›Einbildungskraft‹ ab. Damit schließt er sein wissenschaftliches Dilettantismusverständnis an das ästhetische Pendant an: »Dieses Geschlecht, das, wenn es auch nicht durch Schönheit herrschte, schon

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Mix und Nina Birkner : Dilettantismus und Meisterschaft. Zur Kulturökonomie der Almanach- und Taschenbuchmode des 18. Jahrhunderts. In: Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 111–123. Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 767. Johann Wolfgang Goethe: Propyläen. Eine periodische Zeitschrift. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998. S. 658–673. Hier: S. 660. Vgl. S. 50 dieser Arbeit. Schiller : Über die notwendigen Grenzen (Anm. 23). S. 692. Ebd.

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allein deswegen, das schöne Geschlecht heißen müßte, weil es durch Schönheit beherrscht wird, zieht alles, was ihm vorkommt, vor den Richterstuhl der Empfindung«.107 Schiller folgert: Das Geschäft also, welches die Natur dem andern Geschlecht nicht bloß nachließ, sondern verbot, muß der Mann doppelt auf sich nehmen, wenn er anders dem Weibe in diesem wichtigen Punkt des Daseins auf gleicher Stufe begegnen will. Er wird also so viel, als er nur immer kann, aus dem Reich der Abstraktion, wo Er regiert, in das Reich der Einbildungskraft und Empfindung hinüber zu ziehen suchen, wo das Weib zugleich Muster und Richterin ist. Er wird, da er in dem weiblichen Geiste keine dauerhaften Pflanzungen anlegen kann, so viele Blüten und Früchte, als immer nur möglich ist, auf seinem eigenen Feld zu erzielen suchen, um den schnell verwelkenden Vorrat auf dem andern desto öfter erneuern, und da, wo keine natürliche Ernte reift, eine künstliche unterhalten zu können.108

Schiller arbeitet hier mit einem Metaphernfeld, das sowohl eine biologische als auch eine botanische Dimension besitzt. Die vom biologistischen Diskurs behauptete natürliche Ausstattung der Frau, ihre ›Einbildungskraft und Empfindung‹, begründet und naturalisiert erstens den weiblichen Dilettantismus. Dieser wird zweitens in Analogie zum Programm einer ästhetischen Erziehung zum Gegenstand einer ›wissenschaftlichen Erziehung‹ erklärt. Im weiblichen Geist kann der Mann – im Gegensatz zum weiblichen Körper – ›keine dauerhaften Pflanzungen‹ anlegen; er muss das, was der Frau natürlicherweise fehlt, quasi als Botaniker auf künstliche Weise kompensieren, um sie zu sich zu erhöhen.109 Die von Schiller begründete und von Humboldt, Moritz und anderen diskursübergreifend verbreitete Semantisierung des Dilettantismus als weiblich durch die geschlechtsspezifischen Codierungen von Bildungskraft und Empfindungsfähigkeit schlägt sich in den Oppositionspaaren aktiv/produktiv/wirkend vs. passiv/rezeptiv/leidend nieder.110 Diese Dichotomien organisieren dann auch die Geschlechtertypologien der Romantik.111 107 Ebd. 108 Ebd. S. 693. 109 An dieser Stelle ist erneut auf die von Uwe Wirth für den Dilettantismusdiskurs in Anschlag gebrachte Methode bzw. Metapher des Pfropfens zu verweisen. Vgl. Wirth: Der Dilettantismusbegriff (Anm. 13). S. 47–49. 110 Vgl. Riedel (Anm. 3). S. 178 und Bürger (Anm. 77). S. 28. 111 Vgl. Riedel (Anm. 3). S. 178. Mit Novalis’ theoretischer Auseinandersetzung mit der Zeugung und den Aporien, in die eine Verknüpfung von Genialität und Generativität führen kann, beschäftigt sich Stefan Willer (vgl. Stefan Willer : »Eine sonderbare Generation«. Zur Poetik der Zeugung um 1800. In: Sigrid Weigel, Ohad Parnes, Ulrike Vedder und Stefan Willer (Hg.): Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie. München 2005. S. 125–156. Hier : S. 132–135.). Er kommt zu folgendem Schluss: »Die Verknüpfung von Generativität und Magie im Allgemeinen Brouillon findet vielfältige Resonanzen in der Epistemologie und Sprachtheorie der Romantik, die die Analogie von Zeu-

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Unter anderem geschlechtsspezifisch gefasst wird das Phänomen ›Dilettantismus‹ auch noch um 1900, allerdings in radikal anderer Weise. Diesem Aspekt gilt es nun nachzugehen und ihn in den Dilettantismusdiskurs der Moderne einzuordnen.

I.3.

Für und wider den Dilettantismus: Kulturpsychologisches und Poetologisches um 1900

Während sich das 19. Jahrhundert in programmatischer Hinsicht über Dilettantismus weitgehend ausschweigt112 und die Auseinandersetzung mit entsprechenden Phänomenen vornehmlich im Bereich der Literatur stattfindet,113 wird ›Dilettantismus‹ um 1900 wieder Gegenstand theoretisch-programmatischer Diskussionen.114 Diese werden jetzt v. a. im Zusammenhang mit kulturpsychogen, Zaubern, Erkennen und Reden sowohl an reichhaltigem mythologischen Material als auch in den eigenen Verfahren demonstriert hat.« Ebd. S. 132. 112 Auch eine Ästhetik des Häßlichen, wie die 1853 von Karl Rosenkranz vorgelegte, ist nicht mit einer Ästhetik des Dilettantischen zu verwechseln. 113 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel II. Zu nennen ist außerdem die im 19. Jahrhundert virulent werdende medientechnische Herausforderung, welche die Photographie für die Literatur und die Malerei darstellt. Denn diese verschärft die Frage nach der rechten Mimesis, die den Dilettantismusdiskurs von jeher beschäftigt, radikal. Wer nach der Erfindung der Photographie (bzw. ihrer Vorläufer) noch mit den Mitteln der Malerei, aber auch der Literatur, eine naturalistische Mimesis betreiben will, muss aufgrund der technischen Präzision des konkurrierenden Mediums notwendigerweise scheitern – oder neue Zielsetzungen und Darstellungsformen finden (vgl. dazu grundlegend: Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert. München 2001 sowie ders.: Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik. München 2009. Darin v. a. das Kapitel »Der Schriftsteller als Photoapparat oder Realismus als Halluzination«. S. 109–125.). Die technischen Neuerungen des 19. Jahrhunderts machen Dilettantismus somit zu einer möglichen Konsequenz des medientechnischen Fortschritts. Literarisch reflektiert wird diese Problematik beispielsweise in Adalbert Stifters Nachkommenschaften. Dort strebt der Landschaftsmaler Friedrich Roderer an, »den Dachstein so zu malen, daß man den gemalten und den wirklichen nicht mehr zu unterscheiden vermöge.« (Adalbert Stifter : Nachkommenschaften. In: Adalbert Stifter. Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 3, 2: Erzählungen. Hg. von Johannes John und Sibylle von Steinsdorff. Stuttgart 2003. S. 23–94. Hier: S. 29.) Roderer scheitert an seinem hyperrealistischen Anspruch und gibt die Malerei schließlich auf. 114 Die Konjunkturen, welche die Diskussion über Dilettantismus um 1800 und um 1900 erfährt, werden mit der Autonomie begründet, die die Kunst in diesen Phasen programmatisch ein- und den als heteronom gedachten Dilettantismus zur Abgrenzung erfordert (vgl. Vaget: Der Dilettant [Anm. 4]. S. 131). Es ist aber wichtig zu betonen, dass ›Dilettantismus‹ um 1900 von einer ästhetisch-künstlerischen Kategorie zu einer allgemeinen, auch psychologischen, Epochensignatur wird. Das heißt, dass sich die Konjunktur, die ›Dilettantismus‹ um 1900 erfährt, nicht allein – und nicht einmal zuvorderst – mit den Autonomiebestrebungen etwa des Ästhetizismus erklären lässt. (Vielmehr macht das erweiterte, über die Kunst hinausgehende Dilettantismusverständnis diesen interessant für

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Dilettantismus im 18. und 19. Jahrhundert: Positionen und Konstellationen

logischen115 und explizit anthropologischen Fragestellungen geführt116 und finden vor einem anderen Wissenshorizont statt als diejenigen um 1800. Ein kurzer Blick in die Literatur des 19. Jahrhunderts lässt eine wichtige Etappe in dieser Transformation erkennen: Im deutschen Realismus – stellvertretend seien hier Adalbert Stifters Nachkommenschaften von 1864 genannt – ist der Epigone der zentrale Träger des Dilettantismus. Entscheidend ist dabei, dass Epigonen nicht nur in ästhetisch-geschichtsphilosophischer oder künstlerisch-geistiger Perspektive ›Nachkommenschaften‹ sind,117 sondern auch im Paradigma ›Genealogie‹118 verankert sind. Unter der Signatur ›Epigone‹ steht

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avantgardistische Ästhetiken, welche die Grenze zwischen Kunst und Leben gerade aufheben wollen.) Es sind v. a. kulturtheoretische bzw. -diagnostische Schriften, die zu dieser zweiten Konjunktur wesentlich beitragen. Die Kulturpsychologie geht davon aus, dass menschliches Verhalten und Handeln unauflöslich mit dem kulturellen Kontext, in dem es stattfindet, verwoben ist und demgemäß variiert. Es wird entsprechend nicht nach Universalien menschlichen Verhaltens gefragt, sondern nach den Wechselbeziehungen zu einem bestimmten sozio-historischen Kontext. Vgl. Stefan Kammhuber : Kulturpsychologie. In: Markus Antonius Wirtz (Hg.): Dorsch. Lexikon der Psychologie. 16., vollständig überarbeitete Auflage. Bern 2013. S. 903. Vgl. auch Elfriede Billmann-Mahecha: Kulturpsychologie. In: Gerd Wenninger (Hg.): Lexikon der Psychologie in fünf Bänden. Zweiter Band: F bis L. Heidelberg/Berlin 2001. S. 405–408. Zu verweisen ist hier auch auf Alfred Lichtwarks kunstpädagogische Schrift Wege und Ziele des Dilettantismus von 1894. Lichtwark strebt eine weitgreifende Volkspädagogik an, welcher der Dilettantismus zuarbeiten soll: »Das Bewußtsein zu erwecken und zu verbreiten, daß auch der Genuß der bildenden Kunst Begabung und Erziehung voraussetzt, giebt es kein besseres Mittel als die Entwicklung eines gesunden Dilettantismus.« (Alfred Lichtwark: Wege und Ziele des Dilettantismus. München 1894. S. 26.) Lichtwark setzt sich dann mit diversen Formen des Kunsthandwerks wie Sticken, Klöppeln und Töpfern auseinander. Aufgrund dieser Stoßrichtung ist seine Schrift für den hier vorliegenden Zusammenhang von sekundärem Interesse. Vgl. Wolfgang Braungart: Das letzte Bild. Zu Stifters »Nachkommenschaften«. In: Jürgen Fohrmann, Andrea Schütte und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Medien der Präsenz. Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Köln 2001. S. 26–41. Hier: S. 27. Zum übergeordneten Zusammenhang vgl. die einschlägige Studie von Marcus Hahn: Geschichte und Epigonen. 19. Jahrhundert / Postmoderne, Stifter / Bernhard. Freiburg i.Br. Rombach 2003. Zu einer ›Ästhetik der Epigonalität‹, also einer poetologischen Wendung der Epigonenthematik vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek: Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann, Keller, Stifter, Nietzsche. Tübingen/Basel 2001. Markus Fauser hat sich in diesem Zusammenhang auf das Phänomen Intertextualität spezialisiert. Vgl. Markus Fauser : Intertextualität als Poetik des Epigonalen. Immermann-Studien. München 1999. Vgl. außerdem Matthias Kamann: Epigonalität als ästhetisches Vermögen. Untersuchungen zu Texten Grabbes und Immermanns, Platens und Raabes, zur Literaturkritik des 19. Jahrhunderts und zum Werk Adalbert Stifters. Stuttgart 1994. Einschlägige Studien zum Konzept ›Genealogie‹ in Natur- und Kulturwissenschaft hat Sigrid Weigel vorgelegt. Vgl. Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München 2006; zur Dominanz von »Narrativen von gestörten, unterbrochenen und später auch ab- bzw. verfallenden Genealogien« (ebd. S. 146) in der Literatur des 19. Jahrhunderts vgl. im Besonderen das Kapitel »Zur Dialektik von Gattung, Geschlecht und Generation. Stifters Narrenburg im

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dann nicht mehr der geniale oder eben dilettantische Zeugungsakt bzw. -versuch im Vordergrund, sondern Fragen nach Herkunft, Fortpflanzung und Vererbung gewinnen an Dringlichkeit.119 Dass diese Verschiebung im Dilettantismusverständnis des 19. Jahrhunderts im wissensgeschichtlichen Kontext der Erstarkung von Vererbungs-, Zucht- und Rasselehren erfolgt,120 macht nachdrücklich auf die jeweils spezifische wissensgeschichtliche Imprägnierung einer jeden historischen Dilettantismuskonzeption aufmerksam. Zur Zeit der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert hat sich schließlich eine »›Achsendrehung im Begriff des Menschen‹«121 vollzogen, die sich der vollständigen Durchsetzung der Biologie als neuer Episteme der Natur122 verdankt und sich in einem Fokus auf die Zweigeschlechtlichkeit und die Sexualität äußert. Wolfgang Riedel spitzt diesen Sachverhalt zu: »Wer um 1900 – sei’s biologisch, philosophisch (lebensphilosophisch) oder literarisch – von Natur reden will, muß von der Sexualität reden.«123 Wird die (menschliche) Natur um 1900 im Zeichen des Sexus gefasst, bedeutet dies gegenüber der Zeit um 1800 u. a. eine Verschiebung des Zeugungsbegriffs von der abstrakt-metaphorischen in die konkret-physische Ebene. Zeugung ist dann nicht mehr nur eine »sexuelle Metaphorik als sinnlich-bildhafte Chiffrierung geistigen Schaffens«124, sondern wird auch in ihrer körperlichen Dimension durchbuchstabiert. Für ästhetische Fragestellungen heißt das, dass künstlerische Prozesse an körperliche Prozesse rückgebunden werden und Dilettantismus zu einer Erscheinung wird, die (auch) physisch begründet ist. (Des Dilettanten Bebuquins misslingender Schöpfungswunsch125

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Kontext des enzyklopädischen Wissens um 1800«, ebd. S. 145–161. Einen vergleichenden Blick auf die Konzepte von Zeugung und Genealogie um 1800 und um 1900 eröffnen außerdem die Beiträge in: Sigrid Weigel (Hg.): Genealogie und Genetik. Schnittstellen zwischen Biologie und Kulturgeschichte. Berlin 2002. Der dilettierende Landschaftsmaler Friedrich Roderer hat, solange er sich noch als Maler betätigt, zwar »Nichten, Neffen, Geschwisterkinder, Urnichten, Urneffen, Urgeschwisterkinder, Ururnichten, Ururneffen, Ururgeschwisterkinder, und so weiter« (Stifter: Nachkommenschaften [Anm. 113]. S. 31), aber eben keine eigenen Kinder. Und seine »Großmutter sagt, ›daß unsere Vorfahren immer zahlreiche Nachkommenschaften gehabt haben, und daß das Geschlecht nie so zusammengeschmolzen gewesen wäre, wie eben jetzt‹« (ebd.). Mit der Entscheidung, das Malen aufzugeben, geht die Familiengründung einher und umgekehrt. Hierin ist eine »Ersetzungsökonomie von Werk und Familiengründung« (Hahn [Anm. 117]. S. 323) zu sehen, welche (die Einsicht in) den Dilettantismus als Bedingung für die Fortsetzung der genealogischen Kette problematisiert. Die erste deutsche Übersetzung von Charles Darwins Theorie On the Origin of Species lag 1860 unter dem Titel Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn vor – um nur das prominenteste Beispiel zu nennen. Riedel (Anm. 3). S. 151. Vgl. ebd. S. XIII. Ebd. Wellbery (Anm. 37). S. 12. »Herr, laß mich einmal sagen, ich schuf aus mir. Sieh mich an, ich bin ein Ende, laß mich

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– um nur ein Beispiel zu geben – wird nicht zufällig innertextuell mit den Motiven ›Jungfräulichkeit‹ und ›Impotenz‹ verknüpft126 und als autoerotischer Akt gedeutet.127) »Um es gleich zu sagen: Dilettantismus gilt nur vom Manne, besser : das Wort ist aus der Sprache des Mannes genommen. Der Mann hat es erfunden. Die Frau wäre gar nicht darauf gekommen. Die Frau ist exzentrisch oder emanzipiert, und nur der Mann ist Dilettant.«128 Diese geschlechtsspezifische Codierung des Dilettantismus nimmt Rudolf Kassner 1910 in seiner Schrift Der Dilettantismus vor. Die wechselseitige Zuordnung von Dilettantismus und Männlichkeit steht in Opposition zu den oben dargestellten Modellen des 18. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund der wissensgeschichtlichen Umbrüche, die in den dazwischen liegenden gut hundert Jahren stattgefunden haben, ist diese Position jedoch nicht überraschend. Im Horizont von Biologie, Lebensphilosophie, dem Interesse an modernespezifischen Pathologien und der sich formierenden Psychoanalyse wird ›Dilettantismus‹ von einer vorwiegend ästhetischen Kategorie (um 1800) in eine umfassende, epochen- und kulturpsychologische bzw. -diagnostische Kategorie (um 1900) umgedeutet. Dilettantismus wird zum »Kennwort für die Psychologie einer ganzen Epoche«129. Nicht mehr nur scheiternde Künstler werden unter die Dilettanten gezählt, sondern potentiell jeder Mann/Mensch, der von den Bedingungen der Moderne um 1900 geprägt ist.130 Bei Kassner steht die Verengung auf Männlichkeit quer zur kulturpsychologischen Ausweitung des Dilettantismusbegriffs, andere Theoretiker – wie beispielsweise Paul Bourget – nehmen entsprechend keine geschlechtsspezifische Formatierung des Dilettantismus vor. Aus Kassners Aussage, der Begriff ›Dilettantismus‹ sei vom Mann erfunden, dessen Sprache entnommen worden,131 geht eine bedeutende Neuerung gegenüber den bislang bekannten Dilettantismuskonzepten hervor: Dilettantismus

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eine unabhängige Tat, ein Wunder tun.« Carl Einstein: Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908–1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980. S. 73–114. Hier: S. 108. Vgl. ebd. S. 83 und S. 76. Vgl. Sabine Kyora: Junggesell(inn)en-Ästhetik. Carl Einstein – Gertrude Stein. In: Annette Keck und Dietmar Schmidt (Hg.): Auto(r)erotik. Gegenstandslose Liebe als literarisches Projekt. Berlin 1994. S. 85–101. Hier: S. 90. Kassner (Anm. 90). S. 14. Vaget: Der Dilettant (Anm. 4). S. 150. Besonders sinnfällig wird dies an Rudolf Kassners Aufzählung von Trägern des Dilettantismus, die keine Typologie mehr bildet, sondern eine ins Endlose tendierende Liste darstellt: Der »gegenwärtige Dilettant [ist] alles: Anarchist, Aristokrat, Übermensch, Theosoph, Monist, Anhänger der Entwicklungslehre, Erotiker, Naturist, Asket, Reisender, Photograph, Theatergeher, Melancholiker aus Beruf, Renaissancemensch, Mystiker, Automobilist, Flugtechniker und vieles noch.« Kassner (Anm. 90). S. 17. Vgl. Anm. 128.

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wird in der Moderne um 1900 auch als schöpferisch-sprachliche Größe verstanden. Das bedeutet, dass ›Dilettantismus‹ nun erstmals zu einem poetologischen Paradigma werden kann. Ein affirmativer Bezug auf den Dilettantismus/ das Dilettieren lässt sich entsprechend in Programmtexten der europäischen Avantgarden nachweisen.132 Poetologien der Avantgarde sind nicht selten Poetologien des Dilettantismus,133 d. h. am Umgang mit ›Dilettantismus‹ kann der Prozess der Neuausrichtung der Künste konkret festgemacht und nachvollzogen werden. Die Dilettantismusthematik wird von Claudio (Hugo von Hofmannsthal, Der Tor und der Tod, 1893) über Tonio Kröger (Thomas Mann, Tonio Kröger, 1903) bis zu Bebuquin (Carl Einstein, Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders, 1906/12) – um nur einige Beispiele aus dem Bereich der deutschsprachigen Literatur zu nennen – vornehmlich an männlichen Figuren ausgehandelt, weibliche Dilettantinnen sind Ausnahmeerscheinungen.134 Dies lässt sich unter dem Vorzeichen einer Natur im Zeichen des Sexus bei Thomas Mann mit dessen bisexuellem Künstlerverständnis,135 bei Einstein mit dessen misogynen Tendenzen136 erklären. Die biologisch-sexuelle Dimension ausleuchtend, behauptet Kassner, »daß der Dilettant häufiger unter den geschlechtlich Vereinsamten als unter geschlechtlich Regen vorkommt«137. Und er setzt kulturvergleichend hinzu, »daß man ihn darum häufiger unter den Germanen als unter den Romanen findet.«138 Dies sei »auf den freieren, zum mindesten klareren Geschlechtsverkehr in diesem Lande [= Frankreich] zurück[zu]führen.«139 Durch den Vergleich zu Frankreich – und später zu England und anderen Ländern – setzt Kassner sein kulturpsychologisches Dilettantismuskonzept140 in Relation zu Dilettantismen anderer Länder bzw. Kulturen. In England beispielsweise sei ›Dilettantismus‹ 132 Vgl. Stanitzek: Poetologien des Dilettantismus (Anm. 4). S. 404. 133 Vgl. dazu Kapitel D, in dem an Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders eine solche Poetologie beispielhaft analysiert wird. 134 Weibliche Dandys untersucht Isabelle Stauffer : Weibliche Dandys, blickmächtige Femmes fragiles. Ironische Inszenierungen des Geschlechts im Fin de SiHcle. Zürich 2008. 135 Vgl. Wellbery (Anm. 37). S. 29. 136 Vgl. S. 249f. und S. 280 dieser Arbeit. 137 Kassner (Anm. 90). S. 14. 138 Ebd. 139 Ebd. 140 Rudolf Kassner führt folgende Charakteristika von Dilettanten an: Unfähigkeit zu einem positiv gefassten Individualismus (vgl. ebd. S. 21), Unfähigkeit zum Altern und Reifen (vgl. ebd.) sowie eine pathologische Sensibilität (vgl. ebd. S. 26f.). Außerdem stellt Kassner fest: »Dilettanten sind gar nicht etwa einfach oberflächliche Menschen, o nein: sie sind untief, ohne Spürsinn, ohne Instinkt, ohne Witterung für die Gefahr, schlechte Schützen, möchte man sagen; sie haben eigentlich überhaupt keine Oberfläche, sondern sind zerstreut, verwischt, unreif, ziellos.« (ebd. S. 58) – Zur Einordnung von Kassners Der Dilettantismus als kulturpsychologische Schrift vgl. Hella Tiedemann-Bartels: Die Dilettanten. In: Das Argument 139 (1983). S. 360–371. Hier: S. 366.

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»ein Ausdruck des geselligen mehr als des einsamen und verlorenen Menschen wie so oft unter den Deutschen (In London heißt ja ein Klub: the dilettanti).«141 Aus dem Mehr oder Weniger an Geschlechtsverkehr, Geselligkeit und Einsamkeit leitet Kassner die allgemeine Aussage ab: »Der Dilettant ist meist gar nicht sinnlich oder doch von malheureuser Sinnlichkeit.«142 Damit ist eine zentrale Opposition, in die der Dilettantismus um 1900 vielfach eingespannt wird, markiert. Wie um 1800 geht es um die anthropologische Frage nach dem Wechselspiel von Sinnlichkeit und Verstand, anders als um 1800 wird ›Dilettantismus‹ nicht an das ästhetische Paradigma mit den Parametern ›Empfindungskraft‹ bzw. ›Empfindungsfähigkeit‹, sondern an das medizinische Paradigma mit den Parametern ›Nervosität‹ bzw. ›Neurasthenie‹ und ›Hysterie‹143 angebunden.144 Nicht mehr eine hypertrophe Einbildungskraft ist die dem Di141 Kassner (Anm. 90). S. 28. 142 Ebd. S. 61. 143 Vgl. zum entsprechenden Diskurs die Beiträge in: Maximilian Bergengruen, Klaus Müller-Wille und Caroline Pross (Hg.): Neurasthenie. Die Krankheit der Moderne und die moderne Literatur. Freiburg i.Br. 2010. 144 Im Bereich der Literatur lotet beispielsweise Thomas Mann in Tonio Kröger auf sehr differenzierte Weise den Zusammenhang von Künstlerschaft bzw. Dilettantismus und Nervenkrankheiten aus. Es ist der Künstlererzählung Tonio Kröger u. a. darum zu tun, eine durch Nervenreizung gerade begünstigte künstlerische Sensibilität von dilettantischer Empfindung abzugrenzen. Der Erzähler stellt fest: »Aber in dem Maße, wie seine [= Tonio Krögers] Gesundheit geschwächt ward, verschärfte sich seine Künstlerschaft, ward wählerisch, erlesen, kostbar, fein, reizbar gegen das Banale und aufs Höchste empfindlich in Fragen des Taktes und Geschmacks.« (Thomas Mann: Tonio Kröger. In: Thomas Mann. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. und textkritisch durchgesehen von Terence Reed. 2. Auflage. Frankfurt/M. 2008. S. 243–318. [= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Bd. 2, 1]. Hier : S. 265.) Und die Figur Tonio Kröger selbst vertritt die Ansicht, dass »der ein Stümper ist, der glaubt, der Schaffende dürfe empfinden. Jeder echte und aufrichtige Künstler lächelt über die Naivetät dieses Pfuscher-Irrtums […]. Das Gefühl, das warme, herzliche Gefühl ist immer banal und unbrauchbar, und künstlerisch sind bloß die Gereiztheiten und kalten Ekstasen unseres verdorbenen, unseres artistischen Nervensystems. […] Es ist aus mit dem Künstler, sobald er Mensch wird und zu empfinden beginnt.« (ebd. S. 270f.) Mit dem »artistischen Nervensystem[…]« werden die Nerven zum künstlerischen Paradigma erhoben, allerdings ist dieses in Krögers Sicht »verdorben[…]« (ebd.). Häufig verhandelt Thomas Mann Dilettantismus als Ausdruck eines ungelösten Konflikts zwischen Bürger- und Künstlerdasein: Tonio Kröger ist ein »Bürger, der sich in die Kunst verirrte, ein Boh8mien mit Heimweh nach der guten Kinderstube, ein Künstler mit schlechtem Gewissen« (ebd. S. 317), der »in allem Künstlertum, aller Außerordentlichkeit und allem Genie etwas tief Zweideutiges, tief Anrüchiges, tief Zweifelhaftes erblick[t]« (ebd.). Diese beiden Aspekte zusammengenommen, lässt sich die These formulieren, dass bei Thomas Mann eine Physiologisierung nicht nur der Künstlerschaft und des Dilettantismus, sondern auch der Bürgerlichkeit stattfindet. Für weitere Deutungen von Tonio Kröger unter dem Fokus ›Dilettantismus‹ vgl. Michael Wieler : Dilettantismus – Wesen und Geschichte. Am Beispiel von Heinrich und Thomas Mann. Würzburg 1996. v. a. S. 387 und Paolo Panizzo: Ästhetizismus und Demagogie. Der Dilettant in Thomas Manns Frühwerk. Würzburg 2007. v. a. S. 155.

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lettantismus korrespondierende pathologische Erscheinung, sondern überreizte Nerven sind es. Während Kassner mit der Geselligkeit, dem Englandbezug und dem virtuoso-Konzept (dorthin zielt der Verweis auf den ›Klub‹145) eine im Dilettantismusdiskurs schon lange etablierte Tradition aufgreift,146 wird über den Frankreichbezug auf jüngere Positionen bzw. Theorien zum Dilettantismus verwiesen. Wesentlich geprägt wurde die Dilettantismusdiskussion der Jahrhundertwende von Frankreich ausgehend durch Paul Bourgets Essais de psychologie contemporaine von 1881/82.147 In diesen Psychologische[n] Abhandlungen über zeitgenössische Schriftsteller setzt sich Bourget u. a. mit Flaubert, Stendhal und Baudelaire auseinander. Explizit dem Dilettantismus gewidmet ist ein mit »Du dilettantisme« / »Über den Dilettantismus« überschriebener Passus im Kapitel über Ernest Renan. Darin stellt Bourget fest, »wie sehr der Dilettantismus […] unserer Zeit wirklich im Blute liegt«148. Die Mentalität seiner Zeit steht nach Bourget grundsätzlich im Zeichen des Dilettantismus. Und das wesentliche Merkmal eines solchen psychologisch gefassten Dilettantismus ist seiner Ansicht nach Skeptizismus. Bourget definiert »Dilettantismus« als eine »geistige Haltung«, die sich in dem Wunsch äußert, diverse Lebensstile auszuprobieren und sich vielerlei Neigungen hinzugeben: Der Dilettantismus ist nichts weiter als eine geistige Haltung; sie zeichnet sich durch hohe Intelligenz und tiefe geistige Begehrlichkeit aus und zieht uns abwechselnd zu verschiedenen Lebensformen hin; sie verleitet uns, sich in diese hineinzuversetzen, ohne uns daran zu verlieren.149 145 Die »Society of Dilettanti« ist 1734 in London gegründet worden. Vgl. Vaget: Der Dilettant (Anm. 4). S. 139. 146 Zur Geschichte des virtuoso-Konzepts vgl. Elisabeth Strauß: Zwischen Originalität und Trivialität. Die Rolle der virtuosi für das Wissenschaftsprogramm der Royal Society. In: dies. (Hg.): Dilettanten und Wissenschaft. Zur Geschichte und Aktualität eines wechselvollen Verhältnisses. Amsterdam/Atlanta 1996. S. 69–82. Marie-Theres Federhofer hat das virtuoso-Konzept bei Shaftesbury aufgearbeitet und Bezugnahmen auf Shaftesbury in der deutschen Tradition – z. B. bei Johann Heinrich Merck und Theodor Fontane – ausgeleuchtet. Vgl. Federhofer: »Moi simple amateur« (Anm. 5). S. 30f. und S. 37 sowie die Kapitel »›Kunst des Untergangs‹: Das Virtuoso-Konzept in Shaftesburys Characteristics«, ebd. S. 104–148 und »Gelehrte und Virtuosen. Zur Virtuoso-Diskussion in der deutschen Aufklärung im Kontext der Gelehrsamkeitskritik«, ebd. S. 149–189. 147 Bei Simone Leistner ist nachzulesen, dass Bourgets Essais die europaweite Formulierung eines neuen Dilettantismusbegriffs »ausgelöst« haben. Leistner (Anm. 5). S. 80. 148 Paul Bourget: Psychologische Abhandlungen über zeitgenössische Schriftsteller. Übersetzt von A. Köhler. Minden 1903. S. 61. 149 Im Original: »C’est beaucoup moins une doctrine qu’une disposition de l’esprit, trHs intelligente / la fois et trHs voluptueuse, qui nous incline tour / tour vers les formes diverses de la vie et nous conduit / nous prÞter / toutes ces formes sans nous donner / aucune.« Paul Bourget: Essais de psychologie contemporaine. Paris 1983. S. 59. Ich zitiere oben im Text Hans Rudolf Vagets deutsche Übersetzung dieses Passus. Sie ist nachzulesen in: Hans

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Als eine »geistige Haltung« ist Dilettantismus nicht der Sinnlichkeit zuzuschlagen (allenfalls ist von ›geistiger Begehrlichkeit‹ die Rede). Entsprechend codiert Bourget auch den dilettantischen Genuss zu einer intellektuellen Kategorie um: »Sympathie würde dafür [= das Sich-Versetzen in diverse Lebensformen] nicht genügen, vielmehr ist dazu ein verfeinerter Skeptizismus, verbunden mit der Kunst, den Skeptizismus in ein Werkzeug des Genusses zu verwandeln, notwendig.«150 Als Kehrseiten dieses ausprobierenden, hochflexiblen Dilettantismus macht Bourget die Willensschwäche und die Handlungsunfähigkeit aus.151 Er stuft den Dilettantismus im Rahmen einer allgemeinen Zeit- und Zivilisationskritik als eine Form der Dekadenz ein.152 In den VerRudolf Vaget: Dilettantismus als Politikum: Wagner, Hitler, Thomas Mann. In: Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 369– 385. Hier: S. 375. 150 Bourget: Psychologische Abhandlungen (Anm. 148). S. 52. Bourget schließt an: »Der Dilettantismus wird alsdann zu einer sinnreichen Wissenschaft der intellektuellen und sentimentalen Metamorphose.« Ebd. 151 Die wohl eingehendste literarische Rezeption Bourgets in Deutschland findet sich bei Hugo von Hofmannsthal (vgl. dazu Gregor Streim: Das ›Leben‹ in der Kunst. Untersuchungen zur Ästhetik des frühen Hofmannsthal. Würzburg 1996. u. a. S. 87.). Hofmannsthal schreibt nicht nur Das Tagebuch eines Willenskranken, er diagnostiziert auch für seine Gegenwart: »Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdopplung.« (Hugo von Hofmannsthal: Gabriele D’Annunizo [1893]. In: Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Bd. 8: Reden und Aufsätze I. 1891–1913. Hg. von Bernd Schoeller. Frankfurt/M. 1979. S. 174–184. Hier: S. 174f.) Den Protagonist_innen von D’Annunizos Novellen attestiert Hofmannsthal »jene unheimliche Willenlosigkeit, die sich nach und nach als Grundzug des in der gegenwärtigen Literatur abgespiegelten Lebens herauszustellen scheint, jenes Erleben des Lebens nicht als eine Kette von Handlungen, sondern von Zuständen.« (ebd. S. 177) Und auch Claudio, der Protagonist in Hofmannsthals Einakter Der Tor und der Tod monologisiert in ähnlicher, zusätzlich die Sprachkrise der Moderne miteinbeziehender Weise: »Was weiß ich denn vom Menschenleben? // Bin freilich scheinbar drin gestanden, // Aber ich hab es höchstens verstanden, // Konnte mich nie darein verweben. // Wo andre nehmen, andre geben, // Blieb ich beiseit, im Innern stummgeboren«. (Hugo von Hofmannsthal: Der Tor und der Tod. In: Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 3: Dramen 1. Hg. von Götz Eberhard Hübner, Klaus-Gerhard Pott und Christoph Michel. Frankfurt/M. 1982. S. 61–80. Hier: S. 64f.) Gisa Briese-Neumann erkennt an der Figur Claudio die »Hauptkriterien der Typologie des fin de siHcle-Dilettanten« (Gisa Briese-Neumann: Ästhet – Dilettant – Narziss. Untersuchungen zur Reflexion der fin-de-siHcle-Phänomene im Frühwerk Hofmannsthals. Frankfurt/M. u. a. 1985. S. 137.), nämlich »Analysesucht und hypertrophe Reflexion sowie die daraus resultierende, jedoch aus Willensschwäche ohne Folgeentscheidungen bleibende Skepsis« (ebd. S. 135). Als »den Doppelcharakter des Dilettantismus« beim frühen Hofmannsthal macht Gregor Streim den »überraschenden Zusammenhang […] zwischen ästhetischer Sensibilität und psychologischer Selbstanalyse« aus (Streim, S. 89). »Im Unterschied zum Künstler sucht der Dilettant nach Erkenntnis und verfährt dabei analytisch.« Ebd. 152 Als Vertreter dieses dekadent geprägten Dilettantischen nennt Bourget Alkibiades, Cäsar, Leonardo da Vinci, Montaigne und Shakespeare. Vgl. Bourget: Psychologische Abhandlungen (Anm. 148). S. 52f. Vgl. dazu auch Tiedemann-Bartels (Anm. 140). S. 361 und

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hältnisbestimmungen von ›Dilettantismus‹ und ›Dekadenz‹ zeigt sich eine zentrale Ambivalenz, die den Dilettantismusdiskurs um 1900 auszeichnet: Wird ›Dekadenz‹ im Sinne einer Niedergangssemantik negativ gefasst und ›Dilettantismus‹ entsprechend zu einem Symptom des kulturellen Verfalls erklärt, wird eine Position wider den Dilettantismus bezogen. Ist ›Dekadenz‹ – etwa im Verständnis des Fin de siHcle – positiv konnotiert und wird ›Dilettantismus‹ zum Orientierungspunkt einer affirmativen Bezugnahme erkoren, ist dies Ausdruck einer Positionierung für den Dilettantismus. Repräsentativ vertreten werden diese beiden Pole im Dilettantismusdiskurs des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts von Friedrich Nietzsche und Charles Baudelaire. Diese beiden Namen zeigen schon an, dass ›Dilettantismus‹ im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem wesentlichen Integral kulturtheoretischer Abhandlungen und literarischer Darstellungen von enormer Wirksamkeit und dauerhaft anhaltender Nachwirkung wird. ›Dilettantismus‹ ist also gleichermaßen eine Reflexionskategorie der Moderne im Sinne einer (zeitgenössischen) Selbstdeutung und ein Schlüssel für eine (rückblickende) Analyse von Modernephänomen. Friedrich Nietzsche übt wie Paul Bourget Kritik an der Willensschwäche, die er ebenfalls als Verfallserscheinung der modernen Kultur einstuft.153 Außerdem ist sich Nietzsche mit Bourget darin einig, dass Dilettantismus als ein unsicheres, experimentelles Ausprobieren verschiedener Lebensformen zu definieren ist.154 Er verengt das Bourgetsche Konzept von Dilettantismus allerdings auf »den Krankheitsbefund der Kultur.«155 D. h. Nietzsche verknüpft den Dilettantismus mit einem negativen Verständnis von Dekadenz, er positioniert sich wider den Dilettantismus.156 In seiner Schrift Richard Wagner in Bayreuth bezieht Nietzsche seine Kulturdiagnose explizit auf Künstlerschaft und prägt zu diesem Zweck den Neologismus »Dilettantisieren«. Er schreibt, Wagner charakterisiere ein Geist der Unruhe, der Reizbarkeit, eine nervöse Hast im Erfassen von hundert Dingen, ein leidenschaftliches Behagen an beinahe krankhaften hochgespannten Stimmungen, ein unvermitteltes Umschlagen aus Augenblicken seelenvollster Ge-

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Cathrine Theodorsen: Leopold Andrian, seine Erzählung »Der Garten der Erkenntnis« und der Dilettantismus in Wien um 1900. Hannover-Laatzen 2006. S. 36. In ihrer Kritik an der Willensschwäche richten sich Bourget und Nietzsche gleichermaßen gegen Arthur Schopenhauer und dessen Lehre der Willensverneinung. Trotz dieser gemeinsamen Gegnerschaft und der vordergründigen Verwandtschaft beider Positionen unterscheiden sich Bourget und Nietzsche dahingehend voneinander, dass Bourget »vornehmlich einen Hedonismus kritisiert, der aus einer durch den Zivilisationsprozeß verursachten psychisch-physischen Degeneration hervorgegangen sei«, während Nietzsche »die Krankheit des Willens in einer rationalistischen Geisteshaltung« vermutet. Streim (Anm. 151). S. 70. Vgl. Vaget: Der Dilettant (Anm. 4). S. 152. Tiedemann-Bartels (Anm. 140). S. 366. Zu »Nietzsches Kritik des Dilettantismus und der D8cadence« vgl. das so überschriebene Kapitel in Streim (Anm. 151). S. 57–75.

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müthsstille in das Gewaltsame und Lärmende. Ihn schränkte keine strenge erb- und familienhafte Kunstübung ein: die Malerei, die Dichtkunst, die Schauspielerei, die Musik kamen ihm so nahe als die gelehrtenhafte Erziehung und Zukunft; wer oberflächlich hinblickte, mochte meinen, er sei zum Dilettantisieren geboren.157

Wagners ›dilettantisierendes‹ Ausprobieren diverser Kunstformen stellt einen Spezialfall des dilettantischen Ausprobierens diverser Lebensformen dar. Des Weiteren unterstellt Nietzsche Wagner eine – wie Kassner später formulieren wird – »malheureuse[…] Sinnlichkeit«158 : Die Bestimmung zum ›Dilettantisieren‹ rührt von einer (angeborenen) pathologischen Nervenstimmung her. Diese Diagnose gilt nicht für Wagner individuell und singulär, Wagner ist vielmehr als Inkarnation moderner Dekadenzerscheinungen überhaupt zu betrachten. Dies wird deutlich, wenn Nietzsche Wagners »Dilettantisieren« mit Hysterie, Neurasthenie, Weiblichkeit und spezifisch moderner Künstlerschaft159 in Verbindung bringt: Wagners Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bühne bringt – lauter Hysteriker-Probleme –, das Convulsivische seines Affekts, seine überreizte Sensibilität, sein Geschmack, der nach immer schärfern Würzen verlangte, seine Instabilität, die er zu Principien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, diese als physiologische Typen betrachtet ( – eine Kranken-Galerie! – ): Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keine Zweifel lässt. Wa g n e r e s t u n e n 8 v r o s e . […] Gerade, weil Nichts moderner ist als diese Gesammterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit der nervösen Maschinerie, ist Wagner der m o d e r n e K ü n s t l e r par excellence, der Cagliostro der Modernität.160 157 Friedrich Nietzsche: Richard Wagner in Bayreuth (= Unzeitgemäße Betrachtungen IV). In: Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Vierte Abteilung, Erster Band: Richard Wagner in Bayreuth, Nachgelassene Fragmente 1875–1876. Berlin 1967. S. 3–82. Hier: S. 7f. 158 Wie Anm. 142. 159 Dass Nietzsche mit diesem Ansatz wiederum nicht allein steht, macht der Blick in Rudolf Kassners Schrift Der Dilettantismus deutlich. Dort heißt es zunächst einigermaßen unspezifisch: »[V]iele Menschen, die heute nur noch mehr nervös sind oder an Hysterie leiden, waren früher Dilettanten. Irgendwie.« (Kassner [Anm. 90]. S. 63) Kassner erläutert dann: »[V]iele, die früher für Dilettanten gegolten haben, sind heute krank – ganz entschieden. Allerdings kann man das auch umkehren und sagen, daß die heute so ausgebildete Hypochondrie Dilettantismus ist, der Dilettantismus eines glaubenslosen, mehr um die Zusammenhänge wissenden als zielbewußten Menschen.« Ebd. S. 64. 160 Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. In: Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6: Der Fall Wagner, Götzendämmerung u. a. 2., durchgesehene Auflage. München 1988. S. 9–53. Hier: S. 22f. Richard Wagner ist auch von Thomas Mann in einen Diskussionszusammenhang mit Dilettantismus gebracht worden. In seinem Essay Leiden und Größe Richard Wagners attestiert Mann Wagner einen »mit höchster Willenskraft und Intelligenz monumentalisierte[n] und ins Geniehafte getriebene[n] Dilettantismus« (Thomas Mann: Leiden und Größe Richard Wagners. In: Thomas Mann. Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 9: Reden und Aufsätze I. Frankfurt/M. 1960. S. 363–426. Hier:

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Dass Richard Wagner zum ›modernen Künstler par excellence‹ erklärt wird, macht überdies deutlich, dass Dilettantismus kein reines »Musikanten-Problem« ist, wie der Untertitel von Der Fall Wagner vielleicht zunächst vermuten lassen könnte. Zum einen ist Dilettantismus nach Nietzsche ein konstitutives psychisches Merkmal von Künstler_innen der Moderne. Zum anderen diskutiert er Dilettantismus auch als – freilich negativ beurteilte – literar-ästhetische Kategorie. Nietzsche selbst lotet die poetologische Dimension eines literarischen ›Dilettantisierens‹ aus, wenn er in Der Fall Wagner fragt: »Womit kennzeichnet sich jede l i t t e r a r i s c h e d8cadence?«161 Nietzsche antwortet unter Rekurs auf Bourgets Definition eines »style de d8cadence«: »Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr.«162 Nietzsche zufolge sind die Souveränität der Worte und die Zerschlagung der Sätze Merkmale der literarischen Dekadenz, mithin sprachliche Indizien einer kulturellen Niedergangserscheinung. Avantgardistische Strömungen wie der Dadaismus oder der Futurismus wiederum erklären befreite Worte, die Zerschlagung der S. 376.). Außerdem ist er der Ansicht: »[D]as Genie Richard Wagners setzt sich aus lauter Dilettantismen zusammen« (ebd. S. 381). Zu Manns Wagner-Essay vgl. Barbara Neymeyr : ›Genialer Dilettantismus‹ und ›philosophische Vereinsamung‹. Zur Außenseiterproblematik in Thomas Manns Erzählung »Der Bajazzo«. In: Michael Braun und Birgit Lermen (Hg.): man erzählt Geschichten, formt die Wahrheit. Thomas Mann – Deutscher, Europäer, Weltbürger. Frankfurt/M. u. a. 2003. S. 139–166. Hier : S. 149. Barbara Neymeyr verdanke ich den Hinweis auf Manns Essay. Vgl. außerdem das entsprechende Kapitel in Panizzo ([Anm. 144]. S. 91–101). In diesem Kontext ist auch auf Thomas Manns Erzählung Der Bajazzo (1897) zu verweisen. Bei der Beschreibung eines Kunsterlebnisses fällt dort die Formel vom »ruchlos genialen Dilettantismus«: »Vor ein paar Stunden noch habe ich mich der Wirkung eines großen Kunstwerkes hingegeben, einer dieser ungeheuren und grausamen Schöpfungen, welche mit dem verderbten Pomp eines ruchlos genialen Dilettantismus rütteln, betäuben, peinigen, beseligen, niederschmettern … Meine Nerven beben noch, meine Phantasie ist aufgewühlt, seltene Stimmungen wogen in mir auf und nieder, Stimmungen von Sehnsucht, religiöser Inbrunst, Triumph, mystischem Frieden […].« (Thomas Mann: Der Bajazzo. In: Thomas Mann. Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. und textkritisch durchgesehen von Terence Reed. 2. Auflage. Frankfurt/M. 2008. S. 120–159. [=Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Bd. 2, 1]. Hier: S. 141.) Barbara Neymeyr vertritt die »These, daß der Bajazzo hier im echohaften Nacherleben einer Wagner-Aufführung schwelgt«. Neymeyr, S. 148. 161 Nietzsche: Der Fall Wagner (Anm. 160). S. 27. 162 Ebd. Ulrich Schulz-Buschhaus hat auf Nietzsches Übernahme von Bourgets Definition des »style de d8cadence« aufmerksam gemacht. Bei Bourget heißt es: »Un style de d8cadence est celui oF l’unit8 du livre se d8compose pour laisser la place / l’ind8pendence de la page, oF la page se d8compose pour laisser la place / l’ind8pendence de la phrase, et la phrase pour laisser la place / l’ind8pendence du mot.« Zit. n. Ulrich Schulz-Buschhaus: Der Tod des »Dilettanten«. Über Hofmannsthal und Paul Bourget. In: Michael Rössner und Birgit Wagner (Hg.): Aufstieg und Krise der Vernunft. Komparatistische Studien zur Literatur der Aufklärung und des Fin-de-siHcle. Wien/Köln/Graz 1984. S. 181–195. Hier: S. 193.

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Syntax und die Außerkraftsetzung der herkömmlichen Sprache gerade zu ihrem poetologischen Programm. Das heißt: Von einer Position Wider den Dilettantismus zu Positionen für den Dilettantismus ist der Weg nicht weit. Anders gesagt: ›Dilettantismus‹ ist nicht im Phänomen zu suchen, sondern in dessen Bewertung. Eine positive Bewertung des Dilettantismus nehmen auch Vertreter der literarischen D8cadence (gemeint ist jetzt die künstlerische Strömung) vor. Sie entwerfen den Dandy als den modernespezifischen Träger des Dilettantischen163 und konzipieren diesen – zu Nietzsches und anderer Missfallen – als eine positiv besetzte Figur.164 Einschlägig bekannt dafür, einen »Gefallen am Verfall«165 zu propagieren, ist Charles Baudelaire. Baudelaire begrüßt das Dekadente und leitet aus ihm eine eigene Ästhetik ab.166 Außerdem stellt er einen engen Zusammenhang zwischen Dekadenz und Dandyismus her.167 Dandys treten nämlich – so zumindest die Beobachtung Baudelaires – »vor allem in Übergangszeiten«168 auf. Den »Dandysmus« erklärt er zum »letzte[n] heroische[n] Sichaufbäumen in Zeiten des Verfalls«169 ; der Dandyismus wird somit zu einem »Verhaltensideal der Dekadenz.«170 Dieses ›letzte heroische Sichaufbäumen‹ besteht interessanterweise darin, dass Dandys »nichts anderes zu tun [haben], als die Idee des

163 Rudolf Kassner reflektiert diese Transformation explizit: »Es ist auffallend, wie viele Dilettanten heute im kosmopolitischen Europa in das Lager der Dandys übergegangen sind. […] [I]ndem der Dilettant in sich geht und sich verinnerlicht, nähert er sich – natürlich nicht dem Künstler, sondern eben dem Dandy. […] [I]m 19. Jahrhundert, da der Individualismus als Sinnesrichtung ganz unvermeidlich wurde, ist […] eine Fusion zu beobachten zwischen dem Dilettanten und dem Dandy.« Kassner (Anm. 90). S. 36f. 164 Vgl. Stanitzek: Poetologien des Dilettantismus (Anm. 4). S. 410. Charles Baudelaire reiht den Dandyismus der Moderne in eine lange Tradition ein: »Der Dandysmus ist […] eine sehr alte Einrichtung, denn schon Cäsar, Catilina, Alkibiades liefern uns auffällige Beispiele« (Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens. In: Charles Baudelaire. Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden. Hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857–1860. Übersetzung von Friedhelm Kemp und Bruno Streiff. München 1989. S. 213–258. [Kapitel IX: Der Dandy. S. 241–245.] Hier : S. 241.). Bourget wiederum, der sich nicht mit Dandyismus beschäftigt, zählt Alkibiades zu den Dekadenz-Dilettanten. Vgl. Anm. 152. 165 Wolfgang Klein: Dekadent/Dekadenz. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 2: Dekadent-Grotesk. Stuttgart/Weimar 2001. S. 1–40. Hier : S. 9. 166 Die »Promotion von Dekadenz zu einem positiv wertenden Stilbegriff« ist im 19. Jahrhundert in Frankreich vollzogen worden und strahlte »von dort am Jahrhundertende in andere europäische Kulturen« aus. Ebd. 167 Vgl. Marie-Theres Federhofer: Dilettant, Dandy und D8cadent: Einleitung. In: dies. und Guri Ellen Barstad (Hg.): Dilettant, Dandy und D8cadent. Hannover-Laatzen 2004. S. 7–15. Hier: S. 8. 168 Baudelaire (Anm. 164). S. 244. 169 Ebd. 170 Federhofer: Dilettant, Dandy und D8cadent (Anm. 167). S. 9.

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Schönen in ihrer Person zu kultivieren«171. Die Leidenschaft des Dandys ist, so Baudelaire, »eine Art Kult seiner selbst«172. Im Dandy als der modern-dekadenten Signatur des Dilettantismus spiegelt sich die kulturpsychologische Ausweitung des Dilettantismusbegriffs wider : Der Dandy steht nicht für einen künstlerischen Dilettantismus im engen Sinn, sondern für die Erweiterung des Felds des Ästhetischen um das eigene Leben. Diese spezifisch moderne Korrelation von Dilettantismus und Lebens-Kunst erklärt auch, weshalb der Moderne-Theoretiker Hermann Bahr Joris Karl Huysmans 1884 erschienenen Roman f rebours (der mit Jean des Esseintes den Inbegriff eines Dandys zum Protagonisten hat) als ein »Handbuch des Dilettantismus«173 bezeichnet. Der Selbstkult, den der Dandy betreibt, und die Rede Bahrs von f rebours als ›Handbuch des Dilettantismus‹ weisen auf zwei zentrale Instrumente zur Analyse von Dilettantismus hin: Wenn der Dandy sich aufwendig pflegt, kleidet, häuslich einrichtet etc. wird die modern-dekadente psychische Konstitution anhand von bestimmten Praktiken greifbar. Kurz: Dilettantismus tritt in Praktiken in Erscheinung. Wenn ein Text als »Handbuch des Dilettantismus« bezeichnet wird, ist damit eine Art Nachschlagewerk gemeint, ein Medium, welches Wissen bzw. Anschauungsmaterial über Dilettantismus bietet. Diesen beiden Aspekten, den – historisch je spezifischen und sehr unterschiedlichen – Praktiken des Dilettantismus und den Konstellationen, in welche Dilettantismus, Wissen, Wissenschaft(en) und Wissensmedien im 18. und 19. Jahrhundert treten, soll nun genauer nachgegangen werden.

II.

Dilettantismus und Wissenschaft(en) im 18. und 19. Jahrhundert: Praktiken und Episteme

Im 18. Jahrhundert ist es die sich formierende Ästhetik, die sich als die Wissenschaft vom Schönen mit Trägern des Dilettantischen intensiv auseinandersetzt. Vorstellungen vom Dilettantischen/Dilettantismus werden dabei zu konstitutiven Elementen bei der Formierung der Wissenschaft ›Ästhetik‹. Blickt man auf die 171 Baudelaire (Anm. 164). S. 240. 172 Ebd. S. 243. Zum »Personenkult«, in dessen Rahmen der Dandy »sich selbst äußerlich sichtbar zum Kunstwerk stilisiert«, vgl. auch Briese-Neumann (Anm. 151). S. 287. Die Forderung, das eigene Leben wie ein Kunstwerk zu gestalten, ist ein Imperativ, der die Diskussion um den Dilettantismus noch 100 Jahre später – wenn auch in anderer Weise – antreiben wird: 1983 setzt sich Thomas Bernhard in Der Untergeher vor dem Horizont von philosophischen Selbstsorgekonzepten, die eine souci de soi propagieren, mit dem Dilettantismus in Gestalt einer Lebenskunst auseinander. 173 Hermann Bahr : Selbstbildnis. Berlin 1923. S. 232.

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parallel sich entwickelnden Naturwissenschaften dieser Zeit, ist ebenfalls eine paradigmatische Konstellation von Wissenschaft und Dilettantismus zu beobachten, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied zur Ästhetik: Während die Beteiligung des Dilettantischen bzw. des Dilettantismus an der Wissenschaft Ästhetik ex negativo über Grenzziehungs- und Ausschlussprozesse erfolgt, ist für die sich formierenden modernen Naturwissenschaften eine aktive Beteiligung von Dilettant_innen im Sinne von protowissenschaftlichen Leistungen zu verzeichnen. Anders als der künstlerische, firmiert der naturkundliche Dilettant unter der Signatur ›Amateur‹ bzw. ›Amateurwissenschaftler‹.174 Die Verfasser der Schemata Über den Dilettantismus fordern die »Ausübung der Kunst nach Wissenschaft«175. Üben Künstler ihre Kunst nach den Maßstäben einer Wissenschaft aus, bedeutet dies, dass sie sich auf allgemeine Prinzipien stützen, bestimmte Methoden anwenden und festen disziplinären Grundsätzen folgen.176 Entsprechend ist dem Widerpart einer solchen, an ›Wissenschaftlichkeit‹ orientierten Kunst, »dem Dilettantism[,] [nichts] mehr entgegen als feste Grundsätze und strenge Anwendung derselben.«177 Dilettantismus ist, so scheint es, in das wissenschaftliche Paradigma der Ästhetik schlechterdings nicht integrierbar. Flexibler zeigen sich, wie bereits angedeutet, die Naturwissenschaften. Interessanterweise ist es Goethe selbst, an dessen Person sich die beiden unterschiedlichen Konstellationen, in welche Dilettantismus und Ästhetik bzw. Dilettantismus und Naturwissenschaft am Ende des 18. Jahrhunderts treten, zeigen lassen. ›Wissenschaft exklusive Dilettantismus‹ propagiert Goethe 174 Amateurwissenschaft kann definiert werden als »nichtprofessionelle Beschäftigung mit wissenschaftlichen Fragen, die sich zumindest an Teilaspekten wissenschaftlicher Methodik oder Thematik orientiert, diese aber nicht primär für den akademischen Erkenntnisfortschritt, sondern zum privaten Interesse nutzt.« Andreas W. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914. Oldenbourg 1998. S. 104. 175 Goethe: Über den Dilettantismus (Anm. 12). S. 778. 176 Symptomatisch für die Auseinandersetzung mit diesem Thema sind Aufsätze Goethes wie Vorteile, die ein junger Maler haben könnte, der sich zuerst bei einem Bildhauer in die Lehre gäbe oder Kunst und Handwerk. 177 Goethe: Über strenge Urteile (Anm. 27). S. 556. Allerdings konzediert Goethe an anderer Stelle, dass angehende Künstler seiner Zeit nicht die nötigen Voraussetzungen für eine professionelle Ausbildung nach wissenschaftsgemäßen Maßstäben vorfinden: »Nirgends in Deutschland ist ein Mittelpunkt gesellschaftlicher Lebensbildung, wo sich Schriftsteller zusammen fänden und nach Einer Art, in Einem Sinne, jeder in seinem Fache sich ausbilden könnten. Zerstreut geboren, höchst verschieden erzogen, meist nur sich selbst und den Eindrücken ganz verschiedener Verhältnisse überlassen, von der Vorliebe für dieses oder jenes Beispiel einheimischer oder fremder Literatur hingerissen; zu allerlei Versuchen, ja Pfuschereien, genötigt, um ohne Anleitung seine eigene Kräfte zu prüfen«. Johann Wolfgang Goethe: Literarischer Sanscülottismus. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771– 1805. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998. S. 319–324. Hier : S. 321.

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als Ästhetiker, ›Wissenschaft inklusive Dilettantismus‹ vertritt er als Naturforscher. Es wäre zu kurz gegriffen, diese Positionen auf den Umstand zurückzuführen, dass Goethe die Ästhetik gewissermaßen professionell und die Naturwissenschaft als Amateur betrieben hat. Goethes Milde dem naturwissenschaftlichen Dilettantismus gegenüber ist nicht in erster Linie als Legitimierung seiner eigenen amateurhaften Forschungstätigkeit interessant,178 sondern als Ausdruck einer allgemeinen epistemischen Situation179 am Ende des 18. Jahrhunderts.180 Im Schlusswort des »Didaktischen Teils« seiner Farbenlehre nimmt Goethe eine Kunst- und Wissenschaftsreflexion vor. Er stellt die »Frage, was kann derjenige, der nicht im Fall ist, sein ganzes Leben den Wissenschaften zu widmen, doch für die Wissenschaften leisten und wirken?«181 Goethes Antwort lautet: Wenn man die Kunst in einem höhern Sinne betrachtet, so möchte man wünschen, daß nur Meister sich damit abgäben, daß die Schüler auf das strengste geprüft würden, daß Liebhaber sich in einer ehrfurchtsvollen Annäherung glücklich fühlten. Denn das 178 Zu Goethes »autorschaftliche[r] Selbstkonstitution als professioneller Dilettant« im West-östliche[n] Divan vgl. Andrea Polaschegg: Doppelter Dilettantismus? Zur Spannung von Poetik und Philologie im deutschen Orientalismus um 1800 und ihrer Auflösung im »West-östlichen Divan«. In: Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 161–183. Hier: S. 178. Goethe stellt dort »sich selbst und seinen orientalistischen Kommentar zum Divan explizit in die Tradition der renommiertesten Dilettanten des Morgenlandes, die sich in der Geschichte Westeuropas finden lassen« (ebd. S. 178). Auch Andrea Polaschegg bindet dies an epistemologische Überlegungen an. Sie spricht von einer »naturwissenschaftlich entwickelte[n] Epistemologie eines programmatischen Dilettantismus« (ebd. S. 177). – Goethes »autobiographische[n] Rückblenden auf das eigene Schaffen« in denjenigen Schriften, die »einen Konnex von Dilettantismus und Naturwissenschaft herstellen lassen«, geht Stefan Blechschmidt nach. Stefan Blechschmidt: Die Geburt der Autobiographie aus dem Geist des Dilettantismus. In: Sabine Schimma und Joseph Vogl (Hg.): Versuchsanordnungen 1800. Zürich/Berlin 2009. S. 143– 155. Hier: S. 144f. 179 Ich folge hier Michel Foucault. Die epistemische Situation definiert jeweils, »von wo aus Erkenntnisse und Theorien möglich […] sind, nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert […], nach welchem […] Apriori im Element welcher Positivität Ideen […] erscheinen, Wissenschaften sich bilden, Erfahrungen sich in Philosophien sich reflektieren, Rationalitäten sich bilden […], um vielleicht sich bald wieder aufzulösen und zu vergehen.« (Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt/M. 1971. S. 24.) Die Episteme stellt die Bedingungen, unter welchen Erkenntnisse möglich und artikulierbar werden, sie bildet »die Konfigurationen […], die den verschiedenen Formen der empirischen Erkenntnis Raum gegeben haben.« Ebd. S. 25. 180 Zu Konstellationen von Poetik und Wissen(schaften) in der Romantik vgl. die Beiträge in: Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004. 181 Johann Wolfgang Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung. Bd. 23, 1: Zur Farbenlehre. Hg. von Manfred Wenzel. Frankfurt/M. 1991. S. 21–294. Hier : S. 292.

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Kunstwerk soll aus dem Genie entspringen. […] Wie aber dennoch aus mancherlei Ursachen schon der Künstler den Dilettanten zu ehren hat, so ist es bei wissenschaftlichen Gegenständen noch weit mehr der Fall, daß der Liebhaber etwas Erfreuliches und Nützliches zu leisten im Stande ist.182

Es fällt auf, dass Goethe bezogen auf »die Kunst« und »das Kunstwerk« von »Meister«, »Schüler«, »Genie«, »Künstler« und »Dilettanten« spricht; bezogen auf »wissenschaftliche[…] Gegenstände[…]« ist dagegen vom »Liebhaber« die Rede.183 An dieser Wortwahl lässt sich – und hier spricht Goethe stellvertretend für den gesamten Diskurs – ablesen, dass die klare Trennlinie, die im Bereich der Ästhetik zwischen Genie/Meister/Künstler und Dilettant_in besteht (oder zumindest postuliert wird), im Bereich der Naturwissenschaften in dieser Schärfe (noch) nicht existiert.184 Mit Blick auf die Naturkunde des späten 18. Jahrhunderts zwischen ›Wissenschaftler‹ und ›Dilettant‹ unterscheiden zu wollen, greift an den tatsächlichen Umständen vorbei.185 Dies ist mit der noch nicht stattgehabten Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Spezialdisziplinen zu begründen.186 Goethes Rede vom naturwissenschaftlichen »Liebhaber« ist das terminologische Zeugnis einer epistemischen Konstellation ›Wissenschaft inklusive Dilettantismus‹. Denn angesichts des etablierten negativen Gepräges, welches das Konzept ›Dilettantismus‹ in der Ästhetik besitzt, sind die Naturforscher daran interessiert, ›ihren‹ Dilettantismus streng von dem Verständnis der Ästhetik zu differenzieren – und auch anders zu bezeichnen. 182 Ebd. S. 292f. 183 Ebd. 184 Vgl. Thomas Bach: Dilettantismus und Wissenschaftsgenese. Prolegomena zu einer wissenschaftshistorischen Einordnung des naturwissenschaftlichen Dilettantismus im 18. Jahrhundert. In: Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 339–352. Hier: S. 340. 185 Vgl. ebd. Während »in der ästhetischen Diskussion ausdifferenziertere Argumentationsmuster« vorlagen und verwendet wurden, war »in den Wissenschaften in jener Zeit eine Vorstellung von Spezialisierung und Professionalisierung, das von Dilettantismus abzugrenzen wäre«, noch eine Leerstelle. Marie-Theres Federhofer : Kleine Spuren. Dilettantismus und Dilettantismusverständnis in Georg Forsters »Ansichten vom Niederrhein«. In: Jörn Garber und Tanja van Hoorn (Hg.): Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissensfeld seiner Zeit. Hannover-Laatzen 2006. S. 197–218. Hier: S. 211. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 186 Das Fehlen einer scharfen Trennlinie zwischen Wissenschaftlern und Amateuren resultiert auch aus dem Fehlen einer klaren Grenzziehung zwischen den einzelnen Disziplinen. Zum Zusammenhang von Disziplinendifferenzierung und Amateurwissenschaft ist nämlich zu bemerken, »daß sich die Wissenschaften für den Amateur als Betätigungsfeld nur anboten, solange sie sich noch nicht als spezialisierte Fachrichtungen etabliert hatten« (Federhofer : »Moi simple amateur« [Anm. 5]. S. 23). Im 18. Jahrhundert ist dies noch nicht der Fall gewesen: Die Naturforscher dieser Zeit sind keine Fachgelehrten gewesen und entziehen sich eindeutigen disziplinären Zuordnungen, wie sie heute üblich sind (z. B. Chemiker, Physiker, Astronom etc.). Vgl. ebd.

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Den Unterschied zwischen der Kunst (mit dem Dilettanten als Träger) und der Wissenschaft (mit dem Liebhaber/Amateur als Träger) sieht Goethe darin, dass die Wissenschaften »weit mehr auf der Erfahrung [ruhen] als die Kunst« und dass »zum Erfahren […] gar mancher geschickt«187 sei. Anders als das Künstlerische werde das Wissenschaftliche »von vielen Seiten zusammengetragen, und kann vieler Hände, vieler Köpfe nicht entbehren.«188 Und anders als für die Kunst, sind der Wissenschaft Neigung und Unzulänglichkeit nicht notwendigerweise abträglich, im Gegenteil: Wohin irgend die Neigung, Zufall oder Gelegenheit den Menschen führt, welche Phänomene besonders ihm auffallen, ihm einen Anteil abgewinnen, ihn festhalten, ihn beschäftigen, immer wird es zum Vorteil der Wissenschaft sein. Denn jedes neue Verhältnis, das an den Tag kommt, jede neue Behandlungsart, selbst das Unzulängliche, selbst der Irrtum ist brauchbar, oder aufregend und für die Folge nicht verloren.189

Von der Idee einer Schwarmintelligenz ausgehend, erklärt Goethe ›selbst das Unzulängliche, selbst den Irrtum‹ als heuristisch wertvoll und die Amateur_innen zu epistemic heros; d. h. er spricht sich dezidiert für die epistemische Konstellation ›Wissenschaft inklusive Dilettantismus‹ aus. Goethe bezieht sich hier positiv auf die Umstände seiner Zeit, denn um 1800 sind Wissenschaftsamateure maßgeblich an der Erweiterung der empirischen Wissensbasis beteiligt gewesen.190 Das Innovative ihrer Rolle bestand darin, durch Sammeln, Beobachten, Beschreiben und Experimentieren die empirischen Grundlagen der sich etablierenden Naturwissenschaften – als Wissenschaften im modernen Sinn – bereitzustellen.191 Für die Zeit um 1800 gilt übergreifend, dass mit Hilfe 187 Goethe: Zur Farbenlehre (Anm. 181). S. 293. (Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.) Zu den Möglichkeiten, die Goethe Amateurwissenschaftler_innen einräumt, und den Grenzen, die er ihnen setzt, vgl. auch Golz (Anm. 13). S. 30. 188 Goethe: Zur Farbenlehre (Anm. 181). S. 293. Die drei wesentlichen Unterscheidungskriterien, die nach Goethe den künstlerischen Dilettantismus vom wissenschaftlichen differenzieren, sind erstens die Wertschätzung der Erfahrung jedes und jeder Einzelnen für die Wissenschaft, zweitens der Nutzen kollektiver Beteiligung für den Wissenschaftsbetrieb und drittens die spezifische Überlieferungssituation der Wissenschaft. Vgl. Blechschmidt (Anm. 178). S. 146. 189 Goethe: Zur Farbenlehre (Anm. 181). S. 293. Verschiedene andere Beispiele für die Auffassung, dass einzig der Irrtum die Produktivität der Wissenschaft garantiere – mit Francis Bacon als prominentestem Vertreter – hat Michael Gamper aufgearbeitet. Vgl. Michael Gamper : Experimentelles Nicht-Wissen. Zur poetologischen und epistemologischen Produktivität unsicherer Erkenntnis. In: ders. (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Göttingen 2010. S. 511–545. Hier: S. 516–519. 190 Vgl. Bach (Anm. 184). S. 350. 191 Vgl. Federhofer: Kleine Spuren (Anm. 185). S. 197. Goethe selbst »häufte über 9000 Drucke und Illustrationen, etwa 4500 Gemmen, etliche Gemälde und Plastiken, 8000 Bücher, 341 Kisten mit Manuskripten, ein Kabinett mit physikalischen Instrumenten sowie osteologische, botanische und mineralogische Sammlungen an.« Ernst P. Hamm: Goethes Sammlungen auspacken. Das Öffentliche und das Private im naturgeschichtlichen Sammeln. In:

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der Arbeit von Amateuren noch vor der (institutionellen) Konstitution der Wissenschaften protowissenschaftliche, auf Datensammlung und -bearbeitung beruhende Verfahren entwickelt worden sind.192 Goethe zufolge gibt es »niemand[en], der nicht seinen Beitrag den Wissenschaften anbieten dürfte«, und auch »Frauen, Kinder sind fähig, uns lebhafte und wohlgefaßte Bemerkungen mitzuteilen.«193 Dass auch Frauen und Kindern zugestanden wird, sich an der Gegenstandserschließung und Paradigmatisierung eines wissenschaftlichen Gebiets aktiv zu beteiligen,194 markiert überdies eine Differenz in Goethes Einschätzung von naturforschenden Amateurinnen und künstlerischen Dilettantinnen. Während in den Schemata Über den Dilettantismus »Frauenzimmergedichte« als »Impudenz«195, als Unverschämtheit, verurteilt werden, sind in der Naturkunde »lebhafte und wohlgefaßte Bemerkungen«196 von Frauen sehr willkommen. Goethes Formulierung weist offensichtlich auf eine ästhetische Dimension in diesem ›wohlgefaßt[en]‹ weiblichen Amateurtum – und nicht zuletzt auf eine Poesie des Wissens – hin. Die Naturwissenschaften dürfen Frauen mit einer Art künstlerischen Dilettantismus bereichern; das bedeutet, dass auch in geschlechtsspezifischer Hinsicht von einer ›Wissenschaft inklusive Dilettantismus‹ zu reden ist. Damit positioniert sich Goethe gegen seinen Freund Schiller, der ja der Meinung ist, »[d]as andre Geschlecht kann und darf, seiner Natur und seiner schönen Bestimmung nach, mit dem Männlichen nie die Wissenschaft […] teilen.«197 Diese beiden unterschiedlichen Ansichten198 machen deutlich, dass ›Dilettantismus‹ in epistemologisch-wissenschaftspraktischer Hinsicht (vertreten hier durch Goethe) grundsätzlich anders gefasst wird/ werden kann als in anthropologisch-ästhetischer Hinsicht (vertreten hier durch Schiller) – und dies gilt nicht nur in Bezug auf die Kategorie Geschlecht. Während im 18. Jahrhundert in der Ästhetik und Anthropologie Dispositionen bzgl. Geschmack, Empfindungsfähigkeit und Einbildungskraft im Fokus stehen, geht

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Anke te Heesen und E. C. Spary (Hg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. Göttingen 2001. S. 85–114. Hier: S. 85. Vgl. Federhofer : Kleine Spuren (Anm. 185). S. 216. Zur »subversiv-emanzipatorische[n] Stoßrichtung«, die dem »protowissenschaftliche[n] Habitus« der Amateure eignet, weil durch ihn »hierarchische Strukturen im Bereich der Gelehrsamkeit umbewertet« werden, vgl. ebd. S. 217. Goethe: Zur Farbenlehre (Anm. 181). S. 293. Zum Zusammenhang zwischen Dilettantismus und Wissenschaftsgenese vgl. Bach (Anm. 184). S. 352. Wie Anm. 102. Wie Anm. 193. Wie Anm. 105. Den Briefwechsel Goethes und Schillers hat in dieser Hinsicht Rolf-Peter Janz untersucht. Vgl. Rolf-Peter Janz: Kontroversen um den Dilettantismus. In: Bernhard Fischer und Norbert Oellers (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Berlin 2011. S. 137– 148.

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es der naturwissenschaftlichen Epistemologie um Praktiken wie Sammeln, Beobachten, Beschreiben und Experimentieren.

II.1.

Sammeln

Der Praktik ›Sammeln‹ kommt in der komplexen Gemengelage von wissenschaftlichem und künstlerischem Dilettantismus eine besondere Rolle zu, denn sie gehört beiden Sphären an. Im Bereich der Kunst ist das Sammeln die Praktik des Liebhabers, der sich mit dem Kunstgenuss zufrieden gibt. Das Sammeln ist im Paradigma ›künstlerischer Dilettantismus‹ zu verorten, erfährt als Praktik des Liebhabers – sprich: des positiv konnotierten Dilettanten, der sich nicht zu eigener Produktion verleiten lässt – jedoch keine Verurteilung. Das liebhaberische Sammeln, das meist ein Kunstsammeln ist, steht in der Tradition des adligen Dilettierens199 und ist als literarisches Motiv beispielsweise in Goethes Briefnovelle Der Sammler und die Seinigen prominent geworden. In diesem Text widmet sich ein Dilettant der alten Tradition liebhaberisch und kenntnisreich seiner geerbten Gemäldesammlung,200 zeigt aber keine eigene künstlerische Ambition. Sein Interesse gilt der in den Bildnissen fixierten Familientradition;201 199 In fürstlichen Erziehungsinstruktionen wird immer wieder betont, wie nützlich neben dem Sammeln auch praktische Kenntnisse in Zeichnen, Malerei, Architektur, Drechseln, Goldschmiede- und Stuckarbeiten seien (vgl. Alexander Rosenbaum: Fürstliche Dilettanten. Der König als Künstler. In: Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 233–256. Hier: S. 239.). Adliges Dilettieren ist jedoch nicht nur eine Angelegenheit der Muße gewesen, sondern gehörte auch praktisch zur Regentschaft: »Praktische Kunstausübung zählte seit Jahrhunderten zum integralen Bestandteil regentschaftlicher Verpflichtungen, sei es im Rahmen der militärischen oder kunstkennerschaftlichen Ausbildung, der Wahrnehmung bauherrlicher Aufgaben oder dem Drechseln als nobler Form des rekreativen Zeitvertreibs.« (ebd. S. 234) Fürstlicher Dilettantismus galt also »nicht nur als ein Gegenstand nobler Rekreation sowie Ausweis persönlichen Geschmacks und Geschicks, sondern zudem als ein Mittel der Diplomatie, der Machtausübung bzw. der Kompensierung verlorener Machtfülle.« Ebd. S. 248. 200 Die geerbte Liebhaber-Sammlung ist vom Onkel des Sammlers begründet worden und ist aufs Engste mit dem Adel verknüpft: »Meines Vaters Bruder […] kannte fast alle Fürsten seiner Zeit und hatte durch die Geschenke, die mit ihren Bildnissen in Emaille und Mignatur verziert waren, eine Liebhaberei zu solchen Kunstwerken gewonnen.« Johann Wolfgang Goethe: Der Sammler und die Seinigen. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771– 1805. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998. S. 676–733. Hier : S. 689. 201 Der Sammler ist der Ansicht: »Jeder fühlende, wohlhabende Mann sollte sich und seine Familie, und zwar in verschiedenen Epochen des Lebens, malen lassen. […] [M]an könnte auch alle seine guten Freunde um sich her versammeln, und die Nachkommen würden für diese Gesellschaft noch immer ein Plätzchen finden.« (ebd. S. 680) Auf den Zusammenhang von (Gemälde)Sammlung, Erbe und Generation, der auch in Adalbert Stifters Nachkommenschaften und Joris-Karl Huysmans f rebours – um Texte zu nennen, die für den Di-

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gegen den Verfall des Sammelns zu einer breiten, konsumistischen Modeerscheinung im Sinne einer »allgemeine[n] Liebhaberei aller Nationen«202 verwehrt er sich. Mit der Auflösung der ständischen Ordnung verliert das Sammeln als adlige Praktik des kunstbezogenen Dilettantismus an Relevanz.203 Damit geht parallel das Erstarken des amateurhaften Sammelns von naturwissenschaftlich relevanten Gegenständen einher.204 Dies ist ein wichtiger Befund, denn er markiert eine zentrale Transformation, die sich im Dilettantismusdiskurs vom ausgehenden 18. bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert vollzieht. Naturwissenschaftliche Praktiken (wie Sammeln, Musealisieren oder Experimentieren) verdrängen das aus psychischen Dispositionen (wie Überempfindung, Selbsttäuschung, hypertrophe Einbildungskraft) hergeleitete künstlerische Scheitern als Erscheinungsweisen des Dilettantismus. Diesen Prozess reflektiert – auch und vor allem – die Literatur. Richtet sich das Sammeln als Praktik des Dilettantismus im 19. Jahrhundert verstärkt auf Naturgegenstände und/oder Kuriositäten, weicht auch die bis dahin favorisierte Kunstsammlung (proto)wissenschaftlichen205 und/oder kuriosen Sammlungen.206 Dass das Sammeln von der Renaissance bis in die Mo-

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lettantismusdiskurs relevant sind – eine Rolle spielt, kann hier nur hingewiesen werden. Mehr nachzulesen gibt es u. a. in: Walter Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln. In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Bd. 4, 1. Hg. von Tillman Rexroth. Frankfurt/M 1972. S. 388–396. Hier: S. 395 und Ulrike Vedder : Majorate. Erbrecht und Literatur im 19. Jahrhundert. In: Sigrid Weigel, Ohad Parnes, Ulrike Vedder und Stefan Willer (Hg.): Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie. München 2005. S. 91–107. Goethe: Der Sammler und die Seinigen (Anm. 200). S. 678. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lösten die Sammlungen von bürgerlichen Kunstliebhabern die fürstlichen Kunst- und Wunderkammern ab. Vgl. Patrick MauriHs: Das Kuriositätenkabinett. Köln 2002. S. 66. Vgl. ebd. S. 182, Federhofer : »Moi simple amateur« (Anm. 5). S. 97 sowie Jochen Brüning: Der Teil und das Ganze – Motive einer Ausstellung. In: Horst Bredekamp, Jochen Brüning und Cornelia Weber (Hg.): Theatrum naturae et artis – Theater der Natur und Kunst. Wunderkammern des Wissens. Essays. Berlin 2000. S. 20–30. Hier: S. 24. Auch die Naturkundler des 18. Jahrhunderts haben (proto)wissenschaftliche Sammlungen zusammengetragen (vgl. z. B. Anke te Heesen: Vom naturgeschichtlichen Investor zum Staatsdiener. Sammler und Sammlungen der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin um 1800. In: dies. und E. C. Spary (Hg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. Göttingen 2001. S. 62–84 und das Kapitel »Streifzüge im eigenen Land. Zu einigen Aspekten des Sammelns« in Federhofer: »Moi simple amateur« [Anm. 5]. S. 93–103); der literarische Dilettantismusdiskurs thematisiert diese Art Sammlung jedoch erst verstärkt im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte der Kuriositätenkabinette und Wunderkammern vgl. den mit vielen Illustrationen versehenen Band von Patrick MauriHs (Anm. 203). Kuriositätenkabinette und Wunderkammern sind in erster Linie Phänomene des Barock (vgl. ebd. S. 7). Im 19. Jahrhundert sind die großen (fürstlichen) Sammlungen aufgelöst worden, die Objekte gingen in spezialisierte Einrichtungen über : Die naturalia wurden Naturkundemuseen übergeben, die artificialia wurden von nun an in Kunstgalerien ausgestellt (vgl. ebd. S. 184).

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derne durchgehend eine von Liebhabern bzw. Amateuren getragene Praktik ist und sich auf Kunst und (Proto)Wissenschaft gleichermaßen bezieht, unterstreicht die paradigmatische Relevanz des Sammelns für den Dilettantismusdiskurs. Dies gilt aus mehreren Gründen: Eine Sammlung ist zu definieren als ein »zugleich gezieltes und kontingentes Resultat einer wissenschaftlichen und kulturellen Praxis«207. Die (relative) Kontingenz des Sammelns lässt also erstens Raum für den »Irrtum«208 des Amateurs; in dieser Hinsicht folgt das Sammeln einer ›Wissenschaft inklusive Dilettantismus‹. Als dem künstlerischen Dilettantismus systematisch verwandt erweist sich das Sammeln zweitens, wenn ihm attestiert wird, unter einer grundsätzlichen Spannung von Ernst und Spiel zu stehen.209 In einem »ästhetische[n] Vergnügen an seltenen und merkwürdigen Gegenständen«210 ist schließlich drittens die Gemeinsamkeit bzw. Schnittstelle von Kunst-, Natur- und Kuriositätensammlungen zu sehen. Diese grundsätzliche Affinität von Liebhaberei bzw. Amateurwissenschaft und der Praktik ›Sammeln‹ realisiert sich freilich in unterschiedlichen Graden, sprich: Es kann auf mehr oder weniger dilettantische Weise gesammelt werden. Walter Benjamins These, »das Dasein des Sammlers [sei] dialektisch gespannt zwischen den Polen der Unordnung und der Ordnung«211, ist in dieser Hinsicht zentral. Denn sie verweist auf die epistemischen Bedingungen, unter welchen Sammeln als dilettantisch erscheint oder eben nicht: Bei der Ordnung einer Sammlung geht es immer auch um die Ordnung von Wissen, um Wissensordnungen.212 Unter be-

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Wenn hier vom dilettantischen Sammeln kurioser Gegenstände die Rede ist, sind Sammler wie P8cuchet oder Magister Buchius gemeint, die genau diese Entwicklung ignorieren und unzeitgemäß der vormodernen, nichtwissenschaftlichen Tradition anhängen. Vgl. S. 62 und S. 70f. Anke te Heesen und E. C. Spary : Sammeln als Wissen. In: dies. (Hg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. Göttingen 2001. S. 7–21. Hier: S. 8. Wie Anm. 189. Zum spielerischen Element des Dilettantismus vgl. S. 35 dieser Arbeit. Zum spielerischen Element des Sammelns vgl. Brüning (Anm. 204). S. 25f. Zum Sammler als kindischem Greis vgl. das Kapitel »Der Sammler als Senex puerilis« in MauriHs (Anm. 203). S. 128–183. Zu weiteren historischen und systematischen Aspekten des Sammelns vgl. Christoph Zeller : Magisches Museum. Aspekte des Sammelns in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (2005). S. 74–103. Hier : S. 74–80. Federhofer: »Moi simple amateur« (Anm. 5). S. 96. Benjamin (Anm. 201). S. 389. Der »Anthropologie des Sammelns als einer zum Wesen des Menschen selbst gehörenden Tätigkeit« und der »Soziologie des Sammlers als eines besonderen Menschentypus« geht Justin Stagl nach. Justin Stagl: Homo collector : Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns. In: Aleida Assmann u. a. (Hg.): Sammler – Bibliophile – Exzentriker. Tübingen 1998. S. 37–54. Hier: S. 37. Die Überlegung, dass die »materielle Ordnung der Dinge als technisches Verfahren für die Ordnung des Wissens« maßgeblich sein kann, stellt auch Sigrid Weigel unter Verweis auf ein unveröffentlichtes Manuskript von Alexandre M8traux von 2001 an (vgl. Weigel: Genea-Logik [Anm. 119]. S. 37). Davon, dass sich die Ordnungsgesichtspunkte einer

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stimmten epistemischen Bedingungen können dann beispielsweise die (Un)Fähigkeit des Sammlers/der Sammlerin, Relevanzkriterien in Anschlag zu bringen213 oder über die Schritte ›Selektion‹ und ›Disposition‹ Rechenschaft abzulegen,214 zu Gradmessern für den Dilettantismus ihres Sammelns werden. Dass die Zuschreibung »Dilettantismus« immer auch das Produkt der jeweils gültigen epistemischen Ordnung ist,215 illustriert Gustave Flaubert sehr anschaulich in seinem Dilettantenroman Bouvard et P8cuchet von 1881. P8cuchet, einer der beiden Protagonisten, erscheint als ein dilettantischer Sammler, der inkompetent ist in Sachen Selektion und Disposition.216 In P8cuchets Wohnung sind unsystematisch und heterogen versammelt: Ein Schreibtisch aus Tannenholz […]; und rundherum befanden sich auf Brettchen, auf drei Stühlen, auf dem alten Ledersessel und in den Ecken wirr verstreut mehrere Bände der Encyclop8die Roret, das Handbuch des Magnetiseurs, ein F8n8lon, andere alte Bücher, dazu ein Haufen Papierkram, zwei Kokosnüsse, etliche Medaillen, eine Türkenmütze und Muscheln […].217

Wissensmedien mischen sich hier mit Naturobjekten und Kunsthandwerk, auratisch aufgeladene Gegenstände mit bloßen Nutzgegenständen.218 Dilettantisch ist P8cuchets Sammlung aus dem Grund, dass sie unzeitgemäß naturalia und artificialia nicht voneinander trennt.219 Die Encyclop8die Roret220 zitiert

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Sammlungsordnung »aus der jeweiligen Kultur, [also aus] Kategoriensystemen, die auch in anderen Lebensbereichen wiederkehren«, ergeben, spricht allgemeiner Stagl (Anm. 211). S. 44. Vgl. Wirth: Der Dilettantismusbegriff (Anm. 13). S. 43. Vgl. ebd. Hier gilt ebenfalls, was Michael Gamper für das Nicht-Wissen herausgearbeitet hat. Wie das Nicht-Wissen steht das dilettantische Wissen zwar in einem Verhältnis zum gültigen Wissen, wird jedoch nicht anerkannt und als insuffizient erklärt (vgl. Gamper : Experimentelles Nicht-Wissen [Anm. 189]. S. 511). In den hier zu analysierenden Texten ist die Differenz von anerkanntem Wissen und dilettantischem Wissen primär zeitlich bestimmt: Sammeln und Musealisieren sind dann dilettantisch, wenn sie nach Maßgabe eines veralteten Wissens bzw. einer nicht mehr gültigen Episteme praktiziert werden. Vgl. außerdem das berühmte Beispiel des veralteten chemischen Wissens in Die Wahlverwandtschaften, das ich auf S. 96ff. diskutiere sowie Gamper, S. 511. Auch Dorothee Kimmich spricht in Bezug auf P8cuchets Sammlung von einem »Mangel an Auswahlkriterien« und einer »disparaten Zusammenstellung von Einzelstücken«. Dorothee Kimmich: Wirklichkeit als Konstruktion. Studien zu Geschichte und Geschichtlichkeit bei Heine, Büchner, Immermann, Stendhal, Keller und Flaubert. München 2002. S. 271. Gustave Flaubert: Bouvard und P8cuchet. Roman. [Erstausgabe in Buchform 1881]. Aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara. Berlin 2010. S. 12. Zu diesem Befund kommt auch Dietrich Scholler. Vgl. Dietrich Scholler : Umzug nach Encyclopaedia. Zur narrativen Inszenierung des Wissens in Flauberts »Bouvard et P8cuchet«. Berlin 2002. S. 175f. Vgl. Anm. 206 und Barbara Segelken: Sammlungsgeschichte zwischen Leibniz und Humboldt. Die königlichen Sammlungen im Kontext der akademischen Institutionen. In: Horst Bredekamp, Jochen Brüning und Cornelia Weber (Hg.): Theatrum naturae et artis – Theater

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zwar einen Ordnungsgedanken; dieser wird jedoch direkt wieder unterminiert, da die Enzyklopädie ihr eigenes Ordnungsprinzip eingebüßt hat: Ihre Bände liegen ›wirr verstreut‹ herum.221 Die Natur- und Kunstgegenstände wiederum hat P8cuchet teilweise als Kuriositäten gesammelt und sich dadurch (nolens volens) der sammlerischen Vormoderne mit ihren Wunderkammern verpflichtet.222 Als ein Dilettant im Sammeln erscheint P8cuchet aus dem Grund, dass er seinen Bestand nicht (systematisch) erschließt.223 Damit operiert er jenseits dessen, was zeitgenössisch als Wissenschaftlichkeit anerkannt ist.224 Genauso wenig aber ist er bestrebt, dem alten, auf Universalität beruhenden Sammelmodell zu folgen und seine Objekte zu einem Abbild der Welt im Kleinen zu formieren.225 P8cuchets Sammeln ist an keiner epistemischen Ordnung verbindlich orientiert – es lässt sich sogar als mehr oder weniger strategische Außerkraftsetzung von Wissensordnungen lesen – und daher zum Dilettantismus verurteilt. Allgemein gilt, dass die Literatur des 19. Jahrhunderts eindrücklich Zeugnis ablegt von den sich vollziehenden Umbrüchen in den Wissensordnungen. Zum

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der Natur und Kunst. Wunderkammern des Wissens. Essays. Berlin 2000. S. 44–51. Hier: S. 49. Die Encyclop8die Roret, die mir leider nicht zugänglich war, »regroupa plus de 300 volumes (environ), un par sujet, traitant de l’histoire et de la pratique des m8tiers les plus divers, t. q. astronome ou garde national, 8quarrisseur ou sorcier«. Une brHve histoire des manuels Roret. Le manuel du relieur en premiHre 8dition (1827). In: http://le-bibliomane.blogspot. de/2010/10/une-breve-histoire-des-manuels-roret-le.html. Zugriff am 26. 04. 2015. Bandintern sind Enzyklopädien nicht nur nach dem Alphabet, sondern meist zugleich nach einer Systematik organisiert. Die Probleme, welche die Überlagerung des alphabetischen Ordnungsprinzips mit dem systematischen bereits in den Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts mit sich bringt, werden auf S. 89 noch genauer besprochen werden. Was die spätere Encyclop8die Roret angeht, möchte ich nur darauf hinweisen, dass diese Problematik durch den Einbezug der numerischen Ordnung noch verkompliziert wird: »Quand le cahier ne doit pas Þtre encart8, chaque cahier porte une signature diff8rente, et selon l’ordre num8rique ou alphab8tique«, setzt Louis S8bastien Lenormand, einer der Herausgeber, fest. Louis-S8bastien Lenormand: Encyclop8die-Roret. Nouveau Manuel complet du relieur en tous genres (1830). Zit. n. http://fr.wikisource.org/wiki/Manuel-Roret_du_relieur_-_P.I_ Brochage#CHAPITRE _II._Assemblage. Zugriff am 26. 04. 2015. Von einem »anachronistische[n] Sammlungstyp[…]« spricht auch Dietrich Scholler (Scholler [Anm. 218]. S. 179). Das Museum Bouvards und P8cuchets steht folglich in einem Kontrast zur avancierten Museumskunde des 19. Jahrhunderts. Vgl. ebd. S. 167. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrscht ein rationalistisches Prinzip die Erschließung eines Sammelbestandes (vgl. MauriHs [Anm. 203]. S. 193–196). Ansammlung, Bestimmung und Klassifizierung waren jedoch auch schon die Ziele der frühesten Wunderkammern (vgl. ebd. S. 25). Zur These, dass Sammeln grundsätzlich dem Klassifizieren nachfolgt, vgl. Thomas Macho: Sammeln in chronologischer Perspektive. In: Horst Bredekamp, Jochen Brüning und Cornelia Weber (Hg.): Theatrum naturae et artis – Theater der Natur und Kunst. Wunderkammern des Wissens. Essays. Berlin 2000. S. 63–74. Hier: S. 64. Vgl. dazu te Heesen und Spary (Anm. 207). S. 14. Vgl. MauriHs (Anm. 203). S. 25/34 und Segelken (Anm. 219). S. 46.

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einen werden Praktiken, die dem vormodernen, auf dem Prinzip der Ähnlichkeit beruhenden Wissenssystem226 entstammen, thematisiert. Zum anderen werden Praktiken des Klassifizierens, Systematisierens etc. auf ihre Unzulänglichkeiten geprüft (und damit – will man die Situation auf die Foucaultschen Begriffe zuspitzen – das Ende der klassischen Episteme reflektiert227). ›Dilettantismus‹ bietet sich als Reflexionsmodell für diese Prozesse in systematischer Hinsicht aufgrund seines Status als das ›Andere des Wissens‹ und in historischer Hinsicht aufgrund seiner in die Vormoderne zurückreichenden Tradition an. Am Beispiel des dilettantischen Sammelns kann dies besonders gut illustriert werden. Als Modelle amateurhaften Sammelns thematisiert die Literatur des 19. Jahrhunderts etwa: Kuriositätensammlungen (wie in Gustave Flauberts Bouvard et P8cuchet oder Wilhelm Raabes Das Odfeld), Klassikersammlungen (wie in Adalbert Stifters Nachkommenschaften oder Theodor Fontanes Frau Jenny Treibel)228 oder naturwissenschaftliche Sammlungen im Anschluss an die virtuoso-Tradition (wie in Stifters Nachsommer). Kuriositätensammlungen – dies nehme ich dem folgenden Kapitel zum Musealisieren vorweg – entstammen der Frühen Neuzeit und bilden einen »Raum, der im Mikrokosmos der Sammlung den Makrokosmos der Erde und des Himmels repräsentieren sollte.«229 Damit stehen Kuriositätensammlungen regelrecht sinnbildlich für die Episteme der Ähnlichkeit.230 Wird Wissen jedoch nach dem Prinzip der Repräsentativität 226 Ähnlichkeit war hier zugleich Form und Inhalt der Erkenntnis im Sinne einer Tautologie (vgl. Foucault [Anm. 179]. S. 87 und S. 91). Für konkrete Beispiele vgl. das Kapitel »Die vier Ähnlichkeiten«, ebd. S. 46–56. 227 Foucault setzt für die Ablösung der klassischen durch die moderne Episteme den Anfang des 19. Jahrhunderts an. Vgl. ebd. S. 25. 228 Bei Stifter sind diese Sammlungen – anders als bei Fontane (vgl. dazu Anm. 236) – nicht mit einem ironischen Index versehen, sondern Zeugnisse von (humanistischer) Bildung und ästhetischem Interesse. Roderer der Ältere in Nachkommenschaften »hatte nicht viele aber außerordentliche Gemälde. Von den besten Niederländern und Italienern war etwas da. Deutsches war noch weniger : Alles war von der alten Schule. […] In seiner Büchersammlung war das Beste fast aller Sprachen, besonders Dichter. Die Heldendichter waren alle vorhanden.« (Stifter: Nachkommenschaften [Anm. 113]. S. 89) Eine weitere Figur im Stifterschen Kosmos, die über eine derartige Sammlung verfügt, ist – und auch hier ist diese Art Sammlung der Vatergeneration zugeordnet – Heinrich Drendorfs Vater in Der Nachsommer. »Er besaß auch Steine, in welche Dinge geschnitten waren. Er hielt diese Steine sehr hoch, und sagte, sie stammen aus dem kunstgeübtesten Volke alter Zeiten, nehmlich aus dem alten Griechenlande her.« Adalbert Stifter : Der Nachsommer. Eine Erzählung. Erster Band. In: Adalbert Stifter. Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 4, 1. Hg. von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. Stuttgart/Berlin/Köln 1997. S. 11. 229 Te Heesen und Spary (Anm. 207). S. 9. Vgl. außerdem MauriHs (Anm. 203). S. 43. Die Wunderkammern brachten eine »leidenschaftliche[…] Suche nach Analogien« zum Ausdruck. Ebd. S. 34. 230 Foucault formuliert: »Die Welt drehte sich in sich selbst: die Erde war die Wiederholung des Himmels, die Gesichter spiegelten sich in den Sternen, und das Gras hüllte in seinen Halmen die Geheimnisse ein, die dem Menschen dienten. Die Malerei imitierte den Raum,

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geordnet, besteht der Dilettantismus im Fall des Sammelns von singulären Kuriositäten231 im Interesse an deren Außer-ordent-lichkeit, sprich: in der Verweigerung, die Objekte durch Taxonomie und Klassifikation in ein übergeordnetes Paradigma232 einzugliedern.233 Im Fall des Sammelns von Klassikern bzw. Klassikerzitaten wird die Repräsentativität mit der Zeichenhaftigkeit als ihrem leitenden Prinzip234 selbst kritisch hinterfragt: Hier kann sich Dilettantismus in der ›falschen‹ Verwendung von sprachlichen Zeichen zeigen,235 nämlich in einer über den Kontext uninformierten Reproduktion von Zitaten.236

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und die Repräsentation, war sie nun Fest oder Wissenschaft (savoir), gab sich als Wiederholung: Theater des Lebens oder Spiegel der Welt« (Foucault [Anm. 179]. S. 46). Beispiele für Sammlungen aus der Renaissance, die nicht diesem Prinzip entsprechen, gibt Thomas Macho. Vgl. Macho (Anm. 223). S. 66. Grundsätzlich verfolgen Kuriositätenkabinette und Wunderkammern eine Doppelstrategie: Sie richten sich zwar auf das Rare, das Unikat, wollen die Objekte aber »zugleich in eine bestimmte Umgebung ein[…]betten, die sie mit einer vielschichtigen Bedeutung beseelen sollte.« (MauriHs [Anm. 203]. S. 25/34) In den Sammlungen, welche die Literatur des 19. Jahrhunderts präsentiert, ist der zweite Aspekt aufgrund der Ablösung des Ähnlichkeitsdenkens nicht mehr gültig. Zum Fortleben des Interesses am Raren im 19. Jahrhundert vgl. S. 87f. dieser Arbeit. »Im Unterschied zum Seltenen und Einmaligen, das in den frühen Kunstkammern dominierte, trat nun das Sammlungsideal enzyklopädischer Vollständigkeit in den Vordergrund.« (Macho [Anm. 223]. S. 67) Die Rationalität vertreibt dann buchstäblich das Wunder aus den Wunderkammern. Denn es »steht eindeutig fest, dass der herausragende Stellenwert, der der Beobachtung, neuen Methodologien und dem Sammeln von Daten und Fakten zugemessen wurde, den Kuriositätenkult auf den Rang einer unvollkommenen Wissenschaft herunterstufte[…].« MauriHs (Anm. 203). S. 193. Vgl. Foucault (Anm. 179). S. 97 und S. 111. Eine weitere Gefahr besteht (in der rational-taxonomischen Perspektive) darin, die Gegenstände mythisch oder exotisch aufzuladen und dadurch zu fetischisieren. Walter Benjamin meint, dass in einem Sammlungsstück »[a]lles Erinnerte, Gedachte, Bewußte« sowie »Zeitalter, Landschaft, Handwerk, Besitzer, von denen es stammt«, »zu einer magischen Enzyklopädie zusammen[rücken]« (Benjamin [Anm. 201]. S. 389). Benjamin spricht hier die Erinnerungsfunktion einer Sammlung an. Begreift man eine Sammlung als ein materielles Gedächtnis, stellt sie eine Enzyklopädie im Sinne akkumulierter Zeit und Erfahrung dar. Die Magie besteht dann genau in jenem Moment der Erinnerung, das keiner – wie auch immer gearteten – Ordnung subsumiert werden kann. Zur Nähe von Sammler, Magier und Alchemist vgl. auch MauriHs (Anm. 203). S. 7, S. 24 und S. 119. Vgl. Foucault (Anm. 179). S. 26 und S. 92. Diese Lesart ist freilich ein wenig forciert, ich möchte sie jedoch als ernsthafte Hypothese in den Raum stellen. Die moderne Episteme seit Beginn des 19. Jahrhunderts zeichnet sich v. a. dadurch aus, dass das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem nicht mehr als stabil angesehen wird. »Die Bedingung dieser Verbindungen ruht künftig außerhalb der Repräsentation […] in einer Art Hinterwelt, die tiefer und dicker ist als sie selbst.« (ebd. S. 295) Diese Hinterwelt zu erkunden, schicken sich dann die Humanwissenschaften an; und zwar ab der Zeit, in die Fontanes Schreiben fällt. Es spricht also einiges dafür, sein Interesse an Zitierweisen als Auseinandersetzung mit der Repräsentativität von Sprache überhaupt zu deuten. Allen voran in Fontanes Gesellschaftsroman Frau Jenny Treibel aus dem Jahr 1892 werden Georg Büchmanns Geflügelte Worte sehr häufig bemüht. Dort nutzt die Majorin »harmlose

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Gleich mehrere epistemische Konstellationen reflektiert Adalbert Stifter 1857 in Der Nachsommer am Beispiel des dilettantischen bzw. amateurwissenschaftlichen Sammelns. Heinrich Drendorf, der sammelnde Protagonist, ist einerseits ein Dilettant in Nachfolge der vormodernen virtuosi: Er sammelt als Privatperson ohne berufliche Anbindung an eine wissenschaftliche Institution und folgt dabei vorrangig ästhetischen Interessen.237 Mit der Archäologie, der Geologie238 und der Paläontologie239 widmet er sich überdies Gebieten, die seit der Renaissance als Domänen des Dilettierens fest etabliert sind.240 Zugleich ist Heinrich aber auch der Held eines Bildungsromans, dem von seinem Mentor gesagt wird: »Ich glaube, […] daß in der gegenwärtigen Zeit der Standpunkt der Wissenschaft, von welcher wir sprechen, der des Sammelns ist. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas bauen, das wir noch nicht kennen. Das Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus; […]«.241

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Sentenzen aus Büchmann oder andere geflügelte Worte« bei der Konversation (Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel. In: Theodor Fontane. Sämtliche Werke. Romane, Erzählungen, Gedichte. Bd. 4. Hg. von Walter Keitel. München 1963. S. 297–478. Hier: S. 320.). In der Verwendung von Klassikerzitaten ohne Kontextwissen wird der Dilettantismus des aufstrebenden Bildungsbürgertums bloßgestellt. Zum ›Büchmann‹ als dem prominentesten von zahlreichen Zitatenlexika, welche die »Inventarisierung eines bildungsbürgerlichen Zitat-Codes darstellen, eines Bildungsvorrats, aus dem man beliebig schöpfen kann«, vgl. Julia Encke: Kopierwerke. Bürgerliche Zitierkultur in den späten Romanen Fontanes und Flauberts. Frankfurt/M. u. a. 1998. S. 15. Bouvard et P8cuchet unter diesem Aspekt zu betrachten, ist ebenfalls sehr lohnenswert. Denn Flaubert hatte ja einen zweiten Band des Romans geplant, der aus einer Zitatsammlung von Dummheiten, dem Sottisier und einem Dictionnaire des id8es reÅues bestehen sollte. Vgl. dazu Kimmich (Anm. 216). S. 284, Scholler (Anm. 218). S. 11f sowie Encke, S. 68–99. Zu diesem Befund kommt auch Julia Bertschik. Vgl. Julia Bertschik: Gesammeltes Wissen. Wissenschafts-Dilettanten und ihre Sammlungen bei Stifter, Raabe und Vischer. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (2006). S. 78–96. Hier: S. 80. Gerade das Sammeln und Klassifizieren von Mineralien betreibt Heinrich schon seit seiner Kindheit: »Bei den Mineralien, welche ich mir sammelte, gerieth ich beinahe in dieselbe Lage. Ich hatte mir schon seit meiner Kinderzeit manche Stücke zu erwerben gesucht. Fast immer waren dieselben aus anderen Sammlungen gekauft oder geschenkt worden. Sie waren schon Sammlungsstücke, hatten meistens das Papierstückchen mit ihrem Namen auf sich geklebt.« (Stifter: Der Nachsommer [Anm. 228]. S. 32) Heinrich sammelt die Mineralien nicht in der Absicht, ein wissenschaftliches Feld zu erschließen (oder die empirischen Grundlagen dafür zu schaffen), sondern er perpetuiert und erweitert eine schon bestehende Sammlung. Die Objekte dieser Sammlung sind jedoch bereits klassifiziert. An diesem Beispiel lässt sich repräsentativ die Angebundenheit Heinrichs sowohl an die dilettantische virtuoso-Tradition als auch an die Amateurwissenschaften ablesen. Hier wäre auch an Wilhelm Raabes Stopfkuchen zu denken, dessen Protagonist Heinrich Schaumann ebenfalls ein paläontologischer Dilettant ist. Vgl. Leistner (Anm. 5). S. 73, Vaget: Der Dilettant (Anm. 4). S. 139 sowie Wirth: »Dilettantenarbeit« (Anm. 5). S. 280. Stifter : Der Nachsommer (Anm. 228). S. 126f. Zur Unterscheidung des aristokratischen Sammelns per l’arte und des humanistischen Sammelns, das l’eruditone dient, vgl. Aleida

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Heinrich Drendorfs Sammeln ist also situiert zwischen dem virtuoso-Konzept des 17. Jahrhunderts (hier ist sein Sammeln als »dilettantisch« zu bezeichnen) und den Protowissenschaften des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts (hier ist sein Sammeln »amateurwissenschaftlich« zu nennen).242 Der Prospekt auf die ›entfernten Zeiten‹, im Vergleich zu welchen die Gegenwart im Roman eine Zeit des Noch-Nicht-Wissens ist, verweist außerdem auf eine gänzlich neue epistemische Ordnung in der Zukunft. Der Nachsommer bezieht schließlich qua Gattung Stellung zu dieser Spannung: Zu den konstitutiven Elementen des Bildungsromans zählen der Dilettantismus und vor allem dessen Überwindung.243 Wenn nun der zu bildende Held anfangs selbstzweckhaft nach dem virtuoso-Konzept sammelt,244 sein Mentor dagegen den protowissenschaftlichen Gehalt des Sammelns betont, wird damit (der Prospekt auf) eine zukünftige Form von Wissen und Wissenschaftlichkeit zur Orientierungsgröße der Bildung erklärt. Dies ist zum einen als kritischer Einwand gegen ein überholtes Dilettantismus- und Sammelkonzept zu verstehen, das dem Bildungsziel des Romans nicht zuarbeitet. In epistemologischer Hinsicht ist zum anderen festzustellen: Die Korrelation von dilettantischen bzw. amateurwissenschaftlichen Sammelweisen und bestimmten epistemischen Ordnungen führt dazu, dass Dilettantismus bzw. dilettantische Praktiken zu konkretisieren vermögen, was ansonsten abstrakt bleibt: sie bringen die jeweils gültigen Prinzipien der Wissensgenerierung und -ordnung zur Erscheinung. Die Anordnung der gesammelten Gegenstände, die immer auch in Beziehung zur Ordnung von Wissen überhaupt steht, ist ein zentraler Schritt des Musealisierens. Diese weitere Praktik des Dilettantismus, welche die Literatur im 19. Jahrhundert bevorzugt ins Bild setzt, soll nun genauer betrachtet und auf ihren poetologischen Gehalt – auch im Sinne von Poetologien des Dilettantismus – untersucht werden. Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl: Einleitung. In: dies. (Hg.): Sammler – Bibliophile – Exzentriker. Tübingen 1998. S. 7–19. Hier: S. 14. 242 Vgl. dazu auch Bertschik (Anm. 237). S. 83. Zum virtuoso-Sammler als einem »im Aufbau neuer Wissenschaftsstandards abgewertete[m] Wissenstyp«, der »durchgängig mit fehlgeleiteter Neugier und unproduktiver Sammelleidenschaft assoziiert« wird, vgl. Aleida Assmann: Der Sammler als Pedant. In: dies., Monika Gomille und Gabriele Rippl (Hg.): Sammler – Bibliophile – Exzentriker. Tübingen 1998. S. 261–274. Hier: S. 263. Dass sich die verschiedenen Sammlungsmodelle zwar in einer historischen Reihe anordnen lassen, sich aber nicht einfach abgelöst haben und sich bis heute allesamt in unterschiedlichsten Erscheinungsformen manifestieren, zeigt Thomas Macho auf. Vgl. Macho (Anm. 223). S. 64. 243 Vgl. Stanitzek: Dilettant (Anm. 5). S. 365 und Vaget: Der Dilettant (Anm. 4). S. 132. 244 Dass Heinrichs Motivation zu sammeln häufig ästhetisch begründet ist, zeigt sich am deutlichsten beim Sammeln des Marmors. Vgl. Adalbert Stifter : Der Nachsommer. Eine Erzählung. Zweiter Band. In: Adalbert Stifter. Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 4, 2. Hg. von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. Stuttgart/Berlin/ Köln 1999. S. 30.

84 II.2.

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Musealisieren

Als zentrale Praktik des Dilettantismus im 19. Jahrhundert wird das Musealisieren (neben dem Sammeln) beispielsweise in Gustave Flauberts Bouvard et P8cuchet (1881) und in Wilhelm Raabes Das Odfeld (1888/89) verhandelt. Flaubert bindet mit dem geplanten Untertitel des Romans, »encyclop8die de la BÞtise humaine« (Enzyklopädie der menschlichen Dummheit),245 seinen Text außerdem explizit an Modelle bzw. Medien der Wissenssammlung und -speicherung sowie implizit an den Dilettantismusdiskurs an. Das Odfeld wiederum lotet am Beispiel des amateurhaften Musealisierens die Potentiale der Matrix ›Geschichtlichkeit‹ sowie des Narrativs ›historisches Erzählen‹ für die Generierung und Speicherung von Wissen aus. Der Schritt vom Sammeln zum Musealisieren ist im wissenschaftlichen Verständnis markiert durch ein Verfahren der (systematischen) Erschließung des Sammelbestandes. Erschlossen werden die Objekte häufig durch Klassifizierung und Etikettierung.246 In Flauberts Text bewahrt P8cuchet die gesammelten Gegenstände in einer »Hütte aus Holzbalken« auf: »P8cuchet schloß dort seine Werkzeuge ein, und er verbrachte hier köstliche Stunden mit dem Prüfen von Samenkörnern, dem Schreiben von Etiketten und dem Ordnen seiner kleinen Töpfe.«247 P8cuchet ist offensichtlich bestrebt, den Anforderungen, die an taxonomisch verfahrende Wissenschaftlichkeit gestellt sind, Genüge zu leisten. Als Amateur – mit Akzent auf die Bedeutung ›Liebhaber‹ – hat er sogar Freude daran: Er verbringt ›köstliche Stunden‹. Allerdings scheitern Bouvard und P8cuchet als klassifizierende Amateurmineralogen: »Es war keine geringe Aufgabe, die Namen der Gesteinsarten herauszufinden, bevor man ein Etikett daraufkleben konnte; die Verschiedenheit der Farben und der Substanz ließ sie den Ton mit Mergel verwechseln, Granit mit Gneis, Quartz mit Kalkstein.«248 Die Objekte und ihre sprachlichen Repräsentationen können aufgrund des mangelnden klassifikatorischen Wissens der Amateurwissenschaftler und/oder des unerschöpflichen Facettenreichtums der Naturerscheinungen nicht adäquat miteinander verknüpft werden. Auf das »und/oder« kommt es an: Obgleich der Erzähler dem Dilettantismus der beiden Protagonisten auch ein enorm komisches Potential abgewinnt,249 sind im Text deutliche Hinweise zu finden, die dazu 245 Vgl. dazu Hildegard Haberl: Von Gärten und Museen. Wissens- und Erinnerungsräume im enzyklopädischen Roman des 19. Jahrhunderts bei Goethe und Flaubert. In: Martin Huber, Christine Lubkoll, Steffen Martus und Yvonne Wübben (Hg.): Literarische Räume. Architekturen – Ordnungen – Medien. Berlin 2012. S. 93–109. Hier : S. 95. 246 Vgl. Bertschik (Anm. 237). S. 78. 247 Flaubert (Anm. 217). S. 42. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 248 Ebd. S. 110. 249 Illustrieren möchte ich dies an zwei Beispielen, die in epistemischer Hinsicht relevant sind,

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auffordern, nicht die Amateure, sondern die epistemischen Bedingungen, an welchen sie scheitern, zu hinterfragen bzw. dieses Scheitern als eine Strategie der Entwertung von Wissen in den Blick zu nehmen. Wenn der Erschließungsprozess von der ›Verschiedenheit der Farben und der Substanz‹ untergraben wird und die Musealisierungsbemühungen dadurch als dilettantisch erscheinen, wird die taxonomisch-klassifikatorische Ordnung gerade von demjenigen, was sich nicht unter vordefinierte Einheiten subsumieren lässt, in Frage gestellt.250 Die Erzählinstanz wiederum verfügt über das entsprechende Expertenwissen. Ja, vor dem Hintergrund dieses Expertenwissens (nämlich der Fähigkeit, die Gesteine mit der korrekten Terminologie versehen zu können) wird das Amateurwissen Bouvards und P8cuchets überhaupt erst als solches einge-ordn-et. In Bouvard et P8cuchet sind also Amateurwissen(schaft) und Expertenwissen auf die narrativen Ebenen der histoire und des discours verteilt. Der Roman folgt einer ›Poetologie des Dilettantismus‹ in der Weise, dass er die Erzählebenen (histoire und discours) mit je unterschiedlichen Verständnissen von Wissenschaftlichkeit und Dilettantismus korreliert und die jeweilige Relativität/relative Gültigkeit dieser Auffassungen in literarischer Form inszeniert. Der Dilettantismus in Flauberts Dilettantenroman ist damit weniger Gegenstand als vielmehr Medium der Satire. Ein anderes erzählerisches Verfahren, amateurhafte Musealisierungsprozesse auf ihre epistemischen Bedingungen hin zu befragen, wählt Wilhelm Raabe in Das Odfeld. In diesem historischen Roman – der sich schon qua Gattung dem nämlich an Bouvards und P8cuchets autodidaktischem Lernen und Lehren nach dem Prinzip der Ähnlichkeit. Häufig arbeiten die beiden mit Analogiebildungen, z. B. im Bereich der Medizin. »Mit großem Eifer kümmerten sie sich […] um die Impfstoffe, lernten an Kohlblättern, wie man zur Ader läßt, erwarben gar einige Lanzetten.« (ebd. S. 89) Dass die beiden Möchtegernärzte ihre Patient_innen meist nur kränker machen, als diese ohnehin schon waren, führt nicht zu einer Infragestellung des Analogisierens. Dem Pflegekind Victor will P8cuchet beispielsweise das Sonnensystem mit Hilfe einer Analogiebildung veranschaulichen: »Am Tag darauf stellte er einen Lehnstuhl in die Mitte des Salons und fing an, um diesen herumzutanzen. – Stell dir vor, daß der Sessel die Sonne ist und daß ich die Erde bin; auf diese Weise bewegt sie sich. Victor schaute ihn voller Verwunderung an. Er nahm dann eine Orange, stieß einen Stab hindurch, um die Pole zu bezeichnen, und zog mit einem Kohlestrich einen Kreis, um den Äquator zu markieren. Daraufhin brachte er die Orange in die Nähe einer Kerze und wies darauf hin, daß nicht alle Punkte der Oberfläche gleichzeitig beleuchtet wurden, was die unterschiedlichen Klimazonen bewirkt; […] Victor hatte nichts davon verstanden. Er glaubte, daß die Erde sich auf einer langen Nadel drehte, und hielt den Äquator für einen Ring, der ihren Umfang zusammenschnürt.« (ebd. S. 362) In Ähnlichkeitsbeziehungen zu denken liegt nahe, wenn man über keinen abstrakt-repräsentativen Zugriff auf die Phänomene verfügt bzw. dessen Leistungen als inadäquat einschätzt. Das kreative Potential, das P8cuchet dabei durchaus entfaltet, kann jedoch keinen Lernerfolg bei Victor gewährleisten. 250 Die hochentwickelten taxonomischen Ordnungssysteme der Botanik und der Zoologie wurden im 19. Jahrhundert zum Beispiel durch die Erkenntnisse, die auf wissenschaftlichen Entdeckungsreisen gewonnen wurden, erschüttert. Vgl. Brüning (Anm. 204). S. 27.

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Primat der Historizität in der modernen Episteme251 verpflichtet – unterzieht Raabe die Voraussetzungen für die mangelnden mineralogischen Kenntnisse des Sammlers und Museumsbesitzers Magister Buchius einer wissensgeschichtlichen Reflexion: Dolomit – Rautenspat, Braunbitterspat, Bitterkalk, Mineral, farblos oder gefärbt, besteht aus kohlensaurem Kalk mit kohlensaurer Magnesia, ist als Braunspat eisenhaltig und bildet als Gestein groteske Felsbildungen und ist höhlenreich, sagt heute die Wissenschaft oder das Konversationslexikon; und der Magister Buchius, der weder in seiner Bibliothek ein Konversationslexikon besaß noch irgend viel von Mineralogie verstund, stand plötzlich mitten in dem wilden Wald des achtzehnten Säkulums und mitten unter den wunderlichen Steingebilden des Idistavisus still und stieß sein spanisch Rohr in den Boden.252

Es ist bemerkenswert, dass das Konversationslexikon in Das Odfeld als eine der Wissenschaft äquivalente Wissensquelle eingestuft wird. Die wissensgeschichtliche Situation des 18. Jahrhunderts (der Handlungszeit des Romans) wird in Das Odfeld vor der Folie des 19. Jahrhunderts (der Entstehungszeit des Romans) konturiert. Das heißt: Buchius’ Musealisieren fällt zwar in den Zeitraum des Siebenjährigen Krieges (1756–1763), wird aber im Horizont der Institutionalisierung von Wissenschaft und der Popularisierung von Wissen und Wissensmedien im 19. Jahrhundert253 diskutiert. Dem ›wilden Wald‹ und den ›wunderlichen Steingebilden‹ eignet – zumindest laut der Erzählinstanz – im ›achtzehnten Säkulum‹ eine mythische Dimension, die noch nicht durch die rational-naturwissenschaftliche Erschließung entzaubert worden ist.254 ›Heute‹ 251 »An der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert« hat sich nach Foucault eine »Veränderung von der Ordnung zur Geschichte« vollzogen (Foucault [Anm. 179]. S. 273). »Eine tiefe Historizität dringt in das Herz der Dinge ein, isoliert sie und definiert sie in ihrer eigenen Kohärenz, erlegt ihnen Ordnungsformen auf, die durch die Kontinuität der Zeit impliziert sind.« Ebd. S. 26. 252 Wilhelm Raabe: Das Odfeld. In: Wilhelm Raabe. Sämtliche Werke. Hg. von Karl Hoppe. Bd. 17: Das Odfeld, Der Lar. Bearbeitet von Karl Hoppe und Hans Oppermann. Göttingen 1966. S. 5–220. Hier: S. 143. 253 Zu genauen Bestimmungen von »Popularität«, »Popularisieren« und »Popularisierung« sowie zu dem festen Konnex, der sich zwischen »Popularisierung« und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert gebildet hat, vgl. Daum (Anm. 174). S. 34 und S. 37. 254 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch Buchius’ mythisch-allegorische Deutung der Rabenschlacht und deren Kommentierung durch den Erzähler. Dieser meint: »Es wäre sicherlich aber auch für den nüchterneren und in den exakten, den empirischen Wissenschaften besser beschlagenen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts dieser Luftkampf nicht ohne Interesse gewesen, und es hätte sich für ihn, wenn er den schreibenden Ständen angehörte, wohl verlohnt, einen Artikel darüber an die nächste Zeitung einzusenden und ornithologische Aufklärung in der Sache zu erbitten. Wir aber halten uns mit dem letzten gelehrten Erben der Zisterzienser von Amelungsborn einzig an das Progidium, das Wunderzeichen und danken für alle fachwissenschaftliche Belehrung: wir lassen uns heute noch gern da an den Zeichen in der Welt genügen, wo Besserunterrichtete

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dagegen scheint die Natur mit Hilfe der wissenschaftlichen Terminologie verfügbar gemacht und diese Kenntnisse wiederum in Gestalt populärer Wissensmedien in immer weitere Kreise der Gesellschaft verbreitet255 worden zu sein. (Bouvard und P8cuchet, die nicht qua Genre in die Vergangenheit zurückversetzt worden sind, können dagegen der wissensgeschichtlichen Situation des 19. Jahrhunderts entsprechend agieren und Lexika zu Rate ziehen, um sich mineralogische Fachbegriffe anzueignen.256) Des Magisters Buchius Etikettierungs- und Erschließungsbemühungen wiederum folgen einem ganz eigenen – um nicht zu sagen: idiosynkratischen – Prinzip: Es kleben und hängen an allem Zettul. Von des gelehrten und kuriösen Mannes Hand geschrieben. Wir schreiben nur einige derselben nach, […] und wir bedauern, daß wir nicht alle nachschreiben können. […] »Nro. 5. Ein römischer Rittersporn, so wahrscheinlich in den kayserlichen Armaden Divi Augusti oder Tiberii verloren. Im Sumpf am Molter-Bach gefunden. Arg verrostet.« »Nro. 7. Eines cheruskischen Edelings Arm- und Schmuckring. In einem Topfe gefunden ohnweit Warbsen.« »Nro. 7a. Derselbige Topf, der bessern Erhaltung wegen mit Draht umbunden.« »Nro. 7b. Etliche Aschen und Kohlen aus dem nämlichen Topfe. Zum Andenken an unsere Vorfahren in einem Papier conserviret in der Tobacksdose des hochseligen Herrn Abtes Doctoris Johann Peter Häseler […]. Ein feiner weltbekannter Historicus!« »Nro. 16. Ein Fausthammer auf der Mäusebreite, Stadtoldendorfer Feldmark, aufgegraben. Wie mir däucht, eines teutschen Offiziers Kaisers Caroli Magni Gewaffen. Doch lasse ich dieses bessern Gelehrten anheimgestellt sein.« Nro. 20. Ein versteinerter Knochen hominis diluvii testis. Eine große Rarität! […]« […] ganze genau das – Genauere wissen.« (Raabe [Anm. 252]. S. 29) Dieser Kommentar ist eine klare Stellungnahme zugunsten einer Deutung des Geschehens, die auf dem vormodernen Ähnlichkeitsprinzip basiert. Die Medien der Wissenspopularisierung dagegen werden abgewertet. Das dort bereitgestellte Wissen ist nach Ansicht des Erzählers vielleicht genauer, die Zeichensprache der Welt bzw. der Natur ist damit jedoch nicht zulänglich erfasst. 255 Vgl. Michael Schmidt: »Spiele eines Dilettanten«. Der ›gesellschaftliche Schriftsteller‹ Georg Forster im Kontext des Popularisierungsdiskurses. In: Jörn Garber und Tanja van Hoorn (Hg.): Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissensfeld seiner Zeit. Hannover-Laatzen 2006. S. 219–240. Hier: S. 228f sowie Daum (Anm. 174). 256 Landwirtschaftliche Kenntnisse, um ein weiteres Beispiel zu geben, versprechen sich die beiden Stadtflüchtigen aus Fachbüchern und -zeitschriften beziehen zu können: »Am selben Abend noch holten sie aus ihrer Bibliothek die vier Bände Der Bauernhof hervor, ließen sich das Fachbuch von Gasparin kommen und abonnierten eine Zeitung für Landwirte.« (Flaubert [Anm. 217]. S. 39) Dass populäre Wissensmedien leicht zu Medien für den Dilettantismus werden können und die autodidaktische Aneignung von Wissen nicht immer problemlos funktioniert, müssen Bouvard und P8cuchet schnell feststellen: »Sie fragten einander nach gutem Rat, schlugen ein Buch auf, holten ein anderes hervor, aber wußten zuletzt nicht, wie zu entscheiden war : So verschiedenartig waren die Meinungen.« Ebd. S. 45.

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»Nro. 30. Ein bemalter hölzerner Arm von einem Weibsbild, einer Statua der Jungfrau Maria. […] Auch eine große Curiosität und wohl zu bewahren […].«257

Buchius’ Katalog lässt auf folgende Motivationen und Prinzipien seines Musealisierens schließen: auf die zeichenhafte Verdopplung der Sammlung durch Etikettierung,258 auf eine Konservierungsabsicht259 (›der bessern Erhaltung wegen‹), auf eine Orientierung an Autoritäten (›ein […] weltbekannter Historicus!‹) sowie auf ein Interesse an Rarem und Kuriosem260 (›[e]ine große Rarität!‹, ›eine große Curiosität!‹261). Buchius mischt also erstens ein numerisches (unmotiviertes, weil nicht chronologisches) Ordnungsdenken262 mit einem fe-

257 Raabe (Anm. 252). S. 42f. 258 Dass der Text hier einen selbstreflexiven Kommentar einschaltet und sich als erneute Abschrift von Buchius’ Handschrift zu erkennen gibt, greift ein Motiv auf, das den Dilettantismusdiskurs durchgängig prägt: das Kopieren. In den Schemata Über den Dilettantismus wird unter der Rubrik »Lyrische Poesie« der Plagiarismus der Dilettant_innen angeprangert: »Alle Dilettanten sind Plagiarii. Sie entnerven und vernichten jedes Originalschöne in der Sprache und im Gedanken, indem sie es nachsprechen, nachäffen und ihre Leerheit damit ausflicken.« (Goethe: Über den Dilettantismus [Anm. 12]. S. 764/766) Die Maximen und Sentenzen, die Ottilie in Die Wahlverwandtschaften aus anderen Heften in ihr Tagebuch überträgt, können dieser Art Plagiarismus zugeordnet werden (vgl. Elisabeth Strowick: Poetik des Dilettantismus in Goethes »Die Wahlverwandtschaften«. In: Poetica 39 (2007). S. 423–442. Hier: S. 427.). Vor allem aber führt Ottilies Abschrift eines Vertrags, die sie für Eduard anfertigt und dabei dessen Handschrift bis zur Ununterscheidbarkeit von ihrer eigenen imitiert (vgl. Goethe: Die Wahlverwandtschaften [Anm. 10]. S. 355), den Umschlag von Mimesis in Mimikry vor (vgl. dazu Gabriele Brandstetter : Gesten des Verfehlens. Epistolographische Aporien in Goethes »Wahlverwandtschaften«. In: dies. (Hg.): Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«. Freiburg i.Br. 2003. S. 41–63. Hier: S. 59.) Das von Goethe im Dilettantismusdiskurs stark gemachte Motiv des Kopierens erlebt seinen Höhenpunkt dann bei Flauberts Kopisten Bouvard und P8cuchet. Allerdings ist die Kopierleistung dort eine Arbeitsleistung, Bouvard und P8cuchet sind beide professionelle »Schreibkräfte« (Flaubert [Anm. 217]. S. 11). P8cuchet ist von einem »Abteilungsleiter, der von seiner Handschrift begeistert war, […] als Kopist[…] angestellt« worden (ebd. S. 15). In Bouvard et P8cuchet wird das Kopieren schließlich zum Signum des Dilettantismus, denn am Ende des (Fragment gebliebenen) Textes kehren die gescheiterten Amateurwissenschaftler zum Kopieren zurück. Flauberts Notizen sehen dafür vor: »Schreiber werden, Kopisten wie früher. / Anfertigung des Arbeitstisches mit doppeltem Schreibpult. […] Kauf von Büchern und Werkzeugen, Sandarak, Radiermessern etc. / Sie machen sich an die Arbeit.« Ebd. S. 403. 259 Vgl. MauriHs (Anm. 203). S. 119. 260 Vgl. ebd. S. 25/34. 261 An anderen Stellen ist von der »Kuriositätensammlung des wackern Gelehrten« (Raabe [Anm. 252]. S. 77) und den dort versammelten »Kuriositäten und Raritäten« (ebd. S. 105) die Rede. 262 Nomenklaturen, Listen und Tabellen sind unmotivierte Darstellungsformen des Wissens, da Form und Inhalt nicht in einem Ähnlichkeitsverhältnis zueinander stehen. Auch Strukturhomologien, die Systematiken zuweilen mit den in ihnen erfassten Naturerscheinungen analogisieren (bspw. bei Wissensbäumen) liegen bei der numerischen (genauso wie bei der alphabetischen) Ordnung nicht vor. Es handelt sich hier um eine semantisch leere

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tischisierenden Singularitätsdenken, nicht aber mit einem klassifikatorischen oder universalisierenden Ordnungsdenken.263 Zweitens erklärt Buchius einen ›Historicus‹ zur wissenschaftlichen Autorität und damit die Geschichte zu einer Leitdisziplin; außerdem versammelt der Magister mit dem ›Fausthammer‹ und dem ›versteinerten Knochen‹264 primär Objekte von archäologischem bzw. paläontologischem Interesse. Drittens schließlich verweist die sprachliche Kommentierung der numerisch erfassten Gegenstände auf die Schwelle bzw. den Übergang von Zählen und Erzählen.265 Ein verwaltungsorientiertes, numerisches Denken wird also gepaart mit einem vormodernen, mythisch-religiösen Interesse (die ›Curiosität‹ ist nicht zufällig der Arm ›einer Statua der Jungfrau Maria‹266) und mit der seit Beginn des 19. Jahrhunderts sich ausbildenden modernen, auf Geschichtlichkeit basierenden Episteme.267 Dass Buchius seine Sammlung numerisch katalogisiert, kann in diesem Zusammenhang als (kreative) Verlegenheitslösung gedeutet werden. Mit dem (arbiträren) Nummerieren agiert er nämlich nicht gemäß dem epistemischen Paradigma des 18. Jahrhunderts mit dem Wissensbaum, dem Tableau oder dem Schema als Darstellungsformen des Wissens.268 Buchius, der kein Konversationslexikon und keine Enzyklopädie besitzt, woran er seinen Katalog orientieren könnte, folgt auch nicht der (im 19. Jahrhundert weiterhin gültigen) Ordnung des Alphabets.269 Sein nummerierter Katalog bildet aber auch keine Chronologie ab (Karl der Große

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Form der Anordnung von Wissen, im Vordergrund steht die »verwaltungstechnische Potenz«. Scholler (Anm. 218). S. 44. Vgl. außerdem ebd. S. 19 und S. 42. Vgl. MauriHs (Anm. 203). S. 25/34. An anderer Stelle ist nachzulesen, dass Buchius’ »Museum«, »wenn auch keine Schätze, so doch allerlei […] bronzene; Lanzenspitzen, Steinhammer, Knochen von unbekannten Tieren, ja auch Menschenknochen«, versammelt. Raabe (Anm. 252). S. 129. Vgl. dazu Weigel: Genea-Logik (Anm. 119). S. 30. Auch hier ist nochmals an Buchius’ mythisch-allegorische Deutung der Rabenschlacht und die an die Vorläufer der Wunderkammern, nämlich die Reliquienschätze mittelalterlicher Kirchen (vgl. MauriHs [Anm. 203]. S. 7 und S. 24), zu denken. Vgl. Foucault (Anm. 179). S. 26, S. 272. Vgl. dazu das Kapitel »Genealogie – Ikonographie und Rhetorik einer epistemologischen Figur« in Weigel: Genea-Logik (Anm. 119). S. 21–58. Die Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts folgen dem unmotivierten Alphabet und motivierten Illustrationen gleichermaßen. Sigrid Weigel hat dies an der Enzyklopädie Diderots und d’Alemberts gezeigt. Deren Systematik wird an einem taxonomischen und an einem ikonographischen Baum veranschaulicht: »Die Graphiken haben dabei die schwierige Aufgabe, die komplexe Ordnung des enzyklopädischen Wissens im Hinblick auf die systematischen Unterscheidungen ebenso wie deren Zusammenhänge abzubilden.« Ebd. S. 37. Der enzyklopädische Wissensdiskurs des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich von dem des 18. Jahrhunderts (der ja die berühmten Enzyklopädien wie diejenige Diderots und d’Alemberts hervorgebracht hat) darin, dass »das enzyklopädische Band zwischen Dingen, Wörtern und Gedächtnis […] gerissen [ist], weil es im Gegensatz zu den taxonomisch motivierten und visualisierten Systemen älterer Enzyklopädien nicht länger allegorische oder sonstwie geartete ›Lernhilfen‹ gibt, die den Weg von der gedruckten Seite zum Gedächtnis und zurück erleichtern.« Scholler (Anm. 218). S. 45.

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folgt hier auf Augustus und Tiberius270), die auf eine Verankerung des Museums in der Matrix ›Geschichtlichkeit‹ hindeuten würde.271 Die Praktik ›Musealisieren‹ macht deutlich, dass Dilettantismus in Raabes Das Odfeld wie in Flauberts Bouvard et P8cuchet als ein (mehr oder weniger strategisches) Verfehlen einer verbindlichen epistemischen Ordnung zu begreifen und auch hier als Hinweis auf das Fehlen bzw. Brüchigwerden einer verbindlichen epistemischen Ordnung überhaupt zu lesen ist. Anders als bei Bouvard und P8cuchet, die sich von keinem Misserfolg entmutigen lassen und vor Selbstbewusstsein strotzen, fällt bei Buchius dessen Bescheidenheitsgestus auf. Den sicheren Nachweis über die Herkunft seiner Objekte lässt er »bessern Gelehrten anheimgestellt sein«272. Buchius’ selbst eingestandener amateurhafter Kenntnisstand schlägt sich auch in der von Julia Bertschik nachgewiesenen Hybridität seines Sammlungskonzepts273 nieder. Buchius’ Sammlungsgegenstände sind zwar katalogisiert, aber sie sind nicht zielgerichtet zusammengetragen und überdies disparat kombiniert worden. Außerdem ist sein »Museo«274 ein privates Museum, die Sammlung kommt also keiner (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit zu Gesicht.275 Hybrid ist Buchius’ Museum auch dahingehend, dass in ihm das (quasi)wissenschaftliche Ordnungsdenken des späten 18. Jahrhunderts mit der »neuartigen emotionalen Sammlungsbeziehung, wie sie sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts […] auszubilden beginnt«276, kombiniert wird. Ich schließe mich Julia Bertschik hierin an, möchte ihre These von der Hybridität des Sammlungskonzepts jedoch um die These der Hybridität, besser : Überschneidung/Überlagerung der Episteme ergänzen. Im 19. Jahrhundert bildet sich nicht nur eine neue Beziehung zur Sammlung aus, sondern auch eine neue Beziehung zum – nun in der Geschichte fundierten und um den Menschen kreisenden – Wissen. Buchius’ Nummerierung seiner historisch-archäologischen Sammlungsobjekte folgt einer spezifisch

270 Vgl. Anm. 257. 271 Obwohl die Sammlungsparadigmen schon ab der Mitte des 18. Jahrhunderts unter Einfluss der aufklärerischen Geschichtsphilosophie und naturwissenschaftlichen Evolutionstheorien temporalisiert worden sind, hat sich eine zeitliche Gliederung von Sammlungsbeständen erst während des 19. Jahrhunderts durchgesetzt (vgl. Macho [Anm. 223]. S. 68). Für die Sammlungen bedeutete dies, dass ein räumlich gedachter Zusammenhang zwischen den Objekten in einen zeitlich gedachten transformiert wurde. »Was bisher Nebeneinander gestellt worden war, sollte nun im Nacheinander chronologischer Sequenzen und Fortschrittsmodelle interpretiert werden.« Ebd. S. 74. 272 Wie Anm. 257. 273 Vgl. Bertschik (Anm. 237). S. 89. 274 Raabe (Anm. 252). S. 151. 275 Vgl. Bertschik (Anm. 237). S. 88. 276 Ebd. S. 89.

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dilettantischen »epistemologischen Disziplinlosigkeit«277. Am Beispiel des Musealisierens zeigt sich die Poetologie des Dilettantismus, welche Das Odfeld auszeichnet: Der historische Roman fungiert als Austragungsort epistemischer Überlagerungs- und Konkurrenzsituationen. Der Text inszeniert den Dilettantismus des Protagonisten als eine Form epistemologischer Disziplinlosigkeit und macht ihn damit zum Probierstein epistemischer Neuformierungen. Begreift man Buchius’ ›Museo‹ als Chiffre für diese epistemischen Überlagerungsund Konkurrenzsituationen, wird das Ende des Romans allegorisch lesbar. Der Text endet mit der Zerstörung des Museums durch einen wütenden Raben: »Da liegen die kurieusen Töpfe der Vorfahren, die liegen ihre Knochen! Das halbe Raritätenkabinett vom Brett gestoßen – Zettel abgerissen […]! Gehet man so mit den Cimelien eines teuren gelehrten Büchervorrats um?«278 Der dem Autor Raabe verdächtig nahe stehende Vogel, ein Rabe, macht dem Museum (bzw. den es organisierenden Wissensordnungen) und dem Text ein Ende in der Weise, dass er das Musealisieren (bzw. das Generieren und Ordnen von Wissen) nach Maßgabe einer Mischung von Nummerierung, Singularität und Historizität zunichte macht und so auf eine Zukunft des Musealisierens (bzw. Generierens und Ordnens von Wissen) vorausweist, die anderen Gesetzen gehorchen wird. Als eine Chiffre kann auch das »Museum«279 Bouvards und P8cuchets gelesen werden. In Flauberts Roman wird am Beispiel des Museums die sich im 19. Jahrhundert zunehmend entgrenzende Enzyklopädistik reflektiert.280 Die 277 Safia Azzouni und Uwe Wirth: Vorbemerkung. In: dies. (Hg.): Dilettantismus als Beruf. Berlin 2010. S. 7–9. Hier: S. 8. 278 Raabe (Anm. 252). S. 218f. 279 Flaubert (Anm. 217). S. 125. 280 ›Entgrenzung‹ meint hier eine radikalisierte Rationalität. Dennoch darf zumindest der Verweis auf die – in erster Linie mit ›Entgrenzung‹ assoziierte – Romantik nicht unterbleiben. Denn auch einige Romantiker haben sich bekanntlich intensiv mit enzyklopädischen Projekten beschäftigt. Namentlich Novalis kritisiert an Diderots und d’Alemberts Encyclop8die, dass die Verfasser zu sehr ihrer vorgegebenen methodischen Ordnung vertraut und es versäumt hätten, diese in Frage zu stellen und sich auf die Verworrenheit und den Zustand von Anfänger_innen einzulassen: »Die Verworrnen haben im Anfang mit mächtigen Hindernissen zu kämpfen, sie dringen nur langsam ein, sie lernen mit Mühe arbeiten: dann aber sind auch sie Herrn und Meister auf immer. […] Verworrenheit deutet auf Überfluß an Kraft und Vermögen, aber mangelhafte Verhältnisse; Bestimmtheit, auf richtige Verhältnisse, aber sparsames Vermögen und Kraft. Daher ist das Verworrne so progressiv, so perfektibel, dahingegen der Ordentliche so früh als Philister aufhört. […] Das wahre Genie verbindet diese Extreme. Es theilt die Geschwindigkeit mit dem letzten und die Fülle mit dem ersten.« (Novalis: Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub 1797/98. In: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl. Darmstadt 1999. S. 225–285. Hier: S. 249 sowie dazu Oliver Kohns: Der Enzyklopädist als Anfänger. Novalis’ Projekt einer progressiven Enzyklopädistik. In: Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 279–287, v. a. S. 281.) Novalis’ eigene Enzyklopädistik sollte entsprechend anderen Prinzipien folgen. Oliver Kohns fasst zusammen:

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Kehrseite der enormen Speicherkapazität, welche den großen enzyklopädischen Wörterbüchern des 19. Jahrhunderts – weit mehr als denjenigen des 18. – eignet, besteht, so Dietrich Scholler, darin, dass diese »von sich selbst kein Gedächtnis mehr [haben], denn sie häufen Wissensstoff an, ohne zu wissen, was eigentlich aufgenommen wird.«281 Bouvards und P8cuchets Museum folgt genau dem radikalisierten enzyklopädischen Prinzip einer (tendenziell) unreflektierten Anhäufung: Sechs Monate später waren sie zu Archäologen geworden; und ihr Haus glich einem Museum. […] Auf kleinen Holzregalen sah man rundherum Fackeln, Schlösser, Bolzen, Schrauben. Der Boden verschwand unter roten Ziegelscherben. Ein Tisch in der Mitte zeigte die ungewöhnlichsten Raritäten: Das Gestell einer Haube, wie sie die Frauen in Caux zu tragen pflegen, zwei Urnen aus Ton, Medaillen, ein Fläschchen aus Opalglas. […] Der Überrest eines Panzerhemdes schmückte die rechte Wand; und darunter hing, an Haken angebracht, waagerecht eine Hellebarde, ein einzigartiges Exemplar. Das zweite Zimmer […] enthielt die aus Paris mitgebrachten alten Bücher sowie auch jene, die sie bei ihrer Ankunft in einem Schrank vorgefunden hatten. Die Türflügel waren entfernt worden. Sie nannten das die Bibliothek.282

In der Gestalt der Chiffre ›Museum‹283 werden zum einen die populären Wissensmedien des 19. Jahrhunderts bezüglich ihres rein anhäufenden Verfahrens und ihrer mangelnden Selbstreflexivität kritisch hinterfragt. Zum anderen macht der Text darauf aufmerksam, dass die ›Archäologen‹ Bouvard und P8cuchet epistemologisch betrachtet gut beraten wären, wenn sie die Orientie»Dummheit, Verworrenheit, Anfängertum sind somit nicht allein die Ausgangspunkte einer Teleologie, an deren Ende immer schon Meisterschaft und ein schlechthin alles durchdringendes Wissen steht. Insofern Wissen als eine etablierte und verfestigte Synthese zwischen Ideen gedacht wird, steht die Figur des Anfängers, des Nichtwissenden und des verworrenen Denkers für eine dynamische und bewegliche Ordnung des Wissens, wie sie sich in der kombinatorischen Logik der enzyklopädischen Notizen des Novalis realisiert.« Ebd. S. 285. 281 Scholler (Anm. 218). S. 45. 282 Flaubert (Anm. 217). S. 125f. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 283 Diese Lesart wird auch durch die direkte Nachbarschaft von Museum und Bibliothek nahegelegt. Zur spezifisch räumlichen Dimension der Überlagerung von Museum und Bibliothek vgl. Haberl: Von Gärten und Museen (Anm. 245). S. 107. Zur »Bibliothek als Spiegel der Kunstkammer« vgl. den so betitelten Beitrag von Harriet Roth in: Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl (Hg.): Sammler – Bibliophile – Exzentriker. Tübingen 1998. S. 193–210. Hier : S. 196. Das Verständnis der Kunstkammer als Wissensenzyklopädie fußt auf einer inhaltlichen Kohärenz zwischen Kunstkammer und Bibliothek: »Die Bibliothek soll die inhaltliche Stütze der Objektwelt der Kunstkammer abgeben.« (ebd.) Die Bibliothek dient dabei als »eigenständiges, aber in Zusammenhang mit der Kunstkammer als ergänzendes, als theoretisches Nachschlagewerk[.] […] Somit konnten nicht vorhandene, schwer oder gar nicht präsentierbare Objekte, aber auch komplizierte Sachverhalte theoretisch erschlossen, abgedeckt und, im Sinne der Kunstkammer als ›Theatrum Sapientiae‹, inhaltlich aufgeschlossen werden.« Ebd. S. 203.

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rung ihres Sammeln historischer Gegenstände änderten: Statt immer mehr in der Breite anzuhäufen, sollten sie in der historischen Tiefe284 der Objekte graben. Mit Blick auf den Roman als Ganzes ist festzustellen, dass auch er Wissen anhäuft, und zwar Wissen aus dem bzw. über den historischen Dilettantismusdiskurs. Bouvard et P8cuchet stellt das Musealisieren nicht nur inhaltlich dar, sondern praktiziert es auch narrativ. Flauberts Text ist nicht nur (und vielleicht sogar weniger) als eine Enzyklopädie der menschlichen Dummheit zu lesen, sondern (vielmehr) auch als ein Museum des (historischen) Dilettantismus zu begreifen. Mit den unzähligen Wissensgebieten, auf welchen Bouvard und P8cuchet als Amateurwissenschaftler tätig sind und den diversen dilettantischen Praktiken und Methoden musealisiert Bouvard et P8cuchet eine Fülle von Erscheinungsweisen, in welchen sich der Dilettantismus seit dem 18. Jahrhundert gezeigt hat. Die musealisierten Wissensanstrengungen beziehen sich u. a. auf die »Wissenschaft, die man Ästhetik nennt«285 ; Bouvard und P8cuchet diskutieren außerdem das Für und Wider von Liebhabertheatern und üben sich selber in der Schauspielerei: »Ab jenem Tag deklamierten sie vor M8lie und Gorju und bedauerten nur, daß sie kein Privat-Theater hatten.«286 Der ausbleibende Publikumserfolg hindert die beiden nicht daran, sich in bester dilettantischer Manier und Tradition für Künstler zu halten: »Das Gerücht von ihren Betätigungen [als Schauspieler und Schauspiellehrer] hatte sich verbreitet. […] Im allgemeinen verachtete man sie. Sie schätzten sich dagegen nur noch höher ein. Sie weihten sich zu Künstlern.«287 Mit ihrem Studium der Ästhetik, mit ihrem liebhaberischen Schauspiel und der Selbstverkennung über die eigene (nicht existierende) Künstlerschaft reihen sich Bouvard und P8cuchet in die historische Tradition des künstlerischen Dilettantismus aus dem 18. Jahrhundert ein und schreiben diese fort. Neu ist der, die Grenzen zur Satire nicht selten 284 Dem Aspekt ›Geschichtlichkeit‹ geht Dorothee Kimmich nach. Vgl. Kimmich (Anm. 216), v. a. die Kapitel »I. Wirklichkeit als Konstruktion: Literatur und Geschichtlichkeit im 19. Jahrhundert«. S. 31–100 und »VI. Kritik und Krise: Wissenschaftsgeschichte als Roman«. S. 265–310. 285 Flaubert (Anm. 217). S. 185. 286 Ebd. S. 180. »Was ihnen an der Tragödie gefiel, war das Pathos, die Aussagen zur Politik, die lasterhaften Maximen. Sie lernten die berühmtesten Dialoge bei Racine und Voltaire auswendig und deklamierten sie auf dem Flur. Wie in der Com8die franÅaise schritt Bouvard mit seiner auf die Schulter P8cuchets gelegten Hand dahin, wobei er in gewissen Abständen einhielt, mit rollenden Augen weit seine Arme ausbreitete und die Geschichte anklagte. Er produzierte schöne Schmerzensschreie im PhiloctHte von La Harpe, einen hübschen Schluckauf in Gabrielle de Vergy, und wenn er Dionysius spielte, den Tyrannen von Syrakus, blickte er seinen Sohn auf eine Weise an, die wirklich schrecklich war […]. P8cuchet vergaß darüber seine Rolle. Es fehlte ihm an Talent, nicht an gutem Willen.« (ebd. S. 173) Die besondere Freude, die dilettantische Schauspieler am Deklamieren und an den Pathosformeln haben, teilt Bouvard beispielsweise mit Anton Reiser. Vgl. S. 168f. dieser Arbeit. 287 Flaubert (Anm. 217). S. 180.

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überschreitende, ironische Grundton der Narration, der Verbindlichkeiten nicht nur in epistemologischer, sondern auch in künstlerischer Hinsicht hinterfragt. Der Dilettantismus Bouvards und P8cuchets und mit ihm die dilettantische Tradition werden zu Medien der Künstlersatire. Im Horizont einer Wissenschaftssatire lassen sich wiederum Bouvards und P8cuchets Erziehungsmaßnahmen lesen. Sie planen beispielsweise bei der Erziehung der beiden Kinder »alle metaphysischen Gedanken zu verbannen und gemäß der experimentellen Methode der Entwicklung der Natur zu folgen.«288 Bouvards und P8cuchets Auslegung der »experimentellen Methode« sieht vor, die Kinder »wie […] Spartaner, noch mehr ab[zu]härten, sie an Hunger, Durst, Unwetter [zu] gewöhnen, und sie sollten durchlöcherte Schuhe tragen, um auf diese Weise Erkältungen vorzubeugen.«289 Sollte dieses Einbinden des Menschenversuchs290 in die Pädagogik innerfiktional tatsächlich umgesetzt (und nicht nur als Gedankenexperiment durchgespielt) werden, sind freilich fatale Folgen zu erwarten.

II.3.

Experimentieren

Bouvard und P8cuchet wollen ihre Schützlinge ›gemäß der experimentellen Methode‹ erziehen, Heinrich Drendorfs Mentor Risach konstatiert: »Euch Jüngeren wird es in den Naturwissenschaften überhaupt leichter, als es den Älteren geworden ist. Man schlägt jezt mehr die Wege des Beobachtens und der Versuche ein, statt daß man früher mehr den Vermuthungen Lehrmeinungen ja Einbildungen hingegeben war.«291

Flauberts und Stifters Figuren inszenieren bzw. reflektieren jeweils den wissensgeschichtlichen Umbruch, der ab ca. 1750 zu einer »Umstellung auf eine prinzipiell ergebnisoffene Weltordnung, die sich nicht mehr auf Providenz, sondern auf Kontingenz ausrichtete«292, geführt hat. Diese Umstellung brachte eine Priorisierung des Experiments gegenüber dem tradierten Bücherwissen mit sich. Parallel dazu ist auch ein literaturgeschichtlicher Umbruch zu verzeichnen. 288 Ebd. S. 351. Mit Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser wird in Kapitel C eine andere Variante der Wechselwirkung von Pädagogik und Dilettantismus diskutiert werden. 289 Flaubert (Anm. 217). S. 351. 290 Zum Menschenversuch in der Literatur und den dafür bevorzugten literarischen Gattungen vgl. Nicolas Pethes: Versuchsobjekt Mensch. Gedankenexperimente und Fallgeschichten als Erzählformen des Menschenversuchs. In: Michael Gamper (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Göttingen 2010. S. 361–383. Zu Konstellationen von literarischem Menschenversuch und Pädagogik vgl. außerdem Nicolas Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007. 291 Stifter : Der Nachsommer (Anm. 228). S. 124. 292 Michael Gamper: Einleitung. In: ders. (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Göttingen 2010. S. 9–14. Hier : S. 12.

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Hier ging mit der Option auf Kontingenz eine größere Freiheit in den inhaltlichen und formalen Gestaltungsmöglichkeiten einher.293 Nicht zuletzt wird der Literatur von da an ein »auf Innovation angelegter epistemologischer Status zugestanden«294, da Darstellen und Herstellen im literarischen genauso wie im wissenschaftlichen Experiment zusammenfallen.295 1857 wird in Stifters Nachsommer dieser wissensgeschichtliche Umbruch begrüßt, seine positiven Potentiale werden herausgestellt. Flauberts Roman Bouvard et P8cuchet bringt 1881 fast ausschließlich die negativen Kehrseiten der experimentellen Wende zur Darstellung. Der eigene epistemologische Status als literarischer Text besteht bei beiden Romanen weniger in der Innovation als in der Reflexion. Die epistemischen Objekte werden weniger literarisch hergestellt,296 sondern Prozesse einer wissenschaftlichen Herstellung epistemischer Objekte werden in der Rückschau im Medium Literatur gewürdigt bzw. kritisch geprüft. Flaubert überführt in Bouvard et P8cuchet die neue epistemische Offenheit und das Experimentieren als zentrale Praktik des naturwissenschaftlichen Amateurtums 1881 nachträglich in eine Poetologie des Dilettantismus. Historisch synchron begleitet und im Sinne einer literarischen Heuristik ausgelotet wird die Umstellung der Naturwissenschaften auf Kontingenz und Experiment in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften von 1809. Zwischen Bouvard et P8cuchet und Die Wahlverwandtschaften liegen neben der jeweiligen Auseinandersetzung mit der Heuristik des Experimentierens auch Verwandtschaften auf der Motivebene und in Bezug auf die Textgenese vor.297 Vor allem aber bilden die beiden Romane zwei Meilensteine des literarischen Dilettantismusdiskurses im 19. Jahrhundert und sollen nun abschließend diskutiert und als Paradigmen für eine Zusammenfassung der Ergebnisse dieses Kapitels genutzt werden. Die Wahlverwandtschaften markieren einen neuralgischen Punkt im literarischen Dilettantismusdiskurs, nämlich die Verlagerung des Fokus vom künst293 Vgl. ebd. 294 Ebd. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weist die Literatur eine generelle Disposition zum Experiment auf. Vgl. ebd. S. 13. 295 Vgl. Christine Blättler : Demonstration und Exploration. Aspekte der Darstellung im wissenschaftlichen und literarischen Experiment. In: Michael Gamper (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Göttingen 2010. S. 236–251. Hier: S. 237. 296 Vgl. ebd. S. 244. 297 Zu den Bezugnahmen Flauberts auf Goethe vgl. Hildegard Haberl: »An der Natur herumversuchen«. Landschaft, Garten und die Grenzen der heiteren Vernunftfreiheit in »Die Wahlverwandtschaften« und »Bouvard et P8cuchet«. In: Marcel Krings und Roman Luckscheiter (Hg.): Deutsch-französische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Würzburg 2007. S. 171– 185. Hier : S. 171–173. Zu Flauberts Rezeption der Wahlverwandtschaften vgl. ebd. S. 173– 175. Zu Briefwechseln Flauberts über Die Wahlverwandtschaften vgl. Haberl: Von Gärten und Museen (Anm. 245). S. 95.

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lerischen auf den wissenschaftlichen Dilettantismus. Goethes Roman inszeniert ein Zugleich beider Varianten des Dilettierens. Einerseits werden Praktiken des künstlerischen Dilettantismus verhandelt, die sich streng an den Sparten der Schemata Über den Dilettantismus orientieren, nämlich Gartenkunst, Architektur, Musizieren und das Stellen lebender Bilder.298 Andererseits wird mit dem Experimentieren eine Praktik des naturwissenschaftlichen Dilettantismus inhaltlich ins Zentrum gestellt und überdies zum poetologischen Programm erhoben.299 Die epistemische Wende, die sich Mitte/Ende des 18. Jahrhunderts vollzogen hat, ist von einem Ungenügen an der abstrakten, mathematischen Naturwissenschaft motiviert gewesen und hat dem deskriptiven Wissen gegenüber dem Gesetzeswissen Priorität eingeräumt.300 Vor dem Hintergrund dieser epistemischen Situation findet in Die Wahlverwandtschaften der Umgang mit dem »chemische[n] Cabinet« statt. Der Hauptmann plant, Charlotte und Eduard die »große Neigung« und »entschiedene Vereinigungslust« des »Kalks« »zu allen Säuren« experimentell vorzuführen: »Sobald unser chemisches Cabinet ankommt, wollen wir Sie verschiedene Versuche sehen lassen, die sehr unterhaltend sind und einen bessern Begriff geben als Worte, Namen und Kunstausdrücke.«301 Das Plädoyer des Hauptmanns für den Versuch/das Experiment ist zugleich ein Plädoyer für die zeitgenössisch neuen Formen und Methoden von Wissenschaftlichkeit. Zum anderen begründet er seine Motivation aber – im weiteren Sinne – ästhetisch: Ein Versuch gibt eine sinnliche Anschauung zu den (natur)wissenschaftlichen Formeln und ist noch dazu ›sehr unterhaltend‹. Die Engführung von Amateurwissenschaft und dilettantischem delectare setzt hier die »Trivialisierung«302, welcher die Experimentalwissenschaften um 1800 bereits zu unterliegen beginnen, ins Bild. Und noch in einer weiteren Hinsicht 298 Vgl. Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Anm. 10). S. 289–292, S. 296f, S. 318f, S. 427–429, S. 287, S. 328 sowie S. 425f. 299 Dass Dilettantismus in Die Wahlverwandtschaften »als Form der Analyse und Inszenierung moderner Wissensordnungen« fungiert, meint auch Elisabeth Strowick (Strowick [Anm. 258]. S. 426). Im Kontext von Experiment und Versuch ist (auch für die Frage nach Poetologien des Wissens) natürlich Goethes Schrift Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt aus dem Jahr 1793 von besonderem Interesse. Aufgearbeitet und als »experimental essay« bezeichnet hat diesen Text Burkhardt Wolf. Vgl. Burkhardt Wolf: Erzählen im Experiment. Narratologie und Wissensgeschichte am Kreuzweg der zwei Kulturen. In: Michael Gamper (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Göttingen 2010. S. 209–235. Hier: S. 222f. 300 Vgl. Federhofer: »Moi simple amateur« (Anm. 5). S. 100. 301 Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Anm. 10). S. 303. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 302 Michael Schmidt: Zwischen Dilettantismus und Trivialisierung. Experiment, Experimentmetapher und Experimentalwissenschaft im 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Cardanus (Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte) 5 (2005). S. 63–87. Hier : S. 63.

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bildet der Roman am Beispiel des chemischen Kabinetts die epistemischen Umbrüche und Überlagerungen um 1800 ab. Denn zunächst muss auf die Ankunft des Versuchsapparats gewartet werden. Die Zeit bis dahin überbrückt der Hauptmann, die epistemische Wende gewissermaßen ebenfalls verzögernd, mit einer repräsentativen Darstellung der Sachverhalte »in der Zeichensprache«: Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich eben so zu einem D verhält; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu D, C zu B werfen, ohne daß man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe.303

Das strukturale Modell, das mit seinen Variablen A, B, C und D auf (eine arbiträre) Repräsentation vor jeder Anschauung setzt, hat die Lesart ermöglicht, das ›chemische Gleichnis‹ auf die Figurenkonstellationen im Text zu übertragen und die Variablen auf diesem Weg inhaltlich zu füllen. Die Forschung ist sich allerdings einig darin, dass diese Art Übersetzung zu kurz greift. Denn das Modell ist nur ein Teil der komplexen Auseinandersetzung der Wahlverwandtschaften mit dem zeitgenössischen chemischen Wissen,304 außerdem besitzt es poetologischen Gehalt. Goethe setzt in seinem Roman u. a. der überholten Typologie der Wahlverwandtschaft305 seine Idee der Morphologie entgegen.306 Und nicht zu303 Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Anm. 10). S. 306. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 304 Goethe deutet schon durch den Titel des Romans auf die schnelle Verfallszeit des Wissens hin (vgl. dazu Strowick [Anm. 258]. S. 426). Dies ist neben dem Hinweis darauf, dass Wissen stets ein zeitlicher Index eignet, auch als Erinnerung daran zu lesen, dass dies für das Nicht-Wissen gleichermaßen gilt. Außerdem wird das veraltete Wissen durch den Rekurs wieder aktualisiert (vgl. Mariana Prus#k: Schiffbruch auf festem Lande. Über das Scheitern von Experimenten. In: Michael Gamper (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Göttingen 2010. S. 321–342. Hier: S. 337.). Die Problematik, dass überholtes Wissen schnell zu Nicht-Wissen herabgestuft wird, wird in Die Wahlverwandtschaften explizit erörtert. Auf Charlottes Bitte, der Hauptmann möge sie über das chemische Verwandtschaftsprinzip belehren, antwortet dieser : »Das will ich wohl gern tun […]; freilich nur so gut als ich es vermag, wie ich es etwa vor zehn Jahren gelernt, wie ich es gelesen habe. Ob man in der wissenschaftlichen Welt noch so darüber denkt, wüßte ich nicht zu sagen.« (Goethe: Die Wahlverwandtschaften [Anm. 10]. S. 300) Eduard verbindet diese Unsicherheit mit einer allgemeinen Klage über den prekär und ephemer gewordenen Status von Wissen überhaupt: »Es ist schlimm genug, rief Eduard, daß man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.« (ebd.) – Die rasante Beschleunigung des Wissens um 1800 kann in Die Wahlverwandtschaften auch an den Beispielen Architektur, Gartenbau, Pädagogik oder an den Liebeskonzepten nachgezeichnet werden. Vgl. Theo Elm: ›Wissen‹ und ›Verstehen‹ in Goethes »Wahlverwandtschaften«. In: Gabriele Brandstetter (Hg.): Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«. Freiburg i.Br. 2003. S. 91–107. 305 Zum naturwissenschaftlichen Modell der Wahlverwandtschaft vgl. das gleichnamige Ka-

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letzt kann aus dem Gleichnis, wie Christine Lubkoll bemerkt, der Hinweis auf die Unhaltbarkeit und Gefahr von Analogisierung überhaupt abgeleitet werden.307 Eduards Rede über Chemie wiederum ist – wie Waltraut Wiethölter nachgewiesen hat – doppeldeutig dahingehend, dass sie auf alchemistisches Gedankengut anspielt und so »die Chemie als scheinbar cartesisch gefestigte Wissenschaft mit ihrer Geschichte, ihrem angeblich abgegoltenen Mythos konfrontiert«308. Aufgrund derartiger versuchsweiser Verschaltungen von Diskursen309 und Überlagerungen von Wissensordnungen kann den Wahlverwandtschaften als literarischem Text zum einen der Status eines Experiments attestiert werden.310 Zum anderen wird der Roman dadurch als enzyklopädisch angelegtes Archiv des Wissens lesbar ;311 und zwar sowohl was die Inhalte als auch was die Formen des Wissens angeht. Ein Archiv des Wissens stellen Die Wahlverwandtschaften – genauso wie später Bouvard et P8cuchet – auch im Hinblick auf die Tradition des künstlerischen Dilettantismus dar.312 Und wie

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pitel bei Christine Lubkoll, in dem auch Goethes Quellen diskutiert werden. Vgl. Christine Lubkoll: Wahlverwandtschaft. Naturwissenschaft und Liebe in Goethes Eheroman. In: Gabriele Brandstetter (Hg.): Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«. Freiburg i.Br. 2003. S. 261–278. Hier: S. 264– 268. Den wissensgeschichtlichen Hintergrund der Chemie haben u. a. ausgeleuchtet: Jeremy Adler : »Eine fast magische Anziehungskraft«. Goethes »Wahlverwandtschaften« und die Chemie seiner Zeit. München 1987, Christoph Hoffmann: Zeitalter der Revolutionen. Goethes »Wahlverwandtschaften« im Focus des chemischen Paradigmenwechsels. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993). S. 417–450 und Rolf Selbmann: Auf den Menschen reimt sich die ganze Natur. Über das Verhältnis von Chemie und Literatur im 19. Jahrhundert. In: Euphorion 90 (1996). S. 153– 165. Vgl. Lubkoll (Anm. 305). S. 262. Die Idee der Morphologie bestimmt nach Lubkoll auch die poetologische Struktur des Textes. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Waltraud Wiethölter : Von der Anstalt des Wissens und der Liebe zum eigenen Rock. Goethes »Wahlverwandtschaften«, enzyklopädisch. In: Gabriele Brandstetter (Hg.): Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«. Freiburg i.Br. 2003. S. 65–89. Hier: S. 79. Dass die Überlagerung des wissenschaftlichen Konzepts von Attraktionen der Elemente und dessen Übersetzung ins Soziale außerdem durchkreuzt wird von der »›Sympathie‹-Lehre, die in der zeitgenössischen Naturphilosophie (etwa bei Jung-Stilling, Schubert, Wienholt, Schelling) als Erklärung für den Rapport der Körper und Seelen einsteht«, ist die These Gabriele Brandstetters (Brandstetter: Gesten des Verfehlens [Anm. 258]. S. 44). – Zum Experiment in der Literatur der Romantik und zu romantischen Konzeptionen literarischer Texte als Experimente vgl. Gamper : Experimentelles Nicht-Wissen (Anm. 189). S. 535. Vgl. Strowick (Anm. 258). S. 436. Vgl. Brandstetter : Gesten des Verfehlens (Anm. 258). S. 45. Mit Eduards Adel und seinem Flötenspiel (vgl. Goethe: Die Wahlverwandtschaften [Anm. 10]. S. 287) ist die vormoderne Dilettantismustradition anzitiert. Das Dilettieren im Gartenbau, in der Architektur und im Liebhaberschauspiel folgt den Rubriken der ästhetischen Schemata von 1799.

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Flauberts weist auch Goethes Roman zugleich in literarischer Form auf die Unzulänglichkeiten des enzyklopädischen Diskurses hin. Flaubert wird gut siebzig Jahre später mit der positivistisch entgrenzten Enzyklopädistik des 19. Jahrhunderts sinnbildlich in Gestalt unüberlegt gehorteter Museumsgegenstände abrechnen. Goethe rechnet mit den – das formale Wissen tendenziell verabsolutierenden – Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts ab, und zwar durch die Wahl des Mediums Literatur. Er schreibt einen enzyklopädischen Roman,313 der als literarischer Text auf das Alphabet und/oder eine strenge Systematik als Ordnungssysteme verzichten und überdies die innovativen Möglichkeiten der Generierung genuin literarischen Wissens ausloten kann. Am Beispiel der Mehrfachkodierung des chemischen Diskurses314 wird deutlich, dass die Art und Weise, in der die großen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts das Wissen ordneten, »an einem strategisch belangvollen Punkt aus den Angeln«315 gehoben wird. Und das bedeutet umgekehrt, dass die Literatur als aktive Instanz für die Generierung neuen Wissens etabliert wird. Die Poetik des Dilettantismus in Die Wahlverwandtschaften lässt sich folgendermaßen beschreiben: Inhaltlich archiviert Goethe erstens die Tradition adligen Dilettierens, zweitens diejenigen Erscheinungsweisen des Dilettantismus, welche die klassizistische Ästhetik diskutiert und in den Schemata Über den Dilettantismus systematisiert hatte, und drittens amateurhafte, (natur)wissenschaftliche Praktiken wie das Experimentieren. Dieses Archiv des Dilettantismus ist nicht zuletzt lesbar als eine Selbstreflexion des Dilettantismusdiskurses. Was den künstlerischen Dilettantismus angeht, ist in Die Wahlverwandtschaften eine positivere Bewertung als in den Schemata zu verzeichnen. In der Rede des Erzählers findet sich sogar eine programmatische Verteidigung des Dilettanten und der Halbkönnerschaft. Er meint: »Es ist eine so angenehme Empfindung sich mit etwas zu beschäftigen was man nur halb kann, daß Niemand den Dilettanten schelten sollte, wenn er sich mit einer Kunst abgibt, die er nie lernen wird«316. Entsprechend werden Lucianes Darstellungen lebender Bilder keiner Kritik unterzogen317 und Eduards, von Ottilie begleitetes, dilettantisches Flötenspiel ist »auf eine so liebevolle Weise entstellt«318. Im Fall Goethes ist der Literatur (Die Wahlverwandtschaften) im Vergleich zur Ästhetik (Über den Dilettantismus) eine mildere Haltung dem künstlerischen Dilettantismus gegenüber abzulesen. Diese Milde in Goethes spätem, seinem ›roman313 Zur Lesart der Wahlverwandtschaften als enzyklopädischer Roman vgl. auch Wiethölter (Anm. 308). 314 Vgl. ebd. S. 79. 315 Ebd. 316 Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Anm. 10). S. 404. 317 Vgl. ebd. S. 193f. 318 Ebd. S. 328.

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tischen‹ Text ist u. a. im Horizont einer Komplementarität von Klassizismus und Romantik als Öffnung für andere ästhetische bzw. poetische Ansätze als die klassizistischen zu verstehen. Selbstreflexiv ist der Dilettantismusdiskurs in Die Wahlverwandtschaften also auch dahingehend, dass er auf die nur relative Gültigkeit und den Zuschreibungscharakter von ›Dilettantismus‹ aufmerksam macht. Was den wissenschaftlichen Dilettantismus angeht, wird veraltetes bzw. überholtes Wissen319 mit zeitgenössisch neuen Methoden der Wissensgenerierung diskursiv verknüpft. Mit der Experimentalanordnung, die der Text dadurch vornimmt, wird schließlich ein Ausblick auf eine Zukunft gegeben, in der der heuristische Wert genuin literarischen Wissens anerkannt sein wird/könnte. In dieser Zukunft ist, zumindest historisch betrachtet, Flauberts Dilettantenroman Bouvard et P8cuchet angesiedelt. Auch hier spielt ein ›chemisches Gleichnis‹ eine nicht unerhebliche Rolle. Bei Flaubert ist die (epistemische) Reihenfolge jedoch umgekehrt, hier geht der ›Gleichnisrede‹ »in der Zeichensprache«320 das praktische Experiment voraus: Bouvards und P8cuchets Versuche, selbst Gemüse einzumachen und Alkohol herzustellen, misslingen, die zu diesen Zwecken verwendeten Geräte explodieren. Als sie ihre Sprache wiederfanden, fragten sie sich nach der Ursache so vieler Mißgeschicke, vor allem des letzten, und sie verstanden gar nichts – nur eben, daß sie fast umgekommen wären. P8cuchet fand abschließend diese Worte: – Vielleicht kommt es davon, daß wir nichts von Chemie verstehen.321

Vom gescheiterten Experiment gehen die beiden dann zur Lektüre eines populärwissenschaftlichen Chemie-Lehrwerks über : Um die Chemie kennenzulernen, besorgten sie sich den Lehrgang von Regnault und lernten zuallererst, daß »einfache Körper vielleicht zusammengesetzt sind«. […] Die Formeln erschienen ihnen seltsam. Die vielfachen Verbindungen verwirrten P8cuchet. – Wenn ein Molekül A, wie ich annehme, sich mit mehreren Teilen von B verbindet, scheint es mir, als müsse dieses Molekül sich in ebensoviele Teile spalten; aber wenn es sich spaltet, hört es auf, die Einheit zu sein, das ursprüngliche Molekül. Ich verstehe das ganz einfach nicht. – Ich auch nicht, sagte Bouvard.322

Das Experimentieren hat in der Sicht des späten 19. Jahrhunderts, folgt man zumindest Flaubert, offenbar nicht mehr nur Innovationscharakter, sondern auch ein enormes Potential zu scheitern. Ein produktives Moment – etwa im 319 Vgl. Anm. 215. 320 Wie Anm. 303. 321 Flaubert (Anm. 217). S. 74. Dass dieser Ausruf nicht nur als Reaktion der beiden Protagonisten auf ihre Unkenntnis und falsche Anwendung von Dünge- und Destilliermethoden, sondern auch als parodistische Anspielung auf Die Wahlverwandtschaften und die Rolle der Chemie in diesem Text gelesen werden kann, bemerkt auch Hildegard Haberl. Vgl. Haberl: »An der Natur herumversuchen« (Anm. 297). S. 177. 322 Flaubert (Anm. 217). S. 75.

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Sinne des Bildens einer neuen Hypothese323 – wollen Bouvard und P8cuchet dem Scheitern nicht abgewinnen; ihnen geht es um die Entwertung von Wissen. Dass der Wissens- und Erkenntnisgewinn an populäre Wissensmedien delegiert wird, welche diesen dann aber nicht gewährleisten können, bekräftigt dieses Anliegen zusätzlich diskursiv. Während der Hauptmann das chemische Gleichnis zwar nach den veralteten Maßstäben der klassischen Episteme, aber – obwohl als Laie – dennoch recht souverän präsentiert, sind sich Bouvard und P8cuchet einig darin, nichts zu verstehen. Und während der Erzähler der Wahlverwandtschaften in vollem Ernst Gnade mit den Dilettant_innen walten lässt, schreibt Flaubert einen satirischen Roman. An den unterschiedlichen Gestaltungen des chemischen Gleichnisses in den beiden großen Dilettantenromanen lässt sich erstens eine Entwicklung des (natur)wissenschaftlichen Dilettantismusverständnisses im 18. und 19. Jahrhundert von einer ›Wissenschaft inklusive Dilettantismus‹ zu einer ›Wissenschaft(lichkeit) möglichst exklusive Dilettantismus‹ ablesen. Zweitens ist eine Veränderung im selbstreflexiven Gehalt des Dilettantismusdiskurses zu verzeichnen: Ein milder und selbstkritischer Umgang mit ›Dilettantismus‹ weicht einem satirischen Zugriff. Zu einer positiven Selbstbezeichnung wird »Dilettantismus« aber schon sehr bald wieder werden, nämlich um 1900. In Kapitel D wird Carl Einsteins artistische Ästhetik als ein Beispiel hierfür diskutiert werden. Bouvard und P8cuchet, die die »experimentelle[…] Methode«324 u. a. in der Erziehung anwenden wollen, vertrauen beim eigenen Lernen auf die Autodidaktik. Diese wird vom Erzähler als eine Praktik des Dilettantismus kenntlich gemacht. Eine ähnliche, aber eben doch in zentralen Punkten anders gelagerte Konstellation von Pädagogik, Autodidaktik und Dilettantismus sowie eine ebenfalls intrikate Beziehung zwischen Erzähler und Protagonist eines Dilettantenromans soll nun am Beispiel von Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser untersucht werden.

323 Zum produktiven Moment des Scheiterns von offenen bzw. explorativen Experimenten vgl. Prus#k (Anm. 304). S. 322. Genau genommen kann ein Experiment gar nicht scheitern, denn die Hypothesen können fallengelassen und eine neue Experimentalordnung kann etabliert werden. Ein Experiment liefert immer eine Antwort, wenn auch in manchen Fällen eine andere als die gesuchte oder gewünschte. Vgl. ebd. 324 Wie Anm. 288.

C.

Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren: Pädagogische und künstlerische Modelle des Selbstund Fremdbezugs in Karl Philipp Moritz, Anton Reiser (1785–1790)

Im vorigen Kapitel wurde Karl Philipp Moritz als Vertreter einer ästhetischen Position eingeführt, die ihrem anti-psychologischen Impuls entsprechend den Dilettantismus aus einer bestimmten psychischen Disposition herleitet.1 Karl Philipp Moritz nicht nur als Theoretiker, sondern auch als Literaten in den Fokus zu nehmen, erwächst gewissermaßen als logische Konsequenz aus dem bisher Entwickelten: Zum einen ist Schillers und Goethes Konzept des Dilettantismus maßgeblich von Moritz’ Theorie des falschen Bildungstriebs geprägt,2 zum anderen siedelt Moritz die Problematik des Anton Reiser u. a. auf einem Gebiet an, dem in den Dilettantismus-Schemata eine zentrale Stellung zukommt: auf dem Theater.3 Moritz’ Schaffen steht sowohl historisch als auch systematisch im Zentrum der Dilettantismusdiskussion um 1800. Eine Literarisierung der Dilettantismusproblematik gerade durch Karl Philipp Moritz verspricht daher eine umfassende Analyse und Reflexion dieses Phänomens leisten zu können. Es sprechen aber noch andere Gründe dafür, Anton Reiser zum Gegenstand einer Untersuchung der Erscheinungsweisen des Dilettantismus um 1800 zu machen: 1 Vgl. S. 36, Anm. 16 und S. 48. – Bei Alessandro Costazza ist nachzulesen, dass Moritz’ anti-psychologische Haltung eine Reaktion auf missverstandene Auslegungen der aufklärerischen Wirkungsästhetik sei. Im Zuge der Entstehung eines literarischen Marktes und der Professionalisierung der Kunst diene das Streben nach Empfindung nicht mehr der Herzensbildung, sondern werde nur noch für den Beifall funktionalisiert. Vgl. Alessandro Costazza: Die anti-psychologische Ästhetik eines führenden Psychologen des 18. Jahrhunderts. In: Wolfgang Griep (Hg.): Moritz zu ehren. Beiträge zum Eutiner Symposium in Juni 1993. Eutin 1996. S. 9–30. Hier: S. 27. 2 Vgl. dazu ausführlich Hans Rudolf Vaget: Das Bild vom Dilettanten bei Moritz, Schiller und Goethe. In: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts (1970). S. 1–31. 3 Die höchst prominente Stellung des Theaters prägt den Dilettantismusdiskurs von Beginn an, denn die erste belegte Verwendung des Begriffs »dilettanti« (1427 in Italien) diente der Bezeichnung »eines bestimmte[n] Typus des Laienschauspielers, und zwar de[s] Laiendarsteller[s] der commedia erudita im Kontrast zum professionellen Schauspieler der commedia dell’arte.« Matthias Plumpe: Dilettant/Genie. Zur Entstehung einer ästhetischen Unterscheidung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41 (2011). S. 150–175. Hier : S. 152.

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Dass der Text als »ein psychologischer Roman«4 ausgezeichnet ist, deutet auf eine aufschlussreiche Diskursvernetzung von Literatur und Seelenkunde – bei Moritz: Erfahrungsseelenkunde – hin und weist den Text als repräsentativ für Wissenskonstellationen von Ästhetik und Anthropologie um 1800 aus.5 Die Verbindung von Moritz’ Ästhetik und seinem psychologischen Roman Anton Reiser wirft zunächst ein Problem von immenser Tragweite auf: Ästhetisch antipsychologisch orientiert zu sein und Dilettantismus psychologisch zu erklären, lässt sich noch vereinbaren, steht doch dem autonomen Genie der in psychischer (Selbst)Täuschung befangene Dilettant entgegen. Ästhetik aber antipsychologisch zu begründen und zugleich literarisch Seelenkunde betreiben zu wollen, spannt gerade einen psychologischen Roman über Dilettantismus wie Anton Reiser zwischen zwei schwer vereinbare Pole. Ein im Medium der Literatur unternommener, seelenkundlich motivierter Zugriff auf das psychisch begründete Scheitern in der Kunst steht vor der Aufgabe, sich zu den inhaltlich vertretenen Behauptungen über Kunst und Ästhetik formal verhalten zu müssen. Die Frage, ob an den Roman Anton Reiser die Anforderung gestellt ist, dem Autonomiepostulat, wie es Moritz in seiner Ästhetik vertritt, zu entsprechen, ist unterschiedlich beantwortet worden.6 Die Herausforderung für den psycholo4 Auf den Titelseiten zu jedem der vier Teile des Romans wird der Text stets als »ein psychologischer Roman« ausgezeichnet. Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Hg. von Heide Hollmer undAlbert Meier. Frankfurt/M. 1999. S. 85– 518. Hier : S. 85, S. 185, S. 285 und S. 413. 5 Barbara Thums spricht von einer »Gleichursprünglichkeit vom empirischer Wissenschaft und Ästhetik« (Barbara Thums: Die schwierige Kunst der »Selbsterkenntnis – Selbstbeherrschung – Selbstbelebung«. Aufmerksamkeit als Kulturtechnik der Moderne. In: dies. und Britta Herrmann (Hg.): Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 1750–1850. Würzburg 2003. S. 139–163. Hier : S. 151.), die in dem Umstand, dass Moritz »in Personalunion Erfahrungsseelenkundler, Pädagoge, Ästhetiker und Romanautor« (Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008. S. 28.) ist, vorbildhaft zum Ausdruck kommt. Entsprechend seien Moritz’ Schriften optimal dazu geeignet, »die interdiskursiven Transformationsprozesse zwischen literarischem und nicht-literarischem Wissen sowie zwischen den Ästhetisierungen der Anthropologie und den Anthropologisierungen der Ästhetik« (ebd. S. 28) zu erschließen. 6 Die Forschung tendiert dazu, diese Frage zu verneinen. Vgl. Klaus-Detlef Müller : Karl Philipp Moritz. Lebenswelt und Ästhetik. Anton Reiser und das Konzept der Kunstautonomie. In: Etudes Germaniques 50 (1995). S. 59–72. Hier : S. 60, Hans Esselborn: Der gespaltene Autor. »Anton Reiser« zwischen autobiographischem Roman und psychologischer Fallgeschichte. In: Recherches germaniques 25 (1995). S. 69–90. Hier: S. 87, Josef Fürnkäs: Der Ursprung des psychologischen Romans. Karl Philipp Moritz’ »Anton Reiser«. Stuttgart 1977. S. 27, Nicolas Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007. S. 248, Bruno Preisendörfer : Psychologische Ordnung – Groteske Passion. Opfer und Selbstbehauptung in den Romanen von Karl Philipp Moritz. St. Ingbert 1987. S. 42. Für ein Verständnis des psychologischen Romans, welches dessen ästhetischen Eigenwert akzentuiert, treten Alo Allkemper und Helmut Pfotenhauer ein. Vgl. Alo Allkemper: Ästhetische Lösungen. Studien zu Karl Philipp Moritz. München 1990. S. 32 und Helmut Pfotenhauer :

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gischen Roman als ein in sich geschlossenes Kunstwerk bestünde darin, sich vom Gegenstand seiner Darstellung, dem Dilettantismus Antons, nicht ästhetisch ›kontaminieren‹ zu lassen. Außerdem hätte der Text seine Bezüge zu extratextuellen Kontexten zu kappen. Ich plädiere für eine Lesart von Anton Reiser, die den Roman insofern als ein geschlossenes Ganzes versteht, als er erfahrungsseelenkundliches, pädagogisches und ästhetisches Wissen in sich vereint.7 Die Geschlossenheit besteht nicht im autonomieästhetischen Sinne darin, dass der Roman »als Ganzes betrachtet, […] weiter keine Beziehung auf irgend etwas außer sich«8 hätte, sondern dass Karl Philipp Moritz in seiner Funktion als Herausgeber eine Einheit und Kohärenz der in den Text eingespeisten Diskurse suggeriert.9 Für meine Untersuchung sind folgende narratologische Einsichten leitend: Indem Moritz Herausgeberschaft fingiert,10 macht er die Systemstelle Autor bzw. die Funktion Autor frei.11 Die theoretische Möglichkeit, dadurch eine

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Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987. S. 109. Soweit stimme ich mit Ansätzen wie dem Nicolas Pethes’ überein, der der Ansicht ist, dass Moritz’ Romanpoetik die wechselseitige Abhängigkeit von Erfahrungsseelenkunde und Literatur verdeutliche und ein Wissensfeld eröffnen wolle, auf dem die Trennung von literarischen und psychologischen Schreibweisen gleichermaßen unnötig und unmöglich ist. Vgl. Pethes (Anm. 6). S. 248. Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1997. S. 958–991. Hier : S. 967. Das Ende des 18. Jahrhunderts ist, so Uwe Wirth, geprägt von einer bestimmten Form der Auslöschung des Autors, nämlich der fingierten oder fiktiven Herausgeberschaft. Die Funktionen, die Michel Foucault für diese Zeit dem Autornamen zuordnet, gehen dabei auf den Herausgeber über (vgl. Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberschaft. Editoriale Rahmung im Roman um 1800. Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann. München 2008. S. 39.). Für Anton Reiser bedeutet Karl Philipp Moritz’ fingierte Herausgeberschaft, dass das in den Text eingespeiste Wissen auf Moritz’ ästhetische Theorie und die Wissensbestände des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde hin perspektiviert wird bzw. als aus diesen geschöpft erscheint. Die Herausgeberfunktion als Instanz der Stiftung von diskursiver Einheit hervorzuheben, erweist sich mit Blick auf Anton Reiser als sinnvolle Alternative zu autobiographischen Lesarten, weil sie diskursive Zusammenhänge zwischen dem Roman und anderen Texten Moritz’ anerkennt und fruchtbar macht, aber nicht hinter narratologische Standards wie die Unterscheidung zwischen Autor und Herausgeber oder zwischen Autor bzw. Herausgeber und Figur zurückfällt. Vom Suggerieren von diskursiver Einheit und Kohärenz spreche ich, weil durch die fingierte Herausgeberschaft Moritz’ mit dem Erzähler und der Funktion Autor Instanzen der Diskursproduktion aufgewertet werden, deren Wissen nicht notwendigerweise mit dem des Herausgebers identisch sein muss. Der fingierte editoriale Paratext, in dem der wirkliche Schriftsteller vorgibt, der Herausgeber zu sein (vgl. Wirth [Anm. 9]. S. 47), findet sich auf den Titelblättern zu allen vier Teilen des Romans und lautet schlicht: »Herausgegeben von Karl Philipp Moritz«. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 85, S. 185, S. 285 und S. 413. Der fingierte Herausgeber befindet sich zwar in relativer Nähe zum wirklichen Schriftsteller, hat aber durch die »negative Geste auktorialer Verneinung den Bruch mit der Idee eines

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Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

»sekundäre Autorschaft«12 zu etablieren, nutzt der Herausgeber Moritz nicht: Die Reflexion auf Herausgebertätigkeiten entfällt völlig,13 die Vorreden zu den einzelnen Romanteilen ›spricht‹ der Erzähler, nicht der Herausgeber.14 Mit den Vorreden sind auch die poetologische Selbstdeutung des Romans und die Instruktion der Leser_innen15 an den Erzähler delegiert. Gerade die Anweisungen des Erzählers an die Leser_innen aber stehen, wie ich zeigen werde, teilweise im Widerspruch zu den Aussagen, die der Text macht. Der ›Verzicht‹ Moritz’ auf die Autorschaft und die Unzuverlässigkeit des Erzählers lenken den Blick auf eine weitere Instanz, die den Diskurs auf einer höheren Ebene steuert, nämlich die Autorfunktion für das Romanganze Anton Reiser. Sie ermöglicht es, »Gestaltungsmittel der höheren Textebene als überindividuelle Intentionalität einer

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›genuinen Erzeugers‹ bereits vollzogen.« (Wirth [Anm. 9]. S. 187) Denn indem sich der reale Autor als Herausgeber ausgibt, »schreibt er sich die Rolle einer allographen Aussage-Instanz zu. Fiktive Allographie impliziert immer eine Verneinung von Autorschaft, und diese negative Geste ist die Voraussetzung für jede Herausgeberfiktion.« (ebd. S. 145) G8rard Genette fasst mit dem Begriff »Allographie« die Trennung zwischen dem Autor und dem Verfasser des Vorworts (vgl. G8rard Genette: Paratexte. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt/M./New York 1989. S. 252. Zum Konzept Allographie vgl. ausführlicher das Kapitel »Andere Vorworte, andere Funktionen« in ebd. S. 228–280.). Für Anton Reiser ist zu berücksichtigen, dass der fingierte Herausgeber, Karl Philipp Moritz, keine Herausgeber-Vorworte ›spricht‹. Die Vorreden in Anton Reiser haben nicht den editorialen Prozess zum Gegenstand und werden überdies vom Erzähler ›gesprochen‹ (vgl. Anm. 14). Dass einige editoriale Aufgaben, z. B. die Ansprache der Leser_innen und die Kommentierung des Erzählten, an den Erzähler delegiert werden, ist eine notwendige Bedingung für die Realisierung von dessen pädagogischem Projekt. Wirth (Anm. 9). S. 44. Zu den Herausgebertätigkeiten, die im Roman um 1800 häufig reflektiert werden, gehören die Auffindungsgeschichte, das Verfassen einer Einleitung, die Drucklegung und die Veröffentlichung (vgl. ebd. S. 110). All dies wird in Anton Reiser nicht thematisiert. Ich verwende die Bezeichnung »Erzähler«, die im Unterschied zum neutraleren Begriff »Aussageinstanz« Personalität und Männlichkeit suggeriert, weil die Erzählstimme zum einen mit Deiktika auf sich selbst und die Zeit des Erzählens verweist – also sich als extradiegetisch-heterodiegetische Figur etabliert –, und zum anderen männlich konnotiert ist. Mit dem Personalpronomen »ich« verweist der Erzähler beispielsweise auf den Seiten 112 oder 192 auf sich selbst. Bei der Rede von den »vorzüglichsten Schauspieler[n] […], die jetzt in ganz Deutschland verstreut sind« (Moritz: Anton Reiser [Anm. 4]. S. 272), »damals [aber] […] die glänzendste Schauspielerepoche in Deutschland« (ebd. S. 390) gewesen war, wird auf die Zeit des Erzählens – wenngleich vage – verwiesen. Die männliche Konnotation ist strukturell begründet: Sowohl das pädagogische Projekt des Erzählers, als auch die Vorreden stehen jeweils in einem Vater-Sohn-Verhältnis zu den zu Erziehenden bzw. zum Haupttext (Zur Analogie von Vorredediskurs und Haupttext und dem Verhältnis von Vater und Sohn vgl. Wirth [Anm. 9]. S. 42). Dass der Erzähler – und nicht der Herausgeber – die Vorreden ›spricht‹, leite ich aus der inhaltlichen Deckungsgleichheit der Vorreden mit Erzählerkommentaren in der Geschichte sowie aus der Verwendung desselben Vokabulars und derselben Metaphorik in der Geschichte und in den Vorreden ab. Vgl. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). z. B. S. 414, S. 137, S. 286, S. 266, S. 161 und S. 186. Vgl. Wirth (Anm. 9). S. 118 und S. 44.

Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

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Strategie des Textes zu fassen«16, ohne durch die Personalität und Leserorientierung – wie sie beispielsweise die Annahme eines implied author mit sich brächte –17 die Autonomie des Textes in Frage zu stellen. Die Geschlossenheit von Anton Reiser wird suggeriert durch die diskursive Einheit stiftende Herausgeberfunktion. Die ästhetische Autonomie des psychologischen Romans wird gewährleistet durch die Autorfunktion, die als »überindividuelle und überpersönliche Form der Intentionalität«18 den Text arrangiert und u. a. die Geltung der Erzählerrede relativiert. Die Erzählerrede wiederum ist alles andere als autonom und selbstzweckhaft. Im Gegenteil: Der Erzähler verfolgt ein pädagogisches Projekt, welches dezidiert an die Leser_innen gerichtet ist.19 Das narrative Arrangement des Textes arbeitet der Realisierung dieses Projekts bis zu einem bestimmten Punkt (d.i. der Erweis der Unzuverlässigkeit des Erzählers) zu: Nicht der Herausgeber Karl Philipp Moritz, sondern der Erzähler geht den editorialen Pakt mit den Leser_innen ein: In den Vorreden, den »quasi-mündliche[n] Kommunikationssituation[en], in [welchen] Schwellen- und Interaktionsrituale vollzogen werden«20, gibt er direktive Leseanweisungen und deklarative Selbstbeschreibungen.21 Die Übernahme editorialer Aufgaben und das auf den extratextuellen Bereich gerichtete erzieherische Interesse situieren den Erzähler auf der Schwelle von innerem und äußerem Kommunikationssystem. Moritz’ fingierte, aber nur begrenzt ausgefüllte Herausgeberschaft setzt also strukturell die ästhetische Autonomie (hergestellt qua Autorfunktion) und das pädagogische Projektieren (vollzogen vom quasi-editorialen Erzähler) gleichermaßen in Kraft. Die Herausgeberfunktion Moritz’ etabliert den Diskursraum Anton Reiser als Ort der Wissensmodellierung, -transformierung und -generierung, die Autorfunktion zeichnet zugleich verantwortlich für die poetische Qualität des Textes. 16 Ebd. S. 181. 17 Die Diskussion in der Forschung über die Tragfähigkeit des Konzepts implied author (Booth), über die Frage, ob zwischen realem Autor und fiktivem Erzähler eine übergangslose Trennung anzunehmen ist oder nicht (Genette, Mart&nez-Bonati) sowie über Versuche, den implied author durch die Struktur des Werkganzen zu ersetzen (Nünning), ist prägnant aufgearbeitet bei Wirth. Vgl. ebd. S. 180–183. 18 Ebd. S. 182. 19 Vgl. Kapitel II. 2. 20 Wirth (Anm. 9). S. 120. 21 Zum editorialen Pakt vgl. ebd. S. 44. Ein Beispiel für eine direktive Leseanweisung ist der Wunsch, die Lehrer und Erzieher unter den Leser_innen möchten Anton Reisers Geschichte zur »Veranlassung nehmen […], in der Behandlung mancher ihrer Zöglinge behutsamer […] zu sein!« (Moritz: Anton Reiser [Anm. 4]. S. 286) Ein prominentes Beispiel für eine deklarative Selbstbeschreibung ist in der Vorrede zum zweiten Teil des Romans zu finden, wenn der Erzähler sich »genötigt [sieht], zu erklären, daß dasjenige, was ich […] einen psychologischen Roman genannt habe, im eigentlichsten Verstande Biographie […] ist«. Ebd. S. 186.

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Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

Einer Analyse, die nach der diskursiven Verknüpfung von bestimmten Wissensbeständen fragt, dient der Herausgeber Karl Philipp Moritz22 zur Konkretisierung dieser Bestände: Wenn Moritz den Dilettantismus mit Selbsttäuschung begründet, agiert er als Erfahrungsseelenkundler auf dem Gebiet der Ästhetik. Als Ästhetiker wiederum will er jede Psychologie ausschließen. Als Erfahrungsseelenkundler und Pädagoge sammelt er Fallgeschichten im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Als Herausgeber von Anton Reiser schließlich veröffentlicht er einen psychologischen Roman mit pädagogischem Gehalt.23 Entlang der Unterscheidung von Herausgeber(funktion), Erzähler und Autorfunktion sollen im Folgenden Textwissen und Texthandeln untersucht werden. Das Wissen, welches in den Blick genommen werden wird, entstammt den Disziplinen Pädagogik und Ästhetik – verantwortlich hierfür zeichnen der Erzähler und der Herausgeber. Davon ist das poetologische Handeln, das sich in der poetischen Organisation dieses Wissens im Text zeigt, zunächst zu unterscheiden – diese Dimension wird mit der Autorfunktion erfasst. Diese Unterscheidung stellt die methodische Grundlage für eine Untersuchung des Wechselspiels von Wissen und Poesis dar. Ich möchte im Folgenden argumentieren, dass das poetologische Handeln in Anton Reiser, also das Wissen der Literatur, die Position dieses Textes im kulturellen Diskurs seiner Zeit reflektiert und der psychologische Roman daher als Beispiel für die Interdependenzen von pädagogischem und ästhetischem Wissen um 1800 gelten kann.24 In Anton Reiser werden zwei Modelle des künstlerischen und pädagogischen Fremd- und Selbstbezugs eingeführt, die, so meine These, stellvertretend auch 22 Darüber, dass Karl Philipp Moritz nicht nur der Herausgeber, sondern auch der reale Autor von Anton Reiser ist, besteht Konsens. Dies soll auch hier nicht in Zweifel gezogen werden. Gleichwohl muss die Tatsache der fingierten Herausgeberschaft ernst genommen und darf nicht einfach übergangen werden. Die Negierung der Autorschaft und die spezifische Form der Realisierung der Herausgeberschaft sind nämlich Teil eines editorial-narrativen Arrangements, welches den Status des psychologischen Romans Anton Reiser in der Gemengelage von Autonomieästhetik und Erfahrungsseelenkunde überhaupt erst erschließbar macht. 23 Der erste Publikationsort einiger Fragmente »aus Anton Reisers Lebensgeschichte« im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde hat Anlass zu Lektüren des Anton Reiser als Fallgeschichte gegeben (vgl. Christiane Frey : Karl Philipp Moritz: »Anton Reiser« (1785–1790). In: Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes und Yvonne Wübben (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2013. S. 322–326. Hier: S. 324. Vgl. außerdem Christiane Frey : Der Fall »Anton Reiser«. Vom Paratext zum Paradigma. In: Anthony Krupp (Hg.): Karl Philipp Moritz: Signaturen des Denkens. Amsterdam 2010. S. 19–43.). Meines Erachtens kommt bei dieser Herangehensweise die ästhetische Spezifik des Textes zu kurz. 24 Vgl. dazu auch meinen Aufsatz Konkurrierendes Bildungswissen in Karl Philipp Moritz, »Anton Reiser«: Pädagogik, Epigenesislehre, Poetik. In: Silke Förschler und Nina Hahne (Hg.): Methoden der Aufklärung. Ordnungsmuster der Wissensvermittlung und Erkenntnisgenerierung in Literatur und Kunst. München/Paderborn 2012. S. 133–145.

Autodidaktik als Prüfstein der Selbsterziehung und des Bildungsromans

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die Autonomieästhetik und den Bildungsroman – als literarisch-pädagogisches Konzept – reflektieren und kritisch befragen. Als Ort, an dem poetologische Modelle durchgespielt werden, ist Anton Reiser in hohem Maße selbstreflexiv. In diesem eingeschränkten und spezifischen Sinne – nämlich der Spiegelung des Großen und Allgemeinen im Kleinen und Besonderen25 – kann der Text als Dokument der Autonomieästhetik betrachtet werden,26 die den Grad autonomer Schönheit daran misst, »je mehrere solcher Beziehungen eine schöne Sache von ihren einzelnen Teilen zu ihrem Zusammenhange, das ist, zu sich selber, hat«27. Zugleich sind diese poetologischen Modelle je an ein pädagogisches Modell gebunden: Es handelt sich dabei um das Projektemachen als Form des (in diesem Falle: erzieherischen) Fremdbezugs und um die Autodidaktik als Form des Selbstbezugs, für die im Roman der Erzähler und der Protagonist Anton eintreten. Es wird also zu fragen sein, ob und wie Antons autodidaktische Praktiken poetologische Konzepte (genauer : den Bildungsroman) reflektieren. Weiterhin muss der Überlegung nachgegangen werden, wie sich das projektierende Erzählen des Erzählers zum Programm der Autonomieästhetik verhält. Die in Anton Reiser präsentierten künstlerischen Modelle beziehen sich neben der Dichtung auch auf die Schauspielerei. Auch Antons Theaterspiel ist also auf Zusammenhänge zur Autodidaktik bzw. auf pädagogische Implikationen zu prüfen. Die Analyse seines theatralen Dilettantismus und der entsprechenden zeitgenössischen Kontexte wird den Abschluss dieses Kapitels bilden.

I.

Autodidaktik als Prüfstein der Selbsterziehung und des Bildungsromans

Der erste Aspekt, unter welchem Anton Reiser also betrachtet werden soll, ist Antons Autodidaktentum. Der die Analyse leitende Gedanke ist, dass Autodidaktik per definitionem als Kippphänomen erscheint, das in seinem ausgeprägten Selbstbezug sowohl die Chance zu genialischer Bildung und einem stabilen Ich-Gefühl als auch die Gefahr des Dilettantismus, Autismus und Selbstverlusts in sich trägt. Die zu entfaltende These lautet dann: Mit der Autodidaktik ist ein pädagogisches Modell gewählt, anhand dessen Anton Reiser das (Selbst-)Erziehungsprojekt der Aufklärung ebenso wie sich selbst als (Anti-)Bildungsroman28 reflektiert und in Frage stellt.

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Vgl. Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen (Anm. 8). S. 972f. Zu den Positionen in der Forschung zu diesem Aspekt vgl. Anm. 6. Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen (Anm. 8). S. 968. Zum Begriff des »Anti-Bildungsromans« vgl. Anm. 42.

110 I.1.

Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

Der Autodidakt. Eine begriffsgeschichtliche Annäherung

Zur Annäherung an den Begriff des Autodidakten um 1800 ist man signifikanterweise ausschließlich auf Konversationslexika verwiesen. Dass die Ästhetik-Lexika von Zedler und Meier das Lemma ›Autodidakt‹ nicht verhandeln, ist für sich schon ein interessanter Befund: Ihm ist zu entnehmen, dass die Ästhetik Autodidaktik nicht als künstlerische Praxis (aner)kennt und sie, so kann gefolgert werden, in der Sphäre des Unkünstlerischen bzw. Nichtschönen verortet. Im Kontext einer Ästhetik, die sich wesentlich über die Unterscheidung von Genialität und Dilettantismus konstituiert, deutet ein solches Ausschließen der Autodidaktik aus dem Bereich des Ästhetischen auf deren Identifizierung mit dem Dilettantischen hin. Zugleich ist es nicht weniger bemerkenswert, dass die zeitgenössischen Konversationslexika wiederum den Autodidakten und sein Lernen zumindest implizit im Paradigma von Genie und Dilettant verhandeln: Autodidakt, a}tod_dawior, durch sich s e l b s t g e l e h r t , 1) ein Mensch, der in einer Kunst oder Wissenschaft einen gewissen Grad an Tüchtigkeit erlangt hat, ohne darin unmittelbar durch Lehrer oder Bücher unterrichtet worden zu seyn. Die Natur und das Leben sind die einzigen Lehrmeister solcher A., denen die Menschheit manche ihrer größten Gedanken und Erfindungen verdankt. Weit häufiger sind und heißen jedoch A. 2) solche, die in dem Fache ihres Wissens und Könnens nur den mündlichen Schul= und zunftgemäßen Unterricht entbehrt, aber doch Bücher, Muster und andere Lehrmittel benutzt haben. Man findet bei ihnen in der Regel hohe Kraft, Selbstständigkeit und Gewandtheit des Geistes, nicht selten indessen auch Einseitigkeit, Bizarrerie und Selbstüberschätzung; Fehler und Vorzüge, die sich leicht aus dem Bildungsgange solcher Individuen erklären.29

Der Autodidakt wird in zwei Typen differenziert, die ganz offensichtlich dem Genie-Dilettant-Schema entsprechen. Denn mit der Unmittelbarkeit bzw. der Einseitigkeit und der Selbstüberschätzung werden genau jene Zuschreibungen verwendet, die in der Ästhetik der Unterscheidung von Genie und Dilettant dienen. Die Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie für die gebildeten Stände schreibt überdies vom »große[n] Haufe[n] mittelmäßiger Köpfe«, der, »sich selbst überlassen, über dem unstäten Suchen und Forschen eine Menge unersetzlicher Stunden verschwenden, das Ziel entweder gar nicht finden oder bald aus den Augen verlieren und unter den Schwierigkeiten einer Aufgabe, die ihre Kräfte übersteigt, erliegen«30 würde. Die Enzyklopädie operiert hier mit der

29 Art. Autodidakt. In: Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. In Verbindung mit Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern und Technikern herausgegeben von J. Meyer. Vierter Band, Zweite Abtheilung. Astronomische Beobachtungen-Baden. Hildburghausen/Amsterdam/Paris/Philadelphia 1844. S. 939. 30 Art. Autodidakten. In: Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie für die gebildeten Stände.

Autodidaktik als Prüfstein der Selbsterziehung und des Bildungsromans

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Terminologie der Ästhetik. An der Figur des Autodidakten reproduziert die Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie für die gebildeten Stände eine der zentralen Argumentationslinien der ästhetischen Theorie. Ihr Gegenstand variiert ihren Adressat_innen gemäß: Hatte die klassizistische Ästhetik den Künstler im Blick – man denke bspw. an die Preisaufgaben der Weimarer Kunstfreunde –, so wendet sich die Enzyklopädie an die gebildeten Stände allgemein. Als Medium der allgemeinen Wissenspopularisierung spricht sie erstens ein breiteres Publikum an und ist zweitens genuin multi- und interdisziplinär angelegt. Was die Enzyklopädie mit den Programmschriften der zeitgenössischen Ästhetik teilt, ist die Polarität der Bewertung von Aneignungsprozessen – hier auf Kunst und Wissenschaft, dort nur auf Kunst bezogen. Was sie voneinander unterscheidet, ist die Breite des Spektrums der potentiell erwerbbaren Kenntnisse. A u t o d i d a k t e n (a. d. Griech.), Selbstbelehrte, werden diejenigen genannt, die sich in irgend einer Kunst und Wissenschaft ohne fremde Beihülfe Kenntniß und Fertigkeit erworben haben. Es liegt in der Natur der Sache, daß dieser Weg zur Bildung die Geisteskräfte in freiere und lebendigere Thätigkeit setzt, Mechanismus und Nachbeterei nicht aufkommen läßt und der Entwicklung einer stärker hervortretenden Originalität günstig ist. Mehrere Autodidakten haben sich, eben weil sie mit großen Schwierigkeiten kämpfen, überall selbst sehen und was die Schätze der Literatur und die Tradition der Kunstgriffe andern schon verarbeitet an die Hand geben, selbst aufsuchen und kombiniren mußten, als Erfinder und Virtuosen ausgezeichnet, wobei wir nur an P e s t a l o z z i erinnern. Aber nur vorzüglich kräftige und reich begabte Naturen scheinen fähig, auf diese Art zum Ziele zu kommen, und sich durch ihr Genie neue Bahnen zu brechen; der große Haufe mittelmäßiger Köpfe würde, sich selbst überlassen, über dem unstäten Suchen und Forschen eine Menge unersetzlicher Stunden verschwenden, das Ziel entweder gar nicht finden oder bald aus den Augen verlieren und unter den Schwierigkeiten einer Aufgabe, die ihre Kräfte übersteigt, erliegen. Überdies lehrt die Erfahrung, daß Autodidakten, wenn nicht wahres Genie in ihnen die Universalität des Überblicks menschlicher Dinge sichert, gewöhnlich etwas von Pedantismus und Eigendünkel anhängt, der sie für ihre mühsam erworbene Kunst und Wissenschaft parteiisch, gegen die Leistungen Anderer unbillig, der Gesellschaft lästig und in jedem Falle einseitig macht […]. Es ist daher keineswegs zu wünschen, daß die Jugend, sei es aus pädagogischem Grundsaz oder um der Ersparnis willen, in den zu ihrer Bildung nothwendigen Lehrgegenständen dem Selbstunterricht überlassen werde; und wenn es auch wahr bleibt, daß die Einsicht und Fertigkeit, die wir durch eigenes Streben erwerben, die beste ist, so wird doch kein Vernünftiger sich schämen, dem Beistande und der Leitung eines humanen Unterrichts die Kenntnis des Ziels seiner Bildung und der brauchbarsten Hülfsmittel dazu zu verdanken.31

(Conversations=Lexicon) In zehn Bänden. Erster Band: A bis Bon. Fünfte Original=Auflage. Leipzig 1822. S. 462f. 31 Ebd.

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Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

Im allgemeinen Wissensspeicher und -popularisator Enzyklopädie erscheint die Arbeit im strengen Selbstbezug ohne Gegenüber als eine gleichwertige Alternative zum Unterricht. Zumindest bei ›reich begabten Naturen‹ kann Autodidaktik zum Ziel des Wissenserwerbs führen. Aufgrund der Möglichkeit, die Geisteskräfte in ein freies Spiel zu versetzen und Originalität zu begünstigen, kommt die Autodidaktik dem Genialischen überdies sehr nahe. Der unvoreingenommene, authentische Blick des Autodidakten, der seine Materien nicht aus zweiter Hand empfängt, scheint geradezu der eines naiven Genies zu sein (vgl. auch oben: die »Natur und das Leben sind die einzigen Lehrmeister solcher A.«). Bei der Autodidaktik handelt es sich um ein Modell des Lernens, das aus der Perspektive der Ästhetik zumindest unter dem Aspekt seiner unprofessionellen Verfasstheit – pädagogisch gesprochen: der Nichtsituiertheit in schulisch-institutionellen Strukturen – dem Dilettantismus zuzuzählen ist. Das Problem vor allem des Klassizismus mit der autodidaktischen Variante des Kenntniserwerbs ist das Obsoletwerden des Erziehungsgedankens im Sinne eines Fremdbezugs zwischen Schüler und Meister. Neben den Verlust des Autodidakten als ›Gegenstand‹ einer ästhetischen Erziehung tritt wohl auch schon um 1800 dessen antiautoritäre Gesinnung: Eben weil der Autodidakt mit dem gewohnten Geleise des Bildungsganges unbekannt ist und sein Wissen und Können in keinerlei Formen einengt, kommt er weit eher durch eigenes Nachdenken auf neue Bahnen, Entdeckungen und Ansichten als Jemand, der Alles aus Autorität anzunehmen gewohnt ist, und dadurch haben die Autodidakten den Künsten und Wissenschaften wesentlichen Gewinn gebracht.32

So argumentiert zumindest 1875 das Autodidakten-Lexikon: Es geht davon aus, dass jeder, der in den Künsten oder Wissenschaften Originelles geleistet hat, eigentlich Autodidakt ist: »[D]as, was er errungen, konnte er sich nicht durch fremden Unterricht aneignen, er war ein Selbstgelehrter, denn er erwarb sich sein Wissen, wenn nicht ganz, so doch zum guten Theile durch sich selbst. Er fand, verstand und leistete, was kein Meister und kein Buch ihn lehrte.«33 »Freilich ist dazu ein entschiedenes Genie erforderlich, wenn der Autodidakt etwas wahrhaft Tüchtiges leisten will, und man könnte daher sagen: die Geschichte der der Autodidaxie ist die Geschichte des menschlichen Genies.«34 Der 32 Der »Autodidakt« (Zur Erläuterung des Begriffes der Autodidaxie). In: Autodidakten=Lexikon. Lebensskizzen derjenigen Personen aller Zeiten und Völker, welche auf aussergewöhnlichem Bildungs- und Entwicklungsgange sich zu einer hervorragenden Bedeutung in Kunst und Wissenschaft emporgearbeitet haben. Herausgegeben unter Mitwirkung von mehreren Fachgelehrten von Dr. A. Wittstock. Bd. I, Abtheilung 1: Aasen-Clare. Leipzig 1875. S. VII–XV. Hier: S. XIII. 33 Ebd. S. VIIf. 34 Ebd. S. XIf. Diese Dimension des Autodidaktenbegriffs steht in der Tradition der antiken Poetik. Beispielsweise im 22. Gesang von Homers Odyssee bezeichnet Autodidaxie die

Autodidaktik als Prüfstein der Selbsterziehung und des Bildungsromans

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entscheidende Punkt, der die Einschätzung der Autodidaktik um 180035 von derjenigen des Autodidakten-Lexikons von 1875 unterscheidet, liegt im Ausnahmestatus solcher Genies, wie er um die Jahrhundertwende noch propagiert worden war : »[V]orzüglich kräftige und reich begabte Naturen scheinen fähig, auf diese Art zum Ziele zu kommen, und sich durch ihr Genie neue Bahnen zu brechen«.36 Der autodidaktische Selbstbezug kann nur zum Erfolg führen, wenn der Autodidakt über ein intrinsisches Vermögen verfügt – hier wird es explizit »Genie« genannt –, das den Mangel an Beihilfe, mit anderen Worten: den Fremdbezug, zu kompensieren vermag.37 Zu Anton Reiser legt das Lemma ›Autodidakt‹ aber noch weitere Spuren: Die Real=Encyclopädie differenziert gelingende und scheiternde Autodidaktik anhand der Fähigkeit zur »Universalität des Überblicks menschlicher Dinge«38. Damit ist die Frage aufgeworfen, ob erfolgreiche Autodidaktik in ihrer Struktur dem autonomieästhetischen Programm des Fäden-Abschneidens folgt und wie der Selbstbezug genau beschaffen sein muss, um eine solche Universalität des Überblicks gewährleisten zu können. Des Weiteren regt die Position der Enzyklopädie, die Jugend – den Beispielen erfolgreicher Autodidakt_innen zum Trotz – unter keinen Umständen dem Selbstunterricht zu überlassen, dazu an, den Roman Anton Reiser auf seine Positionierung zu diesem Thema zu befragen und die wissensgeschichtliche mit der literarischen Sichtweise zu vergleichen. Ein solcher Vergleich ist besonders aufschlussreich, weil die Literatur als eine Art Transitraum der Wissensgeschichte fungieren kann, in dem nichtliterarisches Wissen poetisch angereichert und transformiert wird. Der psychologische

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poetische Kapazität überhaupt. »[I]nsofern gehört der Autodidakt zur Vorgeschichte des positiven, gewissermaßen triumphalen Geniebegriffs, des inspirierten Selbst.« (Georg Stanitzek: Genie: Karriere/Lebenslauf. Zur Zeitsemantik des 18. Jahrhunderts und zu J. M. R. Lenz. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Lebensläufe um 1800. Tübingen 1998. S. 241–255. Hier: S. 253.) Auch Otto Luschnat weist darauf hin, dass das »Selbst« des Wortes autodidaktos durchaus ein inspiriertes Selbst sein kann. Vgl. Otto Luschnat: Autodidaktos – Eine Begriffsgeschichte. In: Theologia viatorum 8 (1961/1962). S. 157–172. Hier: S. 160. Leider war mir keine frühere als die fünfte Auflage der Allgemeinen deutschen Real=Encyclopädie von 1822 zugänglich. Es ist jedoch ohnehin davon auszugehen, dass die lexikalische Erfassung von historischen Phänomenen erst mit einer zeitlichen Verzögerung einsetzt. Art. Autodidakten. In: Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie (Anm. 30). S. 461. Die negative Ausprägung des Autodidaktenbegriffs findet sich dann v. a. in den Konversationslexika des 19. Jahrhunderts, in welchen die Einseitigkeit des erworbenen Wissens und der Zeitverlust hervorgehoben werden, die mit extrainstitutioneller Bildung notwendig verbunden seien. Vgl. Kerstin Stüssel: »Autodidakten übertreiben immer«. Autodidaktisches Wissen und Autodidaktenhabitus im Werk Theodor Fontanes. In: Hanna Delf von Wolzogen und Helmuth Nürnberger (Hg.): Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. (Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes 13.–17. September 1998 in Potsdam). Würzburg 2000. S. 119–135. Hier: S. 122. Art. Autodidakten. In: Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie (Anm. 30). S. 463.

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Roman Anton Reiser stellt einen solchen Transitraum39 dar, dessen besonderes Charakteristikum die Verschränkung von ästhetischem und seelenkundlichem bzw. hier spezifischer : pädagogischem Wissen in poetischer Form ist.40 Mit dieser Bestimmung situiere ich Anton Reiser – wie Nicolas Pethes – in einem wissensgeschichtlichen Setting, das von der Verbindung der Theorie der Erziehung mit der Methode des Experimentierens durch literarische Autor_innen geprägt ist. Wie Pethes gehe ich davon aus, dass der enge Zusammenhang, den Pädagogik, Experimentalwissenschaft und fiktionale Texte im Lauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgebildet haben, in der fiktionalen Erzählliteratur besonders gut zur Anschauung kommt.41 Die heftigen Debatten darüber, ob

39 Der Begriff »Transitraum« deckt sich konzeptionell mit dem weiter oben verwendeten Begriff »Diskursraum«, soll aber den Aspekt der Modifizierung und Transformierung des Wissens besonders akzentuieren. 40 Die Begriffe »ästhetisches Wissen« und »poetisches Wissen« verwende ich so, dass »ästhetisches Wissen« auf die Wissensbestände der sich neu formierenden Disziplin Ästhetik referiert, während »poetisches Wissen« das durch Poesis generierte, spezifisch literarische Wissen bezeichnet, welches sich zwar auf Wissen aus bestimmten Disziplinen stützt, dieses Wissen jedoch modifizieren und transformieren kann und dadurch zu genuin poetischem Wissen wird. 41 Vgl. Pethes (Anm. 6). S. 9f. Diese Sichtweise schützt auch vor einseitigen Vereinnahmungen, die entweder Moritz’ pädagogische bzw. erfahrungsseelenkundliche Arbeiten als bloße Stoffsammlungen für seine literarischen Texte betrachten oder umgekehrt die literarischen Texte lediglich als Anschauungsbeispiele für theoretisches Wissen interpretieren. Sachlich gerechtfertigt ist die These des Wechselbezugs darin, dass eine Trennung von wissenschaftlicher Untersuchung und literarischem Schreiben in zwei verschiedene ›Kulturen‹ für das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts noch nicht behauptet werden kann (vgl. ebd. S. 247f). Für Anton Reiser bedeutet dies u. a. Folgendes: 1784, also vor Erscheinen des ersten Teils des Romans, hatte Moritz im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde zwei Fragmente aus Anton Reisers Lebensgeschichte veröffentlicht, weitere folgten in späteren Jahrgängen des Magazins. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, wie Hans Joachim Schrimpf schließt, dass Anton Reiser als Beispielfall aus dem Bereich »Seelenkrankheitskunde« oder »Seelennaturkunde« des Magazins konzipiert gewesen ist (vgl. Hans Joachim Schrimpf: Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde und sein Herausgeber. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980). S. 161–187. Hier: S. 168.). Vielmehr ist Klaus-Detlef Müllers Einschätzung zuzustimmen, der das Magazin, den ersten Publikationsort, als »wichtige[n] Teil des Anton Reiser, dessen Korrelat auf der Ebene der grundsätzlichen Reflexion und damit – zusammen mit den Vorreden zu den einzelnen Teilen – als Bestandteil seiner Poetik« bestimmt. Im Roman fände dann eine »Verdichtung der Wirklichkeit zum Modell« statt (Klaus-Detlef Müller : Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976. S. 147 und S. 149f.). Systematisch aktualisiert hat in jüngerer Zeit Natalie Binczek diesen Ansatz, indem sie das Verhältnis von Magazin und Anton Reiser als »diskursive[n] Influxus« beschreibt: »Wie die aus der Dichtung und aus Romanen zu destillierenden Fallbeispiele die Entstehung empirischer Psychologie ermöglichen, so soll diese auch umgekehrt als Voraussetzung der Dichtung und Romanliteratur gelten. Keine Konkurrenz, sondern eine Interdependenz ist hier angesprochen, ein gleichsam diskursiver Influxus. So optiert Moritz in Korrespondenz zur psycho-medizinischen Ebene auch auf derjenigen der Textkonstitution für das Prinzip der Wechselseitigkeit.« Natalie Binczek:

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Anton Reiser als Bildungs- oder Antibildungsroman zu lesen sei, geben Auskunft darüber, wie komplex ein solcher Transitraum organisiert sein kann.42 Im Hinblick auf die Wissensgeschichte der Pädagogik macht das Beispiel der Autodidaktik zentrale Entwicklungslinien transparent: Um 1800 werden unter die Autodidakten einige »Erfinder und Virtuosen«43 gerechnet, die allerdings nur die als erfreulich bewertete Ausnahme einer Regel darstellen. (Von besonderer Signifikanz ist im vorliegenden Zusammenhang, dass die Real=Encyclopädie ausgerechnet den Erzieher Pestalozzi als Beispiel für einen solchen Erfinder nennt.) Alles in allem jedoch gilt es als vernünftig, sich »dem Beistande und der Leitung eines humanen«44 Unterrichts anheim zu geben. Bemerkenswert ist nun, dass es gerade dieser Vernunft- und Aufklärungsaspekt ist, der ein dreiviertel Jahrhundert später die Autodidaktik nobilitieren und ihre Potentiale herausstellen soll. Aber nur derjenige wird, wenn er das Feldgeschrei: hie Licht, hie Finsterniß! hört, in dem Kampfe zwischen Wahrheit und Lüge zu der rechten Fahne eilen, welcher nicht einem System f r e m d e r Führung und Ueberwachung verfallen ist, welcher selbstthätig und selbständig denken und handeln gelernt hat. Und nur dann wird der Sieg ein dauernder sein, wenn keine Erschlaffung eintritt, wenn alle Kräfte im Aufstreben, in beständiger Spannung bleiben; wenn unaufhörlich an der Selbst=Erkenntniß, Selbstbeherrschung, Selbstveredelung gearbeitet wird. Darum kann die Erziehung nur wahrhaft gedeihen durch Förderung des Strebens des Einzelwesens nach freier, selbstthätiger Entwicklung.45

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Psychophysiologie des Schmerzes in Karl Philipp Moritz’ »Anton Reiser«. In: Roland Borgards (Hg.): Schmerz und Erinnerung. München 2005. S. 99–114. Hier: S. 103. Als negativen Bildungsroman lesen z. B. Hans Joachim Schrimpf und Thomas Weitin Anton Reiser. Vgl. Hans Joachim Schrimpf: Karl Philipp Moritz. »Anton Reiser«. In: Benno von Wiese (Hg.): Der deutsche Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart. Struktur und Geschichte. Bd. 1. Düsseldorf 1963. S. 95–131. Hier: S. 120 und Thomas Weitin: Tagebuch und Personalausweis. Zur Codierung von Individualität im »Anton Reiser«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 125 (2006)-4. S. 481–498. Hier: S. 481. Rolf Selbmann klassifiziert den Text als Bildungsgeschichte in Abgrenzung zum Bildungsroman. Vgl. Rolf Selbmann: Theater im Roman. Studien zum Strukturwandel des deutschen Bildungsromans. München 1981. S. 58. Wie Anm. 31. Art. Autodidakten. In: Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie (Anm. 30). S. 463. Die Redaktion des Autodidakten=Lexikons: Vorwort. In: Autodidakten=Lexikon. Lebensskizzen derjenigen Personen aller Zeiten und Völker, welche auf aussergewöhnlichem Bildungs- und Entwicklungsgange sich zu einer hervorragenden Bedeutung in Kunst und Wissenschaft emporgearbeitet haben. Herausgegeben unter Mitwirkung von mehreren Fachgelehrten von Dr. A. Wittstock. Bd. I, Abtheilung 1: Aasen-Clare. Leipzig 1875. S. I–V. Hier: S. II. Vgl. auch S. VIII: »Darum hat nur die Selbstgelehrsamkeit, das Selbstdenken Werth, nicht Andere können für uns denken. Der wahre Besitz unseres Geistes besteht nur in dem, was wir uns selbst aneignen. Man wird nur durch eigene Weisheit weise. Somit ist ein Jeder Autodidakt und soll es sein.« – (Die Rede von Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung und Selbstveredelung erinnert an Novalis. Der schreibt in seinen Fragmenten von Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung und Selbstbelebung qua Hypochondrie. Dies wird in Kapitel E nochmals aufgegriffen werden.)

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Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

Verortet im Mündigkeitsprogramm der Aufklärung und mit nicht übersehbaren Anklängen an deren Wahlspruch sapere aude, wird die Autodidaktik hier als eine auf das Individuum gewendete Aufklärungspraktik eingeführt. »Die Selbst=Erziehung ist das höchste und wirksamste Bildungsmittel«46, meint die Redaktion des Autodidakten=Lexikons 1875 und stellt den pädagogischen Wert der Autodidaktik prominent heraus: Nicht von Selbstbildung ist die Rede, sondern von Selbsterziehung. Selbsterziehung wiederum konstituiert sich durch Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung und Selbstveredelung. Der Autodidaktik wohnt demnach das Potential zu umfassender und ganzheitlicher Selbsterziehung inne. Mit diesem Optimismus begründet die Redaktion auch die Herausgabe eines Autodidakten=Lexikons: Es gibt aber in der That nichts Anziehenderes und Belehrenderes als namentlich diejenigen auf ihrem Lebenswege zu begleiten, die, von heißem Streben nach geistiger Ausbildung beseelt, schon oft in ihrer Kindheit mit unendlichen Schwierigkeiten und zahllosen Bedrängnissen zu kämpfen hatten, die aber, nie geschreckt durch die vielfachen Hindernisse, unverdrossen weiter rangen, die einzig durch ihr energisches Streben und meistentheils mit den spärlichen Hülfsmitteln sich emporarbeiteten und in ihrem Fache Neues oder Besseres schufen, die überhaupt um das Wohl der Menschheit in hervorragender Weise sich verdient gemacht haben […]. Da lernen wir erkennen, wie selbst das Größte oft den kleinsten Anfang nimmt.47

Dieses Anliegen der Redaktion steht in nicht übersehbarer Nähe zu den Vorreden, mit welchen die einzelnen Teile des Anton Reiser eingeleitet werden. Davon, dass sich die Bedeutsamkeit des Kleinen im Nachhinein erweist, ist in der Einleitung zum ersten Teil zu lesen; dass es sich bei der Geschichte um eine Biographie handelt, behauptet die Vorrede zum zweiten Teil; die Belehrungsabsicht des Textes unterstreicht die Hinführung zum dritten Teil und die Mühsal auf dem Lebensweg hebt die Vorrede zum letzten Teil hervor.48 Der Erzähler des Anton Reiser propagiert in seinem aufklärerischen Erziehungsprojekt vergleichbar dem späteren Autodidaktenlexikon die Autodidaktik als Bildungsform.49 Für den Protagonisten löst dieses Modell seine Versprechen jedoch nicht ein. Inwieweit die Gründe dafür in der Verschränkung der Wissensbestände aus Ästhetik, Erfahrungsseelenkunde, Pädagogik und deren Modifizierung und Pointierung durch poetische Eigendynamik zu finden sind, wird sich im Folgenden zeigen. Zunächst aber bleibt festzuhalten: Der Autodidakt agiert als Sich-selbst-Belehrender erstens im strengen Selbstbezug und entbehrt eines Gegenübers. 46 47 48 49

Ebd. S. I. Ebd. S. If. Vgl. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 86, S. 186, S. 286 und S. 414. Vgl. Kapitel I. 2.

Autodidaktik als Prüfstein der Selbsterziehung und des Bildungsromans

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Fragen sowohl der Kommunikation, der sozialen Interaktion wie auch des Selbst-Bewusstseins wird also nachzugehen sein. Keine Ausbildung zu durchlaufen, bedeutet für Autodidakten auch, sich nicht an Vorbildern zu orientieren. Dies wird dezidiert als Chance zu freier, d. h. unvoreingenommener und ungelenkter Geistestätigkeit, mithin als Bedingung der Möglichkeit von Originalität gewertet. In poetologischer Hinsicht wirft dies die Frage nach dem Mimesis-Postulat auf. Sie ist von herausragendem Interesse, weil es der akademisch Ungebildete – und dies ist traditionellerweise der Dilettant bzw. Laie – ist, dem die genialische Schöpfungskraft zugesprochen wird. Umgekehrt wird darauf hingewiesen, dass Autodidaktik und Genialität in keinem zwingenden Bedingungsverhältnis stehen, sondern eine Korrelation von Autodidaktik und Genialität die Ausnahme der Regel darstellt. Die Regel bestehe nämlich darin, dass »der große Haufe mittelmäßiger Köpfe«50 schlichtweg überfordert sei, wenn er auf sich selbst gestellt ist. Als Folgen der autodidaktischen Bemühungen stellten sich dann lediglich Parteilichkeit für die eigene Kunst, Neid auf die Leistungen anderer, Einseitigkeit, Bizarrerie und Selbstüberschätzung ein.51 Mit diesen Zuschreibungen operiert der Lexikonartikel genau mit jenem Paradigma, das in der Ästhetik traditionellerweise den Gegenpol zum Genie bildet und in der Figur des Dilettanten konkretisiert wird. Durch den Import ästhetischer Terminologie in die zeitgenössischen Konversationslexika wird gelingende Autodidaktik diskursiv der Genialität, scheiternde dem Dilettantismus zugeordnet. Darüber hinaus ist Autodidaktik nicht nur in Bezug auf den Erwerb positiven Wissens, sondern auch im Kontext eines ganzheitlichen Bildungsideals relevant. Aufgrund ihrer zugleich pädagogischen und ästhetischen Grundierung kann die Autodidaktik meines Erachtens im Bildungsroman modellhaft für diesen selbst stehen und dessen Voraussetzungen, Möglichkeiten und Aporien literarisch durchspielen. Antons Autodidaktik wird also auch darauf zu prüfen sein, in welchem Verhältnis sie zum Konzept des Bildungsromans steht. Wenn von Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung und Selbstveredelung qua Autodidaktik die Rede ist, ist der autodidaktische Selbstbezug von einer allgemeinen Ich-Bildung nicht mehr klar zu unterscheiden. Ein enges Verhältnis von Selbstbildung und Selbst-Bildung bzw. Ich-Bildung ist damit angezeigt und zwar in dem Sinne, dass erfolgreiche Autodidaktik eventuell automatisch auch eine gelingende Ich-Bildung gewährleisten könnte. Zugleich wird den auf Kompensation des mangelnden Unterrichts angewiesenen Autodidakten aber bspw. zum Schlafentzug geraten: Der Autodidakt richtet seine ganze Aufmerksamkeit, alles Denken, Lesen und Arbeiten, auf den einen Gegenstand, der ihn ganz und gar beschäftigt, dem er sich mit Lust und 50 Art. Autodidakten. In: Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie (Anm. 30). S. 463. 51 Vgl. ebd.

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Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

Liebe ganz hingiebt, und gerade deshalb kann schließlich der Erfolg nicht ausbleiben. […] Zu einer guten Methode gehört auch die gewissenhafte Benutzung der Zeit und hierauf ist der Autodidakt mit Notwendigkeit angewiesen; er weiß wie keiner den Werth der Zeit zu schätzen und verlängert sie durch Abkürzung des Schlafes.52

Mit einer solchen Forderung ist dem Versprechen einer ganzheitlichen Ich-Bildung, die u. a. eine austarierte Diätetik als Voraussetzung für die Harmonisierung von Körper und Geist beinhalten würde,53 der Boden entzogen. Es gilt es also weiter, die anthropologische Dimension des autodidaktischen Selbstbezugs auszuleuchten und diesen auf seine Chancen und Gefahren in psychophysischer Hinsicht zu befragen. Dies ermöglicht ebenfalls Aufschlüsse über die Bildungsmöglichkeiten des Subjekts und damit nicht zuletzt auch auf die Potentiale des Bildungsromans. Die Figur Anton Reiser muss also unter folgenden Perspektiven untersucht werden: Wie ist es um seinen autodidaktischen Selbstbezug genau bestellt? In welchem Verhältnis steht dieser zu Antons Unfähigkeit zu sozialer Integration und Interaktion? Welchem Pol im Genie-Dilettant-Schema wird Antons Selbsterziehung zugeordnet? Und welche Folgerungen sind daraus für das Romanganze, die in den Roman eingespeisten Wissensbestände und die Zuordnung des Textes zum Bildungsroman zu ziehen?

I.2.

Autodidaktik in Anton Reiser

Wie bereits angedeutet, erscheint in den Bewertungen des Erzählers Antons autodidaktisches Unternehmen als äußerst begrüßenswert und stellt eine gleichwertige, wenn nicht bessere Alternative zur üblichen Schulbildung dar :54 Über den Schuster S., eine der wenigen Bezugspersonen Antons, weiß der Erzähler zu sagen, daß er vom Lehrstuhle die Köpfe der Leute hätte bilden sollen, denen er Schuh machte. Er und Reiser kamen oft in ihren Gesprächen, ohne alle Anleitung, auf Dinge, die Reiser nachher als die tiefste Weisheit in den Vorlesungen über die Metaphysik wieder hörte. […] Denn sie waren ganz von selbst auf die Entwicklung der Begriffe von Raum und 52 Der »Autodidakt« (Anm. 32). S. XIIIf. 53 Vgl. dazu die Beobachtung Frank Schüres, Anton beantworte und verarbeite jeden Bruch in seinen Bindungen mit einem Komplex aus Körpernegation, Seelenlähmung und ästhetischer Entfaltung. Vgl. Frank Schüre: »Dies künstlich verflochtne Gewebe eines Menschenlebens«. Über den Selbstkonstrukteur Anton Reiser. In: Wolfgang Griep (Hg.): Moritz zu ehren. Beiträge zum Eutiner Symposium 1993. Eutin 1996. S. 65–94. Hier: S. 90. 54 Dass eine solche Einschätzung von je unterschiedlichen historischen Implikationen geprägt ist, macht der Vergleich z. B. mit Theodor Fontane deutlich. In dessen Werk verbinden sich in der Auseinandersetzung über Autodidakt_innen Bildungskritik und Gesellschaftskritik. Vgl. Stüssel (Anm. 37). S. 120.

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Zeit, von subjektivischer und objektivischer Welt, u. s. w. gekommen, ohne die Schulterminologie zu wissen, sie halfen sich denn mit der Sprache des gemeinen Lebens so gut sie konnten55.

Weiter erläutert der Erzähler : »Wenn dergleichen Materien nicht in die Schulterminologie eingehüllt werden, so sind sie für jeden Kopf, und sogar Kindern verständlich –«.56 Hier spricht er als Pädagoge, der im Einklang mit den zeitgenössischen Konversationslexika Autodidaktik als Erfolg versprechendes Lernmodell jenseits der Institution propagiert. Vor dem Hintergrund der Einsicht, dass Verstehen an bestimmte Sprachformen gebunden ist, favorisiert der Erzähler nicht nur die Position außerhalb der Disziplin (hier geht es um einen Schuster), er propagiert sogar die Position außerhalb des Fachdiskurses (keiner der Diskutanten verfügt über die Fachterminologie). Die sprachliche Form – und das meint hier individuelle, laienhafte Redeweisen – als ausschlaggebend für die Verstehbarkeit des Inhalts zu setzen, kulminiert schließlich in der dezidierten Abwertung der Schulbildung gegenüber der Selbstbildung: Und wenn je eine Versäumnis von öffentlichen Schulstunden gut genutzt worden ist, so war es die seinige – in welcher er in Zeit von ein paar Monaten mehr tat, und sein Verstand mit weit mehr Begriffen, als seine ganzen akademischen Jahre hindurch, bereichert wurde. – Nie hörte er wenigstens den ganzen Kursus der Philosophie so ausführlich wieder vorgetragen, als er ihn damals für sich durchdacht hatte57.

Dass die Notwendigkeit eigener Bemühung in einem Verhältnis direkter Proportionalität zur Intensität der Bemühung steht, macht der Roman auch an den Stellen deutlich, an welchen er einen (quasi-)schöpferischen Anton präsentiert, der mit Hilfe von autodidaktischer Kreativität die Orientierungslosigkeit seines autodidaktischen Vorgehens auszugleichen versucht: [D]a ihm nie eigentlich gesagt worden war, daß jenes wahr und dieses falsch sei, so fand er sich gar nicht ungeneigt, die heidnische Göttergeschichte […] wirklich zu glauben. Eben so wenig konnte er aber auch, was in der Bibel stand, verwerfen; […] Er suchte also, welches ihm allein übrig blieb, die verschiedenen Systeme, so gut er konnte, in seinem Kopfe zu vereinigen, und auf die Weise die Bibel mit dem Telemach, das Leben der Altväter mit der Acerra philologika, und die heidnische Welt mit der christlichen zusammen zu schmelzen.58

Das Ergebnis dieser Verschmelzungsoperation ist »die sonderbarste Ideenkombination, die wohl je in einem menschlichen Gehirn mag existiert haben.«59 55 56 57 58 59

Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 204. Ebd. S. 262. Ebd. S. 302. Ebd. S. 103. Ebd. S. 104.

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Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

Ebenfalls als Mittel der Kompensation wird der kreative Aspekt der Autodidaktik im Hinblick auf Antons soziale Anschlussfähigkeit eingeführt: Da er nun die Sprache der feinen Lebensart nicht gelernt hatte, und sich doch auch nicht gemein ausdrücken wollte, so bediente er sich bei solchen Gelegenheiten der Büchersprache, die bei ihm aus dem Telemach, der Bibel, und dem Katechismus zusammengesetzt war, welches seinen Antworten oft einen sonderbaren Anstrich von Originalität gab60.

Hier wird deutlich, dass die einseitig positive Bewertung der Autodidaktik durch den Erzähler vom Text selbst nicht vollumfänglich gestützt wird. Offensichtlich ist, dass die Gefahren des Autodidaktentums seinen Chancen vorgängig sind: zuerst der Mangel (keiner hatte ihm gesagt, was wahr und falsch sei, er hatte die Sprache der feinen Lebensart nicht gelernt), dann der Kompensationsversuch in Form von kreativem Eklektizismus. Die von der Autorfunktion etablierte, spezifische poetische Organisation von Anton Reiser macht darauf aufmerksam, dass die pädagogische Rede des Erzählers auf ihre Implikationen aus dem Bereich der Ästhetik geprüft werden muss. Während die Lexika Autodidaktik in eine genialische und eine dilettantische Variante untergliedern, ist in der Literarisierung dieses Lernmodells in Anton Reiser eine solche Unterscheidung nicht zu finden. Der Erzähler räumt der Möglichkeit eines wechselseitigen Transfers zwischen seinem ästhetischen und seinem pädagogischen Modell keinen Platz ein: Er plädiert klar für Autodidaktik und Autonomieästhetik.61 Der Text lässt in seinem Verlauf die Autodidaktik – in Übereinstimmung mit den Lexika – dann aber in Dilettantismus münden.62 Wie kommt es dazu? Wie ist 60 Ebd. S. 194. Diese Stelle ist auch äußerst aufschlussreich im Hinblick das Phänomen Autodidaktik allgemein. Denn obgleich das hervorstechende Merkmal der Autodidakt_innen darin besteht, dass sie individuelle Methoden ausbilden können, die ganz speziell ihren jeweiligen Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechen, weisen viele Autodidakt_innen in der Praxis dann doch sehr ähnliche Vorgehensweisen auf. Heinrich Schliemann beispielsweise berichtet: »Mit allen Regeln der Grammatik bin ich vollkommen vertraut, wenn ich auch nicht weiß, ob sie in den Grammatiken verzeichnet stehen oder nicht. Und kommt es vor, daß jemand in meinen griechischen Schriften Fehler entdecken will, so kann ich jedes Mal den Beweis für die Richtigkeit meiner Ausdrucksweise dadurch erbringen, daß ich ihm diejenigen Stellen aus den Klassikern rezitiere, in denen die von mir gebrauchten Wendungen vorkommen.« Heinrich Schliemann: Ilios. Leipzig 1881. S. 18. 61 V. a. die Vorrede zum vierten Teil des Romans greift mit den »Selbsttäuschungen« und dem »mißverstandene[n] Trieb« (Moritz: Anton Reiser [Anm. 4]. S. 414) als Ursachen von Dilettantismus das autonomieästhetische Theorem des falschen Bildungstriebs auf. 62 Auch Alo Allkemper macht die Struktur der Integration widersprüchlicher Positionen als Grundgerüst der Erzählanlage von Anton Reiser aus: »Das Erzählte verweigert sich der nahtlosen Eingliederung in ein Erzählkonzept; der kritisch-ablehnende, paränetisch-zuredende Erzählerkommentar erfährt durch das Erzählte seine direkte Negation und somit die immer wieder erneute Sprengung eines gesetzten Erzählrahmens: das Erzählte erzählt mehr als der Erzähler gestatten darf.« Allkemper (Anm. 6). S. 35.

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Antons Autodidaktik genau beschaffen? Autodidaktik erscheint in Anton Reiser zweigestaltig, nämlich als intuitiver, unbewusst ablaufender oder aber als bewusst gesteuerter Prozess. Im achten Jahre fing denn doch sein Vater an, ihn selber etwas lesen zu lehren, und kaufte ihm zu dem Ende zwei kleine Bücher, wovon das eine eine Anweisung zum Buchstabieren, und das andre eine Abhandlung gegen das Buchstabieren enthielt. In dem ersten mußte Anton größtenteils schwere biblische Namen, als: Nebukadnezar, Abednego, u.s.w., bei denen er auch keinen Schatten einer Vorstellung haben konnte, buchstabieren. Dies ging daher etwas langsam. Allein sobald er merkte, daß wirklich vernünftige Ideen durch die zusammengesetzten Buchstaben ausgedrückt waren, so wurde seine Begierde, lesen zu lernen, von Tage zu Tage stärker. Sein Vater hatte ihm kaum einige Stunden Anweisung gegeben, und er lernte es nun, zur Verwunderung aller seiner Angehörigen, in wenig Wochen von selber.63

Mit dem Vater ist – wie später mit dem Schuster – die Position des Lehrenden mit einem Laien besetzt. Im Falle des Vaters ist diese Besetzung jedoch äußerst fragwürdig, denn Anton mit zwei einander ausschließenden Methoden zu konfrontieren, leistet keine Einführung in das dialektische Denken o. ä., sondern bringt im Gegenteil die Gefahr größter Verunsicherung mit sich. Selbst im ›Lehr‹verhältnis bleibt Anton letztlich sich selbst und damit dem autodidaktischen Arbeiten überlassen.64 Die Frage, wie Anton das Buchstabieren lernt,65 63 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 93. 64 Diese beiden Aspekte lassen sich auch an dem anderen Lehrbuch festmachen: Zunächst verunsichert es Anton mit der These, dass es »schädlich, ja seelenverderblich sei, die Kinder durch Buchstabieren lesen zu lehren« (ebd. S. 94). Des Weiteren findet Anton dort »auch eine Anweisung für Lehrer, die Kinder lesen zu lehren, und eine Abhandlung über die Hervorbringung der einzelnen Laute durch die Sprachwerkzeuge« (ebd.). Das Lehrbuch ist also offensichtlich für den fremdbezogenen Unterricht in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis gedacht, Anton jedoch ist genötigt im autodidaktischen Selbstbezug die Position des Lehrers und die des Schülers zugleich einzunehmen. 65 Im Kontext des Werks von Karl Philipp Moritz kommen dessen 1790 erschienenes Neues A. B. C. Buch welches zugleich eine Anleitung zum Denken für Kinder enthält sowie sein Lesebuch für Kinder von 1792 als korrespondierende Texte in Betracht. Das Neue A. B. C. Buch arbeitet mit dem Zusammenspiel von Bild und Text, setzt also im Unterschied zu Antons Buchstabierbuch nicht auf das Buchstabieren abstrakter Begriffe: »In diesem Buche stehen Bilder und Buchstaben. […] Bey den Bildern stehen Buchstaben. Unter den Bildern stehen Worte. Wer nicht lesen kann, der besiehet nur die Bilder.« (Karl Philipp Moritz: Neues A. B. C. Buch welches zugleich eine Anleitung zum Denken für Kinder enthält. In: Karl Philipp Moritz. Schriften zur Pädagogik und Freimaurerei. Hg. von Jürgen Jahnke. Berlin/ Boston 2013. [= Karl Philipp Moritz. Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe. Hg. von Anneliese Klingenberg u. a. Bd. 6]. S. 233–250.) Volker Mergenthaler hat herausgearbeitet, dass in Moritz’ A. B. C. Buch »visuelle Wahrnehmung und Erkenntnisprozeß über die rationalistische Lichtideologie aufs engste verflochten sind« (Volker Mergenthaler : Sehen schreiben – Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel. Tübingen 2002. S. 36.). Das Zusammenspiel von Text und Bild lasse das Kind sich selbst als sehend, dann lesend und schließlich erkennend entdecken (vgl. ebd.).

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bleibt ungeklärt, sein schneller Erfolg wird lediglich reflektiert und bestätigt durch die Verwunderung seines Umfelds über diesen. Ein Indiz für die Lernmotivation ist allerdings gegeben: Es ist der Wunsch, Ideen durch Buchstaben ausdrücken zu können, der Anton antreibt. Das Lehrbuch des Vaters setzt Anton einer Welt der Signifikanten ohne Signifikate oder Referenten aus.66 So besehen kann Antons Fähigkeit, sich intuitiv in dieser Welt zu orientieren und sich ihrer erfolgreich zu bemächtigen, in der Tat als ein aus der autodidaktischen Methode abgeleitetes Vermögen zur Lebenshilfe auch jenseits der Bücherwelt gelten. Ebenfalls intuitiv erfolgt Antons Erwerb der englischen Sprache: Reiser hatte das Buch nicht, worin [in der Schule] gelesen wurde, und konnte sich also zu Hause nicht üben, er mußte mit einem andern einsehen; demohngeachtet begriff er in ein paar Wochen vom bloßen Zuhören die meisten Regeln der englischen Aussprache; und da ihn der Rektor zufälliger Weise auch einmal mit zum Lesen aufrief, so las er weit fertiger und besser, als alle übrigen, die das Buch gehabt, und sich zu Hause geübt hatten.67

Anton profitiert hier von der Freiheit des Halbautodidakten,68 sowohl hinsichtlich der Zielsetzung als auch der Methode selbständig und ohne Anleitung vorzugehen und eine Methode auszubilden, die ihm gemäß ist:69 Seiner akustischen Sensibilität entsprechend, hört er eben gut zu.70 In diesem Sinne darf Autodidaktik als prädestiniert für eine Form der Ich-Bildung gelten, deren Ziel

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»Selbsterkenntnis ist der Fibel als Text-Geschehen eingeschrieben« (ebd.), erläutert Volker Mergenthaler und gibt damit einen Hinweis darauf, dass die ausbleibende Selbsterkenntnis Antons u. a. auch der Abstraktheit seines Lehrbuchs, welches den Lernenden und den Lernprozess nicht reflektiert – also neben der Einführung in das Buchstabieren nicht zugleich eine Anleitung zum Denken für Kinder enthält –, geschuldet sein könnte. Als weitreichende Konsequenz des laienhaften Unterrichts – auch im Hinblick auf Antons poetischen Dilettantismus – stellt Frauke Berndt heraus: »Der Leseunterricht führt dazu, daß sich die Differenz zwischen Signifikant und Signifikat, die Anton in variierenden Techniken zu hintergehen versucht, zur potentiellen Feindseligkeit des signifikanten Materials verselbständigt.« Frauke Berndt: Anamnesis. Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900. (Moritz – Keller – Raabe). Tübingen 1999. S. 115. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 266. Das Autodidakten=Lexikon unterscheidet zwischen Halb- und Ganzautodidakten wie folgt: »Als Ganz=Autodidakten würden diejenigen zu betrachten sein, die ohne zunftmäßigen Unterricht, weil sie vielleicht in ihrer Jugend sich tüchtige Schulkenntnisse zu erwerben nur dürftige Gelegenheit hatten, Alles, was sie wissen und können, sich selbst zu eigen gemacht haben, die weder Schulen noch Universitäten besuchten, sondern jeden Schritt ihrer Entwicklung mit schweren Anstrengungen, mit unermüdlicher Ausdauer erlaufen mußten«. Der »Autodidakt« (Anm. 32). S. XI. Vgl. Peter Abels: Beiträge zum Studium der Vorgänge autodidaktischen Lernens. Berlin 1933. S. 43. In diesem Zusammenhang sei verwiesen auf Eckehard Catholy, der – Karl Philipp Moritz mit Anton Reiser identifizierend – ein ganzes Kapitel seiner Monographie der »auditive[n] Grunddisposition von Moritz« widmet. Vgl. Eckehard Catholy : Karl Philipp Moritz und die Ursprünge der deutschen Theaterleidenschaft. Tübingen 1962. S. 64–80.

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darin besteht, innere Anlagen und äußere Mittel in ein harmonisches Verhältnis zueinander zu setzen. Andererseits bildet Anton auch Formen des Lernens aus, die nicht auf Intuition setzen, sondern einer systematischen Herangehensweise folgen: Er macht seine Anlage, Lernen im Hörsinn zu verankern, zur Methode, und zwar in dem Sinne, dass er ausgehend von dieser Veranlagung bestimmte Praktiken ausbildet und dadurch seine Zugangsmöglichkeiten zu den Lerngegenständen erweitert. So beschließt er beispielsweise, die im Gottesdienst gehörten Predigten zu Hause aufzuschreiben. Damit folgt Anton einer Bewegungsrichtung der Verinnerlichung und anschließenden Entäußerung, auf deren Weg ein kognitiver Prozess der Systematisierung stattfindet: Das Aufschreiben dieser Predigt hatte gleichsam eine neue Entwicklung seiner Verstandeskräfte bewirkt. – Denn von der Zeit fingen seine Ideen an sich allmählich untereinander zu ordnen – er lernte selbst für sich über einen Gegenstand nachdenken – er suchte die Reihe seiner Gedanken wieder außer sich darzustellen, und weil er sie niemanden sagen konnte, so machte er schriftliche Aufsätze, die denn freilich oft sonderbar genug waren.71

Der mediale Aspekt ist hier von besonderer Bedeutung. An ihm manifestiert sich eindrücklich eine Aporie des autodidaktischen Programms: Es erlaubt dem/der Lernenden zwar idiosynkratische Methoden auszubilden, kann aber deren Anwendbarkeit nicht gewährleisten. Denn offensichtlich gründet die für Anton angemessene Lernweise in Oralität; die autodidaktische Selbstbezüglichkeit sieht jedoch keinen Adressaten zur rückversichernden oder korrigierenden Verankerung des Gelernten vor.72 Was Anton bleibt, ist die Entäußerung seiner 71 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 166. Nach und nach perfektioniert Anton dieses Verfahren: »Kein Sonntag ging hin, wo er itzt nicht eine Predigt nachschrieb, und er bekam dadurch bald eine solche Fertigkeit, daß er das Fehlende dazwischen durch sein Gedächtnis ergänzen, und eine Predigt, die er gehört, und die Hauptsachen nachgeschrieben hatte, zu Hause beinahe vollständig wieder zu Papier bringen konnte.« (ebd. S. 174) Anton geht damit genau den umgekehrten Weg zu dem, welchen Moritz’ A. B. C. Buch empfiehlt. Dort heißt es: »Was ich mit dem Auge lese, das kann ich auch mit dem Ohre hören. Jetzt lese ich laut. Und höre mit den Ohren, was ich lese. Wenn ich nun das Buch zumache, so muß ich noch wissen, was ich gelesen habe.« (Moritz: Neues A. B. C. Buch [Anm. 65]. S. 237) Bezieht man diese, einige Jahre nach Erscheinen des ersten Teils von Anton Reiser im A. B. C. Buch formulierte Methode auf den psychologischen Roman zurück, ergibt sich ein weiterer Hinweise darauf, dass Antons Autodidaktik quer zu den Empfehlungen der aufklärerischen Pädagogik steht. 72 Georg Stanitzek nennt dezidiert die Bedrohung des einsamen, ohne mündliche An- bzw. Unterweisung Lesens und Schreibens als eine der Gefährdungen, welchen Autodidakt_innen in der Perspektive der gelehrten Welt des 17. und 18. Jahrhunderts ausgesetzt gewesen waren (vgl. Stanitzek: Genie: Karriere/Lebenslauf [Anm. 34]. S. 254). Als zeitgenössisches pragmatisches Motto diesbezüglich reformuliert er : »Autodidaxie ist möglich, aber nicht ratsam; denn: sie führt ins Abseits; sie führt aller Wahrscheinlichkeit nach zu schrägen, unbrauchbaren, nicht mehr kommunikablen Resultaten.« Ebd.

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Gedanken an/in die Schrift. Damit sind erstens mögliche Gefahren des zirkulären Selbstbezugs angezeigt, zweitens erweist sich das Selbst-Bildungs-Versprechen der Autodidaktik als eingeschränkt und drittens ist damit ein möglicher Ausgangspunkt von Antons poetischem Dilettantismus benannt. Anton wäre der orale Ausdruck gemäß, dieser bleibt ihm mangels kommunikativen Gegenübers verwehrt und so ist es nur folgerichtig, dass seine litteralen und dann auch seine literarischen Versuche scheitern werden.73 Der sich selbst überlassene Anton hilft sich damit, seinen Brüdern zu predigen: Des Öfteren besteigt er eine improvisierte Kanzel und verkündet das Evangelium, predigt usw.74 Die medialen Probleme seines Autodidaktentums dürfen in Antons Fall also nicht nur als Ursachen seines poetischen Dilettantismus, sondern auch seiner Darstellungssucht und Theatromanie gelten.75 Aber auch andere Varianten von Antons systematischem Vorgehen erweisen sich als äußerst gefahrenträchtig: Er hatte sich von dem Bücherantiquarius unter andern Gottscheds Philosophie geliehen, und so sehr auch in diesem Buche die Materien durchwässert sind, so gab doch dies seiner Denkkraft gleichsam den ersten Stoß – er bekam dadurch wenigstens eine leichte Übung aller philosophischen Wissenschaften, wodurch sich die Ideen in seinem Kopfe aufräumten. – Sobald er dies merkte, nahm auch sein Eifer, die Sache bald zu übersehen, mit jedem Tage zu. – Er sah, daß das bloße Lesen nichts half – er fing also an, sich auf kleinen 73 Erst als Anton in Philipp Reiser ein Gegenüber, einen Adressaten hat, gelingen auch seine Texte. Scheitern und Gelingen sind also maßgeblich an das Aufbrechen des autodidaktischen Selbstbezug gebunden: »Das Bedürfnis, seine Gedanken und Empfindungen mitzuteilen, brachte ihn auf den Einfall, sich wieder eine Art von Tagebuch zu machen, worin er aber nicht sowohl seine äußern geringfügigen Begebenheiten, wie ehemals, sondern die innere Geschichte seines Geistes aufzeichnen, und das, was er aufzeichnete, in Form eines Briefes an seinen Freund richten wollte. – Dieser sollte denn wiederum an ihn schreiben, und dies sollte für beide eine wechselseitige Übung im Stil werden. – Diese Übung bildete Anton Reisern zuerst zum Schriftsteller ; er fing an, ein unbeschreibliches Vergnügen daran zu empfinden, Gedanken, die er für sich gedacht hatte, nun in anpassende Worte einzukleiden, um sie seinem Freunde mitteilen zu können – so entstanden ihm unter den Händen eine Anzahl kleiner Aufsätze, deren er sich zum Teil auch in reifern Jahren nicht hätte schämen dürfen.« Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 312f. 74 Vgl. ebd. S. 173f. 75 Vgl. dazu Kapitel III. 2. sowie Lothar Müller: Die Erziehung der Gefühle im 18. Jahrhundert. Kanzel, Buch und Bühne in Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785–1790). In: Der Deutschunterricht 48 (1996). S. 5–20. In diesen Zusammenhang wäre auch die mögliche Anspielung des Namens des Protagonisten auf den Hamburger Theologen und Theaterkritiker Anton Reiser (1628–1686) einzuordnen. Dieser hatte eine Schrift verfasst mit dem Titel AY ! Theatromania, Oder die Wercke Der Finsterniß In denen öffentlichen Schau-Spielen von den alten Kirchen-Vätern verdammet / Welches aus ihren Schriften zu getreuer Warnung Kürtzlich entworffen. Vgl. den Kommentar zu »Anton Reiser«. In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1999. S. 938–1113. Hier: S. 989.

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Blättchen schriftliche Tabellen zu entwerfen, wo er das Teil immer dem Ganzen gehörig unterordnete, und sich auf die Weise einen anschaulichen Begriff davon zu machen suchte. – Das simple Abschreiben des Hauptinhalts brachte für ihn schon ein vorzügliches Interesse in die Sache – denn indem er nun das Blatt, auf welches er die in dem Buche enthaltenen Materien niedergeschrieben hatte, beim Lesen des Buches vor sich hinlegte, erhielt er dadurch den Vorteil, daß er bei dem Einzelnen nie das Ganze aus den Augen verlor, welches doch beim philosophischen Denken immer ein Haupterfordernis ist, und auch die größte Schwierigkeit macht. – Alles was er noch nicht durchdacht hatte, lag auf dieser Charte wie ein unbekanntes Land vor ihm, welches genauer kennen zu lernen, er eine ordentliche Sehnsucht empfand. – Die Umrisse, das Fachwerk war durch die allgemeine Übersicht des Ganzen einmal in seiner Seele gemacht, er strebte nun von den Lücken, die er jetzt erst empfinden konnte, eine nach der andern auszufüllen. – Und dasjenige, was ihm erst bloße leere Namen gewesen waren, wurden nun allmählich vollgefüllte deutliche Begriffe, und wenn er nun eben den Namen wieder las, oder wieder dachte, und ihm auf einmal alles so licht und helle wurde, was ihm vorher dunkel und verworren gewesen war, so bemächtigte sich seiner ein so angenehmes Gefühl dabei, als er noch nie empfunden hatte – er schmeckte zuerst die Wonne des Denkens.76

Geradezu plakativ verwendet der Erzähler die Lichtmetaphorik und präsentiert Anton als einen Selbstaufklärer. Zum Aufklärer seiner selbst versucht Anton zu werden, indem er Hermeneutik im traditionellen Sinne betreibt: Im ständigen Abgleich von Teil und Ganzem versucht er vorzeitig den hermeneutischen Zirkel zu schließen. Allerdings bedient sich Anton mit dem Überblickszettel dabei einer Hilfskonstruktion, die seine Hermeneutik erstens als eine künstlich forcierte ausweist und zweitens auf sein großes Defizit,77 nämlich sein Leben nicht als Ganzes von einem übergeordneten Standpunkt aus betrachten zu können, hinweist. Dass Anton gerade die hermeneutische Methode wählt, ist kein Zufall: Die Nähe der Hermeneutik zur Hermetik ist nicht nur etymologisch begründet; ein geschlossener hermeneutischer Zirkel stellt außerdem einen reinen, absoluten Selbstbezug dar. Seiner isolierten Position als Autodidakt gemäß, betreibt Anton methodisch etwas, das ich als »strukturellen Autismus« bezeichnen möchte.78 Dieser strukturelle Autismus hat sein Gegenstück in Antons psychosozialer Verfassung.79 Als Folge der autodidaktischen Selbsterziehung befragt 76 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 299f. 77 Zumindest in der Perspektive des Erzählers stellt dieses Unvermögen ein klares Defizit dar. Vgl. ebd. S. 161. 78 Allgemein gefasst wird Autismus als »Sichabsondern von der Außenwelt, Verschlossenbleiben in der Welt der eigenen Gedanken und Phantasien« definiert. Helmut Remschmidt: Autismus. Erscheinungsformen, Ursachen, Hilfen. München 2000. Klappentext. 79 Diese These deckt sich auch mit Interpretationen, die das hier nicht näher verfolgte Thema der Melancholie behandeln. Dem Melancholiker attestiert Georg Stanitzek einen »starrköpfige[n] Selbstbezug« und stellt fest: »Melancholiker sondern sich ab, schließen sich aus.«

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der strukturelle Autismus, so die These, nicht nur kritisch das pädagogische Programm der Aufklärung, für das der Bildungsroman stellvertretend eintritt, sondern auch die Autonomieästhetik Karl Philipp Moritz’.80 Der Grundstein von Antons individueller Problematik liegt weniger in der Vernachlässigung durch die Eltern, wie häufig argumentiert wird,81 sondern in der Zurückgeworfenheit auf den isolierten, autodidaktischen Selbstbezug, der sich dann in autistischen Symptomen äußert. Das zweite Buch, was ihn sein Vater nebst den Guionschen Liedern lesen ließ, war eine Anweisung zum innern Gebet von eben dieser Verfasserin. Hierin ward gezeigt, wie man nach und nach dahin kommen könne, sich im eigentlichen Verstande mit Gott zu unterreden, und seine Stimme im Herzen, oder das eigentliche innre Wort, deutlich zu vernehmen; indem man sich nehmlich zuerst so viel wie möglich von den Sinnen los zu machen, und sich mit sich selbst und seinen eignen Gedanken zu beschäftigen suchte, oder meditieren lernte, welches aber auch erst aufhören, und man sich selbst sogar erst vergessen müsse, ehe man fähig sei, die Stimme Gottes in sich zu vernehmen.82

Antons pietistische, auf ständige Selbstbefragung ausgerichtete Erziehung gelangt offenbar erst zur Verinnerlichung, als er sie sich anliest. In das Hören auf das innere Wort, die Ablösung von den Sinnen, die Selbstvergessenheit und die Aufmerksamkeit auf die Stimme Gottes sind diejenigen Momente eingeschrieben, die sich schließlich mangels eines Gegenübers nicht in kommunikativem Austausch, sondern in autistischen Symptomen äußern. Auch dass Anton später sein Leben, Denken und Träumen am Werk Shakespeares orientiert,83 ist keine rein ästhetische Entscheidung, sondern hat auch psychische Ursachen: Shakespeares Werk macht Anton mit den menschlichen Leidenschaften vertraut, er fühlt sich nicht mehr allein und isoliert, sondern in eine imaginäre Gefühlsgemeinschaft integriert.84 Ähnlich ergeht es Anton mit Goethes Werther, in dessen

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Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen 1989. S. 32. In diesem Zusammenhang sei auf Hans Jürgen Schings verwiesen, der die Gattung Bildungsroman zur »Antwort auf eine Pathogenese« erklärt. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman. In: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Tübingen 1984. S. 42–68. Hier : S. 45. Vgl. beispielsweise Peter Kunte: Karl Philipp Moritz’ psychologischer Roman Anton Reiser aus der Sicht der Sozialisationstheorie. Heidelberg 1996. S. 266–269. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 100. Vgl. ebd. S. 311. Vgl. ebd. S. 312. Mit meiner Deutung der Integration in eine imaginäre Gefühlsgemeinschaft als autistisches Symptom grenze ich mich von Auslegungen ab, wie sie von Rolf Selbmann oder Alo Allkemper vertreten werden. Nach Rolf Selbmann ermöglicht die Shakespeare-Lektüre Anton, »die selbstzerstörerische Ich-Isolation aufzubrechen«; er wertet sie als »Katalysator einer Öffnung zur gesellschaftlichen Umwelt.« (Selbmann [Anm. 42]. S. 49) Für Alo Allkemper stellen die Shakespeare- und die Werther-Lektüre ästhetische Lösungen

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Protagonisten er sich – mit der signifikanten Ausnahme der Liebesbeziehung85 – wiedererkennt: Kurz, Reiser glaubte sich mit allen seinen Gedanken und Empfindungen, bis auf den Punkt der Liebe, im Werther wieder zu finden. – »Laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kannst.« – An diese dar, die Anton erlauben, in sich selbst zurückzukehren und seine Situation durch die fiktive Verallgemeinerung seines individuellen Schicksals ertragen zu lernen (vgl. Allkemper [Anm. 6]. S. 175). Ich möchte dagegen wie Robert Stockhammer zunächst darauf hinweisen, dass diese ästhetische Lösung von einem enormen Gewaltaspekt geprägt ist. Robert Stockhammer macht dies an Antons Faszination für Werthers Aussagen über das Marionettenspiel fest: »Aus jenem Roman, von dem man gemeinhin annimmt, daß er ganz vom Organischen des Menschen und seiner Umwelt […] handelt, wählt Anton ausgerechnet einen Vergleich aus, der als das Verbindungsstück von La Mettrie und Kleists Marionettentheater-Aufsatz fungieren könnte. […] So tritt die Gewalt, welche bei der Identifikation mit Werther nötig ist, als Thema einer Passage aus Werther hervor, mit welcher sich Anton identifiziert.« (Robert Stockhammer: Leseerzählungen. Alternativen zum hermeneutischen Verfahren. Stuttgart 1991. S. 198.) Es bestehen meiner Ansicht nach nicht nur berechtigte Zweifel, ob die Zugehörigkeit zu einer imaginären Gefühlsgemeinschaft tatsächlich automatisch die Disposition zur Gesellschaftsfähigkeit nach sich zieht. Antons autistische Veranlagung legt vielmehr nahe, dass die Lektüre einen gegenteiligen Effekt erzielt. Diese Annahme lässt sich auch strukturell begründen: Werthers Liebesproblematik ist für den vereinsamten Anton schlicht nicht nachvollziehbar. Seine ›Identifikation‹ ist also treffender als eine »überformende[…] Aneignung« (ebd. S. 198) zu bezeichnen. Im Zuge einer solchen aneignenden Lektüre aber »werden hermeneutische Rücksichten wie die auf das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen hinfällig.« (ebd.) Antons Werther-Lektüre – und dies ist auch übertragbar auf seine Lektüre Shakespeares – folgt damit derselben hermetischen Quasi-Hermeneutik wie seine Bemühungen um Gottscheds Werk. Sie ist also weder eine ästhetische Praktik, noch stellt sie eine Lösung für Antons problematisches Sozialverhalten dar. – Lothar Müller hat zum Werther-Zitat in Anton Reiser eine Beobachtung gemacht, die für den vorliegenden Zusammenhang von zentraler Bedeutung ist. Er sieht in der empfindsamen Gesellschaftsfeindlichkeit die Dilettantismusproblematik, wie sie sich um 1900 zeigen wird, präfiguriert und kommt zu dem Schluss: »Die bürgerliche Aufklärung bekämpft im empfindsamen Jüngling eine Keimform des Dandy.« Lothar Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ »Anton Reiser«. Frankfurt/M. 1987. S. 340. 85 Dass für Anton eine Liebesbeziehung nicht einmal imaginär greifbar zu werden vermag, kann ebenfalls als autistisches Symptom gewertet werden, zeichnet sich doch das Gefühlsund Sexualleben vieler Autist_innen durch auffallendes Desinteresse an geschlechtlichen Beziehungen aus (vgl. Remschmidt [Anm. 78]. S. 11). In Anton Reiser heißt es: »Was aber nun die eigentlichen Leiden Werthers anbetraf, so hatte er dafür keinen rechten Sinn. – Die Teilnehmung an den Leiden der Liebe kostete ihm einigen Zwang – er mußte sich mit Gewalt in diese Situation zu versetzen suchen, wenn sie ihn rühren sollte, – denn ein Mensch der liebte und geliebt ward, schien ihm ein fremdes ganz von ihm verschiedenes Wesen zu sein, weil es ihm unmöglich fiel, sich selbst jemals, als einen Gegenstand der Liebe von einem Frauenzimmer zu denken.« (Moritz: Anton Reiser [Anm. 4]. S. 335) Sehr zärtliche Gefühle zeigt Anton dagegen im Rahmen seiner empfindsamen Freundschaft zu Philipp Reiser, ansatzweise auch gegenüber seinem Mitlehrling. Dies ist im Kontext von Selbst- und Fremdbezug dahingehend signifikant, dass ein homoerotisches Interesse sowohl den Selbstbezug auf das eigene Geschlecht als auch den Fremdbezug auf ein personales Gegenüber integriert.

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Worte dachte er, so oft er das Buch aus der Tasche zog – – er glaubte sie auf sich vorzüglich passend. – Denn bei ihm war es, wie er glaubte, teils Geschick, teils eigne Schuld, daß er so verlassen in der Welt war ; und so wie mit diesem Buche konnte er sich doch auch selbst mit seinem Freunde nicht unterhalten.86

Bis hierhin kann also festgehalten werden: Die vom Erzähler als Repräsentantin einer aufklärerischen Pädagogik propagierte Autodidaktik kann für Anton ihr Versprechen auf kreativ erwerbbares Wissen und eine gelingende, umfassende Selbst-Bildung nicht halten. Vielmehr zwingt sie den Lernenden in eine Position der Isolation, Einsamkeit und Orientierungslosigkeit. An der Figur Anton Reiser führt der Text vor, welch verheerende Konsequenzen diese Abseitsposition zeitigen kann. Dabei sind autistische Symptome als Korrespondenzerscheinungen zur autistischen Struktur des autodidaktischen Vorgehens nur eine von verschiedenen möglichen Folgen. Eine zweite, stärker die ganzheitliche Selbst-Bildung akzentuierende Konsequenz führt der Roman vor, wenn Antons Bestrebungen nach Selbstbelehrung schließlich in eine Lesesucht münden: »Alles Geld, was er sich vom Mund absparen konnte, wandte er an, um Bücher zum Lesen dafür zu leihen«.87 Die Wortwahl ist hier signifikant, denn sich die Lektüre ›vom Munde abzusparen‹, verschärft den Dualismus von Geist und Körper, statt ihn zu harmonisieren. Maß halten, d. h. verschiedene Wünsche und Anforderungen zum Ausgleich zu bringen, hat der psychisch und methodisch autistisch geprägte Anton nicht gelernt und wird dadurch zum Opfer – und nicht zum Profiteur – seiner Selbstbildung. Die Freiheit des Autodidakten, sich nicht nach Unterrichtsstrukturen und Lehrplänen richten zu müssen, schlägt bei Anton in ihr Gegenteil, eine Art Lernzwang, um: Er arbeitet, [o]hngeachtet seiner immerwährenden Kopfschmerzen, […] doch auch so oft er nur ein wenig in Ruhe sein konnte, für sich, und lernte auf die Weise in Zeit von einigen Wochen französisch, indem er sich einen lateinischen Terenz mit der französischen Übersetzung liehe, und sich täglich ununterbrochen selbst eine Lektion gab; er kam dadurch wenigstens so weit, daß er von der Zeit an jedes französische Buch ziemlich verstehen konnte.[88] […] Dabei dauerten seine Kopfschmerzen immer fort – allein er

86 Ebd. S. 336. 87 Ebd. S. 254. Auch an einer anderen Stelle wird Lesen explizit als Sucht behandelt und Antons mangelnde Selbstfürsorge als Symptom der Lesesucht gedeutet: »Das Lesen war ihm nun einmal so zum Bedürfnis geworden, wie es den Morgenländern das Opium sein mag, wodurch sie ihre Sinne in eine angenehme Betäubung bringen – Wenn es ihm an einem Buche fehlte, so hätte er seinen Rock gegen den Kittel eines Bettlers vertauscht, um nur eins zu bekommen« (ebd. S. 255). Antons zunehmende Verschuldung ist ein weiterer Schritt in der Dynamik seiner Sucht. Vgl. ebd. S. 254f. 88 Ebd. S. 304f – Auch an dieser Stelle ist ein Seitenblick auf den Autodidakten Heinrich Schliemann geradezu frappierend: »Schliemann aber erzählt, daß er bisweilen […] einen fremdsprachlichen Text und zugleich eine Uebersetzung in eine ihm bekannte Sprache, Wort

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gewöhnte sich zuletzt so daran, daß ihm sein Zustand ordentlich gefährlich oder unnatürlich vorkam, wenn er einen Tag einmal keine Kopfschmerzen hatte.89

Von der Trias Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung und Selbstveredelung löst Anton also die Selbstbeherrschung im Übermaß ein, Selbsterkenntnis und Selbstveredelung bleiben ihm verwehrt. Denn die Selbsterkenntnis ist der Akt, in dem Selbstbildung und ganzheitliche Selbst-Bildung zusammenfallen: Allein es war ihm noch nie gelungen, sein ganzes Leben in B… mit allen seinen mannigfaltigen Veränderungen in einen einzigen vollen Blick zusammen zu fassen. Der Ort, wo er sich jedesmal befand, erinnerte ihn immer zu stark an irgend einen einzelnen Teil desselben, als daß noch für das Ganze in seiner Denkkraft Platz gewesen wäre; er drehete sich mit seinen Vorstellungen immer um einen engen Cirkel seines Daseins herum.90

Was Anton nicht gelingt, ist, den hermeneutischen Zirkel zu schließen und auf sein Leben aus einer übergeordneten Perspektive zu blicken. Er haftet am Einzelnen und kann keine Übersicht gewinnen, d. h. keine Selbsterkenntnis erlangen.91 Als Lösungsvorschlag bietet der Erzähler ein Programm an, welches stark an die Autonomieästhetik erinnert: »Um von dem Ganzen seines hiesigen Lebens ein anschauliches Bild zu haben, war es nötig, daß gleichsam alle die Fäden abgeschnitten wurden, die seine Aufmerksamkeit immer an das Momentane, Alltägliche und Zerstückte desselben hefteten«.92 Der Erzähler macht damit

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für Wort miteinander verglich und sich so zugleich den Weg zum Verständnis des neuen Textes und auch zu einem Wortschatz bahnte.« Abels (Anm. 69). S. 41. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 314. Ebd. S. 161. Im Gegenteil kann Antons Motivation, Selbsterkenntnis dieser Art zu erwerben, nicht sehr groß sein, sind doch die glücklichsten Momente seines Lebens an eben jene Struktur des zentripetalen Verharrens im Mittelpunkt gebunden: »Überhaupt brachte er die vergnügtesten Stunden seines damaligen Lebens entweder für sich allein, oder in diesem Cirkel, bei seinem Vetter, dem Peruquenmacher zu, wo er gleichsam die Herrschaft über die Geister führen, und sich zum Mittelpunkte ihrer Aufmerksamkeit machen konnte – denn hier wurde er gehört – hier konnte er vorlesen, deklamieren, erzählen und lehren –«. Ebd. S. 262. Ebd. – Der Erzähler überträgt hier Kategorien der Autonomieästhetik auf seine psychologischen Beobachtungen. Konkret argumentiert er wie Karl Philipp Moritz in seiner ästhetischen Hauptschrift Über die bildende Nachahmung des Schönen: Das Schöne unterscheidet Moritz vom Nützlichen; das Schöne ist das, was nicht nützlich zu sein braucht. »Unter Nutzen denken wir uns nehmlich die Beziehung eines Dinges, als Teil betrachtet, auf einen Zusammenhang von Dingen, den wir uns als ein Ganzes denken. Diese Beziehung muß nehmlich von der Art sein, daß der Zusammenhang des Ganzen beständig dadurch gewinnt und erhalten wird: je mehrere solcher Beziehungen nun eine Sache auf den Zusammenhang, worin sie sich befindet, hat, um desto nützlicher ist dieselbe. Jeder Teil eines Ganzen muß auf die Weise mehr oder weniger Beziehung auf das Ganze selbst haben: das Ganze, als Ganzes betrachtet, hingegen, braucht weiter keine Beziehung auf irgend etwas außer sich zu haben.« (Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen [Anm. 8]. S. 966f) Das Schöne, das »den Endzweck und die Absicht seines Daseins in sich selber hat« (ebd. S. 983), hat seine Fäden nach außen – z. B. zum Nützlichen – abgeschnitten. Anton Reisers Unfähigkeit zur

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zweierlei: Erstens setzt er als der (scheinbar) allwissende, Antons Biographie aus olympischer Perspektive rekapitulierende Erzähler sich selbst/seine Erzählposition als den Ort der Erkenntnis.93 Er ist derjenige, der von Antons Leben ein anschauliches Bild geben kann. Das heuristische Potential des Romans besteht demnach nicht in Antons Selbsterkenntnis, sondern in des Erzählers Anton-Erkenntnis.94 Die Erzählsituation ist überdies im Zusammenhang mit der eingangs aufgeworfenen Frage nach der autonomieästhetischen Qualität des Romans Anton Reiser relevant: Seiner olympischen Perspektive zum Trotz bleibt der Erzähler ein Integral des Romans, ein untergeordneter Teil innerhalb eines (qua Herausgeberfunktion wissensmäßig und) qua Autorfunktion ästhetisch geschlossenen Ganzen.95 Birgit Nübel hat darauf aufmerksam gemacht, dass mit den jeweiligen ›Gesichtspunkten‹ des Erzählers und Antons eine Perspektivierung der dargestellten Lebensgeschichte und eine Dezentrierung von dem ›Gesichtspunkt‹ ihres erzählenden Subjektes und dem ›Mittelpunkt‹ ihres erzählten Objekts geleistet wird. Auf diese Weise umkreisen eine Vielzahl unterschiedlicher Zirkel in ihrem imaginären Schnittfeld einen möglichen Mittelpunkt der Fiktion.96 Dieser Beschreibung folgend, verstehe ich den Roman

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Selbsterkenntnis, sein Verharren beim Einzelnen könnte also als ein Verhaftetsein am Nützlichen und als Unzugänglichkeit für größere Zusammenhänge gedeutet werden. Diese Deutungsvariante ist insofern relevant, als sie mit Moritz’ Herleitung des Dilettantismus u. a. aus der Gefallsucht in Verbindung steht. Indem der Erzähler seinen psychologischen Bemerkungen einen autonomieästhetischen Anstrich verleiht, rückt er Antons scheiternde Selbsterkenntnis aufgrund von Detailversessenheit bereits in die Perspektive von scheiternder Künstlerschaft aufgrund von Selbsttäuschung, die im Verlauf des Romans immer wichtiger wird. Claudia Kestenholz hat aufgezeigt, dass dem Verhältnis von Erzähler und Protagonist eine Differenz in der Funktionsbestimmung von Visualität zugrunde liegt: Während der Erzähler den Über-Blick hat, ist Anton die Blindheit zugeordnet (vgl. Claudia Kestenholz: Die Sicht der Dinge. Metaphorische Visualität und Subjektivitätsideal im Werk von Karl Philipp Moritz. München 1987. S. 106f.). Alo Allkemper hat die Strukturhomologie zwischen dem Erzähler und Gott herausgestellt und mit der alter deus-Funktion des Erzählers im Prozess der Erinnerungs(re)konstruktion begründet. Vgl. Allkemper (Anm. 6). S. 21. Marion Schmaus versteht diese Form des Erkenntnisgewinns als säkularisierte pietistische Praktik und ordnet sie in das Schema Arzt-Patient ein. »[D]urch die Aufspaltung des Ich in Protagonist/Patient einerseits und Erzähler/Arzt andererseits wird die Selbstbeobachtung als wissenschaftlich-distanzierte Fremdbeobachtung inszeniert.« (Marion Schmaus: Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778–1936). Tübingen 2009. S. 62f.) Die Erzählerkommentare begreift Marion Schmaus als Selbstbeobachtungen zweiter Ordnung, als »religiös oder wissenschaftlich-distanzierte Selbstbeobachtung[en] mit therapeutischem Anspruch.« Ebd. S. 63. Ich gehe dabei von einer Lektüre aus, die sich auf alle vier Teile von Anton Reiser beziehen kann. Beispiele für Annahmen in der Rezeption, deren Revidierung und Neuformulierung angesichts der sukzessiven Publikation der einzelnen Teile des Roman zwischen 1785 und 1790 führt der Kommentar zum Text an. Vgl. den Kommentar zu »Anton Reiser« (Anm. 75). S. 962–974. Vgl. Birgit Nübel: Karl Philipp Moritz: Der kalte Blick des Selbstbeobachters. In: Wolfgang

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Anton Reiser als ein in ästhetischer Hinsicht autonomes, in sich selbst vollendetes Ganzes. Anders als der Text als Ganzes erreicht Anton das Ziel des gnothi seauton nicht. Dies ist folgenreich auch für das Konzept ›Bildungsroman‹. Das vom aufklärerischen Erzähler favorisierte Bildungsmodell der Autodidaktik löst seine Versprechen allesamt nicht ein: Der kreativ-genialische Aspekt kommt zwar zum Tragen, allerdings nur als Kompensation vorgängiger Mängel. Das in Aussicht gestellte integrative Erlangen von umfassender Selbst-Bildung und verlässlicher Selbsterkenntnis bleibt aus, vielmehr führt die Autodidaktik zu autistischen Symptomen und kognitiver Selbstbefangenheit. Anton Reiser als einen scheiternden Bildungsroman zu bezeichnen, hat seine Berechtigung darin, dass die Romanhandlung einen scheiternden Bildungsweg vorstellt. Dies hat vor allem damit zu tun, dass sich entgegen gängiger Interpretationen das Verhältnis zwischen Erzähler und Anton m. E. mitnichten als das eines Arztes und seines Patienten darstellt.97 Vielmehr verfolgt der Erzähler mit dem Erzählen von Antons Geschichte ein eigenständiges pädagogisches – aber eben nicht autonomieästhetisches – Projekt, das seine Fäden zu Anton längst abgeschnitten hat und in diesem lediglich den Ort seiner auf den Leser gerichteten Erziehungsabsicht sieht.98 Anton Reiser ist der Roman einer scheiternden Bildung. Er ist auch ein scheiternder Bildungsroman in dem Sinne, dass Erzähler und Protagonist auf verschiedenen Erzählebenen angesiedelt sind und eine bildende Einflussnahme des extradiegetisch-heterodiegetisch situierten Erzählers auf Anton, eine Figur innerhalb der von ihm aufgespannten diegetischen Welt, unmöglich ist. Von einem Antibildungsroman zu sprechen ist m. E. jedoch unzutreffend: Anton Reiser ist durchaus ein Bildungsroman, ein pädagogisches Projekt wie es im Buche steht. Außerdem führt der Erzähler wie bereits angedeutet im obigen Zitat das Strukturprinzip der Autonomieästhetik als dasjenige Moment ein, welches gelingende von scheiternder Selbsterkenntnis differenziert: das Prinzip des Fädenabschneidens. Vom autistischen Selbstbezug unterscheidet sich der autonome Selbstbezug darin, dass er nicht nur um einen einzigen Punkt kreist. Die Griep (Hg.): Moritz zu ehren. Beiträge zum Eutiner Symposium 1993. Eutin 1996. S. 31–52. Hier: S. 44. 97 Diese Ansicht hat vor Marion Schmaus (vgl. Anm. 94) auch Lothar Müller vertreten. In seinem Verständnis des Textes »trägt der Erzähler als dominierendes Subjekt des Textes die Züge des Arztes und Anton Reiser als das Objekt seiner Diagnose diejenigen des Melancholikers oder Hypochondristen.« (Müller : Die kranke Seele [Anm. 84]. S. 36) Das therapeutische – in meiner Lesart: pädagogische – Anliegen des Textes ist meines Erachtens in seinem Bezug zu den Leser_innen, und nicht zum Protagonisten Anton situiert. In diese Richtung argumentieren auch Hans Joachim Schrimpf (Schrimpf: Karl Philipp Moritz [Anm. 42]. S. 106) und Michael Baum: »[D]as literarische Modell induziert vielmehr den Erkenntnisprozess des Lesers.« Michael Baum: Unmögliche Möglichkeiten. Bildungsszenen im langen 19. Jahrhundert. In: Wirkendes Wort 58 (2008)-1. S. 53–69. Hier: S. 56. 98 Vgl. Kapitel II. 2.

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Integration alles Einzelnen in ein übergeordnetes Ganzes soll geleistet und erkannt werden und nicht das große Ganze in einen einzelnen Punkt gebannt werden. Denn nur das Ganze kann autonomieästhetisch betrachtet autonom sein: »Jeder Teil eines Ganzen muß […] mehr oder weniger Beziehung auf das Ganze selbst haben: das Ganze, als Ganzes betrachtet, hingegen, braucht weiter keine Beziehung auf irgend etwas außer sich zu haben.«99 Von seiner olympischen Position aus gibt der Erzähler vor, eine solche Integration – nämlich die Relevanz des scheinbar Unbedeutenden für die Lebensgeschichte Antons zu erweisen – leisten zu können. Die Analyse der Textanalage zeigt allerdings auf, dass diese Form der Integration nicht dem autonomieästhetischen Theorem verpflichtet ist: Das pädagogische Projekt des Erzählers ist auf die Leser_innen gerichtet, also in extratextuelle Kontexte eingebettet. Ästhetisch autonom ist das Erzählen lediglich darin, dass es Teil eines geschlossenen Romanganzen ist. Für die inhaltliche Ebene soll nun abschließend anhand von Antons Lektüreerfahrungen illustriert werden, dass sein autistischer Selbstbezug nicht in einen autonomen übergeht: Die Erzählung von der Insel Felsenburg tat auf Anton eine sehr starke Wirkung, denn nun gingen eine Zeitlang seine Ideen auf nichts geringers, als einmal eine große Rolle in der Welt zu spielen, und erst einen kleinen, denn immer größern Cirkel von Menschen um sich her zu ziehen, von welchen er der Mittelpunkt wäre: dies erstreckte sich immer weiter, und seine ausschweifende Einbildungskraft ließ ihn endlich sogar Tiere, Pflanzen, und leblose Kreaturen, kurz alles, was ihn umgab, mit in die Sphäre seines Daseins hineinziehen, und alles mußte sich um ihn, als den einzigen Mittelpunkt, umher bewegen, bis ihm schwindelte.100

I.3.

Lernen in der Institution

Nicht unberücksichtigt bleiben darf, dass Anton nicht ausschließlich auf autodidaktischen Wissenserwerb angewiesen ist. Er begibt sich auch in diverse institutionalisierte und nichtinstitutionalisierte Lehrer-Schüler-Konstellationen, die jeweils sehr unterschiedlich organisiert sind. So folgen die Lektüreanweisungen des Herrn v. F. dem Plan einer sukzessiven Bildung, deren Komponenten aufeinander aufbauen: »Die Acerra philologika war ihm zur Lektüre des Telemach eine schöne Vorbereitung gewesen, weil er dadurch mit der Götterlehre ziemlich bekannt geworden war«101, heißt es beispielsweise. »Der Engländer« wiederum lehrt Anton »durch bloßes Sprechen Englisch«.102 Auffällig an solchen 99 100 101 102

Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen (Anm. 8). S. 966f. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 109. Ebd. S. 103. Ebd. S. 106.

Autodidaktik als Prüfstein der Selbsterziehung und des Bildungsromans

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Verhältnissen des nicht ausschließlich selbstbezogenen Lernens ist allerdings, dass Anton sie lediglich als Impulsgeber für eigene autodidaktische Übungen versteht: Er bekam nun auch Fenelons Totengespräche, nebst dessen Erzählungen zu lesen, und sein Schreibmeister fing an, ihn eigne Briefe und Ausarbeitungen machen zu lassen. Dies war für Anton eine noch nie empfundene Freude. Er fing nun an, seine Lektüre zu nutzen, und hie und da Nachahmungen von dem Gelesenen anzubringen, wodurch er sich den Beifall und die Achtung seines Lehrers erwarb.103

Diese Passage deutet an, dass die Lernimpulse von Außen in Anton verschiedene Vermögen und Bedürfnisse aktivieren können und dass es von zentraler Bedeutung für den Lernerfolg ist, welche Potentiale stimuliert werden. Denn motiviert von Beifallsucht lediglich Nachahmungen zu produzieren, führt direkt zum Dilettantismus, sobald dieses Vorgehen von reproduzierenden Schreibübungen auf das Kunstschaffen übertragen wird.104 Folgende Beobachtungen sollen also die Argumentation leiten: Dem institutionalisierten Lernen im Lehrer-Schüler-Verhältnis droht zwar nicht die Gefahr autistischer Selbstbezüglichkeit, aber die der rein nachahmenden Reproduktion. Diese Gefahr bedroht auch den Bildungsgedanken allgemein, da das Prinzip der Nachahmung zum Gedanken der Entfaltung des Individuums in einem Spannungsverhältnis steht. Dass Anton seine Entfaltung vorrangig auf dem Feld der Kunst sucht, ist hier von besonderer Bedeutung: Damit führt der Roman die Reproduktion in Lern- bzw. Bildungsprozessen mit der Reproduktion in Kunstprozessen so eng, dass Scheitern bzw. Erfolg in der (Selbst-)Bildung und Scheitern bzw. Erfolg im Bereich der Kunst als wechselseitig voneinander abhängend erscheinen.105 103 Ebd. S. 114. 104 In der Übersicht der Neuesten Dramatischen Literatur in Deutschland kritisiert Moritz, dass der Hauptzweck zahlreicher Theaterstücke in unmittelbarem Beifall bestünde. »Dies ist aber der Fall nie bei dem wahren Künstler, dem die innere Vollkommenheit seines Werks, mehr als jener Beifall, am Herzen liegt.« (Karl Philipp Moritz: Übersicht der Neuesten Dramatischen Literatur in Deutschland. In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1997. S. 870–875. Hier : S. 871.) Anton Reisers Laufbahn als Schriftsteller und als Schauspieler scheitert analog u. a. an seiner Beifallssucht. 105 Diesen Zusammenhang verkennt der Erzähler bzw. macht ihn nicht ausreichend transparent. So plädiert er vehement für die Wiederholung als Lernprinzip, ohne zu bedenken, dass der Transfer dieses Prinzips auf das Kunstschaffen weitreichende Folgen nach sich ziehen kann: »Hier herrschte nun gewiß der sogenannte Schulschlendrian, und Reiser kam demohngeachtet in einem Jahre so weit, daß er ohne einen grammatikalischen Fehler Latein schreiben und einen lateinischen Vers richtig skandieren konnte. – Das ganz einfache Mittel hiezu war – die öftere Wiederholung des Alten mit dem Neuen, welches doch die Pädagogen der neuern Zeiten ja in Erwägung ziehen sollten. Eine Sache mag noch so schön vorgetragen sein, sobald sie nicht öfter wiederholt wird, haftet sie schlechterdings nicht in dem jugendlichen Gemüte. Die Alten haben gewiß nicht in den Wind geredet, wenn sie sagten: daß

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Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

Als psychologischer Roman mit erfahrungsseelenkundlicher Grundierung und integrierter pädagogischer Zielsetzung befragt Anton Reiser auch die institutionalisierte Bildung und bringt dabei als ein aus verschiedenen Wissensfeldern gespeister Diskursraum wie auch als ästhetischer Gesamtkomplex verschiedene (widerstreitende) Forderungen – bspw. den erzieherischen, zweckhaften Fremdbezug und den ästhetischen, zwecklosen Selbstbezug – in Anschlag. Der Roman Anton Reiser spielt aber nicht – wie aufgrund der Positionierung des Erzählers vielleicht zu erwarten wäre – die Schulbildung gegen die Autodidaktik aus. Vielmehr verhandelt er Fragen des Transfers zwischen pädagogischem Wissen und künstlerischen Praktiken, die die Möglichkeiten und Grenzen institutionalisierter Bildung aufzeigen und zugleich geeignet sind, künstlerische Prozesse zu reflektieren. Zunächst besucht Anton auf Zureden einiger Bekannten in der öffentlichen Stadtschule eine lateinische Privatstunde […]. In die übrigen Stunden der öffentlichen Schule aber, worin Religionsunterricht die Hauptsache war, wollte ihn sein Vater […] schlechterdings nicht schicken. […] [Im Lateinunterricht] ging es an das Auswendiglernen. Das amo, amem, amas, ames, ward bald nach dem Takte hergebetet, und in den ersten sechs Wochen wußte er schon sein oportet auf den Fingern herzusagen106.

Vordergründig scheint der Text hier ganz im Sinne des Erzählers den »Schlendrian der akademischen Kopierkunst«107 in seiner bewusstseinslosen Mechanik ausstellen zu wollen.108 Dies soll auch nicht bestritten werden; der Kontext darf jedoch nicht unberücksichtigt bleiben: Denn das Auswendiglernen findet erstens in der hybriden Situation des Privatunterrichts in einer öffentlichen Schule die Wiederholung die Mutter des Studierens sei.« (Moritz: Anton Reiser [Anm. 4]. S. 216) Genau dieses Produktionsprinzip bringt Anton bei seinen Versuchen als Schriftsteller dann aber in Verlegenheit: »Allein die zu oft wiederholte Lektüre des Werthers brachte seinen Ausdruck sowohl als seine Denkkraft, um vieles zurück, indem ihm die Wendungen und selbst die Gedanken in diesem Schriftsteller durch die öftere Wiederholung so geläufig wurden, daß er sie oft für seine eigenen hielt, und noch verschiedene Jahre nachher bei den Aufsätzen, die er entwarf, mit Reminiscenzien aus dem Werther zu kämpfen hatte, welches der Fall bei mehrern jungen Schriftstellern gewesen ist, die sich seit der Zeit gebildet haben.« (ebd. S. 337) Dass das pädagogische und das poetische Konzept des Erzählers strukturell unverträglich sind, wird dann problematisch, wenn er im Hinblick auf Anton beide verbindet. Dass der Text den Transfer der Kategorie ›Wiederholung‹ von der Pädagogik in die Poetik und die je sehr unterschiedlichen Implikationen und Konsequenzen offenlegt, weist ihn als Reflexionsorgan der entsprechenden Wissensformationen aus. 106 Ebd. S. 115–117. 107 Abels (Anm. 69). S. 28. 108 Tatsächlich argumentiert der Erzähler sogar mit demselben Vokabular. »[…] – und wenn er nun zu dem Schuster S… kam, so war der Stoff zu ihren philosophischen Gesprächen weit reichhaltiger, wie vorher – und sie kamen von selbst auf alle die verschiedenen Systeme, welche von den Weltweisen der alten und neuern Zeiten vorgetragen, und immer von einer unzähligen Menge nachgebetet sind.« Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 301f.

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statt und scheint zweitens den Religionsunterricht zu substituieren. Institutionell sind privater Latein- und öffentlicher Religionsunterricht voneinander getrennt, in seiner Methodik erweist sich der Lateinunterricht jedoch regelrecht als Einübung in religiöse Praktiken. Die Vokabeln werden »hergebetet«109 und die stellvertretend zitierte Vokabel, amare, kann ihre Nähe zum amen in der Kirche nicht verbergen.110 In einer Unterrichtsatmosphäre, die durch den Transfer religiöser Praktiken auf schulische Methoden charakterisiert ist, kann der Protagonist eines Aufklärungsromans zwar Lernerfolge erlangen; ein höheres Bildungsziel zu erreichen, ist dagegen ausgeschlossen.111 Das ›Störpotential‹ des Religiösen zeigt sich auch in Antons Versuchen, als Lehrender seinen Mitlehrling zu unterrichten. Wenn er mit seinem Mitlehrburschen in der Werkstatt alleine war, suchte er ihm alle die kleinen Kenntnisse mitzuteilen, welche er sich teils durch eignes Lesen, und teils durch den Unterricht, den er genossen, erworben hatte. Er erzählte ihm vom Jupiter und der Juno, und suchte ihm den Unterschied zwischen Adjektivum und Substantivum deutlich zu machen, um ihn zu lehren, wo er einen großen Buchstaben, oder einen kleinen setzen müsse. Dieser hörte ihm denn aufmerksam zu, und zwischen ihnen wurden oft moralische und religiöse Gegenstände abgehandelt. Antons Mitlehrbursche war bei diesen Gelegenheiten vorzüglich stark in der Erfindung neuer Wörter, wodurch er seine Begriffe bezeichnete. So nannte er z. B. die Befolgung der göttlichen Befehle, die Erfülligkeit Gottes – Und indem er vorzüglich die religiösen Ausdrücke des Hrn. L. von Ertötung u.s.w. nachzuahmen suchte, geriet er oft in ein sonderbares Galimathias.112

Keiner der beiden ist in der Lage, grammatikalische von religiösen Kategorien zu trennen, sie benutzen sie vielmehr zur wechselseitigen Erklärung. Linguistisches Wissen in den Dienst religiösen Handelns zu stellen, ist eine Transferleistung, die Anton im Lateinunterricht gelernt hat, die der Erzähler seinem aufklärerischen Impetus entsprechend jedoch für obsolet erklären muss. Die kritische Würdigung dieser Leistung als »Galimathias« deckt neben der heuristischen auch eine ästhetische Implikation des Transfers auf: Laut zeitgenössischer Definition ist Galimathias nämlich eine »unverständliche Vermischung 109 Ebd. S. 117. 110 Der Lateinunterricht weist damit Analogien zu Antons ersten Leseerfahrungen auf. Diese haben in einer Verknüpfung von Lesen und Beten bestanden, welche durch die Rede von »Fibel« und »Bibel« auch phonetisch angezeigt ist. Im Anschluss an diese Beobachtung wertet Lothar Müller Antons Lektürebiographie als Dokument für »den Prozeß der Emanzipation des ästhetischen Leseinteresses gegenüber der religiösen Funktion der Lektüre.« (Müller : Die kranke Seele [Anm. 84]. S. 324 und S. 326) Der Besuch der Freischule stellt dann eine wichtige Station im Prozess dieser Emanzipation dar. 111 Genau dasselbe gilt im künstlerischen Bereich: Die Verfahrensweise des poetischen Schaffens an die pädagogische Methode der Wiederholung anzulehnen, mag den ein oder anderen Achtungserfolg bringen, echte Künstlerschaft kann dadurch jedoch nicht erreicht werden. 112 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 133.

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hochtrabender, verblümter Redensarten, eine ungeschickte Verknüpfung wider einander laufender Begriffe, aus welchen sich kein vernünftiger Verstand bringen läßt. Auf gut deutsch: Unsinn«113. Indem der Erzähler die Wortschöpfungen als Galimathias klassifiziert, bindet er den auf religiöse Erkenntnis gerichteten Standpunkt des Mitlehrlings an poetische Unzulänglichkeit.114 Eine Unterrichtsorganisation, welche Anton demgegenüber eine erkenntnistheoretische Position einnehmen lässt, die keiner religiösen Täuschung unterliegt, bietet die Freischule in H… .115 Dort sind die Disziplinen streng geschieden, Religion wird als eigenständiges Fach unterrichtet. Der Konrektor »lehrte die Theologie, die Geschichte, den lateinischen Stil, und das griechische neue Testament. – Der Kantor den Katechismus, die Geographie, und die lateinische Grammatik.«116 Der vom parallelen Satzbau evozierte Verdacht, auch hier könnten Wissenschaft und Religion als Verwandte behandelt werden, erhärtet sich nicht. Denn [d]er Inspektor trug alle Morgen in den Frühstunden den Lehrbegriff der lutherischen Kirche, ganz dogmatisch, mit allen Widerlegungen der Papisten sowohl, als der Reformierten, vor, und legte Gesenii Auslegung von Luthers kleinem Katechismus zum Grunde – Antons Kopf wurde dadurch freilich mit vielem unnützem Zeuge angefüllt, aber er lernte doch Hauptabteilungen und Unterabteilungen machen, er lernte systematisch zu Werke gehen.117

113 Galimathias. In: Grammatisches Wörterbuch von Karl Philipp Moritz. 4 Bde. Berlin 1793– 1800. Begonnen von Karl Philipp Moritz (Bd. 1), fortgesetzt von Johann Ernst Stutz (Bd. 2), Balthasar Stenzel (Bd. 3) und Johann Christoph Vollbeding (Bd. 4). Bd. 2. S. 190. 114 Mit dem Begriff »Galimathias« weist der Erzähler also implizit auf das Problem des Transfers bestimmter Wissensbestände in die künstlerische Produktion hin, ohne es jedoch näher zu erörtern. 115 Ein förderndes Umfeld stellt die Freischule nicht nur aufgrund der Fächertrennung dar. Vom Standpunkt des Erzählers aus ist das Format ›Freischule‹ auch der Selbstbildung dienlich, da es genügend Raum für autodidaktische Eigenleistungen bietet. Zumindest gilt dies, wenn man in der Freischule in H… die Freischule in Hannover erkennt, die zum einen kostenfrei gewesen ist und zum anderen der Unterricht dort auf der Basis von Freiwilligkeit abgehalten worden ist: »Eine Freyschule ist sie denn schon sofern, als sie keinen Schulzwang ausüben kann, sondern die Frequenz derselben ganz auf der freyen Wahl derer, von welchen sie besucht wird, beruhet.« D. J. C. Salfeld: Geschichte des königlichen Schullehrer=Seminarii und dessen Freyschule zu Hannover. Hannover 1800. S. 293. 116 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 211. 117 Ebd. S. 176. Diese Form des Systematisch-zu-Werke-Gehens empfiehlt Karl Philipp Moritz in seinem Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik, die 1786, also in etwa zeitgleich zu dem zweiten und dem dritten Teil von Anton Reiser erschienen ist. Vgl. Karl Philipp Moritz: Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik welche auch zum Theil für Lehrer und Denker geschrieben ist. In: Karl Philipp Moritz. Schriften zur Pädagogik und Freimaurerei. Hg. von Jürgen Jahnke. Berlin/Boston 2013. [= Karl Philipp Moritz. Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe. Hg. von Anneliese Klingenberg u. a. Bd. 6]. S. 143– 231. Hier: S. 146.

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Doch auch an der Freischule in H… lässt die Wissenschaftlichkeit des Unterrichts zu wünschen übrig: »Zwei Stunden in der Woche trug der Konrektor eine Art von Universalgeschichte nach dem Holberg vor, und der Kantor lehrte Geographie nach dem Hübner. Das war der ganze wissenschaftliche Unterricht.«118 Auch in H… überragt der Stellenwert des Fachs Latein den aller anderen Fächer um Längen,119 aber eines lernt Anton: eigenständig Wissenstransfer zu leisten. Der Kantor hatte nun die Methode, daß er über eine Anzahl von Regeln aus der großen märkischen Grammatik wöchentlich einen kleinen Aufsatz diktierte, der ins Lateinische übersetzt werden mußte, und wo die Ausdrücke so gewählt waren, daß immer gerade die jedesmaligen grammatikalischen Regeln darauf konnten angewandt werden. […] So sonderbar nun auch die um des Lateinischen willen zusammen gelesenen deutschen Ausdrücke zuweilen klangen, so nützlich war doch im Grunde diese Übung, und solch einen Wetteifer erregte sie. – Denn binnen einem Jahre kam Reiser dadurch so weit, daß er ohne einen einzigen grammatikalischen Fehler Latein schrieb, und sich also in dieser Sprache richtiger, als in der deutschen ausdrückte. Denn im Lateinischen wußte er, wo er den Akkusativ und den Dativ setzen mußte. Im Deutschen aber hatte er nie daran gedacht, daß mich z. B. der Akkusativ und mir der Dativ sei, und daß man seine Muttersprache eben so wie das Lateinische auch deklinieren und konjugieren müsse. – Indes faßte er doch unvermerkt einige allgemeine Begriffe, die er nachher auf seine Muttersprache anwenden konnte. – Er fing allmählich an, sich deutliche Begriffe von dem zu machen, was man Substantivum und Verbum nannte, welche er sonst noch oft verwechselte, wo sie aneinander grenzten, als z. B. gehen, und das Gehen. Weil aber dergleichen Irrtümer in der lateinischen Ausarbeitung immer einen Fehler zu veranlassen pflegten, so wurde er beständig aufmerksamer darauf, und lernte auch die feinern Unterschiede zwischen den Redeteilen und ihren Abänderungen unvermerkt einsehen; so daß er sich nach einiger Zeit zuweilen selbst verwunderte, wie er vor kurzem noch solche auffallende Fehler habe machen können.120

Das akademische Klima an der Freischule, wo die Religion in ihre disziplinären Schranken gewiesen ist, gibt Anton die Gelegenheit, autonom, d. h. frei von übergeordneten transzendenten Sinnbezügen zu lernen. Die klare Abgrenzung der Fächer ermöglicht zudem die Einsicht in die Zulässigkeit und Unzulässigkeit von Transferprozessen. Dass der Roman dies am Beispiel der Sprache illustriert, 118 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 212. In der Bezeichnung des Unterrichts als »eine Art von…« wird die Quasiwissenschaftlichkeit dieses Unterrichts klar markiert. Allerdings folgt Holbergs Universalgeschichte programmatisch dem dialogischen Prinzip, wie der deutschen Titelübersetzung zu entnehmen ist. Holbergs Kurze Vorstellung der allgemeinen Welt-Historie, in Frag und Antwort, zum Gebrauch der ersten Anfänger aus der neuesten Lateinischen Ausgabe ins Deutsche gebracht, und bis auf die jetzige Zeit fortgesetzt erweist sich durch die Integration des Fremdbezugs auch in das Medium Schulbuch als sinnvolles Lehrmittel. 119 Vgl. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 212. 120 Ebd. S. 212f.

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ist besonders aufschlussreich sowohl für Antons schriftstellerische Laufbahn als auch für die Poetologie des Textes. Der in strengem Selbstbezug agierende Halbautodidakt Anton kommt so weit, eigenständig Transferleistungen in ein und demselben System zu erbringen: Er schafft es, sich mit Hilfe der Regeln des Lateinischen die grammatischen Gesetze des Deutschen zu erschließen oder aus Lessings Litteraturbriefen die Regeln des Hexameters zu entnehmen, um selber Hexameter anfertigen zu können.121 An Antons quasi-sprachwissenschaftlichem Vorgehen wird ersichtlich, dass seine Autonomie lediglich eine Tarnung für ein strukturell autistisches Vorgehen ist: Statt das Mikrosystem auf Bezüge zum Makrosystem oder zu anderen Systemen zu befragen, bleibt Anton am Einzelnen haften. Diese Herangehensweise prägt dann auch wesentlich Antons poetischen Dilettantismus.122 Für das Gelingen des pädagogischen Projekts des Erzählers sowie für den Roman als ästhetisches Gebilde wirft dieser Befund nun die Frage nach (erfolgreichen) Gegenkonzepten zu Antons Verfahren auf. Das Gelingen von Anton Reiser als Kunstwerk ist gewährleistet durch die Organisation des Textes, die die Transferleistungen und -verkennungen Antons sowie des Erzählers transparent macht und unterminiert. Der Text entfaltet dadurch Spielräume, in welchen er ein Gegenkonzept zum Dilettantismus andeutet. Die Autorfunktion arrangiert den Text in einer Weise, dass die Erzählstimme dort relativiert und korrigiert wird, wo sie nolens volens dem Dilettantismus das Wort redet. In seiner Eigenschaft als Diskursraum der Wissenspoetologie fungiert der Roman als ein »Proto-Experiment«123. D. h. der literarische Text Anton Reiser fungiert als Medium für die Erprobung einer Übertragung experimenteller Methoden auf die Erforschung des Menschen. Konkret handelt es sich um die experimentelle Beobachtung des Menschen, die die zeitgenössische Wissenschaft zwar postuliert, aber noch nicht realisieren kann.124 Der fiktionale Charakter des Textes erlaubt grundsätzlich, Thesen zu setzen, zu prüfen, zu revidieren oder zu bestätigen. Auf diese Weise wird im Bereich des Fiktiven Wissen generiert, das dann im realen Ernstfall zur Anwendung kommen könnte. Für das Proto-Experiment Anton Reiser stellt das pädagogische Projekt des Erzählers ein wesentliches Element dar. Das projektierende Erzählen und Kommentieren des Erzählers bildet erstens ein Gegenkonzept zu Antons autistischem Vorgehen und setzt sich zweitens zu seiner Leserschaft in ein dezidiertes Erziehungsverhältnis. Wie der Erzähler sein Projekt genau realisiert, wird im folgenden Kapitel ausführlich dargestellt; in nuce möchte ich es hier bereits am Beispiel des Skan121 122 123 124

Vgl. ebd. S. 355. Vgl. Kapitel III. 1. Pethes (Anm. 6). S. 28. Vgl. ebd.

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dierens von Catos Distichen aufzeigen: Zum Unterricht in H… gehört auch das Versemachen. Dazu trägt der Kantor die Regeln der Prosodie vor, die er nachher auf Catonis disticha, beim Skandieren derselben anwenden ließ. Reiser fand hieran sehr großes Vergnügen, weil es ihm so gelehrt klang, lateinische Verse skandieren zu können, und zu wissen, warum die eine Silbe lang, und die andere kurz ausgesprochen werden mußte; der Kantor schlug mit den Händen den Takt beim Skandieren. Das anzusehen und mitmachen zu können, war ihm denn eine wahre Seelenfreude.125

Um skizzenhaft anzuzeichnen, worum es im Folgenden gehen soll, sind drei Punkte zu beachten: Erstens sind in die Passage bereits Antons Manie für das Theater und sein Dilettantismus im Schauspiel eingeschrieben.126 Beim Skandieren empfindet Anton »sehr großes Vergnügen, weil es ihm so gelehrt klang«127, und sitzt damit einer Täuschung auf, wie sie auch den Dilettantismus kennzeichnet: Er verwechselt die Beherrschung der Prosodie mit Gelehrtentum. Über das Skandieren von Versen ist der Lateinunterricht der von Anton später angestrebten Schauspielerei eng verwandt, d. h. die Theatromanie ist in der ›wahren Seelenfreude‹ beim Skandieren bereits vorgezeichnet.128 Zweitens gleicht die Unterrichtsmethode des Kantors einer der zentralen Erzählstrategien des Erzählers. Er macht die Schüler mit den Regeln der Prosodie vertraut und lässt sie diese dann auf die Distichen Catos anwenden. Dabei agiert der Kantor wie der Erzähler : Er wendet sich mit Einsichten an ein zu unterrichtendes Publikum, welches auf derselben Ebene situiert ist wie er. Das Gleiche macht der Erzähler, wenn er von seiner extradiegetischen Position aus seine Leser_innen in Form von Kapitelprologen und Kommentaren adressiert. Und genauso wie der Kantor die Regeln dann auf einen anderen Text anwenden lässt, ruft der Erzähler seine Leser_innen dazu auf, seine Erkenntnisse und Ratschläge mit Antons Lebensgeschichte abzugleichen und Rückschlüsse für das eigene Leben daraus zu ziehen. Hier erschließen nun drittens die Gegenstände 125 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 215. 126 Der Erzähler kommt später genau auf diese Episode zurück und bringt sie mit der Theatromanie in einen Kausalzusammenhang: »Ich habe nehmlich schon der Deklamationsübungen erwähnt, welche in Sekunda von dem Konrektor veranstaltet wurden. Dies hatte für ihn [= Anton] und I… einen so außerordentlichen Reiz, daß alles andre sich dagegen verdunkelte, und Reiser nichts mehr wünschte, als Gelegenheit zu haben, mit mehreren seiner Mitschüler einmal eine Komödie aufzuführen, um sich im Deklamieren hören zu lassen –« Ebd. S. 238. 127 Ebd. S. 215. 128 Mit Rolf Selbmann ist außerdem darauf hinzuweisen, dass Antons erste Bekanntschaft mit der Bühne zwar im Rahmen des Bildungssystems stattfindet, er diesen Kontext aber ignoriert. Die Einbindung der Schulaufführungen in ein schulisches Bildungskonzept blendet Anton aus, er »verabsolutiert und isoliert das Theatralische.« Selbmann (Anm. 42). S. 52.

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der Regelanwendung, besagte Distichen, ihre Bedeutung: Es handelt sich dabei um eine Sammlung von Lebensweisheiten eines Vaters für seinen Sohn, die irrtümlich auf den römischen Politiker und Schriftsteller Marcus Porcius Cato zurückgeführt worden sind.129 Der Kantor unterbreitet seinen Schülern Lebensweisheiten eines Vaters für seinen Sohn, nichts anderes macht der Erzähler. Die falsche Zuschreibung der Distichen – um im Bild zu bleiben – ›korrigiert‹ der Erzähler durch einen Ebenentransfer : Er setzt sich selbst als den Weisheiten verbreitenden Vater, die Position des Sohns/Schülers besetzt er mit dem Leser bzw. der Leserin. Dass dies funktioniert, ist auch der fingierten Herausgeberschaft des Textes durch Karl Philipp Moritz geschuldet: Da der Herausgeber »kein ursprünglicher Texterzeuger [ist], sondern Adoptivvater eines textuellen Findelkindes, dem er seinen Namen gibt«130, wird die Vater-Position frei (und von der Autorfunktion besetzt), der Erzähler kann deren Aneignung simulieren. Für die Figur Anton ist es aufgrund ihrer intradiegetischen Situierung ausgeschlossen, in die Position des adressierten Sohnes kommen und auch Antons intradiegetischer Vater bietet ihm keine Lebenshilfe an. Es ist also nur schlüssig, dass es ausgerechnet die Distichen Catos sind, an welchen Antons dilettantische Disposition besonders gut ablesbar ist.

II.

Das pädagogische Projekt Anton Reiser: Projektieren, Projektion, Protektion

Bei der Lektüre von Anton Reiser fällt auf, dass Anton sich wiederholt dem Projektemachen zuwendet. Der Erzähler berichtet davon, dass »mancherlei Projekte« sich in Antons Kopf »durchkreuzten«131 bzw. dass Anton »allerlei große Projekte«132 verfolge. So ist Anton beispielsweise »der Stil im Kornelius Nepos […] nicht erhaben gnug [sic], und er nahm sich vor, die Geschichte der Feldherrn ganz anders einzukleiden; etwa so wie der Daniel in der Löwengrube geschrieben war«133. Außerdem verfolgt Anton »Schriftstellerprojekte: er wollte die alte Acerra Philologika in einen bessern Stil bringen«134. Nicht nur im künstlerischen Bereich verfolgt Anton Projekte, sondern auch seine Reisepläne werden explizit als Projekte bezeichnet: »[U]nd nun von Bremen die Weser hinunter bis nach der See zu fahren – das war das große Projekt, womit sich 129 130 131 132 133 134

Vgl. den Kommentar zu »Anton Reiser« (Anm. 75). S. 1034. Wirth (Anm. 9). S. 41. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 183. Ebd. S. 234. Ebd. Ebd. S. 244.

Das pädagogische Projekt Anton Reiser: Projektieren, Projektion, Protektion

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Reiser schon seit einigen Wochen trug – und seine Einbildungskraft spiegelte ihm Wunderdinge von dieser Reise vor.«135

II.1.

Der ›Projektor‹ Anton

Zu Antons so genannten ›Projekten‹ ist zunächst zweierlei zu bemerken: Die Umarbeitung der historischen Schriften von Cornelius Nepos soll durch die Synthetisierung der Stoff- mit einer anderen Formvorlage erreicht werden. Eine konkrete Methode entwickelt Anton jedoch nicht und auch die Zielsetzung bleibt äußerst vage (»etwa so…«136). Dasselbe gilt für sein Vorhaben einer stilistischen Verbesserung der Acerra Philologica. Im Hinblick auf die Bremen-Reise ist zweitens von zentraler Bedeutung, dass sich das Projekt vornehmlich auf Projektion gründet: Antons »Einbildungskraft«, die ihm »Wunderdinge«137 vorspiegelt, macht ihn zum Projektor, d. h. das Reise-Projekt existiert zuerst im Imaginären. Damit in engem Zusammenhang steht drittens, dass Antons Wille bzw. Fähigkeit, seine Projekte/Projektionen auch in die Tat umzusetzen, nicht stark ausgeprägt ist und leicht frustriert werden kann.138 So genügt beispielsweise Eckhofs Rat, sich in Eisenach an die Barzantische Truppe anzuschließen, um Anton umgehend von seinem Plan, Tagelöhner zu werden, abzubringen: »Mit dieser Anrede von Eckhof war auf einmal das ganze Projekt mit dem Steine zuführen, und dem Arbeiten ums Tagelohn aus Reisers Gedanken verschwunden.«139 Und in einer anderen Phase »ging [Anton] ganze Tage einsam für sich umher, und dachte darauf, wie er es machen wollte, ein Bauer zu werden, ohne doch in der Tat einen Schritt dazu zu tun«140. Antons Herangehensweise an seine Projekte ist also weitgehend vom Fehlen einer Methode und einer unklaren 135 Ebd. S. 368f. Auch andere Romanfiguren sind projektierend tätig, allen voran der Mitbewohner G… Dieser »lag auf dem Bette, und machte Projekte, die denn nicht die besten waren, wie sich bald nachher zeigte« (ebd. S. 280). Wenig später enthüllt der Erzähler, dass es sich bei diesen Projekten um Kirchenraub gehandelt hatte, und weist außerdem darauf hin, dass diese Projekte in völliger Kommunikationslosigkeit und ohne – evtl. korrigierenden – Austausch mit den anderen ersonnen worden waren: »Das waren denn die Projekte gewesen, auf welche er ganze Tage hindurch auf dem Bette liegend, gesonnen und gegrübelt hatte.« Ebd. S. 292. 136 Wie Anm. 133. 137 Wie Anm. 135. 138 Sowohl den Aspekt des Projizierens als auch den der praktischen Hemmung macht der Erzähler für das Scheitern von Antons Projekten verantwortlich: »Er dachte nicht leichsinnig genug, um ganz den Eingebungen seiner Phantasie zu folgen, und dabei mit sich selber zufrieden zu sein; und wiederum hatte er nicht Festigkeit genug, um irgend einen reellen Plan […] standhaft zu verfolgen.« Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 415. 139 Ebd. S. 454. 140 Ebd. S. 275.

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Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

Zielsetzung gekennzeichnet. Überdies mangelt es Anton an der entsprechenden Umsetzungskompetenz, um die Projekte aus dem imaginären Status einer Projektion in die Realität zu überführen. Einzig das von seinem Mitbewohner initiierte Projekt der Herausgabe einer Wochenschrift folgt offenbar einem fundierten Plan, der auch direkt umgesetzt werden soll: »Reiser dachte auch bald einen Plan zu einer Wochenschrift aus, welche sich mit einer Satyre auf diese Art Schriften anheben, und die letzte Wochenschrift heißen sollte«.141 Sie gingen nun beide hin zu einem Buchdrucker in Erfurt, Namens G… und brachten den Plan ihrer neuen Wochenschrift zum Vorschein: Dieser stellte ihnen aber sehr nachdrücklich vor, wie mißlich ein solches Unternehmen, und wie viel sicherer es sei, seine Aufsätze in ein Blatt zu geben, welches schon einmal bekannt und vom Publikum beliebt wäre, wie z.E. die Wochenschrift der Bürger und der Bauer, welche er selbst herausgab, und die von Betteljungen in den Bierhäusern in Erfurt herumgetragen wurde.142

Was Anton und sein Kompagnon nicht mitbringen, ist eine pragmatische Herangehensweise im Sinne eines ausgeprägten Realitäts- und Geschäftssinns. Der potentielle Financier ihres Projekts weiß zwar eine durchsetzbare Alternative, das Projekt selbst verliert dadurch aber sein Fundament: Erstens erreicht es in dieser Form nicht die intendierten Adressat_innen und zweitens bringt es ihnen kein Honorar.143 Beide Projekt-Initiatoren haben sich über die Durchführbarkeit ihres Plans getäuscht. Doppelt getäuscht hat sich der Mitbewohner, der Anton zum Kollegen machte, »weil er sich von Reisers Dichter- und Schriftstellertalent schon große Vorstellungen gemacht hatte.«144 Auch in seiner Perspektive ist die Projektion nicht in der Wirklichkeit verankert bzw. wird nicht von ihr eingelöst.145 Festzuhalten ist bisher, dass Antons Projektieren vom Prinzip der Projektion nicht zu trennen ist, da seine Projekte in Projektion gründen und auch im Status 141 142 143 144 145

Ebd. S. 471. Ebd. S. 472. Vgl. ebd. Ebd. S. 471. Es ist interessant, dass sich die Projektionen des Mitbewohners auf Antons »Dichter- und Schriftstellertalent« (ebd.) beziehen. Damit greift der Text implizit Entwicklungen in der Diskussion um die Einbildungskraft im Verlauf des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts – einem Zeitraum, in welchen auch die Entstehung von Anton Reiser fällt – auf: Mit der Etablierung der Ästhetik als eigenständige Disziplin wird die Einbildungskraft um die Komponenten »produktives ›Dichtungsvermögen‹ oder Phantasie« (Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998. S. 118.) angereichert. Analog dazu richtet sich die Einbildungskraft des Mitbewohners weniger auf bereits vorhandene Sinnesdaten, um diese wieder zu aktualisieren, sondern projiziert erstens produktiv etwas Neues und spiegelt dieses Verfahren darüber hinaus in ihrem Gegenstand: Die Einbildungskraft projiziert Dichtungsvermögen.

Das pädagogische Projekt Anton Reiser: Projektieren, Projektion, Protektion

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des Imaginären verbleiben. Es ist bemerkenswert, dass auch der allgemeine Diskurs über Projekte im 18. Jahrhundert mit der Nähe zu optischen Projektionen wie z. B. Landkarten argumentiert. So stellt Georg Heinrich Zincke 1746 in seiner Vorrede, worinnen von Projecten und Projecten-Machern gehandelt wird, fest: Eben darinne bestehet die Aehnlichkeit eines zuverläßigen Entwurffs, den wir in Staatsund oeconomischen Sachen ein Proiect nennen, mit jenen [Projektionen, bspw. bei Landkarten], daß er uns gleichsam in einem Blick und zum voraus in der Ferne das ganze Vorhaben, die Sache, den Zweck, die Mittel und Gegenmittel vorstelle, damit man eine rechte genaue Ueberlegung zum Entschluß und eine geschickte Einrichtung zur Ausführung machen könne.146

Wenn durch die Analogie zu visuellen Entwürfen dem Projekt das Potential zugeschrieben wird, »gewissermaßen wie eine Land- oder Seekarte die Navigation durch die terra inkognita des Unwissens steuern«147 zu können, ist dies auch als systematisches Bindeglied zu Antons autodidaktischem ›Charten-Schreiben‹ zu verstehen. Als Anton feststellt, dass Lesen allein nicht zum Erfolg führt, entwirft er »auf kleinen Blättchen schriftliche Tabellen […], wo er das Teil immer dem Ganzen gehörig unterordnete, und sich auf die Weise einen anschaulichen Begriff davon zu machen suchte.«148 Diese Überblickstabellen werden als »Charte[n]« bezeichnet, auf welchen »[a]lles was er noch nicht durchdacht hatte, […] wie ein unbekanntes Land vor ihm«149 lag. Antons Sehnsucht, dieses Land genauer kennen zu lernen, ist groß: »Die Umrisse, das Fachwerk war durch die allgemeine Übersicht des Ganzen einmal in seiner Seele gemacht, er strebte nun von den Lücken, die er jetzt erst empfinden konnte, eine nach der andern auszufüllen.«150 Offensichtlich sollen Antons in hermeneutischer Absicht erstellte ›Charten‹ ihn wie eine optische Projektion durch das Gebiet des bislang unerschlossenen 146 Georg Heinrich Zincke: Vorrede, worinnen von Projecten und Projecten-Machern gehandelt wird. In: Peter Krezschmers, nunmherigen Hauß-Vaters im Leipziger Waysen- und Zucht-Hause, Oeconomische Vorschläge, Wie das Holtz zu vermehren, Obst-Bäume zu pflantzen, die Strassen in gerade Linien zu bringen, mehr Aecker dadurch fruchtbar zu machen, die Maulbeer-Baum-Plantagen, damit zu verknüpffen und die Sperlinge nebst den Maulwürfen zu vertilgen. Nebst einem Anhange, von Verbesserung grosser Herren Küchen und Tafeln, Auch einer Vorrede Hrn. D. Georg Heinrich Zinckens, worinnen von Projecten und Projecten-Machern gehandelt wird. Neue, mit einem Vorbericht und verschiedenen Zusätzen vermehrte Auflage Leipzig 1746. S. 5–48. Hier: S. 14f. Zit. n. Markus Krajewski: Über Projektemacherei. Eine Einleitung. In: ders. (Hg.): Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns. 2. Auflage. Berlin 2006. S. 7–25. Hier : S. 13. 147 Ebd. 148 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 299. 149 Ebd. 150 Ebd.

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Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

Wissens navigieren. Offensichtlich ist aber auch, dass dieses hermeneutische Projekt scheitern muss. Denn die ›Charten‹ gewähren ihm gerade nicht, »gleichsam in einem Blick und zum voraus in der Ferne das ganze Vorhaben, die Sache, den Zweck, die Mittel und Gegenmittel«151 zu erschließen. Während ein Projekt im Verständnis des 18. Jahrhunderts mit der optischen Kategorie der Projektion den Überblickscharakter und die olympische Perspektive teilt, gilt dies für Anton – der ja bekannt dafür ist, keinen olympischen Standpunkt einnehmen und sich nicht Übersicht verschaffen zu können –152 nicht. Vielmehr sind Antons vermeintliche Projekte im Zusammenhang der Projektion unter dem Aspekt der Einbildung(skraft) zu betrachten. Die eingangs angeführten Beispiele haben gezeigt, dass Antons Projekte stets imaginärer Natur bleiben. Das ›Charten‹-Projekt führt außerdem vor, dass in Antons imaginäres Projektieren zudem eine medientechnische Epochensignatur eingeschrieben ist, die sich auch poetologisch situieren lässt: Aus sich heraus will Anton Bilder projizieren und so die Lücken auf der ›Charte‹ füllen, sein Vorgehen folgt also dem Prinzip einer laterna magica. Das Scheitern von Antons Projekten lässt sich aufgrund von deren Verankerung in der Einbildungskraft und dem laterna magica-Prinzip auch als Zurückweisung poetologischer Modelle, wie sie später z. B. die Romantik favorisieren wird, lesen.153 Der Brückenschlag vom erfolglosen Projektieren zur Abwertung poetologischer Modelle, die auf Projektion bzw. produktiver Einbildungskraft basieren, lässt sich auch etymologisch begründen. Laut dem Deutsche[n] Wörterbuch der Brüder Grimm leitet sich der Begriff ›Projekt‹ »aus dem lat. participium projectus (hingeworfen, entworfen)« ab und bezeichnet »ein vorhaben und de[n] plan dazu, de[n] anschlag, [den] entwurf«154. Leitet man den Begriff jedoch von der Grundform des Verbs (pro-icere: vorwärts-, vorwerfen; hervortreten lassen, hin-, niederwerfen155) ab, findet man im angegebenen Bedeutungsspektrum genau jene Einwände artikuliert, die gegen das Projektieren üblicherweise vorgebracht werden: Der Begriff besitzt darüber hinaus sowohl den Beiklang einer mißbilligenden, tadelnden Semantik im Sinn eines Vorwurfs als auch eine resignierende Komponente, 151 Zincke (Anm. 146). S. 14f. 152 Vgl. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 161. 153 Georg Stanitzek unterscheidet ähnlich zwischen chimärischen und projektförmigen Entwürfen: »Vom chimärischen unterscheidet sich der projektförmige Entwurf dadurch, daß er sich unter überprüfbare Konditionen setzt.« Georg Stanitzek: Der Projektmacher. Projektionen auf eine »unmögliche« moderne Kategorie. In: Markus Krajewski (Hg.): Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns. 2. Auflage. Berlin 2006. S. 29–48. Hier: S. 34. 154 Art. Project, Projekt. In: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Siebenter Band: N. O. P. Q. Leipzig 1889. Sp. 2163–2164. Hier: Sp. 2163. 155 Vgl. Wolfgang Pfeifer (Hg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. M–Z. 2. Auflage. Berlin 1993. S. 1047.

Das pädagogische Projekt Anton Reiser: Projektieren, Projektion, Protektion

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also »hinwerfen« in entsagender Absicht oder wie bei einer Kapitulation die Waffen niederlegen. […] In der Bezeichnung »Projekt« liegt das Scheitern bereits etymologisch verankert vor.156

Anton Reiser wird als scheiternder Projektemacher gezeigt. Die Tatsache, dass der Begriff »Projekt« in zeitgenössischen Lexika in eine enge Verbindung zur optischen Kategorie der Projektion gebracht wird, erlaubt eine poetologische Lesart des Projektemachens: Antons scheiternde Projekte geben vor dem Hintergrund des ökonomischen (Zincke) und sprachgeschichtlichen Wissens (Grimm) über Projekte Anlass zu der Hypothese, dass auch künstlerische Modelle, die auf Projektion im Sinne einer produktiven Einbildungskraft setzen, scheitern werden. Antons literarischer Dilettantismus wird auf diese Annahme zu prüfen sein.

II.2.

Der protektierende Erzähler

Allgemein gilt ein Projekt als ein Resultat reiflicher Überlegung, das etwas Neues in Aussicht stellt, und zwar in einer Weise, dass dieses Neue wie von einer erhöhten Beobachterperspektive (mit Blick in die Zukunft) überschaut werden kann.157 In der Mitte des 18. Jahrhunderts ist unter folgenden Bedingungen die Rede von einem Projekt: Einen Entwurf also, welcher zu unserer und anderer reiffen Ueberlegung und Erschliessung eines vorzunehmenden Wirthschafftlichen Policey- oder Cammer-Geschäffts aus denen untersuchten Theilen eines Einfalls von einem solchen neuen Geschäffte gemachet und schrifftlich vorgeleget wird, damit man das gantze Vorhaben gleichsam in einem Blick zuverläßig übersehen könne, nenne ich im eigentlichen Verstande einen Vorschlag oder ein Project.158

Neben der erhöhten Beobachterperspektive und der schriftlichen Fixierung ist für ein Projekt das prinzipielle Ziel eines Geschäfts bzw. Unternehmens, das zur Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände oder zur Steigerung der menschlichen Lebensqualität liegt, konstitutiv.159 Hierin unterscheidet sich ein 156 157 158 159

Krajewski (Anm. 146). S. 11. Vgl. ebd. S. 12. Zincke (Anm. 146). S. 12f. Einige Deutungen des Textes akzentuieren den Aspekt der Verbesserung der Lebensumstände als programmatisches Ziel von Anton Reiser, ohne darin aber einen systematischen Bestandteil eines pädagogischen Projekts zu sehen. Vgl. Margret Kraul: Erziehungsgeschichten und Lebensgeschichten in der Pädagogik des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Lebensläufe um 1800. Tübingen 1998. S. 11–28. Hier: S. 12, Preisendörfer (Anm. 6). S. 45, D. Stevens Garlick: Moritz’ »Anton Reiser«: The dissonant voice of psycho-autobiography. In: Studi germanici 21/22 (1983/84). S. 41–60. Hier: S. 47,

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Projekt von einem bloßen Plan. Als Beispiele für Projekte in der Geschichte gelten beispielsweise Währungsreformen, Versuche zur Einrichtung einer Universalsprache, zur Standardisierung der Orthographie u. ä.160 Ich möchte im Folgenden zeigen, dass der psychologische Roman Anton Reiser ein pädagogisches Projekt beinhaltet, dass also das autonome ästhetische Ganze ein pädagogisches Vorhaben in sich fasst, das den Bedingungen, die das 18. Jahrhundert an ein Projekt stellt, entspricht. In dieser Perspektive besteht kein Widerspruch zwischen dem autonomieästhetischen Anstrich und der pädagogischen Ausrichtung des Anton Reiser. Der psychologische Roman mit seinem fingierten Herausgeber Karl Philipp Moritz und dessen Schriften zur Ästhetik müssen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern können vielmehr zusammengedacht werden. Meiner These, der zufolge das autonome Ganze Anton Reiser ein pädagogisches Projekt in sich integriert, lege ich Moritz’ Definition des Schönen in Abgrenzung vom Nützlichen zugrunde. Unter Nutzen denken wir uns nehmlich die Beziehung eines Dinges, als Teil betrachtet, auf einen Zusammenhang von Dingen, den wir uns als ein Ganzes denken. Diese Beziehung muß nehmlich von der Art sein, daß der Zusammenhang des Ganzen beständig dadurch gewinnt und erhalten wird: je mehrere solcher Beziehungen nun eine Sache auf den Zusammenhang, worin sie sich befindet, hat, um desto nützlicher ist dieselbe. Jeder Teil eines Ganzen muß auf die Weise mehr oder weniger Beziehung auf das Ganze selbst haben: das Ganze, als Ganzes betrachtet, hingegen, braucht weiter keine Beziehung auf irgend etwas außer sich zu haben. So muß jeder Bürger eines Staats eine gewisse Beziehung auf den Staat haben, oder dem Staate nützlich sein; der Staat selbst aber braucht in so fern er in sich allein ein Ganzes bildet, weiter keine Beziehung

Georg Stanitzek: Bildung und Roman als Momente bürgerlicher Kultur: Zur Frühgeschichte des deutschen »Bildungsromans«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988). S. 416–450. Hier: S. 420–424 sowie Fürnkäs (Anm. 6). S. 31f. Das Ineinander von Empirie und Fiktion, das zwischen dem Roman Anton Reiser und dem Magazin zur Erfahrungsseeelenkunde besteht, konturiert zusätzlich den Projektcharakter des Erzählens in Anton Reiser. Moritz’ Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde erfüllt alle Kriterien, die nötig sind, um das Magazin als ein Projekt ausweisen zu können. Es ist an die Öffentlichkeit gerichtet (»An alle Verehrer und Beförderer gemeinnütziger Kenntnisse und Wissenschaften, und an alle Beobachter des menschlichen Herzens…«), es formuliert das programmatische Ziel, die Glückseligkeit der Menschheit befördern zu wollen (»…welche in jedem Stande, und in jeglichem Verhältnis, Wahrheit und Glückseligkeit unter den Menschen tätig zu befördern wünschen«), es legt seine Methode dar (moralische Experimente) und es weist auf mögliche Probleme und Schwierigkeiten der Umsetzung hin (Droht bei der Veröffentlichung bestimmter Fallgeschichten öffentliche Schande? Erzielt das Magazin möglicherweise eine widrige Wirkung, wenn man die eigene Geschichte darin gedruckt liest? Etc.). Karl Philipp Moritz: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde. In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1999. S. 793–809. Hier: S. 793–795. 160 Vgl. Krajewski (Anm. 146). S. 12 und S. 17.

Das pädagogische Projekt Anton Reiser: Projektieren, Projektion, Protektion

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auf irgend etwas außer sich zu haben und braucht also auch nicht weiter nützlich zu sein.161

Es ist mit Moritz – und nicht gegen ihn – plausibel, Anton Reiser als ein autonomes Ganzes zu bestimmen, welches das pädagogische Projekt des Erzählers als einen Teil in sich trägt. Dass Moritz das Teil-Ganzes-Verhältnis am Beispiel von Bürger und Staat erläutert, konvergiert zudem mit der Zielsetzung eines Projekts im Verständnis des 18. Jahrhunderts, nämlich einen Nutzen für den Staat bringen zu wollen. Der Gefahr, beim Abgleich von Moritz’ ästhetischer Theorie mit dem von ihm (angeblich) herausgegebenen literarischen Text Anton Reiser diesen als nutzlos und das in ihn integrierte pädagogische Projekt als unschön zu qualifizieren, kann ebenfalls mit Moritz selbst begegnet werden. Moritz stellt klar : »So wie nun das Schöne, unbeschadet seiner Schönheit auch nützen kann, ob es gleich nicht um zu nützen da ist; so kann das Nützliche auch, unbeschadet seines Nutzens, in einem gewissen Grade schön sein, ob es gleich nur um zu nutzen da ist.«162 Vor diesem Hintergrund stellt Anton Reiser in meiner Untersuchung einen sowohl schönen als auch nützlichen Gegenstand dar, dessen ästhetische bzw. pädagogische Ausrichtung sich an unterschiedlichen Textdimensionen besonders anschaulich zeigen lässt. In der Dimension ›pädagogisches Projekt‹ steht für die erhöhte Beobachterperspektive, die schriftliche Fixierung und das Streben nach Verbesserung der Lebensumstände der Erzähler ein. Der Erzähler setzt sich als Instanz des olympischen Blicks und als Ort der Erkenntnis. Das Delegieren der editorialen Tätigkeit des Vorwortverfassens an den Erzähler erschließt hier seine volle Bedeutung: In Zedlers Universal-Lexicon und in der Encyclop8die von Diderot und d’Alembert wird das Vorwort »als Instruktion des Lesers über den ›ganzen Plan‹ beziehungsweise die Ordnung und die Disposition des Haupttextes«163 definiert. Als Selbstdarstellungen des Konzepts leisten die Vorreden in Anton Reiser dasselbe wie Entwürfe zu einem Projekt: Sie legen den Plan übersichtlich und explikativ in schriftlicher Form dar. Zu einer Verbesserung der Lebensumstände will das pädagogische Projekt des Erzählers dadurch beitragen, dass es seinen Adressat_innen zu eben dem erkennenden Blick verhelfen will, über welchen der Erzähler bereits zu verfügen angibt. In der Vorrede zum zweiten Teil des Romans verspricht er : Wer auf sein vergangnes Leben aufmerksam wird, der glaubt zuerst oft nichts als Zwecklosigkeit, abgerißne Fäden, Verwirrung, Nacht und Dunkelheit zu sehen; je mehr sich sein Blick darauf heftet, desto mehr verschwindet die Dunkelheit, die Zwecklosigkeit verliert sich allmählich, die abgerißnen Fäden knüpfen sich wieder an, das 161 Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen (Anm. 8). S. 966f. 162 Ebd. S. 968. 163 Wirth (Anm. 9). S. 119.

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Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet sich – und das Misstönende löset sich unvermerkt in Harmonie und Wohlklang auf.164

Damit wiederholt er das programmatische Anliegen der Einführung zu Teil eins, das Buch »soll[e] die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen, und den Blick der Seele in sich selber schärfen.«165 Das Projekt der Aufmerksamkeitslenkung, des Den-Menschen-sich-selbst-wichtig-Machens166 ist explizit und eindeutig an die Leser_innen gerichtet. Anton kommt als Adressat pädagogischen Einwirkens durch den Erzähler allein schon aus erzähltechnischen Gründen nicht in Frage. Anton fungiert lediglich als heuristischer Ort, an dem sich Erzähler und Leser_in treffen. Antons Geschichte dient als Exempel für einen allgemeinen Satz: Man siehet bei diesem allen, daß die Achtung, worin ein junger Mensch bei seinen Mitschülern steht, eine äußerst wichtige Sache bei seiner Bildung und Erziehung ist, worauf man bei öffentlichen Erziehungsanstalten bisher noch zu wenig Aufmerksamkeit gewandt hat. – Was Reisern damals aus seinem Zustande retten, und auf einmal zu einem fleißigen und ordentlichen jungen Menschen hätte umschaffen können, wäre eine einzige wohlangewandte Bemühung seiner Lehrer gewesen, ihn bei seinen Mitschülern wieder in Achtung zu setzen. Und das hätten sie durch eine etwas genauere Prüfung seiner Fähigkeiten, und ein wenig mehr Aufmerksamkeit auf ihn sehr leicht bewirken können.167

Zwar wird Anton als Gegenstand der Aufmerksamkeitslenkung eingeführt, allerdings in Form eines Irrealis, der eine Potentialität einzig und allein bei der Leserin bzw. dem Leser entfalten kann. Aufmerksamkeit wird der Figur Anton Reiser nur als abschreckendem Beispiel zuteil, von dem sich das zu erziehende Lesepublikum abzugrenzen hat.168 Anton wird also lediglich zum Zentrum der Aufmerksamkeit, um anderen dessen falsche Aufmerksamkeit auf sich selbst vorzuführen. So heißt es von einem Gedicht Antons, dass es »[…] doch ein Ganzes von Empfindungen ausmachte, welches Reisern bis jetzt hervorzubringen noch nicht gelungen war. – Die Mitteilung dieses Gedichts wird daher in dieser Rücksicht nicht überflüssig sein, wenn es gleich um sein selbst willen 164 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 186. 165 Ebd. S. 86. 166 »Freilich ist dies nun keine so leichte Sache, daß gerade jeder Versuch darin glücken muß – aber wenigstens wird doch vorzüglich in pädagogischer Rücksicht, das Bestreben nie ganz unnütz sein, die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften, und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen.« Ebd. 167 Ebd. S. 266. An anderer Stelle ruft der Erzähler zur Zuwendung zu den Schülern auf, indem er darauf hinweist, dass »sehr häufig Mißverständnisse veranlaßt werden, wenn der Lehrer sich mit den ersten Worten des Lehrlings begnügen läßt, ohne in den Begriff desselben einzudringen!« Ebd. S. 116f. 168 Zur Aufmerksamkeit im größeren Kontext von und um Moritz’ Werk vgl. Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung (Anm. 5).

Das pädagogische Projekt Anton Reiser: Projektieren, Projektion, Protektion

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keine Aufbewahrung verdiene«.169 In solchen rhetorischen und narrativen Strategien wird die Einbindung des Erzählers in das editoriale Dispositiv besonders klar ersichtlich: Um sein Projekt durchzusetzen, muss der Erzähler an den Machtverhältnissen, die sich in der Ökonomie des Diskurses manifestieren, partizipieren.170 Am deutlichsten tritt die Steuerungs- und Machtfunktion des Erzählers am Beispiel der Instrumentalisierung Antons in der Anmoderation zum letzten Romanteil zu Tage.171 Das als Lehre und Warnung an die Jungen172 konzipierte pädagogische Projekt 169 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 345. 170 Vgl. Wirth (Anm. 9). S. 159. Wirth definiert ein editoriales Dispositiv als diskursives Kräfteverhältnis, das die Ausführung und Verkörperung von Konzepten bestimmt. Vgl. ebd. S. 160. 171 Aber auch an den Stellen, an welchen der Erzähler seine Erzählweise reflektiert, macht er seine Verfügungsgewalt – die aus seiner Regie- und Kommentarfunktion resultiert – über die Figur Anton überdeutlich: »Da ich einmal in meiner Geschichte zurückgegangen bin, um Antons erste Empfindungen und Vorstellungen von der Welt nachzuholen, so muß ich hier noch zwei seiner frühesten Erinnerungen anführen, die seine Empfindung des Unrechts betreffen. Er ist sich deutlich bewußt, wie er im zweiten Jahre […] [.] Diese Erinnerung ist wegen ihrer Seltenheit und Deutlichkeit merkwürdig; auch ist sie echt, weil der Umstand an sich zu geringfügig war, als daß ihm nachher jemand davon hätte erzählen sollen.« (Moritz: Anton Reiser [Anm. 4]. S. 112) Nicht nur vereinnahmt der Erzähler Antons Geschichte voll und ganz für sein Projekt (und macht sie so zu seiner Geschichte), er entscheidet auch über die Authentizität von Antons Erinnerungen, er schafft also Wahrheiten. Weiterhin rechtfertigt er Umstellungen in der Chronologie als ein Mittel, das durch seinen übergeordneten Zweck gerechtfertigt werde: »Ich habe hier notwendig in Reisers Leben etwas nachholen und etwas vorgreifen müssen, wenn ich zusammenstellen wollte, was nach meiner Absicht, zusammen gehört. Ich werde dies noch öfter tun; und wer meine Absicht eingesehen hat, bei dem darf ich wohl nicht erst dieser anscheinenden Absprünge wegen um Entschuldigung bitten.« (ebd. S. 192) – Indem der Erzähler die dispositio des Textes steuert und das Erzählte explizit kommentiert, übernimmt er einige Funktionen, die der stumme fingierte Herausgeber Karl Philipp Moritz nicht besetzt. Im Kontext der Herausgeberfiktion stellt die Regie- und Organisationsfunktion, so Uwe Wirth, »eine Maske der Funktion Herausgeber respektive eine Personifizierung des editorialen Dispositivs dar« (Wirth [Anm. 9]. S. 160). In der Regel übernimmt ein fingierter Herausgeber »als Selektionsinstanz und als Diskursregulator an Stelle des Autors die Verantwortung für das Textarrangement als Umsetzung und Verkörperung eines Konzepts.« (ebd.) Dies nun aber macht der fingierte Herausgeber Karl Philipp Moritz nicht: Indem er den Erzähler die Vorreden sprechen und das Erzählte ordnen und kommentieren lässt, räumt er dem pädagogischen Projekt des Erzählers – welches nur unter diesen Voraussetzungen umgesetzt werden kann – einen Platz ein. Dass die Kommentare und Empfehlungen des Erzählers dann zuweilen jedoch vom Text widerlegt werden, macht deutlich, dass der Erzähler nicht allein das editoriale Dispositiv besetzt. Denn »wenn die Kommentare eines Erzählers oder eines fiktiven Herausgebers erkennbar falsch sind, dann eignen sie sich nicht mehr zu einer expliziten Leserlenkung.« Die Unzuverlässigkeit wird dann »Bestandteil einer diskursiven Gesamtstrategie, die ihr Beabsichtigt-Sein in Form einer ›narrativen Implikatur‹ signalisiert.« (ebd. S. 184) Diese intentionale diskursive Gesamtstruktur fasse ich mit dem Konzept Autorfunktion. 172 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 286.

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enthält eine getreue Darstellung von den mancherlei Arten von Selbsttäuschungen, wozu ein mißverstandener Trieb zur Poesie und Schauspielkunst den Unerfahrnen verleitet hat. Dieser Teil enthält auch einige vielleicht nicht unnütze und nicht unbedeutende Winke, für Lehrer und Erzieher sowohl, als für junge Leute, die ernsthaft genug sind, um sich selbst zu prüfen, durch welche Merkzeichen vorzüglich der falsche Kunsttrieb von dem wahren sich unterscheidet? Man sieht aus dieser Geschichte, daß ein mißverstandener Kunsttrieb, der bloß die Neigung ohne den Beruf voraussetzt, eben so mächtig werden und eben die Erscheinungen hervorbringen kann, welche bei dem wirklichen Kunstgenie sich äußern, welches auch das Äußerste erduldet, und alles aufopfert, um nur seinen Endzweck zu erreichen.173

In dezidiertem Fremdbezug richtet sich der Erzähler an Lehrer, Erzieher und junge Leute.174 Somit wird er in pädagogischer Absicht Erzieher-Erzieher und Adoleszenten-Erzieher mit dem Ziel, sowohl Erziehung in Lehrer/Erzieher-Schüler-Verhältnissen als auch selbstbezügliche Bildung zu steuern. Das pädagogische Projekt des Erzählers fußt auf dessen Selbstverständnis als Protektor ; seine Aufgabe als Protektor der Jugend sieht er darin, vor der Projektion und ihren möglichen Folgen zu warnen. Dabei nimmt der Erzähler die Kategorien der getreuen Darstellung, der Kenntnis des wahren Kunsttriebs und des wirklichen Kunstgenies für sich in Anspruch.175 Seinen Anti-Helden Anton be173 Ebd. S. 414. Vgl. auch ebd. S. 497. 174 Dass der Erzähler dabei durchaus appellativ vorgeht, ist Kommentaren wie dem Folgenden zu entnehmen: »Und gewiß ist wohl bei niemandem die Empfindung des Unrechts stärker, als bei Kindern, und niemanden kann auch leichter Unrecht geschehen; ein Satz, den alle Pädagogen täglich und stündlich beherzigen sollten.« (ebd. S. 108) Trotz dieses expliziten Delegierens der Erziehungsaufgaben an »alle Pädagogen« (ebd.), folgt der Erzähler nicht ausschließlich der »paradigmatische[n] Arbeitsteilung innerhalb der Projektmacherei […], die […] konstitutiv für die Pläneschmiede und ihre Aktionen [ist]: Der Projektemacher beschränkt sich nämlich üblicherweise auf die Ausarbeitung oder Skizzierung der Pläne, während er die tatsächliche Ausführung möglichst anderen zu überlassen sucht.« (Krajewski [Anm. 146]. S. 15) Gerade der Umstand, dass der Erzähler sein Projekt in das Gewand der Fiktion kleidet, erlaubt ihm, neben delegierendem Erzieher der Erzieher auch als direkter Erzieher der Leser_innen fungieren zu können. Als protektierender Projektemacher betreibt er damit eine ästhetische Erziehung. Vgl. dazu auch Wilhelm Voßkamp: Poetik der Beobachtung. Karl Philipp Moritz’ »Anton Reiser« zwischen Autobiographie und Bildungsroman. In: Etudes germaniques 51 (1996)-3. S. 471–480. Hier: S. 479. 175 Damit folgt er zugleich auch einer wesentlichen Anforderung an Projektemacher : »Ungleich wichtiger bleibt jedoch der Zusatz, das Vorhaben in einer schriftlichen Fassung vorzulegen, die sowohl detaillierte Angaben zur Realisierung und zu den dazu erforderlichen Medien enthält, als auch die Antizipation möglicher Probleme sowie obendrein deren praktische Lösung oder Überwindungsstrategien einfordert.« (Krajewski [Anm. 146]. S. 12) Denn mit dem Verweis auf die ›getreue Darstellung‹ im Sinne einer Biographie reflektiert der Erzähler die Problematik, die die Gattungsbezeichnung ›psychologischer Roman‹ mit sich bringt: »Um fernern schiefen Urteilen, wie schon einige über dies Buch gefällt sind, vorzubeugen, sehe ich mich genötigt, zu erklären, daß dasjenige, was ich aus Ursachen, die ich für leicht zu erraten hielt, einen psychologischen Roman genannt habe, im eigentlichsten Verstande Biographie, und zwar eine so wahre und getreue Darstellung eines

Das pädagogische Projekt Anton Reiser: Projektieren, Projektion, Protektion

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legt er mit den Etiketten Selbsttäuschung, Missverständnis und Unerfahrenheit. Den Leser darüber zu unterrichten, durch welche Merkzeichen sich der falsche von wahrem Kunsttrieb unterscheidet, dient nicht nur dem Schutz vor Selbsttäuschung, sondern fordert die Adressat_innen auch zur Reflexion semiotischer Prozesse auf: Dem Leser soll zur Selbsterkenntnis verholfen werden, zum richtigen Deuten von Lebens-Zeichen.176 Damit spiegelt der Erzähler in seinem pädagogischen Projekt die Konstruktion des Romans unter umgekehrten Vorzeichen: Integriert der Roman die Pädagogik in die Ästhetik (d. h. das Nützliche in das Schöne), so integriert der Erzähler die Ästhetik in seine Pädagogik (d. h. das Schöne in das Nützliche). Im Gegensatz zum Roman Anton Reiser aber, der in seinem pädagogischen Anliegen nicht aufgeht, setzt der Erzähler Ästhetik und Pädagogik in ein pars pro toto-Verhältnis:177 Die Erkenntnis von wahrem und falschem Kunsttrieb setzt er mit Selbsterkenntnis in einem übergeordneten Sinn gleich. Damit folgt er argumentativ derselben Struktur wie bei seiner Positionierung zum Modell der Autodidaktik, in deren Selbstbezug er das Versprechen zu umfänglicher Selbst-Bildung gesehen hatte. Dem Zweck der (semiotischen) Erlangung von Selbsterkenntnis beim Leser hat die Figur Anton zu dienen, von deren Negativbeispiel sich der Leser in einer Absetzbewegung weg orientieren soll.178 »Hätte er damals das sichere Kennzeichen schon empfunden und gewusst, daß wer nicht über der Kunst sich selbst vergisst, zum Künstler nicht geboren sei, wie manche vergebene Anstrengung, wie manchen verlornen Kummer hätte ihm dies erspart!«179, spekuliert der Erzähler über einen alternativen Lebensverlauf für Anton. Die Erzählsituation in Anton Reiser teilt damit wesentliche Merkmale mit der Position des Projektemachers: »[E]r operiert im epistemologischen Dazwischen einer ungesicherten Ordnung und des kanonisierten Wissens. Seine Position markiert geradewegs den Übergang zwischen kritischer Zwangslage und einer noch unentschiedenen, zu gestaltenden Zukunft.«180 Erzählerisch manifestiert sich dieses ›epistemologische Dazwischen‹ erstens darin, dass die Beschreibungen von Antons Lebensumständen konsequent von den Formeln ›man kann

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Menschenlebens, bis auf seine kleinsten Nüancen, ist, als es vielleicht nur irgend eine geben kann.« Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 186. Genau diesem Prinzip folgt auch der ausführliche Katalog der »Zeichen«, die einen falschen Kunsttrieb am »Fall« Anton Reiser für die Leser_in erkennbar machen sollen. Vgl. ebd. S. 498f. So gibt er z. B. in der Vorrede zum vierten Teil an, die Frage abhandeln zu wollen, »in wie fern ein junger Mensch sich selber seinen Beruf zu wählen im Stande sei« (Moritz: Anton Reiser [Anm. 4]. S. 414); erörtert wird dann aber nur – offenbar stellvertretend – der Dichterberuf. Vgl. dazu auch Esselborn (Anm. 6). S. 84f. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 443. Krajewski (Anm. 146). S. 24.

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dies mit Wahrheit sagen‹ bzw. ›man kann dies im eigentlichen Verstande sagen‹ o. ä.181 begleitet werden. Die Aussagen des Erzählers über Anton erscheinen dadurch als gesichertes Wissen. Mehr noch: Der Erzähler erscheint damit als Instanz, deren Wissen – dank des olympischen Standorts – nicht (figuren)perspektivisch gebrochen ist. Mit Anton Reisers Geschichte handelt es sich um ein Projekt, das inhaltlich seine formalen Bedingungen reflektiert: Das pädagogische Projekt ist situiert im erzieherischen Fremdbezug zwischen Erzähler und Leser_in. Dabei bietet der Erzähler Wissen in Form eines psychologischen Romans an, dem durch die Herausgabe vom bekannten Erfahrungsseelenkundler Karl Philipp Moritz Authentizität und Geltung garantiert werden soll.182 Damit ist erstens das Wissen um die »kritische[…] Zwangslage«183, die im Falle des pädagogischen Projekts in Antons exemplarischen schwierigen Lebensumständen besteht, gesichert. Zweitens orientiert sich das Erzählen auf eine noch unentschiedene, gestaltbare Zukunft; als Projekt geht es ihm darum, »Ordnung als Gestaltungsspielraum zu behaupten«184. Konkret realisiert sich dieses Anliegen in einer »konjunktivische[n] Schreibweise«, die »sowohl in rückblickender Erinnerung als auch in zukunftsoffener Projektion« angewendet wird und »einen ebenso deiktischen wie didaktischen Gestus« aufweist und »immer das letzte Wort« behält.185 Die auf Erkenntnis beruhende Absetzbewegung, die die Leser_innen bei der Gestaltung ihrer Zukunft vom Anti-Helden Anton vollziehen sollen, macht ihnen der Erzähler narrativ vor. »Hätte Anton seinen Vorteil besser verstanden«186, hätte er sich retten können, meint der Erzähler. Sich nicht mit Spielereien zu beschäftigen, sondern »statt dessen etwa in dem alten Virgil […] eine Ekloge zu lesen, wäre der eigentliche Anfang zur Ausübung der Tugend gewesen – aber auf diesen zu geringfügig scheinenden Fall hatte er sich bei seinem heldenmütigen Entschlusse nicht gefaßt gemacht.«187 Des Weiteren »sieht [man, so der Erzähler,] leicht, daß Anton Reisers Eitelkeit, durch die Umstände, welche sich jetzt vereinigten, um ihm seine eigne Person wichtig zu machen, mehr als zu viel Nahrung erhielt«188. Antons Gedichte schließlich fangen angeblich »komisch genug«189 an. Diese und ähnliche Qualifizierungen nimmt der Erzähler vor.190 In 181 182 183 184 185 186 187 188 189

Vgl. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). Z. B. S. 91 und S. 158. Vgl. auch Müller : Die kranke Seele (Anm. 84). S. 20. Krajewski (Anm. 146). S. 24. Maren Lehmann: Karriere als Projekt. In: Markus Krajewski (Hg.): Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns. 2. Auflage. Berlin 2006. S. 49–63. Hier: S. 49f. Voßkamp (Anm. 174). S. 477. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 140. Ebd. S. 282. Ebd. S. 192. Ebd. S. 215.

Das pädagogische Projekt Anton Reiser: Projektieren, Projektion, Protektion

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seiner vorbildhaften Abwendung von Anton reflektiert er zugleich auch das Generalthema seiner Erziehung, das Unterscheidenlernen von Sein und Schein.191 Zu diesem Zweck wird die Figur Anton als repräsentativer und generalisierbarer Fall eingeführt, in dem, »so wie in tausend Seelen, die Wahrheit mit dem Blendwerk, der Traum mit der Wirklichkeit«192 kämpfen. So heißt es beispielsweise über Anton, der nicht lügen und den Engländer nicht verleugnen will: »Dies wurde ihm damals sehr hoch angerechnet, und war just einer der Fälle, wo er tugendhafter scheinen wollte, als er wirklich war […]; aber seinen wahren innern Kampf, wo er oft seine unschuldigsten Wünsche einem eingebildeten Mißfallen des göttlichen Wesens aufopferte, bemerkte niemand.«193 Nicht nur setzt sich der Erzähler als die einzige Instanz, die im Hinblick auf Anton zwischen Sein und Schein, zwischen Wahrheit und Einbildung unterscheiden kann; er eröffnet auch den Blick auf eine mögliche realweltliche, extrafiktionale Alternative zu Antons Schicksal. Eine solche Alternative bestünde darin, dass die Leser_innen den Erzählerblick übernehmen lernten, d. h. dass die Erzieher_innen die inneren Kämpfe ihrer Zöglinge erkennen und in der Folge auch die jungen Menschen ihre eigenen inneren Vorgänge besser einschätzen können. Wenn die Abwendung das Resultat eines Erkenntnisgewinns sein soll, muss ihr notwendigerweise eine Zuwendung – wenn auch nur zum Zweck der Wissensaneignung – vorausgehen. Der Erzähler vollzieht diese Zuwendung durch Mimikry an Antons Denkweise: Anton kam bald so weit, daß er glaubte, von den Sinnen ziemlich abgezogen zu sein, und nun fing er an, sich wirklich mit Gott zu unterreden, mit dem er bald auf einen ziemlich vertraulichen Fuß umging. Den ganzen Tag über, bei seinen einsamen Spa190 Nicolas Pethes wertet solche Prozesse als Dokumente dafür, dass das Projekt der Menschenbeobachtung letztlich auf das hinausläuft, was Michel Foucault im Rahmen seiner Analyse der Neuformierung von Strafrecht, Pädagogik und Klinik an der Wende zum 19. Jahrhundert »Disziplinierung« genannt hat (vgl. Pethes [Anm. 6]. S. 232). Ursula Renner kommt bei ihrer Analyse der Lesesozialisation Antons zu einem ähnlichen Ergebnis. Diese zeige, »daß der Roman mit seiner narrativen Datenerhebung den diskursiven und disziplinarischen Praktiken, die ›Erziehung‹ im ausgehenden 18. Jahrhundert ausmachen, auf der Spur ist.« Ursula Renner : Vom Lesen erzählen. Anton Reisers Initiation in die Bücherwelt. In: Roland Borgards und Johannes Friedrich Lehmann (Hg.): Diskrete Gebote. Geschichten der Macht um 1800. Würzburg 2002. S. 131–160. Hier : S. 133. 191 Karl Philipp Moritz’ Beiträge zu einer Philosophie des Lebens sind hier als Intertext zu nennen. Barbara Thums hat »die Ausbildung eines funktionierenden Differenzierungsvermögens zwischen Sein und Schein« als Anliegen der Beiträge herausgearbeitet und die Selbsttäuschung »als fundamentale Gefährdung für eine gelungene Formierung des Selbst« fokussiert. Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung (Anm. 5). S. 93. 192 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 415. 193 Ebd. S. 106.

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ziergängen, bei seinen Arbeiten, und sogar bei seinem Spiele sprach er mit Gott, zwar immer mit einer Art Liebe und Zutrauen, aber doch so, wie man ohngefähr mit einem seines Gleichen spricht, mit dem man eben nicht viel Umstände macht, und ihm war es denn wirklich immer, als ob Gott dieses oder jenes antwortete. Freilich ging es nicht so ab, daß es nicht zuweilen einige Unzufriedenheit sollte gesetzt haben, wenn etwa ein unschuldiges Spielwerk, oder sonst ein Wunsch vereitelt ward. Dann hieß es oft: aber mir auch diese Kleinigkeit nicht einmal zu gewähren! oder, das hättest du doch wohl können geschehen lassen, wenn’s möglich gewesen wäre! und so nahm es sich denn Anton nicht übel, zuweilen ein wenig mit Gott nach seiner Art böse zu tun; denn obgleich davon nichts in der Madam Guion Schriften stand, so glaubte er doch, es gehöre mit zum vertraulichen Umgange.194

Die Passage zeigt, dass in alle Zuwendung zur Figur Anton die Abwendung schon eingeschrieben ist. Zwar wird Antons Inneres ausgeleuchtet und der Bericht durch ein Gedankenzitat beglaubigt; doch all dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Anton glaubt, das Sinnliche suspendiert zu haben, während der Erzähler aber offenbar über ein besseres Wissen verfügt. Indem er durch die interne Fokalisierung zwar Einsicht in Antons Perspektive gewährt, seine Erzählerrede stets aber als solche markiert, stellt er eine ironische Distanz zu seiner Figur her, die den Leser ebenfalls von Anton distanzieren soll. Zur Offenlegung von Antons Täuschungen spielt der Erzähler sein Wissen gegen Antons Glauben aus, und dies durchaus auch mit einer antireligiösen Stoßrichtung. Im Gebet gehe bei Anton die Täuschung seiner Einbildungskraft so weit, »daß es ihm zuweilen wirklich war, als ginge etwas ganz besonders im Innersten seiner Seele vor«195. Außerdem macht der Erzähler Antons »Aberglauben[…], der ihm von seiner frühesten Jugend an, eingeflößet war«196, für Antons Selbsttäuschungen verantwortlich. »[S]eine Leiden konnte man, im eigentlichen Verstande, die Leiden der Einbildungskraft nennen – sie waren für ihn doch würkliche Leiden, sie raubten ihm die Freuden seiner Jugend.«197 In einer psychologischen An194 Ebd. S. 100f. Erzähltechnisch sehr ähnlich gestaltet ist die berühmte Schubkarrenepisode (vgl. ebd. S. 102). Durch die wiederholte indirekte Rede wird eine Nähe zu Antons Denken suggeriert. Da sich Anton jedoch nicht direkt äußert, sondern seine Gedankenrede stets von der Erzählerrede überformt ist, tritt eine ironische Distanzierung gegenüber Anton ein. Die klare Wertung von Antons Spiel als kindische Grille (vgl. ebd.) tut ihr Übriges, um die Leser_in – wenn auch bloß im Modus einer rationalen Überlegenheit – von Anton zu entfremden. 195 Ebd. S. 135. 196 Ebd. S. 156f. 197 Ebd. S. 157. Diese Aussage kann als Beleg dafür gelten, dass Anton Reiser teil hat an einem Diskurs, der die Einbildungskraft zum »anthropologischen Erklärungsschema par excellence« (Dürbeck [Anm. 145]. S. 141) erklärt. Denn Ende des 18. Jahrhunderts seien jegliche psychischen Phänomene von Schwärmerei, Melancholie, Hypochondrie, Geisterglauben, Wahnsinn, Traum, Schlafwandeln, Lesesucht oder Onanie sowohl in der wissenschaftlichen Literatur wie in der Belletristik auf den psychophysiologischen Mechanismus der Einbildungskraft zurückgeführt worden. Vgl. ebd.

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eignung des adamitischen Akts spielt der Erzähler hier seine Benennungs- und damit auch seine Deutungsmacht aus. Antons ›Fall‹ ist folglich im erfahrungsseelenkundlichen und im biblischen Sinne zugleich zu lesen: Als ein repräsentatives Exempel mangelnder Selbsterkenntnis tritt er als warnendes Merkzeichen auf dem Weg der Leserschaft zum gnothi seauton ein. Im biblischen Sinne leitet umgekehrt die Selbsterkenntnis den (Sünden)Fall erst ein. Diesen religiösen Ursprungsmythos will der Erzähler in aufklärerischer Absicht verkehren, indem er von einer übergeordneten olympischen Position über Antons Geschichte verfügt und an dessen Beispiel die (Selbst)Täuschung als den eigentlichen Sündenfall ausweist. Die Figur Anton ist bei diesem Vorhaben der Ort, an dem sich durch den fingierten Herausgeber gesichertes erfahrungsseelenkundliches Wissen und die Potentiale einer gestaltbaren Alternative zu Antons Werdegang treffen. Die Selbsterkenntnis der Figur Anton ist dagegen sehr beschränkt: Er ist zwar in der Lage, seine Lesewut zu erkennen, »aber wodurch ihm das Lesen von Romanen und Komödien zu einem so notwendigen Bedürfnis geworden war […][,] darauf zurückzugehen hatte seine Denkkraft damals noch nicht Stärke genug«198. Antons partielle Selbsterkenntnis wird vervollständigt durch die Einsicht des Erzählers. Volle Erkenntnis hat dann der Leser, dem mit der Stärkung der Denkkraft nicht nur die Abkehr von Selbsttäuschungen, sondern auch von religiöser Täuschung angeraten wird. Mit der u. a. gegen den religiösen Ursprungsmythos gewendeten aufklärerischen Aufforderung zur Selbsterkenntnis schreibt sich der Erzähler überdies auf bestimmte Weise in Tradition des Projektemachens ein: Daniel Defoe nennt in seinem Essay upon Projects den Bau von Noahs Arche als erstes Projekt überhaupt, der erste Projektemacher ist nach Defoe Gott selbst.199 Die ›Genealogie‹ des Projektemachers besitzt aber neben der englischen, von Gott ausgehenden Tradition auch eine vorgängige spanische, zur englischen sich antinomisch verhaltende Herkunftslinie:200 In Don Quixote beispielsweise werden spanische Projektemacher kritisiert und in Don Franc&sco de Quevedo y Villegas’ Satire Die Fortuna mit Hirn oder die Stunde aller von 1635 heißt es sogar : »Der Antichrist muß ein Projektemacher sein.«201 Die Analyse der Erzählanlage von Anton Reiser hat gezeigt, dass der erzählend protektierende Projektemacher an beide Stränge der Projektemachertradition anknüpft: Der englischen Rückführung des Projektemachers auf Gott entlehnt er seine olympische Erzählposition, seine quasi-göttliche Verfügungsgewalt und seine quasi-adamitische Benennungs- und Deutungsmacht. Mit Antons Ge198 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 287. 199 Vgl. Daniel Defoe: An essay upon projects. Faksimile der Ausgabe von 1887. (Elibron Classics). S. 29. 200 Vgl. Krajewski (Anm. 146). S. 18. 201 Zit. n. ebd.

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schichte und der expliziten Aufforderung, alternative Lebenswege zu ihr einzuschlagen, baut er seinen zu erziehenden Leser_innen eine Art Arche, die sie vor einem ähnlichen Schicksal schützen soll. All dies geschieht jedoch dezidiert unter nicht-religiösen Vorzeichen. Der Erzähler von Anton Reiser steht in der Tradition des Projektemachers als Verwandtem des Anti-Christ in dem Sinne, dass er sich zur biblischen Interpretation der Selbsterkenntnis als Sündenfall in strikte Opposition stellt und seinen Text zum Mittel einer Erziehung zur Selbsterkenntnis macht. Markus Krajewski verweist nachdrücklich auf die »systematische Nähe des Projekts zum Scheitern«202. Genauso wie das Lemma ›scheitern‹ im deutschen Wörterbuch in direkter Nähe zu den Lemmata ›Scheiße‹ und ›Scheitel‹ steht, bewege sich der Projektemacher in einer »Spannung zwischen Erfolg und Ruin, zwischen Gefeiertsein und Bannfluch.«203 Im 18. Jahrhundert erfahren die allgemeinen Betrachtungen zum Projektemachen eine Verschärfung: Obgleich die Aufklärung als die projektierende Epoche überhaupt bezeichnet werden kann, fällt zugleich die Verbannung alles Projekthaften im intellektuellen Milieu ins Auge. Auf der einen Seite deckt sich die Definition eines Projekts nach Diderots und d’Alemberts Encyclop8die als ein Plan, den man sich vorgibt, um ihn zu realisieren, genauer : ein Arrangement von Mitteln, welche eine Absicht ausführbar machen sollen,204 mit den übrigen zeitgenössischen Bestimmungen eines Projekts. Außerdem besitzen gerade die Praktiken der Aufklärung Projektcharakter par excellence: Dies gilt für das Vorantreiben technischer Problemlösungen der Energiegewinnung, für die Einführung neuer Verfahren in der Landwirtschaft oder der Erziehung, für die Verbesserung des Post- und Verkehrswesens ebenso wie für die Entwicklung von bestimmten medizinischen Methoden, für Reformen des Strafvollzugs etc. Und nicht zuletzt sind die Edition bedeutender Texte oder die Einrichtung von Akademien, in welchen wiederum Projekte verfolgt werden sollten, zu nennen.205 Aufgrund seines Zutrauens in die innovativen Potentiale von Projekten erscheint der Projektemacher »[n]eben dem emphatisch gefeierten schöpferischen ›Genie‹, dem in seiner Besonderheit 202 Ebd. S. 21. Mit Blick auf die prägenden Projekte des 17. Jahrhunderts, nämlich Meeres-Expeditionen, spricht Krajewski der Herleitung des Wortes ›Scheitern‹ von ›Scheit‹ eine symbolische Bedeutung zu: Das abgespaltene Stück Holz, das bei einem ›In-Stücke-Gehen‹ infolge eines Schiffbruchs oder aber bei der Anhäufung zum Scheiterhaufen anfällt, trete sinnbildlich für die Gefahr des Scheiterns bei jedem Projekt ein. Vgl. ebd. S. 21f. 203 Ebd. S. 21. 204 »Le projet est un plan, ou un arrangement de moyens, pour l’ex8cution d’un deffein: le deffein est ce qu’on veut ex8cuter.« Art. Projet, Dessein. In: Encyclop8die ou dictionnaire raisonn8 des sciences, des arts et des m8tiers. Nouvelle impression en facsimil8 de la premiHre 8dition de 1751–1780. Tome 13: Pom-Regg. Stuttgart 1966. S. 441–442. Hier: S. 441. 205 Vgl. Stanitzek: Der Projektmacher (Anm. 153). S. 33.

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unauslotbaren ›Individuum‹ und dem welterfassenden ›Subjekt‹ […] als deren nur wenige Jahre älterer Verwandter.«206 Auf der anderen Seite ist jedoch bemerkenswert, dass diese Verwandtschaft von den Zeitgenossen um 1800 zwar gesehen, aber kritisiert worden ist. Gerade die Intellektuellen der Folgezeit – wie beispielsweise Goethe, Schlegel und Novalis – scheuten in ihrer Selbstdarstellung jede Assoziation zum Projektemacher. Sie folgen damit einer Einschätzung des Projektemachers, die zwar dessen Erfindergeist, sein ingenium, anerkennt, ihm aber keine Genialität zugesteht und ihm eine Stilisierung zum alter deus verwehrt.207 Es drängt sich also die Frage auf, wie sich ein in einen Roman integriertes Projekt, neben dessen pädagogische Absicht der Anspruch auf einen ästhetischen Eigenwert tritt, in dieses Spannungsfeld einordnen lässt. Bei einem Projekt, welches in einen Bildungsroman wie Anton Reiser eingelassen ist, verschärft sich die Problematik sogar noch weiter, denn das Projektemachen steht dem Prinzip eines teleologisch einem bestimmten Ziel zustrebenden Bildungswegs diametral entgegen: »Der Projektmacher verläßt sich gerade nicht auf die eingefahrene Laufbahn, sein Weg beschreibt überhaupt nicht eine sich kreisförmig schließende Bahn, sondern führt in eine offene, kontingente Zukunft. Er setzt auf den Sprung von einer – je neu konzipierten – Laufbahn in eine andere, von Projekt zu Projekt.«208 Wie verhalten sich also die erfahrungsseelenkundlichen, pädagogischen (sprich: nützlichen) und ästhetischen (sprich: schönen) Ansprüche zueinander in einer Zeit, in der Projektieren für gewöhnlich ästhetisch verschleiert wird und »[a]krobatische Formulierungsmanöver […] die Nähe zum Projecteur zu verdecken«209 suchen? Bzw. anders gefragt: (Wie) Gelingt es dem Roman Anton Reiser, als autonomes ästhetisches Gebilde bestehen und zugleich das pädagogische Projekt zum Fall »Anton Reiser« erfolgreich durchsetzen zu können? Ich möchte nun abschließend zeigen, dass der Roman gerade in der Gegenüberstellung des autodidaktischen Protagonisten und des projektierenden Erzählers eine Argumentation, die Projektemachen und Literaturschaffen als einander ausschließend setzt, unterläuft. Zunächst ist der Projektemacher zwischen dem Bastler und dem Ingenieur anzusiedeln: Als Ingenieur oder Gelehrter kann der Projektemacher nicht gesehen werden, da er notwendigerweise improvisiert. Zugleich geht er aber auch keiner rein persönlichen Neigung oder Träumerei nach. Der Projektemacher bastelt zwar, ist aber nicht auf einen Bastler reduzierbar, weil er das Gemeinwohl im Blick hat und nicht einfach seinen idiosynkratischen Vorlieben folgt bzw. bei diesen verbleibt. Seine ›Methodik‹ 206 207 208 209

Ebd. S. 29. Vgl. ebd. S. 29f und S. 44. Ebd. S. 40. Ebd. S. 44.

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Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

teilt der Projektemacher mit dem Bastler, die Selbstgenügsamkeit der Beziehung auf das Material jedoch nicht. Um seinen Wirkungskreis zu erweitern, tritt der Projektemacher aus der leer laufenden Selbstbezüglichkeit des Bastlers heraus und fixiert seine Ideen, um anderen deren Relevanz einsichtig zu machen.210 Die Erzählstrategie des projektierenden Erzählers von Anton Reiser entspricht diesem Paradigma: Die Abwendung des Erzählers von Anton ist bereits in seinem Status als Projektemacher angelegt. Denn die Abwendung des erzählenden Erziehers von seinem autodidaktisch-autistischen Protagonisten entspricht der Abkehr des fremdbezogenen Projektemachers von der Selbstbezüglichkeit des Bastlers. Der inhaltliche Hauptgegenstand von Anton Reiser, der dilettierende Künstler Anton, ist im Bereich des Ästhetischen situiert. Das gilt zu Teilen auch für den Erzähler, der sowohl ein Projektemacher als auch eine zentrale Instanz (nämlich die Aussageinstanz) im literarischen Diskurs ist. D. h. er changiert nicht nur zwischen Ingenieur und Bastler, sondern steht – zumindest theoretisch – auch im Spannungsfeld von Genialität und Dilettantismus. Sein projektierendes Improvisieren besteht zum einem im Aufzeigen alternativer Lebensmodelle zur Protektion seiner Leserschaft. Eine Alternative zu Antons Lebensweg zu propagieren, dient aber nicht nur der Lebenshilfe, sondern folgt zum anderen einem bestimmten künstlerischen Programm. Im Bereich des Ästhetischen, im Roman Anton Reiser, ist das pädagogische Projekt des Erzählers mit dessen poetologischen Empfehlungen durchaus vereinbar. Im Hinblick auf Anton geraten der pädagogische und der poetologische Ansatz des Erzählers allerdings in Widerstreit: Wenn es um Anton geht, favorisiert der Erzähler das Modell des autodidaktischen Lernens. Das Prinzip dieses Vorgehens, die Selbstbezogenheit, steht jedoch in engster Verbindung mit Antons künstlerischem Dilettantismus. Das heißt: Das pädagogische Modell der Autodidaktik und das poetologische Prinzip der Autonomieästhetik erweisen sich als unvereinbar. In diesem Sinne ist der Erzähler ein dilettantischer Bastler : Er verbleibt selbstbezüglich bei seiner Argumentation, die keine Unterschiede in der pädagogischen und der künstlerischen Methode vorsieht. Der Erzähler erkennt nicht, dass er sich – zumindest was die Vereinbarkeit der Methoden in Bezug auf Anton angeht – täuscht. Darüber hinaus vermag er die von ihm propagierte Autonomieästhetik211 als zweckgebundener Projektemacher selbst nicht einzulösen. Der pro210 Vgl. ebd. S. 46. 211 Vgl. v. a. die Vorrede zum vierten Teil des Romans (Moritz: Anton Reiser [Anm. 4]. S. 413f). Berücksichtigt man die Entstehungsgeschichte des Textes, erklärt sich die Vehemenz der autonomieästhetischen Argumentation speziell an dieser Stelle mit Moritz’ Italienreise, die zwischen der Veröffentlichung des dritten und des vierten Teils des Romans liegt (vgl. den Kommentar zu »Anton Reiser« [Anm. 75]. S. 939). Im vierten Teil von Anton Reiser steigere sich die Distanz des Erzählers zu Anton auch deshalb, weil »[f]ortan […] das im Diskurs

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jektierende Erzähler kann aufgrund seines dezidierten Leserbezugs nicht für die Vereinbarkeit von pädagogischem Projekt und autonomem Kunstwerk eintreten. Es ist die von der Autorfunktion hergestellte ästhetische Organisation des Textes, die dies vermag. Der Roman Anton Reiser führt zum einen vor, dass der erzählende Projektemacher für Anton ein anderes Bildungskonzept vorsieht als für seine Leser_innen und sich über die entsprechenden Konsequenzen täuscht. Zum anderen ist dieser inhaltliche Widerspruch formal determiniert: Der Erzähler und der Protagonist sind auf unterschiedlichen Erzählebenen angesiedelt, durch das heterodiegetische Erzählen sind die beiden Figuren kategorial voneinander geschieden. Ein fremdbezogenes pädagogisches Einwirken auf Anton ist daher unmöglich und Autodidaktik bleibt die einzige Empfehlung, die der Erzähler geben kann. Gegen diese Empfehlung stellt der Text die Leiden und die schweren Folgen des autodidaktischen Vorgehens, die für die Figur Anton in Autismus und Dilettantismus bestehen, und darüber hinaus den Bildungsroman als Konzept in Frage stellen. In Form dieser kritischen Selbstbefragung der Gattung ist Anton Reiser in hohem Maße selbstreflexiv und erfüllt damit eine zentrale Forderung ästhetischer Autonomie. Zugleich muss neben die selbstbezügliche Selbstreflexivität aber auch der pädagogische Fremdbezug treten, um eine Integration von autonomem Kunstwerk und erzieherischem Projekt gewährleisten zu können – und damit den Text als Proto-Experiment funktionabel zu machen. Den erzieherischen Impuls realisiert der Erzähler ; der Roman als Ganzes stellt einen integrativen Diskursraum dar, der durch die Verquickung von pädagogischen und ästhetischen Wissensbeständen genuin poetisches Wissen generiert. Und nicht zuletzt ist Anton Reiser neben einem pädagogischen Projekt im Kontext der Aufklärung auch ein Medium der Aufklärungskritik: Erstens betreibt der Text Aufklärungskritik, indem er zentrale Instrumente der Aufklärung einer strengen Überprüfung unterzieht, wie die Analyse der Darstellung des Bildungssystems und der Nachweis der äußerst kritischen Reflexion der Gattung Bildungsroman gezeigt haben. Als Aufklärungskritik hat zweitens die kritische Hinterfragung der zentralen anthropologischen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts, nämlich die Ausbildung von Individualität und Reflexivität, zu gelten.212 Drittens schließlich straft Anton Reiser eine Form von Aufklärungskritik Lügen, die das Projektemachen in den Bereich des Nicht-Ästhetischen und Dilettantischen verbannt.213 mit Goethe vertiefte autonomieästhetische (und vice versa dilettantismuskritische) Theorem forciert« werde. Ebd. S. 958. 212 Vgl. Hans-Georg Pott: Was heißt: sich im Lesen orientieren? Der Fall »Anton Reiser«. In: Joseph A. Kruse, Monika Salmen und Klaus-Hinrich Roth (Hg.): Literatur. Verständnis und Vermittlung. Düsseldorf 1991. S. 131–146. Hier : S. 137. 213 Und nicht zuletzt berührt Anton Reiser damit Fragen der Autorschaft und Kanonisierung, denn er »widerspricht einer Praxis, der zufolge gelungene Projekte zu Werken erklärt

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III.

Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

Fühlen und Füllen: Anton Reisers künstlerischer Dilettantismus

Eine Analyse von Moritz’ Anton Reiser, die sich für die spezifische Erscheinungsweise des Dilettantismus in diesem Text interessiert, muss ihren Fokus natürlich auch auf den künstlerischen Dilettantismus richten. Folgende These leitet die Untersuchung: In Anton Reiser wird – stellvertretend für große Teile der anthropologisch grundierten und aufklärungsreflexiv motivierten Literatur des späten 18. Jahrhunderts allgemein – die (scheiternde) Bildung des Subjekts anhand von Lernpraktiken, also unter Rückgriff auf pädagogisches Wissen durchgespielt. Bezüglich Anton Reisers Bildung als Subjekt haben sich die Autodidaktik und das Projektemachen als charakteristische Praktiken einer pädagogisch inspirierten Selbstbildung erwiesen. Die Grundannahme dieses Kapitels lautet: Die Bildung des Subjekts allgemein und die spezifische Bildung künstlerischer Subjektivität sind grundsätzlich und im Falle Anton Reisers in besonderem Maße als interdependent zu denken. Denn zum einen lässt sich – wie im Folgenden gezeigt werden wird – eine strukturelle Verwandtschaft von Antons lernendem und seinem künstlerischen Vorgehen nachweisen, zum anderen sind einige seiner Projekte literarischer Art. Anton verfolgt »Schriftstellerprojekte«, »er wollte ein Trauerspiel der Meineid schreiben«.214 Ein weiteres Beispiel für Antons »allerlei große Projekte« ist sein Plan, »die Geschichte der Feldherrn ganz anders einzukleiden; etwa so wie der Daniel in der Löwengrube geschrieben war«. – Denn »der Stil im Kornelius Nepos war ihm z.E. nicht erhaben gnug [sic]«.215

III.1. ›Poetik‹ der Lücke, Drama der Kompensation Zu Antons poetischem Dilettantismus fallen in Bezug auf das bislang Entwickelte folgende Aspekte besonders ins Auge: Auch Antons ›Ausbildung‹ zum Künstler erfolgt autodidaktisch: »Seine poetische Lektion bestand damals fast in nichts, als Lessings kleinen Schriften, […] die er fast auswendig wußte, so oft hatte er sie durchgelesen.«216 Zudem ist die literarische Produktion wie das autodidaktische Lernen – theoretisch – in einen Kontext von Selbsterkenntnis, werden, erfolgreiche Projektmacher dann deren Schöpfer heißen und als ihre Urheber gelten; wohingegen man den Rest, gescheiterte Projektmacher und mißlungene Projekte, beim Namen nennen und damit als Abfall behandeln kann.« Stanitzek: Der Projektmacher (Anm. 153). S. 47. 214 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 384. 215 Ebd. S. 234. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 216 Ebd.

Fühlen und Füllen: Anton Reisers künstlerischer Dilettantismus

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Selbstbeherrschung und Selbstveredelung eingebunden: »Ein andermal arbeitete Reiser wieder ein Gedicht über die Zufriedenheit – gleichsam zu seiner eignen Belehrung, oder zur Richtschnur seines Lebens, aus«.217 Im Hinblick auf das Verhältnis des Erzählers zum literarischen Schaffen des Protagonisten ist dieselbe Instrumentalisierung von Antons ›Fall‹ zu beobachten wie schon beim Thema Pädagogik: Um ein abschreckendes Beispiel zu geben, wird die »Mitteilung dieses Gedichts [mit dem Titel Der Gottesleugner] […] nicht überflüssig sein, [schreibt der Erzähler,] wenn es gleich um sein selbst willen keine Aufbewahrung verdiene«218. Die Auswahl der Beispiele, anhand derer der Erzähler den Leser_innen einen Einblick in Antons künstlerisches Schaffen gewährt, wird explizit mit einer Zweck-Mittel-Beziehung zu seinem pädagogischen Projekt begründet: »Um die Fortschritte, welche er [= Anton] damals in Ansehung des Ausdrucks seiner Gedanken gemacht hatte, zu bezeichnen, ist es vielleicht nicht unzweckmäßig, aus der Rede, die er hielt, einige Stellen herauszuheben.«219 Mit dem Urteil des Erzählers, dass das Gedicht Der Gottesleugner ›um sein selbst willen keine Aufbewahrung verdiene‹ und mit der Zweckmäßigkeit als Selektionskriterium ist die Frage nach Standortgebundenheit, perspektivischer Verankerung und Subjektivität der Qualifizierung von Antons Schreiben als ›dilettantisch‹ aufgeworfen. Zum einen legt die Bewertung von Antons Schreiben aus der Perspektive eines zwar heterodiegetischen, aber figürlich konturierten, eigene Interessen artikulierenden Erzählers grundsätzlich eine Relativität seines Werturteils nahe. Zum anderen besteht offenbar eine Unverträglichkeit zwischen den jeweiligen – mehr oder weniger explizit formulierten – poetologischen Programmen Antons und des Erzählers: »Das Detail der Natur in und außer dem Menschen zu schildern, dahin zog ihn [= Anton] seine Neigung nie«220, beklagt der Erzähler.221 Antons Neigung zum Abstrakten und Erhabenen steht in dezidiertem Widerspruch zur programmatischen Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf das Kleine und klein Scheinende, wie sie der Erzähler propagiert.222 Die Erklärung des Erzählers, Antons Dilettantismus gründe in dessen Affinität zum Romantischen – d. h. hier zum Romanhaften223 – und zum Idealischen bzw. Idealistischen224 ist also auch in der Tradition einer 217 218 219 220 221

Ebd. S. 365f. Ebd. S. 345. Ebd. S. 361. Ebd. S. 340. In dem Kriterienkatalog für dilettantisches Schreiben im vierten Teil des Romans bildet die Abkehr vom Detail dann den dritten Punkt. Vgl. ebd. S. 499. 222 Vgl. z. B. ebd. S. 86. 223 Im Kommentar zu Anton Reiser wird die pejorative Konnotation des Begriffs mit dessen Bedeutung »abentheuerlich, unnatürlich, unglaublich« laut Grammatische[m] Wörterbuch begründet. Vgl. den Kommentar zu »Anton Reiser« (Anm. 75). S. 1060f. 224 Vgl. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 238 und S. 504. – Außerdem war es Anton »oft, wenn

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Etablierung des eigenen ästhetischen Standpunkts in Abgrenzung zum ästhetisch Anderen, dem Dilettantischen, zu situieren. Zu den rhetorischen Ausschlussmanövern, derer sich der Erzähler zum Zweck dieser Standortbestimmung bedient, zählt die – unnötig zu sagen: topische – Pathologisierung von Antons Einbildungskraft: »[D]aß er [= Anton] oft wieder in eine Art von Verzweiflung geriet, wenn er Dinge ausdrücken wollte, die er zu fühlen glaubte, und die ihm doch über allen Ausdruck waren«, sieht der Erzähler in »seiner kranken Einbildungskraft« begründet, die es Anton unmöglich mache, »für seine ungeheuren und grotesken Vorstellungen« Ausdrücke zu finden.225 Anton, so der Erzähler, »dachte sich eine Art von falscher täuschender Bildung in das Chaos hinein, welche im Nu wieder zum Traum und Blendwerk wurde; eine Bildung, die weit schöner, als die wirkliche, aber eben deswegen von keinem Bestand, und keiner Dauer war.«226 Die Rede von »falscher täuschender Bildung«227 ähnelt stark der Diktion in Karl Philipp Moritz’ ästhetischer Hauptschrift Über die bildende Nachahmung des Schönen. Das komplexe Verhältnis zwischen diesem Text und Anton Reiser hat die Forschung bereits durchleuchtet.228 Hier geht es darum, die Verbindungen von Antons – unterstelltem – poetischem Dilettantismus zu seinem Scheitern als Schauspieler offenzulegen. Diese Zusammenhänge werden zum einen rhetorisch vom Erzähler und diskursiv durch den fingierten, seelenkundlich informierten Herausgeber Moritz hergestellt. Zum anderen sind sie durch die Konkurrenz bestimmter künstlerischer Produktionsprinzipien in Literatur und Schauspiel im späten 18. Jahrhundert begründet. Nicht zufällig erklärt der Erzähler das Romantische und das Theatralische zu Resultaten von Antons intellektueller Prägung durch den Idealismus:

225 226

227 228

er sich eine Weile im Nachdenken verloren hatte, als ob er plötzlich an etwas stieße, das ihn hemmte, und wie eine bretterne Wand, oder eine undurchdringliche Decke auf einmal seine weitere Aussicht schloß – es war ihm dann, als habe er nichts gedacht – als Worte –« (ebd. S. 301). Zu Antons Problem, »[d]ie Sprache schien ihm beim Denken im Wege zu stehen, und doch konnte er wieder ohne Sprache nicht denken« (ebd.), vgl. Kestenholz (Anm. 93). S. 124, Allkemper (Anm. 6). S. 116, Berndt (Anm. 66). S. 115 sowie Friedrich A. Kittler : Aufschreibesysteme 1800 1900. 4., vollständig überarbeitete Neuauflage. München 2003. S. 93. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 503. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Ebd. Hier wird ein Umbruch sichtbar, der sich im Laufe des 18. Jahrhunderts in der Diskussion um die Einbildungskraft vollzogen hat: Während in der Mitte des Jahrhunderts die Einbildungskraft noch vorrangig als Vermögen bestimmt wird, »das vergangene Vorstellungen erneuert, indem ehemalige Eindrücke und die damit verknüpften Ideen selbst wieder lebendig werden« (Dürbeck [Anm. 145]. S. 153), tritt gegen Ende des 18. Jahrhunderts ihre Fähigkeit, »unwahrscheinliche, monströse Dinge […] [zu entwerfen], die dem logischen Zusammenhang der Welt widerspr[e]chen« (ebd. S. 257), stärker in den Vordergrund. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 503. Vgl. stellvertretend Müller : Die kranke Seele (Anm. 84). S. 364f.

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Mit dergleichen ungeheuren Bildern, zerarbeitete sich Reisers Phantasie in den Stunden, wo sein Innres selber ein Chaos war, in welchem der Strahl des ruhigen Denkens nicht leuchtete, wo die Kräfte der Seele ihr Gleichgewicht verloren, und das Gemüt sich verfinstert hatte; wo der Reiz des Wirklichen vor ihm verschwand, und Traum und Wahn ihm lieber war, als Ordnung, Licht und Wahrheit. Und alle diese Erscheinungen gründeten sich gewissermaßen wieder in dem Idealismus, wozu er sich schon natürlich neigte, und worin er durch die philosophischen Systeme, die er in H… studierte, sich noch mehr bestärkt fand. Und auf diesem bodenlosen Ufer fand er nun keinen Platz wo sein Fuß ruhen konnte. Angstvolles Streben und Unruhe verfolgten ihn auf jedem Schritte. Dies war es, was ihn aus der Gesellschaft der Menschen auf Böden und Dachkammern trieb, wo er oft in phantastischen Träumen noch seine vergnügtesten Stunden zubrachte, und dies war es was ihm zugleich für das Romantische, und Theatralische, den unwiderstehlichen Trieb einflößte.229

Mit der Dichotomisierung von ungeheuren Bildern einer chaotischen Phantasie und ruhigem Denken, von Seelenaufruhr und Seelenruhe, von Wahn und Wahrheit sowie durch den konsequenten Einsatz der (aufklärerischen) Lichtmetapher markiert der Erzähler seinen Standort als den einer aufklärerischen Poetologie. Eine solche grenzt sich üblicherweise – und so ist es auch hier – gegen ›romanhaft‹-empfindsame sowie – und das ist hier von besonderer Bedeutung – gegen theatrale Tendenzen ab. Ins Bild gesetzt wird dieses Programm durch genau die beiden optischen Medien, welche die poetologischen Programme der Aufklärung und der ihr nachfolgenden künstlerischen Epochen bzw. Strömungen versinnbildlichen: die camera obscura und die laterna magica. Sein favorisiertes poetologisches Modell, die camera obscura, korreliert der Erzähler entsprechend mit einem locus amoenus: Nun war vor dem neuen Tore von H…, der Gang auf der Wiese, längst dem Flusse, nach dem Wasserfall zu, besonders einladend für seine romantischen Ideen. Die feierliche Stille, welche in der Mittagsstunde auf dieser Wiese herrschte; die einzelnen hie und da zerstreuten hohen Eichbäume, welche mitten im Sonnenschein, so wie sie einsam standen, ihren Schatten auf das Grüne der Wiese hinwarfen. – Ein kleines Gebüsch, in welchem man versteckt das Rauschen des Wasserfalls in der Nähe hörte – am jensei229 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 504. Der Erzähler argumentiert hier mit einem verhinderten camera obscura-Modell: Anton dilettiert, er »zerarbeitet« sich, weil »der Strahl des ruhigen Denkens nicht in ihm leuchtete« und »das Gemüt sich verfinstert hatte« (ebd.). Diese Argumentation steht im Einklang mit Moritz’ ästhetischer Hauptschrift Über die bildende Nachahmung des Schönen. Auch sie ist vom rationalistischen Sehprinzip grundiert: »Alle die in der tätigen Kraft bloß dunkel geahndeten Verhältnisse jenes großen Ganzen, müssen notwendig auf irgend eine Weise entweder sichtbar, hörbar, oder doch der Einbildungskraft faßbar werden: und um dies zu werden, muß die Tatkraft, worin sie schlummern, sie nach sich selber, aus sich selber bilden. – Sie muß alle jene Verhältnisse des großen Ganzen, und in ihnen das höchste Schöne, wie an den Spitzen seiner Strahlen, in einem Brennpunkt fassen.« Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen (Anm. 8). S. 972f.

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tigen Ufer des Flusses, der angenehme Wald, in welchem er mit [Philipp] Reisern des Morgens in der Frühe spazieren gegangen war – in der Ferne weidende Herden; und die Stadt mit ihren vier Türmen, und dem umgebenden mit Bäumen bepflanzten Walle, wie ein Bild in einem optischen Kasten.230

Der idyllische Spaziergang mit Philipp Reiser findet am helllichten Tag statt und die empfindsame Freundschaft der beiden wird durch einen optischen Kasten gerahmt, sprich: die Empfindsamkeit wird nach dem Prinzip der camera obscura begrenzt. Das laterna magica-Modell wiederum grundiert den ironisch eingefärbten Bericht über eine Nachtwanderung Antons mit I…, dem (späteren) Schauspielgenie: Und diese Nachtwanderung war wirklich eine der angenehmsten, die man sich nur denken kann, so daß sie recht vom Zufall veranstaltet zu sein schien, um Reisers Phantasie noch mehr zu erhitzen, und seiner einmal angefachten Lust zum Wandern das völlige Übergewicht über die Vernunft zu geben. – Die drei Abenteurer erreichten noch vor Tagesanbruch ein Dorf, das dicht am Fuß des Berges lag, wo sie einkehrten, und noch einige Stunden schliefen. – Da sie aber am andern Morgen früh aufstanden, so waren alle die schönen Bilderchen aus der Zauberlaterne verschwunden; die kahle Wirklichkeit mit allen ihren unvermeidlichen Unannehmlichkeiten stand wieder vor ihrer Seele da – sie saßen über eine Stunde einander gegen über und jähnten sich an.231

Neben den Topoi der erhitzten Phantasie, des Wanderns und der nächtlichen Aktivität, fällt auch die Engführung von Dunkelheit, laterna magica und (Selbst)Täuschung auf. Wird der optische Kasten zum Paradigma sonnengefluteter, idyllischer Bilder gemacht, fungiert die laterna magica als »Gleichnis flüchtiger oder trügerischer Phantasiegebilde«232 und steht damit für die Gefahren der romanhaft-empfindsamen – und das ist in der Perspektive des Erzählers: dilettantischen – Poetologie.233 Die Verknüpfung von Romanhaft-Empfindsamem, Ideal(ist)ischem und Theatralischem ist im Hinblick auf die Einordnung von Antons Dilettantismus von konstitutiver Bedeutung. Antons literarischer Dilettantismus lässt sich nämlich als eine ›Poetik‹ der Lücke234 beschreiben. Und dieses Lückenhafte resultiert erstens aus der Undarstellbarkeit von Ideen und wird zweitens durch 230 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 332. 231 Ebd. S. 408. 232 August Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus. Darmstadt 1968 [1933]. S. 18. 233 Dass die Guckkastenidylle von Antons »romantischen Ideen« und ausgerechnet von der »Einsamkeit« der Bäume gestört ist (vgl. Anm. 233), zeigt an, dass der Text die Zuschreibungen des Erzählers nicht durchgehend stützt. 234 Mit Poetiken der Lücke befasst sich auch Annette Keck. »Poetiken der Lücke: Fassungen einer Leerfigur« heißt ihr Forschungsprojekt (vgl. http://www.ndl8.germanistik.uni-muen chen.de/forschung/index.html; Zugriff am 31. 07. 2014), eine Publikation ist zum Zeitpunkt der Drucklegung dieser Arbeit m.W. noch nicht erschienen.

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Empfindung zu kompensieren versucht: »O könnten dir es Worte sagen: / Ich weiß, du fühltest meinen Schmerz –«235, schreibt Anton bspw. in einem Gedicht an Philipp Reiser. ›Empfindung‹ wiederum ist neben ›Distanz‹ bzw. ›Reflexion‹ das zentrale Paradigma der Schauspieltheorie und -praxis im späten 18. Jahrhundert.236 Es gilt also im Folgenden die These zu prüfen, ob Antons Empfindsamkeit – im Sinne von Fühlen und Einfühlungsvermögen – seinen literarischen Dilettantismus, der sich in einer Poetik der Lücke realisiert, und seinen schauspielerischen Dilettantismus, der sich in der nicht (mehr) zeitgemäßen Orientierung am Modell des empfindsamen Schauspielers zeigt,237 gleichermaßen begründet und beide Varianten des Dilettierens somit als Ausdrucksformen ein- und desselben Produktionsmodells erweist. Zunächst zu Antons ›Poetik‹ der Lücke bzw. des Lückenfüllens: Anton »dachte sich ein Ideal eines Weisen, eines Menschen, der so viel Ideen hat, als einem Sterblichen nur möglich sind – und der dennoch immer eine Lücke in sich fühlt, die nur durch die Idee vom Unendlichen ausgefüllt werden kann«. Unter »einigem Zwang wegen des Ausdrucks«238 verfasst Anton schließlich ein Gedicht, welches zweimal die Vokabel »Leere«239 und einmal »leer«240 enthält. Die Undarstellbarkeit des Unendlichen und anderer Ideen – sprich: die Probleme, die seine Neigung zum Idealismus in Bezug auf Ästhetisches mit sich bringt241 – verknüpft Anton nun mit dem empfindsamen Unsagbarkeitstopos:

235 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 322. 236 Einen mit sehr viel Material unterfütterten und analytisch tiefgreifenden Überblick bietet z. B. Alexander Kosˇenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995. S. 127ff. 237 Vgl. auch Müller : Die kranke Seele (Anm. 84). S. 357 und Alessandro Costazza: Genie und tragische Kunst. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bern u. a. 1999. S. 192–194. 238 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 339. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden, die Hervorhebung stammt aus dem Original. 239 Ebd. S. 339 und S. 340. 240 Ebd. S. 339. 241 Vgl. auch ebd. S. 341: »Reisers Phantasie lag jetzt mit seiner Denkkraft im Kampfe; sie wollte bei jeder Gelegenheit in das Gebiet derselben eingreifen, und die allerabstraktesten Begriffe wieder in Bilder hüllen – Dies war für Reisern oft ein ängstlicher qualvoller Zustand – und in einem solchen Zustande hatte er das Gedicht über die Welt hervorgebracht, das weder eigentliche Spekulation noch Poesie, sondern ein verunglücktes Mittelding von beiden war.« Zum Erhabenen als ästhetisches Problem siehe außerdem: »So lief seine ganze Dichtkunst auf allgemeine Begriffe hinaus. – Das Detail der Natur in und außer dem Menschen zu schildern, dahin zog ihn seine Neigung nie – Seine Einbildungskraft arbeitete beständig, die großen Begriffe von Welt, Gott, Leben, Dasein, u.s.w. die er mit seinem Verstande zu umfassen gesucht hatte, nun auch in poetische Bilder zu kleiden – und diese poetischen Bilder selbst waren immer das Große in der Natur, als Wolken, Meer, Sonne, Gestirne u.s.w. Das Gedicht über die Welt, war weit mehr Spekulation als Gedicht, und wurde daher das Gezwungenste, was man sich denken kann.« Ebd. S. 340.

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Wenn ihn der Reiz der Dichtkunst unwillkürlich anwandelte, so entstand zuerst eine wehmütige Empfindung in seiner Seele, er dachte sich ein Etwas, worin er sich selbst verlor, wogegen alles, was er je gehört, gelesen oder gedacht hatte, sich verlor, und dessen Dasein, wenn es nun würklich von ihm dargestellt wäre, ein bisher noch ungefühltes, unnennbares Vergnügen verursachen würde. Nun war aber noch nicht ausgemacht, ob dies ein Trauerspiel, oder eine Romanze, oder ein Elegisches Gedicht werden sollte; genug, es mußte etwas sein, das würklich eine solche Empfindung erweckte, wovon der Dichter gewissermaßen schon ein Vorgefühl gehabt hatte. In den Momenten dieses seligen Vorgefühls konnte die Zunge nur stammelnde einzelne Laute hervor bringen. Etwa wie die in einigen Klopstockschen Oden, zwischen denen die Lücken [meine Hervorh., J. K.] des Ausdrucks mit Punkten ausgefüllt [meine Hervorh., J. K.] sind. Diese einzelnen Laute aber bezeichneten denn immer das Allgemeine von Groß, erhaben, Wonnetränen, und dergleichen.–242

In Antons ›Poetik‹ der Lücke fungiert die Unfähigkeit zum Ausdruck als Beglaubigung eines vorsprachlichen, authentischen Gefühls. Während Anton sich damit in die Tradition des Unsagbarkeitstopos mit Klopstock als empfindsamen Höhepunkt stellt, bilanziert der Erzähler Antons Ausdrucksschwierigkeiten bedeutend nüchterner : »Dies dauerte denn so lange, bis die Empfindung in sich selbst wieder zurücksank, ohne auch nur ein paar vernünftige Zeilen, zum Anfange von etwas Bestimmtem, ausgeboren zu haben.«243 Vernünftig und be242 Ebd. S. 496f. 243 Ebd. S. 497. Vernunft und Bestimmtes sind die aufklärerisch fundierten Kriterien des Erzählers; entsprechend verlinkt er auch Antons ›Poetik‹ der Lücke mit der Licht- bzw. Dunkelheitsmetaphorik, einer pathologischen Einbildungskraft und dem laterna magica-Modell: »Als er nun aber zum Werke schritt, und den ersten Gesang seines Gedichts, wovon er den Titel schon recht schön hingeschrieben hatte, wirklich bearbeiten wollte, fand er sich in seiner Hoffnung einen Reichtum von fürchterlichen Bildern vor sich zu finden, auf das Bitterste getäuscht. Die Flügel sanken ihm, und er fühlte seine Seele wie gelähmt, da er nichts, als eine weite Leere, eine schwarze Öde vor sich erblickte, wo sich nun nicht einmal das vergeblich aufarbeitende Leben, wie bei der Schilderung des Chaos anbringen ließ, sondern eine ewige Nacht alle Gestalten verdeckte, und ein ewiger Schlaf alle Bewegungen fesselte. Er strengte mit einer Art von Wut seine Einbildungskraft an, in diese Dunkelheit Bilder hineinzutragen, allein sie schwärzten sich, wie auf Herkules Haupte die grünen Blätter seines Pappelkranzes, da er sich, um den Cerberus zu fangen, dem Hause des Pluto nahte. Alles was er niederschreiben wollte, löste sich in Rauch und Nebel auf, und das weiße Papier blieb unbeschrieben. Über diesen immer wiederholten vergeblichen Anstrengungen eines falschen Dichtungstriebes, erlag er endlich, und verfiel selbst in eine Art Lethargie und völligem Lebensüberdruß.« (ebd. S. 511f) Lothar Müller deutet diese Passage als Realwerdung des Unsagbarkeitstopos (vgl. Müller : Die kranke Seele [Anm. 84]. S. 368). An anderer Stelle führt Lothar Müller aus: »Die Unsagbarkeitstopik der Klopstockschen Lyrik findet in der Diagnose des Dilettantismus eine prosaische Entsprechung. Ihr Kern ist der Nachweis einer grundsätzlichen Disproportion von Sprache und Gefühl, Empfindung und Ausdruck in Anton Reisers Dichtungsversuchen. Die kalkulierten Lücken, die in Klopstocks Oden als Kunstmittel die Annäherung an die Grenzen der Sprache signalisieren, werden bei seinem Adepten zu Spuren des Lebens im mißlingenden Gedicht.« (Lothar Müller : Die Erziehung der Gefühle [Anm. 75]. S. 16f) Für Martina Wagner-Egelhaaf stellt

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stimmt hat Poesie der Ansicht des Erzählers nach zu sein, Lücken wertet er als »ein schlimmes Zeichen [….] [des] vermeinte[n] poetischen Genie[s]«. Wer »die innere Leerheit und Unfruchtbarkeit […] durch den äußern Stoff ersetz[en]«244 will, gibt sich dadurch als Dilettant zu erkennen. Dies war der Fall bei Reisern schon in H… auf der Schule, wo er Meineid, Blutschande und Vatermord, in einem Trauerspiele zusammenzuhäufen suchte, das der Meineid heißen sollte, und wobei er sich dann immer die wirkliche Aufführung des Stücks, und zugleich den Effekt dachte, den es auf die Zuschauer machen würde.245

Antons ›Poetik‹ der Lücke – oder mit dem Erzähler gesprochen: der Leerheit – wird bereits an dieser Stelle auf seine Laufbahn als Schauspieler hin perspektiviert.246 Zunächst schreibt Anton Dramen, später spielt er Dramen – beides mit der Wirkung auf die Zuschauer_innen als oberstem Ziel.247 Und da das Streben nach Beifall gewissermaßen das Prärogativ des Schauspielers ist, das Theater also eine Systemstelle für die Beifallssucht besitzt, ist die Schauspielerei – so viel sei schon hier vorweg genommen – für Dilettantismus im Moritzschen Sinne besonders anfällig. Die andere Variante besteht darin, dass Anton Dramen schreibt, um sie selber zu spielen.248 Schon in Antons früher Jugend füllte der Gedanke, »daß er von diesen Gegenständen öffentlich reden sollte […] gleichsam die Lücken aus, wo seine Begeisterung aufhörte, oder ermattete.«249 Von Beginn an ist es der theatrale Aspekt, der die poetischen Lücken kompensiert oder zumindest kompensieren soll. Wenn Antons poetischem Schaffen die Einfühlung – also ein künstlerisches Produktionsmodell, das in der zeitgenös-

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das Weißbleiben des Papiers die Kapitulation vor der Konventionalität und Arbitrarität sprachlicher Beziehungen dar. In ihrer Deutung ist Anton ein Vorläufer von Lord Chandos, der die literarische Produktion eingestellt hat, weil ihm die abstrakten Worte wie Pilze im Munde zerfallen. Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart 1997. S. 375. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 498. Ebd. S. 498f. Der Erzähler argumentiert explizit mit einer Gleichursprünglichkeit der beiden Wünsche, Schriftsteller und Schauspieler zu werden, wenn er angibt, der psychologische Roman enthalte »eine getreue Darstellung von den mancherlei Arten von Selbsttäuschungen, wozu ein mißverstandener Trieb zur Poesie und Schauspielkunst den Unerfahrnen verleitet hat.« Ebd. S. 414. In seinem Kriterienkatalog für Dilettantismus nennt der Erzähler die Beifallssucht an dritter Stelle. Er erklärt denjenigen zum Künstler, der sein Werk unabhängig davon schafft, ob es je der Öffentlichkeit zugänglich wird: »[D]er wahre Dichter und Künstler findet und hofft seine Belohnung nicht erst in dem Effekt, den sein Werk machen wird, sondern er findet in der Arbeit selbst Vergnügen, und würde dieselbe nicht für verloren halten, wenn sie auch niemanden zu Gesicht kommen sollte.« (ebd. S. 499). – Zu Aufbau und Struktur des Kriterienkatalogs vgl. Berndt (Anm. 66). S. 88. Vgl. Anm. 128. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 363.

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sischen Schauspieltheorie intensiv diskutiert wurde250 – vorausgeht, bezeichnet der Erzähler ihn als »Heuchler«251: Über die Entstehung des Gedichts zum Tode M…s berichtet der Erzähler : Statt nun, daß er dies Gedicht hätte machen sollen, weil er über diesen Vorfall betrübt war, suchte er sich vielmehr selbst in eine Art Betrübnis zu versetzen, um auf diesen Vorfall ein Gedicht machen zu können. – Die Dichtkunst machte ihn also diesmal wirklich zum Heuchler.252

Tatsächlich macht das Dichten Anton nicht (nur) zum Heuchler, sondern (eben auch) zum Schauspieler : Er lernt Gedichte »wegen des deklamatorischen Ausdrucks, der darin herrschte«253, auswendig, wie ein Schauspieler eine Rolle lernt.254 Außerdem untermalt Anton seine Gedichtvorträge mit Gesten, die als theatrale Pathosformeln – oder in zeitgenössischer, kritischer Diktion: affektierte – Körperhaltungen255 einzuordnen sind: 250 Diese Diskussion ist sehr differenziert und darf nicht dahingehend verkürzt werden, dass Einfühlung und Distanz sich dichotomisch gegenüberstünden. Auch Vertreter eines reflektierten Spiels setzen sich mit der Einfühlung auseinander und binden sie in ihr Konzept ein. Francesco Riccoboni zum Beispiel erklärt die Bemeisterung der eigenen Seele mit dem Ziel, »sie nach Belieben der Seele eines anderen ähnlich [zu] machen« zum »Hauptwerk der Kunst.« Die unreflektierte Einfühlung ist schließlich der Effekt, den die reflektierte Einfühlung des/der Schauspieler_in bei den Zuschauer_innen erreichen soll. Aus einem solchen Spiel nämlich »entspringt die so vollkommene Vorstellung, welcher sich die Zuschauer notwendig überlassen müssen und die sie wider Willen mit sich fortreißt.« Francesco Riccoboni: Die Schauspielkunst. L’Art du th8.tre, 1750. Übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing. Hg., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Gerhard Piens. Heidelberg 1954. S. 76. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 251 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 327. 252 Ebd. 253 Ebd. S. 345. 254 Exemplarisch für die zahlreichen Stellen im Text, an denen von Deklamieren die Rede ist, vgl. auch ebd. S. 347: »Da nun dies Gedicht auch seines Freundes völligen Beifall fand, so lernte er es auswendig, und den nächsten Tag in der Woche, da Deklamationsübung war, nahm er sich vor, es zu deklamieren.« Ähnlich hat Lothar Müller das Auswendiglernen der Predigten und die Verehrung der rhetorischen Fähigkeiten des Pators P. als Vorboten der späteren Theatromanie gelesen (vgl. Lothar Müller : Die Erziehung der Gefühle [Anm. 75]. S. 10, S. 12 und S. 17). Zum Dilettanten im Schauspiel wird Anton u. a. deshalb, weil er – im Sinne der Moritzschen Ästhetik – seine Bewunderung für große Auftritte mit der eigenen Fähigkeit zu solchen verwechselt. 255 Vgl. z. B. Daniel Chodowieckis Stichserie Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens (1778/1779). Angesichts Antons Versuch, den Pastor M. durch eine »theatralische Scene« (Moritz: Anton Reiser [Anm. 4]. S. 288), die sog. »Fußfallscene« (ebd. S. 289), für sich einzunehmen, stellt der Erzähler ebenfalls eine Verbindung von Schauspiel, Affektiertheit und Heuchelei her : »Wäre es ihm diesmal mit der angelegten Scene gelungen, wer weiß, wozu er in der Folge noch geschritten, und was für Rollen er noch würde gespielt haben. – Vielleicht war dies eben der entscheidende Augenblick, wo sein Schicksal, ob er ein Heuchler und Spitzbube werden, oder ein aufrichtiger Mensch bleiben sollte, auf der Spitze stand. – Die ganze Fußfallszene wäre doch im Grunde, obgleich nicht offenbare Heuchelei

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Die letzte Strophe […] deklamierte er mit einem wirklichen Pathos, das er in Stimme und Bewegung äußerte, und blieb, nachdem er schon stillgeschwiegen hatte, noch einen Augenblick mit emporgehobnem Arm stehen, der gleichsam ein Bild seines fortdauernden unaufgelösten schrecklichen Zweifels blieb.256

Die hier aufgerufenen Assoziationen zu Johann Jakob Engels 1785/86 erschienener Schrift Ideen zu einer Mimik sollen nicht undiskutiert bleiben. Engels Ideen zu einer Mimik bieten eine »Systematisierung der körpersprachlichen Zeichen [… als] Systematisierung der immer mitgedachten Seelenzustände«257, d. h. die Pathognomik gelangt bei Engel »zu einer theoretischen Fortsetzung und zur praktischen Anwendung auf die Schauspielkunst.«258 Theoretisch geht also die »Ablösung der streng konventionalisierten, typenhaften Theatergebärden der Barockbühne durch eine psychologisch fundierte körperliche Ausdruckssprache […] mit der anthropologischen Forschung Hand in Hand.«259 Mit seiner Körpergeste der Pathosformel fällt Anton gewissermaßen aus seiner schauspielgeschichtlichen Gegenwart. Er pflegt einen gestischen Stil, der sowohl in der zeitgenössischen Schauspieltheorie als auch in der Theaterpraxis bereits überholt ist. Neben der Integration gestischen Spiels in das Deklamieren seiner – man wäre versucht zu sagen: (Rollen-) – Gedichte, verweist Antons künstlerisches Schaffen qua Einfühlung auch im Falle des Scheiterns in den Bereich der Schauspieltheorie. Schwierigkeiten machen Anton nämlich Themen (und später Rollen), die seinem Einfühlungsvermögen nicht zugänglich sind. Anton erhält beispielsweise den Auftrag, für jemanden verliebte Klagen zu dichten. – Eine Situation, in welche er sich mit aller Anstrengung nicht versetzen konnte, […] weil er gar nicht glaubte, daß er von einem Frauenzimmer je geliebt werden könnte […]; so konnte er sich nie in die Lage eines

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und Verstellung, doch wenigstens Affektation gewesen, und der Übergang von der Affektation zur Heuchelei und Verstellung, wie leicht ist der!« Ebd. S. 289f. Ebd. S. 348. Rainer Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Berlin 1995. S. 76. Alexander Kosˇenina geht in erklärter Abgrenzung zu anderen Positionen in der Forschung davon aus, dass Engel die anthropologischen Entdeckungen der Zeit seiner Theorie der mimischen Körpersprache zugrunde legt (vgl. Kosˇenina: Anthropologie und Schauspielkunst [Anm. 236]. S. 156). Konkret ordnet Kosˇenina Engels Zuweisung bestimmter Gebärden zu bestimmten Gefühlen oder Stimmungen in den anthropologischen Zusammenhang der influxus-Theorie ein (vgl. ebd. S. 11). Im Horizont des Werks Karl Philipp Moritz’, welches die Affinität von Experimentalseelenlehre und Theater in unterschiedlicher Form durchdekliniert, erscheint mir diese These auf Anton Reiser – konkret auf Anton Reisers pathetisches Spiel – bezogen, sehr plausibel. Ebd. S. 114. Ebd. S. 25.

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solchen setzen, der darüber klagt, daß er nicht geliebt wird – was er also hievon wußte, das dachte er sich bloß, ohne es je empfinden zu können. –260

Dass es gerade das Gefühl des Verliebtseins bzw. Geliebtwerdens ist, das sich Antons einfühlsamem Zugriff entzieht, ist textintern vorrangig biographisch begründet. Zugleich aber ist nicht zu übersehen, dass Antons Problematik diskursiv mit der zeitgenössischen Diskussion um den angemessenen schauspielerischen Stil verknüpft ist. Pierre R8mond de Sainte Albine, der Hauptvertreter des einfühlenden Spiels, nennt 1747 in seiner Schrift Le Com8dien ausgerechnet die Liebe als die Emotion, welche sich nicht qua Einfühlung erfassen lässt. Lessing referiert diese Schrift in seiner Theatralische[n] Bibliothek: Das vierte Hauptstück beweiset, daß nur diejenigen Personen allein, welche geboren sind zu lieben, das Vorrecht haben sollten, verliebte Rollen zu spielen. […] [D]enn eine wahre Zärtlichkeit auszudrücken, dazu ist alle Kunst nicht hinlänglich. Man mag sich auch noch so sehr bestreben, das unschuldige und rührende Wesen derselben zu erreichen, es wird doch noch immer von der Natur ebenso weit unterschieden sein, als es die frostigen Liebkosungen einer Buhlerin von den affektvollen Blicken einer aufrichtigen Liebhaberin sind. […] In den zärtlichen Rollen aber kann man ebensowenig die Augen als die Ohren betriegen, wenn man nicht von der Natur eine zur Liebe gemachte Seele bekommen hat.261

Es ist bemerkenswert, dass der Erzähler dies im Bereich der Poesie nicht als Problem betrachtet. Eine vernunftgesteuerte Herangehensweise an die Darstellung der Liebe führt seiner Ansicht nach im Gegenteil zum Gelingen des entsprechenden Gedichts: »Demohngeachtet gerieten ihm die verliebten Klagen, die er entwarf, nicht ganz übel, weil er das kurz darin zusammendrängte, was er aus Romanen und Philipp Reisers Unterredungen wußte. –«262 Dass sich diese Einschätzung mit dem ersten »untrügliche[n] Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichter habe«263 im ›Dilettantismus-Schema‹ des Erzählers deckt, lässt auch Rückschlüsse auf die Verortung des Erzählers im Hinblick auf die Schauspieltheorie zu. Nicht seltener als fünfmal in zwei Sätzen fällt die – aus der Perspektive des Erzählers – den Dilettantismus markierende Vokabel »Empfindung«264.

260 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 366f. 261 Gotthold Ephraim Lessing: Auszug aus dem »Schauspieler« des Herrn Remond von Sainte Albine. In : Gotth. Ephr. Leßings Theatralische Bibliothek. Erstes Stück. Berlin 1754. (= Lessings Werke Fünfter Teil: Theatralische Bibliothek. Hg. von R. Boxberger. Stuttgart/Berlin 1974. S. 128–159. Hier: S. 139f.) 262 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 367. 263 Ebd. S. 497. 264 Komplett lautet das Zitat: »Es ist wohl ein untrügliches Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß eine Empfindung im Allgemeinen zum Dichten veranlaßt, und bei dem nicht die schon bestimmte Scene, die er dichten will, noch eher als diese Empfindung, oder wenigstens zugleich mit der Empfindung da ist. Kurz, wer nicht während der Emp-

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»Kurz, wer nicht während der Empfindung zugleich einen Blick in das ganze Detaille der Scene werfen kann, der hat nur Empfindung, aber kein Dichtungsvermögen.«265 Die Anforderung an den Dichter, auch im Zustand der Empfindung den Überblick über das Textganze wahren zu können, entspricht der Anforderung derjenigen Schauspieltheoretiker, die für eine (kritische) Distanz zur Rolle plädieren, an die Darsteller. Francesco Riccoboni beispielsweise, dessen Schrift L’Art du th8.tre von 1750 durch die Übersetzung Lessings die deutsche Debatte um die Schauspieltheorie maßgeblich geprägt hat, nennt die »Einsicht« – so Lessings Übersetzung von »l’intelligence«266 – »die vorzüglichste theatralische Gabe«.267 Und Denis Diderot listet im zwischen 1773 und 1777 verfassten Paradoxe sur le Com8dien folgende Grundeigenschaften des großen Schauspielers auf: Ce qui me confirme dans mon opinion, c’est l’in8galit8 des acteurs qui jouent d’.me. Ne vous attendez de leur part / aucune unit8; […] Au lieu que le com8dien qui jouera de r8flexion, d’8tude de la nature humaine, d’imitation constante d’aprHs quelque modHle id8al, d’imagination, de m8moire, sera un, le mÞme / toutes les repr8sentations, toujours 8galement parfait. Tout a 8t8 mesur8, combin8, appris, ordonn8 dans sa tÞte;268

Die zentrale Stelle nochmals in der deutschen Übersetzung: »Ich verlange von ihm sehr viel Urteilskraft; er muß meiner Meinung nach ein kalter, ruhiger Beobachter sein. Darum fordere ich von ihm durchdringenden Verstand und keinerlei Gefühl […].«269 Nicht zuletzt positioniert sich der Erzähler auch explizit hinsichtlich des schauspieltheoretischen Diskurses: Er tut dies z. B. wenn er vermerkt, dass die »damalige Ackermannsche Truppe […] fast alle […] Zierden aller Bühnen Deutschlands, in sich vereinigte.«270 Konkret bezeichnet der Erzähler u. a. Reinicke, Ackermann und Schröder als »vortreffliche[…]

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findung zugleich einen Blick in das ganze Detaille der Scene werfen kann, der hat nur Empfindung, aber kein Dichtungsvermögen.« Ebd. Ebd. Alessandro Costazza führt dieses Kriterium als Beleg für die antiempfindsame Stoßrichtung des Textes an. Vgl. Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 237). S. 215. Gerhard Piens: Einleitung. In: Francesco Riccoboni: Die Schauspielkunst. L’Art du th8.tre, 1750. Übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing. Hg., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Gerhard Piens. Heidelberg 1954. S. 5–49. Hier : S. 28. Riccoboni (Anm. 250). S. 70. Riccoboni setzt sich auch explizit mit der Empfindung auseinander und grenzt sie speziell von der Zärtlichkeit ab. Im Kapitel »Das Zärtliche« schreibt er : »Die zärtlichen Stellen sind diejenigen, welche man sonst gemeiniglich Empfindungen nennt. Dieser Ausdruck aber ist allzu allgemein; ich will mich also lieber des Wortes ›Zärtlichkeit‹ bedienen, welches mir eigentlicher und bestimmender zu sein scheint.« Ebd. S. 79. Denis Diderot: Paradoxe sur le com8dien. In: Denis Diderot. Œuvres complHtes. Tome XX: Paradoxe sur le com8dien. Critique III. Ed. par H. Dieckmann et J. Varloot. Paris 1995. S. 43–128. Hier: S. 49f. Denis Diderot: Paradox über den Schauspieler. Übersetzt von Katharina Scheinfuß. Mit einem Nachwort von Reinhold Grimm. Frankfurt/M. 1964. S. 8. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 269.

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Schauspieler«271. Die genannten Schauspieler stehen für einen natürlich-realistischen Stil,272 jedoch nicht für eine empfindsame Identifikation mit der Rolle.273 Friedrich Ludwig Schröder beispielsweise praktizierte eine Technik der Gemütserregung, bei der er selber kalt blieb.274 Eine Lesart von Anton Reiser, die den Text als ›Ort‹ versteht, an dem der pädagogische und der ästhetische Diskurs poetisch verflochten werden, darf zusätzlich darauf hinweisen, dass der fingierte Herausgeber Karl Philipp Moritz in seinen Schriften zur Erfahrungsseelenkunde mit dem Selbstbeobachterparadox ebenfalls einem Problem begegnet, das mit dem Schauspielparadigma konvergiert. Diderot fordert den Schauspieler auf, ein »kalter, ruhiger Beobachter [zu] sein«275. Moritz’ dritte Fassung der Beiträge zur Philosophie des Lebens von 1780 enthält einen Anhang über Selbsttäuschung, in dem er die Devise ausgibt, zum kalten Beobachter seiner selbst werden, um der Selbsttäuschung entgehen zu können.276 Nimmt man dies ernst, tritt der Selbstbeobachter »[i]n der Rolle des Zuschauers […] also dem eigenen Ich als Agenten auf der Bühne gegenüber. Damit wird sein Authentizitätsanspruch aporetisch, das naturhafte Innere mittels psychologischer Selbstreflexion empirisch beobachtend hervorzubringen.«277 Der Aufruf des Erzählers von Anton Reiser zur Distanz271 Ebd. S. 378: »[M]an spielte den Kalvigo, Brockmann den Beaumarchais, Reinicke den Klavigo, die älteste Dem. Ackermann (die jüngere war damals schon gestorben) spielte die Maria, Schröder den Don Carlos, die Reinicken die Schwester der Maria, Schütz den Buenko, und Böheim den Freund des Beausmarchais. – So vortrefflich war die Rollenbesetzung in diesem Stück bis auf die unbedeutendsten Nebenrollen. – Reiser kannte alle diese vortrefflichen Schauspieler«. 272 Vgl. Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. Tübingen 1982. S. 154f und Kosˇenina: Anthropologie und Schauspielkunst (Anm. 236). S. 70. 273 Lothar Müller interpretiert auch die Positionierung des Erzählers zu Antons Schauspielverständnis nach dem Muster von Arzt und Patient: »Der moralische Arzt kommt in seiner psychologischen Kritik der Theatromanie der Forderung nach dem Kunstschauspieler nahe, der seine eigenen Gefühle und seine partikulare Individualität der kalkulierten Illusionserzeugung zu opfern habe.« Müller : Die kranke Seele (Anm. 84). S. 357. 274 Susanne Eigenmann: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin: Hamburger Theater im späten 18. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994. S. 104. 275 Diderot: Paradox über den Schauspieler (Anm. 269). S. 8. 276 Denn »[e]s ist der düstre umnebelte Blick, welcher den reichen Fond von Anlässen zu allem Großen und Schönen, der in der Menschheit schlummert nicht wahrnimmt […].« Karl Philipp Moritz: Über Selbsttäuschung. In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1999. S. 902–905. Hier: S. 905. 277 Thums: Die schwierige Kunst der »Selbsterkenntnis – Selbstbeherrschung – Selbstbelebung« (Anm. 5). S. 153. Erfahrungsseelenkundlich wird Moritz’ Authentizitätsanspruch aporetisch, aber auch die Aporien der entsprechenden Schauspieltheorie werden sichtbar : Unter dem Einfluss der Anthropologie entsteht dort nämlich »die paradoxe Situation, daß die auf der Weltbühne öffentlich geschmähte Künstlichkeit auf dem Theater eingesetzt wird, um dort für das allgemein geforderte Ideal der Aufrichtigkeit und Natürlichkeit mit artifiziellen Mitteln zu werben.« (Kosˇenina: Anthropologie und Schauspielkunst [Anm. 236].

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nahme von der eigenen Empfindung und zur Steigerung der Reflexionsleistung kann neben der poetischen Produktion also auch auf die schauspielerische Produktion bezogen werden. Er nimmt damit eine Position ein, die völlig konträr beispielsweise zu derjenigen R8mond de Sainte Albines ist. In Lessings kommentierter Übersetzung von Le Com8dien heißt es: »›Wollen die tragischen Schauspieler‹, sagt der Verfasser [= de Sainte Albine], ›uns täuschen, so müssen sie sich selbst täuschen. Sie müssen sich einbilden, daß sie wirklich das sind, was sie vorstellen‹«.278 Moritz erklärt in seiner Ästhetik die in einem ausgeprägten Empfindungsvermögen gründende Selbsttäuschung zum Wesen des Dilettantismus. In Über die bildende Nachahmung des Schönen schreibt er : Je vollkommener das Empfindungsvermögen für eine gewisse Gattung des Schönen ist, um desto mehr ist es in Gefahr sich zu täuschen, sich selbst für Bildungskraft zu nehmen, und auf diese Weise durch tausend mißlungne Versuche, seinen Frieden mit sich selbst zu stören.279

Durch Selbsttäuschung den Frieden mit sich selbst zu stören, verbindet wiederum den künstlerischen Dilettanten Anton mit dem Autodidakten Anton. Zur Erinnerung: Analog zur Autodidaktik, die für Anton ihr Versprechen auf gelingende Selbstbildung nicht halten kann, sondern vielmehr durch die einseitige Überbelastung der Geisteskräfte zum Verfall des Körpers beiträgt, wirkt auch das Schaffen nach dem selbstbildenden Prinzip der laterna magica bei Anton S. 17) In den Augen Beate Hochholdinger-Reiterers ist es »eine der augenfälligsten Besonderheiten innerhalb dieses frühen schauspieltheoretischen Diskurses […], dass man gerade in dem Moment über die Grundlagen, Herstellungsweisen und Regeln des Schauspielens zu reflektieren beginnt, als das Spiel als solches verschleiert und unkenntlich gemacht werden soll.« (Beate Hochholdinger-Reiterer : Zu den Anfängen einer Theoretisierung von Schauspielkunst im deutschsprachigen Raum. In: Maske und Kothurn 54 (2008)-4. S. 107–119. Hier : S. 107.) Die Paradoxie der realistisch-natürlichen Schauspielkunst liegt darin, dass sie Authentizität und Natürlichkeit im dazu allein schon räumlich nicht geeigneten Medium Theater fordert (vgl. ebd. S. 117). Helmut J. Schneider illustriert dieses Problem am Konzept der vierten Wand: »Theoretisch zu Ende gedacht, handelte es sich hier [= beim Illusionstheater] um ein Theater gegen die eigentliche Natur des Theaters, ein anti-theatralisches Theater gewissermaßen, in dem die fundamentale Voraussetzung jeder theatralischen Darstellung, Zuschauer und Schauspieler zu gleicher Zeit in einem Raum zu versammeln, aufgehoben war.« Helmut J. Schneider : Der imaginäre Körper der Menschheit. Die Konzepte der Sympathie und Einfühlung und die neue Dramaturgie im 18. Jahrhundert. In: Claudia Berger und Fritz Breithaupt (Hg.): Empathie und Erzählung. Freiburg i.Br. 2010. S. 107–129. Hier: S. 107. 278 Lessing: Auszug aus dem »Schauspieler« des Herrn Remond von Sainte Albine (Anm. 261). S. 136. Francesco Riccoboni, der die Gegenposition vertritt, argumentiert auch mit dem Scheinhaften, allerdings mit der notwendigen Scheinhaftigkeit der Identifikation mit der Rolle: »Den Ausdruck nennt man diejenige Geschicklichkeit, durch welche man die Zuschauer diejenigen Bewegungen, worein man selbst versetzt zu sein scheint, empfinden läßt. Ich sage: man scheint darein versetzt zu sein, nicht, daß man wirklich darein versetzt ist.« Riccoboni (Anm. 250). S. 73. 279 Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen (Anm. 8). S. 976.

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pathogen: »Über diesen immer wiederholten vergeblichen Anstrengungen eines falschen Dichtungstriebes, erlag er endlich, und verfiel selbst in eine Art Lethargie und völligem Lebensüberdruß.«280 Anton unterliegt einer fatalen körperlichen Verinnerlichung – einer Ein-ver-leib-ung – seines poetischen Gegenstandes, des Chaos’ vor der Schöpfung: Zwei Wochen isst er kaum und schläft nur noch, »wodurch er den Zustand, den er vergeblich zu besingen gestrebt hatte, nun gewissermaßen in sich selber darstellte. Er schien aus dem Lethe getrunken zu haben, und kein Fünkchen von Lebenslust mehr bei ihm übrig zu sein.«281 Aber Anton hat auch dichterische Erfolge zu verbuchen:282 Das erste Kriterium im ›Dilettantismus-Schema‹ des Erzählers, der poetische Gegenstand müsse vor oder zumindest gleichzeitig mit der poetischen Empfindung im Dichter existieren, erfüllt Anton zuweilen. Sobald er – bspw. in Form eines Auftragsgedichts – mit »einer äußern Veranlassung, die seiner Einbildungskraft einen ungewöhnlichen Schwung zu geben vermochte«283, konfrontiert ist, gelingt es ihm, Texte zu verfassen, die der Erzähler als poetisch wertvoll einstuft: Dies Gedicht floß gleichsam aus seiner Seele – Selbst der Reim und das Versmaß machte ihm nur wenige Schwierigkeit, und er schrieb es in weniger als einer Stunde nieder. – Nachher fing er bald an, Gedichte zu machen, bloß um Gedichte zu machen, und dies gelang ihm nie so gut.284

Ist das Thema vor der Empfindung da, wird Antons Produktion also durch Impulse von außen stimuliert, gelingt sein Schreiben. Dilettantisches produziert Anton, wenn er es ist, der die Muse sucht,285 wenn er ohne äußere Veranlassung und einzig dem l’art pour l’art-Prinzip verpflichtet Gedichte macht, »bloß um Gedichte zu machen«286. Martina Wagner-Egelhaaf setzt diese Form selbstbezüglichen Schaffens mit literarischer Autonomie gleich.287 Da diese jedoch nicht 280 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 511f. 281 Ebd. S. 512. 282 Und dies auch ganz konkret: Antons »Name als Schriftsteller [wurde] unter den Erfurtischen Bürgern bekannt«. Ebd. S. 484. 283 Ebd. S. 315. Von einer »(äußeren) Veranlassung« oder einem »(äußeren) Anlass« ist im Text nicht seltener als fünf Mal die Rede. Vgl. ebd. S. 315, S. 330, S. 331, S. 504 und S. 505. 284 Ebd. S. 324f. 285 »Und hier [= in der Natur] besuchte ihn auch zuweilen die Muse, oder vielmehr, er suchte sie – Denn er bemühte sich jetzt, ein großes Gedicht zu Stande zu bringen, und weil er diesmal bloß dichten wollte, um zu dichten, so gelang es ihm nicht, wie vorher; der Wunsch, ein Gedicht zu machen, war diesmal eher bei ihm da, als der Gegenstand, den er besingen wollte, woraus gemeiniglich nicht viel Gutes zu folgen pflegt. – Die Gedanken waren diesmal gesucht, oder gemein – man sahe, was er schrieb, hatte sollen ein Gedicht werden –« Ebd. S. 326. 286 Ebd. S. 325. 287 »Wenn Melancholie, nicht nur von Freud, als Trauer ohne Anlaß bestimmt wurde, stellt Reisers von jeglichem Anlaß losgelöstes, nur um seiner selbst willen verfaßtes Trauerge-

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völlig deckungsgleich mit der von Moritz formulierten Autonomieästhetik ist, empfiehlt es sich – um Missverständnisse zu vermeiden –, von »Selbstbezüglichkeit« zu reden. Schließlich ist Autonomie in Anton Reiser von einer negativ konnotierten Form der Selbstbezüglichkeit nie zu trennen. Die pädagogische Variante der Autonomie, die Autodidaktik, ist Bedingung und Folge eines strukturellen Autismus; die literarische Variante der Autonomie, die laterna magica- bzw. l’art pour l’art-Poetologie, bildet die Grundlage für Antons dilettantisches Schreiben. Der Roman Anton Reiser modelliert eine Konstellation, die poetisches Gelingen in Austauschbeziehungen zwischen Dichter und Umwelt situiert und der Selbstbezüglichkeit den Dilettantismus zuordnet. Damit macht der Text erneut die Aporien der Transferprozesse, die der Erzähler vornimmt, transparent. Die Überlagerung pädagogischen und poetologischen Wissens nimmt den Kunstkriterien des Erzählers ihre Konsistenz. In pädagogischer Hinsicht induziert der Erzähler selbst einen performativen Widerspruch, indem er sich zu seinem Lesepublikum in einen erzieherischen Fremdbezug setzt. Auf der poetologischen Ebene führt der Text einen solchen Widerspruch herbei, indem er zeigt, dass Antons Erfolge und sein Dilettieren nicht nach Maßgabe der Kriterien des Erzählers erfasst werden können.288 An Anton Reisers gelingender Poesie wird schließlich auch das pädagogische Projekt des Erzählers gespiegelt. Dieses situiert der Erzähler in einem pädagogischen Fremdbezug, der zum Dichten nach äußerer Veranlassung, dem poetischen Fremdbezug, parallel steht. Einer camera obscura vergleichbar289 projiziert der Erzähler Bilder, die Geschichte Anton Reisers, in die Köpfe der zu erziehenden Leser_innen.290 Der Umkehrung des Bildes entspricht die Abkehr von Anton, die die Leser_innen zu leisten haben, um sich dann ein Vor-bild nehmen zu können. Textintern sind Antons künstlerisches und sein lernendes Dilettieren über das Prinzip der Selbstbezüglichkeit verwandt, beide Male steht eine massive Störung des

dicht ein exemplarisches Dokument sowohl der literarischen Autonomie als auch der Melancholie dar.« Wagner-Egelhaaf (Anm. 243). S. 375f. 288 Alo Allkemper führt das Versagen der Kategorien darauf zurück, dass sie willkürlich und nicht hinreichend begründet seien. Vgl. Allkemper (Anm. 6). S. 201. 289 Zur »metaphorisch-epistemologisch-poetologische Begegnung […], die dem Schriftsteller nicht eine Kamera in die Hand drückt, sondern ihn selbst in eine Kamera verwandelt und dies lange bevor die Kamera zu einem beweglichen, tragbaren Medium wird«, vgl. übergeordnet Bernd Stiegler: Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik. München 2009. S. 110. 290 Bruno Preisendörfer geht noch einen Schritt weiter, wenn er dieses Erzählverfahren als ein theatrales bestimmt und folglich einen performativen Widerspruch zur inhaltlichen Kritik an der Theatromanie feststellt (vgl. Preisendörfer [Anm. 6]. S. 63). Diese Lesart lässt sich dahingehend unterstützen, dass der Erzähler im theatralen Paradigma agiert, wenn er wie ein Regisseur dramaturgische Eingriffe – etwa in Form von Umstellungen in der Chronologie – vornimmt und Lektüreanweisungen gibt.

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leib-seelischen Gleichgewichts am Ende des Prozesses.291 Und auch auf dieser Ebene sucht Anton Kompensation im Schauspiel: Das Theater ist ihm nicht nur »Kunstbedürfnis«, sondern auch »Lebensbedürfnis«.292 Die bereits skizzierten Wechselbezüge zwischen poetischem und schauspielerischem Dilettantismus sollen nun noch unter diesem Aspekt fokussiert werden.

III.2. Einfühlung anthropologisch, Einfühlung schauspielerisch Dass Schauspiel bzw. Theater im Falle Antons v. a. anthropologisch zu denken ist, erläutert der Erzähler in der Vorrede zum vierten Teil des Romans: Aus den vorigen Teilen dieser Geschichte erhellet deutlich: daß Reisers unwiderstehliche Leidenschaft für das Theater eigentlich ein Resultat seines Lebens und seiner Schicksale war, wodurch er von Kindheit auf, aus der wirklichen Welt verdrängt wurde, und da ihm diese einmal auf das bitterste verleidet war, mehr in Phantasien, als in der Wirklichkeit lebte – das Theater als die eigentliche Phantasiewelt sollte ihm also ein Zufluchtsort gegen alle diese Widerwärtigkeiten und Bedrückungen sein. – Hier allein glaubte er freier zu atmen, und sich gleichsam in seinem Elemente zu befinden.293

Die durch den Namen des fingierten Herausgebers etablierte Öffnung des Textes in Richtung einer Diskursvernetzung von Erfahrungsseelenkunde und Theater konkretisiert in der Geschichte bspw. der Bericht des Erzählers über Antons Lesungen: Wenn Anton, sobald »er rund um sich her jedes Auge in Tränen erblickte, […] darin den Beweis las, daß ihm sein Endzweck, durch die Sache, die er vorlas, zu rühren gelungen war«294, bindet auch die Figur selbst den theatralen Vortrag an anthropologische Kategorien an. Antons Les-art der Zuschauer_innen illustriert sein Vertrauen in die Beglaubigungsfunktion des Körpers für das Denken und Empfinden. Authentizität, semiotisch gesprochen: eine Deckungsgleichheit von Signifikant und Signifikat, ist für Anton – angesichts auch seiner Erfahrung des Versagens der begrifflichen Sprache – nur von der Körpersprache zu erwarten.295 Damit bewegt sich Anton mitten im schauspieltheoretischen Diskurs seiner Zeit. Anton Reiser verhandelt Theater also nicht nur als ein anthropologisches Bedürfnis, sondern bespielt diesen Komplex auch

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Vgl. S. 128f., S. 163 und S. 174 dieser Arbeit. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 504. Ebd. S. 414. Ebd. S. 261f. Für die Darstellung von Ideen bzw. Abstrakta sind körperliche Gebärden jedoch ähnlich untauglich wie die begriffliche Sprache. Vgl. dazu auch Diderots Brief über die Taubstummen.

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von der umgekehrten Seite: Der Roman reflektiert zeitgenössische Positionen der Schauspieltheorie mit Fokus auf deren anthropologische Dimension.296 Dem Umstand, dass Theater und Schauspiel für Anton anthropologische Bedürfnisse sind, räumt der Text viel Platz ein.297 Nennen möchte ich je ein Beispiel mit Anschlussstellen an die zeitgenössische pädagogische und poetische sowie an die dramen- und schauspieltheoretische Debatte. Die Rolle des Guelfo aus Friedrich Maximilian Klingers Sturm-und-Drang-Drama Die Zwillinge ist Antons Lieblingsrolle, »denn er fand sein Hohngelächter über sich selber, seinen Selbsthaß, seine Selbstverachtung und Selbstvernichtungssucht, dennoch mit Kraft vereint, in dem Guelfo wieder.«298 Die viermalige Wiederholung von »selber« bzw. »selbst« – das Prinzip der Selbstbezüglichkeit also – bindet Antons Neigung zum Schauspiel an sein autodidaktisches Lernen und sein poetisches Dilettieren zurück. Antons Einfühlungsvermögen, welches im Theater in hohem Maße zur Geltung kommen kann, weist den Weg in die Dramentheorie des 18. Jahrhunderts: »Die häufigen Tränen, welche er oft beim Buche, und im Schauspielhause vergoß, flossen im Grunde eben sowohl über sein eignes Schicksal, als über das Schicksal der Personen, an denen er Teil nahm […]«.299 Die Anklänge an Lessings Hamburgische Dramaturgie sind hier nicht zu übersehen.300 Zugleich schließt die Tatsache, dass es gerade die Tränen sind, die das Mitleid in Form eines körperlichen Zeichens beglaubigen, Antons Einfühlungsvermögen mit seiner/der Empfindsamkeit kurz. Anders als im Lessingschen Paradigma, ist Antons Mitleid keine erst von bzw. in der theatralen Situation erzeugte, auf sich selbst bezogene Furcht. Das Stück ist kein erster, 296 Was für Anton Reiser im Speziellen gilt, hat Alexander Kosˇenina als allgemeine Signatur des Verhältnisses von Anthropologie und Schauspieltheorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausgearbeitet. Kosˇenina vertritt die These, »Anthropologie und Schauspielkunst bilde[te]n […] [zu dieser Zeit] eine immer engere Liaison.« (Kosˇenina: Anthropologie und Schauspielkunst [Anm. 236]. S. 7f) Diese Liaison erläutert er ausführlich u. a. an Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik. Kosˇenina stellt dar, dass Engel die Entstehung der eloquentia corporis aus psychischen Ursachen herleitet. Vgl. ebd. S. 162f. 297 Vgl. ganz prominent: »Sein höchstes Glück war aber nun einmal der Schauplatz; denn das war der einzige Ort wo sein ungenügsamer Wunsch, alle Scenen des Menschenlebens selbst zu durchleben, befriedigt werden konnte. Weil er von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte, so zog ihn jedes Schicksal, das außer ihm war, desto stärker an; daher schrieb sich ganz natürlich wegen seiner Schuljahre, die Wut, Komödien zu lesen und zu sehen. – Durch jedes fremde Schicksal fühlte er sich gleichsam sich selbst entrissen, und fand nun in andern erst die Lebensflamme wieder, die in ihm selber durch den Druck von außen beinahe erloschen war.« Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 442. 298 Ebd. S. 423. 299 Ebd. S. 271. 300 Vgl. v. a. das Siebenundsiebzigste Stück in Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: Lessings Werke. Hg. von Kurt Wölfel. Zweiter Band: Schriften I. Schriften zur Poetik, Dramaturgie, Literaturkritik. Frankfurt/M. 1967. S. 427–431.

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äußerer, die Einfühlung erst qua Illusion generierender Anlass; als biographisch herleitbares Vorgefühl geht die Empfindung Antons Theaterbesuchen und seinem Theaterspiel immer schon voraus. Die Selbstbezüglichkeit und die (Selbst)Täuschung bündeln dann die Bezüge zwischen Antons anthropologischem Darstellungsbedürfnis und der Schauspieltheorie, auf die nun ausführlicher eingegangen werden soll. Als der Klavigo probiert wurde, hatte er sich in eine der Logen versteckt – und während daß I… als Beaumarchais auf dem Theater wütete, wütete Reiser, der in der Loge ausgestreckt am Boden lag, gegen sich selber, und seine Raserei ging so weit, daß er sich das Gesicht mit Glasscherben, die am Boden lagen, zerschnitt, und sich die Haare raufte. – Denn die Erleuchtung, die Blicke unzähliger Zuschauer, alle auf ihn allein hingeheftet, und sich, vor allen diesen forschenden Blicken seine innersten Seelenkräfte äußernd, durch die Erschütterung seiner Nerven auf jede Nerve der Zuschauer wirkend – das alles wurde ihm in dem Augenblick gegenwärtig – und nun sollte er nichts, wie unter der Menge verloren, ein bloßer Zuschauer sein, wie er jetzt war, während daß ein Dummkopf, der den Klavigo spielte, alle Aufmerksamkeit auf sich zog, die ihm, dem stärker empfindenden, gebührt hätte.301

Mit der Autoaggression tritt eine weitere Form der Selbstbezüglichkeit auf den Plan. Die Parallelführung der gespielten Wut I…s und der authentisch empfundenen Wut Antons ist mit zwei unterschiedlichen Auffassungen von Schauspiel konnotiert: I…, die August Wilhelm Iffland nachempfundene Figur, »war zum Schauspieler geboren«302 und macht eine große Karriere.303 Da Iffland historisch für einen reflektierten Schauspielstil steht,304 ist hier Antons Dispo301 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 394. Später identifiziert sich Anton nicht mehr mit Klavigo, und mit diesem rücken auch die Tränen in die Vergangenheit. Das empfindsame Modell wird jedoch nicht abgelöst, sondern lediglich mit anderen Rollenvorbildern besetzt: »Klavigo, der ihm so viele Tränen gekostet hatte, war ihm nun zu kalt, und Beaumarchais trat an seine Stelle. – Dann kamen Hamlet, Lear, Othello, an die Reihe, die damals noch auf keiner deutschen Bühne vorgestellt wurden, und die er seinem Philipp Reiser ganz allein in schauervollen Nächten vorgelesen, und alle diese Rollen selbst durchgespielt, selbst durchempfunden hatte.« Ebd. S. 423. 302 Ebd. S. 217. 303 Vgl. ebd. S. 395. Zur These, die Konkurrenz zwischen Anton und I… sei nicht eine zwischen Genialität und Dilettantismus, sondern eine zwischen denkendem und empfindsamem Schauspieler, vgl. Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 237). S. 192–194. 304 Interessanterweise äußert sich Iffland in einem Aufsatz Ueber den Hang Schauspieler zu werden explizit zum Roman Anton Reiser. Er schreibt: »Junge Leute von angegriffener, kränkelnder Imagination, die sich als Dichter oder Schriftsteller ohne Erfolg versucht, in der Liebe Unglück gehabt haben, gerathen dahin, in einer dumpfen Schwermuth zu verkehren. […] Wenn diese auf den Gedanken gerathen, Schauspieler zu werden, so ist das Übel fast unheilbar. Da sie in der That entweder innerlich stark empfinden, oder an Überanstrengung der Nerven leiden, so sind sie gar nicht zu überzeugen, daß es durchaus zweierlei ist, starke Gefühle besitzen, und diese starken Gefühle lebhaft, angenehm und schön darstellen zu können. […] Bei dem verstorbenen Moriz [sic] – obschon er für die dramatische Kunst einen so tiefen Sinn hegte, wie ihn wohl nur wenige Künstler empfanden

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sition zum empfindsamen Spiel als Kontrast sowohl zu I…s Darstellungsweise als auch zu dessen Genialität – verstanden als angeborenes Ingenium – angelegt. Dass Anton sich die Währung Aufmerksamkeit mit einem Mehr an Empfindung zu verdienen glaubt, unterstreicht zusätzlich seine Opposition zu einem Schauspielverständnis, das auf Distanz zur Rolle sowie auf ihrer Reflexion basiert, wie es Mitte des 18. Jahrhunderts beispielsweise Francesco Riccoboni und im letzten Drittel des Jahrhunderts Denis Diderot vertraten.305 Dass Antons empfindsames Schauspielverständnis mit dem Wunsch, kein bloßer Zuschauer zu sein, verknüpft ist, verlinkt zugleich das empfindsame Spiel mit dem Moritzschen Dilettantismusverständnis: Anton reicht der Genuss der Kunst nicht aus, er will sie selbst aktiv hervorbringen und unterliegt dabei jener Selbsttäuschung über die eigenen Fähigkeiten, die nach Moritz für den Dilettantismus verantwortlich ist. Der Erzähler des Anton Reiser findet dafür folgende Worte: Es war also kein echter Beruf, kein reiner Darstellungstrieb, der ihn anzog: Denn ihm lag mehr daran, die Scenen des Lebens in sich, als außer sich darzustellen. Er wollte f ü r s i c h das alles haben, was die Kunst zum Opfer fordert. Um seinetwillen wollte er die Lebensscenen spielen – sie zogen ihn nur an, weil er sich selbst darin gefiel, nicht weil an ihrer treuen Darstellung ihm alles lag. – Er täuschte sich selbst, indem er das für echten Kunsttrieb nahm, was bloß in den zufälligen Umständen seines Lebens gegründet war.306 – war es doch in Betreff der Unfähigkeit des äußern Ausdrucks, ganz so der Fall. Er hat seine ganze traurige Lage und alle Qualen, die er deshalb empfunden, im ›Anton Reiser‹ treu und wahrhaft geschildert.« August Wilhelm Iffland: Ueber den Hang Schauspieler zu werden. In: Almanach fürs Theater. Berlin 1808. S. 8f. Zit. n. Ruth B. Emde: Die Schauspielerin im ›Kennerblick‹. Gefühls- und Verstandes-Schauspiel als Neuformation der Geschlechterdifferenz. In: Erika Fischer-Lichte und Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen 1999. S. 449–461. Hier : S. 452. 305 Francesco Riccoboni ist der Ansicht, der Schauspieler müsse »sich in den Stand setzen, mit Überlegung spielen zu können, indem man die wahren Grundsätze der Kunst innehat.« (Riccoboni [Anm. 250]. S. 55) Denis Diderot plädiert für einen »Schauspieler, der mit Überlegung nach dem Studium der Natur in dauernder Nachahmung eines idealen Vorbildes aus der Phantasie, dem Gedächtnis spielt«. Ein solcher habe »alles […] abgemessen, abgewogen, überlegt, geordnet […] in seinem Kopfe.« (Diderot: Paradox [Anm. 269]. S. 9) Zur Situierung dieser Position im Werk Diderots vgl. Kosˇenina: Anthropologie und Schauspielkunst (Anm. 236). S. 138: Während der frühe Diderot im Zeichen der sensibilit8 für den naturwahren, emotionalen Darstellungsstil des empfindenden Schauspielers plädiert habe, versuchte er diese Haltung seit Mitte der sechziger Jahre durch eine Aufwertung der Reflexion zu korrigieren. Vgl. ebd. 306 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 442f. Dass Selbsttäuschung eine Form von Selbstbezug ist und als Grundlage der schauspielerischen Produktion diese mit Antons Lernmethoden engführt, liegt auf der Hand. Die Szenen des Lebens »in sich« statt »außer sich darstellen« (ebd. S. 442) zu wollen, verweist mit der Opposition von Innen und Außen wiederum zurück auf Antons poetische Produktion, bei der der äußere Anlass bzw. die Ver-inner-lichung jeweils das gelungene bzw. das scheiternde Schreiben markierten. Vgl. S. 174 dieser Arbeit.

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Das Schauspielverständnis Antons, das dem Vergleich von I… als Darsteller auf der Bühne und Anton als Zuschauer in der Loge bereits ablesbar war, wird später auch explizit erläutert: Er glaubte es [= eine Schauspielerlaufbahn] könne ihm nicht fehlschlagen, weil er jede Rolle tief empfand, und sie in seiner eigenen Seele vollkommen darzustellen und auszuführen wußte – er konnte nicht unterscheiden, daß dies alles nur in ihm vorging, und daß es an äußerer Darstellungskraft ihm fehlte. – Ihm deuchte, die Stärke womit er seine Rolle empfand, müsse alles mit sich fortreißen, und ihn seiner selbst vergessen machen. – Dies geschahe auch wirklich, wenn während dem Gehen seine Einbildungskraft immer erhitzter wurde – und er denn endlich auf dem Felde, wo er sich ganz allein glaubte, mit Beaumarchais laut zu toben, mit Guelfo zu rasen anfing.307

Antons anthropologisches Bedürfnis nach Gefühlsausdruck ist nur durch das empfindsam-identifikatorische Spiel zu stillen. Gleichzeitig erfolgt die Zuordnung Antons zum Paradigma des empfindsamen Spiels durch seine (unbewusste) Orientierung an der Schauspieltheorie de Sainte Albines: »Wollen die tragischen Schauspieler«, sagt der Verfasser [= de Sainte Albine], »uns täuschen, so müssen sie sich selbst täuschen. Sie müssen sich einbilden, daß sie wirklich das sind, was sie vorstellen; eine glückliche Raserei muß sie überreden, daß sie selbst diejenigen sind, die man verrät, die man verfolgt. Dieser Irrtum muß aus ihrer Vorstellung in ihr Herz übergehen, und oft muß ein eingebildetes Unglück ihnen wahrhafte Thränen auspressen. […]«308

Antons Raserei als Guelfo ist vielleicht nicht als ›glücklich‹ im Sinne einer guten Gemütsverfassung zu bezeichnen, im Sinne einer völligen Identifikation mit der Rolle glückt sie aber durchaus. Mit der Selbsttäuschung löst Anton die zentrale Forderung, die de Sainte Albine an Schauspieler stellt, ein. Zugleich macht er sich damit zum Dilettanten im Verständnis sowohl des Erzählers als auch der Ästhetik Karl Philipp Moritz’.309 Die bereits diskutierten Tränen, die prägend für Antons empfindsames Spiel sind, stellen auch bei de Sainte Albine die körperliche Beglaubigung der gelungenen Identifikation mit der Rolle dar. Und sogar 307 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 422. 308 Lessing: Auszug aus dem »Schauspieler« des Herrn Remond von Sainte Albine (Anm. 261). S. 136. Vgl. auch Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 239: »Wenn er die Scenen eines Drama, das er entweder gelesen, oder sich selbst in Gedanken entworfen hatte, durchging, so war er das alles nacheinander wirklich, was er vorstellte, er war bald großmütig, bald dankbar, bald gekränkt und duldend, bald heftig und jedem Angriff mutig entgegenkämpfend.« 309 Anders akzentuiert kann man auch sagen: Gerade mit dem »Auseinanderfallen von Rolle und Identität gewinnt erstmals die Darstellung Eigenwert [und] wird zur Kunst.« (Eigenmann [Anm. 274]. S. 127) Wer seine Identität mit der zu spielenden Rolle verschmilzt, spricht der Darstellung dann nicht den gebührenden Eigenwert zu und wird dadurch zum Dilettanten. Zu Diderots Konzeption der Schauspielkunst, die auf genau solch einer »Trennung der Rollenidentität von der persönlichen Identität des schauspielenden Menschen« beruht, vgl. Kosˇenina: Anthropologie und Schauspielkunst (Anm. 236). S. 141.

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die Erhitzung der Einbildungskraft, die Antons Guelfo-Raserei vorbereitet, hat im empfindsamen Schauspielparadigma einen angestammten Platz. Sie heißt dort »Feuer«: Mit der Empfindung hat das Feuer einige Verwandtschaft, und von diesem untersucht der Verfasser im dritten Hauptstücke, ob ein Schauspieler dessen zu viel haben könne. Das Feuer besteht nicht in der Heftigkeit der Deklamation oder in der Gewaltsamkeit der Bewegungen, sondern es ist nichts anders als die Geschwindigkeit und Lebhaftigkeit, mit welcher alle Teile, die einen Schauspieler ausmachen, zusammentreffen, um seiner Aktion das Ansehen der Wahrheit zu geben. In diesem Verstande nun ist es unmöglich, daß eine spielende Person allzu viel Feuer haben könne.310

Romanintern ist die Erhitzung der Einbildungskraft, die Antons selbstvergessene Identifizierung mit den dramatischen Rollen in Gang setzt und begleitet, die Schaltstelle, die sein poetisches Dilettieren und sein – aus der Warte des Erzählers bzw. schauspieltheoretischer Positionen eines Riccoboni oder Diderot betrachtet – schauspielerisches Dilettieren als gleichursprünglich und demselben Produktionsprinzip folgend ausweist. Auch auf der inhaltlichen Ebene ist dies angezeigt: Zwei wesentliche Gründe, weshalb Anton auf Erfolg in der Schauspielerei hofft, sind die positive Aufnahme seiner Gedichte beim Schauspieler Ekhof sowie dessen Ansicht, zwischen dem Talent zum Dichter und dem Talent zum Schauspieler bestünde eine enge Verwandtschaft, das eine setze das andere gewissermaßen voraus.311 Antons Selbsttäuschung besteht nun darin, sich nicht darüber bewusst zu sein, was genau womit verwandt ist. Antons Schreiben gelingt, wenn es von einem äußeren Impuls stimuliert wird, also nicht im reinen Selbstbezug / la l’art pour l’art steht. Verwandt damit wäre ein schauspielerisches Rollenverständnis, welches eben auch nicht auf reinen Selbstbezug setzt – was Anton beim empfindsamen Spiel jedoch tut. Mit Hans Konrad Dietrich Eckhof/

310 Lessing: Auszug aus dem »Schauspieler« des Herrn Remond von Sainte Albine (Anm. 261). S. 132. Auch hier gilt es wieder zu betonen, dass Empfindung und Feuer nicht ausschließlich dem empfindsam-identifikatorischen Spiel zugeordnet sind. Auch Riccoboni arbeitet mit der Kategorie »Feuer«, plädiert jedoch für einen streng kontrollierten Einsatz desselben und gibt zu bedenken, dass zwischen starkem Ausdruck und zu viel Feuer nur ein winziger Grad bestehe. Im Kapitel »Das Feuer« ist zu lesen: »Die angehenden Schauspieler haben manchmal gar zuviel Feuer […]. Sie wollen gern alles ausdrücken, aus Mangel der Übung aber nehmen sie die Heftigkeit und Übereilung für die Stärke.« Riccoboni (Anm. 250). S. 105. 311 Vgl. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 444. An anderer Stelle heißt es allerdings, Eckhof »mißbilligte es gar nicht, daß er sich dem Theater widmen wollte, wobei er hinzufügte, daß es freilich gerade an solchen Menschen fehlte, die aus eigenem Triebe zur Kunst, und nicht durch äußere Umstände bewogen würden, sich der Schaubühne zu widmen. Was konnte wohl aufmunternder für Reisern sein, als diese Bemerkung – er dachte sich schon im Geist als einen Schüler dieses vortrefflichen Meisters.« Ebd.

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Autodidaktik, Projektemachen, Dilettieren

Ekhof/Eckhoff,312 der ab 1774 Leiter des Herzoglichen Hoftheaters Gotha – welches im Roman ja auch eine Anlaufstelle Antons darstellt –313 gewesen ist,314 bildet ein historischer Repräsentant einer Übergangsepoche im Schauspielstil die realweltliche Referenz der literarischen Figur. Ekhof steht in der Geschichte der darstellenden Kunst für den Übergang von einem Spiel der »zeremoniell-gravitätische[n] Konvention und mechanische[n] Affektation« hin zum »realistisch-natürliche[n]«315 Spiel. Zum natürlich-realistischen Spiel findet der historische Ekhof unter Konrad Ernst Ackermann; diese historische Situation deckt sich mit der Zeit der fiktionalen Romanhandlung, in der Anton ja mit Ekhof bekannt wird.316 Theaterhistorisch betrachtet, können folgende Umstände ausgemacht werden: Aufgrund der Orientierung des Theaters in der ersten Hälfte des Jahrhunderts an der französischen Hofetikette war der »gesamte Schauspielstil i[n] Deutschland […] – vor den Natürlichkeitsbestrebungen Ekhofs, dann vor allem Schröders – […] [von einem] eher extensiv-pathetischen Gebärdenstil«317 geprägt. Antons pathetische Gestik ist also zum einen ein Relikt aus einer überholten Schauspielepoche.318 Sein Wunsch wiederum, sich Goethe anzuschließen, weist theaterhistorisch gesehen in eine Zukunft hinaus, die zu Antons Zeit noch nicht angebrochen war : Hier saß der Wirt […] und Reiser fragte ihn, ob die Eckhoffsche Schauspielergesellschaft noch in Weimar wäre? Nichts! antwortete er, sie ist in Gotha! Reiser fragte weiter, ob Wieland noch in Erfurt wäre? Nichts! antwortete jener wieder, er ist in Weimar! […] Nach Weimar war eigentlich sein Sinn gerichtet – da glaubte er, würden sich unerwartete Kombinationen finden – er würde da den angebeteten Verfasser von Werthers Leiden sehen – Und nun klang auf einmal Gotha statt Weimar in seinen Ohren.319

312 Sowohl in Anton Reiser als auch in den zeitgenössischen Quellen und in der Forschungsliteratur werden mehrere Varianten der Namensschreibung verwendet. 313 Vgl. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 439. 314 Vgl. den Kommentar zu »Anton Reiser« (Anm. 75). S. 1053. 315 Maurer-Schmoock (Anm. 272). S. 154. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 316 Vgl. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 269 und den Kommentar zu »Anton Reiser« (Anm. 75). S. 1050. 317 Maurer-Schmoock (Anm. 272). S. 193. 318 Dies ist auch daran ablesbar, dass Riccoboni übertriebenen Ausdruck und das lange Halten von Körperstellungen – man erinnere sich: Anton »blieb, nachdem er schon stillgeschwiegen hatte, noch einen Augenblick mit emporgehobnem Arm stehen« (Moritz: Anton Reiser [Anm. 4]. S. 348) – ablehnt. »Wenn man, sich stark auszudrücken, eine heftige Bewegung macht und vorher einige Vorbereitung dazu merken läßt, wenn man sich alsdann in einer gezwungenen Stellung erhält, wenn man die Stimme allzu heftig und anhaltend herausstößt, wenn man einen Ton erzwingt, der von den anderen allzu unterschieden ist, alsdann ist das Spiel übertrieben. […] Je heftiger eine Bewegung ist, desto kürzere Zeit muß man darin bleiben, und alsdann ahmt man der Natur nach, welche sich nicht sehr lange in Stellungen erhalten kann, die ihr Zwang antun.« Riccoboni (Anm. 250). S. 77f. 319 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 438.

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Gotha, der Ort Ekhofs und des natürlichen Schauspielstils, klingt Anton zwar in den Ohren, sein Sinn aber ist nach Weimar, zu Goethe gerichtet. Goethe ist Anton jedoch nur als der »Verfasser der Leiden des jungen Werthers«320 bekannt, sprich: als Stürmer und Dränger bzw. als ein von der Empfindsamkeit inspirierter Autor. Den Goethe, der ein Zugleich des Aufgehens in der dargestellten Rolle und von deren Reflexion – eine darstellungstheoretische Position, die als ›theatralische Dopplung‹ berühmt geworden ist – gefordert hat, kennt Reiser nicht. Die ›unerwarteten Kombinationen‹, die Anton sich in Weimar erhofft, entsprechen nicht dieser Doppelorientierung – und machen Anton damit auch noch zum Dilettanten im Verständnis Goethes. Angesichts der Logik, der Antons poetische Produktion folgt – sie ist u. a. von »Reminiscenzien aus dem Werther«321 geprägt – und seiner empfindsamen schauspielerischen Produktion, hofft Anton vielmehr auf eine Kombination von Dichter- und Schauspielerdasein;322 dies hatte Ekhof ja auch vermeintlich in Aussicht gestellt. Das regelrecht Tragische an Antons Situation ist, dass die von Goethe geprägte Schauspielepoche sich gerade erst und noch dazu an einem anderen Ort – nämlich in Weimar und nicht in Gotha – formiert und auch jenseits seines Wissenshorizontes liegt. Die in Abgrenzung zur Typisierung und den steifen Darstellungsformen des Barock, des französischen Klassizismus oder der deutschen Regeldramatik formulierte Forderung eines David Garrick oder eines Hans Konrad Dietrich Ekhof nach empirisch-anthropologischer Naturwahrheit,323 wurde erst »im klassischen Programm Goethes und Schillers – mit der Wiedereinführung von traditionellen Distanzierungsmitteln wie Chor, Maske, Versifikation usw. – nochmals überwunden«324. Programm gebend ist hier die von Friedrich Schiller getätigte Äußerung, er wolle »dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg […] erklären«325. Was für Antons pathetische Gestik gilt, gilt also auch

320 Ebd. S. 378 und S. 126f. dieser Arbeit. 321 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 337. 322 Einige Theaterschriftsteller wie Brandes, Iffland, Schröder waren z. B. hauptberuflich Schauspieler. August von Kotzebue war der einzige hauptberufliche Theaterschriftsteller seiner Zeit. Schiller und Goethe z. B. waren bekanntlich am Hof angestellt. Vgl. Ute Daniel: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1995. S. 135f. 323 Vgl. Kosˇenina: Anthropologie und Schauspielkunst (Anm. 236). S. 159. Ekhof wird auch als der »deutsche Garrick« bezeichnet. Alexander Kosˇenina: Entstehung einer neuen Theaterhermeneutik aus Rollenanalysen und Schauspielerporträts im 18. Jahrhundert. In: Yoshio Tomishige und Soichiro Itoda (Hg.): Aufführungsdiskurse im 18. Jahrhundert. Bühnenästhetik, Theaterkritik und Öffentlichkeit. München 2011. S. 41–74. Hier : S. 50. 324 Kosˇenina: Anthropologie und Schauspielkunst (Anm. 236). S. 159. 325 Friedrich Schiller : Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 10: Die Braut von Messina, Wilhelm Tell, Die Huldigung der Künste. Hg. von Siegfried Seidel. Weimar 1980. S. 7–15. Hier: S. 11.

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für sein Deklamieren.326 (Eine »leichte Versifikation«327 bestätigt Anton auch der »Bibliothekarius Reichardt«328.) Die Freude am Deklamieren im Lateinunterricht in H… bildete neben seiner Verehrung der rhetorischen Fähigkeiten des Pastors P. den Ausgangspunkt für Antons Theaterleidenschaft.329 Theatergeschichtlich war zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort (mutmaßlich Hannover) Deklamation jedoch gerade nicht gefragt:330 Mit dem Verschwinden der Alexandriner-Tragödie und dem Aufkommen des bürgerlichen Dramas und der Familienrührstücke in Prosa, wurde auch auf der Bühne ein anderer Ton, der sog. Konversationston, eingeführt. Prosasprache war eindeutig vorherrschend. […] Es blieb den Weimarer Theaterleitern Goethe und Schiller vorbehalten, den versentwöhnten Schauspielern in mühsamer Kleinarbeit die Kunst der Prosodie und Skansion beizubringen.331

Antons Spiel steht also synchron in der Spannung von Rollendistanz und Rollenidentifikation, diachron steht es zwischen Pathetik bzw. Affektiertheit, realistischer Natürlichkeit und »idealistisch-überhöhte[r] Darstellungsmanier«332 mit ihren jeweils zugehörigen Sprechweisen. Mit seinem pathosformelhaften, deklamatorischen Spiel zum einen und seiner Orientierung an Goethe zum anderen schlägt sich Anton Modellen zu, die aufgrund ihrer abgelaufenen bzw. 326 Das zeitgenössisch gültige Modell des distanziert-reflektierten Spiels legt fest: »Das Gegenteil vom Wahren sind […] die hohle Sprache und die traurige Deklamation«. Riccoboni (Anm. 250). S. 79. 327 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 448. 328 Ebd. 329 Vgl. ebd. S. 272. 330 Die »Schauspielergesellschaft« von der auf Seite 269 in Anton Reiser zu lesen ist, hat ihr historisches Vorbild in der Truppe Schröders bzw. Ackermanns. Vom 13. April bis 15. Juli 1773 gab die Schrödersche bzw. Ackermannsche Truppe ein dreimonatiges Gastspiel in Hannover (vgl. den Kommentar zu »Anton Reiser« [Anm. 75]. S. 1050). Friedrich Ludwig Schröder stand wie Konrad Ernst Ackermann für einen natürlichen Sprechduktus auf dem Theater. Vgl. Andreas Kotte: Theatergeschichte. Eine Einführung. Köln/Weimar/Wien 2013. S. 266 und S. 268f sowie Maurer-Schmoock (Anm. 272). S. 154ff. 331 Ebd. S. 199. Aber auch hierbei ist zu bedenken, dass Antons Deklamierkunst nicht unbedingt unter Prosodie und Skansion gefasst werden kann. Denn Goethe unterscheidet nochmals zwischen Rezitation und Deklamation. »Unter Rezitation wird ein solcher Vortrag verstanden, wie er, ohne leidenschaftliche Tonerhebung, doch auch nicht ganz ohne Tonveränderung, zwischen der kalten ruhigen und der höchst aufgeregten Sprache in der Mitte liegt.« (Johann Wolfgang Goethe: Regeln für Schauspieler. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998. S. 857–883. Hier: S. 864.) Goethe versteht Rezitation als objektiv-erzählenden Vortrag »mit Mäßigung und ohne jene leidenschaftliche Selbstentäußerung […], die bei der Deklamation erfordert wird.« (ebd. S. 865) Diese Unterscheidung entspricht der Grundfrage der Schauspielkunst des 18. Jahrhunderts nach Identifikation oder Objektivation. Vgl. Kosˇenina: Anthropologie und Schauspielkunst (Anm. 236). S. 200. 332 Maurer-Schmoock (Anm. 272). S. 155.

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noch nicht installierten Gültigkeit unmittelbar dem Dilettantismusverdacht ausgesetzt sind. Synchron betrachtet, wählt Anton mit seinem empfindsamen Spiel eine von zwei möglichen Varianten zu spielen; diese geht allerdings mit einer gender-Markierung einher, welche letztlich ebenfalls als ein Dilettantismus-Marker fungiert.333 Das empfindsame Spiel ist traditionell weiblich konnotiert, es ist weiblichen Schauspielerinnen zugeordnet. Die Konzeptionen vom Verstandes- und Empfindungsschauspiel verhandeln, so Ruth B. Emde, mehr als ästhetische und psychologische Probleme. In der Schauspieltheorie würden immer auch moralische Forderungen aufgestellt und diese wiederum würden geschlechtsspezifisch formuliert: Der männliche Schauspieler, der unfähig oder unwillig ist, Distanz zur Rolle zu wahren, wird genauso wenig akzeptiert wie die weibliche Schauspielerin, die emotional nicht vollkommen in ihrer Rolle aufgeht.334 Mit der Entscheidung der Kontroversen um den Gefühls- oder Verstandesschauspieler zugunsten des Letzteren ging schließlich eine ›Umklassifizierung‹ natürlich-realistischer männlicher Schauspieler wie Hans Konrad Dietrich Ekhof einher : »In der Folge wurde kein erfolgreicher männlicher Schauspieler des 18. Jahrhunderts als Gefühlsschauspieler bekannt. So wie Ekhof galten auch Garrick und der Voltaireschüler Lekain als Verstandesschauspieler.«335 Nun ist neben Anton Reisers Orientierung am empfindsamen Spiel, das erstens weiblich – und damit zumindest tendenziell dilettantisch – konnotiert ist und aufgrund seines Obsoletwerdens zweitens in die Nähe zum Dilettantismus gerückt wird, besonders auffällig, dass Anton ausgerechnet in Frauenrollen glänzt. »[W]eil sich an seinem Kinne noch die wenigste Spur von einem Barte zeigte, und weil auch seine Länge als Frauenzimmer eben nicht auffiel,« »sollte Reiser die Rolle der Clelie, der Geliebten des Medon, übernehmen«.336 Er wurde mit aller Sorgfalt als Klelie geschmückt. Die Lichter wurden angezündet, der Vorhang rauschte empor, und er stand nun da vor einem zahlreichen Auditorium, und spielte ganz unbefangen seine lange Rolle durch, ohne daß ihm ein einzigesmal das Unnatürliche davon eingefallen wäre, so sehr war er in dem Gedanken vertieft, daß er in einer theatralischen Darstellung nun wirklich mit begriffen, und daß seine Mitwirkung 333 Zum Verhältnis von Weiblichkeit und Dilettantismus um 1800 vgl. S. 53–56 und S. 74 dieser Arbeit. 334 Vgl. Emde (Anm. 304). S. 450. 335 Ebd. S. 451f. Ruth B. Emde bezieht sich hier u. a. auf Diderots Brief an Mademoiselle Jodin. Diderot erklärt darin einer jungen Schauspielerin: »Es besteht ein sehr großer Unterschied zwischen Spiel und Empfindung [jouer et sentir]; es ist derselbe Unterschied wie zwischen der Kurtisane, die verführt, und der zärtlich liebenden Frau, die sich selbst und einen anderen vor Wonne trunken macht.« Denis Diderot: Brief an Mademoiselle Jodin, Ende Mai 1766. In: Denis Diderot. Ästhetische Schriften. Hg. von Friedrich Bassenge. Bd. 2. Frankfurt/M. 1968. S. 242–243. Hier: S. 243. 336 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 482. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.

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in jedem Augenblick dazu notwendig war. – Dies Vertiefen in seinen Gegenstand machte, daß er sich selbst vergaß, und daß auch die Zuschauer das Unnatürliche der Rolle weniger bemerkten, und er über sein Spiel sogar noch Beifall erhielt.337

Auch in einem weiteren Stück erhält Anton »zwei Frauenzimmerrollen, die er mit Umkleidung spielen mußte«338. Als (männlicher) Laiendarsteller von Frauenrollen ist der sonst als Schauspieler abgelehnte Anton339 durchaus gefragt: Sein »Schauspielerkredit unter den Studenten [war] schon so befestigt, daß man es als eine Gefälligkeit von ihm ansahe, wenn er diese Rollen übernehmen wollte, und er sich also auf keine Weise dazu drängen durfte.«340 Zum einen bezeugen der von Anton so sehnlich erwünschte Beifall und die Wertschätzung der anderen sein schauspielerisches Vermögen. Zum anderen löst der Umstand, dass er ›sich selbst vergaß‹, die Forderung des Erzählers nach Selbstvergessenheit im Spiel ein.341 Ruth B. Emdes Kommentar zu Anton Reiser/Anton Reiser, »[d]er

337 Ebd. S. 484. Auch in Thomas Meineckes, die gender-Theorie in allen Variationen durchspielendem Roman Tomboy wird Bezug auf Antons Klelie-Darstellung genommen: »Karl Philipp Moritz’ theatromanischer Anti-Held Reiser, gefangen in einem pathogen abgewandelten melancholischen Teufelskreis, […] war nur in jenem Moment nicht unglücklich gewesen, hatte nur in jener Konstellation keine Verzweiflung aus Mangel an Existenz empfunden, kein Gefühl eines Eingeschlossenseins in Selbstwidersprochenheit und keinerlei Anzeichen von Seelenlähmung, als er, Anton, auf der Bühne die Clelie, ein junges Mädchen, performen durfte.« Thomas Meinecke: Tomboy. Roman. Frankfurt/M. 1998. S. 179. 338 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 489. 339 Vgl. z. B. ebd. S. 448, S. 450 und S. 451. 340 Ebd. S. 489. Zum Aufleben des Schüler- und Studententheaters ab ca. 1770 im Kontext einer allgemeinen Ausdehnung des aristokratischen Laientheaters in andere Schichten vgl. Peter Hesselmann: »Bühnen in Taschenformat«. Zu Theorie und Praxis der Gesellschaftstheater im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. In: Erika Fischer-Lichte und Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen 1999. S. 503–520. Hier: S. 504f. 341 Gemessen an den Kriterien Goethes wiederum, wäre auch hier von einem Dilettantismus Antons zu reden. Als Goethe sich 1788 mit Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt auseinandersetzt, macht er als Grund für sein Vergnügen an diesem Phänomen aus, »daß bei einer solchen Vorstellung der Begriff der Nachahmung, der Gedanke an Kunst immer lebhaft blieb, und durch das geschickte Spiel nur eine Art von selbstbewußter Illusion hervorgebracht wurde.« (Johann Wolfgang Goethe: Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt. In: Klaus Lazarowicz und Christopher Balme (Hg.): Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart 1991. S. 167–170. Hier: S. 169.) Das geforderte Zugleich von Illusion und Reflexion – hier zugespitzt auf die Formel: »Der Jüngling […] spielt nicht sich selbst, sondern eine dritte und eigentlich fremde Natur« (ebd. S. 170) – löst Anton auch als männliche Gefühlsschauspieler_in nicht ein: Das ›Unnatürliche‹ seiner Rolle fällt ihm nicht auf, außerdem vergisst er sich selbst (vgl. Moritz: Anton Reiser [Anm. 4]. S. 484). In der Perspektive Goethes wäre die positive Resonanz, die Anton von Seiten des Publikums und des Erzählers erfährt, wohl mit einem Dilettantismus auch der Rezipient_innen zu erklären. Denn Goethes Ansicht nach liegt der Reiz, Männer in Frauenrollen zu sehen, darin, »nicht die Sache selbst, sondern ihre Nachahmung zu sehen,

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männliche Gefühlsschauspieler ist also ein Dilettant und kann bestenfalls im Romangeschehen Ruhm erwerben«342, ist demnach um einen wichtigen Aspekt zu ergänzen: Als männlicher Gefühlsschauspieler ist Anton Dilettant. Als männliche Gefühlsschauspieler_in erlangt er hohes Ansehen, kann einige Erfolge verbuchen und erfüllt nicht zuletzt die Kriterien, die der Erzähler an ein künstlerisches Gelingen anlegt. Der Roman Anton Reiser macht damit darauf aufmerksam, dass es bei der Differenzierung von Dilettantismus und Künstlerschaft anhand geschlechtlich markierter Produktionsmodelle – hier konkret: Darstellungsweisen – neben der Kategorie ›sex‹ auch die Kategorie ›gender‹ zu berücksichtigen gilt.

III.3. Epilog: Reisers Scheitern und der Untergang der Wanderbühne Nach der recht ausführlichen Darstellung der Situierung von Anton Reiser in seinem theaterhistorischen Kontext bzw. der Bezugnahmen des Textes auf diesen Kontext, möchte ich abschließend kürzer auf weitere theatergeschichtliche Umstände zu sprechen kommen, die im Roman eine Rolle spielen und das Thema Dilettantismus noch auf anderen Ebenen verhandeln. Einsteigen möchte ich anknüpfend an die Debatte um den Schauspielstil, nämlich mit der bereits angesprochenen Verwendung von Francesco Riccobonis Schrift L’Art du Th8.tre in der von Hans Konrad Dietrich Ekhof gegründeten und geleiteten ersten deutschen Theaterakademie. Ekhof rief diese erste Schauspielakademie aus dem Grund ins Leben, dass die Schauspieler_innen »[f]ür die erwünschte Aufnahme [ihrer] Kunst in den Kanon der ›artes liberales‹ […] den hohen Preis einer schwierigen Ausbildung«343 zu zahlen hatten. Ekhof erklärt: Wir haben hierbei die »Schauspielkunst« des jüngeren Riccoboni […] zum Grunde gelegt. Wir sind jeden Punkt derselben mit Aufmerksamkeit durchgegangen und haben sie, wo es nötig gewesen ist, mit Anmerkungen und Exempeln erläutert und bewiesen.

nicht durch Natur, sondern durch Kunst unterhalten zu werden, nicht eine Individualität, sondern ein Resultat anzuschauen.« Goethe: Frauenrollen, S. 170. 342 Emde (Anm. 304). S. 452. 343 Kosˇenina: Anthropologie und Schauspielkunst (Anm. 236). S. 167. Als Verfasser einer zentralen Schrift zum Zweck, »die Schauspielkunst als eine freie Kunst auszuweisen, um sie so gegen die gängige Abwertung als Handwerk oder niedrige Nachahmung zu verteidigen« (ebd. S. 20) ist Lessings Cousin Christlob Mylius zu nennen. 1750 erschien in der von Lessing und Mylius gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters Mylius’ Aufsatz Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freye Kunst sey.

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[…] [Wir haben] uns auch gar nicht geschämt, sie [= die Vorgänger] als unsere Lehrmeister anzusehen und in ihre Fußstapfen zu treten.344

Vom Stil des Schauspielens soll nun der Fokus auf die Institutionalisierung des Unterrichts in der Theaterakademie und die Etablierung der Schauspielerei als anerkannte Kunst gerichtet werden. Dass Ekhofs Akademie die erste ihrer Art ist, kann im Hinblick auf das Thema Dilettantismus nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn zuvor hatte es für den Nachwuchs des Sprechtheaters – anders als beispielsweise für angehende Sänger_innen – keine Ausbildungsmöglichkeiten, nicht einmal halbprofessionelle, gegeben.345 Dies hatte zur Folge, dass die Schauspieler_innen sämtlich Dilettant_innen waren in dem Sinne, dass sie keine professionelle Schulung genossen haben. Geschauspielert wurde gleichwohl viel im 18. Jahrhundert und Differenzierungen der Darsteller_innen und Theaterformen hinsichtlich des Grades ihrer Anerkanntheit und der ihnen jeweils zugestandenen Qualität sind durchaus zu verzeichnen.346 In Anton Reiser werden etablierte Theaterformen und das Laientheater am Beispiel der Schröderschen Truppe und des Studententheaters verhandelt: »Während daß also nun auf dem Königlichen Operntheater von der Schröderschen Gesellschaft Komödie gespielt wurde, kam auch die Zeit der Sommerferien heran; wo die Primaner jährlich öffentlich eine Komödie aufzuführen pflegten.«347 Die beiden Theaterformen werden jedoch nicht ausschließlich kontrastiert. Was die Paral344 Conrad Ekhof im Journal der Akademie der Schönemannschen Gesellschaft. Protokoll der 26. Sitzung vom 15. 06. 1754. Zit. n. Piens (Anm. 266). S. 43. 345 Vgl. Daniel (Anm. 322). S. 138. Unter den Berufsschauspieler_innen gab es aber eine Kontroverse über die Akzeptierbarkeit von Gesellschaftsbühnen als Orte, an welchen Anfänger_innen »ihre Sprache und Eloquenz sowie ihre körperliche Gewandtheit […] verbessern, ihr Einfühlungsvermögen und ihr Gedächtnis […] schulen« können. Vgl. Hesselmann (Anm. 340). S. 508. 346 Dies gilt auch innerhalb der einzelnen Theaterformen. Noch bevor die soziale Binnendifferenzierung in arrivierte Hofschauspieler_innen und sog. »Schmierendarsteller« einsetzte, zerfielen bereits »die Wandertruppen […] in dieser Hinsicht sehr deutlich in die Gruppe der renommierten und/oder der als anständig und sittlich geltenden einerseits und die schlecht beleumundeten und nicht berühmten andererseits.« (Daniel [Anm. 322]. S. 140) In Anton Reiser kommt dies zum Tragen, wenn Anton von Ekhof als Schauspieler abgelehnt, aber an eine andere Truppe – mit mutmaßlich geringeren künstlerischen Ansprüchen – verwiesen wird. Vgl. Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 453. 347 Ebd. S. 380. In Anton Reiser werden neben dem oben genannten Operntheater verschiedenste weitere Spielorte bespielt: Von Aufführungen in Wohnungen und Wirtshäusern ist ebenso die Rede wie vom Schauplatz und dem Komödienhaus (vgl. ebd. S. 251, S. 269, S. 439, S. 442, S. 509f.); zur Entwicklung der Amateurbühnen und ihrer Spielorte vgl. Hesselmann (Anm. 340). Andreas Kotte vermerkt dazu: »Dass Konrad Ernst Ackermann sich sein eigenes Theater 1765 auf dem Hamburger Gänsemarkt errichten lassen kann, bleibt vorerst die Ausnahme. Die Wandertruppen nutzen neben Podiumsbühnen auf Märkten eingebaute Bühnen in allen Arten von Sälen, in Schlössern, Aulen oder Jesuitengymnasien, Gast-, Rat- und Kaufhäusern.« Kotte (Anm. 330). S. 311.

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lelführung von Haupt- und Nebensatz bereits andeutet, macht der Erzähler dann auch explizit: Sobald die »ordentlichen Schauspieler«348 wieder abgereist sind, dürfen auch die Primaner im Königlichen Opernhaus spielen.349 »Abreise« ist natürlich ein weiteres zentrales Stichwort. Die in Anton Reiser mehrfach erwähnte, historisch 1753 in Königsberg gegründete »Ackermannsche Truppe«350 ist »trotz der Theatergründungen in Königsberg (1756) und Hamburg (1765) sowie der engen Zusammenarbeit mit Lessing […] überwiegend auf eine Wanderbühnen-Existenz angewiesen«351 gewesen. Der historische Umstand, dass mit Konrad Ernst Ackermann der Prinzipal einer Wandertruppe die Grundlage für das Hamburger Nationaltheater liefert, ist bedeutend. Zum einen nämlich steht Ackermanns Gesellschaft exemplarisch für die Schwierigkeiten des Wandertheaters, die den Wunsch nach stehenden Bühnen überhaupt erst hervorbrachten.352 Zum anderen ist damit eine Schwellensituation im Dilettantismus-Paradigma markiert. Während Ackermann noch eine Mischung aus Wandertheater und institutionalisiertem Theater repräsentiert, werden nach der Etablierung der stehenden Bühnen die meisten übrigen Theaterformen kurzerhand dem Dilettantismus zugeschlagen. Dabei »kann gar nicht genug hervorgehoben werden«353, welchen Umbruch die Avancierung des Theaters, das bis dato eine Unterhaltungsstätte vorrangig der ›niederen‹ Bevölkerungsschichten gewesen war, zum Leitmedium der bürgerlichen Kunst bedeutet hat.354 Die Wanderschauspieler_innen wiederum »haben noch bis in die Mitte des Jahrhunderts hinein als verachtete Gruppe nahezu außerhalb der Ständegesellschaft [gelebt und] […] Theater auf den Marktplätzen«355 geboten.356 Anton Reiser

348 349 350 351 352

353 354 355 356

Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 387. Vgl. ebd. Ebd. S. 269 und S. 272. Kommentar zu »Anton Reiser« (Anm. 75). S. 1050. Vgl. Kotte (Anm. 330). S. 293f. Eine ausführliche Darstellung der theatergeschichtlichen Entwicklungen ist zu finden bei Reinhart Meyer : Von der Wanderbühne zum Hof- und Nationaltheater. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789. München/Wien 1980. S. 186–216. Eigenmann (Anm. 274). S. 6. Vgl. ebd. Ebd. Die Verortung der Wanderbühnen am Rande der Gesellschaft geht mit einer Sprengung der sozialen Grenzen im Publikum einher : »Während die repräsentativen Theaterbauten des 18. Jahrhunderts das Gesellschaftsgefüge spiegeln, kommt es vor den Podiumsbühnen der Wandertruppen häufig zu einer Insubordination der Stände, wie sie von kirchlichen Kreisen in Zürich bei Konrad Ernst Ackermanns Auftritten gerügt wird. Die Podiumsbühne lässt eine Durchmischung des Publikums zu. Eine Vielzahl gesellschaftlicher Normen, Regeln und Zwänge, die von Kleiderordnungen über anständiges Verhalten bis zur Auseinandersetzung über das Körperliche des Theaterspiels reichen, werden ausgeblendet.« (Kotte [Anm. 330]. S. 315) Auf der Produktionsseite, also bei den Schauspieler_innen,

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wird allein schon durch seinen Namen in die Nähe zum Wandertheater gerückt. Die enge Verbindung, die Reisen und Theater auf Antons Lebensweg eingehen, nennt der Erzähler eine »romantische Idee« und führt diese – wie den poetischen Dilettantismus – auf Antons »Einbildungskraft« zurück: […] [V]ergesellschaftet mit der Rückerinnerung an die Abenteuer, die er auf seiner Reise gehabt hatte, bildete sich eine sonderbare romantische Idee in seinem Kopfe, die nun wieder auf einige Jahre seines künftigen Lebens eine sehr großen Einfluß hatte. – Theater – und reisen – wurden unvermerkt die beiden herrschenden Vorstellungen in seiner Einbildungskraft, woraus sich denn auch sein nachheriger Entschluß erklärt.357

Antons schauspielerischer Dilettantismus steht also nicht nur in einem Zusammenhang mit konkurrierenden und sich ablösenden Darstellungsformen, sondern auch mit konkurrierenden und sich ablösenden Theaterformen. Nicht zufällig steht der Untergang einer Wandertruppe am Ende des Textes: Die Sp…sche Truppe aber war die letzten Wochen, wegen Mangel an Einnahme in die äußerste Armut geraten. Der Direktor Sp… reist mit der Garderobe allein nach Leipzig voraus, und von den übrigen Schauspielern mußte ein jeder selbst zusehen, daß er so gut wie möglich den Ort seiner Bestimmung erreichte, einige reisten zu Pferde, andere zu Wagen, und noch andere zu Fuß, nachdem es die Umstände eines jeden erlaubten, denn die gemeinschaftliche Kasse war längst erschöpft358.

Die letzten Sätze des Romans lauten: In Erfurt hatte man ihm schon gesagt, daß er in Leipzig in dem Gasthofe zum goldenen Herzen einkehren müsse, wo die Schauspieler immer logierten, und gleichsam dort ihre Niederlage hätten. Als er in die Stube trat, fand er denn auch schon eine ziemliche Anzahl von den Mitgliedern der Sp…schen Truppe vor, die er als seine künftigen Kollegen begrüßen wollte, indem er an allen eine außerordentliche Niedergeschlagenheit bemerkte, welche sich ihm alsbald erklärte, als man ihm die tröstliche Nachricht gab, daß der würdige Principal dieser Truppe gleich bei seiner Ankunft in Leipzig, die Theatergarderobe verkauft habe, und mit dem Gelde davon gegangen sei. – Die Sp…sche Truppe war also nun eine zerstreute Herde.359

Der hier stellvertretend an der Sp…schen Truppe durchgespielte Untergang des Wandertheaters allgemein, ist sowohl zeitgenössisch als auch in der theaterwissenschaftlichen Forschung als eine Annährung des Wandertheaters an die zirzensischen Künste interpretiert worden. Noch unmittelbar vor der Aufwertung des Theaters zur Bildungsstätte in den 1770er und 1780er Jahren, waren die Schauspieler_innen »in einem Atemzug mit Artisten und Gauklern auf dem findet im 18. Jahrhundert eine Vermischung bzw. Verschiebung von adeligen Akteur_innen und bürgerlichen statt. Vgl. Daniel (Anm. 322). S. 132. 357 Moritz: Anton Reiser (Anm. 4). S. 378f. 358 Ebd. S. 516. 359 Ebd. S. 518.

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Marktplatz genannt [worden]«360. Susanne Eigenmann macht an der Schwellenfigur Konrad Ernst Ackermann etwas Vergleichbares fest: Auch privat geführte Theatergesellschaften sind häufig auf eine Wanderexistenz angewiesen gewesen: »[S]ie haben oftmals wie Ackermann und später Schröder ein ›Stammhaus‹ in einer relativ theaterbegeisterten Stadt, müssen aber zwischenzeitig immer wieder auf Wanderschaft gehen, um das Auskommen zu sichern – wie später nur noch der Zirkus.«361 Zirzensische Elemente im Theater sind es auch, von welchen sich Johann Jakob Engel 1785/86 in seinen Ideen zu einer Mimik streng abgrenzt: Über Schauspielerinnen, die sich effektvoll zu Boden stürzen und die begeisterten Reaktionen des Publikums darauf, schreibt Engel: Wenn bei einem so unnatürlichen, so widrigen Spiel ein lauter Beifall erfolgt, so ist es sicher nur von den Händen der Unwissenden, die sich in das wahre Interesse eines Stücks nicht zu versetzen wissen, die ihr Billet einzig fürs Gaffen bezahlen, und lieber in eine Gauklerbude gingen, oder ein Stiergefecht sähen. […] Halsbrechende Künste … gehören bloß in eine Luftspringerbude, wo das ganze Interesse auf den wirklichen Menschen, auf seine körperliche Behendigkeit fällt, und um so mehr wächst, je mehr man den Wagehals in Gefahr sieht.362

Halsbrecherische Künste gehören nach Engel in eine Luftspringerbude. Eine Jahrmarktsbude, in der eine Figur Salti mortales schlägt, bevor sie sich aus formalen Gründen das Genick bricht, bildet das Setting von Carl Einsteins 1912 komplett erschienenem Text Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders. Um die Artistik als Erscheinungsweise des Dilettantismus um 1900 soll es im folgenden Kapitel gehen.

360 Eigenmann (Anm. 274). S. 45. 361 Ebd. S. 119. 362 Johann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik (1785/86). In: Johann Jakob Engel. Schriften. Bd. 7/8. Berlin 1804. S. 59f. Zit. n. Erika Fischer-Lichte: Der Körper als Zeichen und als Erfahrung. In: dies. und Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Göttingen 1999. S. 5–68. Hier : S. 58.

D.

Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus: Erscheinungsweisen des Dilettantismus in Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders (1912)

Das Theater des 18. Jahrhunderts hatte sich u. a. über die Abgrenzung zur Artistik konstituiert. Im Zuge der Deklaration des bürgerlichen Theaters zum Medium der Bildung bzw. ästhetischen Erziehung sind die Schauspieler_innen aus der bis dato bestehenden Genossenschaft mit Artist_innen und Gaukler_innen herausgelöst worden. Artistische Elemente sind aus dem Theater verdrängt worden, die Wanderbühne wurde angesichts der neu sich etablierenden stehenden Bühnen zum alleinigen Aufführungsort des Zirkus. Der Spur dieser Erscheinung möchte ich nachgehen und untersuchen, welche Entwicklung die Artistik als das Andere der bürgerlichen Kunst genommen hat. Dass die Artistik in dieser Konstellation dieselbe Systemstelle besetzt wie der Dilettantismus, liegt auf der Hand und wirft die Frage auf, wie das Verhältnis von Artistik und Dilettantismus genau zu bestimmen ist. Besonders profiliert wird diese Konstellation von den Avantgarden der Moderne um 1900. Mit Carl Einsteins Text Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders wende ich mich einem Dokument der gegen den etablierten ästhetischen Kanon gerichteten Aufwertung des Dilettantischen in Gestalt des Artistischen zu, das repräsentativ für die flächendeckende, enge Verbindung steht, in welche Dilettantismus und Artistik um 1900 treten. Sich Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders über eine Analyse des Namens der titelgebenden Hauptfigur zu nähern, ist ein gängiger Ansatz in der Einstein-Forschung. Als Ergebnis zeigt sich eine große Vielzahl und Diversität möglicher Lesarten. So wird »angenommen, dass es sich [bei ›Bebuquin‹] um ein Einsteinsches Kunstwort handelt, in dem das französische ›b8bÞte‹ (unsinnig, kindisch) bzw. ›b8b8‹ (Baby) ebenso steckt wie ›mannequin‹ (Kunstfigur).«1 Während im Hinblick auf die Deutung des ersten Teils des Namens weitgehend Übereinstimmung herrscht, wird der zweite Teil sehr unter1 Matthias Luserke-Jaqui: Carl Einstein: Bebuquin (1912) als Anti-Prometheus oder Plädoyer für das »zerschlagene Wort«. In: ders. (Hg.): Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne. Berlin/New York 2008. S. 110–127. Hier: S. 114.

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

schiedlich interpretiert: Folgt man der Ableitung ›Bebuquins‹ von ›mannequin‹, erscheint Einsteins Titelfigur u. a. als passives Opfer ständig wechselnder Moden.2 Auch hier soll der Mannequin-Aspekt verfolgt werden, und zwar dergestalt, dass das figurale Mannequin der Textes, die Puppe Euphemia, auf ihre Bedeutung für eine spezifisch avantgardistische Auseinandersetzung mit dem Dilettantismus untersucht wird. Am Beispiel Euphemias wird sich zeigen, dass Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders literatur- und ästhetikgeschichtlich repräsentativ eintritt als Beispiel für eine Positivierung des Dilettantismus, die in der Nobilitierung ›niederer‹ Künste wie den zirzensischen gründet und sich in einer konzeptuellen Nähe zum Primitiven verortet. Schließt man sich der Herleitung von französisch ›bouquin‹ = ›alter Schmöker‹ an, ergibt sich eine Lesart, in der »die Titelfigur zugleich das Medium ihrer Erscheinungsweise mitthematisiert«3. Poetologische Befragungen des Namens ›Bebuquin‹ führen u. a. in die Richtung einer dilettantischen Ästhetik. So wird unter Bezug auf Einsteins Biographie die Hypothese aufgestellt, Einstein habe sein Buch als B8b8-bouquin, als Erstling, als das erste Buch eines bei Abdruck der ersten Kapitel gerade 22-Jährigen bezeichnen wollen. »Die Kombination b8b8/b8bÞte erklärte demnach die geistigen Schwächen und Mängel jugendlicher Pubertierender zum poetologischen Prinzip.«4 Die Komponente b8b8 sowie das durchgängige Ansprechen Bebuquins als »Jüngling«, »Knabe« oder »Säugling mit der Denkerstirn«5 bilden ein Kindheitsparadigma, das mit der Romanstruktur in der Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt konvergiere. Interpretiere man die Verkürzung von ›mannequin‹ im zweiten Teil des Namens als Vorführpuppe, Kunstfigur – wobei insbesondere die Bedeutung ›sentir le mannequin‹, d. h. nicht nach der Natur gearbeitet sein, mitschwingt –, so erhelle, dass der Name ›Bebuquin‹ bereits in nuce das gesamte Strukturprinzip des Romans enthalte: Der Name selbst deute dann bereits an, dass es sich bei Bebuquin um eine multiple Person handelt, um eine Kunstfigur also, die es in der empirischen Welt nicht gibt, die vielmehr artifiziell als Äquivalent einer subjektiv zeitlichen Anschauung konstruiert wurde.6 2 Vgl. Christoph Braun: Carl Einstein. Zwischen Ästhetik und Anarchismus. Zu Leben und Werk eines expressionistischen Schriftstellers. München 1987. S. 105. 3 Dirk Heißerer: Negative Dichtung. Zum Verfahren der literarischen Dekomposition bei Carl Einstein. München 1992. S. 114. 4 Ebd. S. 121. 5 Carl Einstein: Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908–1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980. S. 73– 114. Hier : S. 74, S. 101 und S. 78. 6 Heidemarie Oehm: Die Kunsttheorie Carl Einsteins. München 1976. S. 105. Eine weitere Ableitung des Namens, die ich hier nicht weiter verfolge, bezieht sich auf die jüdische Buchkultur : Der Hinweis auf einen möglichen hebräischen Kern, nach dem ›be-buquin‹ ›in Flaschen‹ bedeutet und das Alogische und Absurde der Hauptfigur bezeichne, bildet die

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Das oben genannte Kindheitsparadigma wird auch in der hier verfolgten Lesart eine zentrale Rolle spielen. Wesentliche Teile der Literatur der Moderne gehen von einer Verwandtschaft zwischen kindlichem Denken und primitivem Denken aus.7 Dies gilt auch und besonders für das Werk Carl Einsteins. Das Babyhafte der Hauptfigur ordnet Bebuquin8 – neben der über die Puppe hergestellten Brücke zu den afrikanischen Plastiken – in einen Diskurszusammenhang mit dem zeitgenössisch hochkonjunkturellen Primitivismus ein. Nicht zuletzt besteht zwischen dem Großstadttext Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders von 1912 mit seinem kindlichen Helden und der Präsentation primitiver Kunst in der Schrift Negerplastik von 1915 auch im Werkkontext Einsteins eine Nähe.9 Weiterhin ist ›Bebuquin‹ an ›Harlequin‹/›Harlekin‹ gekoppelt. Die Analogisierung Bebuquins mit dem traurigen Clown wird zunächst mit dem Jahrmarkts- und Zirkusmotiv in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders begründet. Es bestehe aber auch eine »formale Parallelität des Bebuquin zum Pikaroroman«10, die sich in der beliebigen Folge von Episoden zeige, die nur

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etymologische Grundlage dafür, den Schmöker als Affront gegen das Buch, die jüdische Buchkultur und gegen Einsteins eigene jüdische Herkunft zu verstehen. Vgl. Erich Kleinschmidt: Nachwort. In: Carl Einstein: Bebuquin. Hg. von Erich Kleinschmidt. Stuttgart 1985. S. 69–86. Hier: S. 73f und Heißerer (Anm. 3). S. 114. Vgl. Nicola Gess: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin). München/Paderborn 2013. S. 9f: Es sind »drei Figuren der Alterität, die im frühen 20. Jahrhundert […] als zeitgenössische Verkörperungen des Primitiven konzipiert werden: Wilde, Kinder und Wahnsinnige.« Dem liegt ein Verständnis von Primitivismus zugrunde, das sich nicht nur auf afrikanische und ozeanische, sondern auch auf andere außereuropäische Kunst sowie auf europäische Volkskunst, Kunst von Kindern und Geisteskranken und mittelalterliche Kunst bezieht (vgl. Nicola Gess: Literarischer Primitivismus: Chancen und Grenzen eines Begriffs. In: dies. (Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin/Boston 2013. S. 1–9. Hier: S. 2.). Vgl. außerdem Willi Baumeister, der sich in seinen Überlegungen zur »Entdeckung der Kunst« auf die Kunst der Urvölker, der Primitiven, der Kinder und der Geisteskranken beruft. In diesen Kunstformen seien »das ewige Handwerk, der ewige Autodidakt, der ewige Dilettant und das Kollektiv-Anonyme« am Werk. Willi Baumeister : Das Unbekannte in der Kunst. Stuttgart 1947. S. 148. Die Kurzform des Titels verwende ich alternativ zur Langform und beziehe mich jeweils auf die Fassung in der von Rolf-Peter Baacke herausgegebenen Werkausgabe. Zu den Titelvarianten, wie Einstein sie vorgenommen hat, vgl. z. B. Heißerer (Anm. 3). S. 168f. Ich danke Klaus H. Kiefer für den Hinweis, dass Einstein erst nach Abschluss des Bebuquin mit afrikanischer Kunst in Berührung gekommen ist. Auch wenn kein enger chronologischer Zusammenhang von Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders und Negerplastik behauptet und nachgewiesen werden kann, so ist doch festzustellen, dass beide Texte an Diskursen und Kontexten teilhaben, die sich zumindest überschneiden: Die Analyse macht sichtbar, dass Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders und Negerplastik auf je spezifische Weise an den Primitivismusdiskurs anschließen und jeweils in Beziehung zum kunstgeschichtlichen Kontext des Kubismus stehen. Katrin Sello: Revolte und Revolution. Vorschläge zu einer Interpretation des »Bebuquin«. In: alternative 13 (1970). S. 232–237. Hier: S. 236.

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

durch die Gegenwart Bebuquins zusammengehalten werden. Der Pikaro diene als Anlass, unterschiedliche Welten vorzuführen, Bebuquin fungiere als Demonstration unterschiedlicher Weltanschauungen.11 Neben ihren erkenntnistheoretischen Implikationen12 ist diese These auch ästhetisch zu verstehen, nämlich im theatralen Sinne. Denn wie der Harlekin sei Bebuquin ein Darsteller in einem Maskenspiel.13 Daran anknüpfend soll hier der Nachweis erbracht werden, dass zwischen dem zirzensischen Maskenspiel und dem primitiven Maskenritual eine Verwandtschaft besteht, die die zirzensischen Künste als Aneignungen des Primitiven unter den Bedingungen der modernen europäischen Großstadt ausweist. Die in der körperlichen Artistik und im primitiven Kult gleichermaßen stattfindende Erzeugung von Präsenz statt Repräsentation ist – zumal angesichts der durchgängigen Theatermetaphorik in Bebuquin – darüberhinaus als Rücknahme der Entstehungsgeschichte des Theaters aus der Umwandlung der Vergegenwärtigung des Gottes der Entgrenzung im Dionysoskult in repräsentierendes Spiel lesbar.14 Dilettantismus bei Einstein ist, so die übergeordnete These, die Erscheinungsweise des Primitiven in moderner, europäischer Gestalt. Und das heißt genau: in Gestalt der Zirkus- und Variet8künste. Die Tatsache, dass der Name ›Bebuquin‹ ein Konglomerat aus Elementen darstellt, die auf verschiedenste Kontexte und Wissensbestände verweisen, kann als Illustration dafür gelesen werden, dass dem Träger dieses Namens keine »unabhängige Tat«15 gelingen kann.16 Die Plurikontextualität und Intertextualität des Bebuquin verhindert aber nicht nur gewissermaßen die Autonomie und Wundertätigkeit der Hauptfigur, sondern sie ist zu verstehen und produktiv zu machen im Sinne einer Ästhetik des Artistischen, die in unterschiedlichen Facetten das Gesamtwerk Carl Einsteins durchzieht und in Bebuquin eine thematische sowie eine poetologische Bündelung erfährt. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie Einsteins Begriff des Artistischen, den er in seinen poetologischen Schriften entwickelt, mit der Artistik als zirzensischer Praxis, wie sie in Bebuquin thematisch wird, interagiert. Leitend ist dabei die Beobachtung, dass in den Namen ›Bebuquin‹ die zentralen Parameter dessen, was als artistische Ästhetik 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. die Deutung Silvio Viettas und Hans-Georg Kempers, die die Figuren des Textes in erster Linie als Repräsentant_innen erkenntnistheoretischer und philosophischer Positionen verstehen. Silvio Vietta und Hans-Georg Kemper: Expressionismus. München 1975. S. 162. 13 Wilfried Ihrig: Literarische Avantgarde und Dandysmus. Eine Studie zur Prosa von Carl Einstein und Oswald Wiener. Frankfurt/M. 1988. S. 63f. 14 Diesen Hinweis verdanke ich Bernhard Greiner. 15 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 108. 16 Vgl. Reto Sorg: Aus dem ›Garten der Erkenntnis‹ in die »Gärten der Zeichen«. Zu den literarischen Erstlingen von Leopold Andrian und Carl Einstein. In: Sprachkunst 27 (1996)-2. S. 239–266. Hier: S. 262.

Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

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konturiert werden soll, eingeschrieben sind. Durch seine explizite Auseinandersetzung mit dem Dilettantismus reiht sich Einsteins Text außerdem in die literatur- und kulturgeschichtliche Diskussion um dieses Phänomen ein. Die Assoziation von Kindheit (b8b8) und Dilettantismus im Titel nimmt Bezug auf eine Tradition, die von der Ästhetik des 18. Jahrhunderts begründet wurde.17 1910 lautet die zeitgenössische Fortführung dieses Gedankens bei Rudolf Kassner dann: »Nicht-Reif-werden-Können ist fast schon ein tragischer Ausdruck für den modernen Dilettantismus«.18 Im Hinblick auf Bebuquin wird also zu fragen sein, welche Funktion die Korrelation des Kindheitsparadigmas mit der dilettantischen Wundersuche genau erfüllt. Erweitert man den Fokus auch auf die kunstwissenschaftliche Schrift Negerplastik, wird das Primitive als Bezugspunkt für das Dilettantische sichtbar. Hinsichtlich der ästhetischen Tradition ist Einsteins Nobilitierung der primitiven Kunst in Negerplastik von Interesse: Die Zuschreibungen, die diese Kunst um 1900 aus der Warte der etablierten Künste erfährt, konvergieren mit der Charakterisierung Bebuquins: (evolutionäre) Kindheit und ästhetischer Dilettantismus. Von Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders ist also eine programmatische Auseinandersetzung mit dem Dilettantismusbegriff sowie dessen Neubewertung im Horizont der Avantgarden zu erwarten. Einsteins Schrift Negerplastik ist nicht nur in Bezug auf das ›b8b8‹ ein zentraler Intertext, auch der Begriff ›mannequin‹ entfaltet seine ganze Aussagekraft für eine artistische Ästhetik erst vor der Folie der afrikanischen Kunst. Euphemia, die in Bebuquin sowohl als Zirkusartistin als auch als Wachspuppe erscheint, ist das figurale Mannequin des Textes, das zirzensische Kunst – also Aspekte des Primitiven – und Kunstmenschentum – also das Puppe-Sein – in sich vereint. Es wird zu zeigen sein, dass und wie sich die Konzeption und Manufaktur von Wachs- und Schaufensterpuppen um 1900 am Kubismus orientieren; Einsteins Interpretation der Negerplastiken19 anhand kubistischer Problemstellungen ist bekannt. Wachspuppen und Negerplastiken können über das kubistische Formprinzip aufeinander bezogen werden und dadurch Auskunft über das Wechselverhältnis von avantgardistischer und primitiver Kunst geben. Sowohl die moderne europäische als auch die primitive afrikanische Puppe (zu dieser Bezeichnung unten mehr) sind also in Euphemia verkörpert bzw. anzitiert. Dass Einstein diese Figur zugleich als Zirkusartistin auftreten lässt, verknüpft ästhetisch-artistische Fragestellungen (z. B. die des Kubismus) mit der zirzensisch-artistischen Praxis. Die Nähe zwischen Bebuquin und dem Harlequin ist demnach nicht nur in der Phonetik und auf der 17 Vgl. S. 54f. dieser Arbeit. 18 Rudolf Kassner: Der Dilettantismus. Frankfurt/M. 1910. S. 49. 19 Ich verwende diesen Begriff durchgängig gemäß der Einsteinschen Diktion, die keine diskriminierenden Konnotationen mit sich führt.

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

Motivebene gegeben, sondern erweist sich als poetologisches Prinzip. Den Ausgangspunkt meiner Ausführungen des bislang Skizzierten soll also eine Verständigung über den Begriff bzw. das Konzept des Artistischen im Werk Carl Einsteins bilden.

I.

Das Konzept des Artistischen im Werk Carl Einsteins

Im Werk Carl Einsteins erscheint der Begriff des Artistischen in verschiedenen Zusammenhängen. Im Frühwerk ist das Artistische eine poetologische Kategorie, mit der das Konzept einer absoluten Prosa charakterisiert wird. In Einsteins Monographie über Georges Braque ist dann später vom Artistischen als einer zirzensischen Kunst die Rede. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die verschiedenen Verwendungsweisen, die Konstanten und die Brüche in Einsteins Denken über das Artistische gegeben werden. Auf das Jahr 1910 ist ein Aufsatz Carl Einsteins über William Beckfords Erzählung Vathek datiert. Eine Auseinandersetzung mit diesem Text findet – zumindest implizit – immer schon im Horizont des Dilettantismus statt. 1786 erschienen, gilt Vathek als Wegbereiter der französischen D8cadence-Literatur.20 Über den Autor schreibt St8phane Mallarm8: »[W]enn man das Talent abrechnet, eine Gestalt wie Brummel: obwohl vielleicht der Amateur Beckford den Dandy, der die Epoche faszinierte, übertrifft, nämlich durch seinen einsamen Prunk.«21 Text und Autor stehen also am Anfang einer Tradition, in der Dekadenz und Dandyismus das Amateurstum als Erscheinungsweisen des Dilettantismus abzulösen beginnen. Einstein gibt dem Ganzen wenig später dann eine Wendung ins Artistische: Er bezeichnet Vathek als »[e]in Buch der artistischen Imagination, der Willkür« und behauptet, »die Laune des Spleens wird […] zur Technik gerundet«.22 Die Gleichsetzung der artistischen Imagination mit Willkür und ihre Bestimmung als Technisierung des Spleens werden als Resultate des Verlusts des Wunderbaren ausgewiesen: »Der Glaube an die Realität, die Möglichkeit des Märchens schwand; […] doch ein Wille blieb, der der Wirklichkeit übermüdet ist, und man bildet eine die ästhetisch wahr ist im Sinne des orna20 In seinem Vorwort zu Beckfords Vathek kommt Jorge Luis Borges zu dem Schluss, dass Vathek »die satanische Pracht Thomas de Quinceys und Poes, Charles Baudelaires und Huysmans’ vorausahnen« lasse. Jorge Luis Borges: Vorwort. In: William Beckford: Vathek. Mit einem Vorwort von Jorge Luis Borges. Aus dem Englischen von Hans Schiebelhuth. Frankfurt/M. 2007. S. 7–11. Hier: S. 10. 21 St8phane Mallarm8: Vorwort zu »Vathek«. In: William Beckford: Vathek. Aus dem Französischen von Franz Blei. Frankfurt/M. 1999. S. 5–26. Hier: S. 13. 22 Carl Einstein: Vathek. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908–1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980. S. 28–31. Hier: S. 28. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.

Das Konzept des Artistischen im Werk Carl Einsteins

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mentalen bildhaften Zusammenhangs«.23 Artistische Imagination bezeichnet das Vermögen zur Schaffung einer ästhetischen Parallelwelt,24 in der nicht mehr das »Wunder«, aber das »Wunderliche[…]«, keine »Unermesslichkeit des Geschehens«, aber das »begrenzt Unmögliche[…]« existieren.25 Einstein führt Vathek als »Beispiel [an], daß Religiöses ästhetisch abwirkt und geheim im Poetischen besteht«, und fügt folgenden Kommentar hinzu: »Man erkläre hieraus die öftere Umkehr des ›Artisten‹ zur Kirche, welche in der immer gefühlten Verwandtschaft ästhetischer und religiöser Transzendenz sich gründet.«26 Ganz klar wird hier der Artist dem Bereich des Ästhetischen zugeordnet, ebenso klar arbeitet Einstein mit Strukturen und Motiven, die auch für Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders konstitutiv sind. Bereits der Titel deutet an, dass die Suche nach dem Wunder bestenfalls im Finden des Wunderlichen enden kann. Der Artist, der in Bebuquin eine Umkehr zur Kirche vollzieht, ist jedoch kein Literat bzw. Ästhet im engeren Sinn, sondern eine Zirkusartistin – also eine weibliche Figur : Euphemia. Darüber hinaus wird die Wendung zur absoluten Kunst in Bebuquin als Ästhetik »in artistischem Sinne«27 bezeichnet. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass Einstein in seinen poetologischen Bestimmungen die Kategorie des Artistischen für den literarisch-ästhetischen Bereich reserviert und auf der Seite der Produktion ansiedelt. Er nennt Beckford und dessen literarische Nachfolger »im Gleichnis Schwarzweißkünstler […], solche die mit abstrakten Farben arbeiten«28. Ihnen attestiert Einstein eine »Künstlichkeit, wo der Stoff sich gewissermaßen aus ornamentalen literarischen Associationen weiterbildet«, und der »ein ästhetischer Pessimismus« sowie »eine Anästhesie für das Lebendige« zugrunde lägen.29 Zur selben Zeit aktualisiert Einstein seine Bestimmung des Artistischen in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders nicht nur produktionsästhetisch, indem er selbst einen Text als absolute Prosa entwirft,30 sondern er arbeitet mit der Kategorie des Artistischen auch auf der 23 Ebd. 24 Heidemarie Oehm deutet Bebuquin unter diesen Vorzeichen: Bebuquin versuche eine creatio ex nihilo, die Schaffung einer neuen, artistischen Realität aus der verabsolutierten Subjektivität. »Gerade auf eine solche Schöpfung zielt der Begriff des ›Wunders‹, auf dessen Suche sich Bebuquin begibt. Dieser ist nicht mißzuverstehen als religiöse Kategorie, sondern er meint vielmehr eine ästhetische, die darauf verweisen soll, daß das Kunstwerk ebenso wie das Wunder einem demiurgischen Akt entspringt, der alle kausalen und gesellschaftlichen Bedingtheiten sprengt«. Oehm (Anm. 6). S. 35. 25 Einstein: Vathek (Anm. 22). S. 28. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 26 Ebd. S. 29. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 27 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 82. 28 Einstein: Vathek (Anm. 22). S. 30. 29 Ebd. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 30 Zum Begriff der absoluten Prosa vgl. ausführlich Maria Moog-Grünewald: Absolute Prosa? Anmerkungen zu Carl Einstein und Andr8 Gide. In: Hans T. Siepe und Raimund Theis (Hg.): Andr8 Gide und Deutschland / Andr8 Gide et l’Allemagne. Düsseldorf 1992. S. 73–82.

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

Inhaltsebene. Hier wie dort ist das Artistische auf Transzendenzverlust und Wundersuche bezogen, die figurale Trägerin ist jedoch eine Zirkusartistin, von der – ihrem Beruf/ihrer Kunst (!) entsprechend – keine ›Anästhesie für das Lebendige‹ zu erwarten ist. Bezüge zum Personal in Bebuquin sind auch ausgehend von der Verwendung des Begriffs des Artistischen in Einsteins Aufsatz Der Snobb herstellbar. Dort heißt es: »Das Erstorbene des Snobbs liegt von vornherein darin, daß er eine phantastische Forderung, deren Eigentümliches in ihrer Isoliertheit ruht, in eine Krawatte umsetzt, vielleicht um die Innerlichkeit einer artistischen Forderung zu bespötteln oder aus Schwerfälligkeit.«31 Der Snob wird hier als eine an der Oberfläche und an Äußerlichkeiten interessierte Figur vorgestellt, die zwischen Unwilligkeit und Unvermögen dem Artistischen gegenüber changiert und schließlich in einer Art Übersprungshandlung erstarrt. Es wird sich zeigen, dass Bebuquin nicht nur in seinen verzweifelten Schöpfungsversuchen Einsteins Charakterisierung des Snobs erfüllt, sondern dass er auch gegenüber der Artistin Euphemia zwischen Unwilligkeit und Unvermögen changiert. Erst in der mittleren Phase seines Schaffens wendet sich Einstein auch in theoretischen Schriften dem Zirkus zu und setzt den Begriff des Artistischen entsprechend ein: Einstein spricht davon, dass »eine Kreuzung von zweifelhaftem Caf8 und akrobatischem Zirkus« »[d]ie Welt lichterte«.32 Weiter erinnert er sich in einem Text über George Grosz: Man liebt die reinliche Artistik des looping the loop und die wörtliche Kindlichkeit der Clowns. In den Zirkus hatte sich ein Rest gewerblicher Sauberkeit gerettet, dort erkämpften noch die Akrobaten Befreitheit von Schwerkraft ehrlich mit hundertprozentiger Todesgefahr. Das war ernster, gekonnter als schwögender Idealismus. Eine vage oder unfertige Leistung wurde dort noch mit dem Tode bezahlt.33

Im Rückblick auf die Kunst der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts stellt Einstein eine Orientierung an der Zirkusästhetik fest und spricht dieser eine künstlerische Ehrbarkeit zu, die im Engagement mit Todesgefahr34 ein moralisches Argument enthält. Damit ordnet er Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders zunächst einer allgemeinen Orientierung an den so genannten niede31 Carl Einstein: Der Snobb. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908–1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980. S. 23–27. Hier: S. 26. 32 Carl Einstein: George Grosz. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 2: 1919–1928. Hg. von Marion Schmid unter Mitarbeit von Henriette Beese und Jens Kwasny. Berlin 1981. S. 332–336. Hier: S. 332. 33 Ebd. S. 334. 34 Die Todesverfallenheit ist in der Moderne um 1900 ein weit verbreitetes Phänomen, das in sehr unterschiedlichen Formen Gestalt annimmt. Zu denken wäre beispielsweise an Richard Beer-Hofmanns Roman Der Tod Georgs, die Lyrik Georg Trakls oder das Programm des Futurismus.

Artistik um 1900: Zirkus, Varieté, (niedere) Unterhaltungskunst

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ren Künsten ein. Mit der Rede von der ›wörtlichen Kindlichkeit der Clowns‹ wirft Einstein aber auch die Frage nach einer artistischen Ästhetik auf, sprich: die Frage nach der Möglichkeit einer literarischen Bezugnahme auf die zirzensische Kunst jenseits der Handlungs- und Motivebene. Beiden Aspekten soll nun nachgegangen werden.

II.

Artistik um 1900: Zirkus, Varieté, (niedere) Unterhaltungskunst

In ihrer Arbeit über Artistenkostüme im 19. Jahrhundert stuft Christine Schmitt »den Terminus ›Artist‹ […] als Berufsbezeichnung für all diejenigen Unterhaltungskünstler […] [ein], die auf Jahrmärkten, in Zirkussen oder Variet8s auftreten und dabei bestimmte Kunststücke oder Kunstfertigkeiten in Form eigenständiger Programmnummern zur Vorführung bringen.«35 Zeitgenössische Versuche der Selbstbestimmung ziehen noch die Abgrenzung zu älteren Verwendungsweisen des Begriffs »Artist« heran: Artist (vom lateinischen ars = die Kunst […]) war früher in Italien und Frankreich nur die Bezeichnung für Bildhauer, Maler und Schauspieler, und erst in den letzten zwanzig Jahren etwa nennt man in Deutschland so die Akrobaten, die Kunstreiter, Gymnastiker, Sänger, Mimiker, kurz alle Angehörigen des Circus und Variet8s.36

Gemeinsam ist den beiden Bestimmungen, dass sie den Artisten bzw. die Artistin dem Zirkus und dem Variet8 gleichermaßen zuordnen, Zirkus und Variet8 gar synonym verwenden. Dieser Umstand wird auch als Signatur der Unterhaltungskultur um 1900 reflektiert. So wird in der 1883 erstmals erschienenen Zeitschrift Der Artist. Central-Organ der Circus, Variet8-Bühnen, reisenden Kapellen und Ensembles festgestellt: »[V]erwischt sind heute die Grenzen zwischen Theater, Variet8 und Circus«.37 Rückblickend wird zudem ein gemeinsames Erbe von Kabarett und Zirkus erkannt: »In however varied a format, the satire, the exoticism of the performers, the eroticism of much of the material, the strongly rhythmic music, and the serial format of one routine followed by another all reveal a heritage common with the circus.«38 Diese Grenzverwischungen treffen gewissermaßen auch die Etymologie des Begriffs: Dieser ver35 Christine Schmitt: Artistenkostüme. Zur Entwicklung der Zirkus- und Variet8garderobe im 19. Jahrhundert. Tübingen 1993. S. 11. 36 Max Oberbreyer: Die Entwicklung des Artistenstandes und der »Artist«. In: Der Artist 1000 (1904). Unpaginiert. 37 Ebd. 38 Robert A. Jones: Art and Entertainment. German Literature and the Circus 1890–1933. Heidelberg 1985. S. 30.

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weist auf die traditionsreichen artes liberales und die Artistenfakultät (facultas artium). Unter dem Einfluss des Variet8s und des sich allmählich etablierenden Zirkus vollzieht sich im Laufe des 19. Jahrhunderts dann eine »Bedeutungsverschiebung, die ›Artisten‹ zunehmend mit Personen verbindet, die im Kontext einer populären Kultur akrobatische Geschicklichkeitsübungen vorführen.«39 Die semantische Entwicklung weg von der Artistenfakultät mit den Bildhauern, Malern, Schauspielern hin zu Akrobat_innen, Reiter_innen und Sänger_innen, deutet eine Anreicherung des Artistischen mit dilettantischen Elementen an. Diese Anreicherung lässt sich auch systematisch begründen: Die Öffnung des Theaters in Richtung der so genannten ›niederen Künste‹40 und die Integration theatraler Elemente in Variet8- und Zirkusdarbietungen weisen die Artistik um 1900 nicht nur als Mischformen dessen, was heute ernste und unterhaltende Kunst heißt, aus. Der Formensynkretismus gilt spätestens seit den Bestimmungen Goethes und Schillers als Einfallstor für Dilettantismus. Um 1900 wird die Leitdifferenz ›Genialität-Dilettantismus‹ auf die Konkurrenz zwischen der bürgerlichen Kunst und den Avantgardekünsten übertragen.41 Ausgehend von der Bestimmung des Artisten um 1900 werden mit Blick auf Carl Einsteins Bebuquin also folgende erste Fragen zu stellen sein: Ist die Situierung des Geschehens auf dem Jahrmarkt, im Zirkus und im Variet8 auch als Positionierung im ästhetischen Richtungsstreit zu verstehen? Welche Funktion kommt vor diesem Hintergrund Einsteins Integration der auffälligen Theatermetaphorik in seinen Prosatext zu? Welche Rolle spielen Exotismus und Erotik, die Bindeglieder von Zirkus und Kabarett? Ziel dieses Kapitels ist zu zeigen, dass erstens der Zirkus ein geeignetes Modell zur Reflexion der Avantgarden um 1900 ist; zweitens soll in Bezug auf Carl Einsteins Verständnis des Artistischen, auf den Text Bebuquin und die kunsttheoretische Schrift Negerplastik das Wechselspiel von zirzensischer Kunst, Dilettantismus und Primitivismus analysiert werden. Sowohl Christine Schmitts Einordnung von »Artist« als »Berufsbezeichnung«42 als auch die zeitgenössische Beobachtung, dass die Ausbreitung der Zirkusse und Variet8s vielen Artist_innen zum Broterwerb verhelfe, verweisen auf einen weiteren Aspekt, der die Untersuchung leiten soll: den Großstadtdiskurs. Damit in Verbindung steht die Unterhaltungskunst als »socialer Faktor«: Max Oberbreyer schreibt 1904 im Artist, die Entwicklung des Artistenstandes in den Jahren 1870–1900 habe dazu geführt, dass in allen Großstädten ein oder 39 Thomas Wegmann: Artistik. Zu einem Topos literarischer Ästhetik im Kontext zirzensischer Künste. In: Zeitschrift für Germanistik 20 (2010). S. 563–582. Hier : S. 567. 40 Vgl. das »Theater zur stummen Ekstase« in Bebuquin. 41 Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Mit einem Nachwort zur 2. Auflage. 5. Auflage Frankfurt/M. 1984. 42 Wie Anm. 35.

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mehrere Zirkus(se) und eine beträchtliche Anzahl an Variet8s angesiedelt waren. »An 300 grosse und kleine Variet8s in ungefähr 105 deutschen Städten geben heute den Artisten Gelegenheit zum Broterwerb und zahlreichen andern Leuten ihre Beschäftigung. Zweifellos ist also das Variet8wesen ein bedeutender socialer Faktor geworden.«43 Der soziale Faktor wirkt in mehrere Richtungen: Zunächst trifft er quantitativ eine Aussage über die Breite des Artistentums in der Bevölkerung. Kulturgeschichtlich ist auch eine ›qualitative‹ Dimension in ihn eingeschrieben: »From its earliest origins, throughout its century-old history, and even in its present role, performers have been and are considered to be of ›low‹ class, from a cultural ›fringe‹ or periphery that presumes a ›center‹, or from cultural ›depths‹ that presume ›heights‹.«44 In diesem quasi-räumlichen Paradigma wird den Artist_innen jedoch nicht nur eine Position in den kulturellen Niederungen zugeschrieben, sondern auch die Funktion, zwischen den Klassen zu vermitteln. Zieht der Zirkus von der Peripherie in die Stadt und präsentieren die Artist_innen aus der ›Unterschicht‹ ihre Künste vor dem bürgerlichen Publikum, so wird der Zirkus zur Institution der sozialen Integration. Der Zirkus vermittelt also zwischen beiden Klassen.45 Walter Benjamin spricht in diesem Zusammenhang vom Zirkus als »soziologische[m] Naturschutzpark« und »Ort des Klassenfriedens«: Das Zirkuspublikum sei im Ganzen auch das unselbständigste: in alle Schranken gepferchtes Kleinbürgertum, das selbst als Artist, als Clown oder Kunstreiterin diese Schranken nur jeweils auf Stunden, um sie mit denen der Manege zu vertauschen, verläßt. Der Zirkus ist vielleicht ein soziologischer Naturschutzpark, in dem das Ineinanderspiel einer Herrenkaste von Pferdezüchtern und Dompteuren mit einem gefügigen Proletariat, der plebs der Clowns und der Stalljungen noch ohne Misston, ohne revolutionäres Grollen sich vollzieht. Er ist ein (etwas unheimlicher) Ort des Klassenfriedens.46

43 44 45 46

Oberbreyer (Anm. 36). Jones (Anm. 38). S. 19. Vgl. ebd. S. 19f. Walter Benjamin: Rezension zu: Ramon Gomez de la Serna, Le cirque. In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Bd. 3: Kritiken und Rezensionen. Hg. von Hella Tiedemannn-Bartels. Frankfurt/M. 1972. S. 70–72. Hier : S. 71. Eine skeptischere Einschätzung nehmen Günter Bose und Erich Brinkmann vor. Für die nachabsolutistische Zeit stellen sie fest: »Der Artist wird hoffähig und ist jetzt nicht am Hof, sondern an einem neuen Ort: im Zirkus. Der Adel ist dort zu Gast, Gast allerdings in einem bürgerlichen Institut. Hier wird das produktive Moment der Natur in zweifacher Hinsicht genutzt: während der Körper sich produziert, wird er ökonomisch vom Betrieb des Zirkus genutzt, anschaubar und ausbeutbar in einem. Was dem Adel nur Unterbrechung der Langeweile ist, hat für den Bürger einen ernsteren Sinn. Der Körper soll Natur sein, d. h. frei. Und nichts soll es geben, was der Mensch nicht kann. Hier fühlt sich der Bürger zu Hause; es ist recht eigentlich sein Institut. Er schaut den Artisten zu, als ob ihre Produktion von seiner nicht verschieden wäre. Im ›als ob‹ gelingt der Trick.« Günter Bose und Erich Brinkmann: Circus. Geschichte und Ästhetik einer niederen Kunst. Berlin 1978. S. 33.

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Von besonderer Relevanz für die vorliegende Untersuchung ist darüber hinaus die Tatsache, dass für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Elemente von Exotismus bzw. Kolonialismus auf dem Gebiet des Zirkus bezeugt sind: Während der Zirkus unter dem Einfluß des Sports [v. a. des Turnens] sein Repertoire zusehends umstellte und vervielfältigte, wurde ihm infolge der europäischen Kolonialpolitik eine zusätzliche Bereicherung zuteil. Die phantastisch kostümierten Theaterexoten alter Tradition wurden mehr und mehr mit echten Exoten, vor allem nordafrikanischen, indischen, japanischen und chinesischen Artistentruppen, konfrontiert und verschwanden sehr schnell aus den Manegen. […] [D]ie einheimischen Zirkuskünstler […] stellten sich […] auf die neuen Gegebenheiten ein und ahmten in geradezu naturalistischer Manier die authentischen Fremdlinge nach. Ein weiteres Ergebnis der Kolonialisierung war der massenhafte Import exotischer Tiere. Elefanten- und Raubkatzendressuren etablierten sich seither als zirzensische Attraktionen.47

Zeitgenossen galt dieses Phänomen als Erweis einer kulturellen Bildungsfunktion des Zirkus bzw. des Variet8s: Die Internationalität der Artist_innen brächte den Zuschauer_innen fremde Kulturen näher : »Was lernt der ›kleine Mann‹ sonst von fremden Völkern und Sitten kennen? Er hat nicht das Geld, nach Kairo zu reisen oder an die Ufer des Ganges. Das Vari8t8 ersetzt ihm für 75 Mark Eintrittsgeld die teuerste Weltreise.«48 Auf das Werk Carl Einsteins gewendet, werden folgende Fragen zu beantworten sein: Vertritt der Roman Bebuquin eine ähnlich optimistische Perspektive in Richtung auf eine Versöhnung von hoher und niederer Kunst (und ihrer Träger_innen)? Welche Rolle spielt dabei die Funktionsäquivalenz des Artistischen und des Primitiven im Hinblick auf deren Einzug und Zur-Schau-Stellung in den Städten? Wird eine Exotisierung des Zirkus im Text gestaltet und wenn ja: wie? Die Assoziation von Zirkusartist_innen mit Niedrigkeit und Peripherie entspricht den Zuschreibungen des Primitiven und berührt so auch den ästhetischen Aspekt. Strukturell und mit Blick auf den ästhetischen Kanon sind diese Etikette zur Auszeichnung von Dilettantismus funktionalisiert worden;49 wissensgeschichtlich und mit Blick auf die bürgerliche Ästhetik um 1900 bilden Niedrigkeit und Peripherie die Einstufung der primitiven Kunst sowohl durch den imperialen Kolonialismus als auch durch die etablierten Künste ab. Gegen das (Vor)Urteil des kulturell Rück- und geographisch Randständigen erfährt die primitive Kunst durch die Avantgarden dagegen eine Aufwertung. In deren Perspektive erfüllt die primitive Kunst eine ähnliche kulturelle Funktion wie die Zirkus- und Variet8bühnen: Beide Kunst-

47 Schmitt (Anm. 35). S. 101. 48 Die Redaktion des ›Artist‹: Vier Rundfragen. In: Der Artist 1500 (1913). Unpaginiert. 49 Zu denken ist hier an das Motiv der Stufen(folge) und an den Primat des Zentrums.

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formen negieren die meisten Elemente der legitimierten Kunst.50 Um dies leisten zu können, müssen Artistik und Primitivismus jeweils in die bürgerliche Sphäre eingeführt werden; daher können sie als Parameter für eine Reflexion der ästhetischen Formationen um 1900 eintreten. Artistik und Primitivismus werden in dieser Arbeit als die zentralen Erscheinungsweisen des künstlerischen Dilettantismus um 1900 verstanden. In diesen beiden Formen ›niederer‹ Kunst zeigt sich ein Verständnis von Dilettantismus, das erstens nicht mehr nichtprofessionelles Liebhabertum meint: Die Artist_innen gehen ihrer Kunst erwerbsmäßig nach.51 Zweitens ist der Dilettantismus um 1900 in globale Zusammenhänge, nämlich Imperialismus und Kolonialismus eingebunden. Vor allem aber ändern die ästhetischen Avantgarden und Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders den Blick auf das, was »Dilettantismus« heißt: In diesem Phänomen wird nun Genialität gesucht. Denn – um den entscheidenden Schritt nicht zu kurz kommen zu lassen – dem Interesse am Zirzensischen literarisch nachzugehen, Zirkusmotive, Theatermetaphern und Variet8ästhetik Text werden zu lassen und über bestimmte Scharniere Verbindungen zum Primitivismusdiskurs poetisch herzustellen, bedeutet auch, dass Bebuquin eine poetologische Selbstbefragung vornimmt, die die Kategorien ›Dilettantismus‹ und ›Genialität‹ neu auslotet. Mit dieser Einordnung nimmt die vorliegende Arbeit eine Spezifizierung bzw. Umakzentuierung der Verhältnisbestimmungen von Artistik und Moderne vor. Überzeugend hat zuletzt Thomas Wegmann den Zirkus als Paradigma der Moderne interpretiert, indem er die Artist_innen als Reflexionsfiguren des 50 Für das Gebiet von Zirkus und Variet8 vgl. Jones (Anm. 38). S. 29. 51 Vgl. dazu auch die verschiedenen Strategien der Rechtfertigung, die im Artist zur Verteidigung und Ehrenrettung der Artist_innen angewendet werden. Diese reichen von der Darstellung und Widerlegung von Klischees (Perlmann) bis zur programmatischen Verkündung von Artistentugenden: »Die ›fahrenden Leute‹ früherer Jahrhunderte nahmen in der öffentlichen Meinung ungefähr dieselbe Stellung ein, wie die Vögel uter [sic] dem Himmel, die nicht säen, nicht in die Scheuern sammeln und vom himmlischen Vater doch ernährt werden. Das Volk erblickte in ihnen bloss sorgenlose Nichtstuer, die auf Kosten der arbeitenden Menschheit ein müheloses Dasein führten. Dieses grundfalsche Vorurteil hat sich trotz der ausserordentlich fortgeschrittenen Bildung und Aufklärung bis in die Gegenwart erhalten. Gerade die grosse Menge ist noch heute überzeugt, dass die Artisten der wirklichen Mühe, Arbeit und meist auch Sorge überhoben sind, dass sie weiter nichts zu tun haben, als im strahlenden Lampenlicht ihre bejubelten Tricks vorzuführen und die übrige lange Zeit des Tages darüber nachzudenken, welche Genüsse sie sich für die hohen Gagen leisten sollen.« (Emil Perlmann: Die Vereinsbildung im Artistenstande. In: Der Artist 1000 [1904]. Unpaginiert.) Über die Herausbildung zahlreicher Variet8s heißt es: »Neben dem Publikum ist es aber auch der Artistenstand, dem diese Vorteile zu statten kamen, und es soll an dieser Stelle besonders erwähnt werden, dass Fleiss, Ausdauer, Intelligenz und Findigkeit vieler Artisten dazu beitrugen, der Variet8-Bühne manche interessante, zum Teil sensationelle Neuheit zuzuführen.« Siegmund Kohn: Ein ernstes Wort. In: Der Artist 1000 (1904). Unpaginiert.

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komplexen Aufbruchs und Neuanfangs der literarischen Moderne ausgewiesen hat. Die Unbehaustheit der Zirkusnomad_innen korrespondiere der (transzendentalen) Obdachlosigkeit des modernen Subjekts überhaupt: So verkörpere beispielsweise der Equilibrist, der auf dem Hochseil unter Einsatz seines Lebens eine bestimmte Strecke durchläuft, das Paradigma des Passageren bzw. des Passagiers. Zum anderen erlaube die Fokussierung auf Artistik und ihren zirzensischen Kontext als eine Variante zeitgenössischer Populärkultur der literarischen Moderne selbst eine ästhetische Grenzüberschreitung zwischen legitimer und illegitimer Kunst.52 Neben der Tatsache, dass sich die literarische Moderne »[i]m Umfeld der illegitimen Künste des Zirkus […] als eine Literatur des Neuanfangs inszenieren«53 kann, weisen die Untersuchungen zum Zirkus in der Literatur um 1900 durchgängig auf die Selbstreferentialität der Artistik hin: Diese wird als Antwort auf die Sprachkrise verstanden, denn als genuin stumme Kunst sei Artistik in ihrer Stummheit nicht defizitär.54 Weiterhin erscheint die artistische Selbstreferentialität als Gegenstand von Literatur als ein Weg, um in der Medienkonkurrenz bestehen zu können: Am Werk Franz Kafkas zeigt Walter Bauer-Wabnegg, dass die Bedrohung der Schrift durch die neuen Medien mit der Hinwendung zu Körpern, die keine Botschaft beanspruchen, kompensiert wird, nämlich u. a. zu den Körpern von Artist_innen.55 Außerdem rückt er den nicht-mimetischen Aspekt des Artistischen in den Kontext der (ökonomischen) Verschwendung: Seit es sie gab, agierten Spielleute und Akrobaten im Namen der Verschwendung. Als Zeichen nur auf sich selbst bezogen, beriefen ihre Kunststücke sich immer auf die unmittelbare Wahrheit des Körpers. Vielleicht stellten sie sogar die einzige wirklich nicht-mimetische Kunsttradition Europas dar. Da sie im Grunde nichts zu verkaufen hatten und sich in ihrem Tun tatsächlich verschwendeten, waren sie ihrerseits auf die Verschwendungsbereitschaft anderer angewiesen.56

Diese These ist hier weniger aufgrund der ökonomischen Dimension interessant, sondern weil die Artistik, verstanden als ›einzige wirklich nicht-mimetische Kunsttradition Europas‹57, genau das Postulat des Nichtmimetischen er52 53 54 55

Vgl. Wegmann (Anm. 39). S. 579. Ebd. S. 580. Vgl. u. a. Jones (Anm. 38). S. 44. Vgl. Walter Bauer-Wabnegg: Zirkus und Artisten in Franz Kafkas Werk. Ein Beitrag über Körper und Literatur im Zeitalter der Technik. Erlangen 1986. S. 9. – Auf die Bedeutungsfreiheit und Körperbetontheit der Kunst von Jongleur_innen, Dompteur_innen, Equilibrist_innen und Parterreakrobat_innen weist auch Wegmann (Anm. 39). S. 563 hin. 56 Bauer-Wabnegg (Anm. 55). S. 11f. 57 Eine wechselseitige – und damit in einem referentiellen Bezug stehende – Nachahmung von Mensch und Tier besteht in den zirzensischen Künsten aber durchaus: »Kreuzweise ahmten im Zirkus Menschen Tiere und Tiere Menschen, Tiere aber auch Tiere und Menschen zugleich Menschen nach. Eben dieses Geflecht ist für den zirzensischen Raum spezifisch.« Als

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füllt, das Carl Einstein verlangt. An Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders wird also zu prüfen sein, wie sich das Konzept einer absoluten Prosa, genauer : Einsteins Poetologie des Artistischen zu den artistischen Gegenständen des Textes verhält. Thomas Wegmann gibt zu bedenken, dass die poetologische Kategorie des Artistischen sich einem performativen Widerspruch, wenn nicht gar einem Missverständnis verdanke: Auf der einen Seite privilegiere die emphatische Rede von der Artistik das Formale und Technische, das Gekonnte und Gemachte sprachlicher Artefakte – und das scheinbar unabhängig von Gegenständen, Motiven und Semantik bzw. Sinn. Auf der anderen Seite findet die Favorisierung poetischer Technik in der »eigensinnig-sinnverlassenen Könnerschaft von Reitern, Akrobaten und Clowns« ihr sprachliches Pendant und darüber hinaus eine Welt, der sie Tribut zollt, indem sie diese narrativiert, dramatisiert oder lyrisiert und damit nicht zuletzt literarische Mimikry an die nicht-mimetischen Künste des Zirkus betreibt.58

Bevor Einsteins Text auf seine Positionierung zu dieser Problematik untersucht und die aufgeworfenen Fragestellungen bearbeitet werden, soll zunächst auf den ersten Erscheinungsort des Bebuquin, die Zeitschrift Die Opale, und die Tragfähigkeit, diesen als Ort des Artistischen zu lesen, eingegangen werden. Ein Ausgangspunkt dieses Gedankenspiels ist die Konvergenz von Artistik und Virtuosität im Moment der erstaunlichen Steigerung einer Handlung, der Möglichkeit einer »›schier menschen-unmöglichen Perfektion in der Darstellung, in der Beherrschung des Instruments, der Stimme, des Körpers‹«.59 Den zweiten Aspekt dieser Überlegung bildet die Gegenüberstellung sowohl des Artisten als auch des Virtuosen gegenüber dem ›wahren‹ Künstler : Beide seien ambivalente Figuren, die im Ruch der Effekthascherei, des leeren Scheins und des seelenlosen Mechanischen stünden. Die These Hans-Georg von Arburgs, »[d]as diskursive Medium der Virtuosendarstellung schlechthin [ist]: die Anekdote« mit ihrer rhetorischen Erzeugung verblüffender Evidenz und der »[l]ocus classicus der Anekdote ist die Publizistik, genauer : das Feuilleton«60, führt schließlich Artistik, Virtuosität und Bebuquin zusammen. Denn nicht nur Artistengeschichten wie Heinrich von Kleists Essay Über das Marionettentheater sind im Feuilleton abgedruckt worden,61 sondern eben auch Einsteins artisti-

58 59 60 61

Beispiele sind u. a. sog. »Schlangenmenschen« oder rechnende Pferde zu nennen. Sylke Kirschnick: Versuch, im Bodenlosen Platz zu nehmen. Zirzensische Transgressionen bei Franz Kafka, Else Lasker-Schüler und Thomas Mann. In: Carsten Gansel und Paweł Zimniak (Hg.): Störungen im Raum – Raum der Störungen. Heidelberg 2012. S. 155–182. Hier: S. 172. Wegmann (Anm. 39). S. 567. Ebd. S. 570 unter Berufung auf Gabriele Brandstetter: Die Szene des Virtuosen. Zu einem Topos von Theatralität. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 10 (2002). S. 213–243. Hans Georg von Arburg: Einleitung. In: ders. (Hg.): Virtuosität. Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne. Göttingen 2006. S. 7–15. Hier: S. 12. Der Hinweis stammt von Wegmann (Anm. 39). S. 570.

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scher Text Bebuquin. Ist die literarische Form der Virtuosität die Anekdote und deren Ort das Feuilleton, so lässt die Verwandtschaft von Virtuosität und Artistik vermuten, dass auch Feuilleton und artistische Literatur eine wechselseitige Affinität aufweisen. Die Publikation der ersten vier Kapitel von Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders in der von Franz Blei herausgegeben Zeitschrift Die Opale ist für eine Lesart des Textes im Zeichen des Artistischen von besonderer Bedeutung: Zum einen gilt die Behauptung, dass für Einstein »die Artistik einer Po8sie pure zugleich eine materiale Ästhetik des Kostbaren«62 verlangt. Vor allem aber lässt sich die Korrespondenz des Edelsteinmotivs im Titel der Zeitschrift und in Einsteins Text gleichermaßen im Bereich des Artistischen verorten wie die thematische Ausrichtung der Zeitschrift u. a. auf erotische Gegenstände und Einsteins Konkretisierung dieses Schwerpunkts in der Figur Euphemia. Worin dies genau gründet, soll nun gezeigt werden.

III.

Artistik in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders: Paradigma des anthropologischen und des poetologischen Wunders

»Im Zirkus muß ja selbst dem Borniertesten aufgehen, um wie viel näher am Wesentlichen, wenn man will am Wunder, gewisse physische Leistungen stehen als die Phänomene der Innerlichkeit […].«63 Walter Benjamin formuliert hier eine Einschätzung des Zirkus, die sich mit dem Fokus der folgenden Analyse von Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders in wesentlichen Punkten trifft: Allgemein gelten der Zirkus, Akrobatik und Menagerie als Formen der Schaustellung menschlicher Wunder.64 Der Zirkus ist also ein Ort, an dem die menschliche Physis65 und das Wunder auf das Engste miteinander verknüpft sind. Mit Peter Sloterdijk gesprochen: »Artistik ist die Somatisierung des Unwahrscheinlichen«.66 Das Versprechen des Zirkus, den Menschen in Form des Artistischen Wunder erfahren bzw. beobachten zu lassen, weist einen der zentralen Handlungsorte in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders, den 62 63 64 65

Ihrig (Anm. 13). S. 45. Benjamin (Anm. 46). S. 70. Bose (Anm. 46). S. 94. Günter Bose und Erich Brinkmann sprechen gar von einer Exilierung des Körpers in den Zirkus: »Der Zirkus war ein bürgerliches Institut, wie geschaffen für den Schein […]. Im Maße wie der eigene Leib verdrängt wird, werden die Artisten zu Stellvertretern. Im Zirkus hat der Körper ein Exil gefunden.« Ebd. S. 7. 66 Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt/M. 2009. S. 104.

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»Zirkus zur aufgehobenen Schwerkraft«67, nicht nur als Ort des physikalischen, sondern auch des anthropologischen Wunders aus. Denn im Zirkus zeigt/sieht man »Leistungen, die an Mirakel grenzen.«68 Dass Wunder und Dilettantismus dabei die zwei Seiten der Medaille Artistik sind, wird durch Bebuquins Sich-Abwenden vom Zirkus zu Beginn des Textes angedeutet, kann aber auch systematisch hergeleitet werden: Die Frage, warum sich ein Mensch überhaupt auf ein Hochseil, ein Trapez oder in die Nähe von Löwen begibt, beantwortet Thomas Wegmann damit, dass in solchen Akten menschliches Unvermögen kultiviert und in ein Vermögen transformiert werde: Der moderne Mensch könne das alles eigentlich gar nicht mehr, seine evolutionäre Entwicklung habe ihn von solchen Geschicklichkeiten längst emanzipiert. Den für den Zirkus spezifischen Umschlag von Unvermögen in Vermögen repräsentiere unter den Zirkusnummern wiederum der (Reprisen-)Clown, der als gleichermaßen komische wie selbstreflexive Figur auftrete. Dessen notorisches Scheitern bei allem, was er in der Manege an Kunststücken versucht, sei ein scheinbares Scheitern, weil dieses Scheitern selbst einen hohen Grad an akrobatischer Geschicklichkeit voraussetze.69 Artistik erscheint erstens als Modus der Transformation von Dilettantismus in Können, zweitens als (authentisches) Kennzeichen eines evolutionären Frühstadiums und drittens als Maske, die Können und evolutionäre Gegenwart hinter (scheinbarem) Dilettantismus verbirgt. Im Folgenden soll erstens argumentiert werden, dass die Wundersuche in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders sich im Bereich des Artistischen abspielt. In einem zweiten Schritt soll dann das Artistische auf der poetologischen Ebene gesucht werden. Denn die Zirkuswelt fungiert nicht nur »als Parabel der Welt der Dilettanten«70. Genauso wenig sind Wunder und autonomes Werk nur durch ein bestimmtes tertium comparationis, nämlich den Einbruch eines kausal unerklärbaren Elements in

67 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 73. 68 Jean Starobinski: Porträt des Künstlers als Gaukler. In: ders.: Porträt des Künstlers als Gaukler. Drei Essays. Aus dem Französischen von Markus Jacob. Frankfurt/M. 1985. S. 7– 123. Hier: S. 25. 69 Vgl. Wegmann (Anm. 39). S. 581. Die innere Verwandtschaft von Dilettantismus und Artistik verhandelt Wegmann am Beispiel von Franz Kafkas Der Hungerkünstler : Kafka »avisiert Orte gesellschaftlicher Exterritorialität wie Zirkus, Variet8 oder Jahrmarkt, um in einem unhintergehbaren Paradox das Artistische künstlerischen Nichtstuns schreiben zu können.« (ebd. S. 576) Zur Befragung von Künstlerschaft in der Moderne vgl. auch Kafkas Erzählung Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse. 70 »Das Unterfangen der Dilettanten, das Wunder zu suchen, hat grosse Aehnlichkeit mit der Zirkusakrobatik: hier wie dort geht es darum, gewisse (Natur-)Gesetze scheinbar aufzuheben, sie zu durchbrechen. So erscheint die Zirkuswelt als Parabel der Welt der Dilettanten.« Hansjörg Diener : Dichtung als Verwandlung. Eine Studie über das Verhältnis von Kunsttheorie und Dichtung im Werk Carl Einsteins. Zürich 1987. S. 214f.

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die empirische Wirklichkeit,71 miteinander verbunden. Die zeitgenössische Aussage, Bebuquins Geschäft sei »ein metaphysisches Artistentum«72, operiert zwar bereits mit dem Begriff des Artistischen, verschiebt ihn aber direkt in den Bereich der Metaphysik und vernachlässigt dadurch alle Erkenntnisse, die durch eine Analyse des Artistischen als konkrete zirzensische Kategorie für Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders erbracht werden können.73 Im Anschluss an die Analyse des Zirzensischen auf der Inhaltsebene wird der Text zweitens auf Elemente einer zirzensischen Ästhetik, also auf poetologische Aspekte des Zirkus geprüft werden. Drittens schließlich soll untersucht werden, wie das artistische Prinzip der Reaktualisierung und Veranschaulichung von Fähigkeiten der evolutionären Vergangenheit in Bebuquin mit Carl Einsteins Schrift Negerplastik verknüpft ist. Dies führt schließlich viertens zu der Frage, ob Bebuquin als Dokument des literarischen Primitivismus lesbar ist.

III.1. Zirkus und zirzensische Künste Er wandte sich ab von der Bude der verzerrenden Spiegel, die mehr zu Betrachtungen anregen als die Worte von fünfzehn Professoren. Er wandte sich ab von dem Zirkus zur aufgehobenen Schwerkraft, wiewohl er lächelnd einsah, daß er damit die Lösung seines Lebens versäumte. Das Theater zur stummen Ekstase mied er mit stolz geneigtem Haupt; alle Ekstase ist unanständig, Ekstase blamiert unser Können, und ging schauernd in das Museum zur billigen Erstarrnis, an dessen Kasse eine breite verschwimmende Dame nackt saß. Sie war so breit, daß sie nicht etwa auf einem Stuhl saß, sondern auf ihrem schwermütigen, weit ausgedehnten Posterieur. Sie trug einen ausladenden gelben Federhut, smaragdfarbene Strümpfe, deren Bänder bis zu den Ach-

71 Vgl. Oehm (Anm. 6). S. 56. 72 Oskar Loerke: Literarische Chronik. In: Die neue Rundschau 29 (1917)-9. S. 1282–1283. Zit. n. Rolf-Peter Baacke (Hg.): Carl Einstein. Materialien. Bd. 1: Zwischen Bebuquin und Negerplastik. Berlin 1990. S. 71–72. Hier: S. 71. 73 Dies gilt natürlich auch für Ansätze, die das Artistische überhaupt nicht auf den Zirkus beziehen. Thomas Krämer z. B. stellt eine enge Beziehung zwischen der Suche nach einem autonomen Kunstwerk und dem Bedürfnis nach einem metaphysischen Obdach her und geht von einer Verlagerung der Quest vom artistischen in den religiösen Bereich aus (Thomas Krämer: Carl Einsteins »Bebuquin« – Romantheorie und Textkonstitution. Würzburg 1991. S. 150.). Mit der Beobachtung, dass die Buden im Textverlauf als Theater, Museum und Zirkus bezeichnet werden und der Folgerung, dass Scharlatanerie und Kunst dadurch verschwämmen, rückt Thomas Krämer dem hier vertretenen Ansatz näher (vgl. Thomas Krämer : Zur Textkonstitution von Carl Einsteins »Bebuquin«. Eine Untersuchung der prozessualen Entfaltung des Textes anhand des Romanbeginns. In: Klaus H. Kiefer (Hg.): Carl-Einstein-Kolloquium 1986. Frankfurt/M./Bern/New York/Paris 1988. S. 37–44. Hier: S. 40.). Im Hinblick auf die »Scharlatanerie« soll allerdings nicht die negative Konnotation des Begriffs, sondern die Leistungen der ›niederen‹ Künste überhaupt untersucht werden.

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selhöhlen reichten und den Körper mit nicht zu aufregend vibrierenden Arabesken schmückten. Von ihren Seehundhänden starrten rote Rubinen senkrecht.74

Die Exposition des Bebuquin beschreibt eine Abkehr von Medien der Erkenntnis, vom Ort der (physikalischen) Wunder sowie von der traditionellen Institution der Hochkultur. Es handelt sich dabei aber nicht nur um die Negierung bürgerlicher Werte; Bebuquin ist weder am heuristischen Wert der Professorenworte noch der Zerrspiegel interessiert, den Zirkus meidet er dessen Versprechen auf Lebenshilfe zum Trotz und auch die Bestimmung des Theaters zur Ekstase vermag keinen Reiz auf ihn auszuüben. Mit den neuen Erkenntnismodellen, der Aufwertung der niederen Künste und der Durchsetzung von ernster Kunst mit Unterhaltungselementen lehnt Bebuquin die zentralen Errungenschaften der geistigen und kulturellen Entwicklung um 1900 ab. Stattdessen betritt er das Museum zur billigen Erstarrnis. Dieses lässt zunächst an Konservierung bzw. Konservatismus, an Fortschrittsverweigerung und Tod denken.75 Blickt man jedoch auf die Repräsentantin dieses Orts, fallen deren Körperfülle, ihre auffällige Kopfbedeckung, ihre erotisch konnotierte Kleidung sowie die große Menge an Schmuck auf. Die Charakterisierung der äußeren Erscheinung Euphemias erfolgt durchweg anhand dieser Parameter : »Euphemia trat in das Caf8 ein. Das gelbe Licht gab ihren Röcken, – die sich wie Wogen von Rudern bewegten, über ihren straffen Beinen schäumten, – Konturen, die in ihrem Hut zusammenliefen und an dem weit überhängenden Federbukett des Hutes versprühten.«76 Einstein stattet die Kassendame des Museums zur billigen Erstarrnis mit Attributen aus, die üblicherweise Variet8künstlerinnen kennzeichnen.77 1904 wird eine in Deutschland gastierende französische Sängerin 74 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 73f. 75 Beispielsweise in der Lektüre Reto Sorgs steht Bebuquins Aufbruch von Anfang an unter dem Zeichen der Erstarrung. »Was sich im Neologismus der ›Erstarrnis‹ und im Topos der Puppe ankündigt, wird im Verlauf des Romans immer offensichtlicher : Erfüllung, wenn überhaupt, gibt es nur im Tod.« (Sorg: Aus dem ›Garten der Erkenntnis‹ [Anm. 16]. S. 249) Ähnliche Einschätzungen nehmen Heidemarie Oehm ([Anm. 6]. S. 156) und Hansjörg Diener ([Anm. 70]. S. 220) vor. Thomas Krämer deutet die Erstarrnis als »Bild einer in der Entgegensetzung von Subjekt und Objekt erstarrten Ich-Vorstellung« (Krämer: Romantheorie [Anm. 73]. S. 89). Andernorts bezieht er den Begriff auf die ästhetische Tradition: Die ›billige Erstarrnis‹ stehe allgemein für diejenigen Kunstrichtungen, die den Prozesscharakter des Lebens unvermittelt realisieren oder gar überhaupt negieren wollen und so ins Erstarrte abgleiten (vgl. Krämer : Textkonstitution [Anm. 73]. S. 89). Klaus H. Kiefer subsumiert die Erstarrnis dem Dilettantismus: Der Begriff ›Erstarrnis‹ meine »ein bequemes oder kostenloses, gleichsam euphemistisches Haltmachen vor der ›Grundverwandlung‹ im Tode oder aber eine analog qualifizierte Ersatzhandlung […]: Spiritismus, Alkoholismus, Erotik, Sektiererei, Kunst usw.« Klaus H. Kiefer: Äternalistisches Finale oder Bebuquins Aus-Sage. Carl Einsteins Beitrag zur Postmoderne. In: Neohelicon 21 (1994). S. 13–46. Hier: S. 19f. 76 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 83. 77 Außerdem deutet die Beschreibung Euphemias als Gommeuse mit der Akzentuierung der

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folgendermaßen beschrieben: »Ihre blendende Erscheinung wirkte geradezu verblüffend; solch farbenprächtiges Gemisch von Sammt und Seide, Spitzen und Juwelen, hatte man, in diesem eigenartigen Arrangement, selbst in Berlin noch nicht gesehen.«78 Euphemia figuriert als »Gommeuse«, als der Inbegriff der »pikanten« Variet8sängerin.79 Über deren Erscheinungsbild schreibt Christine Schmitt: »Nach 1900 wurden paillettenstarre Kleider zur großen Mode der Gommeuses (parallel zu den Paillettenanzügen der Clowns). […] Riesige, phantasievolle Hutgebilde und jede Menge Schmuck komplettieren die glamouröse Erscheinung der Gommeuse.«80 An der Kasse des Museums sitzt also die prototypische Unterhaltungskünstlerin der Großstadt um 1900. Bebuquin, der das Theater zur stummen Ekstase umgangen hatte, wird hier mit einer subtileren Form von Erotik konfrontiert: Bebuquins Sorge, »Ekstase blamiert unser Können« und Böhms Verdikt, »Erotik ist die Ekstase des Dilettanten«,81 decken sich mit zeitgenössischen Urteilen über Sängerinnen und Tänzerinnen im Variet8: »Da insbesondere beim weiblichen Personal mangelhafte Kunstleistungen häufig durch die erotische Präsentation der eigenen Person kompensiert wurden, diskutierten die Fachleute darüber, ob das Genre überhaupt noch als artistisch bezeichnet werden könnte.«82 Den Dilettantismusvorwurf kontert die Gommeuse, indem sie die wechselseitige Transformation von Unvermögen in Vermögen, d. h. von Dilettantismus in Können verkörpert: Der Glamour, mit dem sich die Gommeuse umgab, gehörte notwendig zu ihrem »scenischen Apparat«. Er war Voraussetzung ihrer raffinierten Enthüllungsstrategie, die – entgegen den Tatsachen – darauf basierte, niemals den anstößigen Eindruck körperlicher Blöße aufkommen zu lassen. Das gewagteste Dekollet8 wirkte nicht mehr nackt, wenn es mit funkelndem Schmuck behängt und zudem von einem riesigen Hut überschattet wurde. Die gigantischen Kopfbedeckungen dienten außerdem als optisches Gegengewicht zur tabuverletzenden Exponierung der Beine83.

78 79 80

81 82 83

Kreisbewegung sowie der zusammenlaufenden Konturen ihrer Röcke auf eine Geometrisierung der Figur im Sinne des Kubismus hin. J. Glück: Die Störenfriede. In: Der Artist 1000 (1904). Unpaginiert. Schmitt (Anm. 35). S. 166. Ebd. S. 169. Sehr ähnlich beschreibt Gustave Flaubert 1842 seine Kindheitserlebnisse im Zirkus: »Immer schon habe ich glänzende Dinge geliebt. […] Oh! wie liebte ich vor allem die Seiltänzerin mit ihren langen Ohrgehängen, die um ihren Kopf schlenkerten, und ihrem schweren, steinbesetzten Collier, das auf ihre Brust schlug! Mit welch unruhiger Gier sah ich ihr zu, wenn sie sich bis zur Höhe der zwischen den Bäumen aufgehängten Lampen emporschwang, und wie ihr von Goldpailletten gesäumtes Kleid im Wind knatterte und sich bauschte, wenn sie aufsprang!« Gustave Flaubert: November. Zit. n. Starobinski (Anm. 68). S. 41. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 73 und S. 75. Schmitt (Anm. 35). S. 13. Ebd. S. 170.

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Euphemia, die mit »nicht zu aufregend vibrierenden Arabesken«84 geschmückt ist und durch die Geburt ihres Sohnes ihre Jungfräulichkeit zurückzugewinnen scheint,85 steht für eine Form von Sexualität, die nicht die Ekstase der Dilettant_innen ist, sondern das Vermögen, Kunstwerke zu produzieren: Es ist »Euphemias massige[r] Busen«, der die Böhmsche Wirklichkeitsgliederung zur Anschauung bringt: »Ein Spiegel hing über ihm. Er sah, wie die Brüste sich in den feingeschliffenen Edelsteinplatten seines Kopfes zu mannigfachen fremden Formen teilten und blitzten, wie sie ihm keine Wirklichkeit bisher zu geben vermochte.« Und es sind Euphemias »lange Haarsträhnen«, welche im Spiegel den Eindruck erzeugen: »jedes Haar waren tausend Formen.«86 Euphemia inszeniert sich selbst als arabeskenhaftes Kunstwerk, sie transformiert ihr »weit ausgedehnte[s] Posterieur«87 und ihren »massigen Busen«88 als Gommeuse zu Kunstgegenständen: Denn – wie Christine Schmitt unter Berufung auf eine zeitgenössische Quelle feststellt – selbst wenn sich die Sängerinnen […] »bis zum Korsett aufschürzten und bis zu den Strumpfbändern dekolletierten«, so hatte diese Exhibitionierung im Grunde keinen sexuellen Charakter. Die im Licht der elektrischen Scheinwerfer schimmernden Seidenstoffe, die gleißenden Pailletten, Gold- und Silberstickereien, nicht zuletzt der blitzende Schmuck nahmen der Gestalt alles Menschliche, stilisierten sie zu einem kostbaren Kunstgegenstand.89

Die Erotisierung der Frau dient also ihrer Ästhetisierung und Entmenschlichung. Böhms Impotenz legt Zeugnis davon ab: »Er erinnerte sich der Frau und merkte etwas beklemmt, daß er nicht mehr zu ihr dringen könne durch das Blitzen der Edelsteine, und sein Leib barst fast wie im Kampfe zweier Wirklichkeiten.«90 Im Museum zur billigen Erstarrnis verkörpert Euphemia den Inbegriff der Variet8sängerin um 1900 und setzt die Aufsprengung der Verbindung von Erotik und Dilettantismus in Szene. Damit entzieht sie dem Verdacht, die Zur-Schau-Stellung körperlicher Reize diene der Kompensation mangelnden Könnens, die Grundlage. Indem Euphemia den Umschlag von Erotik in Kunstschaffen bewerkstelligt, führt sie performativ vor, welche Leistung die (als dilettantisch verschrieenen) Unterhaltungskünste zum Erweis eines höheren Vermögens erbringen können. Doch Euphemia tritt noch an einem anderen Ort und in einer anderen Funktion auf: nämlich als Artistin im Zirkus. Zu diesem Auftritt legt der Text im 84 85 86 87 88 89 90

Wie Anm. 74. Vgl. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 83. Ebd. S. 76. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Wie Anm. 74. Wie Anm. 86. Schmitt (Anm. 35). S. 171. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 76.

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Vorfeld schon einige Spuren, beispielsweise indem Euphemia ihr erotisches Desinteresse an Bebuquin damit begründet, er sei ein »Dressurprodukt«91. (Auch andere Figuren werden mit dieser Zirkuspraktik in Verbindung gebracht, z. B. Heinrich Lippenknabe, wenn er sagt: »›Ich bin darauf dressiert, überall die Negation aufzufinden.‹«92) In Bebuquin laufen mehrere Stränge zusammen, die eine große Affinität dieser Figur zum Zirkus anzeigen: »Er blätterte in einigen Mathematikbüchern, und viele Freude bereitete es ihm, mit der Unendlichkeit umherzuspringen, wie Kinder mit Bällen und Reifen.«93 Der Bezug zum Dilettantismus wird textimmanent hergestellt, denn von Böhm weiß die Leser_in: »Mit der Unendlichkeit zu arbeiten, ist purer Dilettantismus«.94 Den Bezug zum Zirkus markieren die Bälle und Reifen, die Bebuquin als (dilettantischen) Jongleur ausweisen. Über den Parameter Kindheit (im weiteren Sinne) werden Dilettantismus und Zirkus dann auch wechselseitig aufeinander bezogen, denn die artistische Produktion ist auf die Lebensphase unter 35 Jahren begrenzt.95 Aufgrund seiner Affinität zum Zirkus ist Bebuquin auch mehr an Euphemia der Artistin als an Euphemia der Gommeuse interessiert. Erste Zeichen von Interesse zeigt Bebuquin signifikanterweise erst nach Euphemias Auftritt im Zirkus, nicht etwa schon im »Museum zur billigen Erstarrnis«: »Leise ging sie [= Euphemia] in die Mitte der Arena, zog ihr Gazekleid ab und stand nackt in der Dunkelheit. […] ›Sie sind nun erledigt‹, rief Bebuquin durch die Finsternis. Sein Schatten glitt über den Boden, über Euphemia.«96 Als Zirkusakrobatin verkörpert Euphemia nicht die sinnlich-üppige Weiblichkeit, sondern mit Männlichkeit konnotierte Attribute wie einen stählernen Körper.97 Das Interesse des sich mitunter auch im »Freiturnen«98 übenden »Dressurprodukt[s]«99 Bebuquin am Artistischen reflektiert eine zeitspezifische Entwicklung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Das Aufblühen des Zirkus als »zentrale[s] Institut der

91 Ebd. S. 98: »›Glauben Sie, Giorgio, jemand wie Sie bringt kein Weib zwei Zentimeter von der Stelle. Denn sobald Sie etwas tun, ist es gegen Sie. Ich getraue mich nicht – gegen ihren Willen zu sagen, Sie Dressurprodukt.‹« – Mit Rudolf Kassner ist Euphemias erotisches Desinteresse zudem auf Bebuquins Status als Dilettant beziehbar : Frauen würden den modernen, einsamen Dilettanten nicht mögen, weil sie merkten, dass sie in seinem Leben keine Rolle spielen. Vgl. Kassner (Anm. 18). S. 53. 92 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 82. 93 Ebd. S. 77. 94 Ebd. S. 82. 95 Vgl. Bose (Anm. 46). S. 91. 96 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 95. 97 Zu zirkusspezifischen Konzeptionen von Männlichkeit vgl. Jürgen Laun: Männer – Tiere – Sensationen. Männlichkeitsentwürfe in deutscher und dänischer Zirkusliteratur 1837–1913. Kiel 2006. 98 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 113. 99 Wie Anm. 91.

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Körperkunst«100 erfolgte parallel zur Entstehung des Volkssports, des Turnunterrichts, der Herausbildung der Sportvereine etc.101 Über das Variet8 als Institut der Körperkunst schreibt Max Nordau: Das Vari8t8 erzieht breite und tiefe Volksschichten zur Freude an höchster Vervollkommnung menschlicher Leibestüchtigkeit und Formenschönheit, zur Würdigung der Kraft, der Gewandtheit, des Mutes, der Willensstärke, zum Stolz auf die souveräne Beherrschung des Körpers durch den Geist. Alle diese Eigenschaften nannten die Alten »virtus«, »Tugend«, und schätzten sie als den höchsten Vorzug des Mannes, des Menschen. Wir haben den Begriff der Tugend vergeistigt; vielleicht zu sehr ; es ist nützlich, dass das Vari8t8 uns gelegentlich auch an den ursprünglichen Sinn des Wortes virtus erinnert.102

Während in Euphemia die »gefährliche Virilität der Zirkusprinzessin«, die sich in ihrer Verwandtschaft mit der »femme fatale« und dem »Vamp« zeige,103 eingeschrieben sein könnte, drängt sich bei Bebuquin, dem kindlich dilettierenden Jongleur, die Frage nach dem artistischen Erziehungsgedanken auf. Ob die Nähe des Salto mortale zur femme fatale tatsächlich gegeben ist, welche Funktion Euphemias artistische Darbietung im Text erhält, und welche Bedeutung Bebuquins Verhalten zukommt, soll nun geprüft werden. Die Menschen, die löffelweise, keiner wußte von anderem, in den Zirkus, eine kolossalische Rotunde des Staunens, geflattert waren, saßen zur Masse verkeilt, und man erwartete Miß Euphemia. An den Ranggeländern liefen Ornamente erregter Hände entlang, Bogenlampen schwangen ihre energetischen Milchkübel. Man bemerkte Euphemia erst, als sie an der Decke aufgezogen war, sie hielt sich mit den Zähnen in einen Strick verbissen. Ließ sich los, und ein Salto mortale war an der Decke geschlagen zum anderen Ende, wo sie mit den Zähnen ein Seil aufriß. Es fiel ein Programm. Miß Euphemia glitt beim dritten Male am Seil ab; sie beschloß aus formalen Gründen, sich das Genick zu brechen. / Senkrecht schrien die Leute, einige versuchten, von den Galerien herabzuspringen. Euphemia sah den schwebenden Kronleuchter und ergriff fünfeinhalb Meter über dem Boden das Seil. / Die Leute wüteten. / Euphemia machte dann mit großer Sicherheit noch einige Salto mortales. / Trotzdem, sie war moralisch ruiniert. / (Die stärkste Moralität dies des Handwerks.) / Und sie fand es ziemlich, in ein Kloster einzutreten, um zu büßen. / Die Menschen leerten sich in den kühlen Abend, gingen auseinander und verschwanden. / Der Zirkus stand leer, eine runde Dunkelheit. / Vor einem schlafenden Affenkäfig geißelte sich Euphemia.104

Es fällt auf, dass Euphemias Scheitern bei der Darbietung zwei Dimensionen hat: den misslungenen dritten Salto, der schließlich – gemeinsam mit Euphemias 100 101 102 103 104

Bauer-Wabnegg (Anm. 55). S. 45. Vgl. ebd. Die Redaktion des ›Artist‹ (Anm. 48). Bose (Anm. 46). S. 11. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 94.

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Leben – gerettet werden kann, und den moralischen Ruin, der diesem Fehler folgt und höchstens durch Buße und Geißelung kompensiert werden kann. Die ethische Komponente, die die anthropologischen Wunder des Zirkus beinhalten, ist ein spezifisches Kennzeichen der Moderne, wie der Vergleich mit Archangelo Tuccaros Trois Dialogues de l’Exercise de Sauter et Voltiger en l’Air von 1549 zeigt. Diese Schrift gilt als Beleg für den ersten nachweisbaren Salto mortale und beschreibt vor allem die Geometrisierung des Körpers beim Sprung: Man muß beachten, daß die Glieder, um den richtigen Sprung zu machen und sich zu erheben, zu drehen und den Sprung zu beenden, sich mit Hilfe dieses Sprunges aufeinander einstimmen und einander antworten, indem sie sich so vereinigen, wie es mehrere Linien tun, die kreisförmig dem Zentrum entsprechend gezogen werden. […] Die Kunst des Springens wird auf Mathematik aufgebaut. Aber nicht ganz. Ein Rest bleibt: Die Erfordernisse des Körpers, seine richtige Temperatur, das harmonische Zusammenspiel der Glieder und Muskeln.105

Diese Orientierung am mathematisch-geometrischen Paradigma wird mit der Kalkulierbarkeit und Rationalität der aufgeklärten Welt erklärt (im Gegensatz etwa zum Mittelalter mit seinem affektiven Bezug zum Körper).106 Entsprechend räumt Tuccaro der Körpertemperatur einen Anteil am Ge- oder Misslingen des Sprungs ein, Kategorien der Moral oder Ethik scheinen dagegen keine Rolle zu spielen. Des Weiteren setzt Tuccaro ein ›harmonisches Zusammenspiel der Glieder und Muskeln‹ und damit eine Integrität des Körpers voraus, wie sie in der von Fragmentarität geprägten Moderne um 1900 nicht mehr denkbar ist.107 Seelische Integrität wiederum stellt in Bebuquin ein erklärtes Ziel dar : Euphemias Reaktion auf ihr Scheitern, nämlich Buße zu tun und sich zu geißeln, deutet darauf hin, dass ihr Artistentum in quasi-sakrale Zusammenhänge eingebunden ist. Nach dem Verlust des transzendentalen Obdachs ist die Wundersuche in den profanen Bereich verschoben;108 im Zirkus, dem Ort der anthropologischen Wunder, scheint diesbezüglich die Aussicht auf Erfolg am größten zu sein. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Zusammenspiel von zirzensischer Kunst und Einsteins ästhetischer Theorie des Artistischen zu: Das Gelingen von ar105 Archangelo Tuccaro: Trois Dialogues de l’Exercise de Sauter et Voltiger en l’Air. Zit. n. Bose (Anm. 46). S. 16 und S. 18. 106 Vgl. ebd. S. 17. 107 Stellvertretend für die zahlreichen Ansätze in der Moderne, die mit der Denkfigur der Fragmentarisierung arbeiten, sei auf das Werk Ernst Machs, v. a. auf seine Beiträge zur Analyse der Empfindungen von 1886 (die in späteren Auflagen dann unter dem Titel Die Analyse der Empfindungen erschienen sind) verwiesen. 108 Der Genauigkeit halber muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass Wunder sich immer im profanen Bereich ereignen. Der Unterschied zwischen dem religiösen und dem anthropologischen Wunder besteht darin, dass dort die Transzendenz das Bezugssystem bildet und hier nicht.

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tistischer Performanz hängt konstitutiv vom Gelingen der Interaktionen zwischen Mensch und Seil/Ball/…, Mensch und Mensch, bzw. Mensch und Tier ab. »Damit einher geht eine gegen den Anschein des souveränen, sein Fach beherrschenden Artisten gerichtete Dezentrierung des Subjekts, zugunsten enthierarchisierter Mensch-Ding- und Mensch-Mensch-Kombinationen.«109 Gelingende Artistik ist an Heteronomie und eine Auflösung des (autonomen) Subjekts gebunden. Mit der Artistik handelt es sich folglich um eine Kunstform, für deren Erfolg gerade ein Element zentral ist, welches in der ästhetischen Tradition als Merkmal des Dilettantismus gegolten hat. Autonomieästhetische Ansätze z. B. verorten Dilettantismus in Formen von Heteronomie wie Beifallssucht; auch die Epigonalität als eine der Erscheinungsweisen des Dilettantismus im 19. Jahrhundert ist notwendigerweise durch eine Heteronomie des dilettierenden Subjekts charakterisiert. In Bebuquin dagegen gilt: Die ethische Forderung an die Artistik ist eingelöst, wenn das autonome Subjekt sich auflöst und das anthropologische Wunder – d.i. die Überschreitung des Menschenmöglichen im körperlichen Bereich – sich erfüllt.110 In seinen späten poetologischen Schriften fordert Carl Einstein die vorsätzliche Zerstörung des empirischen Ichs und seiner Bewusstseinsstrukturen, um den vorbewussten Zustand einer Identität von Subjekt und Objekt wieder herzustellen.111 Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders hat Einstein selbst als »Totenbuch des Ich«112 bezeichnet. Entsprechend gilt dieser Text als »das Protokoll eines solchen Trainings der Ichzerstörung in seinen verschiedenen Phasen« bzw. als »Dokument planmäßiger Selbstzerstörung«.113 In seinem Aufsatz über Vathek bestimmt Einstein die artistische Imagination als das Vermögen, das »Wunderliche[…]« bzw. »begrenzt Unmögliche[…]«114 zu schaffen. Das alles heißt also: Der Zirkus, in dem das artistische Ich dezentriert und – in Euphemias Fall – in eine Seil-Mensch-Relation aufgelöst wird, ist als Ort prädestiniert, um neben dem anthropologischen Wunder auch Einsteins ästhetisches Verständnis des artistischen Wunders einlösen zu können. So ist es konsequent, für Euphemias 109 Wegmann (Anm. 39). S. 570. 110 Grundsätzlich bezeichnet »[d]as dt. Wort ›Wunder‹ […] allgemein ein Ereignis, das aus dem Bereich des Gewohnten herausfällt; das semantische Feld reicht von dem ›Unerwarteten‹ bis zu der ›Norm-Überschreitung‹.« (Ulrich Nanko: Wunder. In: Hubert Cancik, Burkhard Gladigow und Matthias Laubscher (Hg.): Handwörterbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 5: Säkularisierung-Zwischenwesen. Stuttgart/Berlin/Köln 2001. S. 386–389. Hier: S. 386.) Generell ist der Zeichencharakter des Wunders hervorzuheben (vgl. ebd. S. 386f). Im religiösen Kontext werden Wunder häufig als Divinationen gedeutet. Vgl. ebd. S. 387. 111 Vgl. dazu Einsteins Monographie Georges Braque. 112 Diese Bezeichnung entspringt einer Schrift aus dem Pariser Nachlass. Ich zitiere sie nach Sibylle Penkert: Carl Einstein. Beiträge zu einer Monographie. Göttingen 1969. S. 94. 113 Oehm (Anm. 6). S. 33. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 114 Wie Anm. 25.

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Selbstmord »formale[…] Gründe[…]«115 anzugeben: Denn die vollendete Totalität der Form ist für Einstein nur über die Destruktion der empirischen Person zu erreichen.116 Durch die wiederholte Betonung des Einsatzes von Euphemias Zähnen bei der Rettung des Sprungs wird diese Konstellation noch verschärft: Wenn sie sich mit den »Zähnen in einen Strick ver[beißt]« bzw. »mit den Zähnen ein Seil auf[reißt]«,117 zeigt Euphemia im Zirkus, der »räumlich gewordene[n] Beziehung zwischen Mensch und Tier«118, Verhaltensweisen, die in der Moderne nicht (mehr) dem Menschen, sondern Tieren zugeordnet werden.119 Was in der Antike im Dionysoskult praktiziert worden ist, nämlich die Entgrenzung zum Gott im Bocksgewand, findet in der Moderne im Zirkus statt. Dort kann der Mensch »sowohl mehr als ein Mensch werden […], nämlich ein geflügelter Genius, als auch weniger, nämlich eine Kröte.«120 Nach Walter Benjamin stellt der Zirkus ein Reservat solcher die Tier-Mensch-Grenze hinterfragender Verhaltensweisen121 dar, weil dort die Tierwelt »das Patronat über die Menschheit genommen hat«122 : Denn das ist ja das Geheimnis des besonderen Gefühls, mit dem ein jeder den Zirkus betritt: Im Zirkus ist der Mensch ein Gast des Tierreichs. Die Tiere stehen doch nur scheinbar unter der Botmäßigkeit des Dompteurs, die Kunststücke, die sie machen, sind ihre Art den jüngeren Bruder zu unterhalten und zu zerstreuen, da sie ja Besseres mit ihm nicht anfangen können. Die Zirkusleute haben von ihnen gelernt. Wie Vögel von Ast zu Ast, so fliegen von Trapez zu Trapez Akrobaten, die Hände des Zauberers schießen durch den Raum wie zwei Wiesel, als Schmetterling lässt auf den Pferderücken die Schulreiterin sich nieder, der dumme August schnuppert wie ein Tapir sich durch den Sand der Manege und nur der Stallmeister mit der Peitsche fällt als der Herr der Schöpfung aus dem anarchischen Tierparadiese heraus. Wie sie so ist im Zirkus auch alles andere bis in die Umgänge, Passagen, Tore hinein von animalischem Leben erfüllt.123 115 Wie Anm. 104. 116 Vgl. Oehm (Anm. 6). S. 127. 117 Die »bissige Begehrlichkeit« ist das Merkmal der Zirkusakrobatin, das nach Jean Starobinski deren Verwandtschaft sowohl mit Tieren als auch mit Vampiren begründet und damit auch ihre Sexualität als potentiell bedrohlich erscheinen lässt: »Wahrhaftig, hinter der Geschmeidigkeit dieses weiblichen Körpers verbirgt sich – aggressiv, gefährlich – die Männlichkeit. Irgend etwas macht sie den Raubtieren verwandt […]. […] Wenig fehlt, und man schriebe ihr die bissige Begehrlichkeit des Vampirs zu, der frisches Blut wittert. Zweifellos, der Mythos des Vamp hat hier seinen Ursprung.« Starobinski (Anm. 68). S. 47. Vgl. auch S. 215 dieser Arbeit. 118 Kirschnick (Anm. 57). S. 155. 119 »[V]or dem Affenkäfig« fällt auch der Satz: »Armer Bebuquin, Du höfliches Tierchen.« Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 98. 120 Starobinski (Anm. 68). S. 30. 121 Einsteins Text böte sich auch bestens für eine Lesart im Horizont der animal studies an. 122 Benjamin (Anm. 46). S. 72. 123 Ebd.

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Als Zirkusartistin konserviert Euphemia Vermögen eines evolutionären Frühstadiums, deren Verlust die Moderne sentimentalisch beklagt: The human form is seen to take on a kind of animal grace missing in its social and culturally restricted movements. In rather dialectical fashion, these tightly trained and practiced poses acquire an elemental and therefore ›natural‹ quality which contrasts to the awkwardness in the ›nature‹ of the normally untrained body.124

Die mathematische Berechenbarkeit des Salto mortale und eine ›animal grace‹ werden in Euphemia zusammengeführt und als spezifisch moderne Ausprägung zirzensischer Kunst mit ethischer Ausrichtung vorgeführt. Dies ist schließlich auch als Kommentar zum zeitgenössischen Diskurs über Pädagogik und Mathematik – wie er auch in den Institutionenromanen beispielsweise Robert Walsers oder Robert Musils geführt wird125 – zu verstehen: In einer Zeit, in der rigide Erziehungsregeln und inhumane pädagogische Maßnahmen nur zu Frustration bei Lehrer_innen und Schüler_innen zu führen scheinen, beeindrucken die Methoden, Tiere zu trainieren126 und deren offensichtlicher Erfolg in besonderem Maße. Dadurch ist die Frage aufgeworfen worden, ob die Praktiken, die in der Zirkusarena angewendet werden, auf die Menschenerziehung übertragen werden können.127 Euphemia, die beim Salto mortale als mensch-tierisches Mischwesen erscheint,128 kann als Austragungsort solcher Überlegungen interpretiert werden: Euphemia gelingt im Rekurs auf tierisches Verhalten das anthropologische Wunder, im ethischen Bereich bleibt sie jedoch Dilettantin. Sie büßt und geißelt sich zwar, ihre »mystische Selbstaufgabe in Gott ist [jedoch] deswegen dilettantisch, weil sie damit den Bereich der Kunst verlassen hat. Nicht mehr will sie das Wunder im artistischen Werk selbst gestalten, sondern sie will es kostenlos, als acte graduit, im Akte der mystischen Selbstaufhebung in Gott erlangen.«129 Dass Euphemia beim »äußerst heilig[en]« Anziehen einer »Nonnenkutte« ihre Fingernägel poliert und »kopfschüttelnd die Straffheit ihrer Brüste hie und da prüf[t]«,130 lässt unter der Büßerin die Gommeuse durchblicken – der Salto mortale ist ohne die femme fatale offensichtlich nicht zu haben. Und mit der Gommeuse assoziieren die Zeitgenossen (und wahrscheinlich auch 124 Jones (Anm. 38). S. 41. 125 Vgl. dazu prominent Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Robert Walsers Jakob von Gunten. Ein Tagebuch. 126 Zu den Methoden der Pferde- und Raubtierdressur im Zirkus vgl. exemplarisch Kirschnick (Anm. 57). S. 155–158 sowie S. 174f. 127 Jones (Anm. 38). S. 41. 128 Zum modernen Salto mortale in der geistig-metaphorischen Variante vgl. Madlen Kazmierczak: »Geist-Salto-Mortale« und »Hirn-Zirkus« auf dem Überbrettl. Max Herrmann-Neißes Poetik des »Ideal-Kabaretts«. In: Sibylle Schönborn (Hg.): Exzentrische Moderne: Max Herrmann-Neiße (1886–1941). Bern u. a. 2013. S. 171–191. 129 Oehm (Anm. 6). S. 128. 130 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 98. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.

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einige Zeitgenossinnen) höchste Unmoral: Auf die Frage des Artist, »Wie das Vari8t8 erzieherisch wirken kann?«, antwortet Siegfried Jacobsohn, der Herausgeber der Schaubühne: Gar nicht. Das Vari8t8 kann und soll nicht erzieherisch wirken; denn das Vari8t8 ist keine Schulstube und kein Massenerziehungsheim. Das Vari8t8 ist eine Abendunterhaltung, die in Deutschland nicht auf der Höhe steht, weil eben der gewissenhafte Deutsche auch noch von einer Drahtseilkünstlerin Ethos verlangt, ohne zu merken, dass ihr Ethos gerade darin besteht, dass sie keines hat.131

Mit Euphemias Salto mortale setzt Carl Einstein eine Denkfigur ins Bild, die zu seiner Zeit Gegenstand zahlreicher Überlegungen gewesen ist. Frank Wedekind wendet sich in seinen Zirkusgedanken ebenfalls der Frage nach der ethischen Wirksamkeit des Zirkus zu. Er nennt »die Elastizität, die plastisch-allegorische Darstellung einer Lebensweisheit« das »maßgebende Prinzip der Manege«132 und versteht die Artistik als Lebenshilfe für den modernen Menschen: Kühner, rasch entschlossener Anlauf im günstigen Moment der Erregung; leichter, lachender Sprung; und wenn der Fuß die Erde berührt, eine gefällige Kniebeuge, daß man nicht auf die Nase fällt; fabelhafte Virtuosität im kleinen, um alle Welt in Erstaunen setzende Effekte zu erzielen – sollten das nicht zeitgemäße Devisen sein? Jeder von uns stürzt einmal zur Tiefe nieder. Wem aber dann die Elastizität im Fußgelenk fehlt, dem wird jene Ferse zur Achillesferse; sie zerreißt, er bleibt liegen, und die wilde Jagd geht johlend und kläffend achtlos über ihn hin.133

Diese Verhaltenslehren des Zirkus können nach Wedekind jedoch nur die Trapezkünstler_innen vermitteln, die zwar »die Welt nicht durch fabelhafte salti mortali in Erstaunen [setzen]«134, den Zuschauer_innen dafür aber ein stabiles Gleichgewicht vorführen können. Das Gegenmodell, ein labiles Gleichgewicht, repräsentieren Seilkünstler_innen wie Euphemia. »Abstrakt-erhabener und real-praktischer Idealismus! Stabiles [! Trapez] und labiles [! Seil] Gleichgewicht! – Welche der beiden Lebensführungen im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität den Vorzug verdient, wird kaum im Zweifel sein.«135 Hier wird deutlich, dass für Wedekind körperliche Dressur und ethische Wirksamkeit nicht kausal verknüpft sind, dass die »animal grace«136 im »Zeitalter des 131 Redaktion des ›Artist‹ (Anm. 48). 132 Frank Wedekind: Zirkusgedanken. In: Frank Wedekind. Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Gedichte und Lieder, Prosa, Frühlings Erwachen und die Lulu-Dramen. Hg. von Erhard Weidl. München 1990. S. 352–369. Hier : S. 356. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 133 Ebd. 134 Ebd. S. 360. 135 Ebd. S. 363. 136 Wie Anm. 124.

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Dampfes und der Elektrizität«137 keine pädagogische Relevanz besitzt. Wedekind kleidet seine Kritik an den Vertreter_innen des abstrakt-erhabenen Idealismus in folgenden Vergleich: Sie sind so vollständig von der Idee durchdrungen, gleichsam besessen, daß sie sich selbst im ärgsten Elend noch hoch über der Menschheit fühlen. – Sollte indes das Entsetzliche einmal eintreten, sollten die Stricke reißen, in denen das Luftschiff hängt, […] hilft ihnen weder Doktor noch Seelenarzt. Jählings kopfüber stürzen sie aus der schwindelnden Ätherhöhe ihrer Himmelsleiter hernieder und brechen das Genick. Dieser Vorgang kleidet sich nicht selten in das Gewand einer Selbstentleibung.138

Nicht zuletzt setzt Wedekind hier den Zirkus als Reflexionsfigur für die Krisensymptome der beschleunigten Moderne ein. Vor diesem Hintergrund gelesen, wäre Euphemias Genickbruch aus formalen Gründen eine Maske für ein idealistisches Hasardspiel, das der Zuschauer_in nichts als ein labiles Gleichgewicht zu vermitteln vermag.139 Wenn die Erzählinstanz Euphemias moralische Ruiniertheit als »[d]ie stärkste Moralität dies des Handwerks«140 bezeichnet, bestätigt sie Wedekinds Differenzierung von anthropologischem Wunder und ethischer Wirksamkeit. Gleichwohl ist der Zirkus in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders ein Ort ethischer Wirksamkeit und Euphemia ist deren Agentin: Wenn Bebuquin das Kloster wieder verlässt und zum Zirkus zurückkehrt, erfüllt sich an ihm der Erziehungsauftrag des Zirkus: Er mußte aus sich Äußerungen solcher künstlichen unlogischen Bewegungen abzwingen, um zunächst die Physik mit der Kraft seines absterbenden Akts zu widerlegen. / Er ging in eine Loge des Zirkus. / Etwas Sonderliches geschah. / Während eines Radlertriks fuhr eine spiegelnde Säule in die Arena, blitzend; eine Flötenbläserin ging nebenher in einer Nonnenkutte. Die Bürger sahen sich darin, bald strahlend übergroß, bald verzerrt; diese Spiegel zwangen, immer wieder hineinzuschauen. […] Die Menschen verwandelten sich in sonderliche Zeichen in den Spiegeln; das Publikum wurde leise irrsinnig und richtete in drehendem Schwindel seine Bewegungen nach denen der Spiegel; um die Spiegel sausten farbige Reflektoren. […] Das Publikum raste weiter, die Verzerrung für wahr haltend. / […] Mehrere Eisenbahnwaggons hielten mittags vor dem Zirkus. / Im friedlichen Sonnenschein sortierte man die Toten aus. / Dann verlud man die Irren.141

137 Wie Anm. 135. 138 Wedekind (Anm. 132). S. 356f. 139 Andreas Kramer deutet Einsteins Darstellung als kontrapunktisch gegenüber Wedekinds Zirkusgedanken, da Einstein den naturalistischen Diskurs parodiere. Vgl. Andreas Kramer: Die »verfluchte Heredität loswerden«. Studie zu Carl Einsteins Bebuquin. Münster 1990. S. 93. 140 Wie Anm. 104. 141 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 109.

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Dieses apokalyptische Geschehen, von Euphemia im Nonnengewand begleitet, kommt einer Katharsis gleich: Die Selbsterkenntnis der Bürger_innen erfolgt im Modus einer radikalen Dezentrierung, die von der Verzerrung im Spiegel über die Verwandlung in sonderliche Zeichen bis zu Wahnsinn und Tod führt. Die Frage, ob der Zirkus als Handlungsort eine Positionierung auch im ästhetischen Richtungsstreit um 1900 darstellt, kann also bejaht werden. Der Bürgerlichkeit wird angelegentlich eines ›Radlertriks‹ eine Ästhetik der Dezentrierung vorgeführt, die die Bürgerlichkeit selbst untergehen, den Dilettanten Bebuquin dagegen gereinigt zurück lässt. Auch die von Böhm erzählte »Die Geschichte von den Vorhängen«142 handelt von der Selbsterkenntnis des Subjekts qua Dezentrierung und ist an das Paradigma ›Zirkus‹ anschließbar. Diese »nachträgliche Geschichte von Böhms Ichtod«143 ist bislang hauptsächlich in erkenntnistheoretischer Perspektive als Weg vom Machschen Denken zurück zur Substanzphilosophie144 gedeutet worden. Christoph Brauns poetologische Lesart der Vorhänge-Episode hebt auf die Theatermetaphorik ab. Den Schlusssatz des ersten Kapitels: »Spitzengardinen werden zusammengezogen«145, interpretiert Braun als Regieanweisung: »Damit macht Einstein den Roman gewissermaßen zu einem Lese-Drama, dessen einzelne Akte von den Kapiteln gebildet und mit ›Regieanweisungen‹ […] beendet werden.«146 Dass die Sackleinwand in Böhms Geschichte als Medium der Selbsterkenntnis eintritt, ist genauso wie die Theatermetaphorik dieses Passus unbestritten. Eine Einordnung der Sackleinwand sowie deren schlüssige Verknüpfung mit dem theatralen Paradigma stehen jedoch noch aus. Hier soll argumentiert werden, dass Böhms ›Geschichte von den Vorhängen‹ erstens ein Setting beschreibt, das an ein Zirkuszelt angelehnt ist und mit dem Primitivismusdiskurs interagiert. Zweitens soll gezeigt werden, dass Böhms Selbsterkenntnis in Form einer Abarbeitung an zirzensischen Prinzipien erfolgt. »Ich stand vor einem großen Stück aus Sackleinwand«, erzählt Böhm, der bald darauf bemerkt, »daß niemand anders die Sackleinwand sei, als ich. Es war die erste Selbsterkenntnis.«147 Im Aufsprengen der Subjekt-Objekt-Differenz ist eine erste Form der Dezentrierung zu erkennen, die in den Bereich des Artistischen verweist. Der Hinweis darauf, dass der Prototyp des Zirkuszelts seit 1767 ein Rundbau mit ansteigenden Sitzen ist, der mit einem Dach aus Segeltuch über-

142 143 144 145 146 147

Ebd. S. 79. Oehm (Anm. 6). S. 120. Vgl. Krämer : Romantheorie (Anm. 73). S. 133. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 76. Braun (Anm. 2). S. 126. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 79. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.

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deckt wird,148 würde als Beleg für die Deutung der Sackleinwand als Zirkusdach noch nicht ausreichen, es gibt aber weitere Indizien: Dieser »Rundbau mit ansteigenden Sitzen«149 heißt erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts »Zirkus«, davor wurde er »Amphitheater«150 genannt: 1807 wird der Cirque Olympique, der der neuen Unterhaltungskunst ihren Namen gab, eröffnet. Der olympische Zirkus war der erste Versuch in der Zirkusarchitektur, Theater und Zirkus miteinander zu verbinden.151 Vor diesem Hintergrund zeigt sich die systematische Relevanz der durchgängigen Theatermetaphorik in Böhms Geschichte. Böhms dezentrierende Selbstappelle: »Sei Vorhang und zerreiße dich« sowie »Sei Vorhang und Theaterstück zugleich«,152 überblenden den Theatervorhang mit dem, was im Zirkusjargon »die Gardine« genannt wird: Denn das Spielzelt ist ja die öffentliche Tribüne, und erst wenn man durch den Torbogen des Sattelplatzes schreitet, gelangt man in die private Zirkuswelt. Zu diesem Zweck muß ich den roten Samtvorhang beiseite schieben, der von der Musikertribüne herunterhängt. […] [D]iese[r] Vorhang [wird] im Zirkusjargon »die Gardine« genannt153.

Wenn Böhm sich in Gestalt des Vorhangs zerreißen bzw. Vorhang und Theaterstück zugleich sein will, hebt er die Unterscheidung zwischen Rolle und Privatperson, zwischen Objekt und autonomem Subjekt auf. Dies ist als Ausdruck der Dezentrierung des Subjekts, wie es die Artistik verlangt, zu werten. Die Sackleinwand mit Böhm als Theatervorhang und über Böhm hinaus als Zirkusdach zu deuten, kann also auch mit der schauspielerischen Dimension der Artistik begründet werden: Die Verwandtschaft zwischen Artistik und Schauspielerei besteht darin, dass Artist_innen und Schauspieler_innen gleichermaßen berufsmäßige Unterhaltungskünstler_innen sind. »Beide agieren öffentlich vor Zuschauern, beide sind eigens für ihren Auftritt kostümiert, frisiert und geschminkt.«154 Der für den vorliegenden Zusammenhang wesentliche Unterschied ist, dass Artist_innen nicht im strengen Sinn eine Rolle spielen müssen und ihre Kunststücke theoretisch auch als Privatpersonen vorführen können.155 148 Vgl. Emil Gobbers: Artisten. Zirkus und Variet8 in alter und neuer Zeit. Düsseldorf 1949. S. 45. 149 Ebd. 150 Bose (Anm. 46). S. 53. 151 Vgl. ebd. Theaterformen, die die Artistik integrieren, sind im 18. und 19. Jahrhundert nicht selten. Populäre Theater, die »keine Lizenz zur Aufführung legitimer Dramen mit gesprochener Sprache besaßen, gestalteten […] Melodramen und Pantomimen mit Musik-, Lied-, Tanz- und Balletteinlagen, Seiltänzern, Clowns und Akrobaten.« (Kirschnick [Anm. 57]. S. 169) Auch hier werden die fließenden Übergänge von Variet8 und Zirkus offensichtlich. 152 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 79. Beide Zitate sind auf dieser Seite zu finden. 153 Paul Eipper: Zirkus. Tiere, Menschen, Wanderseligkeit. Berlin 1930. S. 20. 154 Schmitt (Anm. 35). S. 16. 155 Vgl. ebd.

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Im Gegensatz zur Schauspielerin realisiert die Artistin keine literarisch fixierte Dramenfigur, sondern »Zirkus- und Variet8künstler legen sich gewöhnlich eine irreale, märchenhafte Identität zu, die den Zuschauern signalisiert, daß ihre Kunststücke als übernatürliche Wunder zu rezipieren sind.«156 – Nicht zuletzt, weil die Todesgefahr im Zirkus anders als im Theater nicht simuliert ist.157 Das bedeutet also: Während die Schauspielerin sich der Objektivität ihrer Rolle bewusst ist und dadurch ihren Status als autonomes Subjekt wahren kann, bedarf es bei der Artistin einer Verwandlung in eine andere Identität. Diese Dezentrierung des Subjekts ermöglicht dann die Rezeption der Darbietungen als ›übernatürliche Wunder‹. Während die (moderne) Schauspielerin bei ihrer Darbietung repräsentierende Darstellerin bleibt, verwandelt und entgrenzt sich die Artistin in einer Weise, die an kultische Vorgänge (wie den Dionysoskult) erinnert. Mit der Theatermetaphorik schreibt sich Einstein außerdem in eine bestimmte Tradition der Theaterkritik ein. Wenn er die theatrale Dopplung als Prinzip des Theaters zurückweist, folgt er überdies dem avantgardistischen Impuls, angesichts der modernen Entfremdungserscheinungen die Grenze zwischen Kunst (Rollen-Ich) und Leben (privates Ich) aufheben zu wollen.158 Zum einen teilt der Zirkus als Ort der Präsenzerzeugung (und nicht der Repräsentation) mit der Vorvergangenheit des Theaters, dem Dionysoskult, einige Gemeinsamkeiten. Im Kontext von Carl Einsteins Werk steht die Artistenbzw. Variet8kunst vor allem in einer Nähe zur primitiven Kunst. Die Artistenbzw. Variet8kunst und die primitive Kunst basieren nämlich gleichermaßen auf der Verwandlung in eine andere Identität. Das Annehmen einer irrealen, märchenhaften Identität macht Einstein als die wesentliche Voraussetzung für den Kontakt mit dem Übernatürlichen bei primitiven Völkern aus. Der Neger bestimmt seinen Typ so stark, daß er ihn verändert. […] An der Maske versteht der psychologisierende und zugleich theatralische Europäer dies Gefühl am ehesten. Der Mensch verwandelt sich immer etwas, jedoch bleibt er bemüht, eine gewisse Kontinuität, die Identität zu wahren. Gerade der Europäer bildete dies Gefühl zu einem fast hypertrophen Kult; der Neger, der weniger vom subjektiven Ich befangen ist und die objektiven Gewalten ehrt, muß, soll er sich neben ihnen behaupten, sich in sie verwandeln […]. [D]iese Verwandlung gibt ihm das mächtigste Begreifen des

156 Ebd. S. 18. 157 Vgl. Kirschnick (Anm. 57). S. 177. Umgekehrt handelt es sich bei den Tierdressuren und Pantomimen um »Illusionstheater im buchstäblichen Sinn.« (ebd.) Sylke Kirschnick gibt zusätzlich zu bedenken, dass »[Walter] Benjamin wie auch viele zeitgenössische Zirkushistoriker und vor ihnen Else Lasker-Schüler […], wann immer sie den Unterschied zwischen Zirkus und Theater hervorkehrten, das klassische Sprechtheater im Blick [gehabt hatten], nicht aber die zahlreichen populären, pantomimischen Theaterformen, die daneben immer existierten.« Ebd. 158 Für diesen Hinweis danke ich Barbara Thums sehr herzlich.

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Objektiven; er inkarniert dies in sich und er selbst ist dies Objektive, worin alles einzelne zernichtet.159

Die Integration von »Neger-Masken«160 in das dadaistische Variet8 bezeugt, dass sich Einsteins Einsicht mit den Praktiken der Avantgarde deckt. In seinem Variet8roman Flametti oder Vom Dandysmus der Armen erzählt Hugo Ball 1918 von »Bettvorleger[n] aus getigertem Fell und eine[r] Negerlanze von den Sunda-Inseln«, die als »Kostüme […] von wilder, unerhörter Farbenpracht«161 bei den Vorstellungen zum Einsatz kamen. Vor diesem Hintergrund wird dann solch ein Prozess der Annahme einer irrealen, märchenhaften Identität detailliert beschrieben: Flametti, im Häuptlingskostüm, fühlte, wie seine Nase schärfer wurde, energischer : eine Adlernase. Seine Augen wurden kühner, verwegener, sprühend. Er fühlte die Lanze in seiner Faust. Die Federbüschel liefen ihm kalt über den Rücken hinunter. Sein Unterkiefer schob sich vor in bestialischer Vehemenz. Der Ober […] schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch und stieß an den Stuhl. Flametti wäre ihm knapp an die Gurgel gefahren. So schreckte es ihn aus der Illusion.162

Nicht zufällig ist es also Böhm, dessen Name als Ableitung von »BohHme« gilt,163 der an sich selbst ein solches artistisch-primitives Maskenspiel vollziehen will.164 Er inszeniert damit Einsteins Poetologie der Zerstörung des empirischen Ichs und illustriert, dass diese mit der Dezentrierung des artistischen Subjekts über die jeweilige Verwandtschaft mit der primitiven Kunst verknüpft ist. Der Gegenstand von Böhms Erkenntnis weist schließlich auch Bezüge zur Diskussion um das Erkenntnispotential des Zirkus als Institution auf: Es ging mir auch das Infinitesimale, das Wunder der Qualität, auf, das weder historisch, noch sonst wie aufgelöst werden kann. Jedenfalls merkte ich mir, daß es lediglich auf eine möglichst ungehinderte Bewegung ankomme. Grundsatz: vermeiden Sie das 159 Carl Einstein: Negerplastik. Mit 119 Abbildungen. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908– 1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980. S. 245–391. Hier: S. 261f. 160 Evan Mauerer: Dada und Surrealismus. In: William Rubin (Hg.): Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. München 1984. S. 546–607. Hier : S. 548. 161 Hugo Ball: Flametti oder Vom Dandysmus der Armen. Roman. Berlin 1975. S. 57. In der Verknüpfung von Variet8 und Dandytum bildet Balls Roman die spezifische Signatur des Dilettantismus um 1900 beispielhaft ab. 162 Ebd. S. 65. Parallel dazu heißt es: »Was hatten die armen Weiber alles für Vorstufen durchzumachen, bis sie wirkliche, richtigte, echte Indiander waren!« Ebd. S. 67. 163 Vgl. Oehm (Anm. 6). S. 125. 164 Thomas Krämer hat für die Figur Bebuquin ein ähnliches Verhalten festgestellt: Zu Beginn des Textes ist von der »Zusammensetzung seiner [= Bebuquins] Person« (Einstein: Bebuquin [Anm. 5]. S. 73) die Rede; der Begriff ›Person‹ rückt nach Krämer durch den jahrmarktähnlichen Ort des Geschehens in die Nähe seiner ursprünglichen Bedeutung, nämlich ›Maske‹. Vgl. Krämer : Romantheorie (Anm. 73). S. 83.

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Gleichgewicht. / Sie sehen, meine silberne Gehirnschale ist asymmetrisch. Darin liegt meine Produktivität.165

Sein Grundsatz, das Gleichgewicht zu meiden und die Produktivität im Asymmetrischen zu situieren, ordnet Böhm den abstrakt-erhabenen Idealisten im Sinne Wedekinds – zu welchen auch Euphemia zählt – zu. Nun ist aber zu beobachten, dass das Prinzip der Asymmetrie der christlich-sakralen Ordnung widerspricht, welche in die Topographie des Zirkus eingeschriebenen ist: An den Leinenwänden des Sattelplatzes stehen die Requisiten, Turngeräte, Leitern, Postamente; fünf Schritte geradeaus, und ich bin in der Raubtiergalerie. Sie erstreckt sich in gerader Flucht nach links und rechts wie der Träger eines T, bildet die eine Seite des Stallquadrates, das hinter dem Spielzelt aufgebaut ist. Die Stallanlage selbst besteht aus vierzehn bis zwanzig Leinwandzelten; sie sind alle miteinander verbunden und gleichen einem Klosterkreuzgang.166

Ebenso wie die Kreisform der Manege steht die am ›Träger eines T‹ ausgerichtete räumliche Ordnung der Stallungen für Symmetrie par excellence. Letztere wird zudem signifikanterweise mit einem ›Klosterkreuzgang‹ verglichen. Der asymmetrische Tänzer167 Böhm, der im Gegensatz zu Euphemia und Bebuquin das Kloster zum kostenlosen Blutwunder nicht aufsucht, steht für eine Form der Artistik, die sich an den Prinzipien der primitiven Religionen und nicht der christlichen orientiert.168 Man kann natürlich wie Reto Sorg an den Brief an die Hebräer denken, in welchem das Zerreißen des Vorhangs heilsgeschichtlich als Eröffnung der Heilsgewissheit gedeutet wird, und »[d]as dilettantische Gebaren, von dem Böhm in seiner Geschichte berichtet, […] als eine imitatio christi« – die gleichwohl scheitert – verstehen.169 Die ›Geschichte von den Vorhängen‹ vor der Folie eines primitiven Maskenrituals zu deuten, ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch schlüssiger : Denn dies erlaubt erstens, die Diskurse, die Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders steuern, nämlich Artistik und Primitivismus, wechselseitig zu erhellen. Zweitens ist diese Lektüre im Werkkontext verankert und somit poetologisch verbürgt. 165 166 167 168

Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 79. Eipper (Anm. 153). S. 20. Vgl. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 88 und S. 93. Auch Euphemias Rückkehr aus dem Kloster in den Zirkus ist unter diesem Aspekt zu sehen. Einstein konfiguriert hier die umgekehrte Konstellation zu seiner Behauptung in Vathek, dass Artisten sich aufgrund der gefühlten Verwandtschaft von ästhetischer und religiöser Transzendenz der Kirche zuwendeten (vgl. Einstein: Vathek [Anm. 22]. S. 29). Euphemia wendet sich in einem zweiten Schritt aber von dem Kloster wieder ab und dem Zirkus erneut zu. Ihre Orientierung in Richtung des Primitiven ist damit als Positionierung gegen die christliche Religion – und gegen eine an diese angelehnte Ästhetik – lesbar. 169 Reto Sorg: Aus den »Gärten der Zeichen«. Zu Carl Einsteins Bebuquin. München 1998. S. 159f.

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Die Forschung hat außerdem festgestellt, dass Böhms »Geschichte von den Vorhängen« als Allegorisierung der übergreifenden Erzählstruktur, d. h. als mise en abyme fungiert.170 Euphemias Auftritt, bei dem sie sich in den Abgrund stürzt, ist eine mise en abyme im wörtlichen Sinne. Ausgehend von den Bestimmungen der zirzensischen Künste allgemein und deren Darstellung durch Carl Einstein sollen nun Überlegungen zur Möglichkeit und Gestaltung einer zirzensischen Ästhetik in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders angestellt werden.

III.2. Zirzensische Ästhetik Ansätze einer zirzensischen Ästhetik sind auf drei Ebenen zu suchen: Auf der Gesamttextebene als a-mimetisches Kunstwerk, auf der Figurenebene im (quasi-)artistischen Gebaren des Personals171 und auf der Strukturebene in der Revuehaftigkeit der Textanordnung. Die Affinität der modernen Kunst zum abzw. anti-mimetischen Prinzip des Zirkus wurde oben schon genannt;172 sie kann vor dem Hintergrund der Erkenntnisse im Hinblick auf die Zirkusarchitektur jetzt aber präzisiert werden: Mit Thomas Krämer ist zunächst festzustellen, dass »in der erstgenannten Bude noch in der Verzerrung der Bezug zur Realgegenständlichkeit erhalten bleibt, […] der Cirkus [dann aber] jenen abgeschlossenen Kreis, in dem die empirischen Kausalgesetze aufgehoben sind«173, repräsentiert.174 Der Zirkus ist damit nicht nur der Ort, der prädestiniert ist für 170 Vgl. Klaus H. Kiefer : Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde. Tübingen 1994. S. 51. 171 In Richtung einer solchen Deutung argumentiert auch Rüdiger Riechert, der die Tatsache, dass alle Figuren typisiert sind, als Anklänge an das Marionettenspiel und die Commedia dell’arte wertet (vgl. Rüdiger Riechert: Carl Einstein. Kunst zwischen Schöpfung und Vernichtung. Frankfurt/M./Bern u. a. 1992. S. 106.). Dirk Heißerer erklärt die Totalität des Bebuquin mit der Orientierung an Andr8 Gide (dem Bebuquin ja gewidmet ist) bzw. an dessen selbstreflexiver Poetologie. Vgl. Heißerer (Anm. 3). S. 44. 172 Vgl. S. 206f. dieser Arbeit. 173 Krämer : Romantheorie (Anm. 73). S. 86. 174 Es ist äußerst bemerkenswert, dass Günter Bose und Erich Brinkmann sich in ihrer Abhandlung über die Geschichte und die Ästhetik des Zirkus ausführlich mit der kubistischen Kunst beschäftigen, und zwar im Zusammenhang mit der Architektur der Manege. Für diese ist wie für die kubistische und die afrikanische Kunst eine Absage an die Zentralperspektive charakteristisch. Ich zitiere eine längere Passage, damit die frappierende Nähe zu Einsteins Argumentation in Negerplastik deutlich wird: »Die Dinge werden immer von irgendwo gesehen, das ist die geometrische Grundlage der Repräsentation. Die Gesetze des kubischen Raums bilden unsichtbar ein Liniennetz planimetrischer und stereometrischer Beziehungen, die den Blick erfüllen. Seit der Renaissance folgt die Malerei diesem Prinzip. Mit der Erfindung der Perspektive werden die Dinge in einer vom Individuum erlebten Ordnung dargestellt. Der Blick wird subjektiv, abhängig von dem, der schaut. Das gemalte

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die Wundererfüllung, sondern seine Autonomie und Abgeschlossenheit weisen ihn zudem als Äquivalent des absoluten Kunstwerks aus. Denn: »[D]aß ein Werk unreal und dicht wie ein Kreis sein muß«175, verlangt Einsteins Bestimmung absoluter Prosa. Ebenso wie im Zirkus die empirischen Kausalgesetze aufgehoben sind, fordert das Gesetz der »reinen Kunst«176 A-Kausalität: »man gebe konzentrierte Resultate – keine Wege.«177 Der Zirkus kennt keine vierte Wand, keine Repräsentation: Die Artist_innen kommen in die leere Arena und bleiben was sie sind. Sie stellen nichts dar. Ihre Arbeit läßt sich nicht soufflieren, sie ist kein Nachvollzug fremden Sinns und hat auch keinen eigenen. Der Artist hat sich selbst zum Gegenstand, seinen Körper, seine Gesten. Doch tritt er ein in einen Raum, der dem, was er tut, den Sinn gibt. Man schaut ihm zu und schreibt ihm auf den Leib, was seine Künste sein sollen. Das Ganze ist kein Spiel.178

Was hier über die Artist_innen im Zirkus gesagt wird, deckt sich mit den Anforderungen, die Carl Einstein an Romanfiguren stellt. Diese »dürfen nicht selbstsüchtig sein und ihre Biographie bringen, keine Gedanken [äußern] über Dinge oder AperÅus, keine Gegenstände zwischen sich aufbauen, keine Philosophien und Privatgefühle [enthüllen].«179 Bezüglich Bebuquins ist bereits von Reto Sorg festgestellt worden, dass Einstein diese Figur in direktem Kontrast zu dem Anforderungsprofil, das er für den Romanhelden in seinen theoretischen Schriften entwirft, angelegt hat.180 Gerade Bebuquins metafiktionale Reflexion über seine Tauglichkeit als Romanstoff lässt deutlich Philosophien und Privatgefühle erkennen: »›Traurig‹«, rief er aus, ›welch schlechter Romanstoff bin ich, da ich nie etwas tun werde, mich in mir drehe; ich möchte gern über Handeln etwas Geistreiches sagen, wenn ich nur wüsste, was es ist. […]‹.«181 In dieser Reflexion weist Bebuquin ein zentrales Merkmal auf, das um 1900 Dilettanten

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Bild erfährt seine Konstruktion vom imaginierten Betrachter, der selbst nicht mehr dargestellt ist. Dem malerischen Moment entspricht ein gesellschaftliches: Perspektivisches, subjektives Sehen ist vom Raum, dessen Tiefenwirkung und Struktur, bestimmt, in dem das Subjekt sich wiederfindet. […] Im Spiel der Bedeutungen, der Repräsentation, stellt sich der Mensch im abstrakten Raum der Bühne dar. Im aristotelischen Theater figuriert der Raum als Szene und illusionärer Ort, der dem Menschen angepaßt und in Natur oder deren Illusion rückgeführt wird. Die Blicke der Zuschauer sind auf eine Fläche projiziert, die Fläche der gegebenen Schauspiele. […] Die Bühne, die der Zirkus kennt, beschreibt einen Kreis. Es ist die Manege. Sie ist leer und von allen Seiten offen. Ihre Form entspricht keiner von Konvention vorgegebenen Konstruktion. Sie ergab sich aus den Forderungen der Reiterakrobatik.« Bose (Anm. 46). S. 35f. Einstein: Vathek (Anm. 22). S. 30. Ebd. Ebd. S. 31. Bose (Anm. 46). S. 36. Carl Einstein: Brief über den Roman. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908–1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980. S. 66–71. Hier: S. 71. Vgl. Sorg: Aus den »Gärten der Zeichen« (Anm. 16). S. 186. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 78.

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zugeschrieben wird: kommunikative Selbstreferenz. »Der Dilettant hat kein Du. Das Objekt, die Welt erwidert ihm nicht. Wenn er redet, so redet er sich leer. Und das ist sein eigentliches Leiden, ihm selber meist verborgen, daß er kein Du hat.«182 Bebuquins Dilettantismus bestünde demnach darin, an niemanden gerichtete Philosophien und Privatgefühle zu erörtern und unerwidert bleibende metafiktionale Betrachtungen anzustellen. Davon geht auch Erich Kleinschmidt aus, wenn er behauptet: »Was hier als Einschätzung angesprochen wird, hat Einstein im Bebuquin als ästhetisches Prinzip umzusetzen versucht. Der Dilettantismus wurde ihm zur Hüllform eines poetologischen Modells.«183 Dem soll nicht widersprochen werden. Vielmehr soll ergänzend die These hinzugefügt werden, dass Einstein mit dem Artistischen ein alternatives selbstreferentielles Modell einführt, das nicht von der Sprachlichkeit, sondern von der Körperlichkeit ausgeht. Der selbstreferentielle Körper wird in einer Zeit, in der die Sprache in eine existentielle Krise geraten ist, zum geeigneten Austragungsort für semiotische Fragestellungen. Bebuquins Scheitern als Romanstoff hat folglich mit dessen Zuordnung zum Intellektualismus,184 zum Geistigen allgemein zu tun: »O Gott, Du gabst uns einen Körper, vielleicht identisch; eine Seele, die den Körper an Möglichkeiten übertrifft, die ihn schon lange Zeit und oft ausrangierte; und die glänzenden Platten der Denker, die Sonne verschmäht es, sich in ihnen zu beschauen – suchen die Balance. Ich aber wünsche, daß mein Geist, der sich etwas anderes als diesen Körper – o Gartenzäune, Stadtmauern und Safes, Pensionate und Jungfernhäute – denken will, auch ein Neues wirkt und schafft. Ich kann absonderliche Wesen machen, Verrücktes zeichnen, auf Papier, in Worten, ich selbst bin verzerrt; aber mein Bauch bleibt ein Fresser. Welch geringe Versuche der Heiligen, nach Sprüchen der Evangelisten den Körper zu verwandeln. Herr, gib mir ein Wunder, wir suchen es seit Kapitel eins. […]«185

Bebuquin erkennt nicht, dass er im Versuch, mit den Gartenzäunen, Stadtmauern, Safes, Pensionaten und Jungfernhäuten Schutzwälle gegen die Körperlichkeit herauf zu beschwören, genau jene Form des Körperlichen ignoriert, die für eine abgeschlossene Selbstreferenz des Körpers stehen kann: den Artistenkörper. So kann Bebuquin zwar verzerrt sein und dadurch das a-mimetische Prinzip einlösen; das Wunder, den Bauch nicht als Fresser, sondern als 182 Kassner (Anm. 18). S. 60. 183 Erich Kleinschmidt: Die dilettantische Welt und die Grenze der Sprache. Zur erkenntniskritischen Poetik von Carl Einsteins Bebuquin. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 33 (1989). S. 370–383. Hier : S. 381. 184 Vgl. stellvertretend für die Rezeption des Textes unter diesem Gesichtspunkt Georg Rudolph: Carl Einstein. Ein Beitrag zum Problem Vitalismus - Intellektualismus. In: Wiecker Bote 1 (1914). S. 9–11. Zit. n. Rolf-Peter Baacke (Hg.): Carl Einstein. Materialien. Bd. 1: Zwischen Bebuquin und Negerplastik. Berlin 1990. S. 61–63. 185 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 99f.

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Träger einer artistischen Botschaft zu sehen, vermag er dagegen nicht zu vollziehen. Denn »auch der [a-mimetische] Zirkus handelt von einer Botschaft. Und zwar von der der Authentizität des Körpers. Diese steht im Grunde außerhalb aller anderen Zeichengebungen und erscheint als deren Kontrapunkt.«186 In diesem Sinne muss die Frage, ob die Literatur um 1900, die sich dem Zirkus zuwendet, lediglich eine literarische Mimikry der nicht-mimetischen Zirkuskünste betreibt, anders gestellt werden. Die Frage ist eher, ob und wie die Repräsentation des Nichtmimetischen im literarischen Diskurs neue Darstellungsverfahren erlaubt, die die Sprache als adäquates Medium der Repräsentation erlebbar machen. Anders formuliert: Die Frage ist, ob die literarische Mimikry der zirzensischen Kunst weniger als Nachahmung, sondern vielmehr als Präsenzerzeugung zu werten ist. Anstatt die »Balance«187 zu suchen, sucht Bebuquin das Wunder, das für ihn in einer Entkörperlichung besteht. Als Kontrastfigur zu Bebuquin tritt Böhm auf. Dieser entspricht den theoretischen Anforderungen Einsteins an eine Romanfigur : Er erkennt die Unproduktivität alles Persönlichen und hinterfragt die Relation von Ding und Begriff.188 Böhm ist es folglich auch, der Körperlichkeit und Absolutheit verbinden kann: »›Nun ja, [sagt er,] ich gestehe, es ist schwer einzusehen, daß alles Relative eben durch den Genuß und ähnliche passive Räusche absolut wird.« Und er fügt an: »Den Weg zu den Dingen zu vergessen, haben Sie eben noch nicht fertig gebracht, aber die Resultate sind gleich, Sie Säugling mit der Denkerstirn‹«.189 Böhm spricht hier freilich nicht als Artist (dieser nähert sich dem Absoluten ja nicht im Modus des Passivität, sondern gerade der Aktivität), er spricht als der Zuschauer, der dem Artisten »auf den Leib [schreibt], was seine Künste sein sollen«190. Bebuquin fordert er auf: »Variieren Sie doch einmal, monotoner Kloß« und schließt an: »Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen von den Gärten der Zeichen, die Geschichte von den Vorhängen erzähle. Narzissus, Unproduktiver.‹«191 Mit dieser Aufforderung will Böhm Bebuquin zum Artistischen bekehren bzw. zum Artisten machen: Bebuquins Wunsch nach Entkörperlichung kontert der von den Toten zurückgekehrte Böhm mit der Möglichkeit der Variation, also mit dem Verweis auf den Übergang von einer geistigen in eine körperliche Existenz. Eine Funktion der artis186 Bauer-Wabnegg (Anm. 55). S. 92. Jean Starobinski nennt die vollkommene artistische Körperbeherrschung aufgrund ihrer Zurschaustellung vor dem Publikum »eine dynamisierte Version der Attitüde des Narziß« und fügt hinzu: »[D]ie poetische Vollkommenheit des l’art pour l’art leg[t] von der gleichen narzißtischen Einsamkeit Zeugnis ab«. Starobinski (Anm. 68). S. 39. 187 Wie Anm. 185. 188 Vgl. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 79 und S. 80. 189 Ebd. S. 78. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 190 Wie Anm. 178. 191 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 78. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.

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tischen Produktion wiederum besteht darin, den Zuschauer_innen den Verlust der eigenen Leibhaftigkeit zu ersetzen.192 Im Zirkus kann Bebuquin also die körperliche Variante seiner selbst finden und – wie die Betitelung als »Narzissus« und »Unproduktiver«193 nahe legt – seinen Dilettantismus überwinden. Dass Böhm ausgerechnet die Vokabel »variieren« bei seiner Handlungsanweisung verwendet, verweist nicht zufällig auf das Variet8 und dass er von den »Gärten der Zeichen«194 redet, lässt nicht ohne Grund an ästhetische Fragestellungen denken. Solche werden in Bebuquin auch metapoetisch erörtert. Die Auseinandersetzung mit dem Logischen ist nämlich nicht nur als Diskurs über Metaphysik zu verstehen, sondern auch als Revision des semiotischen Inventars. »Man muß einsehen, [sagt eine nicht eindeutig bestimmbare Aussageinstanz,] ihr Dummköpfe, daß die Logik nur Stil werden darf, ohne je eine Wirklichkeit zu berühren. Wir müssen logisch komponieren, aus den logischen Figuren heraus wie Ornamentkünstler.«195 Der Text Bebuquin bietet Plädoyers für artistisch-körperliche Selbstreferenz ebenso wie für logisch-ästhetische Selbstreferenz; der Figur Bebuquin dagegen gilt als Medium der Selbstreferenz einzig die Musik.196 Er ist der Ansicht, »daß die sprachliche Darstellung eben nur unreine Kunst sei, gemessen an der Musik.«197 Entsprechend »verwünschte [er] die Anstrengungen der Wissenschaftler, die Musik auf reale physiologische Vorgänge zurückzuführen. Aber es berührte ihn entschieden angenehm, daß sie ihre Verdauung interpretierten, doch alles Künstlerische mit großer Sicherheit umgingen.«198 Am Beispiel der Musik bzw. der Musikwissenschaft meint Bebuquin zu erweisen, dass das Künstlerische nicht im Körperlichen zu finden sei. Böhm dagegen weiß: »›Man muß das Unmögliche so lange anschauen, bis es eine leichte Angelegenheit ist. Das Wunder ist eine Frage des Trainings.«199 Das Kontrastpaar Bebuquin-Böhm deutet schon darauf hin, dass das Personal des Bebuquin der Artistik entlehnt ist: Diese lebt von Verdoppelungen und 192 193 194 195 196

Vgl. Bose (Anm. 46). S. 45f. Wie Anm. 191. Wie Anm. 191. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 77. Damit reiht sich Bebuquin in eine Tradition seit der Romantik ein, welche die Selbstreferentialität der Musik behauptet. Eine weitere Variante, wie die Selbstreferentialität des Musikalischen an das Paradigma ›Dilettantismus‹ angebunden werden kann, wird im Kapitel zu Thomas Bernhards Der Untergeher u. a. anhand der Musiktheorie Glenn Goulds ausführlich dargestellt werden. 197 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 78. 198 Ebd. 199 Ebd. S. 87. Bereits die zeitgenössische Rezeption wandte sich diesem Aspekt zu, z. B. Anselm Ruest, der Bebuquin einen »Trainings- und Ueberwindungsroman« nennt. Anselm Ruest: Carl Einstein: Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders. In: Die Bücherei Maiandros. Berlin 1913. 6. Buch, Beiblatt, S. 9f. Zit. n. Rolf-Peter Baacke (Hg.): Carl Einstein. Materialien. Bd. 1: Zwischen Bebuquin und Negerplastik. Berlin 1990. S. 59–60. Hier: S. 59.

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Wiederholungen, vom doppelten Salto in der Trapez-, bis zur Multiplikation von Menschen in den Pyramidenfiguren der Parterreakrobatik.200 Von Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders wiederum heißt es, dass alle Figuren als unterschiedliche Facetten Bebuquins interpretiert werden könnten.201 Diese Interpretation ist vor dem Hintergrund von Einsteins Interesse an kubistischen Prinzipien erfolgt und stützt sich auf die Selbstaussage Einsteins, er habe Bebuquin anhand dieser Prinzipien verfasst: Ich weiss schon sehr lang, dass die Sache, die man »Kubismus« nennt, weit über das Malen hinausgeht. Der Kubism ist nur haltbar, wenn man seelische Aequivalente schafft. Die Litteraten hinken ja so jammerhaft mit ihrer Lyrik und den kleinen Kinosuggestionen hinter Malerei und Wissenschaft hinter her. Ich weiss schon sehr lange, dass nicht nur eine Umbildung des Sehens möglich ist, sondern auch eine Umbildung des sprachlichen Aequivalents und der Empfindungen. Die Litteraten glauben sehr modern zu sein, wenn sie statt Veilchen Automobile oder Aeroplane nehmen. Schon vor dem Krieg hatte ich mir um zu solchen Dingen zu kommen eine Theorie der qualitativen Zeit zurecht gemacht, rein für mein Metier, dann bestimmte Anschauungen vom Ich, der Person, nicht als metaphysischer Substanz sondern einem funktionalen, das wächst verschwindet und genau wie der kubistische Raum komplizierbar ist usf. Dann weg von der Deskription, d h eine Umbildung der Erlebnisinhalte, der Gegenstände usf. […] Also Geschichten wie, Verlieren der Sprache, oder Auflösung einer Person, oder Veruneinigung des Zeitgefühls. […] Solche Dinge hatte ich im Bebuquin 1906 unsicher und zaghaft begonnen.202

Der Bezug zum Kubismus ist evident und soll nicht bestritten werden. Die Klärung, warum Einstein in ›seinem Metier‹ die Artistik zum Gegenstand kubismusaffinen Gestaltens wählt, und worin wiederum kubistische und artistische Gestaltungsweisen verwandt sind, steht in der Forschung bislang noch aus und soll hier unternommen werden. Zunächst ist zu beobachten, dass der Kubismus in der bildenden Kunst gegenüber der Literatur eine Vorbildfunktion einnahm, da er nicht selten zirzensische Gegenstände gestaltet hat:203 Man denke beispielsweise an Pierrot und 200 Vgl. Wegmann (Anm. 39). S. 577. 201 Vgl. z. B. Oehm (Anm. 6). S. 159. Maria Moog-Grünewald deutet die Konfiguration der Figuren als Abbild der Konfiguration der Textpassagen, »die man am genauesten als eine Art Ineinanderspiegelung bezeichnen möchte.« (Moog-Grünewald [Anm. 30]. S. 78) Die Verwandtschaft der künstlerischen Technik in Bebuquin und in der kubistischen Malerei besteht ihr zufolge darin, die Diskontinuität der Sinneseindrücke in der Simultaneität der Darstellung aufheben zu wollen. »Dabei wird die Diskontinuität selbst zum organisierenden Prinzip, das im Malerischen die Komposition der Farben und Flächen, im Literarischen die Anordnung und Folge der Wörter und Textpassagen bestimmt.« Ebd. 202 Carl Einstein: Brief an Daniel-Henry Kahnweiler vom Juni 1923. In: Carl Einstein DanielHenry Kahnweiler. Correspondance 1921–1939. Hg., übers. und angem. von Liliane Meffre. Marseille 1993. S. 138–148. Hier : S. 139f. 203 Vgl. z. B. Theodor Adornos Auseinandersetzung mit diesem Phänomen: Theodor W.

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Harlekin (1888) von Paul C8zanne. Die Verwandtschaft von Artistik und Kubismus aufgrund des Wiederholungs- und Potenzierungsprinzips liefert ein strukturelles Argument, das die bislang als ausschließlich kubistische Ästhetik einstufte Poetik des Bebuquin als eine zirzensische lesbar macht. Derartige Überblendungen von zirzensischen und kubistischen Formgesetzen nimmt Einstein auch andernorts vor, z. B. wenn er über C8zanne und dessen Forderung nach einer Logik und nach Gesetzen des Sehens schreibt: »Das Bildnis wird als ein Ganzes bezeichnet, dessen Totalität durch das Equilibre der farbigen Übersetzung erreicht wird.«204 In der bildenden Kunst wird Totalität durch den Einsatz eines Verfahrens erreicht, das der zirzensischen Equilibristik analog ist. Folgendes ist deutlich geworden: Die Frage nach der Möglichkeit und den Erscheinungsweisen einer zirzensischen Ästhetik, die das diskursive Gegenstück zum zirzensischen Motivbestand des Bebuquin bilden könnte, erschließt sich nicht nur über eine literarische Mimikry der nicht-mimetischen Zirkuskünste: In der Form des absoluten, a-mimetischen Kunstwerks ist diese gegeben, wobei der Begriff der Mimikry nicht zwingend negativ konnotiert werden muss, sondern als Möglichkeit zur Generierung einer Präsenz verstanden werden kann, die bei nicht-zirzensischen Sprach- und Textordnungen um 1900 zunehmend bezweifelt wird. Denn um 1900 gilt: »Es gibt noch keine geistreiche Konvention, die anleitet, über Dinge des Zirkus zu schwatzen. […] Das hängt damit zusammen, daß im Zirkus die Wirklichkeit das Wort hat, nicht der Schein.«205 Für die zirzensische Wirklichkeit existieren (noch) keine Signifikanten, d. h. es muss eine Sprache gefunden werden, die – im Rahmen ihrer medialen Möglichkeiten – auf Präsenzerzeugung setzt und nicht auf Repräsentation. Dies ist der Punkt, an dem eine zirzensische Ästhetik einsetzen und das Unvermögen der Sprache in ein sprachspezifisches Vermögen transformieren kann. Die Verwandtschaft der artistischen Ästhetik mit der kubistischen Kunst trägt darüber hinaus Wesentliches zur Profilierung des Zirkus als Modell zur Reflexion der Avantgarde um 1900 allgemein bei. Dass der von Einstein propagierten »Auflösung einer Person«206 in Form von Kontrastpaaren und Wiedergängern, durch Merkmalsgleichheit verschiedener Figuren u. ä. literarisch Gestalt gegeben werden kann, ist einsichtig geworden. Was die Stilistik des Textes betrifft, zieht Einstein in einer späteren Schrift aus solchen Figurenkonzeptionen selbst poetologische Konsequenzen: Werde das Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1970. (= Gesammelte Schriften. Bd. 7). S. 126. 204 Carl Einstein: Anmerkungen zur neueren französischen Malerei. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908–1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980. S. 117–121. Hier: S. 118. 205 Benjamin (Anm. 46). S. 71. 206 Wie Anm. 202.

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»substanzhaft stabile Ich aufgegeben«, trete an dessen Stelle ein »labiler metamorphotischer Typ«207 bzw. ein »labiles Funktionssimultan8. Solchem Wagnis wird endlich ein Abbruch der Grammatik entsprechen müssen, da die sprachlichen Konventionen die Darstellung wichtiger Prozesse und Beziehungen ausschließt.«208 Abbrüche in der Grammatik kommen in Bebuquin selten vor. Die Labilität und Metamorphosität der Figuren wird vielmehr realisiert, indem häufig der direkten Rede keine Sprecher_in zugeordnet wird, ein- und dieselbe Aussage also verschiedenen Figuren zugeschrieben werden kann.209 Einsteins Orientierung der Textanordnung am zirzensischen Paradigma steht im Kontext ästhetischer Strategien der Avantgarden allgemein. Joachim Schultz hat herausgearbeitet, dass in der Moderne um 1900 die Revue als Modell für ästhetische Montage fungiert hat. Er zitiert den russischen Filmemacher Sergej Eisenstein, der feststellt: »›In jener Zeit war offensichtlich das Music-Hall-Element der wichtigste Nährboden für die Herausbildung eines montageförmigen Verlaufs künstlerischen Denkens.‹«210 Das Nummern-Programm in den Music-Halls, Variet8s, Caf8-Concerts, Tingel-Tangels usw., bei denen die unterschiedlichsten Darbietungen – Tanz, Chanson, Akrobatik, Zauberei, Hypnose, … – aneinandergereiht wurden, habe die Grundlage für die Montagetechnik vieler Texte,

207 Carl Einstein: Georges Braque. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 3: 1929–1940. Hg. von Marion Schmid und Liliane Meffre. Wien/Berlin 1985. S. 181–456. Hier: S. 236. 208 Ebd. S. 264. Mit diesen Forderungen erfüllt Einstein genau das, was Friedrich Nietzsche als »litterarische d8cadence« angeprangert hat: »Womit kennzeichnet sich jede l i t t e r a r i s c h e d8cadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr. […] Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr : es ist zusammengesetzt, gerechnet, ein Artefakt.« (Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. In: Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6: Der Fall Wagner, Götzendämmerung u. a. 2., durchgesehene Auflage. München 1988. S. 9–53. Hier: S. 27.) Genau solche Artefakte wollte Einstein herstellen, er lobt z. B. Beckfords »streng modellierte objets d’art« (Einstein: Vathek [Anm. 22]. S. 29). Und auch das oben dargestellte Verfahren einer Gleichzeitigkeit von These und Antithese bei Einstein würde wohl Nietzsches Missfallen erregen: »Der moderne Mensch stellt, biologisch, einen Wi d e r s p r u c h d e r We r t h e dar, er sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in Einem Athem Ja und Nein.« (Nietzsche, S. 52) Zur Einordnung Einsteins in Nietzsches Verständnis von Dekadenz vgl. auch Kleinschmidt: Die dilettantische Welt (Anm. 183). S. 370. 209 Auch Matthias Luserke-Jaqui stellt fest, dass die Zuordnung von Figurenrede und Erzählerrede verschwimmt und sich die Frage ›Wer spricht?‹ häufig nicht beantworten lässt. Das Programm, dass es gleichgültig ist, wer spricht, markiere eine »anti-narrative Position des Romans«. Luserke-Jaqui (Anm. 1). S. 113. 210 Zit. n. Joachim Schultz: Die Geburt der Avantgarde aus dem Geist der Music-Hall. Zwischen Primitivismus und Populärkultur. In: ders.: Die Geburt der Avantgarde aus dem Geist der Music-Hall und andere Essays. Bayreuth 1999. S. 7–22. Hier: S. 14.

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Bilder und Bühnenkreationen der Avantgardist_innen gebildet.211 Einstein reiht in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders nicht nur Tanz, Chanson, Artistik u. a. in aufeinander folgenden Episoden an, sondern folgt bei den unterschiedlichen Episoden verschiedenen Formprinzipien. Wenn er lange Kapitel auf sehr kurze folgen lässt, dialogisch-performative Darstellung, monologisches Sprechen und Erzählerbericht kontrastiert, philosophische Erörterungen mit Unflätigkeiten durchsetzt,212 lyrisch-musikalische Formen verwendet u. ä.,213 transformiert er das Prinzip einer Variet8darbietung in eine literarische Darstellungsweise: »Variatio«, aus dem das französische »Variet8« abgeleitet ist, heißt: Abwechslung. Eine Variet8bühne bringt zum Unterschiede von der Schauspielbühne, die nur eine geschlossene Handlung kennt, ein vielseitiges und buntgemischtes, abwechslungsreiches Programm verschiedenartiger artistischer Leistungen.214

Mit Blick auf diese Definition wird deutlich, dass das variet8hafte Struktur- und Formprinzip des Bebuquin in doppelter Weise mit der literarischen Tradition bricht: Erstens steht die Mischung von dramatischen und narrativen Elementen im Widerspruch zur klassischen Forderung der Gattungsreinheit. Die Verletzung dieses Gesetzes hatten Goethe und Schiller zum Kennzeichen von Dilettantismus erklärt. Einsteins artistische Ästhetik ist also als eine programmatisch dilettantische zu lesen, genauer : als eine Ästhetik, die ein neues Verständnis des Dilettantischen inszeniert. Zweitens wird der Bruch, den die ›niedere‹ Kunstform Variet8 gegenüber dem etablierten Theater vornimmt, auf den literarischen Text übertragen. Das Aufsprengen der geschlossenen Handlung,215 das Bebuquin genauso wie das Variet8 vollzieht, ist für Einstein eine poetologische Notwendigkeit. Er lehnt Theorien über die Mediendifferenz, wie Lessing216 sie vertreten hatte, ab: 211 Vgl. ebd. 212 Vgl. dazu folgende zeitgenössische Rezension: »[M]ich [widert es] an, wenn Weltanschauliches ausgerechnet in der Bar passieren muß, zwischen Drinks und Koketten. Das ist deshalb nicht snobhaft, und gesunde Sexualkämpferinnen würden nicht unrecht haben, es als ›lemurisch‹ zu bezeichnen; doch die Atmosphäre einer Bar ist so antisinnlich wie antigeistig – und als Nietzsche den ›Zyniker‹ pries, meinte er nicht den Alkoholkopf.« Kurt Hiller: Bemerkungen zu »Bebuquin«. In: Pan 3–4 (1913). Zit. n. Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908–1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980. S. 500– 503. Hier: S. 502f. 213 Vgl. z. B. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). Kapitel 10 und 11, S. 77–80, S. 81 und S. 105. 214 Gobbers (Anm. 148). S. 73f. 215 Zu Einsteins Realismus-Kritik und seinen poetologischen Konsequenzen daraus vgl. Sabine Kyora: Carl Einsteins Bebuquin. In: Walter Fähnders (Hg.): Expressionistische Prosa. Bielefeld 2001. S. 79–91. 216 Vgl. in verwandter Argumentation bei Helmut Mörchen: »Hatte Lessing die Literatur aus der Bevormundung durch die bildende Kunst befreit, so versucht Einstein, die Literatur aus ihrer Verarmung herauszureißen, indem er die Revolution in der Malerei auf die Produk-

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Man lehrt oft: Der Roman schildert, das Drama agiert oder etwas ähnliches. Nein, das ist falsch. Der Unterschied begründet sich in der Sprache, die Sprache des Dramas muß Gesten erregen, die des Epos klingende Vorstellungen, und im Unterschied von Gebärde und Vorstellung wurzelt der Unterschied beider.217

Nach Einstein ist im Drama »zumeist alles geschehen, wir erleben nur die Wirkung, das Ausbreiten der Geste. Im Epos geschieht es, und die Geste ist darum unmöglich.«218 Wesentliche Charakteristika des Epos/Romans219 sind also die prozedurale Anlage und die dynamische Ausrichtung: »Es gilt, im Roman Bewegung darzustellen«.220 »Der Sinn des Romans ist, Menschen und Dinge in einem Zug zu bewegen, um ihr Schicksal zu erzeugen. Im Drama ist dieses bereits fertig, im Roman wird es.«221 Das Plädoyer für eine Offenheit bzw. Variabilität der Romanhandlung stellt eine Absage an die traditionelle Forderung nach Geschlossenheit der Formen dar. Bedeutender jedoch ist, dass Einstein dem Roman eine Generierung von Präsenz zuspricht, wie sie üblicherweise dem Drama zugeordnet wird. Einstein geht aber noch weiter und deklariert den Roman/das Epos als genuin moderne Gattung, die sich nicht – auch nicht in Form der Negation – auf die literarische Tradition bezieht: Der Roman »ist sicher keine Verbreiterung oder ein Abgeleitetes von irgendeiner Gattung.«222 In diesem Sinne ist der moderne Roman ein absolutes Kunstwerk, das »[u]m so mehr Formung«223 verlange. Diese Formung erscheint als revueartige Anordnung der Textpassagen. A-Mimetik, Absolutheit und Präsenzerzeugung sind also die Erscheinungsweisen sowohl einer zirzensischen Ästhetik auf der Textebene als auch des modernen Romans im Sinne Carl Einsteins überhaupt. In seinem modernen Roman Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders setzt Einstein sein Postulat der strengen Formung mithilfe eines Verfahrens um, das in Korrespondenz zu seinen Inhalten revueartig funktioniert und vom Personal zusätzlich metafiktional eingefordert wird: »Variieren Sie [sich!]«224 Daher ist auch der zeitge-

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tion von Texten zu übertragen versucht.« Helmut Mörchen: Anmerkungen zur Lektüre des »Bebuquin« anlässlich Carl Einsteins 100. Geburtstags. In: Klaus H. Kiefer (Hg.): Carl-Einstein-Kolloquium 1986. Frankfurt/M./Bern/New York/Paris 1988. S. 141–150. Hier: S. 142. Einstein: Brief über den Roman (Anm. 179). S. 66f. Ebd. S. 70f. Einstein hält sich hier selbst nicht an seine Forderung, »bis auf weiteres die Bezeichnung Roman aufzugeben« und stattdessen den Begriff »Epos« zu verwenden. Carl Einstein: Über den Roman. Anmerkungen. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908–1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980. S. 127–129. Hier: S. 127. Ebd. S. 129. Einstein: Brief über den Roman (Anm. 179). S. 71. Ebd. Ebd. Wie Anm. 191.

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nössischen Einschätzung zu widersprechen, die »stationäre, aphoristische Gliederung des Textes arbeite[…] seinem Thema, der bewegten Idee, direkt entgegen.«225 Eine detaillierte Analyse erweist, dass in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders die traditionelle Syntax zugunsten eines rhythmisierenden, ornamentalisierenden Sprachduktus aufgegeben ist.226 In der Textrevue und in der ornamentalisierenden Syntax ist erstens die auf der Inhaltsebene vollzogene Hinwendung zum Artistischen formal gespiegelt.227 In den Zusammenhang einer artistischen Ästhetik ist zweitens auch der clowneske Aspekt der Wundersuche zu stellen. Die Dilettant_innen des Wunders sind in Folge des Verlusts des transzendentalen Obdachs auf der verzweifelten Suche nach dem Wunder im weltlichen Bereich.228 Darin gleichen sie Clowns, die sich durch die ihnen auferlegte Notwendigkeit zu improvisieren, auszeichnen.229 Die Tatsache, dass in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders konsequent Thesen formuliert, widerlegt und revidiert werden, möchte ich nicht erneut als Problematisierung der Logik interpretieren. Ich ordne sie vielmehr als eine der Erscheinungsweisen einer artistischen Ästhetik ein, nämlich als clowneskes Schreiben. Einstein selbst legt diesen Zusammenhang nahe, wenn er in den Politischen Anmerkungen schreibt: »Geschichtsbildend jedoch ist der Mensch, der mehr gibt als das Equilibre der Antithese, der These und Antithese zugleich verschluckt und über den eigenen Kopf springt.«230 Die Synthetisierung von 225 Martin Sommerfeld: Bebuquin. Von Carl Einstein. In: Das literarische Echo 20 (1917)-3. Sp. 172–173. Zit. n. Rolf-Peter Baacke (Hg.): Carl Einstein. Materialien. Bd. 1: Zwischen Bebuquin und Negerplastik. Berlin 1990. S. 73. Eine ähnliche Sichtweise vertritt auch Edith Ihekweazu, wenn sie Bebuquin als »Stationendrama« bezeichnet. Edith Ihekweazu: »Immer ist der Wahnsinn das einzig vermutbare Resultat«. Ein Thema des Expressionismus in Carl Einsteins »Bebuquin«. In: Euphorion 76 (1982). S. 180–197. Hier: S. 195. 226 Vgl. Kramer (Anm. 139). S. 29. 227 Andreas Kramer hat in seiner Analyse verschiedene Isotopien im Text ausgemacht. Bar, Kneipe, Wüste, Zirkus und Theater hätten Teil an einer in sich komplexen Isotopie »Halbwelt«. »Dieses übergreifende semantische Feld steht im Bebuquin in einer topologischen Basisopposition zu Bebuquins ›kathartische[m] Gemach‹ […] als seinem Rückzugsraum, aber auch zur Isotopie ›Bürgerlichkeit‹ […]. Die den Ablauf des narrativen Diskurses bestimmenden semantischen Oppositionen (etwa Vernunft/Wahnsinn, Logik/ Alogik, Gesetz/Wunder) finden so ihre Entsprechung auf topographischer Ebene.« Ebd. S. 89. 228 Obwohl die Suche verzweifelt ist, lässt sich auch im Hinblick auf das utopische Potential literaturgeschichtlich eine Re-Positivierung des artistischen Bereichs feststellen: Während im Sturm und Drang noch Hoffnungen an die Reise, ans Theater und an die Fahrenden geknüpft gewesen waren, haben sich diese im Verlauf des 19. Jahrhunderts verloren. »Bei Büchner kommen sie nicht mehr vor. Im ›Woyzeck‹ ist der Jahrmarkt ein Ort wie andere, ohne Hoffnung und Vergnügen.« Bose (Anm. 46). S. 87. 229 Vgl. Siegfried Kracauer : Akrobat – schöön. In: Siegfried Kracauer. Schriften. Bd. 5, 3: Aufsätze 1932–1965. Hg. von Inka Mülder-Bach. Frankfurt/M. 1990. S. 127–131. Hier: S. 127. 230 Carl Einstein: Politische Anmerkungen. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908–1918. Hg. von

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These und Antithese weist Einstein als das Geschäft der Seiltänzerin, des Equilibristen, aus. Das Aushalten der Gleichzeitig- und Gleichwertigkeit von These und Antithese wird im zirzensischen Bild den (Feuer-)Schlucker_innen und denjenigen, die über den eigenen Kopf springen, sprich: den Trapezkünstler_innen und Clowns zugeordnet. Beschreibt »clownesker Stil« also das thesenkonfrontierende Verfahren in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders, so muss festgehalten werden, dass dieses Verfahren einem Prinzip folgt. Einstein äußerst sich hier eindeutig: »Also das Kunstwerk ist Sache der Willkür resp. benommener Trunkenheit. Ich ziehe die erstere vor, da sie imstande ist, Rücksicht und Takt zu üben. / Das Kunstwerk ist Sache der Willkür, also der Wahl, des Wartens.«231 In Bebuquin wird diese poetologische Aussage von Böhm artikuliert, der bereits an anderer Stelle als Träger ästhetischer Programme in Erscheinung getreten ist. Die Alternative zur Willkür, die ›benommene Trunkenheit‹, deklariert er nämlich als dilettantisch: »Er begoß die noch nicht Verschiedenen mit Absinth. ›Hier ein Mittel des Dilettanten.‹«232 Das Prinzip der gesteuerten Willkür gilt auch für die Clowns: Sie »improvisieren nicht blank und von vornherein, sondern täuschen einen Werkwillen vor, den sie fortwährend desavouieren. So stellen sie die Gelegenheitsmacherei, die doch ihr Beruf ist, doppelt drastisch heraus.«233 Einsteins Verfahren des permanenten Thesensetzens und -revidierens ist neben einer Auseinandersetzung mit der Logik als narrative Inszenierung der Sinn- und Wundersuche nach dem Tod Gottes zu lesen. Einer der Dilettanten des Wunders, Bebuquin, verweist allein schon mit seinem Namen auf den Harlekin. Mit Siegfried Kracauer kann darüberhinaus noch argumentiert werden, dass die dilettantische Wundersuche und das clowneske Improvisieren verwandt sind. Einsteins Text führt den Beweis dadurch, dass er ein literarisches Verfahren wählt, welches eine Überblendung von dilettantischer Wundersuche und clownesker Improvisation nahe legt.234 Wenn

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Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980. S. 124–126. Hier: S. 124. – Moritz Baßler hat dieses Verfahren auch schon für Einsteins Poetik geltend gemacht. Er stellt fest, dass bei Einstein Thesen in keinem funktionellen Zusammenhang stehen und oft nicht als Thesen, Antithesen oder Synthesen formuliert sind. »Bei Einstein stehen sie gleichwertig nebeneinander als apodiktisch gesetzte Thesen mit absolutem Wahrheitsanspruch, die miteinander nicht einmal in der Weise interagieren, daß sie einen Widerspruch bilden könnten.« Moritz Baßler : Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916. Tübingen 1994. S. 166. Einstein: Über den Roman (Anm. 219). S. 128. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 87. Auch Klaus H. Kiefer betont, dass Einstein trotz allen besoffenen Schreibens, aller Willkür und allen Fragmentismus »ästhetische Gesetze« bzw. »das Gesetzmäßige der Kunst« erkennt und anerkennt. Einsteins »Ästhetizismus« habe also »einen normativen Überhang.« Kiefer: Diskurswandel (Anm. 170). S. 105. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Kracauer (Anm. 229). S. 127. Zur Improvisation in der ästhetischen Tradition vgl. den Sammelband: Improvisieren.

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Einstein Willkür zur Grundlage der Kunst macht und Kracauer die Clowns als berufsmäßige Dilettanten beschreibt, scheint hier erneut ein modernes Verständnis von Dilettantismus auf, das mit den klassizistischen Parametern wie Gesetzmäßigkeit der Kunst und einem auf Liebhabertum beschränkten Dilettantismus nichts mehr gemein hat. Allerdings besteht die Mission der Clowns nach Kracauer darin, den »Nachweis [zu führen], daß das, was wir gemeinhin für die Hauptsache halten, in Wirklichkeit die Nebensache ist. Es gibt keine echte Clownerie, die nicht die Bestimmung hätte, die herkömmlichen Weltverhältnisse umzukehren.«235 Dieses subversive Potential richtet sich aber ganz speziell auf vermessene Unternehmungen, beispielsweise auf autonome Taten: Das Ziel der »[t]iefste[n] Bedeutung des Clowntums: die Akzente aufzuheben, die wir als Selbstverständlichkeit hinnehmen, und die Hierarchie der Werte in Frage zu ziehen, der wir im Alltag uns unterwerfen«236, besteht darin, auf die Zweideutigkeit hinzuweisen, die unserem Tun innewohnt. Jenem vor allem, das auf die Errichtung von Werken, von ungemeinen Taten usw. bedacht ist. Denn wie kein anderes schnürt es uns vom Grunde des Wesens ab, spiegelt uns falsche Größe vor und mauert uns ein. Babylonische Turmbauten sind die der Clownerie zugeordneten Objekte.237

Als Funktion des Clowns ist die Warnung vor Dilettantismus, der aus Vermessenheit entspringt, auszumachen.238 Mit seinem überzeichneten Dilettantismus

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Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis. Hg. von Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter und Annemarie Matzke. Bielefeld 2010. Die Moderne ist in diesem Band abgedeckt durch den Beitrag von Roland Borgards: Gesetz, Improvisation, Medien. Improvisationsliteratur bei Thomas Mann (»Der Bajazzo«) und Hugo Ball (»Flametti«, »Cabaret Voltaire«). S. 41–63. Roland Borgards, der Phänomene von Intermedialität ins Zentrum rückt, deutet auch eine Nähe von Improvisation und Dilettantismus an. Bezogen auf Der Bajazzo stellt er fest: »Improvisation ist nicht Kunst, sondern Vor-Kunst. Deshalb kann derjenige, der zu improvisieren vermag, sich seines Status als Künstler noch keineswegs sicher sein. […] Entweder unterliegt das scheinbar frei Improvisierte dem Kopierzwang einer vorgängigen Autorität. Oder das tatsächlich Improvisierte ist keine Kunst, sondern nur deren Vorschein.« Ebd. S. 48. Kracauer (Anm. 229). S. 128. Ebd. Ebd. S. 128f. Zur Einschätzung der erzieherischen Potentiale des Zirkus vgl. auch das folgende Gedicht, das von Jacques Burg als Antwort auf die Frage »Wie kann das Vari8t8 erzieherisch wirken?« 1913 gegeben worden ist: »Es war doch wohl das Vari8t8 / Für Tier- und Menschen-Pädagogik / Die beste Pflegestätte seit je / […] Denn, wer was lernen will, der kann / Im Vari8t8 es dazu bringen: / Er sehe das Programm sich an / Und – mach es nach vor allen Dingen! / Wie sich die Künstler am Trapez / Und auf dem Drahtseil produzieren, – / So fest zu stehen, solltest stets / Auf schwankem Boden Du probieren – / Von dem Athleten lernst Du mehr : / Nimm alles leicht, – selbst das Gewicht’ge, – / Und mach’s auch so, wie der Jongleur: / Fang’ auf – Dein Glück, das noch so flücht’ge. – / Das Chansonettchen lehrt die Frau / Durch gutes

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führt der Clown die Gründe des Scheiterns bereits mit sich und macht sie transparent. Thomas Wegmann zufolge arrangiert »diese tragikomische Spannung von Werkwille, vermeintlich artistischem Scheitern bei gleichzeitig clowneskem Gelingen […] die anthropologische Unmöglichkeit, die möglich zu machen der Zirkus angetreten ist.«239 Dies hat der Clown dem Dilettanten voraus: Er strebt nicht ernsthaft danach, ein Werk zu vollbringen, sondern unterminiert den eigenen Werkwillen so konsequent, dass aus diesem Akt ein Werk entsteht. Bebuquin dagegen fleht: »Herr, laß mich einmal sagen, / ich schuf aus mir. / Sieh mich an, ich bin ein Ende, laß mich eine unabhängige Tat, ein Wunder tun.«240 Ihm ist es mit seinem Werkwillen, der Wundersuche, sehr ernst. Vor dem Hintergrund, dass im Ablauf der Zirkusnummern die Späße der Clowns »dem Zweck [dienen], den Ernst der Jongleure und Dressurkünstler ad absurdum zu führen«241, wird Bebuquins Ausstattung mit Attributen eines Jongleurs242 relevant: Auf der Suche nach dem Wunder ist Bebuquin nämlich weniger der Harlekin, der sein Scheitern mit einem Augenzwinkern inszenierende Clown, sondern der dilettierende Jongleur, der über sein Scheitern verzweifelt. Bei ihm kann von einer »unerhörten Komik dieser beharrlichen Nichterfüllungspolitik«243 nicht die Rede sein. (Bestenfalls könnte von Tragikomik gesprochen werden.) An diesem Punkt muss mit Hinblick auf den clownesken Stil Einsteins das Ende des Textes analysiert werden. Der für seine metafiktionalen Reflexionen bekannte Bebuquin weist selbst darauf hin: »[I]ch bin ein Ende, laß mich eine unabhängige Tat, ein Wunder tun.«244 Ein Konnex von Ende und Wunder wird hier suggeriert und einige Interpret_innen sind diesem Wink auch gefolgt. Für Klaus H. Kiefer z. B. ist das finale »Aus« zwar nicht die erstrebte völlig »unabhängige Tat« […], denn der Held stirbt ja unterdessen: dennoch »schafft« er in einem letzten Akt der Selbstbehauptung […] »aus« sich […], und er schließt heroisch – als ›braver‹ Dilettant – sein Werk ab. […] Die unter dem Vorzeichen des Dilettantismus, des non finito thematisierte Wundersuche gelingt also dadurch, daß der religiöse Diskurs in einen ästhetischen umkippt und in einem Prozeß der autor8glage die Textbedeutung quasi von Ende her aufrollt und umwertet.245

239 240 241 242 243 244 245

Beispiel, – wem könnt’s neu sein? – / ›Sei grad’ so fesch, wie ich, genau, – / Dann wird Dein Mann Dir immer treu sein!‹ […]« Die Redaktion des ›Artist‹ (Anm. 48). Unpaginiert. Wegmann (Anm. 39). S. 582. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 108. Kracauer (Anm. 229). S. 128. Vgl. S. 214 dieser Arbeit. Kracauer (Anm. 229). S. 129. Wie Anm. 240. Kiefer : Finale (Anm. 75). S. 28f.

Artistik in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders

241

Unbestritten ist, dass Bebuquin im Sagen des Wortes »Aus.«246 eine Aussage macht. Zwei Beobachtungen dürfen jedoch nicht vergessen werden: Zunächst ist zu bemerken, dass auch beim Durchbrechen von Bebuquins Sprachlosigkeit »die transfigurale Erzählinstanz gleichfalls beteiligt«247 ist: Denn die drucktechnische Markierung des ›Aus.‹, d. h. der Kursivdruck und die Mittelposition im Satzspiegel stehen analog zu den Überschriften der beiden Binnenerzählungen.248 Weiterhin ist mit Dirk Heißerer zu überlegen, ob das Schlusswort »Aus« auch als Schlusswort »Ende« von Fortsetzungs- oder Trivialromanen gelesen werden kann.249 Beide Thesen akzentuieren das Erzählverfahren, die zweite verweist dabei explizit auf das Feld des literarischen Dilettantismus. Gemeinsam lassen sich das Agieren der transfiguralen Erzählinstanz und der Verweis auf den Dilettantismus als weitere Erscheinungsweise des clownesken Stils fassen: Bebuquin schafft nicht allein und autonom, er bedarf der Hilfe einer Instanz, die den Werkwillen desavouiert und die Aus-Sage arrangiert. Wenn jene Instanz dieses Arrangement als einen Hinweis auf Dilettantismus funktionalisiert, agiert sie im Bereich des Poetischen gegenüber Bebuquin wie es im Zirkus ein Clown gegenüber einem Jongleur täte. Die vielen Überblendungen von Ästhetischem und Zirzensischem lassen – neben der inhaltlichen Charakterisierung Bebuquins als Jongleur – also auch am Textende ein clowneskes Schreiben erkennen. Als Erscheinungsweisen des clownesken Stils konnten das thesensetzende und -aufhebende Verfahren in Bebuquin sowie die spezifisch clowneske Konstellation des Textendes ausgemacht werden. Im Zusammenhang von pluri- bzw. antithetischer Argumentation und revuehafter Textanordnung müssen auch der Zitatcharakter und die ausgeprägte Intertextualität in Einsteins Text untersucht werden.250 Wie Klaus H. Kiefer festgestellt hat, setzt sich »[d]as rezeptive Verhalten Einsteins […] aus einer Formenvielfalt von Zitat und Plagiat, Präsupposition und Verschweigen, Akzeptanz und Persiflage zusammen.«251 Die Mischung (und Ununterscheidbarkeit) von Zirkus, Kabarett und Variet8 ist bereits dargelegt worden.252 Jetzt soll gezeigt werden, dass die Faktur des Textes diesem Umstand im Sinne einer artistischen Ästhetik in Form von Zitat und Intertextualität Rechnung trägt.

246 247 248 249 250

Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 114. Kramer (Anm. 139). S. 41. Vgl. ebd. Vgl. Heißerer (Anm. 3). S. 117. Vgl. S. 193–197 dieser Arbeit, wo dies stellvertretend am Namen »Bebuquin« durchgeführt worden ist. 251 Kiefer : Diskurswandel (Anm. 170). S. 33. 252 Vgl. S. 201 dieser Arbeit.

242

Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

Über Zirkus, Kabarett und andere Unterhaltungskünste schreibt Robert A. Jones: Within a setting characterized by a remarkable degree of internationalism, of tolerance for borrowing (engendered no doubt by the general mood of innovation and experimentation), of fluidity between form not yet confirmed and hardened into traditions to be defended or broken, we find numerous connecting links, reciprocal exchanges, and mutually-shared structural elements among those forms – as if to emphasize their common counterdistinction to the »legitimate« forms now seemingly less appealing and entertaining.253

›Connecting links‹ und ›reciprocal exchanges‹ verbinden Bebuquin mit Nietzsches Biographie, mit der Philosophie Schopenhauers, mit Kants Idealismus sowie mit so unterschiedlichen Denkern bzw. Schreibern wie Platon, Dante Alighieri und Gabriele d’Annunzio.254 Stilistisch ist festzustellen, dass »[d]ie Konversation der Figuren […] vor allem eine bestimmte Sprachform: die der BohHme [imitiert]. […] In zahlreichen Witzen, Wortspielen und Allusionen wird dieser Sprachgestus ausgiebig zitiert und reproduziert.«255 Dies geschieht beispielsweise wenn Böhm Fredegonde »einen Edelstein« aus seinem Kopf anbietet und diese pikiert reagiert, weil sie bereits »den Büchmann und eine lyrische Anthologie« besitzt.256 Dass Fredegonde mit Büchmanns Geflüglte[n] Worten gleichsam eine Anleitung für Dilettant_innen zur Verwendung von Klassikerzitaten ihr Eigen nennt, ist dabei zum einen als Seitenhieb auf den ästhetischen Kanon zu verstehen. Zum anderen knüpft Bebuquin dadurch an die literarische Auseinandersetzung mit dem Dilettantismus an, beispielsweise an Theodor Fontanes Roman Frau Jenny Treibel, in dem der »Büchmann« im oben genannten Sinne eine wichtige Rolle spielt.257 In einer zeitgenössischen Rezension zu Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders werden dagegen Einsteins »privatterminologische Allegorien« kritisiert, »die jemandem, der nicht gerade Monomane dieser Dinge ist, immer nur zu drei Vierteln deutbar bleiben dürften«.258 Statt BohHme-Einflüssen wird ein »verderbliche[r] Einfluß der stiefphilosophischen Kassner-Diktion«259 konstatiert. Tatsächlich schließen sich Einflüsse moderner Dilettantismustheorien wie derjenigen Rudolf Kassners und 253 254 255 256 257

Jones (Anm. 38). S. 28. Vgl. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 75, S. 77, S. 82, S. 83, S. 88, S. 93. Kramer (Anm. 139). S. 57. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 91. Dort nutzt die Majorin »harmlose Sentenzen aus Büchmann oder andere geflügelte Worte« zur Konversation. Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel. In: Theodor Fontane. Sämtliche Werke. Romane, Erzählungen, Gedichte. Bd. 4. Hg. von Walter Keitel. München 1963. S. 297–478. Hier: S. 320. Vgl. außerdem S. 81f. dieser Arbeit. 258 Hiller (Anm. 212). S. 501. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 259 Ebd. S. 502.

Artistik in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders

243

die Nähe zur BohHme jedoch nicht aus. Im Gegenteil: Sie stehen in einem systematischen Zusammenhang zueinander. Dies kann am Beispiel der Dada-Aktivitäten erläutert werden:260 Deren Handlungsort ist häufig derselbe wie der des Bebuquin, nämlich das Variet8 – mit dem Cabaret Voltaire als berühmtestem Beispiel. Hier trug Hugo Ball als magischer Bischof sein Lautgedicht Karawane vor, [h]ier erzeugte die gesellige Umgebung von Essen und Trinken, Lärm und Gespräch eine lebendige Atmosphäre für Aufführungen und Ausstellungen, für die Veröffentlichung von Flugblättern und Schriften. Erregung und Dramatik der Dada-Soireen bestanden aus einer ausgelassenen Mischung von Nonsens-Versen, Laut-Gedichten, Rezitationen in verschiedenen Sprachen, Klaviermusik, Trommeln und Jazz. Afrikanische Musik und Gedichte, afrikanisch inspirierte Masken, Schreie und Gelächter, Pantomimen und Beschimpfungen wurden alle mit großem Ernst dargeboten in der erklärten Absicht, die Zuhörer zu aktivieren und einzubeziehen.261

Dem Ensemble von Flamettis hier als repräsentativ zitiertem Variet8 – von dem anzunehmen ist, dass es vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Autors Hugo Ball entworfen wurde – gehören an: ein Jodlerterzett, ein Damenimitator, eine Soubrette, ein Pianist, ein Schlangenmensch und ein Lehrmädchen.262 »Im Nebengebäude negerten [außerdem] los: die Pauke und das Tschinell.«263 Der wesentliche Punkt ist, dass die Dadaist_innen ein ausgeprägtes Interesse an Volkskunst, naiver Kunst und Kinderkunst zeigten. »Diese Formen galten als Äußerung elementarer Gefühle und Ideen, die von traditionellen westlichen Werten unverdorben geblieben waren und alternative künstlerische Mittel gebrauchten.«264 Vor allem die Masken Marcel Jancos, die »Neger-Masken«265 genannt wurden, hatten bei den Dada-Abenden eine besondere Funktion: Sie dienten dazu, die unmittelbare Assoziation zu dem zu erwecken, was die Dadaist_innen als die angeborene geistige Kraft der primitiven Kunst verstanden.266 Für Balls Flametti gilt beispielsweise, dass unter dem Eindruck einer

260 Karl Riha hat auch auf der formalen Ebene des Bebuquin Vorläufer eines dadaistischen Stils ausgemacht. Er spricht von »poetische[n] Eskalationen«, von »Sätze[n], die so erst sehr viel später im Dadaismus und Surrealismus möglich wurden«. Karl Riha: Enthemmung der Bilder und Enthemmung der Sprache. Zu Paul Scheerbart und Carl Einstein. In: Christian W. Thomsen und Jens Malte Fischer (Hg.): Phantastik in Literatur und Kunst. Darmstadt 1980. S. 268–280. Hier : S. 278. 261 Mauerer (Anm. 160). S. 548. 262 Vgl. Ball (Anm. 161). S. 16. 263 Ebd. S. 86. 264 Mauerer (Anm. 160). S. 548. 265 Ebd. S. 548. 266 Vgl. ebd. S. 550.

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

ähnlichen Kostümierung sein »Benehmen […] simpler, beruhigter, breiter [wurde]. Seine Energie zäher, verbissen. Sein Selbstgefühl mächtig.«267 Ich möchte nun zeigen, dass die hier angedeutete und von der Forschung über die Moderne um 1900 fest etablierte Nähe von BohHme und Dilettantismus,268 von BohHme und Primitivismus und die von mir bereits eingeführte Nähe von Dilettantismus und Primitivismus und damit verbunden von Artistik und Primitivismus, in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders ein Diskursknäuel bilden, das zu entwirren reiche Aufschlüsse über die Avantgarde im Allgemeinen und über Einsteins Text im Besonderen gibt. Vom Zirkus etwas über Primitive erfahren zu wollen, ist ein Weg, den auch Zeitgenoss_innen Einsteins eingeschlagen haben. So klagt Emil Perlmann, der Herausgeber des Artist: Es ist noch gar nicht lange her, da fragte jemand, der jedenfalls keine anderen Sorgen hat, an, was die Schwarzen in Zentralafrika mit ihrem Bart machen, da sie doch keine Barbiermesser haben. Wozu braucht d e r Mann gerade d a s zu wissen? Und ausgerechnet bei der Redaktion des »A r t i s t « musste er danach fragen?269

In dieser Untersuchung soll es allerdings nicht um Barbiermesser, sondern, ausgehend von Einsteins Werk, um europäische und afrikanische Puppen270 gehen.

IV.

Europäische Puppen: Jahrmarktfigur, Schaufensterpuppe, kubistisches Mannequin

Euphemia erscheint im Text als Gommeuse, als Artistin und als Wachspuppe: In der Bar erkennt sie, »ja nur die Wachspuppe aus der billigen Erstarrnis«271 zu sein. Dies macht sie zur Scharnierstelle, die die Diskurse Variet8 bzw. Zirkus mit der Mode- bzw. Reklamewelt der Großstadt um 1900 vernetzt. Darüber hinaus figuriert die Puppe Euphemia – wie zu zeigen sein wird – als modernes europäisches Gegenstück zu den afrikanischen Plastiken und ist somit auch als Reflexionsfigur für kulturelle Praktiken wie Völkerschauen und die museale Anthropologie zu verstehen. 267 Ball (Anm. 161). S. 61. 268 Vgl. z. B. Hans Rudolf Vaget: Der Dilettant. Eine Skizze der Wort- und Bedeutungsgeschichte. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970). S. 131–158. Hier : S. 131. 269 Emil Perlmann: Die Redaktion als Ratgeber. In: Der Artist 1500 (1913). Unpaginiert. 270 Vgl. zum Folgenden in Kurzfassung meinen Aufsatz: Negerplastiken und Wachsfiguren. Afrikanische und europäische Puppen als Medien des Primitivismus bei Carl Einstein. In: Colloquium Helveticum 44 (2015). S. 91–114. 271 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 91.

Europäische Puppen

IV.1.

245

Von der Jahrmarktfigur zur Schaufensterpuppe

Kulturgeschichtlich ist die Puppe aufs Engste mit dem Jahrmarkt verbunden: Dort verwenden die Taschenspieler, Gaukler und Zahnbrecher Zauberpuppen.272 Genau dieser Ort ist es, der in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders später als Zirkus deklariert und zum Auftrittsort für Euphemia umfunktioniert wird. In Einsteins Text gibt es jedoch nicht nur die Puppe Euphemia, sondern auch der titelgebende Protagonist wird durch seinen Namen mit einer Puppe assoziiert. Die Herleitung ›Bebuquins‹ von ›Mannequin‹ weist auf eine Kunstfigur ;273 das ›Mannequin‹ bedeutet ›kleiner Mann‹, kodiert – ablesbar auch am grammatischen Genus – aber auch Geschlechtslosigkeit.274 »Das Wort ›Puppe‹ [wiederum] kommt vom lateinischen pupa her, was soviel wie kleines Mädchen bedeutet. Namentlich neugeborene Töchter, die noch keinen Namen erhalten hatten, wurden so bezeichnet.«275 Die Puppe Euphemia hat im Mannequin Bebuquin also einen Reflektor. Beide stehen für eine zur Schau gestellte Körperfläche, in die geschlechtsspezifische Merkmale eingeschrieben werden. Bebuquins Umgang mit der Puppe Euphemia verdient in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit: Bebuquin betrat einen mühselig erleuchteten Raum, in dem eine Puppe stand, etwas dick, rot geschminkt mit gemalten Brauen, die seit ihrer Existenz eine Kusshand zuwarf. Erfreut über das Unkünstlerische setzte er sich auf einen Stuhl, einige Schritte von der Puppe entfernt. Der junge Mann wußte nicht, was ihn am Unkünstlerischen anzog. Er fand hier eine stille freundliche Schmerzlosigkeit, die ihm jedoch gleichgültig war. Was ihn immer anzog, war der merkwürdige Umstand, daß ihn dies ruhig konventionelle Lächeln bewußtlos machen konnte. Ihn empörte die Ruhe alles Leblosen, da er noch nicht in dem nötigen Maße abgestorben war, um für einen angenehmen Menschen gelten zu dürfen. Er schrie die Puppe an, beschimpfte sie und warf sie wieder einmal von ihrem Stuhl vor die Tür, wo die dicke Dame sie etwas besorgt aufhob. Er wand sich in der leeren Stube: »Ich will nicht eine Kopie, keine Beeinflussung, ich will mich, aus meiner Seele muß etwas ganz Eigenes kommen, und wenn es Löcher in eine private Luft sind.«276

Diese Passage verknüpft zentrale Aspekte dieses Kapitels: Als Puppe repräsentiert Euphemia erstens die zeitgenössischen Mode- und Werbestrategien. Zweitens agiert sie auch als Puppe im Gestus der Artistin: Sie wirft eine Kuss272 Vgl. Gabrielle Wittkop-M8nardeau: Von Puppen und Marionetten. Kleine Kulturgeschichte für Sammler und Liebhaber. Aus dem Französischen von Justus Franz Wittkop. Zürich/ Stuttgart 1962. S. 53. 273 Vgl. S. 193f. dieser Arbeit. 274 Wolfgang Hegener: Das Mannequin. Vom sexuellen Subjekt zum geschlechtslosen Selbst. Tübingen 1992. S. 10. 275 Wittkop-M8nardeau (Anm. 272). S. 22. 276 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 74.

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

hand, bedient sich also einer Geste, die – wie ich noch zeigen werde – als zirzensische markiert ist und daher den Wechselbezug beider Diskursfelder anzeigt. Drittens können über die Puppe grundsätzliche Fragen bezüglich der Mortifizierung der Frau/des Weiblichen erörtert werden. Und viertens verweist Bebuquins Angezogenheit vom Unkünstlerischen auf die Dilettantismusproblematik. Die Charakterisierung der Puppe lautet: ›etwas dick, rot geschminkt mit gemalten Brauen‹. Der Aspekt der Körperfülle ist dahingehend interessant, dass um 1900 ein Bruch in der Tradition, namentlich eine »Divergenz zwischen dem Aussehen der Puppe und den Lebensäußerungen der Epoche«277 stattgefunden hat. Über eine Puppe aus dem Jahr 1898 schreibt Gabrielle Wittkop-M8nardeau: [S]ie ist charmant, allerdings ein bißchen zu mollig, in cremefarbenen Atlas korsettiert und mit Rüschen und Firlefanz geschmückt. Ihr Gesicht ist glatt, ehrbar und problemlos. Hygienische Maßnahmen und eine bis dahin unbekannte Ernährungsweise hatten der kultivierten Frau eine lange, elegante, biegsame Silhouette verliehen, ganz eine Silhouette im Jugendstil. […] Die Puppen sträubten sich leider, mitzutun.278

Die problematische Wertung über das Mollige außer Acht gelassen, ist der Befund relevant: In einer Zeit, in der Henri Matisse, Henri de Toulouse-Lautrec u. a. künstlerisch tätig waren und die sportliche Diana zur »Eve of our century, unencumbered by heavy breasts and superfluous flesh«279 wurde, muss der Betonung von schweren Brüsten und ›überflüssigem‹ Fleisch besondere Bedeutung zukommen. Denn Schaufensterpuppen symbolisieren zum einen die ›neue Frau‹, zum anderen die Großstadt selbst, vor allem deren negative Eigenschaften wie Kälte, Werteverlust, Sittenlosigkeit, Kommerzialisierung, Masse und Chaos.280 Dass Einstein seine Puppe nicht am emanzipierten Diana-Modell orientiert, kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass es den als üppig markierten Puppenkörper auf mögliche misogyne Einschreibungen zu prüfen gilt. 277 Wittkop-M8nardeau (Anm. 272). S. 104. 278 Ebd. 279 Tag Gronberg: Beware Beautiful Women: The 1920s shopwindow mannequin and a physiognomy of effacement. In: Art History 20 (1997). S. 375–396. Hier : S. 377. 280 Vgl. Marianne Vogel: »Einfach Puppe!« Die Wachspuppe in der Wirklichkeit und in der Imagination in Romantik und Moderne. In: Eva Kormann, Anke Gilleir und Angelika Schlimmer (Hg.): Textmaschinenkörper. Genderorientierte Lektüren des Androiden. Amsterdam/New York 2006. S. 105–115. Hier: S. 115. Uwe Lindemann weitet diese These noch aus, wenn er behauptet, Schaufensterpuppen weckten nicht nur Begehrlichkeiten und Wünsche, sondern brächten Leitbilder hervor, die mit einem bestimmten kulturellen Wissen inklusive dessen Distinktionen, Normen und Werten verknüpft seien. Vgl. Uwe Lindemann: Schaufenster, Warenhäuser und die Ordnung der »Dinge« um 1900: Überlegungen zum Zusammenhang von Ausstellungsprinzip, Konsumkritik und Geschlechterpolitik in der Moderne. In: Gertrud Lehnert (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld 2011. S. 189–215. Hier: S. 190f.

Europäische Puppen

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Im Gegensatz zu der oben von Wittkop-M8nardeau beschriebenen Puppe, ist Euphemias Gesicht auch nicht »glatt, ehrbar und problemlos«281. Es ist »rot geschminkt mit gemalten Brauen«282. Diese Kurzbeschreibung – auf deren Konnotationen noch eingegangen wird – reicht aus, um Euphemia in den Mannequindiskurs um 1900 einzuordnen: War die Ausstellung von Wachsfiguren im 19. Jahrhundert ein fester Bestandteil von Jahrmärkten, so übernimmt die Wachspuppe ab dem Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Funktion, nämlich als Schaufensterpuppe in Geschäften.283 Das Schaufenster wiederum ist ein Ort, »an dem zentrale Problematiken der Modernisierung um 1900 gebündelt werden«284. Neben der Tatsache, dass die Schaufensterpuppen als Modelle für das moderne Frauenbild, als Prototypen der großstädtischen Weiblichkeit um 1900 fungierten, wurden sie auch als Industrieprodukte erkannt – im Speziellen von der Modeindustrie.285 Ein Mannequin ins Schaufenster zu stellen, bedeutet dann »up-to-date advertising«286 zu betreiben. Über die Herstellung solcher Schaufensterpuppen aus Wachs wird berichtet, dass in der kurzen Zeit, in welcher das Wachs formbar ist, diejenigen Körperteile implantiert werden, die sich nicht durch Wachs ausdrücken lassen: nämlich Haare, Augenbrauen und Augen.287 Alle diese Haare werden eins ums andere von geschickten Frauenhänden in das noch weiche Wachs implantiert; […] Andere Spezialisten wiederum kümmern sich um Wimpern und Augenbrauen. Sie schneiden sie aus Nerzhaar-Pinseln, kleben sie einzeln auf ein Stoffband und fixieren dieses rund ums Auge. Schlussendlich schneiden sie sie direkt am Kopf in Form, biegen sie mit einer Wimpernzange und tuschen sie mit Mascara. Auch die Malerei perfektioniert sich zusehends und wird zur Schminkkunst.288

Auch wenn Euphemias Augenbrauen nicht implantiert, sondern gemalt sind, stellen sie – wie ihre gemalten Lippen – ein weiteres Beispiel für das Ineinandergreifen von ›hoher‹ und ›niederer‹ Kunst dar : Hier ist es die Mischung von bildender Kunst und der Alltagshandlung des Schminkens. Über Euphemias Dreifachstatus als Puppe, Gommeuse und Artistin wird das Schminken zudem 281 282 283 284 285 286

Wie Anm. 278. Wie Anm. 276. Vgl. Vogel (Anm. 280). S. 111. Lindemann (Anm. 280). S. 190. Vgl. Gronberg (Anm. 279). S. 377. Ebd. S. 375. Die spezifische Modernität der Schaufensterpuppen bestand zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Gronberg darin, dass sie den neuen Frauentypus festgeschrieben haben: »This was a modernity in which notions of the feminine played a crucial role – in part, at least, because it was the manifestation of updated criteria for defining feminine beauty that such mannequins were defined as ›modern‹.« Ebd. S. 375f. 287 Nicole Parrot: Mannequins. Deutsch von Helena Zaugg. Bern 1982 [Originalausgabe Paris 1981]. S. 46. 288 Ebd. S. 47.

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

in den zirzensischen Zusammenhang eingebunden. Denn das Kusshändewerfen, das für seine Wirksamkeit einer besonderen Lippenröte bedarf, ist um 1900 dezidiert als Zirkusgeste in Erscheinung getreten: So ist von »der Parforcereiterin, die […] die Reitpeitsche schwingend und Kusshände werfend kokett hinund hertänzelte«289, ebenso die Rede wie von der »Kunstreiterin, die vom Pferd herab auf den August schaut, der ihr Kusshände nachwirft«290. Künstlerisch reflektiert wird das Kusshändewerfen im Zirkus von Malern wie Georges Seurat; auch Henri de Toulouse-Lautrec und Paul C8zanne sind für ihre Darstellungen von Zirkusszenen berühmt.291 Doch nicht nur mit der Geste des Kusshändewerfens zitiert Einstein im Puppenmotiv einen zirzensischen Topos, auch Bebuquins Misshandlung der Puppe folgt dem Muster einer Zirkusdarbietung: Die Kunstreiterin nämlich, die den dummen August ignoriert, »wird für ihre Gleichgültigkeit und ihr Schweigen bestraft: Der Clown mißhandelt eine Gliederpuppe.«292 Die »Ruhe« und das »Leblose[…]«293 Euphemias provozieren Bebuquin dazu, sie anzuschreien, zu beschimpfen und sie vor die Tür zu werfen. Eine Wachspuppe wird durch solch eine Behandlung zerstört: »[I]hr Gebrauch [setzt] große Vorsicht voraus[…], da ihre Oberfläche schnell reißt, abplatzt und zerschmilzt.«294 Die Schminkkunst, welche Euphemias Gesicht gestaltet hat, ist also gleichermaßen als Werbetechnik wie als zirzensische Praktik lesbar. Eine Mischung von bildender Kunst und Alltagspraktiken liegt jedoch nicht nur beim Schminken vor, sondern gilt als grundsätzlicher Gestus der europäischen Avantgarden. Entsprechend ist beispielsweise Henri de Toulouse-Lautrec nicht nur für seine Zirkusdarstellungen, sondern auch – wahrscheinlich sogar noch mehr – für die von ihm gestalteten Werbeplakate berühmt geworden. Um das Verhältnis von Schaufensterpuppe und Werbeplakat, von Stillstellung des Weiblichen und Belebung der (beworbenen) Dinge in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders soll es nun genauer gehen. »[T]he crucial thing about the shopwindow mannequin was that, like the poster, it was identified as a vital component of the modern city street«295, behauptet Tag Gronberg. Die pygmaliontische Belebung der Puppe erfolgt nicht mehr wie im Klassizismus durch den liebenden Schöpfer-Betrachter, sondern im Kontext der Großstadtmeile durch den konsumptiven Blick, der 289 Johannes Richter : Alles durch den »Artist«. In: Der Artist 1000 (1904). Unpaginiert. 290 Bose (Anm. 46). S. 129. 291 Vgl. Der Zirkus (1890/91) von Georges Seurat, Henri de Toulouse-Lautrecs Die Kunstreiterin im Zirkus Fernando (1888) oder Pierrot und Harlekin (1888) von Paul C8zanne. 292 Bose (Anm. 46). S. 129. 293 Wie Anm. 276. 294 Hegener (Anm. 274). S. 51. 295 Gronberg (Anm. 279). S. 382.

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einen virtuellen Tausch von Modell und Käufer_in vornimmt.296 Einsteins Interesse an der Schaufensterpuppe und deren Funktionalisierung als Chiffre eines neuen Kunstverständnisses konvergiert mit Strategien der künstlerischen Avantgarden allgemein. Auch viele Kunstmagazine beschäftigten sich mit den Mannequins.297 Neben den Schaufensterpuppen wurde auch den Plakaten als Medien der Werbung ein besonderes ästhetisches Interesse entgegengebracht: »[A]ttempts to identify advertising with high art were frequently made during the late nineteenth and early twentieth centuries […]. To a large degree this accounts for the cult of the advertising poster in France.«298 Plakate von Henri de Toulouse-Lautrec, Alfons Mucha u. a. wurden vermarktet wie Kunstgegenstände, die der Ausstellung in Galerien wert sind oder private Sammlungen bereichern sollen.299 Im Plakat ist der Anspruch der Avantgarden, Kunst und Leben wechselseitig ineinander zu überführen, eingelöst. Denn das Plakat repräsentiert das nichttraditionelle Format und den innovativen Anspruch der verschiedenen Unterhaltungskünste. Außerdem steht es für das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Unterhaltung und deren Zugänglichkeit für Werbung, Kommerz und industriell hergestellte Dinge/Kunst.300 Ein Plakat spielt auch in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders eine Rolle, nämlich als die Erzählinstanz die Hetäre als Werbeplakat für eine Bar ausgibt: »Die Hätere zog allein weiter. Man ließ sie unbenutzt stehen, sie spannte ihren pfaufarbenen Schirm auf, sprang wild ein paarmal in die Höhe, dann fügte sie sich in die Fläche einer Litfaßsäule, sie war nur ein Plakat gewesen für die neueröffnete Animierkneipe ›Essay‹.«301 Die Hetäre ist als ein metafiktionales Element zu verstehen, denn in ihrer Erscheinung als Plakat verweist sie auf den ›Essay‹, der neben einer Animierkneipe bekanntlich auch eine bestimmte Textsorte ist. In den offensichtlich misogynen Diskurs ist eine poetologische Reflexion eingeschrieben. Die Hetäre steht für käufliche Liebe und ein Dasein als Ware, ihre Misshandlung besteht in der selbstverständlichen Annahme, man könne sie benutzen (und folglich dadurch beschämen, sie ›unbenutzt stehen zu lassen‹), 296 Uwe Lindemann vergleicht unter diesem Aspekt Schaufenster und Museumsvitrine und kommt zu folgendem Schluss: »Im Gegensatz zur Museumsvitrine, wo das ausgestellte Objekt dauerhaft dem Gebrauch entzogen ist, fungiert das Schaufenster […] lediglich als retardierendes Moment. […] [D]er Entzug des ausgestellten Objektes ist nicht permanent wie im Museum […]. […] Im Gegensatz zur Museumsvitrine geben ausgestellte Waren ein Versprechen des zukünftigen Gebrauchs und/oder Symbolwertes, das der Käufer mit den im Laden käuflichen identischen Waren einlösen kann und soll.« Lindemann (Anm. 280). S. 195. 297 Gronberg (Anm. 279). S. 379. 298 Ebd. S. 386. 299 Vgl. ebd. 300 Vgl. Jones (Anm. 38). S. 38. 301 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 90.

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ihre Mortifizierung erfolgt durch die Plakatwerdung. Zugleich aber wird auch hier mit dem Pygmalionmotiv gespielt: Weniger ist jedoch dessen Umkehrung, d. h. die Verwandlung der Frau in ein (Kunst)Objekt, von Belang, sondern die Tatsache, dass diese Mortifizierung der Bewerbung einer Animierkneipe dient, also auf Belebung verweist. Belebung im erotischen Sinne freilich, die wiederum mit schriftstellerischer Aktivität, dem Schreiben von Essays, identifiziert wird. Einstein macht sich also die zeitgenössische Verquickung von Werbeträgern und Kunstobjekten zunutze, um für eine Poetologie zu plädieren, die sich aus der Mischung von Unterhaltungskunst und hoher Kunst, aus Animierkneipe und Schriftstellerei speist, sich in literarischen Mischformen wie dem Essay realisiert und misogyne Züge trägt. Die männliche Figur Böhm, die ebenfalls als Werbeträger fungiert, ist dagegen – obwohl Böhm tot ist – interessanterweise nicht mit Mortifikation assoziiert: »Aber ich versprach mir, [berichtet Böhm,] als Reklame für das Unwirkliche herumzulaufen, bis irgendein Idiot ein Wunder an mir erlebt.«302 In Böhm sind Reklame, ewiges Leben und die Erfüllung des Wunders wechselseitig aufeinander bezogen; damit ist er als Gegenmodell zur Hetäre konzipiert und verkörpert die moderne, männliche Variante des pygmaliontischen Kunstmenschen. Dasselbe gilt für den ihm zugeschriebenen Sohn Emil, der nicht durch einen sexuellen Kontakt gezeugt wurde: »›[…] [E]r hat bereits der Welt entsagt, er wird geistig, ist ganz wunschlos, unreinlich und schweigsam. Außerdem hat er eine sensible Haut, die wechselt fortwährend Farbe. Kann man ihn nicht als Reklametransparent benutzen? Man spart farbige Glühlampen.‹«303 Der hier im Zusammenhang der Werbetechniken stark herausgestellte Aspekt des Lichts markiert ein weiteres Element in Einsteins misogyner Werbeästhetik: Um 1900 ist zu beobachten, »wie die kurzgeschürzte Muse [hier gemeint: die Artistin] jetzt in elektrisch bestrahlten luxuriösen Tempeln auftritt«304. Ähnlich wie die moderne Artistin wird die Schauspielerin Fredegonde Perlenblick in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders durch eine Lichtquelle beworben: Auf dem Dache des Kupees war ein Kintopp angebracht, der den verschlafenen Bürgern zeigte, wie die Schauspielerin Fredegonde Perlenblick sich auszog, badete und zu Bett ging. Ehe es dunkel wurde, erschien über dem Bett kalligraphisch »Endlich allein?« Unter der Bilderreihe des rasenden Kinema stand zum Beispiel »Ich trage den Strumpfhalter ›Ideal‹« oder sonst irgendeine wertvolle Empfehlung.305

Während die männlichen Figuren die natürliche Strahlkraft besitzen, Wunder zu wirken, erscheint die Frau als Kunstobjekt, der kein liebender Pygmalion zur 302 303 304 305

Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 87. Ebd. S. 85. Oberbreyer (Anm. 36). Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 90.

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Belebung verhilft, sondern die moderne Technik. Nicole Parrot stellt im Hinblick auf Schaufensterpuppen um 1900 Ähnliches fest: Diese Mannequins sind derart vollkommen und einwandfrei verarbeitet, dass sie auch eine neuartige Werbung verdienen. Die Fotografien eines geschamckvoll [sic] gestalteten Katalogs zeigen sie »in Szee [sic] gesetzt«: die Dame im Abendkleid in ihrem Salon, das Fräulein im Unterhemd in seinem Boudoir oder nackt vor dem Spiegel. Derselbe Katalog schlägt auch besonders erfinderische Neuerungen vor, wie die langen Handschuhe, direkt auf die Hände und Unterarme aufgemalt oder die Verankerung am Boden mittels einer Art Schloss, das selbst dann noch unsichtbar bleibt, wenn das Mannequin auf den Zehenspitzen steht.306

Der frauenfeindliche Aspekt, den die Bannung der Frau in die Litfasssäule und ins ›rasende Kinema‹ beschreibt, bedeutet wie die Tatsache, dass die Puppe »seit ihrer Existenz eine Kusshand zuwarf«307, eine Stillstellung des Weiblichen bzw. seine Bannung in eine eng begrenzte Existenzweise. Bei der Wachspuppe gibt es hierfür neben der topischen Überwindung des Weiblichen als Prinzip männlicher Kulturstiftung308 eine weitere kulturgeschichtliche Erklärung: Die Besonderheit einer Wachspuppe ist ihre funerale Herkunft. Bis zur Barockzeit sind Wachspuppen in Jenseitsrituale eingebunden gewesen und sollten sowohl als memento-mori-Zeichen fungieren als auch Unvergänglichkeit und ewiges Leben symbolisieren.309 Neben dieser kulturhistorischen Sichtweise ist auch der systematische Aspekt wichtig, der darin besteht, dass die Puppe als Modell für das ›Prinzip Frau‹ fungiert. An der Puppe ist es möglich, vorzuführen, was jeder realen Frau passieren kann.310 Innerhalb der symbolischen Ordnung können Puppen an Stelle der in der Wirklichkeit lebenden Frauen beschmutzt, misshandelt, exekutiert o. ä. werden. Die Materialität der Puppe, ihr Ding- und Warencharakter senkt die Hemmschwelle für manipulative Akte, die am lebenden Menschen nicht straflos vollzogen werden dürfen.311 Der Ding- und Warencharakter zeigt sich in der »stille[n] freundliche[n] Schmerzlosigkeit« der Puppe Euphemia, »die ihm [= Bebuquin] jedoch gleichgültig war.«312 »Ihn empörte [statt dessen] die Ruhe alles Leblosen, da er noch nicht in dem nötigen Maße abgestorben war, um für einen angenehmen Menschen gelten zu dür306 Parrot (Anm. 287). S. 53. 307 Wie Anm. 276. 308 Vgl. dazu Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Deutsch von Thomas Lindquist. Würzburg 2004. 309 Vogel (Anm. 280). S. 105f. 310 Vgl. Renate Berger : Metamorphose und Mortifikation. Die Puppe. In: dies. und Inge Stephan (Hg.): Weiblichkeit und Tod in der Literatur. Köln 1987. S. 265–290. Hier: S. 280. 311 Ebd. S. 288. Ein prominentes historisches Beispiel hierfür ist Oskar Kokoschka, der eine Puppe nach dem Vorbild Alma Malers anfertigen ließ und als eine Art Voodoo-Puppe nutzte. Vgl. dazu ebd. S. 283–290. 312 Wie Anm. 276.

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fen.«313 Die Wut auf die Puppe rührt aus dem eigenen Todeswunsch her und dieser ist sowohl in soziale wie auch in ästhetische Zusammenhänge eingebunden. Denn die Mortifikation der Frau dient, so Anne Amend-Söchting, in der Moderne als Ersatz, um den Verlust der intakten sozialen Ordnung zu kompensieren. Auf diese Weise erfolgt die Regression in das Imaginäre, so daß die Konfrontation mit der Puppe oder der Leiche identisch ist mit dem als Projektionsfläche zu deutenden mütterlichen Körper. Das (vorwiegend) Symbolische, die sprachliche Ordnung, wird vorübergehend zugunsten des Semiotischen, des auch außer- oder vorsprachlich Signifizierenden, aufgegeben.314

Tatsächlich begründet »der merkwürdige Umstand, daß ihn dies ruhig konventionelle Lächeln bewußtlos machen konnte«315, die Attraktion, welche die Puppe auf Bebuquin ausübt. Diese Konstellation stellt eine Modifikation des Pygmalionmotivs dar : Nicht der Künstler belebt die Kunstfigur, sondern die Puppe macht Bebuquin bewusstlos. Die Bewusstlosigkeit geht mit Bebuquins Gefallen am »Unkünstlerischen«316 einher ; die Revision des Pygmalionmythos und das Lob des Unkünstlerischen führen eine Auseinandersetzung mit der ästhetischen Tradition allgemein und dem Dilettantismus im Besonderen mit.317 Dass später im Text die Puppe Euphemia als einzige Entsprechung des Schönheitsideals der Vase benannt wird,318 bedeutet nicht nur eine Identifizierung der antiken bzw. klassizistischen Plastik mit der Schaufensterpuppe des frühen 20. Jahrhunderts, sondern auch die Assoziierung der Plastik mit der Gommeuse und der Artistin. Diese Einspeisung von Elementen aus den ›niederen Künsten‹ in den ästhetischen Kanon319 stellt eine weitere Variante der Gattungsmischung 313 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 74. 314 Anne Amend-Söchting: Puppen, Phantasmen und Vampire – von androiden Frauengestalten in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 24 (2000). S. 353–380. Hier: S. 356. 315 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 74. 316 Wie Anm. 276. 317 Katsumi Hara deutet das Angezogensein vom Leblosen als dekadenten Zug innerhalb der Flucht vor der Dekadenz. Vgl. Katsumi Hara: »Bebuquin« als poetologischer Versuch in der Übergangsphase vom Symbolismus zur Avantgarde. In: Klaus H. Kiefer (Hg.): Carl-Einstein-Kolloquium 1986. Frankfurt/M./Bern/New York/Paris 1988. S. 185–198. Hier: S. 190. 318 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 88f: »Ich suchte wochenlang nach der Frau, welche die Proportionen der Vase habe. Selbstverständlich vergeblich. Höchstens die Puppe in Euphemias billiger Erstarrnis.« 319 Diese »Kritik der hohen Themen […], um die herum die abendländische Kultur ihren Bilderreigen entfaltet hatte«, stuft Jean Starobinski als eine »Ersatzmythologie« ein, die auf ein »allgemeine[s] Versiegen der traditionellen Inspirationsquellen« antwortet und auf folgende Formel gebracht werden kann: »Aus imaginären Göttinnen werden Ballerinen aus Fleisch und Blut, und die edlen Schlachtrosse verwandeln sich in Manegehengste.« Starobinski (Anm. 68). S. 14f.

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dar. Darüber noch hinausgehend, treibt Einstein erklärtermaßen einen radikalen Bruch mit der ästhetischen Tradition voran. Nicht nur die Puppe wird misshandelt, sondern auch ihre klassizistische Entsprechung, die knidische Vase. Bebuquin berichtet: Im Traum stieg ich zur Vase und zerbrach sie regelmäßig. Das Gefäß machte mich zum Klassizisten, zum symmetrisch geteilten Stilisten. […] Böhm sagte mal, ich sollte mir ein Bein amputieren. Das war brutal, aber ganz richtig. […] Nach einer ziemlich schlimmen Nacht schlug ich den Topf entzwei.320

Bebuquins Traum ist von ästhetikgeschichtlichen und geschlechtsspezifischen Implikationen grundiert: Wenn die Zerschlagung der klassizistischen Vase mit der Misshandlung der Puppe überblendet wird, wird die Abkehr von der ästhetischen Tradition zugleich als Abkehr vom Prinzip des Weiblichen lesbar. In der Malerei setzt Einstein diesen Bruch mit der Abkehr vom Impressionismus an: »Nun konnte Malerei nicht mehr stupid gläubige Wiederholung von Schatten und Spiegelung in den Flüssen sein, denn Narziß war ein eitler onanistischer Naturalist, und Pygmalion erlitt als Dupe die Niederlage eines Mannequins, die Niederlage des Kopisten.«321 Naturalistische Mimesis wird zur egozentrischen Selbstbefriedigung umgedeutet und Pygmalion zum Mannequin, zur Kunstfigur, umkodiert. Von der Umkehrung des Pygmalionmotivs in Bebuquin ist bereits die Rede gewesen; Einsteins Idee einer Schöpfung, die weder an das weibliche Prinzip gebunden ist, noch sich in unproduktiver Onanie erschöpft, wird später noch zur Sprache kommen. Zunächst ein kurzes Zwischenfazit: Einsteins Inszenierung des Bruchs mit der ästhetischen Tradition am Modell der Puppe in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders lässt sich folgendermaßen beschreiben: Als Kunstmensch ist die Puppe ein exemplarisches Artefakt. In ihrer Menschenähnlichkeit ist sie »in einem sehr handgreiflichen Sinn Ausdruck [ihres] Produzenten […]. Zugleich Realisation der kreativen Fähigkeiten des Menschen und dessen Abbild, qualifiziert sich der Kunst-Mensch […] besonders gut als Chiffre des KunstWerks im engeren Sinn.«322 Die poetologischen Überlegungen, zu welchen das Auftreten einer Puppe in einem literarischen Text grundsätzlich anregt, führen bei Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders zu der Beobachtung, dass der Kunstmensch/die Puppe eindeutig für das Unkünstlerische steht: Bebuquin war »[e]rfreut über das Unkünstlerische«, obwohl er »nicht [wusste], was ihn am Unkünstlerischen anzog«.323 Wenn Einstein hier das Unkünstlerische zur Chiffre 320 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 88f. 321 Einstein: Georges Braque (Anm. 207). S. 241. 322 Monika Schmitz-Emans: Eine schöne Kunstfigur? Androiden, Puppen und Maschinen als Allegorien des literarischen Werkes. In: Arcadia 30 (1995). S. 1–30. Hier: S. 3. 323 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 74. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.

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seines Kunstwerks macht, erhebt er einen Dilettantismus zum ästhetischen Programm, der zirzensisch fundiert, an der modernen Warenästhetik orientiert und geschlechtsspezifisch kodiert ist. Die Tatsache, dass Einstein während seiner Studienzeit in Berlin als Schaufensterdekorateur gearbeitet hat,324 besitzt in diesem Zusammenhang mehr als nur anekdotischen Wert. In seiner Person treffen sich der Puppen- und der Textarrangeur, d. h. die Lesbarkeit der Puppe als poetologische Chiffre ist auch biographisch verbürgt.325

IV.2.

Zwischen Schaufensterpuppe und afrikanischer Plastik

Dies gilt umso mehr, als die Puppe Euphemia auch als Chiffre für die ästhetisch-strukturellen Wechselbezüge zwischen Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders von 1912 und Negerplastik von 1915, sprich: für den Import des Primitiven sowohl in die kubistische Ästhetik als auch in die Werbe- und die Zirkuswelt der Großstadt um 1900 einsteht. In den 1920er Jahren setzte beim Aussehen der Schaufensterpuppen eine Entwicklung in Richtung gesichtsloser Köpfe ein. Die Werbetheorie »invoked the non-figurative tendencies of avant-garde art in order to justify this erasure of the female physiognomy – to claim it as modern.«326 Eine Tendenz zur Auflösung des weiblichen Körpers lässt sich auch beim Liebesspiel Euphemias und Böhms beobachten. Im Spiegel sieht Böhm »wie die Brüste [Euphemias] sich in den feingeschliffenen Edelsteinplatten seines Kopfes zu mannigfachen fremden Formen teilten und blitzten«327. Und es sind Euphemias »lange Haarsträhnen«328, 324 Vgl. Kiefer: Finale (Anm. 75). S. 34. 325 Und nicht zuletzt geht Einsteins Zeitgenossenschaft davon aus, dass im Schaufensterdekorateur der praktische Fachmann mit dem Künstler verschmelze (vgl. Elisabeth von Stephani-Hahns Handbuch zur Schaufenster Kunst von 1926. Zit. n. Lindemann [Anm. 280]. S. 204f). Heute wiederum – und auch das besitzt auf Einsteins Werk gewendet eine besondere Pointe – profitieren die Institutionen Warenhaus und Museum mitunter sehr direkt voneinander ; Museumsleute lassen sich von Schaufenstern anregen, und Dekorateur_innen leihen sich zuweilen aus kulturgeschichtlichen Sammlungen Exponate aus. Vgl. Esther Gajek: Museum und Kaufhaus. Ein weites Feld. In: Bärbel Kleindorfer-Marx und Klara Löffer (Hg.): Museum und Kaufhaus. Warenwelten im Vergleich. Regensburg 2000. S. 9–25. Hier: S. 11. 326 Gronberg (Anm. 279). S. 389. – In der Nachkriegszeit fanden dann tatsächliche Umfunktionalisierungen der Schaufensterpuppen statt: »Am Ende des Krieges sind die Fassaden nüchtern, die Schaufenster diskret geworden. Das Mannequin wird zum ersten Mal zweckentfremdet: anlässlich der Dada-Ausstellung in Paris wird eine Puppe, die einen deutschen Offizier verkörpert, mit dem Kopf nach unten aufgehängt.« (Parrot [Anm. 287]. S. 66) In diesem Zusammenhang sei auf den Passus in Bebuquin verwiesen, in dem ein alter Mann »an einem Wegweiser bei den Füßen aufgehängt wurde.« Dieser war »als Pierrot« angezogen und damit mit einer Puppe assoziiert. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 110. 327 Ebd. S. 76.

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welche im Spiegel den Eindruck erzeugen: »[J]edes Haar waren tausend Formen.«329 Die Wachspuppe Euphemia inszeniert sich in Bebuquin offensichtlich als kubistisches Kunstwerk.330 Durch diese künstlerische Potenz konterkariert sie auf der einen Seite Böhms körperliche Impotenz; auf der anderen Seite muss sie um der Kunst Willen ihre körperliche Integrität preisgeben. In Negerplastik schreibt Einstein: »Es bezeichnet die Negerplastiken, daß sie eine starke Verselbständigung der Teile aufweisen;«331 Wenn Euphemia im Spiegel ihre natürliche Gestalt verliert und sich ihre Körperteile verselbständigen, erfolgt ihr Kunstwerk-Werden analog sowohl zum Formprinzip des Kubismus als auch der primitiven Kunst. Allgemeiner gefasst kann also festgehalten werden: Die Anleihen aus der bildenden Kunst, die die Schaufensterpuppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufweisen, sind im vorliegenden Zusammenhang genauso wie Euphemias Selbststilisierung zum kubistischen Kunstwerk von größter Bedeutung. Wenn das Äußere der Schaufensterpuppen eine Orientierung am kubistischen Formprinzip aufweist, werden die Puppen in eine ästhetisch-strukturell begründete Nachbarschaft zu den afrikanischen Plastiken gestellt; denn diese haben laut Einstein modellbildend für den Kubismus gewirkt.332 Carl Einstein arbeitet in Negerplastik eine künstlerische Verwandtschaft zwischen Kubismus und primitiver, afrikanischer und ozeanischer Kunst heraus; wenige Jahre zuvor hatte er bereits in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders am Beispiel der ihre Körperoberfläche fragmentierenden Puppe Euphemia eine künstlerische Verwandtschaft von Kubismus und moderner Werbeästhetik angedeutet. Für das Werk Einsteins kann also ein Verständnis von Primitivismus in Anschlag gebracht werden, dem es um eine strukturelle Formanalyse geht, die das Primitive als Eigenschaft von Objekten extrahiert und auf andere Gegenstände übertragbar macht. Dieses Verständnis von Primiti328 Ebd. 329 Ebd. 330 Präzisierend muss hinzugefügt werden, dass Euphemia innerfiktional vermutlich kein Bewusstsein dahingehend besitzt, dass ihre Körperkunst sich am Kubismus orientiert. – Frank Krause diskutiert die Wachspuppe unter Rückgriff auf Edmund Husserls Differenzierung zwischen Wahrnehmung, Vorstellung und Täuschung, die dieser ebenfalls am Beispiel einer Wachspuppe vornimmt (vgl. Frank Krause: Vom Embryo Emil zum ›b8b8 bouquin‹. Geburtsphantasien in Carl Einsteins Bebuquin. In: Nicola Creighton und Andreas Kramer (Hg.): Carl Einstein und die europäische Avantgarde. / Carl Einstein and the European Avant-Garde. Berlin/Boston 2012. S. 31–44. Hier: S. 33f.). Krause ordnet Bebuquins Umgang mit der Puppe dann in einen Zusammenhang mit (männlichen) Selbstschöpfungsmodellen ein. Die Passage, in der Bebuquin die Puppe anschreit und zu Boden wirft, illustriere, »daß der metaphysische Anspruch des schöpferischen Bewußtseins mit seiner Beziehung auf profane Gegenstände unvereinbar ist« (ebd. S. 35), weil die Puppe ja leblos ist und bleibt. 331 Einstein: Negerplastik (Anm. 159). S. 252. 332 Vgl. ebd. S. 246.

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vismus erschließt schließlich eine literarische Ästhetik, die sich programmatisch aus Elementen speist, die in der Vergangenheit bzw. zeitgenössisch in einer weniger avantgardistischen Perspektive als Kennzeichen von Dilettantismus gegolten hatten bzw. gelten. Die Rede ist von der Sprengung geschlossener Formen (man denke an Goethes und Schillers Schemata Über den Dilettantismus),333 von der Inversion von Peripherie und Zentrum (man denke an die Mittelpunktsfixierung der Autonomieästhetik)334 sowie von der Fokussierung und Aufwertung des Marginalisierten. Diese Thesen möchte ich nun Schritt für Schritt entfalten: Über die Rezeption von Schaufensterpuppen, die nach Prinzipien der bildenden Kunst geschaffen worden waren, sind Reaktionen wie die folgende überliefert: Here [= in some viewers’ description] the modern mannequin was characterized as an eradication of the »naturalistic« female body, as that body’s translation into »a mere cubistic chaos of intersecting surfaces« and as »a decorative hieroglyphic«. Woman’s body, it would seem, qualified as »decorative« to the extent that it had been rendered illegible. This defamiliarization of woman involved not only a reconfiguration of expressive parts of the body (such as face and hands) but also a transformation of surface; the modern mannequin might have »skin« that was »gilt« or silvered over.335 333 Vgl. Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller : Über den Dilettantismus. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. I. Abteilung, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998. S. 739–786. Hier: S. 740. 334 Vgl. z. B. Karl Philipp Moritz: Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten. In: Karl Philipp Moritz. Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1997. S. 943–949. Hier: S. 948. 335 Gronberg (Anm. 279). S. 379. Die hier angesprochene »reconfiguration of expressive parts of the body« (ebd.) erhebt später z. B. Hans Bellmer zu einem zentralen Gestaltungsprinzip seiner Puppen (vgl. dazu Peter Gendolla: Anatomien der Puppe. Zur Geschichte des MaschinenMenschen bei Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, Villiers de l’2sle-Adam und Hans Bellmer. Heidelberg 1992. S. 222.). In Verbindung mit dem Werk Carl Einsteins steht Bellmer nicht nur aufgrund der Tatsache, dass er Puppen als »Poesie-Erreger« bezeichnet (Hans Bellmer : Die Spiele der Puppe [entst. 1938/39, ersch. 1949]. In: ders.: Die Puppe: Die Puppe. Die Spiele der Puppe. Die Anatomie des Bildes. Vollst., neu eingerichtete Ausgabe. Frankfurt/M./Berlin/Wien 1976. S. 27–70. Hier : S. 29.), sondern auch wegen seines besonderen Interesses für das Gelenk. In Einsteins Negerplastik werden die Gelenke als »unbedingt notwendig zur Darstellung des unmittelbar Kubischen« (Einstein: Negerplastik [Anm. 159]. S. 260) ausgewiesen, Bellmer widmet in Die Spiele der Puppe ein eigenes Kapitel dem »Kugelgelenk«. Ähnlich wie Einstein beschreibt Bellmer seine Puppen mit mathematischen Parametern (vgl. z. B. ebd. S. 37), genauso wie Einstein und die kubistischen Künstler will er »die Frau, beweglich im Raum, unter Ausschluß des Zeitfaktors dar[…]stellen. Das heißt, den klassischen Begriff der Einheit von Zeit und Raum, der auf die Momentaufnahme hinausläuft, durch den Gedanken einer menschlichen Projektion auf eine zeitlich neutrale Ebene zu ersetzen, auf der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihrer Bewegungsbilder nebeneinander ordnen und bestehen bleiben. Wenn man […] alle Bewegungsteilbilder integral – und als drei-dimensionalen Gegenstand – addiert, so

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Umgekehrt wird der Beginn des Kubismus mit der Präsentation des ersten abstrakten Mannequins 1911 im Rahmen der Pariser Herbstausstellung angesetzt.336 »The first abstract mannequin is reputed to have been presented to an unenraptured audience at the 1911 Salon d’Automne in Paris. Perhaps inspired by photography, the mannequin was a cubist figure, its surface a defracting myriad of tiny broken mirrors.«337 Was mit der Auslöschung der Gesichtszüge bei den Schaufensterpuppen begann, wird nun zur kaleidoskopartigen Brechung des gesamten Puppenkörpers – unter Zuhilfenahme von Spiegeln! – gesteigert. Vergleichbares ist für die Körper von Artist_innen überliefert: Während die im Freien agierenden Jahrmarktartist_innen aufgrund der Tatsache, dass die Sonne den Glanz von Flitter und Metallfäden schluckt, durch eine extrem bunte Garderobe auffielen, sind »[f]ür die Kostüme der Zirkus- und Variet8künstler […] dagegen Glitzereffekte typisch, erzeugt durch lichtreflektierende Materialien wie Pailletten, Schmuckstein, goldene und silberne Fransen, Besätze und Stickereien, Brokate, Satin und Lam8.«338 Solche Glitzereffekte werden von den Zuschauer_innen ähnlich wahrgenommen wie die spiegelbesetzten Mannequins. ergibt sich daraus die konkrete Synthese der Kurven und der Oberflächen, an denen entlang sich ein jeder Punkt des Körpers vorwärtsbewegt (Hans Bellmer : Kleine Anatomie des körperlichen Unbewussten oder Die Anatomie des Bildes [1957]. In: ders.: Die Puppe: Die Puppe. Die Spiele der Puppe. Die Anatomie des Bildes. Vollst., neu eingerichtete Ausgabe. Frankfurt/M./Berlin/Wien 1976. S. 71–114. Hier: S. 93/95.). Wie Einstein arbeitet Bellmer mit Spiegelexperimenten (vgl. ebd. S. 82). Im Kapitel über »Die Anatomie der Liebe« beschreibt Bellmer das Verhältnis von Mann und Frau/Puppe als das einer gewaltförmigen Geometrisierung: »[D]ie praktische Verschmelzung des Natürlichen mit dem Vorgestellten: Wie der Gärtner den Buchsbaum zwingt, als Kugel, Kegel, Kubus zu leben – so zwingt der Mann dem Bild der Frau seine elementaren Gewißheiten auf, die geometrischen und algebraischen Gewohnheiten seines Denkens.« (ebd. S. 92) Der Exkurs zu Bellmers vom Dadaismus inspirierten Puppen wäre z. B. um Ausführungen zu Sophie Taeuber-Arps kubistischen Puppen zu ergänzen. Taeuber-Arp fertigte »abstrakte[…] Marionetten«, die »aus Kuben, Kegeln, Kugeln geschaffen[…]« waren (Raimund Meyer: »Dada ist gross Dada ist schön«. Zur Geschichte von ›Dada Zürich‹. In: Hans Bolliger, Guido Magnaguagno und Raimund Meyer (Hg.): Dada in Zürich. Zürich 1985. S. 9–79. Hier: S. 34.). V. a. aber steht Taeuber-Arp für das »Zusammenspiel von Dada – Masken – Tanz« (ebd. S. 42), das im hier verfolgten Zusammenhang von Variet8tänzerin und Puppe besonders interessant ist. Denn der Dadaismus behauptet von sich, »›den Kubismus zum Tanz auf der Bühne gemacht‹« (ebd.) zu haben. Eine Abbildung von Sophie Taeuber »bei einem Tanz mit kubistischem Kostüm, Zürich 1916« zeigt der Band Dada in Zürich auf S. 43. 336 Vgl. Parrot (Anm. 287). S. 65. 337 Sara K. Schneider: Vital Mummies. Performance Design for the Shop-Window Mannequin. New Haven/London 1995. S. 127. – Das durchgängig präsente Spiegelmotiv in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders kann vor diesem Hintergrund in meine Lesart einbezogen werden. Dasselbe gilt für Böhms Kopf, »eine silberne Hirnschale mit wundervoll ziselierten Ornamenten, in welche feine, glitzernde Edelsteinplatten eingelassen waren« (Einstein: Bebuquin [Anm. 5]. S. 74f): Das Spiegelmotiv und die silberne, ziselierte Hirnschale sind Elemente einer kubistischen Ästhetik, die den Kunstmensch-Charakter der Figuren, also das Puppenhafte an ihnen, besonders gut zur Anschauung bringen. 338 Schmitt (Anm. 35). S. 20.

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So heißt es in Edmond de Goncourts Artistenroman Les frHres Zemganno von 1879: Es gab und gibt auf diesen rasend schnell vorüberziehenden Bildern, bei dieser ständigen Bewegung von Menschen unter grellem Gaslicht, in diesem Reich des Flitters, des Rauschgolds, der angeklecksten Gesichter bezaubernde und seltsame Lichteffekte. So läuft zeitweilig über das mit Rüschen besetzte Hemd eines Äquilibristen ein Geriesel von Flimmerplättchen, das es in ein feuersprühendes Kleid verwandelt. In manchen Seidentrikots erscheint ein Bein mit seinen Höhlungen und Wölbungen, mit seinen weißen und violetten Tönen wie das Rot einer Rose, auf die nur von einer Seite Sonnenlicht fällt. Dem Gesicht eines Clowns, auf dem ein heller Lichtschein liegt, verleiht der grellweiße Puder eine Reinheit, die Regelmäßigkeit und fast den scharfen Schnitt eines aus Stein gehauenen Antlitzes.339

Am Artist_innen- und am Puppenkörper wird in den ›niederen‹ Künsten realisiert, was »C8zanne […] bereits [erkannte], [nämlich] daß allen Körpern gewisse stereometrische Grundformen innewohnen, gleichsam als Elemente alles Plastischen. Er nannte Kegel, Zylinder und Würfel. […] Der Beginn eines durchaus modellierenden Sehens ist gegeben.«340 Eben jenes ›durchaus modellierende Sehen‹ fordert Einstein in seinen Schriften zur Totalität und zur Negerplastik: Die Aufgabe der Kunst sei es, »das Sehen gesetzmäßig zu ordnen«341, und die afrikanische Kunst stelle »einen bedeutenden Fall plastischen Sehens dar.«342 Die Schrift Negerplastik widmet sich der Analyse der Raumbearbeitung in afrikanischen und ozeanischen Plastiken und gilt als »metonymes Manifest des Kubismus«343. Negerplastik ist demnach ein Dokument des Primitivismus, 339 Edmond de Goncourt: Die Brüder Zemganno. Deutsch von Albert Klöckner. Hamburg 1967. S. 121f. 340 Einstein: Anmerkungen zur neueren französischen Malerei (Anm. 204). S. 119. 341 Carl Einstein: Totalität. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 1: 1908–1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980. S. 223–229. Hier: S. 223. 342 Einstein: Negerplastik (Anm. 159). S. 248. 343 Kiefer : Diskurswandel (Anm. 170). S. 284. Einstein differenziert die afrikanische und die kubistische Kunst, indem er die eine als naive, die andere als sentimentalische Kunst ausweist: Zeitgleich zum Kubismus in der französischen Malerei »entdeckte man notwendig die Negerplastik und erkannte, daß sie isoliert die reinen plastischen Formen gezüchtet hat. Üblicherweise bezeichnet man die Bemühungen dieser Maler als Abstraktion, wiewohl sich nicht leugnen läßt, daß nur mit einer ungeheueren Kritik der verirrten Umschreibungen man sich einer unmittelbaren Raumauffassung nähern konnte. Dies jedoch ist wesentlich und scheidet die Negerplastik kräftig von solcher Kunst, die an ihr sich orientierte und ihr Bewußtsein gewann; was hier als Abstraktion erscheint, ist dort unmittelbar gegebene Natur. Die Negerplastik wird sich im formalen Sinn als stärkster Realismus erweisen. Der heutige Künstler agiert nicht nur für die reine Form, er spürt diese noch als Opposition seiner Vorgeschichte und verwebt seinem Streben das allzu Reaktive; seine nötige Kritik verstärkt das Analytische.« (Einstein: Negerplastik [Anm. 159]. S. 251) Klaus H. Kiefer hat Einstein aufgrund seiner Orientierung am Primitiven zum »Winckelmann der Avantgarde« erklärt (Kiefer: Diskurswandel [Anm. 170]. S. 141). Moritz Baßler

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beschreibt dieser doch »die Anregung des Denkens und Schaffens moderner Künstler durch Kunst und Kultur der Naturvölker«344 oder in einer jüngeren Definition: »eine Stilrichtung, […] in deren Zentrum das Selbstverständnis der Künstler steht, von künstlerischen Ausdrucksformen beeinflusst zu sein, die sie in einem positiven Sinn als ›primitiv‹ wahrnehmen.«345 Es ist deshalb wichtig, festzuhalten, dass der Primitivismus ein Phänomen innerhalb der Geschichte der modernen Kunst und nicht der Stammeskunst ist. Die Kunst der Moderne nutzt das Primitive als Instrument, um die eigene Gesellschaft zu kritisieren. V. a. diese gegenkulturelle Funktion des Primitiven erklärt das ausgeprägte Interesse der Avantgarden am Primitiven.346 Ich möchte dem hier hinzufügen, dass neben den explizit-programmatischen Bezugnahmen der modernen auf die primitive Kunst auch implizit-strukturelle und/oder implizit-ästhetische Bezüge347 nachweisbar sind. Im Falle Carl Einsteins wären das auf der strukturellen Ebene die Analogisierung von Puppen- und Artist_innenkörper mit afrikanischen Plastiken durch ein einheitliches Formprinzip. Ästheti(kge)sch(ichtlich) sind die

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spricht davon, dass »[i]n dieser neuen Geschichtserzählung […] der Kubismus als die sentimentalische Wiederholung der naiven Negerplastik« erscheint (Moritz Baßler : Das Bild, die Schrift und die Differenz. Zu Carl Einsteins Negerplastik. In: Christoph Brecht und Wolfgang Fink (Hg.): »Unvollständig, krank und halb?« Zur Archäologie moderner Identität. Bielefeld 1996. S. 137–153. Hier : S. 146.). Jean Starobinski attestiert dem modernen Künstler Ähnliches: »Er wird aus dem Zirkus und der afrikanischen Kunst das machen, was Vergil aus den Schäfern Arkadiens oder was die Romantiker aus der Poesie Ossians gemacht haben – er wird die verlorene Spontaneität beklagen und seinem Bedauern in ›sentimentalen‹ und verwandelnd-verklärenden Betrachtungen Ausdruck geben.« Starobinski (Anm. 68). S. 23. William Rubin: Der Primitivismus in der Moderne. Eine Einführung. In: ders. (Hg.): Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. München 1984. S. 8–92. Hier: S. 8. Die kunsthistorische Forschung geht mittlerweile davon aus, dass die These, die primitive Kunst habe den Kubismus hervorgebracht, nicht zutreffend ist. Die Wandlungsprozesse in der modernen Kunst seien bereits in vollem Gange gewesen, als avantgardistische Künstler_innen erstmals auf Stammeskunst aufmerksam wurden. »Sie verspürten ein Interesse und fingen an, primitive Kunst zu sammeln, eigentlich weil ihre eigenen Erkundungen solche Objekte plötzlich für ihre eigene Arbeit relevant gemacht hatten. Von Anfang an stellte das Interesse an Stammesskulptur somit eine Wahlverwandtschaft dar.« (ebd. S. 19) Einen möglichen Grund für diese Wahlverwandtschaft sieht William Rubin in dem fundamentalen Wandel, den die avantgardistische Kunst vollzogen hat, nämlich den Übergang von jenen Stilen, die in der optischen Wahrnehmung verwurzelt sind, zu solchen, die sich auf geistige Konzeptionen berufen. Vgl. ebd. S. 20. Eva Blome: Reinheit und Vermischung. Literarisch-kulturelle Entwürfe von »Rasse« und Sexualität (1900–1930). Köln/Weimar/Wien 2011. S. 146. Vgl. Rubin (Anm. 344). S. 13 und S. 15. Aus diesem Grund klassifiziert Rubin den Begriff ›Primitivismus‹ als »ethnozentrisch«. Ebd. S. 13. Dem liegt der Gedanke zugrunde, »dass das Interesse an ›primitiver‹ Kunst nur Teil eines Interesses an ›primitiven‹ Kulturen im Allgemeinen gewesen sei. Darum müssten als primitivistisch auch solche Strömungen der europäischen Kunst verstanden werden, die sich nicht unbedingt bestimmte Artefakte zum Vorbild nahmen, sondern sich vom ›primitiven‹ Weltbild begeistern ließen.« Gess: Literarischer Primitivismus (Anm. 7). S. 2.

260

Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

Nobilitierung von Kindlichkeit und exzessiver bzw. expressiver Körperlichkeit sowie die Integration von Alltagshandlungen in Kunstformen zu nennen. Dass europäische Schaufensterpuppen und afrikanische Plastiken im Werk Carl Einsteins über den Parameter Kubismus aufeinander bezogen werden können, ist deutlich geworden. In seiner Monographie über Georges Braque stellt Einstein diesen Bezug selbst explizit her : Über Bilder, welche unter dem Eindruck Konrad Fiedlers und Charles Baudelaires entstanden sind, behauptet Einstein – wenngleich mit negativer Konnotation –, diese hätten »eine Ästhetik des Wachsfigurenkabinetts dem armen Hildebrand entliehen«348. Adolf von Hildebrand wiederum gilt als zentraler Ideengeber für Negerplastik.349 Aber auch in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders kann auf der Inhaltsebene eine Figuration ausgemacht werden, die Bezüge zwischen europäischen Puppen und afrikanischen Plastiken andeutet: Wenn Böhm an Euphemias »massigen Busen«350 gepresst wird, erinnert er an einen Säugling. Dadurch entsteht »ein Beispiel für die in der Kunst matriarchalischer Gesellschaften – etwa zahlreicher afrikanischer Ethnien – weitverbreiteten Urmutterstatuen.«351 Das Kontrastpaar Bebuquin-Böhm wiederum steht beispielhaft für die gemeinsame Tendenz der afrikanischen und der modernen Kunst, sich in zwei figürliche Typen zu polarisieren: schlanke, langköpfige Figuren auf der einen und untersetzte Figuren mit gedrungenen Köpfen auf der anderen Seite.352 Entsprechend wird von Bebuquins »zartmarkierte[r] Glatze«353 berichtet, während Böhm als »dicker Herr« bzw. »der Korpulente« vorgestellt wird, der »einen kleinen Kopf«354 hat. Und nicht zuletzt fällt auf, dass die Forschung, die sich mit den gleichen Gegenständen beschäftigt wie Einsteins Negerplastik, von ›afrikanischen Puppen‹ spricht.

348 Einstein: Georges Braque (Anm. 207). S. 251. 349 Vgl. z. B. David Pan: Carl Einstein und die Idee des Primitiven in der Moderne. In: Roland Baumann und Hubert Roland (Hg.): Carl-Einstein-Kolloquium 1998: Carl Einstein in Brüssel: Dialoge über Grenzen. Frankfurt/M. u. a. 2001. S. 33–48. 350 Wie Anm. 86. 351 Krämer : Romantheorie (Anm. 73). S. 110. 352 Vgl. Rubin (Anm. 344). S. 72. 353 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 73. 354 Ebd. S. 73 und S. 74.

Afrikanische Puppen

V.

261

Afrikanische Puppen: Spielzeug, Kunstgegenstand, Kultobjekt, Ausstellungsstück

Sigrid Paul schlägt in ihrem Buch über Afrikanische Puppen folgende Definition des Gegenstands vor : Die Puppe in Afrika ist eine mehr oder weniger stilisierte Nachbildung der menschlichen, vorwiegend der weiblichen Gestalt, oft unter besonderer Betonung ihrer spezifischen Geschlechtsmerkmale. Sie ist (je nach Kultur) Spielzeug wie Übungsobjekt, aber auch Vermittlerin bzw. Spenderin von Fruchtbarkeit.355

In Afrika ist eine Puppe kein Spielzeug im abendländischen Sinn, sondern die Übergänge zwischen Spielzeug und Kultobjekt sind fließend.356 Auf der systematischen Ebene rechtfertigt die Tatsache, dass die afrikanische Puppe sowohl Gegenstand des Spiels als auch des Rituals bzw. des Kults ist, die Identifizierung afrikanischer Puppen mit den afrikanischen Plastiken Carl Einsteins, da auch Einstein deren Einbindung in religiöse Kulte und das Maskenritual besonders akzentuiert.357 Auch die formalen Bestimmungen, die für afrikanische Puppen gegeben werden, finden sich in den von Einstein präsentierten Plastiken eingelöst: Ein typisches Merkmal vieler afrikanischer Skulpturen ist die additive, aus geometrischen Grundformen aufgebaute Körperform, vielfach stark abstrahiert. So lässt sich die Form der Rumpffigur von den Völkern Westafrikas (Mossi, Ashanti, Fanti) bis nach Ostafrika (Zaramo, Doe, Kwere, Luguru) verfolgen. Das Baumuster ist immer dasselbe: auf einem zylindrischen oder konischen Rumpf sitzt deutlich abgehoben der Hals, zuweilen auch gleich der Kopf in Scheiben-, Kegel-, oder auch Halbkugelform. Ebenfalls auf geometrische Grundformen reduziert findet man Puppen im südlichen Afrika. Die Kegelform bei den Zulu, kugelige Fruchtkörper bei den Ambo oder Tonga, Zylinder bei den Ntwani sind die bestimmenden Formen, die zwar abgewandelt werden können, jedoch stets als Grundmuster erkennbar bleiben.358

Diese Beschreibung afrikanischer Puppen trifft auch auf die in Einsteins Negerplastik abgebildeten afrikanischen Plastiken zu: 355 Sigrid Paul: Afrikanische Puppen. Berlin 1970. S. 6. 356 Vgl. Brigitte und Wolfgang Bofinger : Ritus und Spiel. Puppen aus Afrika. Steinheim a. d. Murr 2006. S. 7. Auf südamerikanische Artefakte bezogen, fragt auch Claude L8vi-Strauss in Traurige Tropen: »Handelt es sich um Spielzeug? Um Götterbilder? Um Ahnenfiguren? Dies festzustellen, war angesichts dieses widersprüchlichen Gebrauchs um so schwieriger, als ein und dieselbe Statuette zuweilen auf beide Arten benutzt wurde.« (Claude L8vi-Strauss: Traurige Tropen. Frankfurt/M. 1978. S. 165f.) Der Ursprung von Puppen im Ritus ist bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutiert worden, bspw. 1928 von Walter Benjamin in »Kulturgeschichte des Spielzeugs«. 357 Vgl. Einstein: Negerplastik (Anm. 159). S. 261–263 (= Kapitel »Maske und Verwandtes«). 358 Bofinger (Anm. 356). S. 13.

262

Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

Abbildungen 1–4 aus Carl Einstein, Negerplastik359

359 Die Abbildungen sind entnommen aus Einstein: Negerplastik (Anm. 159). Abb. 1: S. 268, Abb. 2: S. 270, Abb. 3: S. 272, Abb. 4: S. 272.

Afrikanische Puppen

263

Abbildung 1 zeigt die laut Bofinger für afrikanische Puppen charakteristischen langen, abstrahierten Gliedmaßen. Auf Abbildung 2 ist ein stark abstrahiertes Gesicht zu sehen. Die Puppe auf Abbildung 3 weist stark reduzierte Körperformen auf und Abbildung 4 veranschaulicht die konische Form des Rumpfes vieler afrikanischer Puppen. Das Vorkommen von Puppen aus Holz oder Ton, die den Plastiken in Einsteins Schrift phänotypisch verwandt sind, ist für Guinea, Liberia, die Elfenbeinküste, Ghana, Benin, Mali, Burkina Faso und den Kongo bezeugt.360 Es ist interessant zu beobachten, dass die Abbildungen in Negerplastik den Bestimmungen afrikanischer Puppen mehr entsprechen als die Abbildungen in Afrikanische Plastik.361 Einige der in Negerplastik abgebildeten Skulpturen weisen die von Bofinger für die Puppen in Anschlag gebrachte konische bzw. zylindrische Form des Rumpfes auf;362 eine Plastik erinnert an ein Baby.363 Weitere Beispiele für die Übereinstimmungen der Formprinzipien von afrikanischen Puppen und den in Einsteins Negerplastik abgebildeten Plastiken wären diese: Die Puppen, die bei Sigrid Paul als »Bambara (Bamako)« klassifiziert sind, erinnern sowohl in der Arm- und Beinhaltung sowie in der angedeuteten Frisur bzw. Kopfbedeckung an Einsteins Plastiken:

360 Vgl. Bofinger (Anm. 356). S. 31–36, S. 46f, S. 60f, S. 66, S. 97. 361 Afrikanische Plastik zeigt Figuren, deren Gesichtszüge sehr stark modelliert und gerade wenig abstrakt sind, z. B. Abb. 15 (S. 111): Kopfaufsatz, Holz, Nordwestkamerun, oder Abb. 23 (S. 119): Fetischfigur der Baschilange. Außerdem sind viele komplexe Gebilde aufgeführt, die aus mehreren Bauteilen bestehen, z. B. Abb. 18 (S. 114): Pfähle der Häuptlingshütte von Bangu, Kamerun; Abb. 19 (S. 115): Türrahmen dieser Hütte; Abb. 20 (S. 116): Palaverstuhl aus Bandenkop, Kamerun (Carl Einstein: Afrikanische Plastik. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 2: 1919–1928. Hg. von Marion Schmid unter Mitarbeit von Henriette Beese und Jens Kwasny. Berlin 1981. S. 62–144.). Dies ist v. a. bemerkenswert, weil Einstein in Negerplastik auch ozeanische Plastiken als afrikanische Kunst ausgewiesen hatte, während in Afrikanische Plastik beide Richtungen dann getrennt aufgeführt sind. Vgl. Oliver Simons: Raumgeschichten. Topographien der Moderne in Philosophie, Wissenschaft und Literatur. München 2007. Hier: S. 222. 362 Vgl. Einstein: Negerplastik (Anm. 159). S. 287, S. 304, S. 305, S. 306, S. 307 und S. 313. 363 Vgl. ebd. S. 325.

264

Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

Abbildung 5364

Abbildung 6365

Abbildung 7366

Abbildung 8367

Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders setzt sich zu den afrikanischen Puppen neben der strukturell-formalen Vermittlung durch den Kubismus auch auf der Figurenebene in ein enges Verhältnis. Es ist bemerkenswert, dass es 364 365 366 367

Paul (Anm. 355). S. 185. Einstein: Negerplastik (Anm. 159). S. 344. Paul (Anm. 355). S. 185. Einstein: Negerplastik (Anm. 159). S. 269.

Afrikanische Puppen

265

[i]n ganz Schwarz-Afrika […] keine eigentliche Vokabel für »Kinderpuppe« zu geben [scheint]. Diese heißt schlechthin »das Kind« oder aber erhält dieser Ausdruck einen Zusatz, der das Material angibt, aus dem sie gefertigt ist: Das Kind aus einer Maniokwurzel, Raphiapalme, aus Mist, Knochen, Holz, Stoff, Ton […] etc. Sie heißt »das Kleine«, oder die »kleine Menschen-Figur« oder einfach das (aus Ton) »Geschaffene«.368

Wollte man eine Vokabel finden, die ›das Kind‹, ›die kleine Menschenfigur‹ und ›das Geschaffene‹ in einem Wort fassen kann, müsste sie wohl »Bebuquin« lauten. Wesentlicher aber, als dass die afrikanischen Puppen gewissermaßen ›Bebuquins‹ sind, ist der Status ihrer Hersteller_innen als Dilettant_innen des Wunders – und zwar im strengen Sinn: Bei den kultisch-rituellen Puppen sind große Qualitätsunterschiede zu beobachten. Deren Schnitzer_innen sind bzw. waren keine Künstler_innen, die ihre eigenen Ideen und Vorstellungen verwirklichten, sondern Handwerker_innen mit einer engen Bindung an die tradierten Bräuche und Stile der Gemeinschaft. Zwar gibt es qualitative Unterschiede bei den Objekten, was die künstlerische Ausgestaltung anbelangt; entscheidend ist aber, dass die Kunstfertigkeit nicht zum persönlichen Ruhm des Einzelnen betrieben, sondern komplett in den Dienst des gemeinschaftlichen Kultes gestellt wurde.369 Für die Hersteller_innen der Puppen stellte sich die Frage, ob sie ein Kunstwerk oder einen Gebrauchsgegenstand schaffen wollten, also nicht. Aus diesem Umstand leiten Brigitte und Wolfgang Bofinger die Gültigkeit des Attributs »primitiv« für die Puppen ab: Nimmt man den Begriff »primitiv« im eigentlichen Wortsinn vom lateinischen primitivus = ursprünglich, dann bekommt dieses Attribut afrikanischer Kunst wieder einen Sinn: Kunst aus erster Hand ohne akademische Vor- und Ausbildung, ohne die Überlegung l’art pour l’art, Kunstwerke, geschaffen aus dem menschlichen Drang heraus, kulturelle oder religiöse Vorstellungen Gestalt werden zu lassen.370

Hieraus wird ersichtlich, dass erstens die Herstellung der Puppen die Definition des Dilettantischen in wesentlichen Punkten erfüllt. Bemerkenswert ist darüber hinaus zweitens, dass auch hier der Konnex von Primitivem und Unausgebildetem, Dilettantismus im Sinne von Nicht-Professionalität also, hergestellt wird.

V.1.

Afrikanische Puppen in Einsteins Negerplastik

Eine (postulierte) Affinität von Primitivem und Dilettantischem kann vielfach beobachtet werden, Variationen gibt es in der Wertung. Da das Primitive eine 368 Paul (Anm. 355). S. 140. 369 Vgl. Bofinger (Anm. 356). S. 13. 370 Ebd.

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

kulturelle und ästhetische Projektion ist, die je nach Perspektive ihre Gestalt ändert und in welche mannigfache Einschreibungen einfließen,371 existieren neben der Apologie des Primitiven durch die Avantgarden auch andere Sichtweisen. In der Rezeption der Negerplastik steht z. B. Ernst Bloch für eine Position der diffamierenden Identifizierung von primitiver Kunst und Dilettantismus: »Es gibt gewiß unter allen diesen Anblicken viele unbeholfene Dinge, die primitiv und nichts als Stümperei sind.« Und er fügt hinzu: »[M]an muß sich freuen, daß hier zugleich etwas Niederes gegeben ist, das eine feste Grenze zu jenem anderen Gebiete zu ziehen erlaubt, in dem das ganz und gar Gewaltige, Unauflösbare und Unbegreifliche herrscht.«372 Die europäischen Avantgarden wollen diese feste Grenze gerade aufheben und treten im Zuge dieses Projekts in ein prekäres Verhältnis zum Kolonialismus, der de facto zum Helfershelfer wird. Für Carl Einstein gilt in diesem Zusammenhang, dass er »die afrikanische Kunst nicht als art colonial« thematisiert und den »ideologisch brisante[n] Vermittlungszusammenhang ›Kolonialismus‹ […] [in den 1910er Jahren] nicht reflektiert.«373 Außerdem kannte Einstein die afrikanischen Plastiken nicht aus Völkerkundemuseen oder von Expeditionen, sondern aus den Künstlerateliers der Fauvisten und Kubisten in Paris.374 Von dieser Prägung zeugen auch seine »Anmerkungen zur Methode« in Negerplastik, wenn er verlangt, von der Tatsache und nicht einem unterschobenen Surrogat aus[zu]gehen. Ich glaube, sicherer als alle mögliche Kenntnis ethnographischer usw. Art gilt die Tatsache: die afrikanischen Skulpturen! Man wird das Gegenständliche, respektive die Gegenstände der Umgebungsassoziationen ausschalten und diese Bildungen als Gebilde analysieren. […] Eines wird jedoch unbedingt zu befolgen, eines zu vermeiden sein: man halte sich an die Anschauung und schreite innerhalb ihrer spezifischen Gesetze fort; nirgendwo aber unterschiebe man der Anschauung oder dem aufgespürten Schöpferischen die Struktur der eigenen Überlegung: man unterlasse das Interpolieren bequemer Evolutionen […].375

371 Vgl. Blome (Anm. 345). S. 146. 372 Ernst Bloch: Negerplastik. In: Die Argonauten (1915)-7. S. 10–20. Zit. n. Rolf-Peter Baacke (Hg.): Carl Einstein. Materialien. Bd. 1: Zwischen Bebuquin und Negerplastik. Berlin 1990. S. 88–94. Hier : S. 93. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 373 Klaus H. Kiefer: Carl Einsteins Negerplastik. Kubismus und Kolonialismus-Kritik. In: Wolfgang Bader und J#nos Riesz (Hg.): Literatur und Kolonialismus I: Die Verarbeitung der kolonialen Expansion in der europäischen Literatur. Frankfurt/M. u. a. 1983. S. 233–249. Hier: S. 235. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 374 Helmut Lethen: Masken der Authentizität. Der Diskurs des »Primitivismus« in Manifesten der Avantgarde. In: Hubert van den Berg und Ralf Grüttemeier (Hg.): Manifeste: Intentionalität. Amsterdam/Atlanta 1998. S. 227–258. Hier: S. 234. 375 Einstein: Negerplastik (Anm. 159). S. 247.

Afrikanische Puppen

267

Die Orientierung an der ›Tatsache‹ dient der Etablierung eines gesetzmäßig geordneten Schauens,376 wie es Einstein sowohl für die kubistische als auch für die afrikanische Kunst reklamiert. Die Dekontextualisierung bringt die ästhetische Funktion der Plastiken erst zur Geltung, indem sie die europäische Wahrnehmung desautomatisiert.377 Mit Blick auf die Wechselbeziehungen zwischen Negerplastik und Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders ist dabei signifikant, dass die Völkerkundemuseen bei ihrer Einübung in das kulturvergleichende Sehen »an soziale Praktiken des Sehens an[knüpften], die bereits bei den äußerst beliebten Völkerschauen oder [dem Wachsfigurenkabinett] Castan’s Panoptikum ausgebildet worden waren.«378 Die Behandlung der Plastiken in Negerplastik als reine Kunstgegenstände – wenngleich mit kultischer Funktion – und nicht als ethnographisch relevante Objekte, bezeugt deren ästhetische Aufwertung. Die ästhetische Aufwertung erfolgt jedoch einseitig in der Weise, dass mögliche Qualitätsunterschiede zwischen den verschiedenen Plastiken nicht reflektiert werden. Und auch die Frage, woher solche Unterschiede rühren könnten, kommt für Einstein nicht in den Blick. Für ihn gilt: Das »Negerkunstwerk […] bedeutet nichts, es symbolisiert nichts; es ist der Gott, der seine abgeschlossen mythische Realität bewahrt«. Einsteins prägnante Formel hierfür lautet: »Formale und religiöse Geschlossenheit entsprechen sich«.379 Mit dem ›Ausschalten‹ der »Umgebungsassoziationen«380 entledigt sich Einstein sowohl der Doppelfunktion der Plastiken, neben Göttern bzw. Göttinnen auch profanes Spielzeug sein zu können, als auch der Frage nach ihrer ästhetischen Qualität.381 Tatsächlich wird großen Teilen der Stammeskunst von der westlichen kunsthistorischen Forschung nur eine geringe Qualität zugestanden. Diese lässt sich allerdings nicht ausschließlich mit dem Dilettantismus der Hersteller_innen erklären. »Wichtiger noch ist vielleicht 376 Einstein: Totalität (Anm. 341). S. 223. 377 Vgl. Kiefer: Diskurswandel (Anm. 170). S. 179f: »In der zwei- bzw. dreidimensionalen Reproduktion/Exposition stoßen zwei grundverschiedene Raumauffassungen aufeinander. Die Dekontextualisierung ist nicht qualitätslos, sondern die Verpflanzung der fremdartigen Objekte in europäische Rahmenbedingungen und Dimensionen, in stabilisierte Renaissance-Räume schafft erst ihre ästhetische Funktion bzw. prägt sie um. Das eingeschliffene Koordinatensystem setzt sich mit dem Fremdraum auseinander. Die europäische Wahrnehmung wird desautomatisiert.« 378 Laukötter (Anm. 386). S. 224. 379 Einstein: Negerplastik (Anm. 159). S. 253. Beide Zitate sind auf dieser Seite zu finden. 380 Wie Anm. 375. 381 Zugleich wird Einstein dadurch aber zum Diskursbegründer, der die Gattung ›Negerplastik‹ erst inauguriert: »Der in Frage stehende Diskurs war […] nicht von Anfang an ein kunsttheoretischer ; er war überhaupt ein außerästhetischer, aufgesplittert in die verschiedensten Textsorten und Ressorts: Kolonialakten, rassenphysiologische Spekulationen, abenteuerliche Berichte, afrikanische Märchen usw.« Kiefer: Diskurswandel (Anm. 170). S. 176.

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

die Tatsache, daß der Verlust bei der Stammeskunst nicht nur viel größer war als bei westlicher Kunst, sondern daß auch ihr Transport in den Westen und ihre Erhaltung vielfach dem Zufall überlassen blieben.«382 Die Gründe für Erhaltung und Konservierung der Plastiken in den Stämmen seien religiöser und/oder gesellschaftlicher Art, ästhetische Kriterien spielten keine Rolle. Zudem wird in Teilen der Forschung die These vertreten, dass es sich bei den Plastiken, die nach Europa importiert worden sind, um Ersatzstücke handelt, die die Europäer in aller Eile kopiert hätten, damit die Einheimischen ihr sakrales Objekt nicht aufgeben mussten. Berücksichtigt werden müsse außerdem die Tatsache, dass nur eine »negative Auswahl« möglich war, da viele wichtige ältere Stücke von den frühen Missionaren als Götzenbilder zerstört worden waren.383 Während anfänglich Meisterwerke von Seeleuten und Missionaren als Kuriositäten mitgebracht worden waren, blieb »die Auslese von Stammeskunst, wie sie der Westen bewahrte, nach qualitativen Maßstäben rein zufällig.«384

V.2.

Afrikanische Puppen in der modernen, europäischen Großstadt(literatur Bebuquin)

Mit der Einstufung von afrikanischen Plastiken als ›Kuriositäten‹ ist eine Fährte gelegt, die nun im Weiteren verfolgt werden soll, nämlich die Frage nach den Formen der Präsentation und Popularisierung afrikanischer Kunst im europäischen Westen. Anfangs in den ›cabinets de curiosit8s‹ versammelt, wurden Masken und figürliche Plastiken im späteren 19. Jahrhundert zunehmend in Völkerkundemuseen verwahrt.385 Dabei sind die Bestände der Kuriositätenkabinette nicht selten in diejenigen der Völkerkundemuseen überführt worden.386 Das Werk Carl Einsteins reflektiert diese Entwicklung. Die Tatsache, dass Einstein seiner 1921 erschienenen Schrift Afrikanische Plastik die ethnographischen Informationen hinzufügte, die er in Negerplastik von 1915 noch ›ausgeschaltet‹ hatte, ist bekannt. Afrikanische Plastik wird zum Ort einer kritischen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Mode des Exotismus, den Einstein als »unproduktive Romantik« und »geographische[n] Alexandrism«387 bezeichnet und als Ausprägung eines modernen Dilettantismus ausweist: 382 383 384 385 386

Rubin (Anm. 344). S. 32. Vgl. ebd. Ebd. S. 33. Vgl. ebd. S. 14. Vgl. Anja Laukötter: Das Völkerkundemuseum. In: Alexa Geisthövel und Habbo Knoch (Hg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M./ New York 2005. S. 218–227. Hier : S. 219. 387 Einstein: Afrikanische Plastik (Anm. 361). S. 62.

Afrikanische Puppen

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Hilflos negert der Unoriginelle. Jedoch wird der Wert afrikanischer Kunst durch Unfähigkeit belangloser Leute nicht gemindert. Ich betrachte afrikanische Kunst kaum unter dem Aspekt des heutigen Kunstbetriebes; nicht um Anregung erlauernden Unproduktiven einen Dreh (neuen Formenschatz) zu starten, vielmehr aus dem Wunsch, daß kunstgeschichtliches Untersuchen afrikanischer Plastik und Malerei beginne.388

Klaus H. Kiefer hat in Einsteins Afrika-Rezeption »vier oder fünf deutlich unterscheidbare[…] Phasen« ausgemacht, deren erste »im Zeichen der Ästhetisierung der afrikanischen Kunst, d. h. ihrer Qualifizierung zur Kunst überhaupt« stehe. Die anderen im zeitlichen Abstand von fünf bis sieben Jahren aufeinander folgenden Etappen seien: »Ethnologisierung/Politisierung, Integration fremdkultureller Denkformen (Ethnologie des Weißen), Kritik der ›Neoprimitive‹ (gemeint: des Faschismus).«389 Hier soll argumentiert werden, dass auch in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders eine Auseinandersetzung mit Präsentationsformen von Kunst stattfindet, die den Primitivismusdiskurs um ein zentrales Moment anreichert, nämlich um die Verschaltung von Museum und Schaufenster, von Völkerkunde und Werbe- bzw. Modephänomenen.390 Dirk Heißerer hat darauf hingewiesen, dass im pejorativen Begriff vom »Museum zur billigen Erstarrnis«391 und der dortigen Wachspuppe eine Absage an das Museum als griechischem Ort der Musen (museion) angedeutet ist.392 Nach einer bewegten Geschichte von der Antike über die Renaissance war das Museum besonders im 19. Jahrhundert zu einem Bildungsmittel ersten Ranges geworden. Im Kontext von Einsteins Angriff auf den klassischen Bildungskanon verweist sein ›Museum‹ mit der unkünstlerischen Puppe zudem zurück auf die feudalen Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance.393 In ihnen fanden 388 Ebd. 389 Kiefer : Diskurswandel (Anm. 170). S. 137. Alle Zitate seit Anm. 388 sind auf dieser Seite zu finden. 390 Analog dazu sind Parallelen zwischen Kaufhaus und Museum hinsichtlich der Architektur auszumachen: Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts entstanden »– zwar […] räumlich getrennt voneinander, aber stilistisch sehr ähnlich – die neuen Nationalmuseen und die ersten Kaufhäuser in den europäischen Metropolen.« Gajek (Anm. 325). S. 17. 391 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 73. 392 Vgl. dazu im Folgenden Heißerer (Anm. 3). S. 132. Vgl. weiterführend Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 2000. 393 In museale Bildungszusammenhänge eingebettet blieben Wachsmodelle z. B. im Bereich der Anatomie. Vgl. Anna Wieczorkiewicz: Wachsmodelle. Modelle des Wissens, Modelle der Erfahrung. In: Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig (Hg.): Spuren der Avantgarde: Theatrum anatomicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich. Berlin/New York 2011. S. 266–284. Für ein Anschauungsbeispiel aus dem 19. Jahrhundert vgl. Gudrun Gersman: Welt in Wachs. Das Pariser Mus8e Gr8vin. Ein Wachsfigurenkabinett des späten 19. Jahrhunderts. In: Jürgen Fohrmann, Andrea Schütte und Wilhelm Voßkamp

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

sich – im Gegensatz zu den Museen – Sammlungen von historischen, kunstgewerblichen und naturwissenschaftlichen Kuriositäten, für deren Erwerb nicht immer in erster Linie der Kunstwert, sondern ebenso sehr ihre Seltenheit oder ihre Beziehung auf ein denkwürdiges Ereignis maßgeblich waren. In der Degradierung der (Heiligen394) Euphemia zur starren Wachspuppe einer Kunstoder Wunderkammer und zu einer Jahrmarkts- oder Variet8attraktion kommt Einsteins Abwertung des traditionellen abendländischen Schönheitskanons zum Ausdruck. Dass Einstein mit dem »Museum zur billigen Erstarrnis« ein Kuriositätenkabinett als zentralen Handlungsort des Textes wählt, kann man mit Dirk Heißerer als Bruch mit der ästhetischen Tradition deuten. Neben dem Jahrmarkt, dem Zirkus und der Bar ist aber auch das »Museum zur billigen Erstarrnis« ein Ort, der mit Michel Foucault als Heterotopie klassifiziert werden kann.395 Das Spezifikum der Heterotopien in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders besteht darin, dass sie Kunstformen beherbergen, die das Andere der bürgerlichen Kunst darstellen.396 Jahrmarkt, Zirkus, Bar und alternative Museumsformen wie das Kuriositätenkabinett werden im Zug der Hinwendung der Avantgarden zum Primitiven als Orte erkannt und nobilitiert, an welchen das Primitive in moderner, europäischer Gestalt in Erscheinung tritt.397 Diese Denkfigur wird ermöglicht durch ein Verständnis vom Primitivismus, das »nicht auf Nachahmung von Objektqualitäten, sondern auf der Aneignung einer

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397

(Hg.): Medien der Präsenz: Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Köln 2001. S. 129–142. Vgl. die Bedeutung von griech. euphemos = heilig, geweiht und glückverheißend, günstig. Zu Raumkonzeptionen im Frühwerk Carl Einsteins vgl. meinen Aufsatz: Anderer Raum und moderne Erkenntnis bei Carl Einstein. In: Alan Corkhill und Tim Mehigan (Hg.): Raumlektüren. Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne. Bielefeld 2013. S. 189–210. Den Zirkus stuft auch Sylke Kirschnick als Heterotopie ein. Vgl. Kirschnick (Anm. 57). S. 182. Vgl. dazu auch Burkhard Meyer-Sickendiek: Primitivismus. Literarische ›Anti-Kunst‹ im Spannungsfeld von Provokation und Diskriminierung. In: Nicola Gess (Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin/Boston 2013. S. 315–333. Burkhard Meyer-Sickendiek ist ebenfalls der Ansicht, dass die Programmatik der »›Nicht mehr schönen Künste‹« (ebd. S. 318) im frühen 20. Jahrhundert, wie z. B. des Kubismus, des Dadaismus oder des Expressionismus, in hohem Maße an Konzepten von Primitivität orientiert ist (vgl. ebd.), und dass der radikale Bruch mit der (ästhetischen) Tradition als Charakteristikum des Primitivismus ausgemacht werden kann. Vgl. ebd. S. 317. Möglich wird die Übertragbarkeit des Primitiven in den Kontext der modernen europäischen Großstadt im Rückgriff auf das Primitivismuskonzept Johannes Fabians, dessen These von der »Allochronie« oder »Anderszeitigkeit« des Primitiven dazu führte, das Primitive bzw. den/die Primitive(n) nicht als Objekt, sondern als Kategorie zu begreifen (vgl. Erhard Schüttpelz: Zur Definition des literarischen Primitivismus. In: Nicola Gess (Hg.): Literarischer Primitivismus. Berlin/Boston 2013. S. 13–27. Hier : S. 18.). »Primitive, being essentially a temporal concept, is a category, not an object of Western thought.« (Johannes Fabian: Time and the Other. How Anthropology Makes its Object. New York 1983. S. 18.) Erhard Schüttpelz spricht sich dafür aus, diesen Ansatz in der aktuellen Forschung zum Primitivismus fruchtbar zu machen. Vgl. Schüttpelz: Zur Definition. S. 24.

Afrikanische Puppen

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vermeintlich ›primitiven‹ Weltwahrnehmung und -anschauung basiert[…].«398 Darüber hinaus kann die Favorisierung des Kuriositätenkabinetts gegenüber dem klassischen Museum als Stellungnahme zu den verschiedenen Popularisierungsstrategien von Kunst im Allgemeinen und von afrikanischer Kunst im Speziellen verstanden werden. Denn auch bei der Präsentation afrikanischer Plastiken konkurrieren, wie gesehen, Kuriositätenkabinett und Museum miteinander. Die in zeitlicher Nähe zu Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders verfasste Schrift über die Negerplastik versteht die Plastiken als »selbständig, transzendent und unverwoben«399, sprich: als absolute Kunstwerke. Darin korrespondieren sie Einsteins 1910 formuliertem poetologischen Konzept »eines in sich vollendeten Organismus«400. Damit setzt sich Einstein in ein spannungsreiches Verhältnis zu den deutschen anthropologischen Museen des 19. Jahrhunderts. Diese sind anti-textuell gewesen: »In contrast to their British and American counterparts, late-nineteenth-century German anthropological museum rigorously excluded textual supplements such as explanatory labels or guidebooks.«401 In diesem Punkt stimmt Einstein zur Zeit der Negerplastik noch mit der Ethnologie bzw. Anthropologie des 19. Jahrhunderts überein. Der Grund für deren anti-textuelle Präsentationsweise ist jedoch nicht wie bei Einstein »a fetishistic commitment to the value of single things in isolation from one another« gewesen. Das Gegenteil war der Fall: »[T]he museum arrangements favoured by German anthropologists were intended to promote a syncretic practice of vision that ›forced the eye to leap from thing to thing,‹ inhibiting undue focus on ›any single artefact‹ as ›all were forcibly combined into a totality.‹«402 Die Totalität, welche die deutschen anthropologischen Museen des 19. Jahrhunderts herstellen wollten, war also eine kompilative, die den einzelnen Gegenstand nicht als autonomen Fetisch, sondern als Integral einer übergeordneten Sammlung begreift. Einsteins Verständnis von Totalität beschreibt genau das Gegenstück zu diesem Gedanken, denn es ist nicht auf der Ebene der Sammlung angesiedelt, sondern bezieht sich auf den einzelnen Gegenstand: »Die Totalität ermöglicht die konkrete Anschauung, und durch sie wird jeder 398 Gess: Literarischer Primitivismus (Anm. 7). S. 3. Nicola Gess bezieht sich hier auf Colin Rhodes, der 1994 feststellt: »[T]here is a large body of Primitivist art, particularly among Dadaists and Surrealists, which bears no direct relationship to primitive art – its Primitivism lies in the artists’ interest in the primitive mind and it is usually marked by attempts to gain access to what are considered to be more fundamental modes of thinking and seeing.« Colin Rhodes: Primitivism and modern art. London 1994. S. 7. 399 Einstein: Negerplastik (Anm. 159). S. 252. 400 Einstein: Vathek (Anm. 22). S. 30. 401 Tony Bennett: Metropolis, Colony, Primitive. Evolution and the Politics of Vision. In: Kristin Kopp und Klaus Müller-Richter (Hg.): Die »Großstadt« und das »Primitive«. Text – Politik – Repräsentation. Stuttgart/Weimar 2004. S. 69–92. Hier: S. 80. 402 Ebd. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.

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konkrete Gegenstand transzendent.«403 Diese Bestimmung entspricht der eines absoluten Kunstwerks. Während der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts ist das Werk Einsteins von der Favorisierung des Kuriositätenkabinetts gegenüber dem Museum, von der Präsentation afrikanischer Kunst jenseits allen ethnologischen Interesses sowie vom Gedanken des absoluten, referenzlosen Kunstwerks geprägt.404 Seine Schrift Afrikanische Plastik von 1921 markiert einen Bruch mit dem zweiten Punkt, der Text über Das Berliner Völkerkundemuseum von 1926 revidiert den dritten: Ein Kunstgegenstand oder Gerät, die in ein Museum gelangen, werden ihren Lebensbedingungen enthoben, ihres biologischen Milieus beraubt und somit dem ihnen gemäßen Wirken. Der Eintritt ins Museum bestätigt den natürlichen Tod des Kunstwerks, es vollzieht den Eintritt in eine schattenhafte, sehr begrenzte, sagen wir ästhetische Unsterblichkeit. Ein Altarbild, ein Porträt werden zu bestimmtem Zweck, für eine bestimmte Umgebung verfertigt; gerade ohne letztere ist die Arbeit nur ein totes, dem Boden entrissenes Fragment;405

Einstein bezeichnet das, was für ihn zwölf Jahre zuvor der Inbegriff von Totalität gewesen ist, nun als ›Fragment‹ und plädiert für eine Einordnung der Gegenstände in ihre ursprünglichen Bestimmungszusammenhänge. Wolfgang Struck hat dargelegt, dass Einstein mit dieser Wende eine kolonialismuskritische Position einnimmt. Im Text zum Berliner Völkerkundemuseum mache Einstein deutlich, dass die Berliner Ausstellung ihren Ursprung im europäischen Imperialismus selbst dokumentiere. Das Museum verdopple den imperialen Herrschaftsanspruch, indem es sich die ausgestellten Objekte unterwirft.406 Neben 403 Carl Einstein: Totalität (Anm. 341). S. 227. 404 Wolfgang Struck erklärt dies folgendermaßen: Die europäische Avantgarde könne »an der mythischen Energie der Werke, mit der sie eine sterbende Tradition neu beleben möchte, nur partizipieren, indem sie diese ursprünglichen ›Umgebungsassoziationen‹ ebenso neutralisiert wie die neuen des Völkerkunde-Museums, indem sie also die Werke aus dem doppelten Dunkel – dem des afrikanischen und dem des völkerkundlichen Urwalds – in das Licht der Photoateliers und der Kunstmuseen zerrt.« Wolfgang Struck: Allegorische Musealisierung: Carl Einsteins afrikanische Mythologie. In: Eva Horn und Manfred Weinberg (Hg.): Allegorie. Konfigurationen von Text, Bild und Lektüre. Opladen/Wiesbaden 1998. S. 261–273. Hier: S. 266. 405 Carl Einstein: Das Berliner Völkerkundemuseum. Anläßlich der Neuordnung. In: Carl Einstein. Werke. Bd. 2: 1919–1928. Hg. von Marion Schmid unter Mitarbeit von Henriette Beese und Jens Kwasny. Berlin 1981. S. 324–328. Hier: S. 324. Einstein geht sogar noch weiter und fordert eine »lebendige Bindung zwischen Museum und Forschungsinstitut«: »Hier in dieser vergleichenden Sammlung vor allem müßten Vorlesungen und Führungen veranstaltet werden; wie die gesamte Schaustellung durch Lehrer verlebendigt werden muß. Hier ist der Punkt wo die lebendige Bindung zwischen Museum und Forschungsinstitut einzusetzen hat, soll das Museum nicht durch das Falschpopuläre nur Schau und nicht Lehre gewähren. Gerade der laienhafte Besucher bedarf dessen.« Ebd. S. 326. 406 Vgl. Wolfgang Struck: Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik. Göttingen 2010. S. 166.

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dieser sehr wichtigen Deutung soll hier eine Lesart verfolgt werden, die Einsteins Wandel im Hinblick auf die Ausstellung afrikanischer Kunst mit seinem literarischen Text Bebuquin verbindet. Ich strebe an, im Puppen- und Schaufensterdiskurs in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders Elemente auszumachen, die mit afrikanischen Plastiken und den Formen ihrer Inszenierung verbindbar sind und als Scharniere zur wechselseitigen Reflexion von Puppen- und Plastikenpräsentation verstanden werden können. Helmut Lethen kommentiert Einsteins Afrikanische Plastik mit den Worten: »Darum, so die Schlußfolgerung aus dem Jahre 1921, dürfen die Kultobjekte nicht von der wissenschaftlichen Forschung abgetrennt werden, die den kultischen Handlungsraum rekonstruieren müssen, damit die Fetische nicht zu funkelnden Objekten im Boutiquenlicht des modernen Völkerkundemuseums werden.«407 Die hier angedeutete Überlagerung von Museum und Schaufenster ist tatsächlich als Signatur ethnologischer Ausstellungen um 1900 bezeugt: Die Präsentation von ländlichen Trachten erfolgte am ›Körper‹ von Mannequins und fand hinter Plexiglas statt. Dieses ist seinerseits eine Erfindung des 19. Jahrhunderts und hat den Trachten dieselbe visuelle Verfügbarkeit (in Richtung der Straße) verliehen wie sie die neueste Mode aus Paris besaß.408 Wenn ländliche Trachten in der Großstadt ausgestellt werden, analog zum Primitiven der europäischen Moderne – mit dem Jahrmarkt, dem Zirkus409 und der Bar als seinen Herbergen – also von der Peripherie ins Zentrum gerückt werden, folgt dies innerkulturell derselben Struktur wie die Vereinnahmung afrikanischer Kunst durch (deutsche) großstädtische Museen. Von besonderer Relevanz ist dabei die im 19. Jahrhundert zunehmende Überblendung des Stadtraums mit einer Topographie, die sich aus dem imaginierten imperialistischen Macht-, Kultur- und Moralgefälle zwischen dem kolonisierenden Zentrum und der kolonisierten Peripherie herschreibt.410 Die imaginierte koloniale Topographie von Zentrum und Peripherie wird dann durch performative Repräsentationsakte in Form von Umzügen, Völkerschauen, Weltausstellungen, Museen usw. auf den Stadtraum 407 Lethen (Anm. 374). S. 241. 408 Vgl. Mark B. Sandberg: The Metropolitan Threshold. Material Mobility and the Folk-Primitive. In: Kristin Kopp und Klaus Müller-Richter (Hg.): Die »Großstadt« und das »Primitive«. Text – Politik – Repräsentation. Stuttgart/Weimar 2004. S. 93–112. Hier: S. 100f. 409 Tatsächlich lässt sich am Zirkus dasselbe beobachten: Der moderne Zirkus ist ein Großstadtphänomen, welches im 19. Jahrhundert von den Vorstädten allmählich zunächst an den Rand und schließlich ins Zentrum der Metropolen wanderte (vgl. Kirschnick [Anm. 57]. S. 175). »Zirkusbauten und -zelte, Plakate, Ankunft, Abreise und Werbeumzüge mit Elefanten, Zebras und Affen gehören seit dem 19. Jahrhundert zum Alltag europäischer Großstädte.« Die Plakate und Werbeumzüge machen deutlich, dass auch der Zirkus enge Verbindungen zum Werbediskurs aufweist. 410 Vgl. Klaus Müller-Richter : »Kulturhistorische Beute«. Das Primitive im Feuilleton (1800– 1900). In: ders. und Kristin Kopp (Hg.): Die »Großstadt« und das »Primitive«. Text – Politik – Repräsentation. Stuttgart/Weimar 2004. S. 115–134. Hier : S. 127f.

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übertragen.411 Da die Imaginationsfigur des Primitiven im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Reflexion der Metropole bzw. der Großstadt vollständig besetzt hatte,412 ist das Primitive zu einem »diskursive[n] Wert- und topographische[n] Ordnungsbegriff in den verschiedensten Formen der Stadtbeschreibung«413 avanciert. Als Ordnungsbegriff ist »primitiv« u. a. verwendet worden als urbanes Spektakel in den ethnographischen Museen, Weltausstellungen, »Völkerschauen«, Freilicht-Museen und Kinos; als Kategorie der Selbstbeschreibung noch in den Biographien marginalisierter Bevölkerungsschichten; und schließlich als poetologische Projektionsfläche der historischen Avantgarden für die ästhetische Selbstverständigung zu Beginn des 20. Jahrhunderts.414

Die Entstehung beispielsweise der Völkerkundemuseen lässt sich dabei nicht nur auf den Kolonialismus zurückführen, sondern wird heute als Reaktion auf »ein spezifisches Bedürfnis, das sich durch die Herausforderungen der ›Moderne‹ ergab«415, erklärt. In einer Art Globalisierungsschub ist die fremde Welt näher gerückt: Auf Welt- und Kolonialausstellungen waren Menschen aus fernen Ländern zu sehen, im Berliner Wachsfigurenkabinett ›Castan’s Panoptikum‹ wurden ab 1873 neben Embryonen und Missbildungen auch ›Wilde‹ ausgestellt, die später in Hagenbecks Völkerschauen innerhalb von Zoos ihre Lebensweise nachspielen sollten.416 Wenn in einem Wachsfigurenkabinett (!) Embryonen, Missbildungen und ›Wilde‹ gemeinsam exponiert werden, handelt es sich um eine Ausprägung des Primitivismus, die das Primitive nicht als Eigenschaft von Objekten, sondern als Konzept versteht, das durch Symmetrisierung und Anthropologisierung auf verschiedene Phänomene bezogen werden kann.417 Diese Bestimmung des Primitiven macht deutlich, dass Einsteins Afrika-Rezeption und Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders über den Parameter Primitivismus aufeinander bezogen werden können. Denn die Imaginationsfigur des Primitiven konkretisiert sich in Gestalt von kolonisierten Subjekten und Objekten fremder Länder sowie in Gestalt von Mitgliedern marginalisierter Gruppen der eigenen Gesellschaft.418 Die marginalisierten Gruppen, die in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders das Personal stellen, sind Schau411 Vgl. Kristin Kopp und Klaus Müller-Richter : Einleitung. Die »Großstadt« und das »Primitive«. Text – Politik – Repräsentation. In: dies. (Hg.): Die »Großstadt« und das »Primitive«. Text – Politik – Repräsentation. Stuttgart/Weimar 2004. S. 5–28. Hier: S. 11. 412 Vgl. ebd. S. 5. 413 Ebd. 414 Ebd. S. 5f. 415 Laukötter (Anm. 386). S. 221. 416 Vgl. ebd. S. 221f. 417 Vgl. dazu ausführlich Schüttpelz: Zur Definition (Anm. 397). S. 18–20. 418 Vgl. Kopp und Müller-Richter (Anm. 411). S. 12.

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spieler_innen, Hetären und Trinker_innen sowie die zwischen Artistin, Gommeuse und Wachspuppe changierende Euphemia. In ihnen ist das Konzept des Primitiven unter den Bedingungen der modernen europäischen Großstadt verkörpert. Der Umgang mit diesen Figuren ist entsprechend als Umgang mit dem Primitiven lesbar. Die Präsenz der/des Marginalisierten ist zum einen als Nobilitierung der Unterhaltungskünste – die Ausdruck eines modernen, europäischen Primitiven sind – zu deuten. Der Fokus auf marginalisierte Gesellschaftsgruppen kann überdies als Variante einer innerkulturellen Ethnographie verstanden werden.419 Die Literatur schließt hier eine Lücke, die in den Völkerkundemuseen, welche grundsätzlich keine Abteilung ›Europa‹ vorsahen,420 klaffte. Vor dem Hintergrund der Ausgangsthese dieser Arbeit, dass Artistik und Primitivismus die zentralen Erscheinungsweisen des Dilettantismus um 1900 sind, erweist sich Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders als ein Text, der die inneren Zusammenhänge dieser Konstellation bereits reflektiert. Denn er setzt sich nicht mit Artistik und/oder Primitivem, sondern mit Artistik als Primitivem auseinander. Und nicht zuletzt trägt Bebuquin durch seine Reflexion und literarische Ergänzung der zeitgenössischen musealen Praktiken zu einer Erweiterung des ethnologischen Wissens im Sinne einer Wissenspoesie bei. Bevor ich auf den Poesie-Aspekt von Einsteins Wissenspoesie im engeren Sinne eingehe, möchte ich die Ergebnisse dieses Kapitels kurz zusammenfassen: 419 Bei einem Verständnis der Unterhaltungskünste als Ausdruck eines modernen, europäischen Primitiven und als Variante innerkultureller Ethnographie dürfen natürlich entsprechende Vereinnahmungen bzw. Stereotypisierungen Afrikas und eines (imaginierten) Afrikanischen nicht unberücksichtigt bleiben. Unter dem Aspekt Variet8 ist v. a. die Revue NHgre in Paris mit Josephine Baker zu nennen. Den aus Amerika kommenden Tänzer_innen und Musiker_innen der Revuen wurden stereotype Eigenschaften des vermeintlich Primitiven zugeschrieben wie: Vitalität, Rhythmus, Sinnlichkeit, Erotik, Natürlichkeit, Ursprünglichkeit und Erdverbundenheit (vgl. Manuel Maldonado Al8man: Die Konstruktion des Anderen. Carl Einstein und der Primitivismus-Diskurs der europäischen Avantgarden. In: Nicola Creighton und Andreas Kramer (Hg.): Carl Einstein und die europäische Avantgarde. / Carl Einstein and the European Avant-Garde. Berlin/Boston 2012. S. 170–185. Hier : S. 174f.). Klaus H. Kiefer hat Josephine Baker als »die konsequenteste Entfaltung des Primitivismus hin zur Kulturindustrie« bezeichnet und »das populäre Fortleben der afrikanischen Kunst in der Musik Hall« als die kulturindustrielle Aneignung des Primitivismus ausgemacht (Klaus H. Kiefer: Primitivismus und Modernismus im Werk Carl Einsteins und in den europäischen Avantgarden. In: Nicola Creighton und Andreas Kramer (Hg.): Carl Einstein und die europäische Avantgarde. / Carl Einstein and the European Avant-Garde. Berlin/Boston 2012. S. 186–209. Hier: S. 200 und S. 203.). Auch die Revue NHgre stellt also eine Ausprägung der Überlagerung von Modernität und Primitivismus in der europäischen Großstadt dar. 420 Vgl. Laukötter (Anm. 386). S. 220. Sich mit einheimischer Folklore zu beschäftigen, war den Volkskundemuseen vorbehalten. Im Völkerkundemuseum in Berlin, welches ja auch Einstein gut kannte, wurde das Ignorieren Europas mit seinem zentralen Forschungsgegenstand begründet: ›Primitive‹ fänden sich nur außerhalb Europas. Vgl. ebd.

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

Mit der Hinwendung zu den zirzensischen Künsten widmet sich Einstein in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders einer Kunstform, die in ihrer Selbstreferentialität bzw. A-Mimetik seine Forderung nach einem absoluten Kunstwerk einlöst. Zeitgleich beschreibt Einstein in Negerplastik absolute Gebilde, die wie Euphemias Artistik in sakrale Zusammenhänge eingebunden sind und ihre Wirkung durch die Erzeugung von Präsenzeffekten entfalten. Beide, Artistik und primitive Kunst gelten traditionell als ›niedere‹ Kunstformen, als dilettantisch. Beide werden von Einstein zu Modellen für die europäischen Kunst erhoben: die Artistik zur Antwort auf die Sprachkrise der Moderne, die primitive Kunst zur Antwort auf Raumprobleme der bildenden Kunst in der Moderne. Für das Verhältnis des primitiven Personals in Bebuquin zum Gesamtwerk Einsteins bedeutet dies, dass Euphemia in ihrer Erscheinung als Artistin Einsteins poetologische und ästhetische Theoreme verkörpert. Die artistische Ästhetik des Textes beglaubigt dies noch zusätzlich auf der formal-stilistischen Ebene. Aber Euphemia erscheint nicht nur als Artistin. Sie figuriert auch als Gommeuse und als Puppe, d. h. sie bildet das Scharnier zwischen der Zirkus- und der Mode- bzw. Werbewelt. Ihr Ort ist das »Museum zur billigen Erstarrnis«, das seinem Namen widersprechend eher ein Kuriositätenkabinett als ein Museum ist. An Euphemia nimmt der Text eine Überblendung von Museum/Kuriositätenkabinett und Schaufenster vor und verschaltet Völkerkunde und Werbephänomene miteinander. Werbeträger sind im Gegensatz zur Artistik nicht selbstreferentiell, sondern verweisen stets auf das von ihnen Beworbene. Die Schaufensterpuppe Euphemia bildet vermittelt über das kubistische Formprinzip das moderne europäische Gegenstück zu den afrikanischen Plastiken. So wird sie erstens zur Reflexionsfigur der Völkerschauen und der musealen Anthropologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Überlagerung von verweisendem Werbeträger und Ausstellungsgegenstand präfiguriert zweitens die Entwicklung in Einsteins Denken über die afrikanischen Plastiken: Der Einschaltung der Reklame in das literarische Kunstwerk Bebuquin wird Jahre später die Einschaltung der ›Umgebungsassoziationen‹ (gemeint sind ethnographische Informationen) in die Präsentation afrikanischer Kunst in Afrikanische Plastik folgen. Dadurch können der wundersame Dilettantismus der Hersteller_innen und die Doppelfunktion der afrikanischen Plastiken als Kultund Spielobjekt in den Blick kommen, genauso wie eine Dekade zuvor die Dilettant_innen des Wunders der Puppe Euphemia sowohl mit Verehrung als auch mit Misshandlung begegnet waren.

Literarischer Primitivismus?

VI.

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Literarischer Primitivismus?

Wenn die Figuren um Bebuquin, allen voran Euphemia, Literarisierungen der Imaginationsfigur des Primitiven sind, stellt sich die Frage, ob Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders ein Dokument des literarischen Primitivismus ist. Diese Frage wird umso zentraler, wenn man sich die Unmöglichkeit eines spezifisch literarischen Primitivismus im engen Sinne vergegenwärtigt. Im Gegensatz zum modernen Primitivismus in den bildenden Künsten, der sich an der Oberfläche, an Stilmerkmalen etc. der afrikanischen Plastiken orientieren kann, gibt es für einen literarischen Primitivismus kein vergleichbares Vorbild. Aufgrund der Schriftlosigkeit vieler primitiver Kulturen und deren oraler Tradition steht ein literarischer Primitivismus immer vor dem Problem der Sprachfremdheit.421 Eine verbale Transposition gehörter oder gesehener Texte ist nicht unmittelbar möglich, sie ist »notgedrungen eine Sache der linguistischen Spezialisten«422 geblieben. Und selbst wenn schriftliche Dokumente vorlagen, haben allein die orthographischen und phonetischen Hürden eine allgemeine Zugänglichkeit zur fremdsprachigen Literatur verhindert.423 »Kurz: Der künstlerische Primitivismus konnte auf ein visuelles Lernen rekurrieren und ein scheinhaftes, aber ständig ästhetisierbares fremdvisuelles Lernen in Gang setzen. Der literarische Primitivismus […] konnte nichts dergleichen.«424 Seiner Erörterung, dass im literarischen Primitivismus sich das Lernen nur in anderer Weise abspielen könne, etwa auf der Grundlage von »amputierten«425 Hilfsübersetzungen und Sekundärliteratur, lässt Erhard Schüttpelz den Verweis auf eine Anthologie Carl Einsteins folgen: »[A]ls ein Pendant zu den Montagen eines künstlerischen Primitivismus« bezeichnet Schüttpelz die Anthologien von einzelnen modernen Schriftstellern […], die anhand von Hilfsübersetzungen zu neuen Literarisierungen gelangten (die dann wiederum aufgrund ihres literarischen Stils ohne jede Autopsie der Originale übersetzt werden konnten): insb. Carl Einstein: Afrikanische Legenden; Blaise Cendars: Anthologie NHgre.426

Mit den Afrikanische[n] Legenden hat Carl Einstein zumindest ein literarisches ›Pendant‹ zum Primitivismus in der bildenden Kunst geschaffen. Wenn er sich dabei jedoch auf Hilfsübersetzungen stützen musste, können die Afrikanische[n] Legenden keinen Anspruch auf Totalität erheben. Im poetologischen 421 Vgl. Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870–1960). München 2005. S. 359f. 422 Ebd. S. 361. 423 Vgl. ebd. 424 Ebd. 425 Ebd. S. 362. 426 Ebd. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

Programm des mittleren Einstein ist das unproblematisch; für den frühen Einstein, um den es hier ja in erster Linie geht, stellt sich nach wie vor die Frage nach der Möglichkeit eines literarischen Primitivismus, der mit dem Konzept einer absoluten Prosa verträglich ist. Als Strategien der Avantgarden, das Dilemma der Unmöglichkeit eines literarischen Primitivismus zu umschiffen, hat Eva Blome folgende benannt: Neben den literarischen Ansätzen des Dadaismus, die versuchen, den Klang oraler künstlerischer Erzeugnisse aus Afrika oder Ozeanien nachzuahmen […] oder die sich um die Übersetzung und Verschriftlichung von Gesängen und Erzählungen der schriftlosen Kulturen bemühen, fällt zunächst ein weiterer Weg auf, den die literarischen Primitivisten beschreiten: Sie betreiben eine »Inkorporation« der »primitiven« bildenden Künste auf der semantischen Ebene ihrer Texte – Plastik, Malerei, Musik und Tanz in primitivistischer Manier werden zum Inhalt ihrer Schriften und Teil der Handlung ihrer Erzählungen.427

Carl Einstein verfolgt eine andere Strategie: Er macht nicht Plastik, Malerei, Musik und Tanz im Sinne afrikanischer bzw. ozeanischer Kunst zum Inhalt seines literarischen Textes, sondern deren moderne europäische Transformationen: die Schaufensterpuppe mit ihrem geschminkten Gesicht, die Gommeuse und die Artistin. Die Transformation erfolgt dabei nicht willkürlich, sondern nach dem Prinzip der kubistischen Kunst. William Rubin hat eine semiotische Einordnung der Stammeskunst vorgenommen, welche von deren Tendenz zur Frontalität und Symmetrie ausgeht und zu dem Ergebnis kommt, dass alle Stammeskunst eher »ikonenhaft[…]« als »erzählend[…]« sei. Trotzdem macht er zwischen afrikanischer und ozeanischer Kunst einen Unterschied: Dennoch scheint mit [sic] das Gros ozeanischer Plastik und die gesamte Skulptur der Nordwestküste Amerikas (die bei den Surrealisten in besonderer Gunst stand) eine offensichtlichere, wenn auch symbolische Beziehung zur erzählerischen Formulierung zu haben als afrikanische Kunst. Insofern können wir verstehen, warum es die Schöpfer des Kubismus, der eine »ikonenhafte« Kunst ist, nach Afrika zog, wohingegen der Surrealismus, der eine in symbolhafter Weise »erzählende« Kunst darstellt, seine Verfechter nach Melanesien, Mikronesien, Nord- und Südamerika führte.428

Einstein, der die Forderung erhebt: »[e]s gilt, im Roman Bewegung darzustellen«, und dies als »eine Aufgabe [bezeichnet], der das Deskriptive gänzlich fern liegt«429, spricht sich deutlich gegen die traditionelle Erzählprosa aus. Damit trifft sich sein poetologisches Programm mit dem nicht-erzählerischen Charakter der kubistischen und der afrikanischen Kunst. In Bebuquin oder die 427 Blome (Anm. 345). S. 162. 428 Rubin (Anm. 344). S. 63. 429 Einstein: Über den Roman (Anm. 219). S. 129. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.

Literarischer Primitivismus?

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Dilettanten des Wunders löst Einstein den Anspruch des Nicht-Deskriptiven ein, indem er den Text mit Ikonen selbstreferentieller Kunstformen wie den Zirkus bevölkert und eine Schreibweise praktiziert, die sich als artistische bestimmen lässt. Mit seiner artistischen Ästhetik, seinem clownesken Stil, hat Einstein eine avantgardistische Literatur geschaffen, die einen literarischen Primitivismus vorstellt, der seine modernen, europäischen Ausgangsbedingungen nicht verschleiert. Im Einklang mit seiner Forderung bezüglich der afrikanischen Plastiken, »das Interpolieren bequemer Evolutionen«430 zu unterlassen, sprich: in der afrikanischen Kunst kein evolutionäres Frühstadium der europäischen Kunst zu sehen, unterlässt Einstein es auch, seine Gegenwart im Angesicht des Primitiven zu einer (besseren) Vergangenheit zu verklären.431 Mit der Transformation des Primitiven nach Maßgabe der Bedingungen der modernen Großstadt, mit der Überblendung der afrikanischen und der europäischen Puppe, entgeht Einstein jenem Phänomen, das er im Hinblick auf die französische Malerei als »Primitivenrummel« kritisiert: »Vor allen Dingen gibt man sich sehr primitiv«, stellt er fest und beobachtet: »Die Malerei wird zunehmend ideologischer und das Primitive erzwang sich das Plakat.«432 Wenn sich die moderne Malerei primitiv ›gibt‹, also nicht authentisch ist, desavouiert sie ihren eigenen Anspruch, sich mit dem Primitiven auch Eigenschaften wie Authentizität und Natürlichkeit – die freilich Zuschreibungen sind – zuzuwenden. Denn 430 Einstein: Negerplastik (Anm. 159). S. 247. 431 Hans Joachim Dethlefs hat zu dieser Konstellation bemerkt, dass das Nebeneinander von schwer vereinbaren Perspektiven ein Ausdruck der europäischen Moderne sei (vgl. Hans Joachim Dethlefs: Carl Einstein. Konstruktion und Zerschlagung einer ästhetischen Theorie. Frankfurt/M./New York 1985. S. 19.). Ich hoffe gezeigt zu haben, dass die Perspektiven nicht schwer vereinbar sind und ihr Nebeneinander poetologisch konsequent ist. Zeitgenoss_innen standen Einsteins Methode durchaus kritisch gegenüber. Es wurde beispielsweise bezweifelt, dass Einstein Recht hatte, wenn er »als selbstverständlich an[nimmt], daß auch für diese, die doch auf fremden Kulturgrundlagen stehen, Analogieschlüsse zulässig sind. Seine Beobachtung, daß sich ›der Europäer der afrikanischen Kunst dermaßen misstrauisch nähert‹ und geneigt ist ›die Tatsache Kunst hier überhaupt zu leugnen‹, hätte zumindest für diese Annahme eine Einschränkung notwendig gemacht.« (Victor Wallerstein: Literatur. In: Sozialistische Monatshefte 21 (1915)-13. S. 672–673. Zit. n. Rolf-Peter Baacke (Hg.): Carl Einstein. Materialien. Bd. 1: Zwischen Bebuquin und Negerplastik. Berlin 1990. S. 105–106. Hier: S. 105.) Einsteins Deutungen könnten folglich »nur als seine persönlichen« (ebd.) gelten. »Er legt seine modern kultivierten Gefühle in fremde, von uns weit entfernte Seelen hinein, während alle etwa vorhandenen Phänomene einer untern Stufe der Religiosität vernachlässigt werden.« (ebd.) Konkret wird an Einsteins Methode kritisiert, dass »ein Ringschluß« vorliege: »Einstein zieht nämlich aus der Negerplastik seinen Begriff von Plastik, ganz im allgemeinen, ab und erhebt ihn […] zum Dogma. Er operiert also aus einer eng begrenzten Materie den allgemeinen Begriff heraus. Dann darf es uns auch nicht wundern, daß dieser sich einzig mit der Materie deckt, der er entnommen wurde […].« Ebd. S. 105f. 432 Einstein: Anmerkungen zur neueren französischen Malerei (Anm. 204). S. 120. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.

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bekanntermaßen wurden die künstlerischen Ausdrucksformen der afrikanischen und ozeanischen Kulturen von den europäischen Avantgarden dem etymologischen Sinn des Wortes »primitiv« nach (lat. primitivus = der erste seiner Art) als primär und ursprünglich verstanden. Die europäische Kunst dagegen wurde als oberflächlich, im negativen Sinn naturalistisch und unauthentisch abgewertet.433 Wenn das Primitive das Plakat erobert, wird es zwangsläufig in den Kontext von Konsum und Kommerz eingebunden. Wie die Gestalter_innen von Werbeflächen betonte Henri Matisse in der Malerei »die dekorativen und sensuellen Eigenschaften« und »wir beobachten hier, daß die Folge des Primitiven eine noch größere Primitivität war. Der Beschauer wird gezwungen, nur auf bestimmte konventionelle Momente sich einzustellen.«434 Einsteins Kritik an der Ideologisierung der Malerei bezeugt also nicht nur die Vereinnahmung der europäischen Moderne durch das Primitive, sondern auch die Vereinnahmung des Primitiven durch die europäische Moderne. In Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders entfaltet Einstein eine Ästhetik, die diese Entwicklungen transparent macht und kritisch reflektiert: Er literarisiert nicht die kulturell unverdorbenen Primitiven (was der Interpolation von Evolutionen Vorschub leisten könnte), sondern er inszeniert Artist_innen, die in ihrer Kunst das konservieren, was der moderne Mensch eigentlich gar nicht mehr kann. Einstein bannt nicht die Primitiven auf das Werbeplakat, sondern die Hetäre – womit freilich die Unbelastetheit von einer primitivistischen Ideologie durch die Belastung mit einer frauenfeindlichen Gesinnung relativiert wird. Einsteins Transformation der afrikanischen Puppe zur europäischen Puppe folgt einer misogynen Ästhetik, die in krassem Gegensatz zu seinem literarischen Umfeld steht. Im literarischen Expressionismus nämlich ging die Inszenierung der sexuellen Begegnung und reproduktiven Vermischung mit ethnisch bzw. kulturell Anderen eine enge Verbindung mit dem Motiv der künstlerischen Schöpfung und des Schaffens primitiver Kunstwerke ein. Das Motiv der Sexualität, das im Primitivismus der bildenden Kunst und der BohHme eine wichtige Rolle spielt, wird in der Literatur um 1900 als eine zumindest utopische Annäherung an das imaginierte Primitive literarisiert.435 Einstein dagegen schlägt »eine Literatur für differenzierte Junggesellen vor«, die nicht »auf die Liebe, das Weib usw. angewiesen« ist.436 Sein Protagonist Bebuquin sekundiert: »›Was ist doch das für ein Unglück, daß wir Männer vom Weib kom-

433 Vgl. Blome (Anm. 345). S. 146. 434 Einstein: Anmerkungen zur neueren französischen Malerei (Anm. 204). S. 119. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 435 Vgl. Blome (Anm. 345). S. 144 und S. 163. 436 Einstein: Über den Roman (Anm. 219). S. 129. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.

Literarischer Primitivismus?

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men[…][,]‹«437 und deklariert die »normalen Weiber[…]« zu »gebärenden Gemeinplätzen«.438 Einsteins produktionsästhetische Forderung wird in Bebuquins Schöpfungsversuchen ins Bild gesetzt: Bebuquin starrt in einen Winkel, um diesen »aus sich heraus«439 zu beleben. Der Akt der Erzeugung soll durch das Sehen vor sich gehen. […] An die Stelle des Geschlechtsaktes ist der Blick getreten, der vom Subjekt gesteuert werden kann und seine Bewußtheit im Gegensatz zur geschlechtlichen Vereinigung unberührt läßt. Wie der autoerotisches Genuß, der die Befriedigung des Subjekts am eigenen Körper ist, wird die autoerotische Schöpfung als bloße Hervorbringung des Subjekts imaginiert.440

Bebuquins autonome Tat, die Selbstschöpfung durch Starren, misslingt. Und auch wenn umgekehrt – beispielsweise in Bezug auf Euphemia – die »Geburtsmotive als Symbole für geistige Schöpfungsprozesse […] an die leibliche Gestalt anknüpfen«441, erweist sich Bebuquin als ein Dilettant des Wunders, da derartige Versuche »im Kontext von Einsteins Erzählung nur das unfreiwillige Scheitern ihres Anspruchs zum Ausdruck bringen«442 können. Das Gelingen einer Kopfgeburt kann nicht für das ›Was‹ von Bebuquin, sondern für das ›dass‹, für die Existenz als Text, veranschlagt werden. Liest man ›Bebuquin‹ als ›b8b8 bouquin‹, gehen die »Bewußtseinsform des Autors und die Gestalt seines Produktes […] gleichursprünglich aus dem poetischen Prozeß hervor: ein solches Kind kommt mit seinem Junggesellen-Vater im Augenblick seines Werdens zur Welt und entsteht gebärlos.«443 In seinen programmatischen Schriften formuliert Einstein folgende Konsequenzen seines produktionsästhetischen Ideals einer Junggesellenliteratur ohne Bezug auf das Weibliche für die Inhaltsebene: Man stelle das Epos in Zukunft nicht mehr allein in den Dienst des geschlechtlichen Verkehrs. Das Besingen mehr oder weniger komplizierter Genitalien dürfte überflüssig sein – da der Zeugungsakt resp. Beischlaf mit seinen mitunter nicht ganz reizlosen Präludien und seinen meist sichern Folgen wie Kinder, Abtreibung, Ekel, Verdummung, gegenseitige Gewöhnung, regelmäßiges Vollziehen der Lüderlichkeit usw. von jedem einigermaßen realisiert werden kann. Liebesgeschichten haben nur Sinn für von Jugend an kastrierte, schwer frauenleidende Personen.444 437 438 439 440 441 442 443 444

Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 83. Ebd. S. 111. Ebd. S. 80. Sabine Kyora: Junggesell(inn)en-Ästhetik. Carl Einstein – Gertrude Stein. In: Annette Keck und Dietmar Schmidt (Hg.): Auto(r)erotik. Gegenstandslose Liebe als literarisches Projekt. Berlin 1994. S. 85–101. Hier: S. 90. Krause (Anm. 330). S. 35. Ebd. Ebd. S. 41. Einstein: Über den Roman (Anm. 219). S. 128.

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

In der Ablehnung des Sexuellen als Gegenstand des Textes positioniert sich Einstein dezidiert gegen Ansätze wie den expressionistischen Gedanken einer Annäherung an das Primitive durch ethnische und kulturelle Mischung und Vereinigung.445 Das Ideal einer autoerotischen Schöpfung – das sich in Bebuquin jedoch nicht realisiert und dadurch Bebuquins Dilettantismus begründet – wird begünstigt durch die Konzeption der weiblichen Figuren: Sie werden allesamt mit negierter (weiblicher) Sexualität konnotiert. Die europäische Puppe steht als Artistin für eine virile Körperlichkeit446 und als Gommeuse für eine Erotik, die stets als Maske existiert und zur Künstlichkeit ästhetisiert ist. In diesen Figuren entwirft Einstein eine Form von Primitivismus, der eine wesentliche Zuschreibung des Primitiven, nämlich das konkrete sexuelle Erleben, ausklammert. Anschaulich wird dies nicht nur an den verhinderten sexuellen Begegnungen zwischen Euphemia und Bebuquin bzw. Euphemia und Böhm,447 sondern auch in der konsequenten Denaturalisierung des Erotischen. In der Bar fährt »[d]er Schein der elektrischen Lampen […] ihr [= der Buffetdame] durch die Spitzen zum Knie, tanzte über die Kristallflacons und die Sektkühler erregt rückwärts«, was von der Erzählinstanz mit dem Ausruf »das sonst anständige elektrische Licht!«448 kommentiert wird. Ähnlich verhält es sich mit den »drei Bogenlampen«: Sie »wurden obscön, ihre Strahlen fingerten in der Dekolletage der Damen, man hörte Bebuquins leise, trockene Stimme, der von seiner letzten Liebschaft erzählte.«449 Erotischen Kontakt haben die weiblichen Figuren offenbar ausschließlich mit dem Licht. So auch Euphemia, die nicht nur ihr Kind im Traum empfängt, sondern von der berichtet wird, dass »[e]in Brillant über Euphemias D8collet8 […] das unverbrauchte Morgenlicht auf[fing]« und das Licht konzentrierte.450 Die Denaturalisierung des Erotischen durch den Einsatz von Licht ist auch mit der Mortifizierung der Frau in Gestalt der Puppe in Verbindung zu bringen. Mit seiner Aufforderung, »Denken Sie eine Frau unter der Laterne; eine Nase, ein Lichtbauch, sonst nichts. Damit wäre noch etwas zu sagen. Das Licht, aufgefangen von Häusern und Menschen«451, stellt Böhm genau diesen Konnex her. Als Puppe von künstlichem Licht bestrahlt, ist die Frau ›eine Nase, ein Lichtbauch, sonst nichts‹; sie ist in ihrer Leblosigkeit austauschbar mit einem Haus. Und nicht zuletzt wird sie, angestrahlt von Licht, zum Fetisch, ver445 Hier wäre z. B. an Robert Müllers Roman Tropen zu denken. 446 Demgegenüber werden männliche akrobatische Clowns häufig als androgyn bzw. effeminiert wahrgenommen. Vgl. Starobinski (Anm. 68). S. 39. 447 Zu Euphemia und Böhm vgl. Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 76. Bebuquin wird von Euphemia mit der Aussage konfrontiert: »Glauben Sie, Giorgio, jemand wie Sie bringt kein Weib zwei Zentimeter von der Stelle.« Ebd. S. 98. 448 Ebd. S. 85. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 449 Ebd. S. 88. Beide Zitatteile sind auf diese Seite zu finden. 450 Ebd. S. 90. 451 Ebd. S. 81.

Literarischer Primitivismus?

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gleichbar einem Ausstellungsgegenstand, wie er in den Völkerkundemuseen der Zeit zu betrachten ist. Die Realisierung eines literarischen Primitivismus, der die moderne Großstadt als Handlungsort wählt und die gesellschaftlich Marginalisierten als Handlungsträger_innen einsetzt, macht das Element der sexuellen Begegnung mit dem/der ethnisch Anderen entbehrlich. Die Schöpfung eines den Bedingungen der europäischen Moderne angepassten primitiven Kunstwerks kann so ganz im Sinne von Einsteins früher Poetologie unabhängig vom Prinzip des Weiblichen vor sich gehen. Nach Rudolf Kassner droht allerdings folgende Gefahr : Um es gleich zu sagen: Dilettantismus gilt nur vom Manne, besser : das Wort ist aus der Sprache des Mannes genommen. Der Mann hat es erfunden. Die Frau wäre gar nicht darauf gekommen. Die Frau ist exzentrisch oder emanzipiert, und nur der Mann ist Dilettant. Aus sich selber heraus [meine Hervorhebung, J. K.], worauf es ankommt. Oft Frauen gegenüber allerdings, und das sind dann die ganz verschwiegenen, kaum wahrnehmbaren Dilettanten. Ich habe beobachtet, daß zum Beispiel große Egoisten oft ganz plötzlich vor Frauen zu Dilettanten werden. Man darf wohl behaupten, daß der Dilettant häufiger unter den geschlechtlich Vereinsamten als unter geschlechtlich Regen vorkommt, daß man ihn darum häufiger unter den Germanen als unter den Romanen findet. Dilettanten sind nirgends seltener als unter den Franzosen, und man mag das mit einigem Recht auf den freieren, zum mindesten klareren Geschlechtsverkehr in diesem Lande zurückführen.452

In der prominentesten zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem Dilettantismus, in Rudolf Kassners Schrift Der Dilettantismus von 1910, wird vor sexueller Enthaltsamkeit als Einfallstor für männliches Dilettieren gewarnt. Dieselbe These prüft Einstein in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders: Der Figur Bebuquin eignet schließlich auch ein metafiktionales Potential dahingehend, dass an seinen fehlschlagenden Schöpfungsversuchen »aus sich heraus«453 die Grenzen eines modern, männlich und großstädtisch geprägten Künstlertums ausgelotet werden. Der dilettantismusaffine Mann in der modernen Großstadt ist (bei Einstein, aber auch anderswo) der Snob, der demonstrative Zurückgezogenheit und Einsamkeit aufgrund eines Distinguierungsbedürfnisses übt und dadurch der Passivität und Unproduktivität verfällt.454 Im Aufsatz über den Snobb beschreibt Einstein, wie die Liebe ästhetisch funktionalisiert werden kann. Sie wird in ihrer ganzen Formen- und Willensfeindlichkeit als wirkungsvollste Dekoration in den Rahmen einer ästhetisierenden Absicht eingespannt. Wenn die Bewußtlosigkeit 452 Kassner (Anm. 18). S. 14. 453 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 80. 454 Vgl. Einstein: Der Snobb (Anm. 31). S. 24f.

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Artistische Ästhetik und literarischer Primitivismus

des Einswerdens sonst einen Zweck der Liebe ausmacht, so ist es hier nur ein qualvolles leeres Mittel, sich die Askese des geschlechtlichen Verkehrs anzugewöhnen. Der zweite Mensch muß sich auflösen zur zierenden Floskel, sichtbarer Körper eines Stilgedankens werden, vielleicht den Stil fast restlos repräsentieren, woraus sich eine eigentümliche Idealisierung des Persönlichen zum Symbol eines absoluten Allgemeinen ergibt.455

Das Paar, das in Bebuquin einen solchen Akt vollzieht, besteht aus Euphemia und Böhm. Es ist im Lauf der Untersuchung bereits festgestellt worden, dass Euphemia für eine Form von Sexualität steht, die nicht die Ekstase der Dilettant_innen ist, sondern das Vermögen, Kunstwerke zu produzieren.456 Einsteins Forderung nach geschlechtlicher Askese kommt Böhm mit der ausbleibenden Erektion zwar gezwungenermaßen nach, das Kunstwerk ist ohne Euphemia als das weibliche Prinzip jedoch nicht möglich.457 Sie ist dabei nicht nur als Muse zu verstehen, sondern ihr Körper wird zum ›sichtbaren Träger eines Stilgedankens‹. Auf der einen Seite ist damit die Bannung des Weiblichen in die Kunst, das Lebloswerden der Frau ›zum Symbol eines absoluten Allgemeinen‹ zementiert. Gleichwohl wird das Kunstwerk durch eine Interaktion von zwei Beteiligten hervorgebracht. Umgekehrt bedarf Euphemia zur Empfängnis ihres Sohnes keines Gegenübers: Sie »›kriegte ihn im Traum.‹«458 Wenn männlich-geistige Schöpfungen zumindest ein sexuelles Vorspiel / deux brauchen, weiblich-körperliche Schöpfungen dagegen im Traum stattfinden, ist hinter Einsteins Junggesellenästhetik ein Fragezeichen in Richtung einer Junggesellinnenästhetik zu setzen. Entsprechend unentschlossen changiert der Snob Bebuquin gegenüber Euphemia zwischen Unwillen und Unvermögen. Von Böhm wird Bebuquin als »Narzissus«459 bezeichnet und von Einstein wissen wir : »Narziß war ein eitler onanistischer Naturalist«.460 Zusammengefasst: An Euphemias (Selbst)Stilisierung zum Kunstwerk kann Einsteins Strategie, einen literarischen Primitivismus zu üben, der (weibliche) Sexualität suspendieren will, exemplarisch veranschaulicht werden: In der 455 Ebd. S. 27. 456 Vgl. S. 213 dieser Arbeit. 457 Sabine Kyora deutet diese Textstelle als Umsetzung von Einsteins Charakterisierung der autoerotischen Liebe des Snobs (vgl. Kyora: Junggesell(inn)en-Ästhetik [Anm. 440]. S. 92). Dieser Interpretation soll nicht widersprochen werden, denn die Strategien des Textes zur Mortifizierung der Frau gipfeln genau darin, dass die Frau als Kunstwerk/Kunstmensch stillgestellt wird. Ich möchte allerdings akzentuieren, dass das Kunstwerk korporal an die Frau gebunden ist und so die Idee einer rein männlichen Schöpfung als Illusion entlarvt. Die biologische Schöpfung dagegen braucht keinen Mann, ihren Sohn Emil erzeugt Euphemia ganz ›aus sich heraus‹. 458 Einstein: Bebuquin (Anm. 5). S. 85. 459 Wie Anm. 191. 460 Einstein: Georges Braque (Anm. 207). S. 241.

Literarischer Primitivismus?

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Puppe Euphemia macht er eine Transformation der primitiven Kunst und Kultur nach Maßgabe der europäischen Moderne um 1900 zum Gegenstand des Textes. Diese Transformation erfolgt anhand der Formprinzipien des Kubismus, Euphemia verkörpert also die Ikonizität der kubistischen Kunst gleichermaßen wie die der afrikanischen Kunst. Damit reflektiert Einstein den literarischen Primitivismus bereits selbst: Neben der Vereinnahmung der europäischen Moderne durch die primitive Kunst – sprich: die Orientierung beispielsweise des Kubismus an der afrikanischen Kunst –, macht Einstein auch auf die Vereinnahmung des Primitiven durch die europäische (großstädtische) Moderne – sprich: die Einbindung des Primitiven in Werbe- und Ausstellungsstrategien – aufmerksam. Einsteins literarischer Primitivismus zeigt sich in Gestalt einer innerkulturellen Ethnographie. Dass er sich in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders nicht mit vermeintlich ›unverdorbenen Wilden‹, sondern mit marginalisierten Gruppen der eigenen Gesellschaft auseinandersetzt, schützt ihn vor der Interpolation unzulässiger Evolutionen bezüglich des Primitiven. Das Primitive in der eigenen Gesellschaft zu suchen, macht auch den tatsächlichen Kontakt mit dem/der ethnisch oder kulturell Anderen nicht notwendig. Gemäß seiner poetologischen Schriften kann sich Einstein der Sexualität als einem mit dem Primitiven verknüpften – und in zahlreichen anderen literarischen Texten der Zeit intensiv bearbeiteten – Motiv entledigen. Selbstschöpfung ohne Gegenüber ist zudem bestens mit Einsteins Einsichten zur Totalität und dem Konzept einer absoluten Prosa vereinbar. Hierin zeigt sich dann auch, warum der Dilettantismus des Wunders ein prädestinierter Gegenstand für dieses Verständnis von literarischem Primitivismus ist: Um 1900 wird männliche Enthaltsamkeit als Einfallstor für Dilettantismus diskutiert. Einsteins »Literatur für differenzierte Junggesellen«461, die keine Genitalien mehr besingen will,462 funktioniert auf der poetologischen Ebene und (eventuell) im Akt der Textproduktion. Inhaltlich werden die Bannung des Weiblichen in die Kunst und seine Mortifizierung konterkariert durch die Selbstschöpfungskraft Euphemias: Ihr Kind wird ohne Mann gezeugt, Bebuquins unabhängige Tat dagegen misslingt. Er bleibt ein Dilettant des Wunders, eines ästhetischen Anspruchs, der Autonomie mit narzisstischer Onanie gleichsetzt.

461 Wie Anm. 436. 462 Vgl. Anm. 444.

Prolog: Von Carl Einsteins Artistik zu Thomas Bernhards Artisten – Dilettantismus zwischen Primitivismus und Lebenskunst

Bei Carl Einstein erscheint Dilettantismus in Form von Unterhaltungskünsten, im Speziellen im Bereich der Artistik und der übrigen zirzensischen Künste. Diese stellen das moderne, europäische, großstädtische Gegenstück zur primitiven Kunst Afrikas und Ozeaniens dar. Daneben erweist sich die Artistik als eine spezifische Epochensignatur der Moderne um 1900, weil sie als stumme Körperkunst einen produktiven, avantgardistischen Umgang mit der Sprachkrise vorstellt. Neben den im vorigen Kapitel besprochenen Autoren Frank Wedekind und Siegfried Kracauer sowie zahlreichen anderen, wendet sich bekanntermaßen auch Franz Kafka als weiterer deutschsprachiger Schriftsteller der Moderne den zirzensischen Künsten zu. In diesem Zusammenhang ist natürlich die Figur der Kunstreiterin in Auf der Galerie zu nennen, aber auch der Trapezkünstler in Erstes Leid oder der Hungerkünstler im gleichnamigen Text.1 In seinem Tagebuch verknüpft Kafka Variet8-Equilibristen mit Selbstsorge und überträgt das beobachtete Körperspiel der Equilibristen auf die existentielle Situation: Der Equilibrist mit seinem Balancierstab symbolisiere »die Situation des Menschen in der Welt, der sich, in seiner Selbstsorge, des doppelten Mittels von Schreibund Zeichenstift bedient.«2 Indem Kafka den Balancierstab als Symbol für den Schreib- bzw. Zeichenstift einsetzt, überblendet er zunächst die körperlichen Unterhaltungskünste und die traditionellen ›geistigen‹ Kunstformen. Seine ei1 Vgl. dazu auch das Kapitel I: »Die Artisten Franz Kafkas« in Sebastian Neumeister : Der Dichter als Dandy. Kafka, Baudelaire, Thomas Bernhard. München 1973. S. 9–39, Sylke Kirschnick: Versuch, im Bodenlosen Platz zu nehmen. Zirzensische Transgressionen bei Franz Kafka, Else Lasker-Schüler und Thomas Mann. In: Carsten Gansel und Paweł Zimniak (Hg.): Störungen im Raum – Raum der Störungen. Heidelberg 2012. S. 155–182 sowie Walter Bauer-Wabnegg: Zirkus und Artisten in Franz Kafkas Werk. Ein Beitrag über Körper und Literatur im Zeitalter der Technik. Erlangen 1986. Walter Bauer-Wabnegg zählt auch Ein Bericht für eine Akademie zu den Artistik-Texten und bespricht zudem einige weniger bekannte Texte u. a. aus Kafkas Jugend. 2 Gerhard Neumann: »Was hast Du mit dem Geschenk des Geschlechtes getan?« Franz Kafkas Tagebücher als Lebens-Werk. In: Maria Moog-Grünewald (Hg.): Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge. Heidelberg 2004. S. 153–174. Hier: S. 162.

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Prolog: Von Carl Einsteins Artistik zu Thomas Bernhards Artisten

gene Unfähigkeit zu schreiben reflektiert er im Tagebuch im Bilde des Balancierstabs: Alle Dinge nämlich die mir einfallen, fallen mir nicht von der Wurzel aus ein, sondern erst irgendwo gegen ihre Mitte. Versuche sie dann jemand zu halten, versuche jemand ein Gras und sich an ihm zu halten das erst in der Mitte des Stengels zu wachsen anfängt. Das können wohl einzelne z. B. japanische Gaukler, die auf einer Leiter klettern, die nicht auf dem Boden aufliegt, sondern auf den emporgehaltenen Sohlen eines halb Liegenden und die nicht an der Wand lehnt sondern nur in die Luft hinaufgeht. Ich kann es nicht […].3

Zugleich setzt Kafka den Stab als Hilfsmittel zum Balance-Halten im Kontext der Lebensführung ein: So scheibt er in Erstes Leid die »Geschichte über die Selbstsorge eines Trapezkünstlers«4. Mit der Engführung von Artistik und Selbstsorge legt Kafka eine Spur, der ich im Folgenden nachgehen will. Wird der Gedanke des Balancierstabs, der die Lebensführung austariert, nach der Moderne um 1900 noch weitergedacht? Wofür kann das Symbol des Stabs stehen? Und: Setzt sich die Verknüpfung von Selbstreflexion (auch jenseits des Mediums Tagebuch) und Artistik fort? Zunächst ist jedoch festzustellen, dass die Moderne um 1900 für Selbstkonstitutions- und Selbstsorgekonzepte nicht primär berühmt ist. Im Gegenteil: Nach Friedrich Nietzsche als Wegbereiter zeigen sich viele Literat_innen der Moderne um 1900 äußerst subjektkritisch: »Statt Selbstsetzung biete[n] [sie] Selbstaufhebung, statt Selbstsorge die radikale Sorglosigkeit, […] statt ästhetisch vermittelter Selbsterkenntnis schockhaftes Selbstvergessen«.5 Die literarischen Subjekte der Moderne verweigern das Subjektsein regelrecht. Karl Roßmann, Felix Krull und Jakob von Gunten treten in ihrer Willenlosigkeit, Ichlosigkeit und Charakterlosigkeit repräsentativ für die Zurückweisung eines Subjektstatus ein.6 Die Literatur der Moderne um 1900 bietet, so Dorothee Kimmich, keine Konzepte ethischer Subjektkonstitution an, sondern führt »[d]ie fröhliche Machtlosigkeit dieser Figuren, die seltsam subversive Ohnmacht gegenüber sich selbst, gegenüber eigenen und fremden Wünschen und Bedürfnissen, Zielen und Zwecken«7 vor. Als »Gegenspieler instrumenteller Vernunft« leben die modernen Anti-Subjekte ihren »Hedonismus der Sorglosig3 Franz Kafka: Tagebücher. Erstes Heft. In: Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. 9. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt/M. 1990. S. 14. (ohne Datum des Eintrags) 4 Neumann (Anm. 2). S. 173. 5 Dorothee Kimmich: Das Glück der Sorglosen. Bemerkungen zur literarischen Kritik einer Ethik der Selbstsorge. In: Christof Mandry (Hg.): Literatur ohne Moral. Literaturwissenschaften und Ethik im Gespräch. Münster/Hamburg/London 2003. S. 109–121. Hier: S. 114. 6 Vgl. ebd. S. 115. 7 Ebd. S. 119.

Prolog: Von Carl Einsteins Artistik zu Thomas Bernhards Artisten

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keit« folglich nicht im Sinne einer Ästhetik der Existenz, sondern einer »Moral des Ästhetischen« aus.8 Das Spannungsverhältnis von Selbstsorge und Sorglosigkeit, von Selbstreflexion und Selbstvergessenheit, von Erhaltung und Zurückweisung von Subjektivität ist ein Problem, das sich in der Postmoderne9 noch viel radikaler stellt. Ein Autor dieser noch näher zu bestimmenden Epoche bzw. Konzeption ›Postmoderne‹, der bei der Verhandlung von Subjektivität vielfach die Figur des Artisten aufgreift, ist Thomas Bernhard. An zahlreichen Stellen seines Werks zitiert Bernhard explizit topische Parameter der Auseinandersetzung mit dem Artisten und bindet diese in neue, spezifisch Bernhardsche Kontexte ein. Prominent läuft z. B. die Auseinandersetzung mit der Philosophie Immanuel Kants an der zirzensischen Kunst entlang. Die Titelfigur in Immanuel Kant ruft aus: »Die Equilibristik hat mich / zeitlebens interessiert / Mein Talent ist einmal ein ganz anderes Talent gewesen / Ich hatte das größte Talent zum Equilibristen«.10 Das Bild des (verschobenen) Gleichgewichts ruft Bernhard im Abschnitt »ZIRKUS / Seiltänzerin« in Amras auf: »In ihrer Mitte könnte ich meine Welt aufhalten, wäre ich nicht von den Wissenschaften verdorben.«11 Dem durch Wissenschaften verdorbenen Ich ist der Zugang zur (austarierten) ›Mitte‹ der Seiltänzerin nicht möglich. Bernhard etabliert eine Opposition aus zirzensischer Kunst und Wissenschaft, wobei er mit Unverdorbenheit und Verdorbenheit topische Zuschreibungen primitiver Ursprünglichkeit und einer sich selbst entfremdeten (Post)Moderne aufruft. Diese Topoi werden nicht bloß punktuell 8 Ebd. S. 119f. 9 Subjektbildung erfolgt in der Postmoderne nicht mehr indem eine Existenzform verfolgt wird, sondern indem mehrere erprobt werden (vgl. Wolfgang Welsch: Einleitung. In: ders. (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. 2., durchges. Auflage Berlin 1994. S. 1–43. Hier : S. 39f.). Diese »Subjektverflüssigung« bedeute dabei »keineswegs Subjektauflösung« (ebd. S. 40). Als die »zentrale Herausforderung postmoderner Lebensgestaltung« machen Rolf Frankenberger und Gerd Meyer in ihrer Studie über Postmoderne und Persönlichkeit »den Zwang zu permanenter Entscheidung und Eingrenzung des postmodernen Möglichkeitsraums mit all den damit verbundenen Risiken und Unsicherheiten« aus (Rolf Frankenberger und Gerd Meyer: Postmoderne und Persönlichkeit. Theorie – Empirie – Perspektiven. Baden-Baden 2008. S. 34.). Mit den postmodernen Bedingungen in Ökonomie, Gesellschaft, Kultur und Politik ändere sich auch der Rahmen für das Subjekt und seine Lebensgestaltung. In der Postmoderne würden Sozialisationsmuster und Identitätskonstruktionen atomisiert und die Identitätsbildung werde daher zum zentralen Problem des Menschen (vgl. ebd.). »Die Diversifizierung und Infragestellung von Lebensmustern, Wirtschafts- und Gesellschaftsformen verweisen das Individuum mit ihrer Widersprüchlichkeit und Kontingenz auf Eigeninitiative und Selbstorientierung. Es muss sich Richtung und Ordnung suchen und konstruieren.« Ebd. 10 Thomas Bernhard: Immanuel Kant. In: Thomas Bernhard. Dramen III (= Werke. Bd. 17). Hg. von Martin Huber und Bernhard Judex. Berlin 2010. S. 67–172. Hier: S. 163. 11 Thomas Bernhard: Amras. In: Thomas Bernhard. Erzählungen I (= Werke. Bd. 11). Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt/M. 2004. S. 109–179. Hier: S. 146.

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eingesetzt, sondern breit entfaltet: K. – der allein schon aufgrund seines Namens eine Nähe zu Kafkas Protagonisten nicht verhehlen kann – schreibt in sein Notizbuch: »Die Zirkusleute besucht, mich mit ihnen unterhalten, über ihre unehelichen Kinder gesprochen, Kukuruzzubereitung am offenen Feuer… den eingegangenen Leoparden… Unsere Äpfel für die Kinder, das Schweineschmalz für die Wunden des Dompteurs…«12 und schließt daran an: »ZIRKUSWINTERQUARTIERE, Novellentitel.«13 Mit der familiären Bindung ohne institutionelle Einordnung, mit Wärme, Nahrung, Körper und Tod werden die basalsten Aspekte des menschlichen Lebens vor aller Entfremdung zitiert und überdies – in einem sentimentalen Gestus – dem Bereich des Poetischen zugeordnet. Die Zirkusleute bilden in Amras den Zufluchtsort bzw. die Gegenwelt zum schrecklichen Turmleben K.s: »[…] ich ging, weil ich es nicht mehr aushielt im Turm, in den Garten, sofort zu den Zirkusleuten…«.14 In diesem frühen, 1964 erschienen Text nutzt Bernhard das Motiv der Zirkusleute dafür, einen alternativen Lebensentwurf zum österreichischen Bürgertum vorzustellen, der einige Signaturen des Primitivismus trägt und sich in Form von zirzensischer Kunst kulturell artikuliert. Darüber hinaus fungiert der Zirkus in Amras als Metapher für das menschliche Bewusstsein. Unter dem Stichwort »Direktor« heißt es, dass »wir« angesichts der Konstellation Dompteur-Leopard »den Leopardenstandpunkt«15 einnähmen. »Die Vorstellung des brennenden Zirkuszeltes im Menschen« wird folgendermaßen erörtert: Die Vorstellung des brennenden Zirkuszeltes im Menschen läßt den meisten das Geheul der Löwen und das Reißen der Tigernägel erheiternd erscheinen, die Fähigkeit, die Höhepunkte eines Zirkusprogramms in dem menschlichen Gehirn einfach auszuwechseln, Balanceakt gegen Zauberkunststücke auszutauschen, den Dressurakt gegen die Spaßmacherei…16

Die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, die unterschiedlichen zirzensischen Künste ›auszuwechseln‹, deutet zunächst ein Spannungsverhältnis von Sein und Schein (Zaubertricks), von Disziplin (Dressur) und Entgrenzung (Clownerie) an, das für den postmodernen Menschen allgemein gilt und im Paradigma des Zirkus zur Anschauung kommen kann. Nicht zuletzt setzt sich Amras mit der zirzensischen Tradition auseinander. »Der Spaßmacher und sein Geselle« seien immer schon mit dem Tod bedroht: 12 Ebd. S. 156. Darüber hinaus zeigen die Zirkusleute Zeichen aufrichtiger Trauer über Walters Tod: »[D]ie Zirkusleute waren am Gartenzaun niedergekniet«. Ebd. S. 171. 13 Ebd. S. 157. 14 Ebd. S. 158. 15 Ebd. S. 146. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 16 Ebd. S. 147.

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»Zwischen dem Spaßmacher in dem silbrigen und seinem Gesellen in dem roten Kleid zielt alles darauf, die Zuschauer (für ihr Geld und für ihren Verstand) in Erstaunen zu versetzen; Kunststück nur für das menschliche Auge, für das naive Menschengemüt; alles jahrtausendealte tödliche Tradition.«17 Ging es bei der Clownerie nach Siegfried Kracauer noch darum, die herkömmlichen Weltverhältnisse umzukehren,18 schreibt Thomas Bernhard der Clownerie einen letalen Zug ein – und zwar einen, der dem naiven Zuschauerauge verborgen bleibt. Das in Amras thematisierte Austauschen der Kunstformen im menschlichen Gehirn verweist außerdem auf Bernhards Poetologie, genauer : auf seine antithetische Schreibweise. Die antithetische Schreibweise Carl Einsteins in Bebuquin wurde im vorigen Kapitel als eine artistische Ästhetik bestimmt, die sich u. a. an der subversiven Dimension der Clownerie orientiert.19 Auch Thomas Bernhard praktiziert bekanntlich einen antithetischen Schreibstil: Auf jede These folgt eine Gegenthese, die das zuvor Gesagte ad absurdum führt.20 In der Forschung wurde die Meinung vertreten, dass bei Bernhard dadurch nicht nur die abendländische Logik außer Kraft gesetzt, sondern Gleich-Gültigkeit als tragende Grundhaltung gegenüber der Welt propagiert werde:21 »Es gibt, bezogen auf Werte, kein mehr oder weniger, besser oder schlechter, höher oder niedriger. Der Maßstab entscheidet sich im Moment, um im nächsten ein ganz anderer zu sein.«22 Willi Huntemann widerspricht dieser Auslegung. Ihm scheint »Equilibrismus als lebensphilosophische Werteinstellung gegenüber dem poetologischen Equilibrismus zu sehr betont«. Der Harmonisierungsgedanke werde der Irritationswirkung auf den Leser nicht gerecht. Ein so verstandener Equilibrismus unterschlägt die im Schreiben ausgetragene Spannung im Spiel mit den Gegensätzen, wie sie schon den eigentlichen, artistischen Equilibristen (Seiltänzer z. B.) ausmacht, von dem Bernhards Immanuel Kant spricht.23 17 18 19 20

Ebd. Vgl. S. 239 dieser Arbeit. Vgl. S. 237–240 dieser Arbeit. Vgl. dazu beispielsweise Michael Billenkamp: Thomas Bernhard. Narrativik und poetologische Praxis. Heidelberg 2008. S. 323. 21 Vgl. Bernd Seydel: Die Vernunft der Winterkälte. Gleichgültigkeit als Equilibrismus im Werk Thomas Bernhards. Würzburg 1986. S. 96. 22 Ebd. S. 97. Bernd Seydel erkennt auch die ästhetische Ausprägung der Equilibristik: »Die Lebenshaltung der Gleich-Gültigkeit wird als Equilibristik zur Kunstform.« (ebd. S. 97) Formal realisiere sich die Equilibristik im Bemühen, einen Gegenpol zur Natur zu schaffen – z. B. durch wissenschaftliche Studien –, in der Verrechnung von Gegensätzen sowie in deren gegenseitiger Aufhebung und Tilgung. Bezogen auf den Raum macht Seydel Symmetrie (Bsp. Zweiteilung der Bücher) und Gleichgewicht (Bps. der Kegel in Korrektur) als equilibristische Momente aus (vgl. ebd. S. 97). Bezogen auf die Zeit herrsche Gleichzeitigkeit. Im Schriftbild äußere sich diese bspw. im Fehlen von Absätzen. Vgl. ebd. S. 98. 23 Willi Huntemann: Artistik & Rollenspiel. Das System Thomas Bernhard. Würzburg 1990. S. 174f.

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Ich möchte dem hinzufügen, dass ein so verstandener Equilibrismus auch die – mitunter tödliche – Bedrohung unterschlägt, unter der die Artisten stehen. Welch prekäre Kunst die zirzensische ist, deutet Bernhard in Amras an und führt diesen Gedanken dann später, 1971, in Am Ortler aus. Im Abschnitt »Der Seiltänzer« in Amras heißt es: [A]uf Wunsch des Direktors macht der Seiltänzer immer vier Sprünge, auf den fünften verzichtet er, denn der wäre schon fehlerhaft; die Zeit zwischen zwei Vorstellungen reicht gerade noch aus, in dem von allen bejubelten Seiltänzer genau so viel Kräfte zu sammeln, als notwendig sind, vier Sprünge »von solcher verblüffender Präzision« zu springen.24

Zwischen dem Fehler und der verblüffenden Präzision des Seiltänzers liegt allein das ausreichende Kräftesammeln. Mit dieser Herausforderung ist auch einer der beiden Brüder in Am Ortler konfrontiert, denn er vollführt Kunststücke »auf dem Boden und […] auf dem Seil«25. Die Geschwisterkonstellation kompliziert die Sachlage noch dahingehend, dass in Am Ortler die zirzensische Kunst mit der Wissenschaft verschränkt wird. Das Gelingen der Kunst des einen Bruders hängt vom Fortschritt der Wissenschaft des anderen Bruders ab und umgekehrt: Zuerst habe er geglaubt, sein Kunststück werde ihm nicht gelingen, überhaupt kein Kunststück, aber dann ist ihm das Kunststück gelungen, wie ich geglaubt habe, meine Arbeit (über die Luftschichten) werde mir nicht gelingen und die mir dann doch gelungen ist. Immer : ein anderes, ein komplizierteres Kunststück! habe er denken müssen und es ist ihm auch immer ein anderes, ein komplizierteres Kunststück gelungen, wie mir immer wieder eine andere (und doch die gleiche) und immer kompliziertere Arbeit (und doch immer wieder die gleiche über die Luftschichten) gelungen ist.26

Artistische Kunst und Wissenschaft werden hier in einem Verhältnis von Interdependenz und wechselseitiger Steigerung bzw. Anspornung vorgestellt. Bedingung für das Funktionieren dieses Verhältnisses ist eine »Rücksichtslosigkeit der Beobachtungskunst«27: [W]enn wir uns gegenseitig immer unablässig und eindringlich meine Kunststücke und deine Arbeit betreffend, der eine den andern unablässig und mit einer immer noch größeren, immer noch rücksichtsloseren Eindringlichkeit, beobachten, was er tut und wie er es tut, immerfort was und wie, bis an die Grenze der Verrücktheit, dadurch schulen wir uns zeitlebens gegenseitig.28 24 Bernhard: Amras (Anm. 11). S. 147. 25 Thomas Bernhard: Am Ortler. Nachricht aus Gomagoi. In: Thomas Bernhard. Erzählungen, Kurzprosa (= Werke. Bd. 14). Hg. von Hans Höller, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt/M. 2003. S. 166–189. Hier : S. 168. 26 Ebd. S. 168. 27 Ebd. S. 170. 28 Ebd. S. 169f.

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Zusammengefasst lässt sich feststellen: Neben der Form als sentimentalisches Zitat primitiver Ursprünglichkeit taucht die zirzensische Kunst bei Thomas Bernhard im Kontext alternativer Lebensentwürfe, des menschlichen Bewusstseins, der Lebensführung und Weltanschauung auf. Ihr ist ein letaler Zug eingeschrieben, sie wird mit Wissenschaft verschränkt und in eine Beobachtungskonstellation mit eben dieser gestellt. Am Ortler reflektiert zudem das Scheitern der Artistik, um genau zu sein: die Unmöglichkeit der Performance. »Du beherrschst dein Kunststück, aber du kannst es nicht vortragen, nichts Deprimierenderes, keine größere Deprimation, kein grauenhafterer Zustand, sagte er.«29 Analog zur Unfähigkeit des Artisten, sein Kunststück auszuführen, stellt der Wissenschaftler fest: »Schriften, sagte er, sind ja im Grunde nur dazu da, vernichtet zu werden, selbst eine Schrift über die Vortragskunst, sagte er.«30 Die Vernichtung von Schriften ist ein weit verbreitetes Motiv im Werk Thomas Bernhards. Die Unmöglichkeit bzw. die Verweigerung der Kunstausübung vernetzt – neben der auch dort statthabenden Schriftenvernichtung – Am Ortler mit Der Untergeher. Hier ist es der Pianist Wertheimer, der erstens nicht auftreten kann und zweitens seine Depression/Deprimation vehement betont. Und nicht zuletzt umgibt er sich kurz vor seinem Freitod mit Unterhaltungskünstler_innen: »Die Leute, die er in der letzten Zeit nach Traich kommen hat lassen, hätten verrückte Kleider angehabt, Schauspieler, […] wie vom Zirkus.«31 Wertheimers Name erinnert außerdem »an den vielleicht berühmtesten Dilettanten der deutschen Literaturgeschichte […,] an Goethes Werther«32. Noch bevor sein Gegenspieler Glenn Gould Wertheimer als »Der Untergeher« bezeichnet, ist Wertheimer also als Dilettant markiert und zudem dem Bereich des Zirzensischen zugeordnet. Wertheimer gegenüber steht im Text Glenn Gould, der Performance-Verweigerer, der die in Am Ortler vertretene These, die Kunstausübung sei eine Variante des Selbstmords,33 einlöst.34 Als Figur in Thomas 29 Ebd. S. 171. 30 Ebd. S. 172. 31 Thomas Bernhard: Der Untergeher (= Werke. Bd. 6). Hg. von Renate Langer. Frankfurt/M. 2006. S. 110. 32 Florian Trabert: »Wertheimer wäre gern Glenn Gould gewesen.« Der Diskurs über Judentum und Musik in Thomas Bernhards Roman »Der Untergeher« und seine Vorgeschichte bei Richard Wagner, Otto Weininger und Thomas Mann. In: Symposium 63 (2009). S. 162–177. Hier: S. 170. 33 »In Wahrheit haben mich meine Kunststücke längst umgebracht, wie dich deine Arbeit (über die Luftschichten) längst umgebracht hat, sagte mein Bruder. […] Es ist das vollkommenste, das mich umgebracht hat, es ist der konzentrierteste Gedanke, der dich umgebracht hat, sagte er. Das Kunststück lebt, der es macht, ist tot, sagte er.« Bernhard: Am Ortler (Anm. 25). S. 180. 34 Vgl. dazu Markus Scheffler, der Glenns Spiel als »aufgeschobene[…] Selbsttötung« interpretiert. Markus Scheffler : Kunsthaß im Grunde. Über Melancholie bei Arthur Schopenhauer und deren Verwendung in Thomas Bernhards Prosa. Heidelberg 2008. S. 308.

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Bernhards Werk wird Glenn Gould fünf Jahre nach Der Untergeher noch einmal im Skandalstück Heldenplatz erscheinen.35 In diesem Drama wird das »Motiv der musikalischen ›Virtuosität‹ als dialektische Gedankenstruktur« entfaltet. In der Entgegensetzung von Sarasate und Glenn Gould wird »eine existenzphilosophische Thematisierung des Virtuosentums als Dichotomie zwischen Erscheinung und Wesenhaftigkeit im Kunstausdruck angezeigt.«36 Glenn Gould ist sowohl in fiktiver Gestalt in Bernhards Texten als auch als historische Person vom Gedanken der Virtuosität nicht abzutrennen. Weniger bekannt, aber nicht weniger signifikant ist dagegen die Tatsache, dass der historische Glenn Gould in Selbstbeschreibungen gleichermaßen wie in der Publikumswahrnehmung u. a. als Variet8künstler erscheint. »›Bei Live-Konzerten komme ich mir klein vor, fühle mich wie ein Variet8künstler‹«37, so eine Selbstaussage Goulds. Außerdem fühle er sich in Konzerten »›entwürdigt‹«, »›wie ein Variet8artist.‹«38 »Und in der

35 Hier wird Glenn Gould zum Gegenstand eines Monologs der Frau Zittel: »FRAU ZITTEL: […] Und wie steht es mit Glenn Gould mögen Sie Glenn Gould Er fragte das immer wieder ich wußte immer ich muß sagen ich mag Glenn Gould hören Sie Glenn Gould gern Frau Zittel mögen Sie Sarasate mögen Sie Glenn Gould Ja sagte ich immer darauf ich mag Glenn Gould gern ich höre Sarasate gern und mag Glenn Gould gern Das sind fürchterliche Menschen wissen Sie Frau Zittel die Glenn Gould nicht mögen und die Sarasate nicht gern hören mit solchen Leuten will ich nichts zu tun haben das sind gefährliche Menschen die Sarasate nicht mögen und die Glenn Gould nicht hören das verlange ich ja auch von meiner Frau daß sie Sarasate gern hat und daß sie Glenn Gould gern hört da bin ich ein Besessener Frau Zittel was das betrifft Ich wüßte auch was Besseres als mir am Samstag Sarasate anzuhören oder den Glenn Gould ich mag Klavier gar nicht«. Thomas Bernhard: Heldenplatz. In: Thomas Bernhard. Dramen VI (= Werke. Bd. 20). Hg. von Martin Huber und Bernhard Judex. Berlin 2012. S. 215–340. Hier: S. 234–235. 36 Karl Solibakke: Geformte Zeit. Musik als Diskurs und Struktur bei Bachmann und Bernhard. Würzburg 2005. S. 41. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 37 Glenn Gould zit. n. Kevin Bazzana: Glenn Gould. Die Biographie. Aus dem Englischen von Isabell Lorenz. Mainz 2006. S. 145. »Teil drei« der Biographie trägt dann auch die Überschrift: »Variet8künstler. Auf Tournee, 1955–64«. Ebd. S. 121. 38 Tim Page: Einleitung. In: Glenn Gould: Von Bach bis Boulez. Schriften zur Musik I. Hg. und

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Tat, das Publikum war soweit, eine Art Zirkusnummer von Gould zu erwarten.«39 Die Exzentrizität des historischen Glenn Gould40 evozierte beim Publikum die Erwartung, seine Konzerte hätten eine »Gould-Show«, »eine Art Zirkusvorstellung«41 zu sein. Was Glenn Gould betrifft, lässt sich die Performance-Verweigerung, das Aufgeben des Konzertierens und der Rückzug ins Tonstudio somit als eine Ablehnung der an ihn herangetragenen Artistenrolle deuten. Es gilt also festzuhalten: Wie in anderen Texten Thomas Bernhards wird in Der Untergeher auf den Topos Zirkus referiert. Auch hier ist die Referenz in Zusammenhänge von alternativen Lebensentwürfen, von Lebenshaltung und Weltanschauung gestellt. Auch hier sind Sterben und Freitod auf engste mit der (misslingenden) Kunstausübung verbunden. Neu in Der Untergeher ist die Gegenüberstellung von Dilettantismus und Virtuosität sowie von Misslingen und Verweigern von künstlerischer Performanz. Während der Dilettant sich im Vorfeld seines Freitods dezidiert Schauspielern und Zirkusleuten zuwendet, wird mit dem Vertreter der Virtuosität eine Figur gewählt, deren historisches Gegenstück stets bemüht war, seiner Rolle als Variet8künstler zu entkommen. Während Wertheimer seinem Artistenpublikum bis zuletzt auf einem »vollkommen verstimmt[en]« »Dilettanteninstrument«42 vorspielt, zieht Glenn sich von der Bühne in sein Tonstudio zurück und »schickte uns [nurmehr] regelmäßig seine Schallplatten«43. Der Dritte im Bunde, der Erzähler, positioniert sich zu diesem Thema folgendermaßen: Ich habe niemals die Konzerttätigkeit aufgenommen, dachte ich, mein Kopf hat es mir verboten, aber aus einem ganz anderen Grund habe ich die sogenannte Konzerttätigkeit nicht aufgenommen als Wertheimer, der sie, wie gesagt, wegen Glenn Gould nicht aufgenommen hat […], mir hat mein Kopf die Aufnahme der Konzerttätigkeit verboten, Wertheimer war von Glenn Gould daran gehindert worden. Eine Konzerttätigkeit ist das Fürchterlichste, das sich vorstellen läßt, gleich was für eine, spielen wir Klavier vor einem Publikum, ist es entsetzlich, spielen wir Geige vor einem Publikum, ist es entsetzlich […].44

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eingeleitet von Tim Page. Aus dem Amerikanischen von Hans-Joachim Metzger. München/ Zürich 1986 [orig. 1984]. S. 9–16. Hier: S. 12. Ebd. An dieser Stelle möchte ich nur einen Aspekt dieser Exzentrizität herausstellen, nämlich den, der Glenn Gould mit Anton Reiser in Beziehung setzt. Anlässlich Goulds 30. Todestags 2012 schreibt Wolfgang Goertz in Die Zeit: »Wir erleben die erwachsene Variante des Little-Professor-Syndroms, das in der Psychiatrie als Kennzeichen des Asperger-Syndroms gilt, eine sanfte Form des Autismus bei Höchstbegabten.« Wolfram Goertz: Klavierkunst in Schlachtschiffgrau. Der Einsiedler im Fernsehen: Die TV-Auftritte des grandiosen Pianisten Glenn Gould auf zehn DVDs. In: Die Zeit, 19. Januar 2012. S. 47. Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 136. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 149. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Ebd. S. 33. Ebd. S. 99f.

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Wie in Am Ortler ist in Der Untergeher eine Beobachtungskonstellation von zentraler Bedeutung. Es liegt eine »gedoppelte Erzählbewegung« vor, die Beobachtung und Reflexion, Selbstbeobachtung und Selbstreflexion enthält.45 Insofern er durchgehend in der Perspektive des Ich-Erzählers gehalten ist, bilde der Text eine »perspektivische Verkettung bzw. Verschachtelung« aus. Der Erzähler beobachtet nämlich Glenn, wie dieser Wertheimer beobachtet, aber auch umgekehrt beobachtet er, wie Wertheimer Glenn beobachtet. So sei der Erzähler zwar formal der Erzähler, seine Erzählung »impliziert jedoch eine netzförmige Interaktion, in welche er selbst – keineswegs als herausgehobene und unbeteiligte Kontrollinstanz – eingebunden ist.«46 Dies ist der nächste Punkt, in dem Der Untergeher eine Verschiebung zu den vorigen Artisten-Texten vornimmt: Er etabliert eine Beobachtungskonstellation, die dem Finden und Behaupten eines eigenen Standpunkts – und nicht des Leopardenstandpunkts –, mithin der Ausbildung von Subjektivität dient, dadurch aber zugleich ein wechselseitiges Bestätigungs-, Ablehnungs- und folglich wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Protagonisten generiert. Damit werden die Möglichkeiten und Aporien von Subjektbildung, aber auch von Intersubjektivität und Freundschaft sowohl zum Gegenstand als auch zur diskursiven Struktur des Textes. Für die Lesart von Der Untergeher als Künstlerroman hat dies ebenfalls Auswirkungen: Bernhard zerstört die »Bilder eines produktiv schaffenden, konzentriert arbeitenden Künstlers durch die widersprüchliche und parodistische Verwendung derselben einerseits und durch den Erzählfokus auf den vom Genie zerstörten Untergeher andererseits.«47 Doch nicht nur das große Interesse am scheiternden Dilettanten stellt eine Akzentverschiebung in der Tradition des Künstlerromans dar, sondern auch die Tatsache, dass Bernhard die Genieposition nicht mit einem Komponisten, sondern mit einem Interpreten besetzt. Denn damit verstößt er gegen »zwei wichtige Merkmale des Genies: Originalität und Kreativität.«48 Es wird aber zu zeigen sein, dass dieser ›Verstoß‹ vor dem Hintergrund von Glenn Goulds musiktheoretischen Schriften so gravierend nicht ist. Nach 45 Oliver Jahraus: Das »monomanische« Werk. Eine strukturale Werkanalyse des Oeuvres von Thomas Bernhard. Frankfurt/M./Berlin/Bern u. a. 1992. S. 73. 46 Natalie Binczek: Ein Netzwerk der Freundschaft. Thomas Bernhards »Der Untergeher« und die Unablässigkeit des Vergleichens. In: dies. und Georg Stanitzek (Hg.): Strong ties / Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. Heidelberg 2010. S. 211–231. Hier: S. 223. Alle Zitate seit Fußnote 45 sind auf dieser Seite zu finden. 47 Reinhild Steingröver: »Der Hellsichtigste aller Narren«. Das Genie des Thomas Bernhard: Der Untergeher und Glenn Gould. In: dies.: Einerseits und andererseits. Essays zur Prosa Thomas Bernhards. New York u. a. 2000. S. 59–105. Hier: S. 88. Vgl. auch Hansjörg Graf: »Das Hauptinteresse des Autors verlagert sich im Lauf der Handlung vom musikalischen Genie auf den musikalischen Dilettanten, der im Selbstmord endet.« Hansjörg Graf: Erwünschtes Unglück. Thomas Bernhard und sein »Untergeher«. In: Merkur 38 (1984). S. 86– 88. Hier : S. 87. 48 Steingröver: »Der Hellsichtigste aller Narren« (Anm. 47). S. 88.

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Goulds im Text mehrfach zitierter »Kunstauffassung«49 erlauben elektronische Aufnahmen – wie Gould sie in seinem Tonstudio produziert hat – dem Interpreten, eine Haltung gegenüber dem Werk einzunehmen, die der des Komponisten gleicht.50 Bernhard macht einen Musiker, der dem Interpreten schöpferische Kompetenz zuspricht, der als einer der Ersten mit elektronischen Medien in der Kunst experimentiert und die kreative Rolle der Rezipient_innen betont, zum Protagonisten seines Textes. Für den übergeordneten Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung heißt dies, dass anhand der Figur/›Maske‹ Glenn Gould allgemeine Fragen nach einer Ästhetik und Bewertung von Genialität und Dilettantismus im Zeichen der Postmoderne verhandelt werden. Und das wiederum ruft dazu auf, zu untersuchen, wie Bernhards eigene Poetologie sich zu den Ansichten der ›Maske‹ Gould ins Verhältnis setzt. Gelegenheit zum Nachdenken über diese Frage hat Bernhard wohl gehabt: Aus dem Jahr 1982, dem Todesjahr des historischen Glenn Gould, ist überliefert, dass sich »der Herr Bernhard jetzt den ganzen Tag die Goldbergvariationen von Glenn Gould anhört«51. Zwischen Dezember 1982 und April 1983 schreibt er dann Der Untergeher.52

49 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 13 und S. 78. 50 Vgl. Kevin Bazzana: Glenn Gould. The performer at work. A study in performance practice. Oxford 1997. S. 46. 51 Rudolf Brändle: Zeugenfreundschaft. Erinnerungen an Thomas Bernhard. Salzburg/Wien 1999. S. 120. 52 Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 154 (= Anhang).

E.

Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie. Thomas Bernhard, Der Untergeher (1983)

Weil sie in einer Zeit permanenter Totsprechung des Subjekts noch etwas von heroischer, doch allseitig gefährdeter Selbständigkeit bewahrt haben, kann es nicht überraschen, Klaviervirtuosen immer wieder […] zum Paradigma der Auseinandersetzung mit der Genieproblematik anzutreffen53,

schreibt Lutz Köpnick. Bernhards Wahl von Glenn Gould als einen der drei Protagonisten von Der Untergeher ordnet den Text in die Diskussion um die ›Totsprechung‹, aber eben auch um die Bewahrung des Subjekts54 nach der Subjektkrise der Moderne und der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs ein. Mit dem Virtuosen wird das künstlerische Subjekt im Speziellen thematisiert, aber auch das Subjekt bzw. Subjektivität allgemein ist ein zentraler Angelpunkt von Bernhards Schaffen. So treffen sich die zahlreichen Bezüge auf Nietzsche, Schopenhauer und andere Philosophen alle »im topos des Subjekts und seiner literarischen Konstitution«55. Außerdem zeigen sich in Bernhards später Prosa vermehrt »perspektivische Brechungen, Verschachtelungen und andere Züge von Vermitteltheit als Zeichen dafür, daß es um die Thematisierung von Subjektivität, nicht bloß um ihren Ausdruck geht.«56 Die Thematisierung von 53 Lutz Köpnick: Goldberg und die Folgen. Zur Gewalt der Musik bei Thomas Bernhard. In: Sprachkunst 23 (1992). S. 267–290. Hier: S. 269. 54 Leonhard Fuest ist der Meinung, dass »[d]as Postulat, daß das Subjekt tot zu sein hat«, bei Bernhard nicht realisiert werde. Im Gegenteil verkörpere seine Figurenwelt, »bestehend aus Urhebern von Werken und wahnsinnigen Genies […] das Festhalten an der Idee vom modernen Subjekt.« Leonhard Fuest: Kunstwahnsinn, irreparabler. Eine Studie zum Werk Thomas Bernhards. Frankfurt am Main u. a. 2000. S. 343. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 55 Oliver Jahraus: Von Saurau zu Murau. Die Konstitution des Subjekts als Geistesmenschen im Werk Thomas Bernhards. In: Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Wissenschaft als Finsternis? Wien u. a. 2002. (= Jahrbuch der Thomas-Bernhard-Privatstiftung 2002). S. 65–82. Hier : S. 73. 56 Hartmut Reinhardt: Das kranke Subjekt. Überlegungen zur monologischen Reduktion bei Thomas Bernhard. In: Germanisch-romanische Monatsschrift NF 26 (1976). S. 334–356. Hier: S. 346.

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Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

Subjektivität bringt die Frage nach der konkreten Form der Ausbildung, Erhaltung und eventuellen Modifizierung von Subjektivität mit sich. Der Ausdruck von Subjektivität erfolgt notwendigerweise medial, also mündlich, schriftlich, elektronisch o. a. vermittelt. Subjektivität medial zu artikulieren, beruht auf einem »starken Begriff des Mediums als Vermittlung«57: Im Dienste der Subjektivität sind Medien nicht nur »bloße[…] Mittel der Information und Kommunikation«58, sondern sie erbringen bzgl. der Formierung von Subjektivität und der Aneignung von Welt gleichermaßen eine wesentliche »Konstitutionsleistung«59. In diesem Verständnis verweist jede Artikulation von Subjektivität sowohl auf ihre Abhängigkeit und Geprägtheit von medialen Bedingungen als auch auf mögliche Rückkopplungen, durch welche das Subjekt wiederum die Medien prägt. Geht man davon aus, dass eine solche Wechselwirkung zwischen Subjektivität und Medialität besteht, ist man auf einen anthropologischen Medienbegriff verwiesen. Der systematische Zusammenhang von Subjektivität und Medialität wirft darüberhinaus die Frage auf, ob und wie Formen des Mediengebrauchs als Praktiken der Subjektivierung zu verstehen sind. Beim genaueren Blick auf Bernhards Künstler- bzw. Dilettantenroman Der Untergeher gilt es demnach folgende Aspekte zu untersuchen: Wie positioniert sich der Text in der Debatte um die Abschaffung bzw. die Re-etablierung des Subjekts im ausgehenden 20. Jahrhundert?60 Welche Wege werden im Umgang mit Subjektivität beschritten, welche Praktiken der Subjekt(um)bildung kommen zur Anwendung? (Wie) Werden die medialen Bedingungen von Subjektivität bzw. die subjektbasierten Bedingungen der Medien thematisiert und reflektiert? (Wie) Treten mediale Praktiken als Praktiken der Subjektivierung in Erscheinung? Auf welche Wissensgebiete und welche Gewährsleute bezieht sich Der Untergeher dabei genau und in welcher Form findet das entsprechende Wissen Eingang in den literarischen Text? Inwiefern sind die Erscheinungsweisen des Dilettantismus im Roman Ausdruck und Folge der Auseinandersetzung mit diesem Wissen? Und schließlich: In welches Verhältnis setzt sich Bernhards Poetik, also die stilistische Gemachtheit von Der Untergeher, zu dem in ihm inhaltlich verhandelten Wissen? Der in Bezug auf Thomas Bernhards Roman Der Untergeher wissensge57 Georg Christoph Tholen: Mit und nach McLuhan. Bemerkungen zur Theorie der Medien jenseits des anthropologischen und instrumentellen Diskurses. In: Derrick de Kerckhove, Martina Leeker und Kerstin Schmidt (Hg.): McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert. Bielefeld 2008. S. 127–139. Hier: S. 133. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Zu den theoretischen Hintergründen und für Untersuchungen an anderen literarischen Beispielen vgl. die Beiträge in: Paul Geyer und Monika Schmitz-Emans (Hg.): Proteus im Spiegel. Kritische Theorie des Subjekts im 20. Jahrhundert. Würzburg 2003.

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schichtlich und konzeptionell relevante Rahmen, in dem diese Fragen beantwortet werden sollen, ist folgender : Ich vertrete die These, dass Der Untergeher anhand seiner drei Protagonisten drei Lebens-Kunst-Modelle durchspielt und auf ihre Tragfähigkeit hin prüft. In Bernhards Text werden gelingendes Künstlertum und gelingendes Leben miteinander verschaltet: An Glenn Gould führt der Text die Variante des doppelten Gelingens vor. Das künstlerische Genie führt ein zufriedenes Leben. Die beiden scheiternden Künstler, Wertheimer und der Erzähler, stehen für zwei unterschiedliche Formen möglicher Lebens-Kunst-Konstellationen. Während Wertheimer zeitlebens Virtuose bleiben/werden will und schließlich den Freitod wählt, vertritt der Erzähler einen programmatischen Dilettantismus, der die Absage an die musikalische Kunst durch die Hinwendung zur Lebenskunst legitimiert. Unmittelbar nach der Einsicht, nicht »der Beste«61 sein zu können, gibt der Erzähler die Künstlerlaufbahn auf und wird zum »Weltanschauungskünstler«62. Befragt man den Text nach möglichen Gründen, warum Glenn sich als Künstler durchsetzt und die beiden anderen nicht, bietet der jeweilige Umgang der drei mit Medien eine Antwort: Während Glenn sich in ein Tonstudio zurückzieht und – historisch betrachtet als einer der ersten Musiker_innen im klassischen Bereich – mit elektronischen Medien experimentiert, verfassen Wertheimer und der Erzähler zahlreiche Manuskripte, sprich: Handgeschriebenes, das jedoch nie in Druck geht.63 Das Verhältnis von Subjektivität und Medialität stellt also nicht nur mit Blick auf Der Untergeher den systematischen Fragehorizont dar, sondern es wird auch auf der inhaltlichen Ebene des Textes explizit thematisiert und im Zeichen der elektronischen Medien neu ausgelotet. Folgende Beobachtung kann also formuliert werden: Sowohl durch den systematisch zu veranschlagenden anthropologischen Medienbegriff, der Subjektivität und Medialität als interdependent 61 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 77. Rainer Barbey vertritt die These, dass dem superlativischen Anspruch des Erzählers Kierkegaards Schrift Die Krankheit zum Tode (1849) zu Grunde läge (vgl. Rainer Barbey : Aut Gould aut nihil. Kierkegaards Krankheit zum Tode im »Untergeher« von Thomas Bernhard. In: Germanic notes and reviews 39 (2008). S. 23–29. Hier : S. 24.). Über den Leitspruch »Der Beste sein oder keiner« schreibt er : »Dieses, dem Wahlspruch Cesare Borgias (»Aut Caesar aut nihil«) nachgebildete Lebensmotto ist nach Kierkegaard jedoch aufgrund der überhöhten Anforderungen, die es an das eigene, notwendig unvollkommene Selbst richtet, als wesentliche Quelle der Krankheit zum Tode anzusehen.« Ebd. S. 26. 62 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 47. Markus Scheffler betitelt sein Kapitel über den Erzähler von Der Untergeher mit »Überleben durch Resignation« und schreibt: »Der Erzähler besitzt die Stärke, die eigene Inferiorität anzuerkennen und deshalb zu kapitulieren.« (Scheffler [Anm. 34]. S. 310) Der jähe Abbruch der Künstlerkarriere sei für den Erzähler folglich »der Ausgang für die Entfaltung einer neuen und unabhängigen Persönlichkeit.« Ebd. S. 311. 63 Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). Z. B. S. 50.

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denkt, als auch von seinen Gegenständen her verweist Bernhards Text auf Theoreme des Medientheoretikers Marshall McLuhan.64 Wenn Bernhard Genialität und Dilettantismus u. a. an der Bereitschaft, elektronische Medien zu nutzen, voneinander scheidet und die Genieposition mit Glenn Gould besetzt, legt er – explizit und unübersehbar – eine Spur zum historischen Glenn Gould, der 1982, im Jahr vor der Publikation von Der Untergeher, verstorben ist. In diese Spur ist ebenfalls ein Bezug zu Marshall McLuhan eingeschrieben: Gould und McLuhan waren zeitweilig Nachbarn in Toronto, haben sich gegenseitig über ihre Arbeiten informiert und in ihren jeweiligen Schriften sind explizite wechselseitige Bezugnahmen zu finden.65 Neben der oben genannten Reflexion des Wechselverhältnisses von Subjektivität und Medien/Medialität, die Der Untergeher vornimmt, eröffnet der Text durch die Gegenüberstellung der Nutzung elektronischer Medien (Glenn) und des Schreibens von Manuskripten (Wertheimer, Erzähler) unter einem weiteren Gesichtspunkt die Möglichkeit, ihn erstmals vor dem Hintergrund des McLuhanschen Theoriegebäudes zu lesen. Für den übergeordneten Zusammenhang heißt das: Die seit dem 18. Jahrhundert etablierte und in der Folge regelmäßig neu diskutierte Opposition von Genialität und Dilettantismus erfährt in Der Untergeher eine postmoderne

64 Zu McLuhans anthropologischem Medienverständnis vgl. Jens Schröter : Von Heiß/Kalt zu Analog/Digital. Die Automation als Grenze von McLuhans Medienanthropologie. In: Derrick de Kerckhove, Martina Leeker und Kerstin Schmidt (Hg.): McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert. Bielefeld 2008. S. 304–320. Hier : S. 305. 65 Vgl. z. B. Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 210, Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle (= Understanding media [1964]). Aus dem Englischen von Meinrad Amann. Düsseldorf/ Wien 1968. S. 39, Bruce R. Powers: Vorwort. In: Marshall McLuhan und Bruce R. Powers: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen und mit einem Beitrag versehen von Claus-Peter Leonhardt. Mit einer Einleitung von Dieter Baacke. Paderborn 1995. S. 15–21. Hier : S. 19, Glenn Gould: Sollen wir die raren Romantiker ausgraben? … Nein, die sind bloß ’ne Masche [1969]. In: Glenn Gould. Von Bach bis Boulez. Schriften zur Musik I. Hg. und eingeleitet von Tim Page. Aus dem Amerikanischen von Hans-Joachim Metzger. München/Zürich 1986 [orig. 1984]. S. 114–119. Hier: S. 116. Auf McLuhans Gutenberg-Galaxis nimmt Gould Bezug in: Glenn Gould interviewt Glenn Gould über Glenn Gould [1974]. In: Glenn Gould. Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II. Hg. und eingeleitet von Tim Page. Aus dem Englischen von Hans-Joachim Metzger. München/Zürich 1987 [engl. 1984]. S. 107–126. Hier: S. 120. Über »Professor McLuhans Konzept des ›globalen Dorfes‹« schreibt Gould in: Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung [1966]. In: Glenn Gould. Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II. Hg. und eingeleitet von Tim Page. Aus dem Englischen von Hans-Joachim Metzger. München/Zürich 1987 [engl. 1984]. S. 129–160. Hier: S. 155. Dies sind nur ausgewählte Beispiele, die sich ergänzen ließen. Marshall McLuhan wiederum vertritt die Ansicht: »Zwei der besten Showsendungen, die je von der CBC gesendet wurden, waren die von Glenn Goulds Aufnahmeverfahren bei Klavierkonzerten und Igor Strawinsky bei der Probenarbeit mit dem Sinfonieorchester Toronto an einem seiner neuen Werke.« McLuhan: Die magischen Kanäle. S. 39.

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medientheoretische Revision, die sich wiederum in der literarischen Darstellung bestimmter Medienpraktiken artikuliert. Wenn der Erzähler – das war der erste Aspekt der Gegenüberstellung – das Gelingen seines Lebens trotz des Scheiterns seiner Künstlerlaufbahn mit seiner Fähigkeit, sich selbst als Einmaligkeit und als Kunstwerk betrachten zu können, begründet,66 schaltet er sich in die zeitgenössische Diskussion über die Bedingungen und Möglichkeiten eines gelingenden Lebens(vollzugs) ein. Diese Debatte wird in den 1980er Jahren sehr breit und auf unterschiedlichsten Ebenen geführt: Im selben Jahr wie Bernhards Roman Der Untergeher ist beispielsweise Paul Watzlawicks ironisch-populärwissenschaftliche Anleitung zum Unglücklichsein erschienen. Die Pointe im vorliegenden Zusammenhang besteht darin, dass Watzlawick die Fähigkeit zum Unglücklichsein anhand der Unterscheidung zwischen Könner_innen und Dilettant_innen darstellt. Watzlawick arbeitet das gesamte Paradigma der Genie-Dilettant-Unterscheidung durch: Es ist die Rede vom »Naturgenie«, vom »Könner« und von »Genialität«.67 Der Gegenüberstellung von »Nur wenigen ganz großen Könnern« und dem »Durchschnittsmensch[en]«68 folgt die Verschwisterung mit den Leser_innen zum Kollektiv »Wir Minderbegabte«.69 Außerdem treten auf den Plan: der »Unglücksexperte«, »naturbegabte Spezialisten«, »wirklich begabte Unglücksaspiranten«, »Traurigkeitsexperten« sowie »weniger talentierte[…] Praktikantinnen«.70 Mit Bernhards Roman teilt Watzlawicks Ratgeber die Überlagerung von Lebenskunst und Genialität bzw. Dilettantismus. Diese übergeordnete Signatur teilt außerdem Michel Foucaults gleichzeitig entstehendes Spätwerk mit Der Untergeher (und mit Watzlawicks Ratgeber). Mit seiner Lebenskünstlerschaft schließt der Erzähler nämlich diskursiv an Foucaults Überlegungen zu einer »Reproblematisierung«71 antiker Selbstsorgekonzepte für die Zeit um 198072 an. 66 Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 83f. 67 Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein. München 1983 (19. Auflage 1999). S. 20, S. 26 und S. 27. 68 Ebd. S. 54f. 69 Ebd. S. 55. 70 Ebd. S. 66, S. 81, S. 83, S. 92 und S. 111. 71 Michel Foucault: Zur Genealogie der Ethik. Ein Überblick über die laufende Arbeit. In: Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. von Daniel Defert und FranÅois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Übersetzt von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Frankfurt/M. 2007. S. 191–219. Hier: S. 194. 72 Zu den Möglichkeiten und Formen eines Produktivmachens antiker Selbstsorgekonzepte für die Postmoderne vgl. Michel Foucault: Die Sorge um die Wahrheit. In: Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. von Daniel Defert und FranÅois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Übersetzt von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Hans-Dieter Gondek und Hermann

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Die Veröffentlichung von Der Untergeher fällt just in den Zeitraum, in dem Michel Foucault sein letztes großes Theorieprojekt zu Fragen einer ›Hermeneutik des Subjekts‹ und einer ›Ästhetik der Existenz‹ bearbeitete.73 Ein zentraler Stellenwert kommt hier den Techniken des Selbst zu, denjenigen Aktivitäten, bei welchen man selbst zugleich Ziel, Handlungsfeld, Mittel und handelndes Subjekt ist.74 Mit der Lebenskunst als Glücksrezept vertritt der Erzähler einen Ansatz, der den Anspruch auf ästhetische Leistungen nicht völlig aufgibt, sondern ihn auf einen anderen Gegenstand bezieht als zuvor : Nicht mehr die Musik, sondern das eigene Leben will er als Künstler gestalten. Indem der Erzähler seine VirtuoKocyba. Frankfurt/M. 2007. S. 226–238. Hier: S. 233 und S. 234, Foucault: Zur Genealogie der Ethik [Anm. 71]. S. 194, S. 198 und S. 200f, Michel Foucault: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit. In: Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. von Daniel Defert und FranÅois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Übersetzt von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Frankfurt/M. 2007. S. 253–279. Hier: S. 271. Foucault ist in diesem Punkt sehr kontrovers rezipiert worden. Die Positionen reichen von der Annahme einer tatsächlichen Reaktualisierung antiker Selbstsorgekonzepte für die Postmoderne bis hin zu vehementen Ablehnungen dieser Rezeptionslinie. Vgl. dazu Andreas Reckwitz: Subjekt. Bielefeld 2008. S. 39, Lothar Wolfstetter : Foucaultiade. Foucaults aktualisierende Transformation der antiken Philosophie in eine Subjekttheorie. In: Michel Foucault: Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982. Hg., eingeleitet und übersetzt von Helmut Becker u. a. 2. Auflage. Frankfurt 1993. S. 61–72, Clemens Kammler und Gerhard Plumpe: Antikes Ethos und postmoderne Lebenskunst. Michel Foucaults Studien zur Geschichte der Sexualität. In: Philosophische Rundschau 34 (1987). S. 186–194. Hier: S. 188, Pierre Hadot: Überlegungen zum Begriff der »Selbstkultur«. In: FranÅois Ewald und Bernhard Waldenfels (Hg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Frankfurt/M. 1991. S. 219–228. Hier: S. 221, Wolfgang Kersting: Einleitung: Die Gegenwart der Lebenskunst. In: ders. und Claus Langbehn (Hg.): Kritik der Lebenskunst. Frankfurt/M. 2007. S. 10–88. Hier: S. 22, Francisco Ortega: Michel Foucault. Rekonstruktion der Freundschaft. München 1997. S. 10, Martin Saar : Die Form des Lebens. Künste und Techniken des Selbst beim späten Foucault. In: Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. von Daniel Defert und FranÅois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Übersetzt von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Frankfurt/M. 2007. S. 319–343. Hier : S. 322, Martin Saar : Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt/M./New York 2007. S. 250 sowie Tanja Prokic´ : Kritik des narrativen Selbst. Von der (Un)Möglichkeit der Selbsttechnologien in der Moderne. Eine Erzählung. Würzburg 2011. S. 157. 73 Die Vorlesungen zur »Hermeneutik des Subjekts« am CollHge de France hielt Michel Foucault 1981/82, unter dem Titel Ästhetik der Existenz wurden 1984 einige Schriften Foucaults zu Selbstverhältnissen und Selbsttechniken gesammelt publiziert. Thomas Bernhards Roman Der Untergeher erschien zur selben Zeit, nämlich 1983. 74 Vgl. Michel Foucault: Subjektivität und Wahrheit. In: Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. von Daniel Defert und FranÅois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Übersetzt von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Frankfurt/M. 2007. S. 74–80. Hier: S. 74.

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senlaufbahn abbricht, also kein Künstler im engen Sinn mehr sein will, praktiziert er einen programmatischen Dilettantismus, der ihm die Option auf Glück/ Erfolg/Gelingen als Lebenskünstler eröffnet.75 Nach Michel Foucault besteht die Kunst der Existenz im Wissen darum, wie man sein Leben führen sollte, um ihm die ›schönstmögliche‹ Gestalt zu geben.76 Lebenskunst ist eine Praxis des Selbst, die das Ziel hat, »sich selbst als Arbeiter an der Schönheit seines eigenen Lebens herauszubilden.«77 Die Ästhetik der Existenz und die Aufforderung, aus dem eigenen Leben ein Kunstwerk zu machen, haben jedoch nichts mit physischer Schönheit oder einem schönen Schein zu tun, sondern meinen das Ausüben bestimmter Praktiken, nämlich die konkrete, praktische Sorge um das eigene Leben.78 Sorge für das eigene Leben zu tragen, erfordert die Anwendung einer »Technologie des Selbst«, nämlich »das Nachdenken über Lebensweisen, die Wahl einer Lebensform, die Regulierung des eigenen Verhaltens, die Selbstzuweisung von Zielen und Mitteln«.79 Foucault spricht von Technologien des Selbst, die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt.80

Zu den von Foucault beschriebenen Technologien des Selbst gehört neben dem akribischen Erfassen und Protokollieren der eigenen Körperverfassung(en) eine eingehende geistige Selbstreflexion. Die ständige Selbstbeobachtung dessen, was man denkt, was in diesem Denken geschieht und wie es vor sich geht, ist eine Art der Selbstbezugnahme, die Foucault zu den Praktiken der Subjektivität rechnet.81 Dieses als epimeleia bezeichnete Verhalten »ist eine Weise der Selbstbe75 Ein Echo findet diese Art der Selbstpositionierung auch bei den »genialen Dilletanten«. Deren Losung lautet: »Wer den Gedanken des Dilletantismus richtig verstanden hat, kann niemals ein ernsthafter Musiker werden, das wäre ja der Tod selbst.« Wolfgang Müller: Die wahren Dilletanten. In: ders. (Hg.): Geniale Dilletanten. Berlin 1982. S. 9–16. Hier : S. 14. 76 Vgl. Michel Foucault: Die Sorge um die Wahrheit (Anm. 72). S. 230. 77 Ebd. 78 Vgl. Josef Früchtl: Was heißt es, aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen? Eine Antwort mit Foucault. In: Andreas Kuhlmann (Hg.): Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne. Frankfurt/M. 1994. S. 278–306. Hier: S. 286f. 79 Foucault: Subjektivität und Wahrheit (Anm. 74). S. 76. 80 Michel Foucault: Technologien des Selbst. In: Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. von Daniel Defert und FranÅois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Übersetzt von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Frankfurt/M. 2007. S. 287–317. Hier: S. 289. 81 Diese »gewisse Art, auf das zu achten, was man denkt und was sich im Denken abspielt«, ist laut Foucault ein Aspekt der Selbstsorge (Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am CollHge de France (1982). Nachschrift und Übersetzung von Helmut Becker in

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handlung, mit der man sich selbst verpflichtet, reinigt, transformiert und modifiziert.«82 Ihren Ausdruck findet diese intensive Selbstreflexion seit ihrer Blütezeit in der Antike im Schreiben,83 genauer : in der »Selbstverschriftung«84. Diese Art des Schreibens erfüllt, so Foucault, »eine ethopoetische Funktion«85, d. h. sie »dient der Umgestaltung und der Disziplinierung des schreibenden Subjekts.«86 Der prominente Status, den die diversen Schreibprojekte in Der Untergeher einnehmen, macht die Relevanz des Themas Medialität in diesem Roman evident. Dass das Über-sich-selbst-Schreiben zu den Technologien des Selbst zählt, perspektiviert den Komplex Selbstsorge/Lebenskunst auf den Aspekt Medialität.

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Zusammenarbeit mit Lothar Wolfstetter. In: Michel Foucault: Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982. Hg., eingeleitet und übersetzt von Helmut Becker u. a. 2. Auflage. Frankfurt 1993. S. 32–60. Hier : S. 32.). Konkret führt Foucault Meditation, Gewissensprüfung und Verifikationstechniken als Praktiken der Subjektivität an (vgl. ebd. S. 33). Vgl. dazu auch Helmut Becker : Einleitung in Michel Foucaults »Hermeneutik des Subjekts«. In: Michel Foucault: Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982. Hg., eingeleitet und übersetzt von Helmut Becker u. a. 2. Auflage. Frankfurt 1993. S. 29–31. Ebd. S. 30. Vgl. auch Foucaults Verständnis von Askese: Diese ist die »Einwirkung des Subjekts auf sich selbst, durch die man versucht, sich selbst zu bearbeiten, sich selbst zu transformieren und zu einer bestimmten Seinsweise Zugang zu gewinnen.« Foucault: Die Ethik der Sorge um sich (Anm. 72). S. 254. »Das Schreiben war […] bedeutsam in einer Kultur der Sorge um sich selbst« (vgl. Foucault: Technologien des Selbst [Anm. 80]. S. 297), schreibt Foucault und bezieht sich damit auf die Antike. »Im hellenistischen Zeitalter verbündete sich die Sorge um sich selbst mit unablässiger Schreibtätigkeit.« (ebd. S. 298) Im Fall der antiken hyponÞmata diente die schriftliche Fixierung dazu, »die in Lehrgesprächen vermittelten, gehörten oder gelesenen Logosfragmente festzuhalten und diese Sammlung zu einem Instrument der Herstellung einer möglichst angemessenen und vollkommenen Beziehung zu sich selbst zu machen.« (Michel Foucault: Über sich selbst schreiben. In: Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. von Daniel Defert und FranÅois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Übersetzt von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Frankfurt/M. 2007. S. 137–154. Hier: S. 142.) Tanja Prokic´ hat dargelegt, dass im Mittelpunkt der antiken Selbsttechniken (noch) kein reflexives Selbst stand. Die Techniken dienten dem Subjekt dazu, sich zu bemeistern, die Triebe zu kontrollieren etc. Es ging also darum, sich zu universalisieren und nicht um Individualisierung (vgl. Prokic´ [Anm. 72]. S. 157). Eine von überlieferten ›Logosfragmenten‹ unabhängige Individualität ist, so die gängige Ansicht, eine Erfindung aus der Zeit um 1800 (vgl. ebd. S. 9). Das von der Schriftlichkeit angeregte Differenzierungsbedürfnis, welches später den Keim des Individualitätsgedankens bildet (vgl. Sven Grampp: Marshall McLuhan. Eine Einführung. Konstanz/München 2011. S. 107.), lebt der Erzähler in seiner Glennschrift intensiv aus. Diese historische Differenz gilt es bei der postmodernen schreibenden Selbstsorge des Erzählers zu berücksichtigen. Maria Moog-Grünewald: Vorbemerkung. In: dies. (Hg.): Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge. Heidelberg 2004. S. vii–xv. Hier: S. x. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Foucault: Über sich selbst schreiben (Anm. 83). S. 140. Christian Moser : Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne. Tübingen 2006. S. 9.

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Wichtig ist zu betonen, dass Michel Foucault den Zusammenhang von Medialität und Subjektivität grundsätzlich anders denkt als der hier ebenfalls zentrale Marshall McLuhan. McLuhan ordnet einen negativ verstandenen Individualismus der Buchdruckkultur zu87 und will diesen durch die Errungenschaften des elektronischen Zeitalters wieder abgeschafft wissen. Diese Hoffnung McLuhans beruht auf dessen These, »dass Elektrizität das Medium ist, das dazu fähig ist, den Planeten zu umspannen und alles zu durchdringen. Dadurch implodieren die verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Erde, und Kulturen prallen aufeinander.«88 Was bei McLuhan das angestrebte Ziel darstellt, bildet bei Foucault die Voraussetzung seines Subjektbegriffs: Entgrenzung. Foucault geht von einer prinzipiellen Entgrenztheit des Subjekts aus, welches in Diskursen sich überhaupt erst formiert, dem Diskurs also grundsätzlich nachgängig ist. Für den hier vorliegenden Zusammenhang bedeutet dies, dass die Schreibprojekte des Erzählers auf die mediale Spezifik der in ihnen vorgenommen Subjektkonstitution zu prüfen und in ein Verhältnis zu Glenns Entgrenzung seines Selbst in die elektronischen Medien zu setzen sind. Im Folgenden werde ich zunächst erstens skizzieren, auf welche Weise Subjektivität in Der Untergeher thematisiert und reflektiert wird. Zweitens werde ich die verschiedenen Lebens-Kunst-Modelle, die in Der Untergeher durchgespielt werden, auf die Dimensionen Körper und Geist vermessen sowie die entsprechenden körperlichen und intellektuellen Praktiken auf eine mögliche Einbettung in ein Selbstsorgeprogramm befragen. Von dem zu beobachtenden Zusammenhang von Subjektivität und Medialität ausgehend, wird drittens Marshall McLuhans These, die elektronischen Medien brächten den (bei ihm negativ konnotierten) Individualismus zu Fall und begünstigten kollektive Lebens- und Wahrnehmungsformen, in diesen Zusammenhang eingespeist und auf einen möglichen Mehrwert für die Textinterpretation untersucht werden. Bernhards Text, in dem mehrfach von Glenns »Kunstauffassung«89 die Rede ist, soll schließlich viertens mit den musiktheoretischen Schriften des historischen Glenn Gould in einen Dialog gebracht werden. Dabei gilt es zu prüfen, wie sich die Poetologie des Romans zu Goulds Aussagen über die kreative Rolle der Zuhörer_innen, seine Idee eines kollektiven Schöpfungsprozesses und seine

87 Von anderen Theoretiker_innen werden auch positive Interpretationen dieses Zusammenhangs vorgenommen, die sich bspw. in der These verdichten: Es gibt »keine Innerlichkeit ohne die Drucktechnik.« Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München/Wien 1986. S. 10. 88 Derrick de Kerckhove: Vorwort. Alors, McLuhan? Toujours mort? In: ders., Martina Leeker und Kerstin Schmidt (Hg.): McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert. Bielefeld 2008. S. 9–17. Hier: S. 10f. 89 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 13.

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Negierung der Kategorien Originalität, Erfindung u. a. verhält und welche Schlüsse daraus für das Thema Dilettantismus im Allgemeinen zu ziehen sind. Zusammengefasst: Die Selbstsorgephilosophie Michel Foucaults, die Medientheorie Marshall McLuhans und die Musiktheorie Glenn Goulds fungieren in Bezug auf Der Untergeher als historische, wissensgeschichtliche Dokumente und damit als diskursive Anschlussstellen für Thomas Bernhards Schreiben in den 1980er Jahren, insbesondere für seinen Künstlerroman Der Untergeher. Gould, Foucault und McLuhan stellen das (zeitgenössische) Wissen bereit, auf das sich Der Untergeher im Modus des Fiktiven literarisch bezieht und dabei eine eigene Position zum Wechselverhältnis von Subjektivität, Medialität, Selbstsorge und Künstlerschaft bzw. Dilettantismus entfaltet. Diese Position soll nun nachvollzogen und diskutiert werden.

I.

(künstlerische) Subjektivität: Ich rede/schreibe/spiele (nicht), also bin ich (nicht)

Etymologisch betrachtet, ist das »Subjekt« das zugrunde Liegende oder das Unterworfene. Während beispielsweise der Idealismus im 18. Jahrhundert auf die erste Bedeutung setzt, stützt sich die Postmoderne im späten 20. Jahrhundert – so wird gemeinhin behauptet – auf die zweite.90 Zugleich fällt in Bernhards, zeitlich in der Postmoderne situierten Texten aber »die fundamentale Präsenz des Ich«, v. a. in der Gestalt von »[m]onomanische[n] Solipsisten« auf.91 Oliver Jahraus hat als Bernhards »Textkonstitutionsprinzip« den Prozess, »in dem Figuren mit ihrer Rede versuchen, sich selbst als Subjekte […] kommunikativ zu prozessieren«, ausgemacht: »Je besser es den Figuren gelingt, ihre Kommunikation zur Rede des Textes zu machen, desto besser gelingt es ihnen auch, sich als Subjekt zu etablieren und zu behaupten.«92 Wenn Redenkönnen Subjekt90 Vgl. Peter V. Zima: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen/Basel 2000. S. 3. Michel Foucault schreibt 1982: »Das Wort ›Subjekt‹ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist. In beiden Fällen suggeriert das Wort eine Form von Macht, die unterjocht und unterwirft.« Michel Foucault: Subjekt und Macht. In: Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. von Daniel Defert und FranÅois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Übersetzt von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Frankfurt/M. 2007. S. 81–104. Hier: S. 86. 91 Fuest (Anm. 54). S. 340f. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 92 Jahraus: Von Saurau zu Murau (Anm. 55). S. 71. (Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.) Es ist den Geistesmenschen dann umso besser gelungen, »ihren Subjektkonstitutionsprozeß kommunikativ und somit ihren Selbstentwurf voranzutreiben, je deutlicher ihre

(künstlerische) Subjektivität

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werden heißt, bedeutet die Möglichkeit bzw. Fähigkeit zu reden auch die potentielle Aufhebung des Status des Unterworfenseins, den die postmoderne Theorie dem Subjekt attestiert. Zur Diskussion um die Abschaffung und Neuinstallierung des Subjekts im ausgehenden 20. Jahrhundert leistet Bernhard also einen Beitrag u. a. in Form der Redeweisen, mit welchen er seine Figuren ausstattet. In Der Untergeher liegt folgende Konstellation vor : Nach dem Tode Wertheimers, dessen Begräbnis die Erzählgegenwart des Romans markiert, reflektiert der Erzähler als einziger Überlebender der drei Freunde deren wechselseitige Verhältnisse, ihre jeweiligen Lebens- und Kunstkonzepte etc. Der Erzähler ist die Stimme des Textes, er vergegenwärtigt sich aber durchgehend die Reden Wertheimers und Goulds und rahmt diese mit seinen eigenen Kommentaren, Einschätzungen, Relativierungen und Negierungen.93 Der Erzähler prozessiert folglich seine Subjektivität in seiner Rede, außerdem werden »[d]as gewachsene Selbstbewusstsein und die Durchsetzungskraft der Erzählers […] auch daran deutlich, daß er ohne Vermittlung durch einen […] Herausgeber oder durch einen weiteren Erzähler zum Leser spricht«94. Die Erzählanlage von Der Untergeher kann somit als Ausdruck der gelungenen Subjektkonstitution des Erzählers betrachtet werden.95 In deren Vollzug wird er zum sprachmächtigen Subjekt, das sich in Abgrenzung zu und Identifizierung mit den beiden anderen selbst definiert. »Bernhards Beitrag zur literarischen Subjekttheorie im Zeitalter der Postmoderne«96 besteht nach Oliver Jahraus darin, die Erkenntnis der Postmoderne, dass die klassische Subjekttheorie immanente Widersprüche enthalte, literarisch umzusetzen. Einer dieser Widersprüche drückt sich in dem Gedanken aus, dass Subjektivität unbegründbar, zugleich aber auch unver-

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Rede über sich selbst mit der Rede des Textes, deren Gegenstand sie ist, zur Deckung kommt.« Ebd. S. 76. Beispiele dafür sind die folgenden Passagen: »Wertheimer war immer langsamer, nie so entschieden in den Entscheidungen wie ich, er hat sein Klaviervirtuosentum erst Jahre nach mir auf den Abfallhaufen geworfen und zum Unterschied von mir, es nicht und niemals überwunden, immer wieder hörte ich ihn jammern, er hätte das Klavierspiel nicht aufgeben sollen, es weitermachen sollen, ich sei zu einem gewissen Grad der Schuldige, immer sein Vorbild in wichtigen Fragen gewesen, in Existenzentscheidungen, so er einmal, dachte ich, als ich ins Gasthaus eintrat.« (Bernhard: Der Untergeher [Anm. 31]. S. 16f) Oder : Glenn »habe sich in seinem Haus verrammelt. Auf lebenslänglich. […] Alle drei waren wir die geborenen Verrammelungsfanatiker. Glenn aber hatte seinen Verrammelungsfanatismus am weitesten vorangetrieben.« Ebd. S. 19. Scheffler (Anm. 34). S. 298. Willi Huntemann spricht vom »Erzählmodell einer dialektischen Imagination«: »Das gescheiterte Selbst wird in der Konstruktion des protokollierenden, erinnernden Selbst als erzähllogisch übergeordneter Instanz aufgehoben und tendenziell überwunden.« Willi Huntemann: »Treue zum Scheitern«. Bernhard, Beckett und die Postmoderne. In: Text + Kritik 43 (1991): Thomas Bernhard. S. 42–74. Hier : S. 50. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Jahraus: Von Saurau zu Murau (Anm. 55). S. 73.

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zichtbar sei. Subjektivität werde daher als »Prozeß der Selbst-Instantiierung und gleichzeitigen Selbst-Verwerfung« sichtbar, das Subjekt erscheine als »Instanz und gleichzeitig [als] seine eigene Infragestellung.«97 In Der Untergeher artikuliert sich dieser Widerspruch in der Gleichzeitigkeit von Selbstsetzung qua Rede und Selbsthinterfragung qua sprachlichen Vergleichs mit Glenn und Wertheimer sowie in zahlreichen Selbstnegationen. »Ich bin absolut kein Klaviervirtuose, sagte ich [= der Erzähler] mir, ich bin kein Interpret, ich bin kein reproduzierender Künstler. Überhaupt kein Künstler.«98 Dieser Art Selbstbestimmung durch Negation(en) steht die Selbstsetzung durch Rede gegenüber. Als formale Entsprechung der Selbstsetzung durch Rede gilt – auch und vor allem bei Bernhard – der Monolog. Monologische Figurenreden werden – auch in der Prosa – als »Ausdruck des Kampfs um die eigene Subjektivität«99 gedeutet und »[i]ndem der Monolog beispielhaft die Problematik von Selbstvermittlung aufzeigt, rückt er in den Horizont der Frage nach der Subjektivität.«100 Die monologische Figurenrede stellt nicht nur »eine subjektive Weltansicht« dar, sondern bringt vor allem die Bedingungen in den Blick, »unter denen Subjektivität sich als reflektierter Weltbezug herzustellen trachtet, und [gestaltet] die Störungen […], die in diese Selbstvermittlung eingreifen können.«101 Gleichwohl ist die monologische Rede per definitionem eine einseitige Kommunikationsform, die im Hinblick auf die Herstellung von Subjektivität nicht selten als insuffizient erachtet wird.102 Hinsichtlich Der Untergeher ist nun interessant, dass die Herausbildung von Subjektivität zwar in der Form des Monologs erfolgt, aber andere Subjekte als Identifikations- (meist Glenn) und Abgrenzungsfiguren (meist Wertheimer) zum Gegenstand hat.103 Parallelen zwischen dem Erzähler und Wertheimer werden formal u. a. dadurch angezeigt, dass hinter zahlreiche Selbstaussagen des Erzählers ein »wie auch Wertheimer« o. ä. in Klammern gesetzt wird.104 Vor allem im Hinblick auf das musikalische Talent stellt der Erzähler zwar eine Ebenbürtigkeit zwischen Wertheimer und sich fest: 97 98 99 100 101 102

Ebd. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 11. Jahraus: Von Saurau zu Murau (Anm. 55). S. 73. Reinhardt (Anm. 56). S. 342. Ebd. S. 345. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Vgl. Jahraus: Von Saurau zu Murau (Anm. 55). S. 75. Dort heißt es: »Kommunikation in Form des Monologes wird zur Form, in der die Geistesmenschen ihre Subjektivität defizitär prozessieren.« 103 Natalie Binczek hat drei Modelle benannt, anhand derer der Erzähler die Dreier-Konstellation reflektiert: Das graduelle Modell mit den Positionen gut (Wertheimer), besser (Erzähler), am besten (Glenn) oder das Pyramidenmodell mit Glenn als Spitze, dem Erzähler als Mitte und Wertheimer als Boden. Zuweilen wird aber auch eine Gleichheit zwischen dem Erzähler und Wertheimer behauptet, die dann in eine Opposition zu Glenn gesetzt wird. Vgl. Binczek (Anm. 46). S. 226f. 104 Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). Z. B. S. 12.

(künstlerische) Subjektivität

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»Wertheimer und ich waren gleich gut«105 ; streng grenzt er jedoch seine »rechtzeitig[e]« Einsicht, seinen superlativischen Anspruch nicht einlösen zu können, von Wertheimers »jahrelang[er]« Selbsttäuschung in diesem Punkt ab. Die Abstoßung seines Klaviers wird zum Sinnbild dieser Einsicht: Ich sei rechtzeitig zur Überzeugung gekommen, daß ich nicht für eine Virtuosenlaufbahn geeignet sei, […] da ich in allem immer nur das Höchste wolle, müsse ich mich von meinem Instrument trennen, denn auf ihm erreichte ich mit Sicherheit […] nicht das Höchste[.] […] Wertheimer hatte aber noch jahrelang, nachdem ich meinen Steinway an die Lehrertochter verschenkt hatte, Klavier gespielt, weil er noch jahrelang geglaubt hat, Klaviervirtuose werden zu können.106

In der Wahrnehmung des Erzählers unterscheiden sich er selbst und Wertheimer nicht im musikalischen Talent, wohl aber im Vermögen, die Grenzen dieses Talents erkennen zu können. Derjenige, an dem sich diese Grenzen bemessen, ist Glenn Gould: Als wir den Unterricht bei Horowitz beendet hatten, war es klar, daß Glenn schon der bessere Klavierspieler war als Horowitz selbst, plötzlich hatte ich den Eindruck gehabt, Glenn spiele besser als Horowitz, und von diesem Augenblick an war Glenn der wichtigste Klaviervirtuose der ganzen Welt für mich.107

Die Schlussfolgerung des Erzählers ist so weitreichend wie konsequent: »Ich hätte besser spielen müssen als Glenn, das war aber nicht möglich, war ausgeschlossen, also verzichtete ich auf das Klavierspiel.«108 Anders formuliert: »Wenn wir dem Ersten begegnen, müssen wir aufgeben, dachte ich.«109 Im Vergleich mit Glenn ist das musikalische Talent ein Marker von Differenz. Die Teilnahme an Horowitz’ Meisterklasse versetzt die Protagonisten gewissermaßen in ein Panoptikon und begründet eine enge Freundschaft, die den Charakter einer wechselseitigen Beobachtungskonstellation hat. Die Seh-Logik dieses Disziplinierungsmodells beinhaltet Strukturen, die auch für die Subjektbildung relevant sind: In einer – noch dazu in der Institution des Mozarteums herausgebildeten – Beobachtungs- und Vergleichsdynamik erweist sich Individualisierung […] als Resultat bestimmter sozialer Fremd- und Selbstbeobachtungstechnologien […]. Der Einzelne wird im Rahmen der Disziplinarinstitutionen

105 Ebd. S. 8. Ironischerweise sehen Wertheimer und der Erzähler ihr überdurchschnittliches Talent gerade darin manifestiert, dass sie Glenns Genie erkennen – im Gegensatz zu den Kommilitonen, die ungeachtet dessen trotzdem Virtuosen werden. Vgl. Steingröver: »Der Hellsichtigste aller Narren« (Anm. 47). S. 83. 106 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 10 und S. 11. 107 Ebd. S. 7f. 108 Ebd. S. 11. 109 Ebd. S. 12.

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beständig einem Vergleich mit den anderen ausgesetzt, der die graduellen Unterschiede, damit Besonderheiten zwischen den Subjekten herausarbeitet[.]110

Das ständige Sich-Vergleichen der Protagonisten in Der Untergeher wird vor diesem Hintergrund als Praktik der Subjektivierung lesbar. Zum einen entsteht Subjektivität über den Weg einer Markierung von Differenzen gegenüber einem Anti-Subjekt.111 »Das Subjekt positioniert und bildet sich über Ausschließungsverfahren gegenüber unerwünschten Eigenschaften.«112 Die Differenzmarkierung kann in Praktiken implizit betrieben oder – wie in der monologischen Rede des Erzählers – in Diskursen expliziert werden. »Identität stellt sich damit als Kehrseite der Differenzmarkierung dar : Identität ist […] als die spezifische Form des Selbstverstehens, der Selbstinterpretation zu begreifen«113. Die Selbstinterpretation des Erzählers von Der Untergeher erfolgt außerdem entlang seiner Übereinstimmungen mit Glenn. Zentral ist dabei die gemeinsame »Kunstauffassung«: Wir hatten uns gleich verstanden, das muß ich sagen, vom ersten Augenblick an angezogen von unseren Gegensätzen, die tatsächlich die entgegengesetztesten waren in unserer selbstverständlichen gleichen Kunstauffassung.114

Hier ist von Bedeutung, dass – wie bereits erwähnt – die monologische Rede des Erzählers von Glenn- und Wertheimer-Zitaten durchsetzt ist: Aus ihm sprechen (auch) andere. Dies kann man als Verzicht auf individuelle Rede interpretieren und diesen Verzicht als Reaktion auf den (philosophisch begründeten) Verlust des Subjekts einordnen.115 Ich möchte dagegen eine Lesart vorstellen, welche die Frage nach der Subjektivität mit dem Prinzip der Medialität verschränkt. Dass aus dem Erzähler immer auch Glenn und/oder Wertheimer sprechen, lässt sich nämlich als Spiel mit der Vermittlerposition des Erzählers und der Medialität von Literatur allgemein sowie als Reflexion auf die medialen Experimente – sprich: die Kunstauffassung – Glenn Goulds im Besonderen lesen. Der Roman Der Untergeher hat u. a. die so genannte »Glennschrift«116 zum

110 Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2010. S. 33f. 111 Die allgemeine Ansicht, Subjektivität konstituiere sich in einem abgrenzenden Ich-Andere/r-Verhältnis gilt in der Postmoderne in radikaler Weise. Aus diesem Grund ist nicht die Rede von der Abgrenzung zu jemand Anderem, sondern zu einem Anti-Subjekt. Zu den spezifischen Zuschreibungen an ›Anti-Subjekte‹ in der Postmoderne vgl. Anm. 215. 112 Reckwitz: Das hybride Subjekt (Anm. 110). S. 45. 113 Ebd. 114 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 13. 115 Vgl. Gudrun Kuhn: »Ein philosophisch-musikalisch geschulter Sänger«. Musikästhetische Überlegungen zur Prosa Thomas Bernhards. Würzburg 1996. S. 98. 116 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 68.

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Thema. Diese kann neben der monologischen Rede als weiteres Medium der Subjektivierung für den Erzähler gelten. Sie enthält ein kreatives Moment, denn das Zurecht-Schreiben des Erzählers, also sein Versuch, das eigene Ich der Vergangenheit in entscheidenden Punkten zu negieren und gemäß dem eigenen Willen […] darzustellen, steht im Dienste der gleichzeitigen Erschaffung eines neuen Selbstbildes.117

In dieser Perspektive ist das Schreiben nicht nur ein Sich-frei-Schreiben von Wertheimer und Glenn, sondern auch ein Akt der Neubestimmung bzw. -definition des eigenen Selbst.118 Gleichwohl ist diese Form der Selbst-Bestimmung des Erzählers an die Um-Schreibung der Freunde gebunden.119 Während der Erzähler im Medium der mündlichen Rede120 und der Schrift – konkret in den Texten Versuch über Glenn und Über Glenn Gould – seine und seiner Freunde Standortbestimmung vornimmt, wird Wertheimer zum »Aphorismenschreiber«121. Glenn dagegen verweigert sich der Schrift grundsätzlich.122 Dies bedeutet jedoch nicht, dass er sich keine Rechenschaft über sich selbst ablegen würde. Anders als der Essayist (Erzähler) und der Aphorismenschreiber (Wertheimer) reflektiert sich das Genie Glenn als Künstler. Mangelnde künstlerische Selbstreflexion gilt ihm umgekehrt als ein Indiz für Dilettantismus: Die meisten selbst allerberühmtesten Klavierspieler haben keine Ahnung von ihrer Kunst, sagte er [= Glenn]. […] Die meisten Künstler sind sich ihrer Kunst nicht bewußt. Haben eine dilettantische Kunstauffassung, bleiben zeitlebens im Dilettantismus hängen, selbst die allerweltberühmtesten.123

Glenn bindet künstlerisches Selbst-Bewusstsein nicht an die schriftliche Niederlegung einer Kunstauffassung. Die Luzidität, die man gegenüber sich selbst und der eigenen Kunstauffassung an den Tag zu legen hat, setzt Glenn performativ – und zwar, wie noch zu zeigen sein wird, nach Maßgabe des elektronischen Zeitalters – um. Der Erzähler bestätigt dies mit den Worten: Und Glenn spielte ja auch nur zwei oder drei Jahre öffentlich, dann ertrug er es nicht mehr und blieb zuhause und wurde da, in seinem Haus in Amerika, der beste und der wichtigste aller Klavierspieler. Als wir ihn vor zwölf Jahren das letzte Mal aufsuchten,

117 Anne Thill: Die Kunst, die Komik und das Erzählen im Werk Thomas Bernhards. Textinterpretationen und die Entwicklung des Gesamtwerks. Würzburg 2011. S. 448. 118 Vgl. ebd. S. 448f. 119 Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 139. 120 Zum Umstand, dass die Mündlichkeit freilich nur textuell suggeriert wird, vgl. S. 315 dieser Arbeit. 121 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 59. 122 Vgl. ebd. S. 35f. 123 Ebd. S. 13.

314

Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

hatte er schon zehn Jahre kein öffentliches Konzert mehr gegeben. Er war in der Zwischenzeit der hellsichtigste aller Narren geworden.124

Zieht man die Kunstauffassung des historischen Glenn Gould heran, wird man auf den Rundfunk als geeignetes Medium für die Selbst-Bestimmung verwiesen. Denn »der Rundfunk war das ideale Medium für einen introvertierten Einzelgänger, der gleichzeitig körperliche Distanz von seinem Publikum und intime Kommunikation mit ihm wollte.«125 Bei Rundfunksendungen vertritt das Mikrophon die Stelle des Publikums. Dieser Umstand galt Gould »stets [als] eine der besonderen Attraktionen des Mediums«126. Nach eigener Aussage feierte Gould127 jenen Augenblick in meinem Leben […], als mir aufging, daß die geballte Weisheit der Gleichaltrigen und Älteren, der zufolge Technologie eine kompromittierende, entmenschlichende Einmischung in die Kunst darstellen sollte, Unsinn war, als mein Liebesverhältnis mit dem Mikrophon begann.128

Beim Erzähler wiederum spielen Medialität und Selbst-Bestimmung im Akt der Narration zusammen. Er konstatiert: »Glenn war nicht wahnsinnig, wie immer wieder behauptet worden ist und behauptet wird, sondern Wertheimer war es, wie ich behaupte.«129 Angesprochen ist hier das Verhältnis von Subjektivität und Medialität in dem Sinne, dass der Konstruktionscharakter von Subjektivität 124 Ebd. S. 18. Der Untergeher greift hier den Virtuosen-Topos (und dessen Kritik) romantischer Prägung, z. B. wie er sich in Heinrich Heines Florentinische[n] Nächte[n] (1836) findet, auf. Bernhard schließt an Heine sowohl mit dem Motiv des Menschen als Maschine als auch mit dem Motiv des Verwischens der Tier-Mensch-Grenze an (vgl. Bernhard: Der Untergeher [Anm. 31]. S. 23, S. 74 und S. 83, Heinrich Heine: Florentinische Nächte. In: Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 5. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1994. S. 197–250. Hier: S. 200 und S. 216 sowie zu Heines Text: Gerhard Neumann: Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik II. Vom Genie zum Talent zum Virtuosen. Der Fall Heine: Natur- oder Kulturvirtuose. In: Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann (Hg.): Genie, Virtuose, Dilettant. Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik. Würzburg 2011. S. 27–41. Hier : S. 34.) Der Unterschied zwischen Heines romantischer Fassung und Kritik des Virtuosen und Bernhards postmoderner Anknüpfung daran liegt im jeweiligen Medienverständnis: Während Heine das Klavier anthropomorphisiert, konzipiert Bernhard das Genie Glenn vor dem Hintergrund von McLuhans Thesen über Medien als Extensionen des menschlichen Körpers. 125 Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 229. 126 Glenn Gould: Musik und Technologie [um 1974/75]. In: Glenn Gould. Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II. Hg. und eingeleitet von Tim Page. Aus dem Englischen von Hans-Joachim Metzger. München/Zürich 1987 [engl. 1984]. S. 161–166. Hier: S. 161. 127 Ich werde stets explizit zwischen der historischen Person und der literarischen Figur differenzieren. Zusätzlich markiere ich die Unterscheidung dadurch, dass von der literarischen Figur als »Glenn« und von der historischen Person als »Gould« die Rede ist. 128 Gould: Musik und Technologie (Anm. 126). S. 161. 129 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 29.

(künstlerische) Subjektivität

315

markiert wird, konkret: dass der Konstrukteur des Subjekts Glenn und seine medial-narrativen Strategien bewusst und transparent gemacht werden.

I.1.

Subjektivität sprachlich konstruiert

Der Erzähler kehrt in seinem Bericht über Glenn das Verhältnis von Sein und Schein um: Keiner seiner Zuhörer, seiner Anbeter, wie ich sofort wieder dachte, käme je auf die Idee, daß es diesem Glenn Gould, der auf der ganzen Welt sozusagen als die Urschwäche des Künstlers bekannt und berühmt ist, möglich ist, eine […] Esche allein und in der kürzesten Zeit zu fällen […]. Die Anbeter beten ein Phantom an, dachte ich, sie beten einen Glenn Gould an, den es niemals gegeben hat. Aber mein Glenn Gould ist der ungemein größere, der anbetungswürdigere, dachte ich, als der ihrige.130

Den Eindruck, den die »ganze[…] Welt« von Glenn hat, enthüllt der Erzähler als ein Phantom, er entzieht dieser Chimäre durch sein – angeblich – exklusives Wissen die Grundlage und etabliert stattdessen ›seinen‹ Glenn Gould. Sein Prärogativ der Charakterisierung Glenns untermauert der Erzähler, indem er sich als »kompetenten Zeugen«131 stilisiert. Als Argumente dafür führt er seine physiognomischen Fähigkeiten,132 die wechselseitige Anziehung zwischen ihm und Glenn, die sich vor allem in einer gemeinsamen Kunstauffassung äußert,133 und seinen visionären Status bezüglich Glenns an: »[S]ie [= die Journalist_innen] schrieben also […] das, was wir schon zwei Jahre vorher behauptet und gewußt hatten.«134 Gerade indem der Erzähler sein Wissen als ein dem journalistischen Diskurs vorgängiges Wissen präsentiert und einen exklusiven Zugriff auf dieses Wissen nahelegt, wertet er alle medial aufbereitete und öffentlich verbreitete Information ab. Die Authentizität, die der Erzähler für sein Wissen in Anspruch nimmt, verlangt das Verschleiern der eigenen Medialität, d. h. seines Status als Vermittler, als Erzähler des Romans Der Untergeher. Dies geschieht u. a. durch die Suggestion von Mündlichkeit in den Inquit-Formeln.135 Interessant ist nun, dass der Erzähler beim Bericht über seine Glennschriften eben deren – und als ihr Autor auch seine eigene – Medialität stark herausstellt. In 130 Ebd. S. 72. 131 Ebd. S. 67. 132 Er habe schon im ersten Moment erkannt, dass es sich mit Glenn »um den außerordentlichsten Menschen handelte, den ich jemals in meinem Leben getroffen habe, dachte ich. Der Physiognomiker in mir irrt nicht.« Ebd. S. 39. 133 Vgl. ebd. S. 13. 134 Ebd. S. 8. 135 Zur weiteren Funktionalisierung der Inquit-Formeln in Der Untergeher vgl. S. 372 dieser Arbeit.

316

Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

Form von Scheinmündlichkeit wird das (scheiternde) Schreiben ausführlich thematisiert. Wenn der Erzähler die Gründe für das Scheitern seiner Schriften über Glenn darlegt, hintertreibt er zugleich gängige Vorstellungen von (der Herstellung von) Authentizität und Individualität.136 Narrativ gestaltet wird dies vor allem durch den mehrfachen Hinweis auf die eigene Unzuverlässigkeit als Erzähler. Er berichtet: Nächste Woche werde ich wieder in Madrid sein und das erste ist, die Glennschrift zu vernichten, um eine neue anzufangen, dachte ich, eine noch konzentriertere, eine noch authentischere, dachte ich. Denn immer glauben wir, wir sind authentisch und sind es in Wirklichkeit nicht und glauben, wir sind konzentriert und sind es in Wirklichkeit nicht.137

Nicht nur sind ›wir‹ – der Ansicht des Erzählers nach – ›in Wirklichkeit‹ weder konzentriert noch authentisch, »[w]ir schildern und beurteilen Menschen [gar] immer nur falsch, wir beurteilen sie ungerecht und schildern sie niederträchtig, sagte ich mir, in jedem Fall, gleich, wie wir sie schildern, gleich, wie wir sie beurteilen.«138 Seine Unzuverlässigkeit reflektiert der Erzähler beispielsweise, als er der Wirtin von Wertheimers Tod und Begräbnis berichten soll und anschließend resümiert: »Es ist mir naturgemäß nur ein bruchstückhafter Bericht gelungen«.139 Die Unzuverlässigkeit der vermittelnden Instanz knüpft der Text durch eine Doppelkodierung an das Problem der Subjektivität: Der Erzähler spricht von »der mir schon immer zum Verhängnis gewordenen Ungerechtigkeit und Ungenauigkeit, mit einem Wort Subjektivität, die ich selbst immer gehaßt habe, vor welcher ich aber niemals sicher gewesen bin.«140 Mit seiner ›Subjektivität‹ erklärt der Erzähler die Ungerechtigkeit und Ungenauigkeit in seiner Darstellung der anderen Figuren, mithin den Dilettantismus seiner Schriften. Subjektivität – im Kontext der Charakterisierung Anderer pejorativ als Gegensatz zu Objektivität eingesetzt – wird als Grund für das Scheitern der Glenn136 Reinhild Steingröver macht darauf aufmerksam, dass die Autorität des Erzählers zudem dadurch unterminiert wird, dass er sich als ein unter dem Bann des Genies Stehender entpuppe. Dies habe zur Folge, dass seine analytischen Fähigkeiten in Frage gestellt würden (Steingröver: »Der Hellsichtigste aller Narren« [Anm. 47]. S. 84). Im Text sieht Steingröver die »intellektuelle Befangenheit und Stagnation« des Erzählers in der durchgehend angewandten Formel ›dachte ich, im Gasthaus stehend‹ stilistisch umgesetzt. Ebd. 137 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 68. 138 Ebd. S. 132. 139 Ebd. S. 107. 140 Ebd. S. 132. Eine sehr interessante Lesart, die das erzähltheoretische Konzept des unzuverlässigen Erzählens mit einer existentialistischen Ethik verbindet und in Bernhards Text Gehen »ein Echo von Kierkegaards Technik der Pseudonyme« sieht, hat Elisabeth Strowick vorgelegt. Elisabeth Strowick: Unzuverlässiges Erzählen der Existenz. Thomas Bernhards Spaziergänge mit Kierkegaard. In: Cornelia Blasberg und Franz-Josef Deiters (Hg.): Denken/Schreiben (in) der Krise – Existentialismus und Literatur. St. Ingbert 2004. S. 453–481. Hier: S. 477.

(künstlerische) Subjektivität

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schriften benannt. Zugleich stellt der Text aber auf der zweiten semantischen Ebene die Frage nach dem Verhältnis von Subjektivität im Sinne von Ich-Bewusstheit und Dilettantismus. Beides hängt in Der Untergeher aufs Engste mit Sprachlichkeit und Sprachmächtigkeit zusammen. Dies gilt zunächst für den sprachlichen Prozess, in welchem der Erzähler das Subjekt Glenn konstruiert. Dies gilt aber auch umgekehrt für die (fiktionale) Wirklichkeit schaffende – sprich: performative – Sprachmacht Glenns in Bezug auf Wertheimer und den Erzähler. Glenn ist es, der Wertheimer als »Untergeher« und den Erzähler als »Philosoph[en]« bezeichnet.141 Einer selbsterfüllenden Prophezeiung vergleichbar, werden die beiden in der Folge »Stöberer und Wühler in den Geisteswissenschaften und in den Philosophien« und drohen zu »verkommen«.142 Der Tendenz bzw. Gefahr, als »zuhörend-schreibender Epigone[…]« von Glenns »solipsistische[r] Rhetorik des Eigenen«143 infiziert zu werden, begegnet der Erzähler jedoch mit »einem Akt sprachlicher Selbstsuggestion«: Er praktiziert eine »sprachliche Gegenstrategie zu dem Gouldschen Vernichtungswort vom ›Untergeher‹«144 : Indem der Erzähler kund tut, er sei gar kein Virtuose, umgeht er auch das mögliche Diktum, ein Untergeher sein/werden zu können.145 Den Zusammenhang von Sprache und Subjektivität reflektiert der Erzähler zudem auf einer allgemeineren Ebene: der Nationalität. Wertheimer ist »von Glenn Gould als erster als Untergeher bezeichnet worden«, und zwar »auf diese rücksichtslose aber durch und durch offene kanadisch-amerikanische Weise«.146 Europäer dagegen trauten sich nicht, derart ungeniert zu sprechen. »[A]ber vielleicht sind sie auch nur in ihrer Phantasielosigkeit nicht auf eine solche treffende Bezeichnung gekommen, dachte ich […]«.147 Zum einen legt der Erzähler legt mit dieser Einschätzung nahe, dass seine Unzuverlässigkeit und Subjektivität der Darstellung bzw. der/des Dargestellten mit seiner europäischen Herkunft in Verbindung steht. Zum anderen ruft die Gegenüberstellung der beiden österreichischen Dilettanten und des »amerikanisch-kanadische[n] Genie[s]«148 die Frage nach kulturellen bzw. nationalen Voraussetzungen und Prägungen von gelingender und scheiternder Künstlerschaft auf. Der Vergleich 141 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 18. 142 Ebd. S. 16. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 143 Marcus Hahn: Geschichte und Epigonen. 19. Jahrhundert / Postmoderne, Stifter / Bernhard. Freiburg i.Br. Rombach 2003. S. 414. 144 Nikolaus Langendorf: Schimpfkunst. Die Bestimmung des Schreibens in Thomas Bernhards Prosawerk. Frankfurt/M./Berlin/Bern u. a. 2001. S. 105. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 145 Ebd. 146 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 130. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 147 Ebd. Er selbst sei »erst nach längerer Beobachtung und nach jahrelangem Zusammensein mit ihm [= Wertheimer], auf den Begriff des Sackgassenmenschen [gekommen].« Ebd. 148 Ebd. S. 31.

318

Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

zwischen der amerikanisch-kanadischen Genialität und dem österreichischen Dilettantismus, den Der Untergeher herstellt, deutet darauf hin, dass die jeweilige künstlerische Identität von der nationalen Identität abhängt. Der Text gestaltet die Opposition ›Europa vs. Kanada/Amerika‹ beispielsweise aus, indem Glenn seinen Umzug nach Amerika – genauer in »seinen Isolationskäfig, wie er sein Studio nannte, in Amerika in Newyorknähe«149 – angeblich mit den Worten kommentiert: »Europa komme für ihn nicht mehr in Frage.«150 Und weiter : Er habe sich in seinem Haus verrammelt. Auf lebenslänglich. […] Alle drei waren wir die geborenen Verrammelungsfanatiker. Glenn aber hatte seinen Verrammelungsfanatismus am weitesten vorangetrieben.151

Eine graduelle Abstufung im Hinblick auf einen ›Verrammelungsfanatismus‹ der Europäer_innen und Amerikaner_innen bzw. Kanadier_innen beschreibt auch Marshall McLuhan in The global village im Kapitel »Kanada als Gegenwelt«: [S]orgenlose Individualität ist dem Europäer […] fremd. Intimität findet er nicht in der freien Natur, sondern in der Masse. […] Der Europäer geht gewöhnlicherweise hinaus, um sozial zu sein, und kehrt nach Hause zurück, um alleine zu sein. Amerikaner und Kanadier machen genau das Gegenteil.152

Dass Kanadier_innen zu Hause Geselligkeit leben (können bzw. müssen), begründet McLuhan mit der geographischen Lage des Landes und dem angeblich geringen Nationalbewusstsein seiner Bewohner_innen. Kanada mit seiner sich über 5000 Meilen erstreckenden Landesgrenze verlange »Aufwendungen für Kommunikation, die ansonsten für die Aufrüstung und die Verteidigung aufgebracht werden müßten.«153 Als Beispiele staatlich finanzierter Kommunikationsmöglichkeiten nennt McLuhan die Canadian Broadcasting Corporation und den National Film Board. Zugleich hätten die Kanadier auch einen unmittelbaren Zugang zum amerikanischen Rundfunk und Fernsehen.154 McLuhans Annahme, dass die Kanadier_innen »kein klar bestimmbares Nationalgefühl oder eine genau umrissene Identität« hätten, begründet seiner Ansicht nach deren Überlegenheit im elektronischen Zeitalter: »Länder, die schon seit langer Zeit mit einer stark ausgebildeten Identität gesegnet sind«, fallen »jetzt durch die

149 150 151 152

Ebd. S. 138. Ebd. S. 19. Ebd. Marshall McLuhan und Bruce R. Powers: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen und mit einem Beitrag versehen von Claus-Peter Leonhardt. Mit einer Einleitung von Dieter Baacke. Paderborn 1995. S. 188. 153 Ebd. S. 207. 154 Vgl. ebd.

(künstlerische) Subjektivität

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Verformung und Auflösung des Bildes ihrer Identität im elektronischen Zeitalter in Verwirrung«.155 Der Kanadier mit seinem niedrigen Identitätsprofil, der gelernt hat, ohne hervorstechende Charakteristika zu leben, beginnt nun, eine Art Selbstbewußtsein und Geborgenheit zu empfinden, die in der Großmacht-Situation nicht zu verspüren war. Im elektronischen Zeitalter ist ein Zentralismus unmöglich, da alle Dienstleistungen an jedem Ort verfügbar sind. Kanada, aufgrund seiner Größe und seiner geringen Bevölkerung, war nie in der Lage, Zentren auszubilden.156

In seiner stark essentialisierenden Argumentation behauptet McLuhan, »daß die Bedingungen in Kanada, wo eine Identität mit niedrigem Profil sowie mehrfache Grenzen zu finden sind, […] die ideale Art ist, einen elektronischen Lebensstil zu pflegen.«157 Aus mediengeschichtlicher Perspektive ist die Tatsache, dass sich Europa »in vielen Bereichen schwerer [tut] als Amerika und viele asiatische Länder […], die Chancen der elektronischen Medien auszuloten«158, mit der längeren europäischen Buchdrucktradition erklärbar. In Amerika und Kanada traten die elektronischen Medien (Telegraph, Rundfunk, Film, Fernsehen, Computer) »vergleichsweise früher in Konkurrenz und haben es nicht zugelassen, dass die Konzepte der Buchkultur den Alleinvertretungsanspruch durchsetzen konnten, den sie in Zentraleuropa besitzen.«159 Wie der elektronische Lebensstil des »amerikanisch-kanadische[n] Genie[s]«160 in Der Untergeher genau inszeniert wird, wird noch dargestellt werden. Unter dem Fokus auf die Konstruktion von (nationaler) Identität und individueller Subjektivität interessiert hier zunächst, dass Bernhards Roman, der Glenn Gould einen »Horowitzkurs[…] in Salzburg«161 besuchen lässt, auch die europäischen Einflüsse auf Glenn geltend macht. Das gilt allem voran für Glenns ausgezeichnete Beherrschung der deutschen Sprache: Von seiner mütterlichen Großmutter habe er, Glenn, Deutsch gelernt, das er […] fließend gesprochen hat. Er beschämte mit seiner Aussprache alle unsere deutschen und österreichischen Mitschüler, die eine völlig verwahrloste deutsche Sprache ge155 156 157 158

Ebd. S. 208. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Ebd. Ebd. Alle Zitatteile sind auf Seite 208 zu finden. Michael Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie. Frankfurt/M. 2002. S. 222. 159 Ebd. »Da in vielen Ländern der Welt die Buchkultur, wenn überhaupt, dann von Anfang an im Zusammenwirken mit dem modernen Massenkommunikationsmittel Radio und Film eingeführt wurde, ist der zu leistende kulturelle Umbau und die im Zuge der Durchsetzung der neuen interaktiven Medien zu leistende Trauerarbeit auf dem Globus ganz ungleich verteilt.« Ebd. S. 217. 160 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 31. 161 Ebd. S. 18.

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Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

sprochen haben […]. Aber wie kann ein Künstler kein Gefühl für seine Muttersprache haben! hat Glenn oft gesagt.162

Sprachfähigkeit ist für Glenn also nicht nur eine Voraussetzung für die Subjektkonstitution163 – bzw. bezüglich des »Untergehers« Wertheimer für eine Subjektkonstruktion; Sprachbeherrschung ist gleichermaßen die Grundlage für Künstlerschaft, auch im Bereich der Musik. Die Sprachmächtigkeit ist es, die das Genie von den Dilettanten unterscheidet. Glenn performt nicht als Künstler – stattdessen nimmt er Schallplatten auf –, er performt als Sprecher : Sein in perfektem Deutsch gesprochenes Wort vom »Untergeher« setzt Wertheimers Untergang, seinen Dilettantismus, initial in Gang. Die musikalische Performance im Konzert ersetzt Glenn durch sein Experimentieren mit den neuen Medien. Dem historischen Glenn Gould zufolge besteht »[d]er weitaus wichtigste Beitrag der Elektronik zur Kunst« in der »Schaffung eines neuen und paradoxen Zustands von Privatheit.«164 Die Isolation des Künstlers während der Aufnahme – wie im Falle Glenns – hat nämlich ein Gegenstück bei der Hörer_in: »Es wäre sehr überraschend«, so Glenn Gould, »wenn die Techniken der Klangkonservierung, über den Einfluß hinaus, den sie auf das Komponieren und Aufführen von Musik ausüben […], nicht auch die Art und Weise bestimmen würden, wie wir auf sie reagieren«.165 Es ist Goulds Anliegen gewesen, die Präsenz des Interpreten-Ichs zu reduzieren und (dadurch) die Bedeutung der Interpretation zu steigern.166 Diesem Vorhaben sind elektronische Aufnahmen denkbar günstig, denn bei ihnen liegt die Aufmerksamkeit auf der Musik und weniger auf der Künstler_in. In diesem Punkt war Gould stark von McLuhan beeinflusst, welcher die Meinung vertrat, dass die elektronischen Technologien den Individualismus auflösen.167 »And as the habits of reading print create intense forms of individualism and nationalism, do not our instantaneous electronic media return us to group dynamics, both in theory and in practice?«168, fragt McLuhan und konstatiert an anderer 162 Ebd. S. 23. 163 Das perfekte Beherrschen des Deutschen als Glenns ›Großmutter-Sprache‹ weist dabei im Gegensatz zu McLuhans essentialisierender Auffassung nationaler Identitäten auf eine hybride Identität hin, die mit dem Konzept ›Nationalität‹ nicht hinreichend erfasst werden kann. 164 Glenn Gould: Strauss und die elektronische Zukunft [1964]. In: Glenn Gould. Von Bach bis Boulez. Schriften zur Musik I. Hg. und eingeleitet von Tim Page. Aus dem Amerikanischen von Hans-Joachim Metzger. München/Zürich 1986 [orig. 1984]. S. 143–153. Hier: S. 151. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 165 Ebd. S. 152. 166 Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 79. 167 Vgl. ebd. 168 Marshall McLuhan: Unbound project. Bd. 18: Myth and mass media [1959]. Hg. von Eric McLuhan und W. Terrence Gordon. Corte Madera, CA 2005. S. 18.

(künstlerische) Subjektivität

321

Stelle: »Today, we are making a clean sweep of all the merely private points of view achieved through five centuries of intensive individualism.«169 Wie für Gould ist Individualismus für McLuhan negativ konnotiert. McLuhan ordnet den Individualismus der Buchdruckkultur zu und erhofft sich in den 1960/70er Jahren von der elektronischen Kultur als »Remedium« eine »epistemotechnische Korrektur«.170 (Rückblickend erweist sich diese Hoffnung freilich als utopisch.) McLuhans Freund Glenn Gould geht sogar so weit, von »Anonymität« zu sprechen: »Was immer sonst man über das elektronische Zeitalter voraussagen mag, alle Zeichen deuten auf die Rückkehr zu einem gewissen Maß von mythischer Anonymität in den Beziehungen zwischen Künstler und Gesellschaft.«171 In einem größeren Zusammenhang, der sich für Erscheinungsformen des Dilettantismus im Zeichen postmoderner Ästhetik(en) interessiert, ist damit folgende Frage aufgeworfen: Ist Genialität – allgemein und hier im Speziellen in Thomas Bernhards Der Untergeher – in der Auslöschung von Subjektivität und Dilettieren im aktiven Ausleben künstlerischer Subjektivität zu suchen?

169 Marshall McLuhan und Barrington Nevitt: Unbound project. Bd. 3: The argument: causality in the electric world [1973]. Hg. von Eric McLuhan und W. Terrence Gordon. Corte Madera, CA 2005. S. 27. Der Medientheoretiker McLuhan bezieht diese Erkenntnis nicht nur auf die Kunst, sondern auf alle Lebensbereiche: »Each one of us, actively or passively, includes every other person on earth. The world no longer offers the possibility of the separatist, center-margin structure which is featured in all our institutions, legal, educational, political. Centres-without-margins, inclusive consciousness, inclusive organization, these alone are viable or relevant to the new electric age.« Marshall McLuhan: Unbound project. Bd. 7: The humanities in the electronic age [1961]. Hg. von Eric McLuhan und W. Terrence Gordon. Corte Madera, CA 2005. S. 13. 170 Walter Seitter : Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen. Weimar 2002. S. 363. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 171 Gould: Strauss und die elektronische Zukunft (Anm. 164). S. 152. Auch diesen Gedanken teilt Gould mit McLuhan. In Die magischen Kanäle schreibt dieser : »Das Alphabet (und seine Erweiterung zum Buchdruck) ermöglichte es, die Macht, die ja Wissen ist, auszubreiten und sprengte die Fesseln des stammesgebundenen Menschen und machte ihn durch eine Explosion zum Splitter eines Konglomerats von Individuen. Die elektrische Schrift und Geschwindigkeit überfluten ihn in jedem Augenblick und andauernd mit den Belangen aller anderen Menschen. Er wird wieder stammesgebunden. Die Familie der Menschheit wird wieder zu einem großen Stamm.« (McLuhan: Die magischen Kanäle [Anm. 65]. S. 187) Wo Gould von »mythischer Anonymität« (wie oben) spricht, denkt McLuhan an die Stammeswelt: »Die Wirkung des Rundfunks auf den gebildeten oder visuellen Menschen war die, daß die Erinnerungen an seine Stammeswelt wieder erweckt wurden« (ebd. S. 54). War der Schrift das Prinzip der Individualität zugeordnet, wird das Radio mit dem Kollektiv verknüpft: »Die Macht des Radios, die Menschen in die Stammesgemeinschaft zurückzuführen, kommt einer fast augenblicklichen Verkehrung des Individualismus in den Kollektivismus gleich.« Ebd. S. 331.

322 I.2.

Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

Genialität medial dekonstruiert

Obgleich – oder gerade weil – der Geniebegriff in Der Untergeher durch den Erzähler weder systematisch begründet noch definiert wird,172 scheint Glenns Genialität ein unumstößliches und unhinterfragtes Faktum zu sein. Wertheimer stellt fest: »[B]ei Glenn war es von vornherein klar, daß der ein Genie ist.«173 Auch der Erzähler bezeichnet Glenn mehrfach als »Genie«174 und teilt Wertheimers Meinung, Glenn sei von Geburt an ein solches gewesen: »Glenn Gould war kein Wunderkind, er war von Anfang an ein Genie auf dem Klavier, dachte ich, schon als Kind hatte ihm Meisterschaft nicht genügt.«175 Genialität ist im Vergleich zu den anderen Teilnehmer_innen des Horowitzkurses das Alleinstellungsmerkmal Glenns;176 zum Ausdruck kommt Glenns Genialität besonders bei dessen Interpretation von Johann Sebastian Bachs Goldbergvariationen: Ich hörte ihn die Goldbergvariationen spielen und dachte, daß er geglaubt hat, sich mit dieser Interpretation unsterblich gemacht zu haben, möglicherweise ist ihm das auch gelungen, dachte ich, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß es außer ihm jemals noch einen Klavierspieler gibt, der die Goldbergvariationen so spielt wie er, das heißt, so genial wie Glenn.177

Wertheimer nennt Glenn »glenngenial«178 und nicht zuletzt ist »Der Untergeher […] eine geniale Erfindung von Glenn Gould«179. Wodurch zeichnet sich die Genialität Glenns aber genau aus? Was macht den Glenn des Textes zur »klavieristische[n] Weltverblüffung«180 ? Einen Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Frage bildet Glenns Kunstauffassung, die derer des historischen Glenn Gould sehr ähnlich ist. In Der Untergeher behauptet Glenn: »Wir sind ja keine Menschen, wir sind Kunstprodukte, der Klavierspieler ist ein Kunstprodukt, ein widerwärtiges«.181 Künstlerschaft bestehe darin, die eigene Natur auslöschen und mit dem Instrument eins werden zu wollen: Im Grunde wollen wir Klavier sein, sagte er, nicht Menschen sein, sondern Klavier sein, zeitlebens wollen wir Klavier und nicht Mensch sein, entfliehen dem Menschen, der wir 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181

Vgl. Steingröver: »Der Hellsichtigste aller Narren« (Anm. 47). S. 83. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 31. Ebd. z. B. S. 16, S. 52, S. 53, S. 76, S. 77 oder S. 96. Ebd. S. 138. Über Wertheimer heißt es: »[D]as Mozarteum hat ein solches außerordentliches Talent auch nicht mehr gesehen, wenn Wertheimer, wie gesagt, auch nicht ein Genie gewesen ist wie Glenn.« Ebd. S. 95. Ebd. S. 56f. Ebd. S. 39. Ebd. S. 40. Auf die Lesart dieses Zitats, der Roman Der Untergeher sei eine Erfindung Glenns, werde ich noch eingehen. Ebd. S. 53. Ebd. S. 74.

(künstlerische) Subjektivität

323

sind, um ganz Klavier zu werden, was aber mißlingen muß, woran wir aber nicht glauben wollen, so er. Der ideale Klavierspieler (er sagte niemals Pianist!182) ist der, der Klavier sein will und ich sage mir ja auch jeden Tag, wenn ich aufwache, ich will der Steinway sein, nicht der Mensch, der auf dem Steinway spielt, der Steinway selbst will ich sein.183

Der Erzähler resümiert: Glenn hatte zeitlebens Steinway selbst sein wollen, er haßte die Vorstellung, zwischen Bach und dem Steinway zu sein nur als Musikvermittler und eines Tages zwischen Bach und dem Steinway zerrieben zu werden, eines Tages, so er, werde ich zwischen Bach einerseits und dem Steinway andererseits zerrieben, sagte er, dachte ich.184

Glenns Genialität gründet in einem Verhältnis zu seinem Klavier, welches als Erweiterung des Musikers in sein Instrument zu beschreiben wäre.185 Glenns Kunstauffassung deckt sich in diesem Punkt mit McLuhans Extensionsthese, die von einer Verschiebung des menschlichen Sinnesapparats in die Medien ausgeht.186 Die Immersion in die Medien – v. a. in die elektronischen – führt nach McLuhan zu einer Entkörperung.187 Die eigene Natur auflösen und in die Kunst 182 Zu Goulds Ablehnung des Begriffs »Pianist« und seinem Verharren auf einer Differenz zwischen »Pianist« und »Musiker« vgl. Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 84. 183 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 74. 184 Ebd. Hervorhebung im Original. 185 An dieser Stelle ist auch an den im Text mehrfach namentlich genannten Novalis (vgl. Bernhard: Der Untergeher [Anm. 31]. S. 60 und S. 96) zu denken. Während Novalis z. B. in seinen Fichte-Studien oder den Sapphische[n] Fragmente[n] ein Du- bzw. Stein-Werden des Ichs und eine Entgrenzung in die Natur imaginiert, bilden bei Glenn das Instrument und die elektronischen Medien, also die Kultur im weitesten Sinne, den Horizont der Entgrenzung. Diese Verschiebung des Genie-Konzepts vom/von der Bewusstsein(sphilosophie) in die Medien(theorie) transportiert auf ihrer Rückseite eine Verschiebung des Dilettantismus von einer anthropologischen in eine mediologische Kategorie. Zu Bernhards Bezugnahmen auf Novalis vgl. Kuhn: »Ein philosophisch-musikalisch geschulter Sänger« (Anm. 115). S. 171–199 sowie zu »Bernhards Anspielungen auf das Allgemeine Brouillon von Novalis« das gleichnamige Kapitel in Christian Klug: Thomas Bernhards Theaterstücke. Stuttgart 1991. S. 199–202. 186 Richard Cavell fasst zusammen: »McLuhans Theorien sind Theorien der Verschiebung […]: Seine ›Braut‹ wurde in die mechanische Kultur verschoben, sein ›Mann‹ in die Typografie und seine ›Menschen‹ in die Technologie. Sein Dorf wurde ins Globale verschoben, die Zeit in den Raum und der Sinnesapparat in den elektronischen Äther. Für McLuhan haben sich die Medien ins Intermediale verschoben, die Natur in Kultur, das Subjekt in die Masse und die Botschaft in das Medium.« Richard Cavell: McLuhans Gespenster : Elf Anmerkungen für ein neues Lesen. In: Derrick de Kerckhove, Martina Leeker und Kerstin Schmidt (Hg.): McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert. Bielefeld 2008. S. 270–284. Hier: S. 273. 187 Vgl. ebd. S. 275. Die »genialen Dilletanten« argumentieren ähnlich, wenn sie sich zu Medien ihrer Instrumente erklären: »Geniale Dilletanten wollen und brauchen keine Gewalt über ihr Instrument, es beherrschen womöglich. Was sie anvisieren, ist lediglich, es kennenzulernen mit der Hoffnung, daß es selbst einmal von sich aus spricht, intensiv und konzentriert, dem Spieler zeigt, wer er ist. Sie selbst sind Medien im Dienst des Instruments,

324

Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

entgrenzen zu wollen, bedarf also offensichtlich einer Einstellung zum Instrument, welche dieses als mediale Metonymie des Künstlers begreift. Dass Glenns Kunstauffassung und seine Medienauffassung sich wechselseitig fundieren, bedeutet vor diesem Hintergrund also: Das Medium ist das Genie. Es ist kein Zufall, dass Glenns indirekt zitierte Rede davon, kein Musikvermittler sein zu wollen, den Akzent analog zu den musiktheoretischen Schriften seines realen Gegenstücks auf die Negierung der Künstlerpersönlichkeit legt. Genauso konsequent ist es, dass der Erzähler in seiner eigenen Rede Glenns Position auf das Problem der Medialität hin perspektiviert. Der Erzähler thematisiert den Künstler als ›Musikvermittler‹ und markiert dessen – durch den Kursivdruck zusätzlich hervorgehobene – Stellung »zwischen«188 dem Komponisten und dem Instrument. Nun wieder Glenn referierend, berichtet der Erzähler : Das Ideal wäre, ich wäre der Steinway, ich hätte Glenn Gould nicht notwendig, sagte er, ich könnte, indem ich der Steinway bin, Glenn Gould völlig überflüssig machen. Aber es ist noch keinem einzigen Klavierspieler gelungen, sich selbst überflüssig zu machen, indem er Steinway ist, so Glenn. Eines Tages aufwachen und Steinway und Glenn in einem sein, sagte er, dachte ich, Glenn Steinway, Steinway Glenn nur für Bach.189

Wenn der Glenn des Textes Glenn Gould ›völlig überflüssig‹ machen will, löst er den Anspruch des historischen Glenn Gould, das Künstlerego zu minimieren, maximal ein. Mit dem Klavier verschmelzen zu wollen, und zwar ›nur für Bach‹, darf – in Verbindung mit der zentralen Stellung, die die elektronische Einspielung der Goldbergvariationen im Text einnimmt190 – als literarische Illustration und Einlösung der Gouldschen Kunstauffassung gelten. Eine elektronische Aufnahme gibt der Komponist_in gewissermaßen ihre Rechte zurück. Denn diese ist dann nicht mehr »auf die selbstischen Affektiertheiten eines aufführenden Mittelsmannes angewiesen«191. In Bezug auf den literarischen Text Der Untergeher ist jedoch festzustellen, dass gerade einem Mittelsmann, nämlich dem Erzähler, und – wenn man so will – dessen ›selbstischen Affektiertheiten‹ eine konstitutive Rolle zukommt. Als Erzähler eines literarischen Prosatextes ist

188 189 190

191

intensiv und konzentriert.« Wolfgang Müller : Die Instrumente stimmen. In: ders. (Hg.): Geniale Dilletanten. Berlin 1982. S. 45–49. Hier: S. 49. Wie Anm. 184. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 74f. Die beste elektronische Aufnahme ist für Gould diejenige, auf der die Künstler_in selbst am wenigsten in Erscheinung tritt: »Ich glaube, das schönste Kompliment, das man einer Schallplattenaufnahme machen kann, ist die Anerkennung der Tatsache, dass alle Zeichen, alle Spuren des Schöpfungsprozesses und des Schöpfers ausgelöscht sind.« Gould zit. n. Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 217. Glenn Gould: Für ein Applausverbot [1962]. In: Glenn Gould. Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II. Hg. und eingeleitet von Tim Page. Aus dem Englischen von Hans-Joachim Metzger. München/Zürich 1987 [engl. 1984]. S. 9–16. Hier : S. 11.

(künstlerische) Subjektivität

325

er per Gattungsdefinition ein Mittelsmann und muss notwendigerweise als Dilettant erscheinen, wenn er sich an der musikalischen Kunstauffassung Glenn Goulds – die Mittelsmänner und -frauen weitgehend eliminieren will – misst und die medialen Bedingungen von Genialität und Dilettantismus in den verschiedenen Künsten nicht reflektiert. Außerdem ist festzustellen, dass in Der Untergeher das Subjekt/die Figur Glenn alles andere als ausgelöscht ist. D. h. gegen die Vorgaben ihrer musikalischen Kunstauffassung besitzt die Künstlerfigur Glenn eine enorme Präsenz im literarischen Text. Auf der Inhaltsebene sollen Glenns Kompromisslosigkeit und seine Vereinsamung das Ideal einer Negierung der Künstlersubjektivität herbeiführen und bezeugen. Dieses Vorgehen wiederum (an)erkennen bzw. interpretieren die übrigen Figuren im Text als Genialität. Diskursiv ist Glenn dagegen – genauso wie der Erzähler als Vermittler – enorm präsent. Der »selbstverständlich[…] gleichen Kunstauffassung«192 Glenns und des Erzählers stehen ihre unterschiedlichen Medienauffassungen entgegen; dies hat zur Folge, dass der Erzähler der gemeinsamen Kunstauffassung zum Trotz nicht den Geniestatus mit Glenn teilt. Dass Glenns Genialität in der Verneinung von künstlerischer Subjektivität besteht, bedeutet überdies eine doppelte Revision des herkömmlichen Verständnisses von Genialität. Zum einen ist Genialität bei Gould nicht an ein exzeptionelles Individuum gebunden, zum anderen spielen Originalität und Schöpferkraft nicht mehr die zentralen Rollen.193 Unter den Vorzeichen der Gouldschen Kunstauffassung ist weiter danach zu fragen, in welche Konstellationen der Text Subjektivität und Dilettantismus zueinander stellt und ob er Alternativen zu Glenns als genial erachtetem Programm der Selbstnegation entwirft.

I.3.

Textsubjekte und Subjekttexte im Zeichen der Postmoderne

[D]iese paar Takte Glennspiel waren sein [= Wertheimers] Ende, dachte ich. Für mich nicht, denn ich hatte schon bevor ich Glenn kennengelernt habe, an Aufhören gedacht, an die Sinnlosigkeit meiner Bemühungen, wo ich hinkam war ich immer der Beste gewesen, an diesen Zustand gewöhnt, hinderte es mich nicht, an Aufhören zu denken, an Abbrechen einer Unsinnigkeit, gegen alle Stimmen, die mir bestätigten, daß ich zu den Besten gehörte, aber zu den Besten zu gehören genügte mir nicht, ich wollte der Beste sein oder gar keiner, so hörte ich auf194.

Der Erzähler vollzieht seine Variante einer Selbstbehauptung qua Negation (»nicht«, »Sinnlosigkeit«, »nicht«, »Unsinnigkeit«, »gegen«, »nicht«, »keiner«) 192 Wie Anm. 114. 193 Vgl. dazu ausführlich Kapitel IV. 1. 194 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 77.

326

Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

gegen die öffentliche Meinung in Abkehr von den zahlreichen Stimmen, die ihn zu einem der Besten erklären. Die Bestätigung von außen hindert ihn nicht, ›an Aufhören zu denken‹. In dieser Selbstbeobachtung des eigenen Denkens übt der Erzähler eine Art der Selbstbezugnahme, die Michel Foucault zu den Praktiken der Subjektivität rechnet, nämlich die epimeleia.195 In Der Untergeher ist nur der Erzähler »in der Lage, sein Scheitern einer Kunst der Anschauung zu unterwerfen, die ihm die Perspektive eröffnet, sich neu zu bedenken.«196 So stellt er schließlich fest: »Auf einmal und sozusagen über Nacht, war ich zum Weltanschauungskünstler geworden.«197 Peter Revers gibt zu bedenken, dass die Distanzierung des Erzählers von Wertheimer und Glenn für jenen zwar rettend wirke, aber ein hohes Maß an existenzieller Inkonsistenz impliziere.198 Diese Haltung sei allerdings »keineswegs nur defizitär oder gar als Gegenbild von Genialität zu verstehen.«199 Der Erzähler wählt in Der Untergeher für seine experimentelle Haltung und seine geistige Offenheit die Begriffe »Weltanschauungskünstler«200 und »Lebenskünstler«.201 Dies ist natürlich kein Zufall: Denn der Erzähler mag zwar die Musik aufgegeben haben, eine kunstvolle Lebensführung traut er sich aber durchaus zu. Er ist der Ansicht: »Die schwachen Charaktere werden immer auch nur schwache Künstler, sagte ich mir, Wertheimer bestätigt das unmißverständlich, dachte ich.«202 Konkret äußert sich Wertheimers Charakterschwäche, wie der Erzähler meint, in dessen Epigonentum:203 Alles Wertheimersche ist nicht aus Wertheimer selbst gekommen, sagte ich mir jetzt, alles Wertheimersche war immer nur ein Abgeschautes, ein Nachgemachtes, er schaute

195 Vgl. Anm. 82. 196 Maren Brühne: Die ideale Magie. Eine Begehung. Untersuchung ausgewählter Prosa Thomas Bernhards. Hannover 2009. S. 116. 197 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 47. 198 Vgl. Peter Revers: »Klavierradikalismus«: Thomas Bernhard, Glenn Gould und das Problem der Virtuosität. In: Otto Kolleritsch (Hg.): Die Musik, das Leben und der Irrtum. Thomas Bernhard und die Musik. Wien/Graz 2000. S. 140–152. Hier: S. 142. 199 Ebd. 200 Wie Anm. 197. 201 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 93. 202 Ebd. S. 78. 203 Zum Verhältnis von Dilettantismus und Epigonalität vgl. S. 33 und S. 58 dieser Arbeit. Zur Epigonenproblematik in Der Untergeher vgl. auch Rainer Barbey, der einen Bezug zum Genieverständnis Otto Weiningers herstellt. Wertheimer repräsentiere genau den Typus, der sich nach Weininger durch die Konfrontation mit Genies ergibt: Er ist unruhig, empfindet geistiges Unbehagen, Neid und einen epigonalen Nachahmungstrieb. Rainer Barbey : Das Genie als Menschenkenner und »Weltanschauungskünstler«. Neue Aspekte zu Thomas Bernhards Otto-Weininger-Rezeption in »Der Untergeher«. In: Thomas-Bernhard-Jahrbuch (2003). S. 253–265. Hier: S. 253.

(künstlerische) Subjektivität

327

sich alles an mir ab, er machte mir alles nach, so hat er auch mein Scheitern von mir abgeschaut und mir nachgemacht, dachte ich.204

Es ist bemerkenswert, dass der Künstlerroman Der Untergeher Epigonentum vorrangig am Thema Lebensführung und nicht bezogen auf die Kunstausübung verhandelt. Und auch wo Wertheimers scheiterndes Künstlertum thematisiert ist, wird es auf Epigonisches in der Lebensführung allgemein zurückgeführt: [N]icht einmal dieser Zusammenbruch seines Konzepts als Künstler ist sein eigener gewesen, war erst durch meinen eigenen Entschluß, mich endgültig von meinem Steinway und von einer Virtuosenkarriere zu trennen, ausgelöst worden, dachte ich. Daß er alles von mir übernommen hat oder fast alles, dachte ich, auch alles das, das zwar mir, aber nicht ihm entsprochen hat, vieles, das mir nützlich, ihm aber schädlich sein mußte, dachte ich. Der Nacheiferer eiferte mir in allem nach, auch da, wo es ganz offensichtlich nicht anders als gegen ihn gerichtet gewesen ist, dachte ich.205

Im selben Zug, in dem der Erzähler Wertheimer Individualität abspricht, nimmt er ein Postulat von Individualität, wie es im 18. Jahrhundert formuliert worden war, für sich in Anspruch. Ein solches ist am Ende des 20. Jahrhunderts schon lang sehr problematisch geworden; d. h. in seinem Selbstentwurf arbeitet der Erzähler – in einem größeren Rahmen betrachtet – intensiv an der Neuinstallierung des Subjekts nach dessen Abschaffung mit. Ich hatte auch niemals zum Unterschied von Wertheimer, der sehr wohl gern Glenn Gould gewesen wäre, Glenn Gould sein wollen, ich wollte immer nur ich selbst sein […]. Wertheimer war nicht imstande, sich selbst als ein Einmaliges zu sehen, wie es sich jeder leisten kann und muß, will er nicht verzweifeln, gleich was für ein Mensch, er ist ein einmaliger, sage ich selbst mir immer wieder und bin gerettet.206

Die Ich-Versicherung findet qua Differenzmarkierung gegenüber Wertheimer statt und das Bewusstsein über die eigene Individualität wird als (Lebens-)Rettungsanker ausgewiesen. Dieses Bewusstsein zu erlangen und zu erhalten, gilt dem Erzähler als größtes Kunststück: »Jeder Mensch ist ein einmaliger Mensch und tatsächlich, für sich gesehen, das größte Kunstwerk aller Zeiten«.207 Diese Form von Lebenskunst, nämlich als Mensch selbst ein Kunst204 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 78. 205 Ebd. S. 92. Wertheimer imitiert zum einen die Lebensweise und -entscheidungen des Erzählers, zum anderen neidet er Glenn dessen Genialität und ist nicht fähig, diese ohne Missgunst zu bewundern. Der Erzähler nimmt demgegenüber für sich in Anspruch, stets über Glenn »staunen« (ebd. S. 83) zu können. 206 Ebd. Marcus Hahn stellt eine Ambivalenz im Epigonenvorwurf an Wertheimer heraus und begründet diese damit, dass »der zwillingshafte Ich-Erzähler genau dasselbe Epigonenproblem am Hals hat, das er auf Wertheimer zu externalisieren versucht.« (Hahn [Anm. 143]. S. 424) Die Analogie sieht Hahn darin, dass beide als Virtuosen scheitern und beide als Ersatz ein Schreibprojekt betreiben. Vgl. ebd. S. 425. 207 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 83f.

328

Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

werk zu sein – auch ohne weitere Kunstwerke zu schaffen –, erfordert kein angeborenes Ingenium: »Wir müssen kein Genie sein, um einmalig zu sein und das auch erkennen zu können, dachte ich.«208 Jemand, dem die eigene Einmaligkeit unbekannt ist – sprich: jemand wie Wertheimer –, kann unmöglich zu dieser Erkenntnis gelangen. Wertheimers Wechsel von der Musik in die Geisteswissenschaften und die daraus hervorgehenden Aphorismen209 stuft der Erzähler als »Pseudophilosophismus« ein: Wertheimer, so der Erzähler, »[v]ersuchte es plötzlich nurmehr noch sozusagen als Zweitschopenhauer, Zweitkant, Zweitnovalis und untermalte diese pseudophilosophische Verlegenheit mit Brahms und Händel, mit Chopin und Rachmaninow.«210 Als pseudophilosophierendem, im Untergang begriffenem ›Zweitnovalis‹ ist Wertheimer Novalis’ Imperativ, »[d]as Leben soll[e] kein uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman sein«211, fremd. Wertheimer ist ein Epigone in dreifacher Hinsicht: Er eifert erstens dem Erzähler in dessen Lebensführung nach und zweitens Glenn – zumindest zu Beginn – in dessen Künstlerlaufbahn. Aber auch die Abkehr von der Musik und die Hinwendung zur Philosophie tragen epigonale Züge: Erstere stellt sich als inspiriert vom Erzähler heraus und Zweitere ist ein ›Wiederkäuen‹ von Vorbildern. Nicht unterschlagen werden darf aber, dass Wertheimers Epigonendasein im Text ein Ende findet, nämlich in seinem Freitod. Gerade Wertheimers Todesart ist es, die sein lebenslanges Epigonentum beendet und vom Erzähler als Triumph gewertet wird: Nur sein Selbstmord war schließlich seine eigene Entscheidung und ganz aus ihm, dachte ich, so mag er am Ende, wie gesagt wird, noch eine triumphale Empfindung gehabt haben. Und möglicherweise hat er mir dadurch, daß er sich sozusagen aus freien Stücken umgebracht hat, alles voraus, dachte ich.212

Der Erzähler nimmt damit eine Deutung von Wertheimers Freitod vor, die den Tod nicht als endgültiges Scheitern und Untergehen einstuft, sondern im Gegenteil als das Ende des Scheiterns positiv wertet. Zu Recht beklagt Christian Katzschmann die »interpretative Separierung von gelingenden und scheiternden Existenzprojekten«213, wenn es um das Werk Thomas Bernhards geht. In der Bernhard-Forschung gebe es eine Tendenz, nur »Vorhaben und Aktionen der 208 Ebd. S. 84. 209 Zur Affinität der Handschrift zu kompakten Aussageformen wie Aphorismen und Allegorien vgl. McLuhan: Die magischen Kanäle (Anm. 65). S. 348 und Kapitel III. 2. 210 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 96. 211 Novalis: Poetizismen. Nr. 45. In: Novalis. Werke. Hg. und kommentiert von Gerhard Schulz. 2., neubearbeitete Auflage. München 1981. S. 389. 212 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 78. 213 Christian Katzschmann: Selbstzerstörer. Suizidale Prozesse im Werk Thomas Bernhards. Köln 2003. S. 5.

(künstlerische) Subjektivität

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Figuren, die als existenzsichernde, -bewahrende zu deuten sind«214, wertzuschätzen. Mit der positiven Interpretation von Wertheimers Tod durch den Erzähler wird auch das Subjektverständnis der postmodernen Kultur allgemein auf den Prüfstand gestellt. Auf den ersten Blick löst die Figur Wertheimer nämlich zahlreiche Zuschreibungen eines Anti-Subjekts im Sinne der Postmoderne ein. Dazu gehören seine Verwahrlosung und sein Verfall am Ende des Textes. Die Wirtin berichtet, Wertheimer sei »unausgeschlafen und in zerknitterten und abgerissenen Kleidern […] durch den Ort gegangen«215. Schließlich habe er bis zu seinem Lebensende in vollständiger Isolation gelebt: Die letzten Monate sei er nicht mehr nach Wien gefahren, habe sich nicht einmal mehr für die dort liegende Post interessiert, diese Post sich auch nicht mehr nachschicken lassen. Vier Monate sei er allein in Traich gewesen, ohne das Haus zu verlassen, die Holzknechte versorgten ihn mit Lebensmitteln […].216

Wertheimers Einsiedlertum ist keineswegs mit Glenns aktivem Rückzug in das Tonstudio gleichzusetzen,217 sondern markiert seine Position als das »verworfene kulturelle Außen der postmodernen Arbeitskultur«218. Wertheimer verkörpert den Typus des »Unkreative[n], de[m] zur Arbeit an sich selbst und zur Stilisierung auf dem Markt Unfähige[n], der gleichzeitig zu viel und zu wenig Selbstkontrolle ausübt.«219 Außerdem zeigt er »Phänomene der Handlungshemmung und Identitätsunsicherheit […], die sich im Syndrom des ›Depressiven‹ konzentrieren.«220 Bei Wertheimer scheint regelrecht eine potenzierte Depression vorzuliegen: Eine deprimierende Kindheit habe ich gehabt, so Wertheimer immer, eine deprimierende Jugend habe ich gehabt, so er, eine deprimierende Studienzeit habe ich gehabt, einen mich deprimierenden Vater habe ich gehabt, eine mich deprimierende Mutter, deprimierende Lehrer, eine mich immerfort deprimierende Umwelt.221

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218 219 220 221

Ebd. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 103. Ebd. Der Vergleich der jeweiligen Rückzüge der drei trägt nur auf einer konkreten räumlich-geographischen Ebene: »Wir, Wertheimer und ich, hatten sozusagen unsere Isolationshäuser auf dem Land und flohen sie. Glenn Gould baute sich seinen Isolationskäfig, wie er sein Studio nannte, in Amerika in Newyorknähe.« (ebd. S. 138) Produktiv in der Isolation ist allerdings nur Glenn. Reckwitz: Das hybride Subjekt (Anm. 110). S. 501. Ebd. Ebd. S. 626. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 89.

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Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

Wertheimers Epigonentum ist Ausdruck einer Identitätsunsicherheit, außerdem kennzeichnet ihn das – in der Perspektive des postmodernen Subjektverständnisses – »Persönlichkeitsdefizit[…]«222 einer ›Handlungshemmung‹223 : Wertheimer ist immer der ängstliche Typus gewesen, völlig ungeeignet schon aus diesem gravierenden Grunde für eine Virtuosenlaufbahn noch dazu auf dem Klavier, für welche vor allem eine radikale Furchtlosigkeit gegenüber allem und jedem zu fordern ist, dachte ich.224

Vom Erzähler wird die Handlungshemmung anhand des Konzertierens durchdekliniert. Während Glenn »von einem Augenblick auf den andern den Entschluß wahr[machte], nicht mehr aufzutreten«, »scheute« Wertheimer sich, »aufzutreten [und] verlor […] allmählich nicht nur den Zusammenhang mit dem Konzertbetrieb, […] sondern auch seine Fähigkeiten«.225 Glenns aktiver Entschluss zum Rückzug von der Bühne steht Wertheimers Hemmung bezüglich des öffentlichen Spiels genauso gegenüber wie seine (weltweit) erfolgreichen Plattenproduktionen Wertheimers vernichteten Manuskripten gegenüberstehen. Der Erzähler setzt die Handlungshemmung schließlich explizit in einen Bezug zum Dilettantismus: Auch er selbst habe von einem Augenblick auf den andern aufgehört, das hat mich stark gemacht, stärker als die, dachte ich, die nicht aufgehört haben und die nicht besser gewesen sind als ich und die in ihrem Dilettantismus eine lebenslängliche Zuflucht gefunden haben […].226

Der Erzähler führt hier Handlungshemmung und Dilettantismus eng und folgt damit dem Gouldschen Beispiel, das Genialität und aktive Entschlussfähigkeit in einen wechselseitigen Zusammenhang bringt. Und nicht zuletzt stellt die Reflexion über die Entschluss(un)fähigkeit der drei eine Technologie des Selbst im Sinne Foucaults dar.227 Entsprechend deklariert der Erzähler seine Entscheidung, keine Pianistenlaufbahn einzuschlagen, dann als Ergebnis eines Denkprozesses.228 Bei Glenn ist, wie gesehen, sein Umgang mit den neuen Medien das, was seine Subjektivität gewährleistet – paradoxerweise, indem diese suspendiert wird – und seine Genialität beglaubigt. Im Hinblick auf die Figur Wertheimer ist zentral, dass Bernhards Text aufzeigt, dass auch Lebensentwürfe, die dem in der postmodernen Kultur bevorzugten Subjektmodell des »kreativ-unternehmeri222 Reckwitz: Das hybride Subjekt (Anm. 110). S. 626. 223 Wie die Moderne um 1900 die Handlungshemmung denkt, ist nachzulesen auf S. 64f. dieser Arbeit. 224 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 92. 225 Ebd. S. 95. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 226 Ebd. S. 99. 227 Vgl. Anm. 81. 228 Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S 99f.

Selbstsorge: programmatischer Dilettantismus und die Praktiken des Selbst

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sche[n] Selbst«229 nicht entsprechen – u. a. weil sie den Freitod als legitime Option enthalten –, positiven Deutungen unterzogen werden können. Als nächsten Schritt gilt es nun, die selbstreferentiellen Praktiken des Erzählers genauer in den Blick zu nehmen. Auch bei ihm treten Subjektivität und Medialität in einen engen Zusammenhang, allerdings nicht wie bei Glenn in Gestalt des Umgangs mit elektronischen Medien, sondern in Form der »biographischen Selbstreflexion«230.

II.

Selbstsorge: programmatischer Dilettantismus und die Praktiken des Selbst

Zur Vorbereitung auf die Analyse der selbstreferentiellen Praktiken des Erzählers und auf die Klassifizierung seines programmatischen Dilettantismus als Variante einer von der Philosophie des späten Foucault inspirierten Selbstsorge, möchte ich kurz den systematischen Zusammenhang von (literarischem) Schreiben und Selbstsorge skizzieren.

II.1.

Selbstsorge und Schreiben, Lebenskunst und Dilettantismus: Wahlverwandtschaften

Das Schreiben als mediale Basis der biographischen Selbstreflexion des Erzählers sowie Thomas Bernhards literarische Ausgestaltung von Lebens-Kunst-Modellen bezeugen eine wechselseitige Affinität von philosophischen Selbstsorgekonzepten und künstlerischem Ausdruck.231 Denn das Gelingen des Lebens und die Empfindung von Glück orientieren sich an den aisthetischen Fähigkeiten des Menschen, mithin an den Kriterien der Ästhetik. Während antike Selbstsorgekonzepte die Tendenz zeigen, sich dem systematisch-philosophischen Diskurs eher zu verweigern, sind sie häufig in poetischen Texten, Dialogen, Briefen und Aphorismensammlungen zu finden.232 Aber auch Kunstformen der Postmoderne setzen sich mit Fragen der praktischen Lebensführung u. ä. auseinander. Einige der literarischen Texte Thomas Bernhards verbinden das hier zu verhandelnde Thema, den Dilettantismus, aufs Engste mit Fragen nach dem konkreten Lebensvollzug. So wird in Ungenach der »Daseinsdilettantismus«233 229 Reckwitz: Das hybride Subjekt (Anm. 110). S. 46. 230 Ebd. S. 39. 231 Vgl. Dorothee Kimmich: Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge. Darmstadt 1993. S. XVI. 232 Vgl. ebd. 233 Thomas Bernhard: Ungenach. Frankfurt/M. 1968. S. 92.

332

Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

problematisiert und in Der Untergeher wird das Leben als fortwährende Flucht vor dem Dilettantismus charakterisiert bzw. der Dilettantismus als »lebenslängliche Zuflucht« problematisiert.234 Wenn wiederum Michel Foucault bekennt: »Die Vorstellung des bios als Stoff eines Kunstwerks erscheint mir sehr faszinierend«235, oder wenn er emphatisch appelliert: »Das eigene Sein zu einem Kunstwerk machen, das ist wirklich der Mühe wert«236, stellt auch er genau diese Verbindung von Lebensgestaltung und Ästhetik her. Ästhetik auf das Leben allgemein zu beziehen – also zur anthropologischen Kategorie zu erklären –, impliziert eine Demokratisierung von Kunst und Künstlerschaft: Was mich erstaunt, ist, dass in unserer Gesellschaft die Kunst nur noch eine Beziehung mit den Objekten und nicht mit den Individuen oder mit dem Leben hat, und auch, dass die Kunst ein spezialisierter Bereich ist, der Bereich von Experten, nämlich den Künstlern. Aber könnte nicht das Leben eines jeden Individuums ein Kunstwerk sein? Warum sind ein Gemälde oder ein Haus Kunstobjekte, aber nicht unser Leben?237

Die ästhetischen Kategorien geltend machend, plädiert Foucault hier offen für das Dilettieren:238 Zur Kunst sollen nicht nur »Spezialisten« (= Künstler_innen) Zugang haben, sondern »jeder einzelne«.239 Ermöglicht wird dies durch die Erweiterung dessen, was als Gegenstand von Kunst anerkannt wird: nämlich auch das individuelle Leben.240 Zentral an diesen Überlegungen für den hier vorlie234 Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 69 und S. 99. 235 Michel Foucault: Sex als Moral. Gespräch mit Hubert Dreyfus und Paul Rabinow [1984]. In: Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch. Deutsch von Marianne Karbe und Walter Seitter. Berlin 1984. S. 69–83. Hier: S. 78. 236 Michel Foucault: Gespräch mit Werner Schroeter. In: Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. von Daniel Defert und FranÅois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Übersetzt von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Frankfurt/M. 2007. S. 105–115. Hier : S. 112. Das Gespräch wurde am 03. Dezember 1981 geführt und ist 1982 veröffentlicht worden. 237 Foucault: Zur Genealogie der Ethik (Anm. 71). S. 201. 238 Zygmunt Bauman setzt sich in Das Unbehagen in der Postmoderne interessanterweise mit einem 1983 geführten Gespräch zwischen Michel Foucault und Pierre Boulez auseinander, in dem Boulez die Meinung vertritt, gerade Newcomer, Musikliebhaber oder Amateure seien im Vergleich zu den Profis die besseren Zuhörer, da ihnen keine musikalische Bildung den Zugang zur Musik versperre (vgl. Zygmunt Bauman: Von der Bedeutung der Kunst und der Kunst des Bedeutens. In: ders.: Das Unbehagen in der Postmoderne. Aus dem Englischen von Wiebke Schmaltz. Hamburg 1999. S. 183–198. Hier : S. 184. Erschienen ist das Gespräch in: Michel Foucault: Politics, Philosophy, Culture: Interviews and other Writings 1977–1984. Hg. von Lawrence D. Kritzman. London 1988.). Glenn Gould, dessen Schriften zur Musik I den Übertitel Von Bach bis Boulez tragen, vertritt, wie ich noch zeigen werde, eine ähnliche Ansicht. 239 Foucault: Zur Genealogie der Ethik (Anm. 71). S. 201. 240 Mit Thomas Rolf ist darauf hinzuweisen, dass »die Idee einer Wahlverwandtschaft von Ethik und Ästhetik nicht neu [ist], sondern […] in Schillers Idee der ästhetischen Erzie-

Selbstsorge: programmatischer Dilettantismus und die Praktiken des Selbst

333

genden Zusammenhang – und in diese Richtung sollen die eingangs skizzierten Konzepte Foucaults nun genauer perspektiviert werden – ist die genuine Verwandtschaft von Lebenskunst und Dilettantismus, wobei Dilettantismus als etwas Positives und Produktives – eben als Ausdruck einer exoterischen Öffnung der Kunst – verstanden wird. Ganz in diesem Sinne positioniert sich auch – wie bereits gesehen – der Erzähler von Der Untergeher : »Jeder Mensch ist ein einmaliger Mensch und tatsächlich, für sich gesehen, das größte Kunstwerk aller Zeiten«.241 Entsprechend übt er an Wertheimer folgende Kritik: »Er wollte Künstler sein, Lebenskünstler genügte ihm nicht, obwohl doch gerade dieser Begriff alles ist, das uns glücklich macht, wenn wir hellsichtig sind, dachte ich.«242 Der Erzähler stimmt mit Foucault darin überein, »keinen Unterschied [zu sehen] zwischen Menschen, die ihr Dasein zu einem Werk machen, und solchen, die in ihrem Dasein ein Werk schaffen. Das Dasein kann ein vollkommenes und sublimes Werk sein.«243 Mit dieser Ansicht reiht sich der Erzähler weniger – wie man vielleicht vermuten könnte – in eine Tradition des Künstlers ohne Werk ein,244 sondern er greift Ansätze der besonderen Stilisierung der Künstlerpersönlichkeit auf.245 In Bernhards Der Untergeher folgt die Auseinandersetzung mit Fragen des Lebensvollzugs bzw. mit Lebens-Kunst-Modellen im Kontext der zeitgenössischen Entdifferenzierung des Ästhetischen einem

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hung sowie in Nietzsches Gedanken einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt prominente Vorbilder [besitzt]. Die Spezifität von Foucaults Zugriff besteht jedoch darin, diese Wahlverwandtschaft im Begriff der Selbstnormalisierung zu bündeln und herauszustellen, daß bereits in alltäglichen Handlungsweisen ethische und ästhetische Komponenten nicht voneinander zu trennen sind. Schon der durchschnittliche Mensch weist in seinen Idiosynkrasien Züge derjenigen Souveränität auf, die in klassischen Ästhetikkonzeptionen dem Künstler und seinen Produkten vorbehalten blieben. Indem Foucault diese Evidenz lebenskunsttheoretisch ausbuchstabiert, trägt er zweifellos zur Demokratisierung der Praxis ästhetischen Existierens bei.« Thomas Rolf: Normale Selbstverwirklichung. Über Lebenskunst und Existenzästhetik. In: Wolfgang Kersting und Claus Langbehn (Hg.): Kritik der Lebenskunst. Frankfurt/M. 2007. S. 315–341. Hier: S. 331f. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 83f. Ebd. S. 93. Foucault: Gespräch mit Werner Schroeter (Anm. 236). S. 111. »Der Schutzheilige des Dilettanten ist jener Raphael ohne Hände, von dem der Maler Conti in Lessings Emilia Galotti spricht.« Jürgen Stenzel: Ästhetischer Dilettantismus in der Literatur. Private Absicht und ästhetische Prätention. In: Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007. S. 19–25. Hier : S. 20. Für Lebens-Kunst par excellence steht der Dandy – ein enger Verwandter des Dilettanten. Nicht zuletzt Foucault widmet sich ihm als einer Figur, die Lebensvollzug und Künstlerschaft geradezu miteinander identifiziert: Die »Idee, wonach das Hauptkunstwerk, für das man Sorge zu tragen hat, die wesentliche Zone, auf die man ästhetische Werte anzuwenden hat, man selbst, das eigene Leben, die Existenz ist [,…] findet [man] […] in der Renaissance, doch in einer anderen Form, und noch im Dandyismus des 19. Jahrhunderts, aber das waren nur kurze Episoden.« (Foucault: Zur Genealogie der Ethik [Anm. 71]. S. 210) Foucault reiht den Dandyismus explizit in die Selbst-Künste, in die »Ästhetiken der Existenz« ein. Ebd. S. 216.

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genuin postmodernen Impuls.246 Entsprechend ist der programmatische Dilettantismus des Erzählers, der die Grundlage für dessen ›Lebenskünstlerschaft‹, sein ›Weltanschauungskünstlertum‹ bildet, als prototypisches Lebenskunst-Modell unter den Bedingungen der Postmoderne einzuordnen. Die in der Künstlertrilogie (Der Untergeher, Holzfällen, Alte Meister) neu auftauchende Disziplin, »die auf Stärke und Klugheit basierende ›Lebenskunst‹«247, wird als »heiter-resignierte[…] Lebensgestaltung [gedeutet], die trotz der beklagten Vergeblichkeit der Welt Versöhnung mit dem Dasein und eine notdürftige Überlebensstrategie zuläßt.«248 Markus Scheffler sieht in der Opposition zwischen einer scheiternden künstlerischen Existenz (Wertheimer) und dem »freiwilligen Verzicht auf künstlerische Artikulation«249 (Erzähler) eine Hierarchie: In Der Untergeher stünde die Lebenskunst über der genialen Produktion.250 Die Hierarchie der Werte, die Bernhard damit anordnet, folge, so Scheffler, »einer Rangordnung, die Schopenhauer in seiner Ethik entwickelt«251. Der auffällig häufige Gebrauch von Vokabeln aus dem semantischen Feld ›Existenz, Existieren‹ vernetzt den Text überdies mit diversen Strömungen der Existenzphilosophie.252 Der Erzähler spricht im landläufigen Sinne davon, seine Existenz nicht der Sentimentalität opfern zu wollen,253 und bescheinigt Wertheimer Epigonentum »in Existenzentscheidungen«254. Wertheimer dagegen verknüpft den Existenzbegriff mit einem quasi-philosophischen Konzept: Wem das »Musiktalent« fehle, der besitze auch kein »Existenztalent«.255 Für seine Einsicht, »nicht einmal zu existieren imstande« zu sein, nicht zu existieren, sondern existiert zu werden,256 prägt er die Bezeichnung des Lebens als »Existenzmaschine«257. Hier soll argumentiert werden, dass Wertheimers – die produktiven 246 Vgl. Utz Riese: Postmoderne/postmodern. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. von Karlheinz Barck. Bd. 5: Postmoderne-Synästhesie. Stuttgart/Weimar 2003. S. 1–39. Hier. S. 1. 247 Alfred Pfabigan: Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment. Wien 2009. S. 297. Markus Scheffler formuliert alternativ : Die Protagonisten entwickelten und praktizierten »eine ›Lebenskunst‹, die auf Disziplin, Willensstärke und auf festen Prinzipien baut.« Scheffler (Anm. 34). S. 296. 248 Ebd. S. 212. 249 Ebd. S. 296. 250 Vgl. ebd. 251 Ebd. S. 314. 252 Zum Bezug von Der Untergeher zu Kierkegaards Existenzphilosophie vgl. Sebastian Soppa: Scheiternde Subjektivität. Das unglückliche Bewusstsein bei Hegel und Kierkegaard. Berlin 2010. S. 126 und Barbey : Aut Gould aut nihil (Anm. 61). S. 25. 253 Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 16. 254 Ebd. S. 17. 255 Ebd. S. 45. 256 Ebd. 257 Vgl. ebd. S. 41: »Daß er existieren müsse, ihnen vorgehalten ununterbrochen, daß sie ihn in die fürchterliche Existenzmaschine hineingeworfen haben oben, damit er völlig zerstört

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Aspekte der Existenzphilosophie ignorierender – Existenzbegriff mit Wertheimer gemeinsam untergeht258 und zugleich ein alternatives Lebenskunstmodell auftaucht.259 An Der Untergeher soll gezeigt werden, dass die These, Bernhard stünde für eine »negative Anthropologie«260, nicht in der behaupteten Universalität und nicht für das Gesamtwerk gilt. Der zumindest teilweisen Abkehr von der negativen Anthropologie und dem zaghaften Aufscheinen eines positiven Menschenbildes korrespondiert eine Bewegung der Abkehr von der Kunst, eine Wendung zum Dilettantismus. Obgleich 1985 in Alte Meister wieder die lebenserhaltende und -rettende Aufgabe der Kunst vor dem Hintergrund der »Widerwärtigkeiten« der Welt akzentuiert wird,261 besteht die »Besonderheit« von Der Untergeher gegenüber anderen Texten Bernhards darin, dass auch Wege und Möglichkeiten aufgezeigt werden, »die mortifizierende Gewalt der Tonkunst zu überleben«262 – wenn auch nicht für alle Protagonisten.

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unten wieder herauskomme. Wehren nütze nichts, so er immer wieder. Das Kind war in diese Existenzmaschine hineingeworfen worden von der Mutter, der Vater hielt diese Existenzmaschine, die den Sohn konsequent zerstückelte, lebenslänglich in Gang.« Foucault, der klar sagt: »Ja. Mein Standpunkt ist Nietzsche näher als Sartre« (Foucault: Zur Genealogie der Ethik [Anm. 71]. S. 202), distanziert sich von der apriorischen Annahme eines Subjekts im Existentialismus (vgl. Foucault: Die Ethik der Sorge um sich [Anm. 72]. S. 265). Vielmehr konstituiere sich das Subjekt erst durch bestimmte Praktiken (vgl. ebd.). Der programmatische Dilettantismus des Erzählers inklusive seiner Schreibprojekte kann als Ensemble solcher Praktiken verstanden werden, während Wertheimers Selbstverständnis des passiv Existiertwerdens eher in Richtung der Existenzphilosophie Sartrescher Prägung weist, mit dieser jedoch nicht deckungsgleich ist. Zusätzlich sei an dieser Stelle erneut auf Christian Katzschmanns Einwand hingewiesen, Suizidäre würden meist als Figuren interpretiert, »die die Chance einer geistigen und positiven Lebensform verspielt haben« (Katzschmann [Anm. 213]. S. 19). Katzschmann spricht sich zu Recht gegen »moralisierende[…] Suizidbewertung[en] [aus], die im Selbstvernichter den zur Daseinsbewältigung Unfähigen« (ebd.) sehen. Er ist der Ansicht, die Bernhardschen Selbstmörder nutzten »die konstruktiven und die destruktiven Tendenzen der Persönlichkeit […] zur eigenwilligen souveränen Daseinsgestaltung und -beendigung, zur Entwicklung selbstzerstörerischer Projekte« (ebd.). Ich schließe mich der Deutung, in Wertheimers Untergang auch ein lebensgestalterisches Potential zu sehen, an. Interessanterweise stellt auch Katzschmann eine Verbindung zu den Foucaultschen Selbsttechniken her. Zur »sprachlichen Todesvorbereitung« nutzten die zukünftigen Selbstmörder Technologien des Selbst wie »regelmäßige ›Aufzeichnungen über sich selbst‹ in ›Abhandlungen und Briefe[n]‹ oder im ›Tagebuch‹«. Ebd. S. 118; Binnenzitate aus Foucault: Technologien des Selbst. Graf (Anm. 47). S. 87. Dort vertritt Reger die Ansicht: »Die Kunst insgesamt ist ja auch nichts anderes als eine Überlebenskunst […], sie ist der alles in allem doch immer wieder auf selbst den Verstand rührende Weise gemachte Versuch, mit dieser Welt und ihren Widerwärtigkeiten fertig zu werden«. Thomas Bernhard: Alte Meister (= Werke. Bd. 8). Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt/M. 2008. S. 187. Köpnick (Anm. 53). S. 280. Lutz Köpnick bezieht sich hier auf die Musik und nennt als andere Texte Verstörung und Wittgensteins Neffe.

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(ausbleibende) Selbstsorge im Schreiben: Der Untergeher

Das zentrale Kunstwerk in Der Untergeher, die Goldbergvariationen, zeichnet sich bereits durch eine Atmosphäre aus, die mit dem Foucaultschen Paradigma konvergiert. Der historische Glenn Gould attestiert Bachs Komposition eine »merkwürdige Mischung von heiterer Gelassenheit und zwingender Beherrschung«263. Der fiktive Glenn in Bernhards Roman neigt mit seinen »Klavierexerzitien«264 einseitig zur ›zwingenden Beherrschung‹. Indem Bernhard seinen Roman u. a. um ein Musikstück kreisen lässt, das durch eine ›Mischung von heiterer Gelassenheit und zwingender Beherrschung‹ charakterisiert ist, überlagert er die künstlerische/ästhetische Dimension mit einem quasi-anthropologischen Modell; er deutet den künstlerischen Ausdruck in Kategorien der Lebensführung, genauer : einer Selbstsorge, die das Maßhalten zum Prinzip erhebt. Dieses Verfahren bildet das Gegenstück zur Überblendung des vorgestellten Lebenskunstmodells – ermöglicht durch einen programmatischen Dilettantismus – mit dem Gedanken einer Ästhetik der Existenz. II.2.1. Körper-Verfassungen »[J]ede Regel, wenn sie zuviel praktiziert wird, ist wieder schädlich«265, meint Thomas Bernhard und spricht damit das Prinzip der Mäßigung an, das einen zentralen Aspekt aller philosophisch-anthropologischen Selbstsorgekonzepte bildet. Dies legt nahe, die Lebens-Kunst-Modelle, die Der Untergeher vorstellt, auch auf die anthropologische Leitopposition von Leib und Seele, in der Begrifflichkeit des 20. Jahrhunderts: auf das Verhältnis von Körper und Geist, zu untersuchen. […] [D]ie Schlaflosigkeit (des Glenn Gould!) war zu unserem entscheidenden Zustand geworden, in der Nacht erarbeiteten wir uns, was uns Horowitz am Tag gelehrt hatte. Wir aßen beinahe nichts und hatten auch die ganze Zeit keine Rückenschmerzen […]; unter Horowitz kamen diese Rückenschmerzen gar nicht auf, weil wir mit einer solchen Intensität studierten, daß sie gar nicht aufkommen konnten.266

Hier wird die Maßlosigkeit auf dem Feld des Körperdiskurses zum Thema gemacht, und zwar in der Form, dass dieser die drei Protagonisten wechselseitig aufeinander abbildet. Zu Beginn des Textes werden die drei Musiker als eine 263 Glenn Gould: Die Goldberg-Variationen [1956]. In: Glenn Gould. Von Bach bis Boulez. Schriften zur Musik I. Hg. und eingeleitet von Tim Page. Aus dem Amerikanischen von Hans-Joachim Metzger. München/Zürich 1986 [orig. 1984]. S. 45–52. Hier: S. 48. 264 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 7. 265 Krista Fleischmann: Thomas Bernhard – Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Wien 1991. S. 70. 266 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 7.

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symbiotische Konstellation präsentiert, die sich dadurch auszeichnet, dass sich der Zustand des einen – selbstverständlich des Genies Glenn – auf die anderen beiden überträgt.267 Die Intensität des Studiums, mithin die völlige Hingabe an die Kunst, bedeutet eine komplette Negierung des Körpers: Primärbedürfnisse wie Schlaf und Nahrungsaufnahme268 werden nicht mehr befriedigt, der Geist-Körper-Dualismus ist völlig zu Gunsten des Geistes aufgelöst.269 Der Begriff des ›Geistesmenschen‹ wird in Bezug auf Bernhards Protagonisten häufig verwendet. Mehrfach im Werk Bernhards wird die ›Geistigkeit‹ der Figuren durch Lungenkrankheiten – als symbolische Artikulationen des Geistes durch den Körper – beglaubigt. »Zur Herstellung des Geistes und des Denkens wird der Geistesmensch über die Atmung in eine geeignete, das heißt kranke 267 Dass sich Glenns Schlaflosigkeit auf Wertheimer und den Erzähler überträgt, ist auch im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der Goldbergvariationen interessant. »Während die Goldbergvariationen doch nur zu dem Zweck komponiert worden sind, die Schlaflosigkeit eines lebenslänglich an Schlaflosigkeit Leidenden erträglich zu machen, dachte ich, haben sie Wertheimer umgebracht. Zur Gemüthsergetzung waren sie ursprünglich komponiert worden und haben fast zweihundertfünfzig Jahre danach einen hoffnungslosen Menschen, eben Wertheimer, umgebracht« (ebd. S. 137; zur Entstehungsgeschichte der Goldbergvariationen vgl. Köpnick [Anm. 53]. S. 286). Wertheimer bringt die Schlaflosigkeit um, und auch der Erzähler wird »von Schlaflosigkeit schließlich beinahe umgebracht.« (Bernhard: Der Untergeher [Anm. 31]. S. 115) D. h. Glenn ›infiziert‹ die beiden mit einer Krankheit, zu deren Heilung sein Meisterstück, die Goldbergvariationen, ursprünglich komponiert worden war. Innerfiktional ist dieser Umstand schon bemerkenswert genug; regelrecht perfide wird das Ganze mit Blick auf die Aussagen des historischen Gould zu diesem Thema: »Keyserlingk, scheint es, wurde häufig von Schlaflosigkeit heimgesucht und bat Bach, einige beruhigende Stücke für Tasteninstrument zu schreiben, die Goldberg als Schlafmittel spielen konnte. Wenn die Behandlung ein Erfolg war, so läßt uns das mit einem gewissen Zweifel zurück, was die Authentizität der Wiedergabe dieser scharfen und prickelnden Partitur durch Meister Goldberg angeht.« Gould: Die Goldberg-Variationen (Anm. 263). S. 45. 268 Vgl. dazu auch Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 8: »Wir tranken Wasser und redeten nichts.« Die Schlaflosigkeit der drei ist in Glenns Fall noch potenziert, da er Schlaf gar nicht anzustreben bzw. zu brauchen scheint: »Wertheimer stand um fünf Uhr früh auf, ich um halb sechs, während Glenn immer erst um halb zehn aufgestanden ist, weil er sich erst gegen vier Uhr früh hingelegt hat, nicht um zu schlafen, so Glenn, sondern um die Erschöpfung ausklingen zu lassen.« Ebd. S. 40. 269 (Dieses Phänomen war auch schon zu beobachten beim Dilettanten Anton Reiser. Vgl. S. 128 dieser Arbeit.) Reinhild Steingröver bezieht diese Stelle aus Der Untergeher auf Schopenhauers Genie-Konzeption in Die Welt als Wille und Vorstellung. Die absolute Konzentration und das interesselose Sich-selbst-Vergessen entspräche den Merkmalen des Genies nach Schopenhauer ; Bernhard würde diese Vorstellung jedoch ironisieren (vgl. Steingröver: »Der Hellsichtigste aller Narren« [Anm. 47]. S. 90). Den Bezug zur Musikphilosophie Schopenhauers arbeiten auch heraus: Martin Huber : Vom Wunsch, Klavier zu werden. Zum Spiel mit Elementen der Schopenhauerschen Musikphilosophie in Thomas Bernhards Roman Der Untergeher. In: Otto Kolleritsch (Hg.): Die Musik, das Leben und der Irrtum. Thomas Bernhard und die Musik. Wien/Graz 2000. S. 100–110 sowie Kuhn: »Ein philosophisch-musikalisch geschulter Sänger« (Anm. 115).

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Körperverfassung gebracht«;270 d. h. der kranke Körper ist geradezu eine Bedingung für die Existenz als Geistesmensch. Die erkrankte oder verletzte Körperstelle wird dann zum »Element der Sensibilisierung und der Aufmerksamkeit, der Konzentrationsfähigkeit und der Vergeistigung.«271 Dies gilt für Der Untergeher in besonderem Maße: Glenn, Wertheimer und der Erzähler leiden alle drei an einer Lungenkrankheit, doch nur Glenn stilisiert dieses Leiden zur Kunst: »Nicht einen einzigen Ton hat Glenn jemals ohne seine Singstimme angeschlagen, dachte ich, kein anderer Klavierspieler hat diese Angewohnheit jemals gehabt. Von seiner Lungenkrankheit sprach er als wäre sie seine zweite Kunst.«272 Die Lungenkrankheit kann durchaus als »eine Insignie für den verschworenen Verbund der drei exklusiven Freunde«273 und deren Geistigkeit gelesen werden; zugleich ist sie aber das einzige Einfallstor, über welches der Körper in das Bewusstsein der drei Männer treten kann. Der Körper macht sich in den zuweilen hypochondrisch anmutenden Überlegungen des Erzählers bemerkbar274 und es sind Körpererfahrungen, die zur Entscheidung für den Umzug auf das Land führen: »In der Altstadt hatte alles lähmend auf uns gewirkt, die Luft war nicht einzuatmen, die Menschen waren nicht auszuhalten, die Mauerfeuchtigkeit hatte uns und unseren Instrumenten zugesetzt.«275 Der Erzähler argumentiert buchstäblich mit einer Klimatheorie, um den Ortswechsel nach Leopoldskron, »das damals noch eine grüne Wiese war, auf welcher die

270 Hajo Eickhoff: Die Stufen der Disziplinierung. Thomas Bernhards Geistesmensch. In: Alexander Honold und Markus Joch (Hg.): Thomas Bernhard. Die Zurichtung des Menschen. Würzburg 1999. S. 155–162. Hier : S. 161. Zur kranken Körperlichkeit als Voraussetzung für Geistigkeit vgl. auch: Burghard Damerau: Geistesdämmerung und Körperkult. Inhalt und Form in Thomas Bernhards Werk. In: Alexander Honold und Markus Joch (Hg.): Thomas Bernhard. Die Zurichtung des Menschen. Würzburg 1999. S. 163–173. Burghard Damerau argumentiert ebenfalls im Horizont des Leib-Seele-Dualismus, wenn er behauptet, Bernhard stelle die »traditionelle Dominanz und Herrschaft des Bewußtseins über den Körper […] mit der radikal disziplinierenden und masochistischen Gewaltsamkeit auch in Frage«. Ebd. S. 167. 271 Eickhoff (Anm. 270). S. 161. 272 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 9. Der Bezug auf Thomas Manns Der Zauberberg und den Topos des Leidens für die Kunst ist hier nicht zu übersehen. Darin stimmt der historische Gould übrigens mit dem fiktiven Glenn überein: Gould ließ »es sich nicht nehmen, sich mit dem lungenkranken Hans Castorp […] zu vergleichen, und wenigstens eine Zeitung verbreitete das Gerücht, dass er tatsächlich unter Lungentuberkulose leide.« (Bazzana: Glenn Gould [Anm. 37]. S. 153f) Thomas Bernhards eigene Lungenkrankheit rundet diese fiktiv-reale Konstellation zusätzlich pointiert ab. 273 Andreas Maier : Die Verführung. Thomas Bernhards Prosa. Göttingen 2004. S. 212. 274 Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 112. 275 Ebd. S. 13. Bis ins Vokabular gleicht die Position des Erzählers derjenigen Glenns, der verkündet: »Wir müssen uns immerfort frische Luft zuführen, sagte er, sonst hindert es uns, weiterzukommen, lähmt uns in unserem Vorhaben, das Höchste zu erreichen.« Ebd. S. 23f.

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Kühe weideten«276, zu begründen. Er berücksichtigt die körperliche Verfassung also durchaus, ja er räumt dem Körper einen besonderen Stellenwert in der Weise ein, die Michel Foucault bezüglich der Selbstpraktiken beschreibt: Er vermerkt jedes Unwohlsein (Stichwort: Hypochondrie), richtet eingehende Aufmerksamkeit auf jede Art von Störungen (Stichwort: Mitmenschen), berücksichtigt Elemente wie Jahreszeit (Stichwort: Mauerfeuchtigkeit277), Witterung (Stichwort: Luft278), Ernährung und Lebensweise.279 Neben Foucault gibt es auch eine historische Anschlussstelle, an welche der Erzähler hier anknüpft: Novalis’ Umcodierung der Hypochondrie zur Lebenskunst. Novalis ist der Ansicht: »Die Hypochondrie bahnt den Weg zur körperlichen Selbstkenntniß Selbstbeherrschung - Selbstbelebung.«280 Wie bei dem Dichterphilosophen der Romantik erhält die Hypochondrie – als übersteigerte Aufmerksamkeit auf sich selbst und die Vorgänge am eigenen Körper – im Programm des Erzählers eine negative Modellfunktion für die Darstellung der Fähigkeit, sein eigenes Leben wie ein Kunstwerk zu produzieren.281 Diese körperliche Dimension des (an Novalis’ Genie-Konzept anknüpfenden) programmatischen Dilettantismus kommt für das postmoderne Medien-Genie Glenn dagegen nicht in den Blick. Die Lungenkrankheit im Speziellen thematisiert der Erzähler noch einmal anlässlich des Todes Glenns. Glenn sei nämlich gerade nicht an seinem Lungenleiden gestorben.282 Vielmehr habe die »Ausweglosigkeit« Glenn umgebracht,

276 Ebd. S. 13. 277 Vgl. auch ebd. S. 40: »Die Feuchtigkeit der österreichischen Gastzimmer fürchtete auch Glenn immer, er hatte Angst, sich in diesen österreichischen Gastzimmern, die immer schlecht oder überhaupt nie gelüftet werden, den Tod zu holen.« 278 Vgl. auch ebd. S. 70: »Salzburg ist kein Ort für die Entwicklung eines Klavierspielers, hat Glenn oft gesagt, das Klima ist zu feucht, es ruiniert das Instrument und gleichzeitig ruiniert es den Spieler, ruiniert Hände und Hirn des Spielers in der kürzesten Zeit.« 279 Vgl. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit III: Die Sorge um sich. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt/M. 1986 [Paris 1984]. S. 79. 280 Novalis: Teplitzer Fragmente. Nr. 68. In: Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophische Werk I. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Darmstadt 1965. S. 607. 281 Vgl. Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008. S. 303. 282 Im Unterschied zu Glenn, der zwar nicht an der Lungenkrankheit aber eben trotzdem stirbt, hebt der Erzähler seinen eigenen Lebenswillen besonders hervor. Bemerkenswert ist, dass er dies unter Berufung auf eine Figur tut, die dezidiert der körperlichen Sphäre zugeordnet ist: »Die Wirtin war einmal lungenkrank wie ich, dachte ich, diese Lungenkrankheit hat sie, wie ich, aus sich hinausdrängen, liquidieren können, mit ihrer Lebenswillenskraft.« (Bernhard: Der Untergeher [Anm. 31]. S. 118) Zum Thema Krankheit bei Bernhard vgl. allgemein: Renate Langer : Bilder aus dem beschädigten Leben. Krankheit bei Thomas Bernhard. In: Alexander Honold und Markus Joch (Hg.): Thomas Bernhard. Die Zurichtung des Menschen. Würzburg 1999. S. 175–185.

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»in welche er sich in beinahe vierzig Jahren hineingespielt hat, dachte ich.«283 Im Gegensatz zu Wertheimer und ihm selbst, die »das Klavierspiel aufgegeben haben, weil wir es nicht zu dieser Ungeheuerlichkeit gemacht haben wie Glenn«, ist Glenn aus »dieser Ungeheuerlichkeit nicht mehr herausgekommen«.284 Am Beispiel Glenns zeigt der Erzähler auf, dass Künstlerschaft auch als Methode eines schleichenden Selbstmords eingesetzt werden kann. Eines geistigen Selbstmords freilich, der jedes körperliche Hand-an-sich-Legen unnötig macht.285 II.2.2. Geistes-Haltungen Glenn »war von seiner Kunst in einer Weise besessen gewesen, daß wir annehmen mußten, er könne diesen Zustand nicht mehr lange hinausschieben und werde in kurzer Zeit sterben.«286 Diese Besessenheit interpretieren der Erzähler und Wertheimer als eine Variante des Freitods: Sie hatten geglaubt, »Glenn würde […] rasch zugrunde gehen, an seiner Kunstbesessenheit, an seinem Klavierradikalismus.«287 Im Unterschied zu Glenn wenden sich Wertheimer und der Erzähler von der Musik ab. – Das durch exzessives Musizieren herbeigeführte Aufgehen in der völligen Geistigkeit nach dem Tod ist für die beiden also keine Option. Während Wertheimer sich epigonenhaft den Geisteswissenschaften zuwendet und auf diesem Gebiet schließlich ebenfalls untergeht, läutet der Erzähler seinen »Verkümmerungsprozeß«288 ein. Er habe das Klaviervirtuosentum nur mißbraucht […] in meinem Verkümmerungsprozeß […]; verführt von meinem ganz und gar außerordentlichen Talent auf dem Klavier, habe ich es in das Klavierspiel hineingetrieben und dann, nach eineinhalb Jahrzehnten Tortur, verjagt, urplötzlich, skrupellos. […] Und wahrscheinlich war diese aufeinmal

283 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 9. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 284 Ebd. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 285 Entsprechend interpretiert Christian Katzschmann die Ausweglosigkeit, in die Glenn sich hineingespielt hat, als »ein Exempel für die Möglichkeit, sich seiner selbst auf sublime Weise und souverän zu entledigen, ohne sich erkennbar Gewalt anzutun.« Katzschmann (Anm. 213). S. 237. 286 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 8. 287 Ebd. Glenns Lieblingswort »Selbstdisziplin« (ebd. S. 23) legt auf den ersten Blick nahe, es in den übergeordneten Zusammenhang ›Selbstsorge‹ einzuordnen. Es kann jedoch argumentiert werden, dass die Figuren Bernhards Gefangene und nicht Akteure ihrer Disziplin sind (vgl. Herbert Gamper: Die Künstlerfiguren bei Grillparzer und Thomas Bernhard. In: Hilde Haider-Pregler und Evelyn Deutsch-Schreiner (Hg.): »Stichwort Grillparzer«. Wien/ Köln/Weimar 1994. S. 107–121. Hier : S. 115.). Es wäre dann eher von einer Dialektik der Selbstsorge im Sinne eines Umschlagens in ihr Gegenteil zu sprechen. 288 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 9.

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von mir zerschlagene Klaviervirtuosenlaufbahn ein notwendiger Teil meines Verkümmerungsprozesses, dachte ich […].289

Wichtig ist, dass der Erzähler seinen ›Verkümmerungsprozeß‹ entgegen der im Begriff mitschwingenden Konnotationen als etwas Positives versteht. Die Einsicht in das Verführtsein durch das Talent macht eine unsentimentale, zukunftsorientierte Geisteshaltung möglich. Man kann davon ausgehen, dass es sich bei dem Verkümmerungsprozess um das »Verkümmernlassen einer als lebensbedrohlich erkannten Ambition«290 handelt. Der Erzähler verschiebt die Selbstzerstörung durch Musik auf das Instrument,291 das er an ein untalentiertes Mädchen verschenkt: »[G]erade diesen Vorgang der Zugrunderichtung meines geliebten Steinway hatte ich ja haben wollen.«292 Was die Geisteshaltungen der beiden anderen Protagonisten angeht, ist für Glenn festzustellen, dass sich die bereits im Bereich des Körperlichen zu beobachtende Selbstdisziplin auch auf die geistige Sphäre erstreckt: Er war der rücksichtsloseste Mensch gegen sich selbst. Er gestattete sich keine Ungenauigkeit. Nur aus dem Denken entwickelte er seine Rede. Er verabscheute Menschen, die nicht zuende Gedachtes redeten, also verabscheute er beinahe die ganze Menschheit.293

Sich keine Ungenauigkeit zu gestatten, bedeutet, Herrschaft über sich selbst auszuüben, also das Ziel der Selbstsorge bereits erreicht zu haben. Im Rahmen dieser Selbstherrschaft aber maximal rücksichtslos gegen sich selbst zu sein, markiert einen Umschlagpunkt, an dem sich die Verfügungsmacht des Subjekts über sich selbst in ihr Gegenteil verkehrt. Seine Abscheu gegenüber den Menschen bringt Glenn schließlich dazu, sich in die völlige Isolation zurückzuziehen: »Er kaufte sich das Haus im Wald und richtete sich in diesem Haus ein und perfektionierte sich. Er und Bach bewohnten dieses Haus in Amerika bis zu seinem Tod. Er war ein Ordnungsfanatiker. Alles in seinem Haus war Ordnung.«294 Die Dialektik der Selbstherrschaft zeigt sich auf der sprachlichen Ebene in der Vokabel ›perfektionieren‹. Dieser Begriff zitiert den – ursprünglich aufklärerischen – Gedanken der Perfektibilität des Menschen, der eine große Nähe zu Konzepten der Selbstsorge aufweist.295 Zugleich ist dieser Gedanke in 289 Ebd. S. 16. 290 Langendorf (Anm. 144). S. 105. 291 Den programmatischen Dilettantismus des Erzählers zeichnet also eine ähnlich ›geniale‹ Bewegung aus wie Glenns metonymische Verschiebung seiner selbst in sein Instrument. 292 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 10f. 293 Ebd. S. 24. 294 Ebd. 295 Vgl. Dieter Thomä: Lebenskunst zwischen Könnerschaft und Ästhetik. Kritische Anmerkungen. In: Wolfgang Kersting und Claus Langbehn (Hg.): Kritik der Lebenskunst. Frankfurt/M. 2007. S. 237–260. Hier: S. 240.

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Der Untergeher in ein rigides Disziplinierungsprogramm eingebunden. Im Horizont der Postmoderne allgemein ist die Perfektionierung des Subjekts ohnehin nicht mehr losgelöst vom Projekt der Selbstoptimierung zu denken und meint sehr häufig auch Selbstausbeutung.296 Das Zitieren des Perfektibilitätsgedankens schreibt dem Roman Der Untergeher eine Dimension ein, die als kritische Stellungnahme zur postmodernen Tendenz, dass Selbstsorge in zwanghafte Selbstoptimierung und Selbstausbeutung kippt, gelesen werden kann. Während Glenn sich in seinem Haus – in den Worten des Erzählers: – ›perfektioniert‹, steuert Wertheimer in der Isolation das andere Ende des Perfektibilitätsspektrums an: »Glenn hat sich in seinen amerikanischen Käfig eingeschlossen, ich mich in meinen oberösterreichischen, sagte Wertheimer, dachte ich. Er mit seinem Größenwahn, ich mit meiner Verzweiflung.«297 Aus Wertheimers Warte ist Glenns Unternehmen, »mitten im Wald und abgeschirmt von allen Menschen ein Haus mit einem Musikstudio einzurichten«298, ein Beleg für seine Einschätzung, Glenn sei ein »verrückter Mensch, ein Wahnsinniger«299. Es ist bemerkenswert, dass Wertheimer an dieser Stelle Glenn eine epigonale Orientierung an sich unterstellt: »Ich habe Glenn von unserem Jagdhaus erzählt, sagte Wertheimer, ich bin überzeugt, das war es, was ihn selbst sich sein Haus im Wald bauen hatte lassen, sein Studio, seine Verzweiflungsmaschine, sagte Wertheimer einmal, dachte ich.«300 Die Verzweiflung, die Wertheimer zunächst sich selbst zugeordnet hatte, geht in Form einer epigonalen Aneignung auf Glenn über. Für Wertheimer sind Existenz und Verzweiflung identisch: »Existieren heißt doch nichts anderes, als: wir verzweifeln, so er.«301 Obgleich oder gerade weil Existenz und Verzweiflung für Wertheimer dasselbe sind, kommt der Tatsache, dass er Glenn mit einer ›Verzweiflungsmaschine‹ und sich selbst mit einer »Existenzmaschine«302 assoziiert, besondere Bedeutung zu. Bei Glenn ist die Verzweiflungsmaschine konkret sein Tonstudio,303 Wertheimers Existenzmaschine ist sein Dasein überhaupt. Hier bereitet der Text gewissermaßen subkutan das von ihm propagierte Lebenskunstmodell vor: Glenn als 296 Der Umstand, dass in der Postmoderne das »Ich […] zum Projekt« (Frankenberger und Meyer [Anm. 9]. S. 36) wird, führt dazu, dass »aus der Chance, an sich selbst zu arbeiten, schnell der Zwang [entsteht], das eigene Selbstverständnis und den eignen Lebensentwurf ständig kritisch zu überprüfen und wo möglich neu zu konzipieren und zu verwirklichen.« (ebd. S. 43) Zum Verhältnis von Dilettantismus und Selbstausbeutung vgl. auch S. 15 und S. 30 dieser Arbeit. 297 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 37. 298 Ebd. 299 Ebd. 300 Ebd. 301 Ebd. S. 44. 302 Wie Anm. 257. 303 Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 37.

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(Ton-)Künstler ist kreativ tätig und erfolgreich, aber der Verzweiflung anheim gegeben. Wertheimer wiederum nimmt die Existenz nicht als Gebiet, auf dem er kreativ tätig werden könnte, wahr. Indem Wertheimer sich selbst nur als passive Oberfläche begreift, die von einem »es«304 determiniert wird, stellt er sich in eine Opposition zu dem Gedanken einer Formbarkeit des Lebens und negiert die Möglichkeit einer individuellen Existenzgestaltung; bzw. aus der umgekehrten Perspektive gesprochen: Er delegiert diese ins Unbestimmte. Damit macht Wertheimer die Wendung ins Produktive, die der Existenzbegriff in der philosophischen Tradition erfahren hat, nicht mit.305 Der Untergeher spielt an der Figur Wertheimer die Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie Kierkegaardscher Prägung306 durch und legt eine Abkehr von ihr nahe. Dass mit Wertheimer auch dessen Variante einer Existenzphilosophie obsolet wird, macht der Erzähler deutlich, wenn er feststellt: »Theoretisch war er ein Existenzbeherrscher, praktisch hat er seine Existenz nicht nur nicht beherrscht, sondern ist von ihr vernichtet worden, dachte ich.«307 Es sei Wertheimer 304 Ebd. S. 45. 305 Auch Sebastian Neumeister kommt zu dem Ergebnis, dass »[d]ie Negation des Künstlers in der Kunst [bei Bernhard] […] aus einer existenzphilosophischen Bilanz« folgt (Neumeister [Anm. 1]. S. 115). Im Gegensatz zu Schopenhauers Philosophie, die einen Ausweg aus dem Leiden sucht, ist Wertheimer völlig überwältigt von der Negativität des Daseins (vgl. Scheffler [Anm. 34]. S. 303). Auch der spätere französische Existentialismus endet nicht – wie das Konzept Wertheimers – bei der Feststellung der Sinnlosigkeit der Existenz, sondern formuliert Antworten auf sie. 306 Vgl. Anm. 252. Sebastian Soppa führt aus: »Thomas Bernhard gibt mit dem Untergeher das fiktive Protokoll eines Verzweifelten. Es erinnert in vielen Punkten an Kierkegaards Existenzphilosophie. Wertheimers Kränkung durch Glenn Gould ist eine Krankheit zum Tode. Da Wertheimer keinen existentiellen Haltepunkt besitzt, etwa in der Übernahme seiner Einmaligkeit oder im Leben mit anderen, sieht er von dieser Krankheit keine Heilung. Selbstverfehlung endet hier in Selbstvernichtung.« Soppa (Anm. 252). S. 126. 307 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 102. Vgl. dazu auch Rainer Barbey : Sokratische Unwissenheit in der Kunst wie im Leben. Zur Dichotomie von Theorie und Praxis in Thomas Bernhards Romanen »Der Untergeher« und »Alte Meister«. In: Literatur im Unterricht 9 (2008). S. 3–12. – Der Erzähler entgeht diesem Problem einerseits durch praktische Selbstsorge, andererseits ist sein Existenzbegriff im Unterschied zu dem Wertheimers ökonomisch fundiert: »Immerhin verdanke ich einem väterlichen Bankkonto, daß ich noch am Leben bin, noch existieren darf, wie ich mir aufeinmal sagte.« (Bernhard: Der Untergeher [Anm. 31]. S. 115) Wie der Erzähler sind auch Glenn und Wertheimer vermögend. Den gemeinsamen ökonomischen Hintergrund macht der Erzähler als eine Voraussetzung für die Freundschaft der drei aus: »Im nachhinein war es klar gewesen, daß sich sozusagen die Reichen gefunden hatten, dachte ich, sie hatten ein Gespür für den Hintergrund.« (ebd. S. 65) Damit schließt der Text in spezifischer Weise an die Begriffsgeschichte des Dilettantismus an. Er greift den Dilettanten als Amateur auf, der eine Tätigkeit um der Tätigkeit willen ausübt und nicht um Geld zu verdienen. Zu dieser Lesart vgl. Fatima Naqvi: Von Türhütern, Meistern und Untergängern. Dilettantismus in Thomas Bernhards »Der Untergeher«. In: Attila Bombitz u. a. (Hg.): Österreichische Literatur ohne Grenzen. Gedenkschrift für Wendelin Schmidt-Dengler. Wien 2009. S. 317–333. Hier: S. 321.

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nie gelungen, sich an seine eigenen Aussprüche zu halten, sich an ihnen festzuhalten, er hatte immer ein ungeheures, ein tatsächlich ungeheueres Theoretisches im Kopf (und in seinen Aphorismen!), dachte ich, tatsächlich die rettende Lebens- und Existenzphilosophie, aber er war unfähig, sie sich selbst zuzuführen. In der Theorie meisterte er alle Unbequemlichkeiten des Lebens, alle Verzweiflungszustände, das ganze zermürbende Böse auf der Welt, aber praktisch war er dazu nicht und niemals imstande.308

Die Wendung ins Produktive erfolgt im Text dann jenseits des existenzphilosophischen Paradigmas: Die – unterstellte – wechselseitige epigonale Orientierung Wertheimers und Glenns aneinander nutzt der Text in folgender Weise aus: Er entwirft aus der Verzweiflung an der Kunst und der Determiniertheit der Existenz ein neues, originelles Modell der Resignation bezüglich der Kunst und der Kreativität im Hinblick auf die Existenz. Damit greift Der Untergeher auf dem Feld der Literatur eine zeitgenössische Entwicklung in der (französischen) Philosophie der 1980er Jahre produktiv auf: [Frage an Michel Foucault:] Wenn sich der Mensch jedoch selbst erschaffen soll, ohne auf Kenntnisse oder Universalregeln zurückzugreifen, worin unterscheidet sich Ihre Sichtweise dann vom Existentialismus eines Sartre? [Foucault:] Theoretisch gesehen, scheint Sartre über den moralischen Begriff der Aufrichtigkeit auf die Vorstellung zurückzukommen, daß wir wir selbst sein müssen – wirklich und wahrhaftig wir selbst sein müssen. Die praktische Konsequenz aus dem von Sartre Gesagten wäre nun aber gerade, sein theoretisches Denken nicht mit einer authentischen, sondern mit einer kreativen Praxis wieder zu verknüpfen. Aus dem Gedanken, daß uns das Selbst nicht gegeben ist, kann m. E. nur eine praktische Konsequenz gezogen werden: wir müssen uns wie ein Kunstwerk begründen, herstellen und anordnen. Es ist interessant zu sehen, daß Sartre in seinen Analysen über Baudelaire und Flaubert die kreative Arbeit an eine bestimmte Beziehung zu sich selbst zurückbindet – an einen Selbstbezug des Autors – entweder in Form der Authentizität oder der Nichtauthentizität. Ich frage mich, ob man nicht auch genau das Gegenteil behaupten könnte: anstatt die kreative Aktivität von jemandem auf die Art der Beziehung zurückzuführen, die er zu sich selbst unterhält, sollte man vielleicht die Art von Beziehung, die er zu sich selbst hat, als kreative Aktivität auffassen, die den Kern seiner ethischen Aktivität ausmacht.309 308 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 101. 309 Foucault: Sex als Moral (Anm. 235). S. 79ff. Bzgl. des komplexen Verhältnisses der Philosophie Foucaults zu derer Sartres sei hier nur darauf hingewiesen, dass es sich entlang der unterschiedlichen Schaffensphasen Foucaults verändert hat. Mit Foucaults Verlagerung des Akzents von der Macht und folglich der Machtförmigkeit des Subjekts auf die Selbstsorge und damit auf die Formbarkeit des Subjekts geht eine relative Annäherung an das Denken Sartres einher (vgl. Patricia Oster : Nathalie Sarraute und Jean-Paul Sartre oder Subjektkonstitution im Zeitalter des Mißtrauens. In: Paul Geyer und Monika Schmitz-Emans (Hg.): Proteus im Spiegel. Kritische Theorie des Subjekts im 20. Jahrhundert. Würzburg 2003. S. 483–496. Hier: S. 483.) – Es ist bemerkenswert, dass die im obigen Zitat diskutierten Autoren – Baudelaire und Flaubert – den Dilettantismusdiskurs maßgeblich geprägt haben.

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Als Lebens- und Weltanschauungskünstler fasst auch der Erzähler die Beziehung zu sich selbst als eine kreative Aktivität auf. Rainer Barbeys Nachweis, dass »Weltanschauungskünstler« eine Weininger-Vokabel ist,310 soll nicht widersprochen werden. Seiner These, mithilfe des Weininger-Bezugs stilisiere sich der Erzähler zum Genie,311 steht jedoch auf der Inhaltsebene der programmtische Dilettantismus des Erzählers sowie im Subtext die Nähe zu Lebenskunst-Modellen, wie sie die Philosophie Foucaults thematisiert, entgegen. Den Praktiken, durch welche der Erzähler diese kreative Beziehung zu sich selbst realisiert, ist das nachfolgende Kapitel gewidmet. Die Praktiken, in welchen die Geisteshaltungen Wertheimers und Glenns zum Ausdruck kommen, sind das Schreiben von Aphorismen und körperliche Übungen. Der Weg in Wertheimers Untergang führt über die Geisteswissenschaften und die Tätigkeit als »Aphorismenschreiber«312 : [I]ch schreibe Aphorismen, hat er immer wieder gesagt, dachte ich [= der Erzähler], das ist eine minderwertige Kunst der geistigen Kurzatmigkeit, von welcher gewisse Leute vor allem in Frankreich gelebt haben und leben von mir, sogenannte Halbphilosophen für den Krankenschwesternnachttisch, ich könnte auch sagen, Kalenderphilosophen für alle und jeden, deren Sprüche wir mit der Zeit von allen ärztlichen Wartezimmerwänden herunterlesen;313

Während die körperliche Kurzatmigkeit der drei Protagonisten ihre Geistigkeit beglaubigen soll, wird die geistige Kurzatmigkeit – deren Produkt und Ausdruck die Aphorismen sind – mit der französischen Philosophie einerseits und mit Morbidität andererseits in Verbindung gebracht.314 Auch als Autor von Aphorismen ist Wertheimer nach eigener, vom Erzähler wiedergegebener Aussage ein Epigone: Er ist einer »dieser widerwärtigen Philosophiepartizipanten, die es zu Tausenden gibt, sagte er, dachte ich.«315 Bemerkenswert ist, dass Wertheimer gerade Aphorismen, welche die Diätetik zum Thema haben, als misslungene Beispiele dieser ohnehin als defizitär erachteten Gattung anführt: »Wenn wir nichts mehr trinken, verdursten wir, wenn wir nichts mehr essen, verhungern wir, auf diese Weisheiten laufen alle diese Aphorismen hinaus, es sei denn sie sind von Novalis, aber auch Novalis hat viel Unsinn geredet«.316 Die Affinität von 310 311 312 313 314

Vgl. Barbey : Das Genie als Menschenkenner (Anm. 203). S. 259. Vgl. ebd. S. 258ff. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 59. Ebd. Auch jenseits der zitierten Abschnitte tauchen in den Einlassungen zu Wertheimers Aphorismen vermehrt Wörter wie Krankenhaus, Wartezimmer u. ä. auf. Dass die Form des Aphorismus mit Morbidität assoziiert wird, bemerkt auch Andreas Dorschel in seinem Aufsatz Lakonik und Suada in der Prosa Thomas Bernhards. In: Thomas Bernhard Jahrbuch (2007/2008). S. 215–233. Hier: S. 219. 315 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 60. 316 Ebd.

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Selbstsorgekonzepten und aphoristischen Darstellungsformen317 fügt der inhaltlichen Komponente der Kritik noch eine formale hinzu: Mit der Form des Aphorismus lehnt Wertheimer nicht nur Novalis’ Konzepte der Lebenskunst und Selbstsorge und die traditionelle französische Philosophie, sondern auch implizit Konzepte der neueren französischen Philosophie eines Michel Foucault ab. Denn Diätetik ist eines von dessen zentralen Themen, außerdem setzt sich Foucault intensiv mit der Tradition der (aphoristischen) Selbstverschriftung seit den antiken hypomnÞmata auseinander.318 Anders als der Erzähler, der – wie noch gezeigt werden wird – das Schreiben als »ein wichtiges Moment« der »Subjektivierung des Diskurses«319 nutzt, verschließt sich Wertheimer dieser Option. Er geht – zumindest legt das der Vergleich mit dem Erzähler nahe – also nicht nur aufgrund mangelnder musikalischer Genialität unter, sondern auch aufgrund seiner Ablehnung philosophischer Konzepte, die für den Erzähler zur Basis eines erfolgreichen Lebenskunst-Modells werden. Hinsichtlich des selbstdisziplinierten Glenns, der allenthalben als der »Durchgeistigte«320 bekannt ist, ist der Erzähler sehr bemüht, dessen Geistigkeit hinter dessen körperliche Athletik zurückzustellen: Glenn »war ein athletischer Typus […][,] viel stärker als Wertheimer und ich zusammen«321. Glenns Athletik scheint auf den ersten Blick den Praktiken der Selbstsorge zuordenbar zu sein, denn zu diesen gehören auch ausgewogene körperliche Übungen.322 Glenn beherzigt das Prinzip der Mäßigung/des Maßhaltens jedoch nicht, sein eigenhändiges Baumfällen323 lässt die Ausgewogenheit der körperlichen Anstrengung klar vermissen. Somit wird neben Wertheimer mit Glenn eine weitere Figur im Text als scheiternd an der Selbstsorge als Lebenskunst vorgeführt. Dieser Deutung arbeitet auch Wertheimer mit seiner Ansicht zu, Glenn habe seine Persönlichkeit für die Kunst vernichtet:324 »Schließlich hätten Menschen wie Glenn sich am Ende zur Kunstmaschine gemacht, hätten mit einem Menschen nichts

317 Vgl. S. 331 dieser Arbeit. 318 Vgl. S. 306 und 357f. dieser Arbeit. Neben Rechnungsbüchern oder öffentlichen Registern konnten hypomnÞmata auch »individuelle Hefte sein, die dazu dienten, Notizen zu machen. […] In diese Hefte trug man Zitate, Auszüge aus Werken, aus dem Leben mehr oder weniger bekannter Personen entnommene Beispiele, Anekdoten, Aphorismen, Reflexionen oder Überlegungen ein.« Foucault: Zur Genealogie der Ethik (Anm. 71). S. 211. 319 Ebd. 320 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 71. 321 Ebd. 322 Vgl. Foucault: Sexualität und Wahrheit III (Anm. 279). S. 71. Als Tätigkeiten innerhalb der Kultur seiner selber nennt Foucault außerdem Körperpflege, Gesundheitsregeln, maßvolle Befriedigung der Bedürfnisse, Meditationen, Lektüren, Aufzeichnungen über Gelesenes oder im Gespräch Vernommenes und das Überdenken von Wahrheiten. Vgl. ebd. 323 Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 71. 324 Vgl. ebd. S. 82f.

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mehr gemein«.325 In der Wertheimerschen Diktion fällt natürlich der Begriff der »Kunstmaschine« auf, der eine Mischung aus Glenns Wort vom »Kunstprodukt«326 und seinen eigenen Wortschöpfungen »Existenzmaschine« und »Verzweiflungsmaschine«327 darstellt. Wertheimers Rede überlagert seine Existenzphilosophie mit Glenns ins Extrem getriebener Unpersönlichkeit und markiert so stilistisch-diskursiv eine Affinität ihrer jeweiligen Geisteshaltungen, die beide gleichsam dem Untergang anheim gegeben sind. II.2.3. Selbst-Praktiken Wertheimers Rede von der Existenz- und von der Kunstmaschine ist ein Beispiel dafür, dass in Der Untergeher die jeweilige Nähe der Protagonisten zum Konzept der Lebenskunst anhand der ihnen zugeordneten Vokabeln angezeigt wird. Der Erzähler bezeichnet sich selbst auch deshalb als Lebenskünstler, weil mit seiner Absage an die genialische, musikalische Art der Kunstausübung die Weigerung, zu sterben, verknüpft ist.328 Wertheimers Freitod nennt der Erzähler »einen raffinierten Kunstgriff«329, Glenn wird mit den Worten zitiert: »[W]ir hätten uns das [Fällen der Esche] durch einen lächerlichen Kunstgriff [, nämlich das Schließen der Rollläden,] ersparen können«.330 Während Wertheimer kunstvoll sein Leben beendet und Glenn als Künstler am Leben vorbeigreift, gelingt dem Erzähler der künstlerische Zugriff auf das eigene Leben. Die Lebenskunst des Erzählers realisiert sich – wie die Subjektivierungsbemühungen der meisten Protagonisten Bernhards331 (mit Ausnahme Wertheimers) – im Rahmen von Schreibprojekten. Im Hinblick auf Der Untergeher gilt es, die diversen Schreibprojekte zu differenzieren. Denn auch bei den Essays des Erzählers handelt es sich wie bei seinen Glennschriften um Versuche der schriftlichen Selbstvergewisserung; allerdings setzt er sich zu den Essays nicht in ein verbindliches Verhältnis, das der Subjektivierung dienen könnte: [H]eute schreibe ich diese Unsinnigkeiten, von welchen ich mir zu sagen getraue, sie seien essayistisch, um auch dieses gehaßte Wort wieder einmal zu gebrauchen auf dem Weg meiner Selbstzerstörung, schreibe ich diese essayistischen Auslassungen, die ich am Ende doch immer verfluchen und zerreißen und also vernichten muß[.]332

325 326 327 328 329 330 331 332

Ebd. S. 83. Wie Anm. 181. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 41 und S. 37. Vgl. Langendorf (Anm. 144). S. 103. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 93. Ebd. S. 72. Vgl. Langendorf (Anm. 144). S. 10. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 98.

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Statt der Selbstvergewisserung zu dienen, arbeitet das essayistische Schreiben der Selbstzerstörung zu. Letztlich vernichtet der Erzähler jedoch nicht sich selbst, sondern er verflucht und zerreißt seine Essays. Das übergeordnete Schriftstück, der Roman Der Untergeher, führt ein ganzes Spektrum an Strategien der Selbstsetzung, Selbstvergewisserung und konsequenten Selbstinfragestellung vor. In der Glennschrift des Erzählers wird (subjektiv) wahr über einen anderen geschrieben: nämlich über »Glenn Gould, den zu beschreiben ich mich seit Jahren bemühe, weil ich mich für authentischer halte in dieser Beschreibung als andere«333. Der Roman Der Untergeher mit dem Erzähler als vermittelnder Instanz,334 v. a. aber die in ihm besprochenen Schreibprojekte von den Essays bis zur Glennschrift können jeweils als Selbstpraktik verstanden werden, als Form, »in der sich das Subjekt auf aktive Weise […] konstituiert«335. In den Schreibprojekten wird der systematische Zusammenhang von Subjektivität/Selbstsorge und Medialität besonders evident. Im Akt der Selbstverschriftung vollzieht sich die Subjektivierung genuin medial. Der Blick wird nun also auf Medialität als Gegenstand im Roman Der Untergeher, auf die Medialität des Romans Der Untergeher und auf die systematischen Zusammenhänge bestimmter Arten von Medialität und bestimmter Technologien des Selbst gerichtet werden. Und nicht zuletzt wird die Durchleuchtung dieser Zusammenhänge auch Auskunft geben über die Bedingungen von Genialität und die Erscheinungsweisen von Dilettantismus im Zeichen postmoderner Ästhetik(en).

III.

Medialität in und von Der Untergeher

Mit postmodernen Ästhetiken als Fragehorizont ist angedeutet, dass ich unter der Überschrift »Medialität in und von Der Untergeher« durchaus die Bernhardsche Poetologie und die Gouldsche Kunstauffassung auf ihr Verhältnis zueinander prüfen will. Allerdings soll es weniger um musikalische Strukturprinzipien und deren Transposition in Literatur gehen,336 sondern vielmehr um 333 Ebd. 334 Anne Thill z. B. nennt das Schreiben des Erzählers über Wertheimer eine »Methode der Lebensbewältigung« (Thill [Anm. 117]. S. 440), da sich der Erzähler in der Position des Schreibenden vom Gegenstand seiner Beschreibung befreie. D. h. die Ähnlichkeiten mit Wertheimer würden weniger, sobald er über ihn zu schreiben beginnt. Vgl. ebd. 335 Foucault: Die Ethik der Sorge um sich (Anm. 72). S. 266. 336 Eine spezifische Lesart zur Transposition als »Übertragung von Material in Sprache oder in eine besondere Sprachform« hat Oliver Jahraus vorgelegt (Jahraus: Das »monomanische« Werk [Anm. 45]. S. 66). Jahraus hält das Verhältnis zwischen dem Erzählermedium und dem zu Erzählenden für konstitutiv im Hinblick auf die Erzählerrede und leitet aus der Transposition eine Distanz zwischen dem Erzähler und dem Erzählten ab (vgl. ebd. S. 67). Die For-

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Fragen und Verfahrensweisen, die Medialität ganz grundlegend – noch vor jeder spezifischen Ausprägung – betreffen. Elmar Budde vertritt die These, dass Bernhard in Der Untergeher seine Erzähltechnik mit der musikalischen Reproduktion, genauer : mit der Schallplatte und dem Grammophon identifiziere.337 Ich möchte die Inhalts- und die Formebene von Bernhards Roman auf ihr Verhältnis unter dem Aspekt Medialität untersuchen. Formal wird Thomas Bernhard ein Schallplatten- bzw. Grammophonstil attestiert, inhaltlich wiederum nehmen die dilettantischen Manuskripteschreiber neben dem ›elektro-technischen‹ Genie einen prominenten Platz ein; im Falle des Erzählers wird das Schreiben gar zu einer zentralen Praktik seiner Lebens-Kunst. Im Folgenden ist es also u. a. mein Anliegen, diesem Spannungsverhältnis nachzugehen sowie den möglichen Status der Poetologie von Bernhards Roman Der Untergeher als »eine geniale Erfindung von schung hat Strukturverwandtschaften zwischen den Goldbergvariationen und Der Untergeher herausgearbeitet: So sehen Lutz Köpnick (Anm. 53) und Gregor Hens (Gregor Hens: Thomas Bernhards Trilogie der Künste. Der Untergeher, Holzfällen, Alte Meister. Rochester, NY 1999.) Strukturparallelen zwischen beiden Werken; konkrete Beispiele für solche Strukturen zeigt auch Martin Huber (Anm. 269). S. 102 auf. Vgl. außerdem Gernot Gruber : Die Metaphern von Musik und musikalischem Virtuosentum in »Der Untergeher« und »Der Ignorant und der Wahnsinnige«. In: Otto Kolleritsch (Hg.): Die Musik, das Leben und der Irrtum. Thomas Bernhard und die Musik. Wien/Graz 2000. S. 111–125, Manfred Jurgensen: Die Sprachpartituren des Thomas Bernhard. In: ders. (Hg.): Bernhard. Annäherungen. Bern/München 1981. S. 99–122 sowie Liesbeth Voerknecht: Thomas Bernhard und die Musik. »Der Untergeher«. In: Joachim Hoell und Kai Luehrs-Kaiser (Hg.): Thomas Bernhard. Traditionen und Trabanten. Würzburg 1999. S. 195–206. Besonders dem Fugenprinzip ist eingehend Beachtung geschenkt worden. Vgl. Steingröver: »Der Hellsichtigste aller Narren« (Anm. 47). S. 96f und Hens, S. 18f, der argumentiert, »daß sich aus der Sicht des rückblickenden, eher weltfremd-intellektuellen Erzählers die Zusammenhänge zwischen den Schicksalen der drei Protagonisten […] als Erfüllung einer kontrapunktischen Struktur darstellen.« Gregor Hens attestiert dem literarischen Text dabei mehr Rezipientenfreundlichkeit als Goulds Tonaufnahmen. Goulds Trilogie der Einsamkeit mit ihren zahlreichen übereinandergelagerten Stimmen entwerfe »eine Situation, die der in der Villa bei Salzburg verblüffend ähnlich ist« (ebd. S. 33). Während aber die geschriebene Prosa verlange bzw. erlaube, die polyphone Grundstruktur, also die Gleichzeitigkeit von Ereignissen und Gedanken, in Linearität zu verwandeln und so den Leser_innen entgegen zu kommen, nähmen Goulds Sprachkompositionen auf die Hörer_innen wenig Rücksicht. Vgl. ebd. 337 Vgl. Elmar Budde: »Fülle des Wohllauts« oder »d8cadence« im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. In: Otto Kolleritsch (Hg.): Die Musik, das Leben und der Irrtum. Thomas Bernhard und die Musik. Wien/Graz 2000. S. 21–34. Hier : S. 22. – Hervorzuheben wäre auch der Aspekt des Parodistischen. Die parodistische Behandlung des Themas Genialität weist auf den prekären Status des Genie-Konzepts in der Postmoderne hin. Außerdem vernetzt der Aspekt des Parodistischen Bernhards Text mit Glenn Goulds Kunstauffassung. Es ist nämlich eine Verfahrensähnlichkeit von Bernhards Schreiben mit den musikalischen Interpretationen des historischen Glenn Gould zu beobachten: »It is difficult not to hear an element of parody in Gould’s whole Mozart project: […] he not only rejects ›Victorian‹ performance practices but mocks them«, schreibt Goulds Biograph Kevin Bazzana. Bazzana: The performer at work (Anm. 50). S. 111.

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Glenn Gould«338 zu prüfen, und zwar jeweils mit dem Fokus auf allgemeine mediale Prämissen und medientheoretische Implikationen.

III.1. Medien in Der Untergeher I: Zeitung und Schallplatte oder: vom gedruckten zum elektronischen339 Medium Zentral für meine These, dass Dilettantismus und Genialität sich in Der Untergeher anhand des Umgangs der drei Protagonisten mit den Medien unterscheiden, sind v. a. zwei Aspekte der Medienkonkurrenz: Zum einen konkurrieren unterschiedliche Medien bzw. deren Nutzer miteinander. Was den Erzähler und dessen eigenen medialen Status als Vermittler des Textes betrifft, ist überdies festzustellen, dass er als Vermittlerfigur – gewissermaßen als Medium – mit anderen Medien konkurriert. Über einen Auftritt Glenns bei den Salzburger Festspielen berichtet er : »Die Zeitungen schrieben nach seinem Konzert, daß noch kein Pianist die Goldbergvariationen so kunstvoll gespielt habe, sie 338 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 40. 339 Zur Begriffsverwendung eine kurze Erläuterung: Zunächst ist zu betonen, dass ›elektronisch‹ und ›analog‹ nicht als Gegensatzpaar im Sinne von ›digital‹ und ›analog‹ zu denken ist; denn die analog/digital-Unterscheidung bezieht sich auf »den vorrangigen technischen modus operandi eines gegebenen Mediums« (Schröter : Von Heiß/Kalt zu Analog/Digital [Anm. 64]. S. 306). Elektronische Medien sind grundsätzlich in analoge und digitale differenzierbar. Als Phasen in der Geschichte der Elektrizität können die »analoge [,…] die digitale und schließlich […] die kabellose Phase« (Kerckhove [Anm. 88]. S. 11) unterschieden werden. (McLuhans Überlegungen z. B. sind in der analogen Ära der Elektrizität situiert.) In der analogen Phase ist Elektrizität für den Transport, aber noch nicht für die Produktion von Information eingesetzt worden; in der digitalen Phase erhält Elektrizität »gleichsam ein Bewusstsein, dass sie es erlaubt, Informationen zu produzieren, zu speichern, zu verarbeiten, zu verwalten und zu verteilen.« (ebd.) Das in Der Untergeher prominente Trägermedium, der Tonträger Schallplatte, veranschaulicht das Zusammenspiel analoger Medien mit der Elektrizität besonders gut: Eine Schallplatte wird zwar elektronisch aufgenommen und abgespielt, ist aber da bzw. so lange die Nadel in den Rillen entlang läuft ein analoges Medium; die Stimmen/Instrumente/o. ä. werden schließlich eins zu eins wiedergegeben. Bei der Schallaufzeichnung werden die Schwingungen des Schalls in ein sich bewegendes Medium eingeritzt, wodurch eine Wellenlinie analog zur Linie der aufgezeichneten Schallwellen entsteht (vgl. Till Dembeck: Schallreproduktion. In: Handbuch Medien der Literatur. Hg. von Natalie Binczek, Till Dembeck und Jörgen Schäfer. Berlin/ Boston 2013. S. 205–208. Hier: S. 205.). Genauso wie die Ziffern der Handschrift sind die Rillen einer Schallplatte also analoge Daten, im Gegensatz etwa zu digitalen Zahlenkolonnen (vgl. ebd. S. 208). Till Dembeck erläutert: »Unter dem Begriff ›Schallreproduktion‹ lassen sich alle Verfahren zusammenfassen, Schallwellen in einem geeigneten Trägermedium aufzuzeichnen und später mit einem Abspielgerät erneut wiederzugeben. Ursprünglich ist dabei der entscheidende Punkt, dass die Schallwellen sich selbst in das Trägermedium (z. B. eine Tonwalze) analog einschreiben.« (ebd. S. 205) »Nun schien es, als sei ein vormals unzugängliches, dem echten Klang und der echten Stimme […] ›Analoges‹ in der Analogaufzeichnung tatsächlich greif- und damit verfügbar geworden«. Ebd. S. 206.

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schrieben also […] das, was wir schon zwei Jahre vorher behauptet und gewußt hatten.«340 Die Abwertung der durch das Medium Zeitung verbreiteten Information wird an der ›Peinlichkeit‹ deutlich, die der Erzähler angesichts der Übereinstimmung seines Wissens mit dem Zeitungswissen empfindet: »Jahre darauf dann sozusagen die Weltbestätigung, die mir aber doch peinlich gewesen ist, wie alles Zeitungsbestätigte.«341 Der Erzähler pocht auf die Authentizität seines Wissens als sein persönliches Alleinstellungsmerkmal gegenüber den Informationen anderer Medien342 und weitet seinen Authentizitätsanspruch auf den von ihm besprochenen ›Gegenstand‹, also Glenn, aus. Zugleich steht er mit der Ablehnung des Mediums Zeitung in einem markanten Kontrast zu anderen Figuren Bernhards: Bekanntlich nehmen einige Protagonisten Bernhards ihre Umwelt in erster Linie vermittelt über Zeitungen wahr. Denn die Zeitung stellt »eine herausragende Art dar, Welt medial zu erfahren und Kontakt zu ihr zu haben, in einer Situation, in der Welterfahrung und Kontakte auf andere Weise ausgeschlossen sind«343. Das Bemerkenswerte an Der Untergeher im Werkkontext ist die Tatsache, dass der mediale Kontakt mit der Welt angesichts Isolation und Verzicht auf bzw. Verweigerung von persönlichem Kontakt nicht (mehr) vermittels der Zeitung, sondern vermittels der Schallplatte erfolgt. »Wir korrespondierten auch nicht, denn die paar Karten, die wir uns in den vielen Jahren geschickt haben, kann man nicht als Korrespondenz bezeichnen.[344] Glenn schickte uns regelmäßig seine Schallplatten und wir bedankten uns dafür, das war alles.«345 Der Erzähler und Wertheimer bleiben aufgrund von Glenns Rückzug in dessen Tonstudio auf die Schallplatte als einziges Kontaktmedium zu Glenn verwiesen. Und auch – und vor allem – nach Glenns Tod muss der Erzähler erkennen, dass die Möglichkeit, Glenn zu erfahren, auf »Speichermedien, Tonträger oder [das] Bildgedächtnis«346 beschränkt ist. Indem Glenn Schallplatten 340 341 342 343

Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 8. Ebd. S. 39. Vgl. auch S. 315 dieser Arbeit. Oliver Jahraus schreibt das v. a. mit Blick auf den Erzählband Midland in Stilfs. Jahraus: Das »monomanische« Werk (Anm. 45). S. 160. 344 Dass man Postkarten nicht im eigentlichen Sinne als Korrespondenz bezeichnen kann, liegt zunächst daran, dass diese ohne Umschlag verschickt werden und daher außer von der Adressat_in noch von anderen Personen gelesen werden können. Außerdem wird »die Postkarte, anders als häufig der private Brief, für gewöhnlich nicht für den privaten Austausch von Gedanken und Gefühlen genutzt«. Elisabeth Kampmann: Postkarte. In: Handbuch Medien der Literatur. Hg. von Natalie Binczek, Till Dembeck und Jörgen Schäfer. Berlin/Boston 2013. S. 290–293. Hier: S. 291. 345 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 32f. 346 Katzschmann (Anm. 213). S. 235. Manfred Schneider macht die mit Blick auf Der Untergeher besonders interessante Beobachtung, dass die »zahllosen technischen Speicher, in denen sich heute die Lebensspuren und stillen Wahrheiten der Subjekte gespeichert finden, die großen nationalen und internationalen kriminalistischen Computer, die öffentlichen

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Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

und keine Briefe versendet, sichert er seinen Rückzug mit großer Hellsichtigkeit auch hinsichtlich der medialen Implikationen ab. Schallplatten zu schicken bedeutet, Kontakt halten zu können, ohne Kontakt haben zu müssen.347 Was Glenn am Klavier nicht erreichen konnte, nämlich seine Subjektivität durch die Verschmelzung mit dem Instrument überflüssig zu machen, gelingt ihm schließlich mit der Schallplatte. Die ›Glenngenialität‹ erweist sich in der Nutzung der elektronischen Medien. Das hat auch Folgen für den Untergang des Dilettanten Wertheimer : Dieser löst das Diktum vom Untergeher nicht aus Verzweiflung über (die Erinnerung an) das Salzburger Konzert ein, sondern aufgrund der Schallplattenaufnahme.348 Die Schallplatte ist Glenns Medium der Wahl;349 mit ihr begründet er nicht nur seinen künstlerischen Erfolg, sondern er steuert auch seine persönlichen – genauer müsste man sagen: un-persönlichen – Kontakte mit Hilfe des Mediums Schallplatte. Der Roman endet mit einer sinnblichen Darstellung all dessen in nuce. Der letzte Satz des Textes lautet: »Ich bat den Franz, mich für einige Zeit in Wertheimers Zimmer allein zu lassen und legte mir Glenns Goldbergvariationen auf, die ich auf Wertheimers Plattenspieler liegen gesehen hatte, der noch offen war.«350 Glenn Goulds Freund Marshall McLuhan ordnet den Plattenspieler unter die heißen Medien ein,351 denn er spricht ihm die Unterbindung von sinnlicher

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und privaten Bild-, Fernseh-, Film- und Tonarchive, […] keineswegs den Bekenntniseifer der Autobiographen, die Insistenz der Subjektwahrheiten gelähmt« haben. (Schneider [Anm. 87]. S. 28) Der Erzähler verkörpert ein solches Fortleben schriftlichen Bekenntniseifers und der Insistenz auf Subjektwahrheiten im Zeitalter der Technisierung. Die briefliche Korrespondenz wiederum ist, so Michel Foucault, »eine Form, sich dem anderen und sich selbst zu zeigen. Im Brief ist der Schreiber dem Empfänger präsent, und zwar nicht nur durch die darin gegebenen Informationen über sein Leben, sein Tun, seine Erfolge und Misserfolge, sein Glück und Unglück, sondern in einer Weise, die als unmittelbare und nahezu physische Präsenz erscheint.« Foucault: Über sich selbst schreiben (Anm. 83). S. 148. Vgl. Budde (Anm. 337). S. 22. Vgl. außerdem Pfabigan (Anm. 247). S. 304. Der historische Gould spielte zwischen 1950 und 1955 fast dreißig Studiokonzerte, auch die Uraufführung der Goldbergvariationen fand am 21. Juni 1954 im Rundfunk statt (vgl. Bazzana: Glenn Gould [Anm. 37]. S. 104). Seine erste kommerzielle Plattenaufnahme machte Gould am 03. November 1953 mit 21 Jahren. Vgl. ebd. S. 107. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 150. Die Tatsache, dass Glenns Spiel in Der Untergeher nie beschrieben wird, die Aufführung von Musik im Text also nicht stattfindet, erhärtet die These, Der Untergeher sei eine Erfindung Glenn Goulds. Denn: Will man als Leser_in einen Eindruck von Goulds Interpretation der Goldbergvariationen erhalten, »muss [man] sich die Platte schon selber kaufen« (Maier [Anm. 273]. S. 237). »Der Text verhält sich der Kunst Glenn Goulds gegenüber völlig parasitär und benutzt dafür die Platteneinspielung« (ebd.), schreibt Andreas Maier. Anleihen nimmt der Text auch auf der poetologischen Ebene an Goulds Kunstauffassung. In diesem Sinne ist »Der Untergeher […] eine geniale Erfindung von Glenn Gould«. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 40. Vgl. McLuhan: Die magischen Kanäle (Anm. 65). S. 300.

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Eigenaktivität bei den Rezipient_innen sowie eine hypnotisierende Wirkung zu.352 Die Bannung der Konkurrenz in den Status des Untergehers (Wertheimer) bzw. in programmatischen Dilettantismus (Erzähler),353 unternimmt Glenn also durch den kalkulierten Einsatz eines heißen Mediums. Der historische Gould mahnt seinerseits an: »Wir müssen bereit sein anzuerkennen, daß […] die Tonaufzeichnung für immer unsere Vorstellungen davon verändern wird, was für die Aufführung von Musik angemessen ist.«354 Die Frage, ob bzw. auf welche Weise der Der Untergeher ebenfalls einen – wie hier von Gould angedeuteten – Wandel im Verständnis von Dilettantismus und Genialität beschreibt, wird diese Untersuchung im weiteren Verlauf beschäftigen.

III.2. Medien in Der Untergeher II: Manuskripte und Bücher oder: vom Manuskripteschreiben ins elektronische Zeitalter355 Glenns Medium der Wahl ist die Schallplatte, ein in der Regel elektronisch verstärktes analoges Medium.356 Schriftlich ist »[v]on Glenn [….] tatsächlich nichts erhalten, Glenn hat keinerlei Aufzeichnungen gemacht, dachte ich, Wertheimer aber hat im Gegensatz dazu ununterbrochen geschrieben, jahrelang, jahrzehntelang.«357 Der Erzähler nimmt an, dass Wertheimer – anders als Glenn – unzählige Manuskripte hinterlassen hat: [I]ch sah schon einen ganzen Haufen von Heften (und Zetteln) mehr oder weniger mathematisch-philosophischen Inhalts. Aber die Erben werden diese Hefte (und Zettel), alle diese Schriften (und Zettel) nicht herausrücken, dachte ich. […] Möglicher352 Vgl. Daniela Kloock: Art. heiße und kalte Medien. In: Lexikon der Filmbegriffe: http:// filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon& tag=det& id=2224. Zugriff am 03. 01. 2014. McLuhan formuliert: »Heiße Medien verlangen […] nur in geringem Maße persönliche Beteiligung oder Vervollständigung durch das Publikum.« McLuhan: Die magischen Kanäle (Anm. 65). S. 29. 353 Gerade programmatischer Dilettantismus, also der bewusste Verzicht auf künstlerische Aktivität, schließt den passiven, gleichsam hypnotisierten Kunstgenuss nicht aus. Mit Nikolas Langendorf stimme ich darin überein, dass am Schluss des Textes das »Medium Schallplatte […] für den Protagonisten keines mehr [ist], durch das ihm die eigene Unterlegenheit vor Augen geführt und der Freitod nahegelegt werden würde […], sondern es ermöglicht Kunstgenuß und vergegenwärtigt das eigene Überleben.« Langendorf (Anm. 144). S. 109. 354 Gould: Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung (Anm. 65). S. 137. 355 Es hat sich eingebürgert, auch über das spezifisch McLuhansche Verständnis hinaus vom elektronischen Zeitalter und von elektronischen Medien zu reden. Vgl. Seitter (Anm. 170). S. 358. 356 Vgl. Anm. 339 und Jens Schröter : Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? In: ders. und Alexander Böhnke (Hg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Bielefeld 2004. S. 7–30. Hier: S. 8 und S. 25. 357 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 36.

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weise hat Wertheimer auch niemandem außer mir von seinen Schriften (und Zetteln) etwas gesagt, dachte ich, und hat sie irgendwo versteckt, so bin ich ihm doch schuldig, diese Hefte und Schriften (und Zettel) aufzustöbern und zu erhalten, gleich unter welchen Umständen.358

Hefte bzw. Schriften und Zettel sind Wertheimers Medien der Wahl – so zumindest die Annahme des Erzählers. Manuskripte, also »Überlieferungsträger für ein von Hand geschriebenes Schriftstück jeder Art«359, sind ihrem Namen nach manu scriptum, mit der Hand geschrieben.360 Das vehemente Betonen, Wertheimer habe Hefte und Zettel vollgeschrieben,361 weist nachdrücklich auf den Status seiner Schriften als Manuskripte (in Abgrenzung zu Typoskripten) hin.362 Dadurch rückt die Körpergeste, die das Mit-der-Hand-Schreiben darstellt, in den Fokus. Von Wertheimer wird berichtet: Ein Buch hat er veröffentlichen wollen, aber dazu ist es nicht gekommen, weil er sein Manuskript immer wieder geändert hat, so oft und so lange geändert, bis von dem Manuskript nichts mehr dagewesen ist, die Veränderung seines Manuskripts war nichts anderes, als das völlige Zusammenstreichen des Manuskripts, vom dem schließlich nichts als der Titel Der Untergeher übriggeblieben ist.363

Der Text präsentiert hier eine »Schreibszene«, d. h. er reflektiert neben den niedergeschriebenen Inhalten auch »die Instrumentalität, also die Technologie, und die Körperlichkeit des Schreibens, wie sie in den durch die Schreibgeräte bedingten, jeweils erst […] zu erlernenden Gesten zum Ausdruck kommt.«364 358 Ebd. S. 35. 359 Jörg Döring und Jürgen Wolf: Manuskript/Autograph/Typoskript. In: Handbuch Medien der Literatur. Hg. von Natalie Binczek, Till Dembeck und Jörgen Schäfer. Berlin/Boston 2013. S. 411–423. Hier : S. 411. »Des Weiteren wird im Kontext von Verlagskommunikation der Begriff unspezifisch für jede Form von Textvorlage verwendet, die für den Druck eingereicht wird, obwohl es sich heute in aller Regel um Typoskripte (maschinengeschrieben, mit normierten Lettern) handelt. Im einem weiteren Sinne (vor allem wenn das deutsche Synonym Handschrift gebraucht wird) kann der Begriff zugleich ein Werkmedium bezeichnen: Vor dem Buchdruck mit beweglichen Lettern ist die Handschrift (auf diversen Beschreibstoffen wie Papyrus, Leinen, Wachstafeln, Pergament, Papier) zentrales Speichermedium literarischer Werke.« Ebd. 360 Vgl. ebd. 361 Zur Unterscheidung von auf- und abtragenden Schriftmedien vgl. Martin Stingelin: Schreibwerkzeuge. In: Handbuch Medien der Literatur. Hg. von Natalie Binczek, Till Dembeck und Jörgen Schäfer. Berlin/Boston 2013. S. 99–119. Hier: S. 100. 362 Michael Giesecke macht in seiner medienkulturgeschichtlichen Untersuchung auf die Notwendigkeit, »die typographische Kultur mit der vorangehenden, durch die Handschriften geprägten Kultur [nicht] in einen Bottich« zu werfen, dringlich aufmerksam. Giesecke (Anm. 158). S. 228. 363 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 50. Marcus Hahn stuft die Textproduktion des Überlebenden, also den vom Erzähler vermittelten Text Der Untergeher, als Substitut für den Nachlass des Verstorbenen ein. Vgl. Hahn (Anm. 143). S. 442. 364 Stingelin (Anm. 361). S. 100.

Medialität in und von Der Untergeher

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Beim Mit-der-Hand-Schreiben vollzieht sich eine leibliche Bewegung; erst beim typographischen Schriftbild wird die körperliche Dimension suspendiert.365 Das Schreibgerät ist in Wertheimers Fall ein Stift, die ihm zugeordneten Gesten sind die ›Veränderung‹ und das ›Zusammenstreichen‹. Dies ist dahingehend interessant, dass Wertheimer durch das eigenhändige Zusammenstreichen seines Manuskripts bis auf den Titel auch die Subjektivierungspotentiale durchstreicht, die der Handschrift eignen. Denn die Handschrift betont »auch und vor allem die individuell-unikalen Schriftzüge einer Schreiberpersönlichkeit. In diesem Sinne gebraucht, wird der Begriff dann gleichbedeutend mit Autograph«366. Genau diesen ›Selbst‹-Aspekt, der die Autographie, das eigen-händige Manuskripteschreiben zur medienbasierten Selbsttechnik qualifizieren würde, kappt Wertheimer. Eine Publikation kommt für den »Zettelmensch[en]« Wertheimer, der »Tausende, Zehntausende Zettel voll[schrieb]«367, erst recht nicht in Frage: »[W]äre Der Untergeher erschienen, sagte er, dachte ich, hätte ich mich umbringen müssen.«368 Eine Publikation, d. h. eine schriftliche Fixierung und Ver-öffentlich-ung des eigenen Selbst, hätte Wertheimer nach eigener Auskunft zum Selbstmord gezwungen. Anlässlich seiner späteren Entscheidung zum Freitod vernichtet Wertheimer dann auch alle seine eigenhändig geschriebenen Zettel, die niemand anderem in die Hände fallen sollen: Kurz vor seinem Tod habe Wertheimer, so berichtet Franz, sein Angestellter, »ganze Haufen von Zetteln im sogenannten unteren Ofen […] verbrannt […]. Er habe aus allen Laden und Kasten Hunderte und Tausende Zettel herausgenommen […], um sie zu verbrennen […].«369 Als »alles Geschriebene, wie sich der Franz ausdrückte,« verbrannt war, »habe er, Wertheimer, nach Salzburg telefoniert und […] immer wieder betont […], man solle ihm einen völlig wertlosen, einen entsetzlich verstimmten Flügel […] schicken.«370 Am Ende seines Lebens vollzieht Wertheimer medial betrachtet die entgegengesetzte Bewegung zum Werdegang des Erzählers: Hatte der sein Klavier verschenkt und sich dem Schreiben zugewandt,371 vernichtet Wertheimer sein ›Geschriebenes‹ und besorgt sich ein 365 366 367 368 369 370 371

Vgl. Giesecke (Anm. 158). S. 233. Döring und Wolf (Anm. 359). S. 411. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 50. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Ebd. Ebd. S. 149. Ebd. S. 149f. »Solange ich den Steinway gehabt habe, war ich in meinen Schriften nicht selbständig, dachte ich, nicht frei wie von dem Augenblick an, in welchem der Steinway endgültig aus dem Haus gewesen ist. Ich mußte mich vom Steinway trennen, um schreiben zu können, ich habe, ehrlich gesagt, vierzehn Jahre geschrieben und tatsächlich nur deshalb immer nur mehr oder weniger Unbrauchbares geschrieben, weil ich mich von meinem Steinway nicht getrennt hatte. Kaum war der Steinway aus dem Haus, hatte ich besser geschrieben, dachte ich. […] Kaum hatte ich den Steinway abgestoßen gehabt, schrieb ich anders, vom ersten Moment an, dachte ich.« Ebd. S. 115f.

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Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

Klavier ; es ist »vollkommen verstimmt, durch und durch ein Dilettanteninstrument«372. Dass Wertheimer zu diesem Zweck ›nach Salzburg telefonieren‹ muss, fügt dem noch eine mediale Pointe hinzu: Damit sich Glenns Vernichtungswort vom »Untergeher«373 erfüllen kann, muss Wertheimer in seiner Isolation in Traich ein elektronisches Medium benutzen. Wertheimers Status als Untergeher, sein Dilettantismus, gründet im musikalischen Bereich darin, sich nicht wie der geniale Glenn in die elektronischen Medien zu entgrenzen, also zu entindividualisieren. Sein Dilettieren als »Aphorismenschreiber«374 wiederum führt zur Untergrabung der eigenen Produktion. Wertheimers Unvermögen, die an die Handschrift geknüpften Individualisierungspotentiale zu nutzen, verunmöglicht außerdem, dass er in Gestalt des Manuskripteschreibens wie der Erzähler eine medienbasierte Form der Selbstsorge betreiben könnte. Der Erzähler nämlich verfasst eine Schrift Über Glenn Gould375 und macht dafür Notizen in sein »erstes Madridheft.«376 Zuvor ist er jedoch »monate- und sogar jahrelang nur mit dem Gedanken an eine solche Schrift herumgelaufen, ohne sie anfangen zu können«377. Eines Tages getraute ich mich, die Schrift anzufangen […]. Am Ende hatte ich aber doch nur Skizzen in der Tasche […] und diese Skizzen vernichtete ich, weil sie mich aufeinmal in meiner Schrift behinderten, anstatt mir nützlich zu sein, ich hatte zu viele Skizzen gemacht, dieses Übel hat mir schon viele Arbeiten verdorben;378

Der Erzähler transformiert hier die Schreibszene in eine Schreib-Szene, in »ein Schreiben […], das sich an seinen eigenen Voraussetzungen stößt, sich bei diesen aufhält und sie thematisiert, problematisiert und reflektiert«379. Den Übergang von der Schreibszene im Stile Wertheimers zur Schreib-Szene im späteren Stile des Erzählers markiert die Tatsache, dass der Erzähler zwar (wie Wertheimer) seine »Glennskizzen, nicht nur Hunderte, sondern Tausende, packte und verschwinden ließ.«380 Denn andernfalls »wäre [er] heute der Unglücklichste, der sich denken läßt, tagtäglich konfrontiert mit seinen katastrophalen Schriften, die vor Fehlern strotzen, vor Ungenauigkeiten, vor Nachlässigkeiten, vor Dilettantismus. Dieser Bestrafung habe ich mich durch Vernich372 373 374 375 376 377 378 379 380

Ebd. S. 149. Wie Anm. 146. Wie Anm. 121 und 312. Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 33. Ebd. S. 38. Ebd. S. 67. Ebd. Stingelin (Anm. 361). S. 101. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 67f.

Medialität in und von Der Untergeher

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tung entzogen«381. Der Erzähler, dem es »keinerlei Schwierigkeiten gemacht hätte«382, seine Manuskripte zu veröffentlichen, ist froh, »daß alle diese unvollkommenen unfertigen Schriften nicht erschienen sind«383. Nicht zu publizieren ist hier aber nicht wie bei Wertheimer eine Maßnahme der Selbstmordverzögerung, sondern die bewusste und aktive Vermeidung von Unglück und in den Untergang führenden Dilettantismus.384 Dilettantismus zu vermeiden, heißt also, entweder überhaupt nichts zu produzieren oder das Produzierte zu vernichten. Anders als Wertheimer lässt es der Erzähler aber nicht auf der Vernichtung beruhen, sondern er macht die Schreibszene zur Schreib-Szene, und das heißt in seinem Fall konkret: Er überwindet den Dilettantismus, indem er das Schreiben in ein Selbstsorgeprogramm überführt. In Madrid angekommen, gleich die Glennschrift vernichten, dachte ich, sie muß so rasch als möglich weg, um mir eine neue zu ermöglichen. Jetzt weiß ich, wie diese Schrift angehen, ich habe es nie gewußt, ich habe sie immer zu früh angefangen, dachte ich, dilettantisch. Das ganze Leben laufen wir dem Dilettantismus davon und er holt uns immer wieder ein, dachte ich und wir wünschen uns nichts mit einer größern Intensität, als dem Dilettantismus zu entkommen lebenslänglich und sind immer wieder von ihm eingeholt.385

Im Rahmen dieser neu etablierten »Schreib-Szene« werden die medialen Praktiken mit Selbsttechniken verkoppelt, ja die Selbsttechniken realisieren sich gerade in Gestalt dieser Praktiken des Schreibens und Über-das-Schreiben-Reflektierens. Durch die Beschreibung Glenns will sich der Erzähler nämlich auch über sich selbst und seine Verhältnisse zu den beiden Anderen Klarheit verschaffen und dadurch seine eigene Subjektivierung vorantreiben: Wenn ich meine Beschreibung von Glenn Gould wirklich nocheinmal versuche, dachte ich, dann werde ich in dieser auch seine Beschreibung Wertheimers vorzunehmen haben und es ist fraglich, wer der Mittelpunkt dieser Beschreibung sein wird, Glenn Gould oder Wertheimer, dachte ich. Von Glenn Gould werde ich ausgehen, […] aber Wertheimer wird in dieser Beschreibung eine entscheidende Rolle spielen, was mich betrifft, denn für mich war Glenn Gould immer mit Wertheimer verbunden gewesen, gleich in was für einer Beziehung und umgekehrt Wertheimer mit Glenn Gould und vielleicht alles in allem spielt doch Glenn Gould in Beziehung auf Wertheimer die größere Rolle, als umgekehrt.386

Der Erzähler betreibt eine intensive (Selbst)Beobachtung und eine Selbstverortung qua Schreiben, d. h. er realisiert durch sein Schreiben, durch die »Stili381 382 383 384 385 386

Ebd. S. 68. Ebd. Ebd. Vgl. dazu auch Köpnick (Anm. 53). S. 282. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 69. Ebd. S. 136f.

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sierung des Ichs in der Schrift und durch die Schrift« eine Form der ›Ästhetik der Existenz‹.387 Das Schreiben des Erzählers ist »jetzt«388 Teil seines Lebenskünstlertums und seiner Selbstsorge. »[D]ie Aufgabe des Schreibens [beschränkt sich nun] nicht auf die bloße Darstellung des Selbst« und Glenns und Wertheimers, sondern erfüllt auch »eine ethopoetische Funktion«:389 Das Schreiben soll dem Erzähler v. a. dazu verhelfen, konzentrierter und authentischer werden.390 Das Verfassen und Aufbewahren des Schriftstücks391 legt nunmehr Zeugnis ab von einem bewussten und produktiven Umgang mit dem Dilettantismus.392 Entsprechend betrachtet der Erzähler seine Manuskripte nicht nur als »Werkmedi[en] zweiter Ordnung«, als »Vorstufe[n] des Drucks« oder als bloße »Textzeuge[n] der Werkgenese«.393 Darüber hinaus misst er den Körpergesten, die den Schreibakt begleiten, anders als Wertheimer eine subjektkonstituierende Dimension bei: Ab einem bestimmten Zeitpunkt vernichtet er seine Schriften nicht mehr ; er orientiert sein Schreiben jedoch auch nicht ausschließlich in Richtung des tendenziell entkörperlichenden,394 normierenden und entindividualisierenden395 Buchdrucks. Wie Wertheimers musikalischer Dilettantismus ist auch das Selbstsorgeprojekt des Erzählers offenbar in ein genuin medial konstituiertes Paradigma eingebettet. Glenn wiederum unterscheidet sich als Vertreter der elektronischen Kultur signifikant von ihnen: Wenn nach McLuhan »[d]er Buchdruck […] die Technik des [hier negativ verstandenen] Individualismus« ist, bedeutet die Einschränkung dieser visuellen Technik durch eine elektrische Technik, dass »auch der Individualismus eingeschränkt«396 wird. Die Kunstauffassung des historischen Gould, 387 388 389 390 391 392

393 394 395 396

Moog-Grünewald: Vorbemerkung (Anm. 84). S. x. Wie Anm. 385. Wie Anm. 85. Vgl. auch Anm. 86. Vgl. Anm. 137. Die These, dass Der Untergeher eben die Schrift ist, die der Erzähler in Madrid schreiben wollte, vertritt z. B. Willi Huntemann. Vgl. Huntemann: Artistik & Rollenspiel (Anm. 23). S. 77. Diese Dimension sollte meines Erachtens nicht vergessen werden, wenn der Erzähler als »Sekundärliterat[…]« bezeichnet wird, »der durch sein Werk, das er dem Kunstwerk hinzufügt, immerhin noch als Sekundant des Künstlers funktioniert.« (Eckhart Nickel: Flaneur. Die Ermöglichung der Lebenskunst im Spätwerk Thomas Bernhards. Heidelberg 1999. S. 25.) Vgl. zum Selbstsorgeaspekt im Schreiben des Erzählers auch die grundsätzlichen Ausführungen in: Katharina Münchberg: Selbstsorge und Gnadenordnung in Dantes Commedia. In: Maria Moog-Grünewald (Hg.): Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge. Heidelberg 2004. S. 39–56. Hier : S. 39. Döring und Wolf (Anm. 359). S. 411. Vgl. dazu Giesecke (Anm. 158). S. 232f. Vgl. Daniela Gretz: Textreproduktion im Zeitalter des Buchdrucks. In: Handbuch Medien der Literatur. Hg. von Natalie Binczek, Till Dembeck und Jörgen Schäfer. Berlin/Boston 2013. S. 199–205. Hier : S. 199. Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Aus dem Ame-

Glenn Goulds Musiktheorie und Thomas Bernhards Poetik

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der mithilfe der elektronischen Aufnahme das »unverschämte Ego des Solisten«397 zurückdrängen will, bezeugt die Tendenz zur Auflösung der Individualität im elektronischen Zeitalter. Die Gegenüberstellung der drei verschiedenen Formen des Mediengebrauchs in Der Untergeher macht also sowohl die medientheoretischen Implikationen von Genialität und Dilettantismus als auch von unterschiedlichen (Ent)Subjektivierungsmodellen transparent.398 Abschließend gilt es nun, die Poetologie von Bernhards Text auf ihre Verbindung zu Goulds Kunstauffassung zu prüfen.

IV.

Glenn Goulds Musiktheorie und Thomas Bernhards Poetik: Postmoderne avant la / à la lettre

Der Glenn aus Thomas Bernhards Roman Der Untergeher ist ein Repräsentant des elektronischen Zeitalters. Den realen Gould ordnet Tim Page, der Herausgeber von Goulds musiktheoretischen Schriften, dem »McLuhan-Zeitalter[…]« zu: Gould »lebte das Leben eines Mönchs des McLuhan-Zeitalters, hielt mit der Welt ausschließlich durch das Telefon Verbindung […]. ›Ich lebe per Ferngespräch‹, sagte er lachend, und das traf größtenteils zu.«399 Den historischen rikanischen von Max Nänny. Düsseldorf/Wien 1968 [orig. Toronto 1962]. S. 216. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 397 Glenn Gould: N’aimez-vous pas Brahms? [um 1962]. In: Glenn Gould. Von Bach bis Boulez. Schriften zur Musik I. Hg. und eingeleitet von Tim Page. Aus dem Amerikanischen von Hans-Joachim Metzger. München/Zürich 1986 [orig. 1984]. S. 110–113. Hier: S. 111. Zu Goulds »radikale[m] Postulat einer Immoralität des Sich-Exponierens in einer Aufführung« vgl. auch Revers (Anm. 198). S. 145. Goulds Abneigung gegen Konzerte und seine Ablehnung des Virtuosenkults stellten einen »Bruch mit dem Primat der Individualität des aufführenden Künstlers« (ebd.) dar. 398 McLuhan beobachtet Brüche im Umgang mit Individualität in mehreren Epochen. So hätten die Künstler_innen des 19. Jahrhunderts die einmalige Individualität, die im 18. Jahrhundert als selbstverständlich gegolten hatte, preisgegeben, als diese vom Prinzip der Masse bedroht wurde (vgl. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis [Anm. 396]. S. 371). »[S]o kamen auch die Dichter und Künstler der Vorstellung eines unpersönlichen Prozesses bei der künstlerischen Schöpfung näher, je mehr sie die neuen Massen wegen ihres unpersönlichen Verhaltens beim Konsum von Kunst tadelten. Eine ähnliche und verwandte Umkehrung ereignete sich, als der Verbraucher populärer Kunst durch die neuen Kunstformen ermuntert wurde, am künstlerischen Prozeß teilzunehmen.« (ebd.) Der letztgenannte Schritt beschreibt Künstler_innen wie Glenn Gould, die die Individualität des Schöpfers zugunsten einer Produktivität des Publikums qua elektronischer Medien minimieren wollen. – Für eine Publikation, die »der Bedeutung des Mediums für den Prozess der Subjektkonstitution« nachgeht, vgl. den von Jörg Dünne und Christian Moser herausgegebenen Sammelband »Automedialität«. Das Zitat ist entnommen aus: Jörg Dünne und Christian Moser : Allgemeine Einleitung. Automedialität. In: dies. (Hg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien. München 2008. S. 7–16. Hier: S. 10. 399 Page: Einleitung (Anm. 38). S. 15.

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Dilettantismus als Lebenskunst oder: Das Medium ist das Genie

Glenn Gould als ›Mönch des McLuhan-Zeitalters‹ zu bezeichnen, hat seinen Grund auch in der persönlichen Nähe Goulds und McLuhans, vor allem aber in der Verwandtschaft der beiden im theoretischen Bereich. Diese Verwandtschaft bezieht sich neben dem Status der beiden als »Prophet[en]« und »Visionär[e]« des elektronischen Zeitalters400 – Gould selbst nennt »Professor Marshall McLuhan, de[n] Mann der Stunde in der Kommunikationstheorie«401 – auch auf ihre inhaltlichen Positionen. Wie Gould tritt McLuhan für die Aufhebung der Grenzen zwischen Komponist_in, Interpret_in und Hörer_in ein und schreibt 1969 in Counterblast: »Gepriesen sei Glenn Gould dafür, dass er das Konzertpublikum auf den Schrottplatz befördert hat.«402 Gould wiederum hat sich stark am Werk McLuhans orientiert und Begriffe, die dieser geprägt hat, in seine eigenen Schriften aufgenommen.403 Beide, McLuhan und Gould, werden heute als Vorreiter postmoderner ästhetischer Ansätze diskutiert. Lange Zeit ist McLuhan wahlweise als »Medientriumphalist[…]«, als »utopische[r] Philosoph[…] sozialer Remediation durch das Fernsehen«, als »krypto-katholische[r] Prophet[…] der Rückkehr zum ›Mündlichen‹ und zur ›totalen Präsenz‹ der Rede«, als »naive[r] Propagandist[…] der Globalisierung und letztlich [als] […] Technikdeterminist[…]« eingestuft worden.404 Ähnlich erging es Glenn Gould: Galt er in den 1960er Jahren noch als »Spinner«, wird er seit einiger Zeit zum »Visionär« rehabilitiert, der schon die »Auswirkungen der Technologie voraus[sah], die erst jetzt, nach dem Anbruch des digitalen Zeitalters, im Mu400 401 402 403

Vgl. Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 15. Glenn Gould: Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung (Anm. 65). S. 149. McLuhan zit. n. Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 210. Vgl. ebd. S. 211. Gould ist sich der ›Infizierung‹ durch McLuhansche Begriffe durchaus bewusst und markiert sie auch als solche. Über ein schlechtes Klavier, das ihn dazu zwingt, nach dessen Bedingungen zu spielen, berichtet Gould: »Ich hatte es mir ›angezogen‹, wie Mr. McLuhan sagen würde […]« (Jonathan Cott: Telefongespräche mit Glenn Gould. 4. Auflage. Berlin 2004 [engl. 1984]. S. 25.). Zu beachten ist aber, dass Gould einen reflektierten und durchaus auch kritischen Umgang mit McLuhans Thesen und Begriffen zeigt. So schließt er sich z. B. der Theorie, das Medium sei die Botschaft, an, lehnt die Unterscheidung zwischen heißen und kalten Medien aber ab (vgl. Bazzana: The performer at work [Anm. 50]. S. 76). Jonathan Cott bringt im Gespräch mit Glenn Gould den Gedanken vor, er würde es – im Gegensatz zu McLuhan – plausibler finden, das Radio als kaltes und das Fernsehen als heißes Medium einzustufen. Darauf antwortet Gould: »Ich stimme Ihnen zu, aber ich glaube, er hat diesen Unterschied nicht so sehr aus seiner Achtung für das Radio gemacht – ich habe, ehrlich gesagt, den Verdacht, daß Marshall nicht gerade übermäßig viel Radio hört –, sondern daß er diesen Unterschied plante, strukturierte, damit er später Film und Fernsehen voneinander scheiden konnte – diese Unterscheidung hat mich allerdings auch nie so recht überzeugt. Ich bewundere McLuhan sehr – er war sogar eine Zeitlang mein Nachbar, ist aber inzwischen umgezogen – gelegentlich treffe ich ihn noch; er ist ein lieber und wunderbarer Mensch. Aber ich hatte immer das Gefühl, er würde ohne die schicke Terminologie, auf die er in Understanding Media […] eingestiegen ist, besser dastehen, und wir hätten ihn ohne sie auch besser verstanden.« Cott, S. 88f. 404 Cavell (Anm. 186). S. 271.

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sikleben erkannt werden.«405 Neben der Musikästhetik im Speziellen kann Gould als Wegbereiter postmoderner Tendenzen im Bereich der Kommunikation überhaupt verstanden werden. Denn die Postmoderne entfaltet sich »ganz entschieden über die digitalisierten Kommunikationssysteme der näheren Gegenwart«406 und Gould gab gewissermaßen einen elektrischen Impuls für diese Entwicklung.407 Das Visionäre in der Kunstauffassung Glenn Goulds bestand v. a. in der Neuausrichtung der Beziehungen zwischen Komponist_in, Interpret_in und Hörer_in durch die Aufnahmetechnik. Goulds Eintreten für eine Hybridisierung der Rollen von Komponist_in, Interpret_in und Hörer_in macht ihn, so die spätere Rezeption, zu einem »Postmoderne[n] avant la lettre«408. »Im Mittelpunkt der technologischen Debatte« sieht Gould bereits in den 1960er Jahren »eine neue Art von Hörer – ein Hörer, der mehr an der musikalischen Erfahrung teilhat.«409 Dieser Hörer verhalte sich nicht länger passiv analytisch, sondern gestalte das Kunstwerk aktiv mit. »[E]r ist ein Partner […] auf dessen umfassende Teilhabe die Zukunft der Musikkunst wartet.«410 Die Nähe von Goulds Position zu Ansätzen der Rezeptionsästhetik ist unübersehbar, sein kreativer Zugang zur Interpretation erinnert überdies an literaturtheoretische Ansätze wie Umberto Ecos offenes Kunstwerk, an Roland Barthes’ Nouvelle Critique und teilweise sogar an die Dekonstruktion.411 Sinnfällig wird dies auch an der Be405 Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 15. Gould wird damit hinsichtlich der Medien eine Rolle zugesprochen, die derer McLuhans vergleichbar ist. Die Nähe zwischen Gould und McLuhan auf der Ebene der Produktion zeigt sich markant darin, dass McLuhan 1967 eine Schallplatte veröffentlichte. Auf dieser ist »eine psychodelische Soundcollage aus Pop- und Jazzrhythmen zu hören, die begleitet wird von Textpassagen aus McLuhans Werken, die dieser höchstselbst auf Tonband gesprochen hatte.« Grampp (Anm. 83). S. 47. 406 Riese (Anm. 246). S. 3. (Die »nähere[…] Gegenwart« wird hier vom Erscheinungsjahr des Artikels, 2002, bestimmt.) 407 Mit dem »Umbruch von den analogen zu den digitalen Medien« ist »zumeist der von fotografischen und analog-elektronischen Bild- bzw. analog-elektronischen/mechanischen Tonmedien zu ihren digitalen Nachfolgern gemeint« (Schröter : Analog/Digital [Anm. 356]. S. 8). Zu verschiedenen (Medien)Epochenschwellen, an welchen der Umbruch angesetzt werden kann, vgl. ebd. S. 8f. Ich gehe von der Erfindung der Computertechnologie in der Mitte des 20. Jahrhunderts als digitalem Startpunkt aus. Dass hierbei jedoch nicht von einem Einschnitt im Sinne eines radikalen Bruchs gesprochen werden kann, liegt u. a. darin begründet, dass digitale Medien auf ihren Oberflächen aisthetisch analog bleiben und digitale Medien auf einer elektronischen Technik aufsitzen. Vgl. ebd. S. 25. 408 Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 217. Die Bezeichnung von Goulds Ansatz als »avant la lettre« hebt den Aspekt seiner Vorläuferschaft bezüglich der Postmoderne hervor. Gould ist postmodern avant la lettre, weil er einer anderen ästhetischen Epoche angehört. Zur Problematik einer Avantgarde (in) der Postmoderne vgl. Zygmunt Bauman: Postmoderne Kunst oder : Die Unmöglichkeit einer Avantgarde. In: ders.: Das Unbehagen in der Postmoderne. Aus dem Englischen von Wiebke Schmaltz. Hamburg 1999. S. 169–182. 409 Gould: Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung (Anm. 65). S. 151. 410 Ebd. 411 Vgl. Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 217.

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teiligung der Rezipient_innen am kreativen Prozess über den Weg der Technik: »›Am Einstellknopf herumzudrehen ist auf gewisse eingeschränkte Weise ein interpretativer Akt‹«, behauptet Gould; den entsprechenden Vorgang bezeichnet er 1968 als »›Selberbasteln‹«.412 Mit der Bezeichnung der Tätigkeiten der Rezipient_innen als »Basteln« rückt Gould diese in die Nähe der dilettantischen bricolage und die aktiven Hörer_innen in eine strukturelle Nähe zu den wissenschaftlichen Dilettant_innen als epistemic heros.413 Die Arbeiten von Glenn Goulds Freund Marshall McLuhan sind geeignet, um Übertragungen dieses Prinzips in die Gestaltung von Texten anschaulich zu machen. Es ist eine Affinität der McLuhanschen Prosa zur Avantgardeliteratur, vor allem zu der James Joyces festgestellt worden.414 In seinen Büchern wolle McLuhan den Effekt erzielen, dass die Rezipient_in »regelrecht gezwungen werde[…], bei der Lektüre des Kunstwerkes selbst kreativ zu werden.«415 Die postmoderne Verschärfung des Einbezugs der Rezipient_innen stellt dann die ironische Interaktion mit den Leser_innen dar. Konzeptionell kann Glenn Gould also auch als Vorläufer für das Credo gelten: »Postmodern schreiben, heißt den Leser erschaffen«.416

IV.1.

Glenn Goulds Kunstauffassung: Postmoderne avant la lettre417

Postmodern avant la lettre zu musizieren, heißt u. a. die Rezipient_in zu erschaffen: 412 Zit. n. ebd. (Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.) McLuhan beschreibt diesen Trend in den Künsten mit einem ähnlichen Vokabular : »[I]n the arts of the past century the swing has been away from packaging for the consumer to providing do-it-yourself kits. The spectator or reader must now be cocreator.« McLuhan: Unbound Project. Bd. 18 (Anm. 168). S. 15. 413 Vgl. S. 17f. dieser Arbeit. 414 Vgl. Grampp (Anm. 83). S. 56. Zu McLuhan als Impulsgeber für die postmoderne Architektur vgl. Niels Werber : Jenseits der Zeitmauer. Globalisierung als Erbe der Postmoderne? In: Merkur 52 (1998): Postmoderne. Eine Bilanz. S. 981–987. Hier: S. 984f. 415 Grampp (Anm. 83). S. 56. 416 Andrea Köhler : Kilroy was here. Das Phantom des Buches – Literatur der Postmoderne. In: Merkur 52 (1998): Postmoderne. Eine Bilanz. S. 840–851. Hier : S. 845. 417 ›Avant la lettre‹ ist der Begriff »postmodern« in Bezug auf die Musiktheorie und die deutschsprachige Literaturtheorie. In der amerikanischen Literaturdebatte der 1960er Jahre wurde »Postmoderne« bereits als Schlüsselbegriff verwendet (vgl. Sissel Lægreid: »… mit Ironie, ohne Unschuld. Rückblick auf die Moderne/Postmoderne. In: Ivar Sagmo (Hg.): Moderne, Postmoderne – und was noch? Akten der Tagung in Oslo, 25.–26. 11. 2004. Frankfurt/M. u. a. 2007. S. 29–46. Hier: S. 30 und Welsch [Anm. 9]. S. 9). Glenn Gould und die Literarisierung dieser historischen Person in Der Untergeher stellen überdies ein geeignetes Beispiel dar, um die konkurrierenden Definitionen von Postmoderne – nämlich als zeitlich fixierbare Epoche einerseits und als mentale bzw. intellektuelle Haltung anderer-

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Denn die öffentlichste Übertragung kann in der privatesten Umgebung gehört werden, und dem Hörer, oder, wenn man so will, dem schließlichen Komponisten-Künstler-Kritiker-Konsumenten-Hybrid, wird eine erstaunliche Vielfalt von Idiomen geboten, ohne daß er sich zwangsläufig in eine besondere soziale Situation begeben muß, in der die unvermeidlichen Kompromisse, die es mit sich bringt, wenn man mit vielen anderen gleichzeitig einer Aufführung beiwohnen muß, am stärksten spürbar werden.418

Dieser private Modus des Rezipierens ermuntere die Hörer_innen, »nicht als Gefangene oder Automaten zu reagieren, sondern als Individuen, die einer noch nie dagewesenen Spontaneität des Urteils fähig sind.«419 Die elektronische Speicherung und Übertragung von Musik kreiert also zunächst ein ›Komponisten-Künstler-Kritiker-Konsumenten-Hybrid‹, wobei die Rezipient_in dann aber als Individuum ein Urteil fällen kann, das an Spontaneität seines Gleichen sucht. Gould bricht, wie gesagt, die Grenze zwischen Künstler_in, Komponist_in, Kritiker_in und Hörer_in auf. Das Interessante dabei ist, dass das dadurch entstehende Hybrid ein höheres Maß an Individualität zeigen kann, als die Rezipient_in, die gemeinsam mit einer Vielzahl weiterer Individuen einer öffentlichen Aufführung beiwohnt. Mit der Zurückdrängung des künstlerischen Individuums und der daraus resultierenden Aufwertung der Rezipient_innen, handelt es sich um eine Denkfigur, die vier Jahre später auch Roland Barthes bei der Tötung des Autors verwendet: Die Geburt des Rezipienten ist zu bezahlen mit dem Tod des Künstlers.420 Mit der Verschmelzung von Künstler_in, Werk und Rezipient_in vermischt Gould Kategorien, die einzeln und getrennt voneinander die Stützpfeiler der traditionellen Ästhetik bilden. Dies ist ihm durchaus bewusst. Er nimmt sich explizit vor, »jenen ganzen Bereich des Vorurteils« zu »unterminieren […][,] der in der Welt nach der Renaissance so entschlossen die Sache einer chronologischen Originalität vertreten hat«. Im Zuge dessen seien »die umfassenderen Zwecke der Kreativität völlig aus den Augen verloren« worden.421 Dass Gould Originalität und Kreativität gegeneinander ausspielt, gibt Aufschluss auch über

418 419 420 421

seits (vgl. Riese [Anm. 246]. S. 3) – produktiv aufeinander zu beziehen. Versteht man mit Zygmunt Bauman die Postmoderne als historische Periode, sind der historische und der fiktive Glenn Gould in unterschiedlichen ästhetischen Epochen zu situieren: Musikalisch war in den 1960er Jahren noch nicht die Rede von Postmoderne, literarisch in den 1980er Jahren durchaus. Der Vorreiterstatus Goulds, der erst im Rückblick und unter Annahme eines historischen Schnitts wirklich erkennbar wird, ist es, der die Affinität zwischen seiner Kunstauffassung und dem postmodernen Denken begründet. Gould: Strauss und die elektronische Zukunft (Anm. 164). S. 152. Ebd. S. 151f. Bei Barthes heißt es: »Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.« Roland Barthes: Der Tod des Autors [1968]. In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000. S. 185–193. Hier: S. 193. Gould: Strauss und die elektronische Zukunft (Anm. 164). S. 152. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.

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sein Verständnis von Subjektivität und Genialität. Den mit Ideen eines schöpferischen Ichs, mit Geniekult und Einmaligkeit assoziierten Terminus »Originalität« gibt er auf zugunsten der ›umfassenderen Zwecke der Kreativität‹. Genialität im Sinne Goulds ist gerade nicht an das eine, singuläre Schöpfersubjekt gebunden, sondern zeigt sich im Zusammenspiel der Elemente des ›Komponisten-Künstler-Kritiker-Konsumenten-Hybrids‹. Goulds Kritik an Konzepten wie Erfindung und Originalität richtet sich gegen eine überhöhte Wertschätzung von Individualität auf der Seite der Kunstproduktion. Denn die besondere Betonung der Individualität der Künstler_in ziehe den von ihm stets abgelehnten Wettkampfgedanken nach sich. Die neuen Aufnahmetechniken beförderten demgegenüber Goulds Wunsch, die Musikerfahrung zu demokratisieren.422 Bezogen auf die Konzertsituation stellt Gould der individuellen Virtuosität »demokratische« Konzerttypen entgegen.423 Bedeutend weiter kann die Demokratisierung aber bei der produktiven Rezeption von Tonaufnahmen reichen. Gould wollte am liebsten eine »›Reihe von Interpretationsversionen herausbringen und die Hörer wählen lassen, welche ihnen selber am besten gefällt. Sollen sie sich doch ihre eigene Interpretation zusammenstellen. […]‹.«424 Die Frage danach, ob er damit einverstanden sei, wenn von beliebigen Hörer_innen an seinen eigenen veröffentlichten Aufnahmen nichtautorisierte Veränderungen vorgenommen würden,425 beantwortet Gould mit: »Andernfalls hätte ich mein Ziel verfehlt.«426 Die Musikerfahrung zu demokratisieren, heißt, sie zugänglich für jede_n zu machen und ihr den Nimbus des Esoterischen zu nehmen. Jedem aktive Teilhabe am Schaffensprozess zu gewähren, heißt auch, dem Dilettieren Raum zu geben. (In diesem Demokratisierungsgestus treffen sich Gould und Foucault bzw. Glenn und der Erzähler, hierin liegt der gemeinsame Nenner ihrer »selbstver-

422 Vgl. Bazzana: The performer at work (Anm. 50). S. 83. Gould selbst schreibt: »Im Mittelpunkt der technologischen Debatte also steht eine neue Art von Hörer – ein Hörer, der mehr an der musikalischen Erfahrung teilhat. Das Auftreten dieses Phänomens in der Mitte des 20. Jahrhunderts ist die größte Leistung der Schallplattenindustrie. Denn dieser Hörer verhält sich nicht länger passiv analytisch; er ist ein Partner, dessen Geschmack, dessen Vorlieben und Neigungen schon jetzt peripher die Erfahrungen verändern, denen er seine Aufmerksamkeit schenkt, und auf dessen umfassende Teilhabe die Zukunft der Musikkunst wartet.« (Gould: Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung [Anm. 65]. S. 151) Auch als Gould noch Konzerte gab, versuchte er das Prinzip einer demokratischen Kunst zu realisieren, indem »he sought to minimize virtuoso display and solo-tutti contrast, and to maximize unity and continuity.« Bazzana: The performer at work (Anm. 50). S. 124. 423 Vgl. ebd. S. 122f. 424 Zit. n. Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 217f. 425 Vgl. Gould: Glenn Gould interviewt Glenn Gould (Anm. 65). S. 116. 426 Ebd. Zu den medientechnischen Voraussetzungen für diese Art Demokratisierung der Musikerfahrung vgl. Dembeck (Anm. 339). S. 206f.

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ständlich[…] gleichen Kunstauffassung[en]«427. Der Unterschied besteht im Feld der Kunstausübung, nämlich in der Musik einerseits und dem Leben überhaupt andererseits.) Nicht eine Opposition von Genialität und Dilettantismus ist für die Kunstauffassung Glenn Goulds leitend; vielmehr räumt Gould der dilettantischen bricolage ein geniales Potential ein, er erklärt die dilettantischen Rezipient_innen gewissermaßen zu artistic heros – wobei Genialität nicht Originalität meint, sondern ergebnisoffenes Ausprobieren und künstlerisches Heldentum nicht Virtuosität bedeutet, sondern kreative Bastelei. Eine Erscheinungsweise des Dilettantismus innerhalb der Kunstauffassung des historischen Glenn Gould ist – auch hier Entwicklungen der postmodernen Ästhetik vorweg nehmend – die Idee einer kollektiven Urheberschaft.428 Gould will die »Herstellung von Tonbändern im Do-it-yourself-Verfahren zum Prärogativ jedes einigermaßen gewissenhaften Konsumenten von Musikkonserven«429 machen. In der Einebnung der Unterschiede zwischen Komponist_in, Interpret_in und Hörer_in realisiert sich eine Idee von kollektiver Urheberschaft,430 von »Mehrfach-Urheberschaft«431, wie Gould schreibt. Folglich sieht er [e]ine der gewiß eintretenden Wirkungen des elektronischen Zeitalters […] darin, daß es für immer die Werte verändern wird, die wir mit Kunst verbinden. Tatsächlich besteht das Vokabular ästhetischer Kategorien, das seit der Renaissance entwickelt worden ist, größtenteils aus Ausdrücken, von denen sich erweist, daß sie kaum Gültigkeit haben für die Untersuchung der elektronischen Kultur. Ich beziehe mich auf solche Ausdrücke wie »Nachahmung«, »Erfindung« und, vor allem, »Originalität«432.

Gould operiert mit Konzepten, die von der Literaturwissenschaft später als Kriterien diskutiert werden, anhand derer die Postmoderne bestimmt werden könnte. Zeitgleich mit Leslie Fiedler plädiert Gould für eine Mischung der

427 Wie Anm. 114. 428 Zugleich steht Gould damit in der romantischen Tradition mit Novalis und den Gebrüdern Schlegel als ihren Protagonisten. 429 Gould: Strauss und die elektronische Zukunft (Anm. 164). S. 143. 430 Zu Goulds »Idee einer kollektiven Autorschaft« vgl. auch Revers (Anm. 198). S. 147. 431 Gould: Strauss und die elektronische Zukunft (Anm. 164). S. 143. Bruce R. Powers beschreibt seine Zusammenarbeit mit Marshall McLuhan und Glenn Gould genau als solch eine kollektive Urheberschaft: »In ähnlicher Weise wurde ich in einen Austausch schnellgeschriebener Texte mit Analysen und Meinungen zwischen Marshall, seinen Freunden und Kollegen […] einbezogen. Es gab eine Vielzahl Gespräche zwischen uns beiden, wir machten Tonaufnahmen über unsere Ideen zur kritischen Revision und überarbeiteten gemeinsam Thesenpapiere und Manuskripte, die zwischen den Teilnehmern zirkulierten […]. Marshall würde die selben Ideen nehmen und sie mit solchen großartigen Menschen wie Glenn Gould, John Cage und Pierre Trudeau teilen.« Bruce R. Powers: Vorwort (Anm. 65). S. 19. 432 Gould: Strauss und die elektronische Zukunft (Anm. 164). S. 143.

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ernsten und der unterhaltenden Kunst,433 genauso wie wenig später Roland Barthes versteht er ein Kunstwerk als ein Gewebe von Zitaten. In der elektronischen Kultur werden die ästhetischen Kategorien Nachahmung, Erfindung und Originalität obsolet. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Marshall McLuhan: Da Stereo eine Form von Klang ist, die gesamtpersönlich erlebt wird, gelten »die alten Kategorien ›klassisch‹ und ›volkstümlich‹ oder ›gebildet‹ und ›laienhaft‹ nicht mehr«434 : »Jedermann verlor seine Hemmungen wegen ›intellektuell‹, und die ernsten Leute gaben ihren Dünkel gegenüber volkstümlicher Musik und Bildung auf.«435 Laut Gould und McLuhan verabschiedet das elektronische Zeitalter diejenigen Parameter, die in der ästhetischen Tradition – in der musikalischen wie in der literarischen – dem Genie vorbehalten waren. Das elektronische Zeitalter steht damit unter denselben theoretischen Vorzeichen wie die Postmoderne, die »keinen archimedischen Bezug der Bewertung«436 von hoher und ›niedriger‹ bzw. populärer Kunst besitzt. Es stellt sich also die Frage, ob das elektronische Zeitalter als Zeitalter des Dilettantismus verstanden werden muss bzw. welche Modifikationen der Diskurs um Genialität und Dilettantismus in der elektronischen Kultur genau erfährt.437 Wie schon im Konflikt zwischen bürgerlicher und avantgardistischer Kunst, ist die Wertung eines (Kunst)Produkts als dilettantisch auch hier eine Frage der Perspektive. In der klassischen Musik ist Goulds Standpunkt seinerzeit unkonventionell und strittig gewesen,438 im Jazz und der populären Musik dagegen ist eine große Freiheit der Interpret_in allgemein anerkannt.439 Mit seinen musiktheoretischen Basisannahmen nähert sich Gould den Unterhaltungskünsten und berührt damit ein künstlerisches Gebiet, das traditionell dem Dilettantismusvorwurf ausgesetzt ist. Dass Gould überdies in der Mischung verschiedener Stile die Zukunft der Musik sieht,440 hebt seine Ansicht markant von den äs433 Fiedlers programmatischer Aufsatz »Cross the Border – Close the Gap« ist 1969 im Playboy erschienen. 434 McLuhan: Die magischen Kanäle (Anm. 65). S. 308. 435 Ebd. 436 Riese (Anm. 246). S. 31. 437 Den Blick nicht auf den medientheoretischen Kontext, sondern auf die Begriffsgeschichte des Dilettantismus gerichtet, kommt Fatima Naqvi zu dem Schluss, in Der Untergeher werde die professionelle Ausbildung abgewertet. Aufgewertet würden dagegen der Amateur und der dilettierende Virtuose. Vgl. Naqvi (Anm. 307). S. 324. 438 Goulds Repertoire besteht freilich aus sog. ernster Musik. Sein Faible für barocke Musik ist jedoch nicht durch deren kanonische Verbindlichkeit, sondern durch ihre besondere Kompatibilität mit den neuen Medien begründet: Das Revival von vorklassischer Musik im elektronischen Zeitalter hängt damit zusammen, dass Charakteristika barocker Musik »wie geschaffen für Stereo« waren. Gould: Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung (Anm. 65). S. 134. 439 Vgl. Bazzana: The performer at work (Anm. 50). S. 37. 440 Vgl. ebd. S. 68.

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thetischen Vorgaben, wie sie ihrerzeit beispielsweise Goethe und Schiller formuliert hatten, ab. Dass der Stil-Mix mittlerweile als ein Kennzeichen postmoderner Musikästhetik gilt,441 bestätigt einen Paradigmenwechsel, der zu einer Betrachtung des Dilettantismus unter völlig anderen Vorzeichen führt, als es noch im 18. Jahrhundert der Fall gewesen war. Besonders deutlich wird dieser Paradigmenwechsel am Umgang mit der Nachahmung. Nachahmung galt in der ästhetischen Tradition nur im Sinne von Mimesis, also von Nachahmung der Natur, als künstlerisch wertvoll. Kunst(schaffen) als Nachahmung von Kunst(schaffen) verfiel traditionell dem Verdikt des Epigonalen. Mit Blick auf Bernhards Text und die Fragestellung dieser Arbeit ist deshalb zentral, dass der historische Glenn Gould in der Aufnahmetechnik einen »Ausweg aus dem hoffnungslosen Epigonendasein des zeitgenössischen Künstlers«442 gesehen hat. Die eingeschränkten Möglichkeiten der musikalischen Interpretation in den 1960er Jahren, die einzig darin zu bestehen schienen, das immer selbe auf die immer gleiche Weise zu aktualisieren, erweiterte Gould durch die Hinwendung zu den elektronischen Medien immens. In einem Interview erklärt er : Wenn es überhaupt einen guten Grund gibt, eine Plattenaufnahme zu machen, dann meiner Meinung nach den, dass man es anders machen, das Werk aus einer völlig neuschöpferischen Perspektive sehen will, dass man gerade dieses eine Werk spielen will, wie es nie zuvor gehört wurde.443

»By taking advantage of the post-taping afterthought […] one can very often transcend the limitations that performance imposes upon the imagination«444, schreibt Gould und akzentuiert damit das größere künstlerische Potential, das elektronischen Aufnahmen seiner Ansicht nach im Vergleich zur Konzertsituation eignet. 1967 beschreibt Glenn Gould seine Tätigkeit, »›[a]ls Komponist […] Versatzstücke neu zusammen[zusetzen]‹, […] [als] ›[…] eine originelle Art, eine Haltung dem Komponieren gegenüber […], die manche eklektisch 441 Vgl. ebd. Zur Postmoderne in der Musik vgl. allgemein Rainer Wilke: Zwischen Neo-Avantgarde und Neuer Einfachheit. Postmoderne in der Musik. In: Andrea Hübener, Jörg Paulus und Renate Stauf (Hg.): Umstrittene Postmoderne. Lektüren. Heidelberg 2009. S. 61–77 sowie in sehr kritischer Perspektive: Claus-Steffen Mahnkopf: Neue Musik am Beginn der Zweiten Moderne. In: Merkur 52 (1998): Postmoderne. Eine Bilanz. S. 864–875. 442 Zit. n. Steingröver: »Der Hellsichtigste aller Narren« (Anm. 47). S. 96. Mit Blick auf Der Untergeher wurde Glenn Goulds musikalische Theorie auch aufgearbeitet von: Michael P. Olson: Thomas Bernhard, Glenn Gould, and the art of the fugue. Contrapuntal variations in »Der Untergeher«. In: Modern Austrian literature 24 (1991). S. 73–83. 443 Zit. n. Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 213. 444 Zit. n. Bazzana: The performer at work (Anm. 50). S. 245. In der deutschen Übersetzung von Goulds Schrift: »Indem man sich das nachträgliche Überdenken beim Abhören einer Bandaufnahme zunutze macht, kann man jedoch sehr oft die Grenzen überschreiten, die die Aufführung der Imagination auferlegt.« Gould: Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung (Anm. 65). S. 140.

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nennen; weniger Wohlmeinende [, setzt er hinzu,] sagen Nachahmung dazu‹.«445 Im elektronischen Zeitalter verlieren auch Kategorien wie Echtheit, Authentizität und Wahrhaftigkeit ihre Gültigkeit.446 »[D]ie erste Lektion der Technologie« bestand für Gould darin, zu lernen, »schöpferisch unehrlich zu sein.«447 Eine Musikaufnahme jenseits der Echtzeit durch Schneiden und Mischen von Tonbändern und andere Techniken herzustellen, hielt Gould im Hinblick auf sein Ethos als Künstler für unproblematisch und prägte für diese Verfahren die Begriffe »kreativer Betrug« und »[k]reative Lüge«.448 Bei Plattenaufnahmen rechtfertige »›der musikalische Zweck die editorischen Mittel‹ – […] [bzw., so sagt Gould:] ›Das Band lügt und man kommt fast immer damit durch.‹«449 Ausgehend von Han van Meegeren, dem berühmten Fälscher von Vermeer-Gemälden, erklärt Gould schließlich den Fälscher zum Helden der elektronischen Kultur.450 Richtet man vor dem Hintergrund von Goulds Kunstauffassung den Blick auf Thomas Bernhards Roman Der Untergeher, treten inhaltlich das Epigonentum Wertheimers sowie die Unzuverlässigkeit und Subjektivität451 – im Sinne von Nicht-Objektivität – des Erzählers und somit dieser als möglicher Fälscher und kreativer Lügner in den Fokus. Formal und stilistisch betrachtet, erweist sich neben den Anleihen des Textes an Glenn Goulds Kunstauffassung seine Affinität zur ›Wissens-Poesie‹ Marshall McLuhans als untersuchenswert.

445 Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 228. 446 Auch in diesem Punkt ist das Denken Glenn Goulds dem postmodernen Denken verwandt. Nach FranÅois Lyotard steht die Postmoderne im Zeichen einer Ästhetik des Erhabenen, im Gegensatz also zu einer Ästhetik des Schönen, die einen Zusammenhang zum Wahren und Guten herstellen würde. Vgl. Roger Behrens: Postmoderne. 2. korr. Auflage. Hamburg 2008. S. 53. 447 Gould: Musik und Technologie (Anm. 126). S. 162. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 448 Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 211. 449 Zit. n. ebd. 450 »Da des Künstlers einst sakrosankte Privilegien sich vermischen mit den Verantwortlichkeiten des Cutters und des Komponisten, kann das van-Meegeren-Syndrom nicht mehr als Anklage vorgebracht werden, sondern wird vielmehr zu einer vollkommen angemessenen Beschreibung des ästhetischen Zustands in unserer Zeit. Die Rolle des Fälschers, des unbekannten Herstellers unbeglaubigter Güter, ist emblematisch für die elektronische Kultur. Und wenn dem Fälscher Ehre erwiesen wird für seine Kunstfertigkeit und er nicht mehr geschmäht wird wegen seiner Habgier, werden die Künste zu einem wahrhaft integralen Bestandteil unserer Zivilisation geworden sein.« Gould: Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung (Anm. 65). S. 146. 451 Vgl. S. 316 dieser Arbeit.

Glenn Goulds Musiktheorie und Thomas Bernhards Poetik

IV.2.

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Die Kunst-Verfassung von Der Untergeher: Postmoderne à la lettre

Die Tatsache, dass Thomas Bernhard mit Glenn Gould einen Protagonisten einführt, der ein reales Gegenstück besitzt und diese historische Person wiederum in enger Verbindung zu Marshall McLuhan stand, lieferte ein erstes Argument dafür, den Roman Der Untergeher neben dem musiktheoretischen auch vor dem medientheoretischen Hintergrund der 1960er und 1970er Jahre zu lesen. Nicht weniger signifikant ist die stilistische Ähnlichkeit von McLuhans und Bernhards Texten. McLuhans Bücher sind extrem redundant, sie enthalten zahlreiche Wiederholungsschleifen und »scheinen so immer wieder nur dasselbe zu erzählen«452. Als Ordnungsprinzip von Die magischen Kanäle macht Sven Grampp das »Spiel von Wiederholung und Variation« aus und bezeichnet McLuhans Schreiben als »Spiralenrhetorik«.453 Außerdem gibt es bei McLuhan für jede Behauptung andernorts eine Gegenbehauptung, seine Herangehensweisen sind extrem heterogen und teilweise untereinander inkompatibel.454 Zur Beschreibung von McLuhans Werk werden also genau jene Attribute herangezogen, mit welchen in der Regel auch das Schreiben Bernhards charakterisiert wird, nämlich die Ein-Buch-These, die Wiederholungstrukturen, die Spiralförmigkeit und die inhaltlichen Widersprüche. Die frappierende Affinität von McLuhans und Bernhards jeweiliger Schreibweise bildet also das zweite Argument für eine Lektüre von Der Untergeher im Horizont auch von McLuhan. Die Verwandtschaft des Bernhardschen und des McLuhanschen Schreibduktus ist nicht nur als Phänomen interessant, sondern besitzt im übergeordneten Kontext, der Frage nach Dilettantismus, außerdem heuristische Relevanz. Denn neben Gilles Deleuzes und Felix Guattaris’ positiver Einschätzung, McLuhans »bewusste Absage an wissenschaftliche Prinzipien«455 sei eine subversive Kritik an wissenschaftlichen Grundsätzen und zeuge von künstlerischer Kreativität,456 sind in der McLuhan-Rezeption viele kritische Stimmen zu finden. Allem voran der Dilettantismusvorwurf wird von sehr prominenten McLuhan-Lesern vorgebracht: Umberto Eco kritisiert die fehlende Systematik im Werk McLuhans, Jacques Derrida klagt die ideologische Naivität McLuhans an und Hans Magnus Enzensberger spricht McLuhan gar jede wissenschaftliche »Satisfaktionsfähigkeit« ab.457 Deleuze und Guattari argumentieren im Sinne einer ›Wissenschaft als Literatur‹458, wenn sie die Abkehr von bestimmten Formen von Wissenschaft452 453 454 455 456 457 458

Grampp (Anm. 83). S. 40. Ebd. S. 42. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Vgl. ebd. S. 154. Ebd. S. 45. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 141. »In dieser Variante [, das Verhältnis von Literatur und Wissen zu betrachten,] steht die

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lichkeit als Ausdruck künstlerischer Kreativität werten. Genau dieses künstlerische Element im Schreiben McLuhans trägt ihm im wissenschaftlichen Bereich den Dilettantismusvorwurf ein (Stichwort: fehlende Systematik). In der Konsequenz stellen sich zwei Fragen: In welchem Verhältnis steht McLuhans, in Enzensbergers Augen ›nicht satisfaktionsfähiges‹ Schreiben zum wissenschaftlichen Betrieb und zu dem Gegenstand, den es beschreibt? Und: In welchem Verhältnis steht Thomas Bernhard, der einem mit McLuhans Stil eng verwandten Schreibprinzip folgt, der sich als Literat jedoch nicht an den Maßstäben des Wissenschaftsbetriebs messen lassen muss, zu all dem? Die erste Frage ist schnell beantwortet: Die nur zögerliche Akzeptanz von McLuhans Thesen und Methoden im akademischen Betrieb sowie deren schnelles Vergessenwerden (bis zum McLuhan-Revival in den Medienwissenschaften) sind hinlänglich bekannt. Wenn der ablehnende Gestus den Arbeiten McLuhans gegenüber mit deren ›unwissenschaftlicher‹, wenig systematischer und redundanter Schreibweise begründet wird, ist der (ästhetische) Stil, mit welchem McLuhan sein Wissen zur Darstellung bringt, angesprochen. Eine von McLuhans Hauptthesen besagt, dass das orale Zeitalter vom Grundprinzip der Wiederholung und Variation geprägt gewesen sei und dass dieses Prinzip im globalen Dorf wiederkehre. McLuhan entscheidet sich dazu, bei der wissenschaftlichen Vermessung des globalen Dorfs dieses Prinzip auch formal-diskursiv abzubilden. Das heißt: »In der Form der Forschungsprosa müssen nun Vernetzungen, Wiederholungen und Variationen virulent werden.«459 Will man den Funktionsweisen des globalen Dorfs gerecht werden, erweist sich eine Form der Analyse, die den Gegenstand klar und deutlich zu bestimmen und die zentralen Punkte einsichtig zu machen sucht, als inadäquat. Vielmehr kann über angedeutete Verbindungen, Konnotationen, Wiederholungsschleifen und Variationen in der Textorganisation einsichtig gemacht werden, wie im elektronischen Zeitalter kommuniziert, wahrgenommen und gedacht wird.460 McLuhan, der »Mann der Stunde in der Kommunikationstheorie«461, wählt für seine Ideen zum elektronischen Zeitalter eine Darstellungsform, welche die Prinzipien der neuen Technologien diskursiv abbildet. Sein Status als Avantgardist der Medientheorie lässt sich seinen Schriften buchstäblich ablesen. Mit der gewählten ›Poesie‹ des Wissens befindet sich McLuhan allerdings nicht im literarische und poetische Hervorbringung von Wissen sowie die literarische, rhetorische und gattungsspezifische Verfasstheit wissenschaftlicher Texte im Vordergrund.« Yvonne Wübben: Forschungsskizze: Literatur und Wissen nach 1945. In: Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes und Yvonne Wübben (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2013. S. 5–16. Hier : S. 8. 459 Grampp (Anm. 83). S. 54. 460 Vgl. ebd. 461 Wie Anm. 401.

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»Wahren« seiner Disziplin.462 Dies hat zur Konsequenz, dass er als wissenschaftlich ›nicht satisfaktionsfähig‹, also als Dilettant abqualifiziert wird. Historisch befindet sich McLuhans Schreiben am Umschlagpunkt des Buchdruckzeitalters zum elektronischen Zeitalter.463 Systematisch hat er den Umbruch – als einer der ersten – bereits vollzogen: Er orientiert sein Schreiben bereits an den Parametern des neuen elektronischen Zeitalters. Meine These ist nun, dass Thomas Bernhard in Der Untergeher eine ähnliche Konstellation präsentiert. Die Genie-Position in seinem Künstlerroman besetzt er mit Glenn Gould, einem Propheten des elektronischen Zeitalters. Die beiden Dilettanten sind mit der elektronischen Welt (noch) nicht vertraut. Der ›Umschlagpunkt‹ ins elektronische Zeitalter wird also zunächst auf der inhaltlichen Ebene in Form der Konkurrenz der Protagonisten, genauer : der ihnen jeweils zugeordneten Medien, ausgelotet. Historisch ist Bernhards Schreiben – anders als das McLuhans – schon nach diesem Umschlagpunkt situiert. Folglich stellt sich die Frage, ob systematisch betrachtet Bernhards redundantes, wiederholendes, spiralförmiges und widersprüchliches Schreiben wie dasjenige McLuhans als Ausdruck eines Übergangs in das elektronische Zeitalter zu verstehen ist. Eine weit verbreitete Forschungsmeinung zu Der Untergeher verknüpft die Nähe der Technik der Wiederholung und Variation einzelner Themen und Motive mit einem zentralen Gegenstand des Textes, nämlich Johann Sebastian Bachs Goldbergvariationen. Die wechselseitige Bedingtheit der drei Figuren und ihrer Lebensläufe wird als literarisches Analogon zur musikalischen Technik des Kontrapunkts gedeutet.464 Mit den Lebensläufen verhalte es sich »wie mit den Stimmen in einer kontrapunktischen Komposition, deren Veränderungen nur aus dem Gesamtbild, d. h. aus dem Zusammenspiel mit den anderen Stimmen heraus, erklärbar sind.«465 Dies entspreche dem »Formeninventar von Fugenkompositionen, an denen sich die Struktur des Werkes orientiert.«466 Die drei Protagonisten in Der Untergeher unterlägen dabei einer »Technik der polyphonen Behandlung«467. Nun ist das Prinzip der Polyphonie nicht eins zu eins aus der Musik in die Literatur transponierbar. Ein Argument, das gegen die Übertragbarkeit vorgebracht wird, ist die Mediendifferenz: Zwischen einer 462 Vgl. dazu Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt/M. 1991. S. 7–49. Hier : S. 22f. 463 Vgl. Stefan Heidenreich: Nicht heiß, nicht kalt. Formate der Beteiligung nach McLuhan. In: Derrick de Kerckhove, Martina Leeker und Kerstin Schmidt (Hg.): McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert. Bielefeld 2008. S. 285–290. Hier: S. 286. 464 Vgl. Hens (Anm. 336). S. 18. 465 Ebd. S. 32. 466 Ebd. S. 33. Vgl. auch Anm. 336. 467 Hens (Anm. 336). S. 42.

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»vertikal polyphon gegliederten Partitur und einem sich linear entfaltenden litteralen Gefüge«468 besteht ein wesentlicher Unterschied. Dem ist hinzuzufügen, dass Der Untergeher auch nicht mit dem – ausgehend von der Literatur entworfenen – Konzept der Polyphonie im Sinne Michail Bachtins angemessen erfassbar ist. Klar ist, dass der Text im Erzähler eine eindeutig auszumachende Erzählstimme besitzt. Und zwar nur eine, denn der Erzähler ist der einzige »Übriggebliebene«: »Jetzt bin ich allein, dachte ich […]. Jetzt sind Glenn und Wertheimer tot und ich habe mit dieser Tatsache fertig zu werden.«469 Durch die Stimme des Erzählers kommen zwar häufig auch die Ansichten Wertheimers und Glenns zur Sprache,470 von (simultaner) Stimmenvielfalt im Sinne mehrerer Aussageinstanzen kann jedoch keine Rede sein.471 Die beständigen ›sagte er, dachte ich‹-Konstruktionen mögen aufgrund ihrer »komplizierten Verschachtelungstechnik« eine »Transformation polyphoner Kompositionstechniken in die Literatur«472 andeuten – mehr aber auch nicht.473 Mindestens genauso sehr 468 Gudrun Kuhn: Musik und Memoria. Zu Hör-Arten von Bernhards Prosa. In: Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Wissenschaft als Finsternis? Wien u. a. 2002 (= Jahrbuch der Thomas-Bernhard-Privatstiftung 2002). S. 145–161. Hier: S. 148. 469 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 32. (Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden.) Willi Huntemann leitet daraus ab, dass der Erzählerbericht als memoria mortui zu verstehen sei und das Erinnern das dominierende Konstruktionsprinzip des Textes bilde. Vgl. Huntemann: Artistik & Rollenspiel (Anm. 23). S. 64. 470 Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). Z. B. S. 23f., S. 31, S. 39, S. 41, S. 42f., S. 44, S. 45, S. 46, S. 59ff., S. 70ff., S. 82f., S. 89 oder S. 101. 471 Gudrun Kuhn beschreibt Bernhards poetisches Verfahren als »Koinzidenz verschiedener (bekannter) Figuren/Figureme in einem tönenden Rezitator«. Kuhn: »Ein philosophisch-musikalisch geschulter Sänger« (Anm. 115). S. 81. 472 Köpnick (Anm. 53). S. 288. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. 473 Dass die Inquit-Formeln den Text als Wiederholung des Geschehenen ausweisen, meinen Aude Locatelli und Eva Marquardt (vgl. Aude Locatelli: Musikalische Wiederholung und Variation in »Der Untergeher« von Thomas Bernhard. In: Bernard Banoun, Lydia Andrea Hartl und Yasmin Hoffmann (Hg.): Aug’ um Ohr. Medienkämpfe in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Berlin 2002. S. 131–142. Hier : S. 132 und Eva Marquardt: Wortwörtlich. Formen der Wiederholung im Werk Thomas Bernhards. In: Carola Hilmes und Dietrich Mathy (Hg.): Dasselbe noch einmal: Die Ästhetik der Wiederholung. Opladen/ Wiesbaden 1998. S. 229–243. Hier: S. 231.). Carlo Brune erkennt in Bernhards »sagte er, dachte ich«-Konstruktionen Wittgensteins Theorem, dass die Sprache das Vehikel des Denkens sei, wieder (Carlo Brune: Variationen von A bis Z. Thomas Bernhards »Der Untergeher«. In: Jürgen Gunia und Iris Hermann (Hg.): Literatur als Blätterwerk. Perspektiven nichtlinearer Lektüre. St. Ingberg 2002. S. 325–346. Hier : S. 341.). Michael Billenkamp interpretiert die Inquit- und Cogitatformeln subjekttheoretisch, wenn er viele Figuren Bernhards »in dem Prozess der vollständigen Assimilation an das Denken anderer Gefahr [laufen sieht], ihr eigenes, unverwechselbares Ich zu verlieren.« (Billenkamp [Anm. 20]. S. 139). In eine Projektionsthese bindet Carl Niekerk die Denkformeln ein: Dass die Aussagen des Erzählers über Wertheimer immer von »dachte ich« u. ä. begleitet werden, markiere zwar eine Distanz, zeige zugleich aber auch den Konstruktcharakter der Inhalte an. Das »dachte ich« verweise darauf, dass Material, welches aus dem Erzähler selber kommt, auf Wertheimer projiziert werde. Vgl. Carl Niekerk: Der Umgang mit dem Un-

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unterstreicht die indirekte Redewiedergabe die Vermitteltheit des Berichteten.474 Wenn die Position des Erzählers als Vermittler des Geschehens/des Geschehenen so stark akzentuiert wird, steht seine Medialität im Zentrum. Und das wiederum heißt: Im Erzähler als Vermittler reflektiert sich das Medium Schrift (in Gestalt der Literatur, genauer : der Gattung Prosa) selbst. Die Reflexion erfolgt auf komplexe Weise: Indem die Inquit-Formeln Mündlichkeit suggerieren und die Vorgängerschriften von Der Untergeher vernichtet werden,475 verschleiert der literarische Text seine eigene Schriftlichkeit. Diese Strategie kulminiert in der Behauptung: »Der Untergeher ist eine geniale Erfindung von Glenn Gould«.476 Der Äußerungszusammenhang ordnet »Der Untergeher« hier als von Glenn erfundenes Epitheton für Wertheimer ein, die Kursivsetzung dieses Begriffs – und damit seine Auszeichnung als Werktitel – eröffnet aber die Lesart, den Roman Der Untergeher als eine Erfindung Glenns zu verstehen. Diesen Aspekt des Spiels des Textes mit seiner Medialität und derjenigen von Literatur überhaupt möchte ich nun aufgreifen. Dass der Roman Der Untergeher eine Erfindung Glenn Goulds sein soll, ist – trotz der Tatsache, dass Glenn weder der Erzähler ist noch unvermittelte Redeanteile im Text besitzt – zumindest insofern plausibel, als der Erzähler von »unserer selbstverständlichen gleichen Kunstauffassung«477 berichtet. Die Erfindungen Glenns finden also auf der poetologischen Ebene Eingang in den Roman. Dies wird evident, wenn man die Erzählverfahren des Textes mit den Aufnahmetechniken des historischen Glenn Gould vergleicht: Per technischem overdub-Verfahren überspielte Gould sich bspw. mehrfach selbst, sodass er synchron drei- oder vierhändig spielend zu hören war.478 Goulds Verfahren der »akustischen Orchestrierung« bzw. »akustischen Choreographie«479 (engl. pan-potting) bestand darin, mit mehreren im Raum verteilten Mikrophonen verschiedene Audiorichtungen einzufangen. Die Absicht war, die Musik auf achtspurigem Band in allen vier Audiorichtungen gleichzeitig aufzunehmen und dann beim Mischen zwischen den einzelnen Richtungen hin und her zu wechseln oder sie in unterschiedlichen Varianten zu kombinieren, so dass sich der Klang des Klaviers verändert […].480

Wenn Glenn Gould seine Aufnahmen mehrfach überspielt bzw. mehrere Audiorichtungen gleichzeitig aufnimmt, stellt er eine Form von Polyphonie und

474 475 476 477 478 479 480

tergang. Projektion als erzählerisches Prinzip in Thomas Bernhards »Untergeher«. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 85 (1993). S. 464–477. Hier: S. 467. So auch Marquardt (Anm. 473). S. 231. Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 52 und S. 68. Ebd. S. 40. Ebd. S. 13. Vgl. Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 215f. Ebd. S. 216. Ebd.

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Synchronizität her, die modellbildend nicht nur im musikalischen Bereich, sondern auch für die Literatur wirken kann. Das Radio und die Plattenaufnahme, zwei prominente Medien des elektronischen Zeitalters, sind in der Lage, mehrere Klänge in einem Resonanz›körper‹ zu bündeln. D. h. Radio und Schallplatte bilden dann eine Klangquelle, die in sich mehrere, überlagerte Klänge integriert. Goulds Aufnahmeverfahren folgt denselben Prinzipien wie Bernhards Erzählverfahren: Es schafft Raum für verschiedene Stimmen, die aber alle durch eine einzige Instanz zum Ausdruck kommen. Der Erzähler und die Schallplatte bzw. das Radio besetzen in ihrer jeweiligen Funktion demnach dieselbe Systemstelle. Die Errungenschaften des technischen Zeitalters, die gewissermaßen eine ›Einebnung‹ der vertikal gegliederten Partitur vornehmen, ermöglichen damit die Übertragbarkeit musikalischer Techniken in die Literatur. Besonders anschaulich wird dies anhand Goulds Erfindung des »Kontrapunktischen Radios«481. Mit diesem Konzept wollte Gould nach eigener Aussage auf eine hochorganisierte Disziplin hindeuten […] – die nicht notwendig in jedem Fall zu einer Fuge führt, bei der aber jede Stimme ihr eigenes, ganz außerordentliches Leben führt und sich an bestimmte Parameter der harmonischen Disziplin hält. Ich habe sehr genau darauf gehört, wie die Stimmen zusammenkamen oder in welcher Weise sie einander abstießen, sowohl im Hinblick auf den tatsächlichen Klang als auch hinsichtlich dessen, was gesagt wurde.482

Goulds ›hochorganisierter Disziplin‹ des kontrapunktischen Radios entspricht das Erzählprinzip in Der Untergeher : Die Stimmen des Erzählers, Wertheimers und Glenns führen jeweils ihr eigenes Leben, sie stimmen in ihren Äußerungen überein oder stoßen sich ab und werden – wie bei Gould die Stimmen vom Aufnahmegerät gebündelt werden – durch den Erzähler als Vermittler in einer Aussageinstanz gebündelt. Hier wird die inhaltliche mit der formalen Ebene kurzgeschlossen: Inhaltlich wird der Wettbewerb der drei Männer in der Form 481 »Kontrapunktisches Radio« war Goulds Bezeichnung für die Kunstform, die er mit The Idea of North geschaffen hatte. Das zugrunde liegende Prinzip war das der Montage: Durch strategisches Schneiden und Mischen wurden neue Formen, bestimmte Wirkungen und emotional besetzte Konnotationen geschaffen. Die größten Kontroversen lösten die Passagen aus The Idea of North aus, in denen zwei oder mehr Stimmen gleichzeitig zu hören waren. Radiohörer_innen verfluchten ihre Geräte, so Kevin Bazzana, weil sie die Effekte für Störungen des Radioempfangs durch einen fremden Sender hielten. »Tatsächlich handelt es sich bei dem Prolog, in dem die Themen und die Technik der Sendung vorgestellt werden, um einen reinen dreistimmigen Kontrapunkt, sorgfältig geschnitten und gemischt, um die Transparenz und die thematische Bedeutung zu verstärken.« Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 242. 482 Glenn Gould im Gespräch mit Tim Page [1981]. In: Glenn Gould. Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II. Hg. und eingeleitet von Tim Page. Aus dem Englischen von Hans-Joachim Metzger. München/Zürich 1987 [engl. 1984]. S. 295–310. Hier: S. 305f.

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einer Konkurrenz der ihnen jeweils zugeordneten Medien ausgetragen. Der Ausgang dieses Wettbewerbs bleibt offen: Glenns elektronischer Genialität mit der Schallplatte als Signatur stehen der programmatische Dilettantismus und das Lebenskünstlertum des einzig Übriggebliebenen, nämlich des Erzählers, mit dem Buch als Signatur gegenüber. Um Bernhards Roman, ein gedrucktes Buch, angemessen im Spannungsfeld von Musik- und Medientheorie, von postmoderner Ästhetik und Selbstsorgephilosophie zu verorten, müssen auch das ihm eingeschriebene Verständnis von Künstlerschaft sowie seine stilistischen Verfahren einer Prüfung unterzogen werden. Was den Erzähler betrifft, so ist seine Künstlerschaft – im Unterschied zu derer Glenns – nicht im musikalischen Bereich angesiedelt, sondern bezieht sich auf das Leben überhaupt. Lebenskünstlerschaft, wie Michel Foucault sie beschreibt, birgt (potentiell) das Problem, »zuletzt auf einen romantischen Kunstbegriff zurückzuführen, der unter der Hand ein verabschiedetes Subjekt als Quelle der Souveränität und Originalität erneut aktualisiert.«483 Im Angesicht der Postmoderne ist eine Auffassung, die »Kunst […] nicht länger als ein[en] Prozess einer Nachahmung oder Aneignung, sondern als Schöpfung und kreative Eigenleistung des Künstlers verstanden«484 wissen will, allerdings nicht haltbar. Die Bestrebungen sowohl Michel Foucaults selbst als auch Glenn Goulds, die Kunst(erfahrung) zu demokratisieren und damit für das Dilettieren zu öffnen, bauen der Rückkehr eines Schöpferkünstlertums in gewissem Maße vor. Wie aber positioniert sich Der Untergeher diesbezüglich? Wie positioniert sich ein Text, der nicht postmodern im Sinne einer Erfindung der Leser_in geschrieben ist, dessen Autor jeden Einbezug des Publikums ablehnt, dem die Idee von kollektiver Urheberschaft fremd ist und der jede Vermischung von ernster und unterhaltender Kunst weit von sich weist? Ich möchte nun abschließend darlegen, dass Thomas Bernhards Integration der Stimmen Michel Foucaults und Marshall McLuhans in seinen Künstlerroman Der Untergeher die Gouldsche Kunstauffassung und die Foucaultsche Lebenskunst in einer Weise zusammenklingen lässt, die als charakteristische Erscheinungsweise des Dilettantismus in der literarischen Postmoderne, die in das elektronische Zeitalter eingetreten ist, gelten kann. Ein Aspekt, den postmoderne Ästhetiken mit der Kunstauffassung Glenn Goulds teilen, ist die Ablehnung schöpferischer Originalität. Gould spielt Kreativität gegen Originalität aus und erklärt den kreativen Fälscher zum Helden des elektronischen Zeitalters. Von kreativem Betrug oder Fälschertum als Glenns Schaffensprinzip ist in Bernhards Der Untergeher allerdings nichts zu

483 Prokic´ (Anm. 72). S. 196. 484 Ebd.

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lesen. Glenns »Klavierexerzitien«485, seine »Kunstbesessenheit«, sein »Klavierradikalismus«486 und sein Hass auf »das Ungefähre«487 deuten eher auf ein Präzisionsideal hin, dem Betrug – und sei er noch so kreativ – ferner nicht liegen könnte. Am deutlichsten kommt dieses Präzisionsideal am Beispiel der beiden angeblich identischen Einspielungen der Goldbergvariationen zum Ausdruck. Bernhards Abweichung von den historischen Fakten ist dabei in einem Spannungsfeld von Nachahmung und kreativem Betrug, von ästhetischer Tradition, postmoderner Ästhetik und Epigonenproblematik zu sehen. Bei seinem Besuch in Wertheimers Haus versucht der Erzähler herauszufinden, worin der Unterschied besteht zwischen der Interpretation auf diesen Platten, und der Interpretation achtundzwanzig Jahre vorher unter den Ohren von Horowitz und uns […]. Ich stellte keinen Unterschied fest. Glenn hatte schon vor achtundzwanzig Jahren die Goldbergvariationen so gespielt wie auf diesen Platten488.

Anders als Bernhards Text behauptet, besteht zwischen den beiden Einspielungen der Goldbergvariationen des historischen Glenn Gould aus den Jahren 1955 und 1981 ein grundlegender Unterschied. Die Version des Jahres 1981 stelle, so Kevin Bazzana, einen Versuch dar, das Werk als eine einzige einheitliche Struktur aufzufassen und nicht dreißig zwar miteinander in Zusammenhang stehende, aber in sich geschlossene Stücke zu präsentieren.489 Bemerkenswert im hier vorliegenden Zusammenhang ist, dass Gould dadurch dilettantischen Tendenzen Bachs entgegenarbeiten wollte. Teile der Goldbergvariationen zählte Gould zum »Albernsten«, was Bach komponiert habe. Variation 14 sei »eines der flatterhaftesten Stückchen Neo-Scarlattismus, das man sich nur denken kann«, Variation 17 sei »leicht dumm«; die Variationen 28 und 29 seien »launenhaft« und »reine Schmeichelei für das Publikum auf den obersten Rängen«.490 Goulds vereinheitlichende Interpretation verfolgte also das Ziel, »die ›alberne‹ Seite logisch in das Ganze einzugliedern.«491 Die kompositorische Dimension des Gouldschen Verständnis der Interpretation geht offenbar so weit, dass die Interpret_in Dilettantismen der musikalischen Vorlage korrigieren darf und soll. 1980 sagt Gould in einem Interview : »I refuse to conceive of the recreative act as being essentially different from the creative act.«492 Das den reproduzierenden Künstler_innen traditionell unterstellte Epigonentum wird hier gerade nicht bestätigt. Unter der Annahme nun, dass zwischen den beiden Einspielungen der Goldbergvariatio485 486 487 488 489 490 491 492

Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 7. Ebd. S. 8. Beide Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Ebd. S. 23. Ebd. S. 56. Vgl. Bazzana: Glenn Gould (Anm. 37). S. 367. Zit. n. ebd. S. 368. Alle Zitatteile sind auf dieser Seite zu finden. Ebd. Zu Goulds »eigenwilliger« Bach-Interpretation vgl. auch Gruber (Anm. 336). S. 170. Zit. n. Bazzana: The performer at work (Anm. 50). S. 39.

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nen kein Unterscheid besteht, wird Glenn gleichsam zum »Epigonen seiner selbst«493 – aber eben nicht im negativ konnotierten Sinne, sondern nach Maßgabe eines besonderen Präzisionsideals. Einmaligkeit und Selbstreferenz sind überdies die Parameter, die den programmatischen Dilettantismus des Erzählers mit Glenns Genialität kurzschließen. Auf der inhaltlichen Ebene ist es, wie gezeigt, sein Selbstsorgeprojekt, dessen Gelingen in der Einsicht verankert ist, man müsse »kein Genie sein, um einmalig zu sein und das auch erkennen zu können«494. Auch wenn für ein vorbildloses, nicht epigonales Dasein Genialität nicht notwendig ist, sichert der Erzähler (bzw. der Autor Thomas Bernhard) sich mit der behaupteten Identität der beiden Versionen der Goldbergvariationen doch auf der poetologischen Ebene eine Teilhabe an Glenns Genialität. Denn als das »eigentliche Merkmal postmoderner Selbstreflexivität«495 wird die Selbstreferentialität ausgemacht. (Der Anschluss der postmodernen Ästhetik an die o.g. Romantik bestünde – angesichts der Ablehnung von Schöpfertum und Originalität – also am ehesten in der Selbstreflexion in der Form.) Glenns Selbstreferenz hat ihr poetisches Äquivalent im wiederholenden, spiralförmigen, eben: selbstreferentiellen Duktus, in dem Der Untergeher erzählt ist.496 In diesem Sinne ist »Der Untergeher […] eine geniale Erfindung von Glenn Gould«497. Die Möglichkeit, bei elektronischen Aufnahmen »›Take two‹ sagen« zu können, bezeichnet der historische Gould auch als »nachträglich[es] […] [R]edigieren«498 ; die Möglichkeit, »als sein eigener Cutter zu agieren und mit diesen Kunstgriffen jene interpretativen Vorlieben umzusetzen, die ihm erlauben werden, seine eigene Idealaufführung zu schaffen«499, nennt er »editorische[…] Möglichkeiten«500. Mit Redaktion und Edition bezieht sich Gould auf Techniken, die dem Buchdruck entlehnt sind. Umgekehrt ist Der Untergeher einer der wenigen Texte Thomas Bernhards ohne Herausgeberfiktion. Inner493 Trabert (Anm. 32). S. 174. 494 Wie Anm. 208. 495 Christer Petersen: Von der Moderne zur Postmoderne: Aspekte eines Epochenwandels. In: Ivar Sagmo (Hg.): Moderne, Postmoderne – und was noch? Akten der Tagung in Oslo, 25.-26. 11. 2004. Frankfurt/M. u. a. 2007. S. 9–27. Hier: S. 20. 496 Ich teile daher nicht die Ansicht Elmar Buddes, Reproduktion und Untergang bzw. Wiederholung des Immer-Gleichen und Tod würden in Der Untergeher »nicht nur gleichgesetzt, sondern verhängnisvoll aufeinander bezogen.« (Budde [Anm. 337]. S. 24) Der Tatsache, dass »die Erzählung […] sich in ihrer Struktur als Reproduktion« (ebd.) reflektiert, ist im Horizont der Genialität des reproduzierenden Künstlers Glenn eine überaus positive Dimension eingeschrieben. 497 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 40. 498 Glenn Gould: Rubinstein [1971]. In: Glenn Gould. Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II. Hg. und eingeleitet von Tim Page. Aus dem Englischen von Hans-Joachim Metzger. München/Zürich 1987 [engl. 1984]. S. 64–74. Hier : S. 69f. 499 Gould: Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung (Anm. 65). S. 153. 500 Ebd. S. 154.

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fiktional erwägt zwar der Erzähler, Wertheimers Manuskripte herauszugeben. Dieses Vorhaben lässt sich jedoch nicht umsetzen, weil Wertheimer all seine Manuskripte verbrannt hat. Der Erzähler, der als einziger Übriggebliebener über die Deutungshoheit des Erzählten/zu Erzählenden verfügt, vermittelt die Begebenheiten changierend zwischen Authentizitätsanspruch und dem Eingeständnis, Menschen stets falsch zu schildern und zu beurteilen501 sowie immer nur bruchstückhafte Berichte liefern zu können.502 In diesem postmodernen Gestus503 von Subjektivität und Unzuverlässigkeit nutzt er beim Erzählen von Der Untergeher eben auch die Möglichkeit, »als sein eigener Cutter zu agieren und mit diesen Kunstgriffen jene interpretativen Vorlieben umzusetzen, die ihm erlauben werden, seine eigene Idealaufführung zu schaffen«504. Glenn und Wertheimer falsch zu schildern, bedeutet, als Fälscher am Werk zu sein und kreativ zu lügen und zu betrügen. Auch in seinem komplexen Spiel mit Redaktion und Edition, mit Wahrheit und Lüge kann »Der Untergeher […] [schließlich als] eine geniale Erfindung von Glenn Gould«505 verstanden werden. Mit Glenn Gould, einem Propheten des elektronischen Zeitalters als seinem Erfinder, ist Der Untergeher im elektronischen Zeitalter angekommen. Bernhards Roman kann aber noch in einer weiteren Hinsicht als Ausdruck eines systematischen Übergangs ins elektronische Zeitalter verstanden werden: Im Bereich der Musik ist Genialität nur nach Maßgabe des elektronischen Zeitalters möglich. Der Steinway des Erzählers und das »verstimmt[e] […] Dilettanteninstrument«506 Wertheimers stehen sinnbildlich für den Dilettantismus. Im Falle des Erzählers zeigt die Abstoßung des Klaviers die Überwindung des musikalischen Dilettantismus an. Wertheimers Untergang wird begleitet durch sein dilettantisches Spiel vor seinem Tod, durch sein Dilettanteninstrument und durch die Schallplatte mit Glenns Goldbergvariationen, die im noch offenen Plattenspieler liegt.507 Glenns Schallplatte beendet den Text; das elektronisch verstärkte analoge Medium ist das Genie, künstlerische Genialität ist in Der Untergeher nur möglich, wenn die Zeichen der Zeit erkannt und die Bedingungen des elektronischen Zeitalters erfüllt werden. Programmatischer Dilettantismus in Form von Selbstsorge und Lebenskunst ist das zweite gelingende Lebens-Kunst-Modell, welches das Buch Der Untergeher vorstellt. Die Lebenskunst des Erzählers ist konstitutiv an das Medium 501 Vgl. Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 132. 502 Vgl. ebd. S. 107. 503 Ein Kennzeichen postmodernen Schreibens ist genau ein solcher Hinweis darauf, dass und wie erzählt wird Vgl. Lægreid (Anm. 417). S. 42. 504 Wie Anm. 499. 505 Bernhard: Der Untergeher (Anm. 31). S. 40. 506 Ebd. S. 149. 507 Vgl. ebd. S. 150.

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Schrift und an Praktiken des Über-sich-selbst-Schreibens gebunden. Dass dies auf der systematisch-diskursiven Ebene einem Übergang ins elektronische Zeitalter nicht notwendigerweise widerspricht, lässt sich an der formalen Struktur des Textes ablesen: In seiner Selbstreferentialität, seiner Wiederholungsstruktur und seiner Spiralförmigkeit bildet Der Untergeher sowohl die Kunstauffassung des Propheten des elektronischen Zeitalters, Glenn Gould, als auch – nach dem Vorbild des Medienvisionärs Marshall McLuhan – die Produktionsprinzipien der Leitmedien des elektronischen Zeitalters ab. Der gegenüber Thomas Bernhard erhobene Vorwurf, er begehe »Plagiat am eigenen Oeuvre«508 erscheint damit in einem neuen Licht: im Licht einer postmodernen Ästhetik angesichts der Bedingungen des elektronischen Zeitalters, in der die Kategorien Erfindung und Originalität obsolet und Vernetzung, Wiederholung und Variation zu den Grundprinzipien des Schreibens erhoben werden.

508 Roland Groß: Neue Variationen vom alten Untergeher. Überlegungen zu Thomas Bernhards neuem Roman »Der Untergeher«. In: General-Anzeiger (Bonn), 23. 02. 1984. Marcel Reich-Ranicki formuliert diesen Vorwurf in einem musikalischen Gleichnis: Dallapiccolas Bonmot, Vivaldi habe nicht 344 Solokonzerte geschrieben, vielmehr ein einziges Konzert 344 mal komponiert, lasse sich auch auf Thomas Bernhard beziehen. Vgl. Marcel Reich-Ranicki: Der Sieg vor dem Abgrund. In: ders.: Thomas Bernhard. Aufsätze und Reden. Frankfurt/M. 1993. S. 59–68. Hier: S. 61.

F.

Resümee: Dilettantismus und kein Ende

Untersucht man »Erscheinungsweisen des Dilettantismus« aus der Perspektive einer Literaturwissenschaft, die auch kulturwissenschaftlich und wissensgeschichtlich interessiert ist, sind die 1799 von Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller und Johann Heinrich Meyer verfassten Schemata Über den Dilettantismus aus mehreren Gründen als Ausgangspunkt zu wählen: Erstens dokumentieren die Schemata eine Neufassung des Dilettantismusverständnisses gegenüber dem vormodernen/frühneuzeitlichen dilettanti- bzw. virtuoso-Konzept. Vor allem aber dokumentieren sie zweitens die Prozesse, die zur Formierung der Ästhetik als wissenschaftliche Disziplin geführt haben. Diese Prozesse schlagen sich in rhetorischen Ausschluss- und Abwertungsstrategien gegenüber einem in Opposition zum ›Genialischen‹ konstruierten ›Dilettantischen‹ nieder, gegen welches es die eigene ästhetische/poetische (genialische) Position zu behaupten gilt. Der Dilettant bzw. das Dilettantische ist somit ein rhetorisch-strategisch hervorgebrachtes Produkt angesichts des Legitimationsdrucks, unter dem die frühe Ästhetik stand. Hierin gründet auch die fortdauernde enorme Relevanz, die Konzeptionen von ›Dilettantismus‹ im Klassizismus, in der Romantik und in der Folge als kulturpolitischen Instrumenten zukommt. Die Ästhetik um 1800 hat sich im Verbund v. a. mit anthropologischem Wissen konstituiert. Die Figur des Dilettanten bzw. der Dilettantin scheint geradezu prädestiniert zu sein, um das Wechselverhältnis von Ästhetik und Anthropologie zu veranschaulichen und zu reflektieren. Denn der Begriff ›Dilettant‹ bringt aufgrund seiner etymologischen Herleitung von lat. delectare das Sich-Delektieren mit; dies wiederum ist eine anthropologische Kategorie. Überhaupt wird Dilettantismus um 1800 als Ausdruck einer bestimmten menschlichen Triebstruktur verstanden. Aus diesem Grund können führende Theoretiker einer anthropologisch fundierten Ästhetik wie Karl Philipp Moritz oder die Weimarer Kunstfreunde Goethe, Schiller und Meyer ihr Dilettantismuskonzept an zentrale ästhetische Paradigmen wie den Geschmack, die Empfindungskraft (inklusive Selbsttäuschung), den Bildungstrieb oder die

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Resümee: Dilettantismus und kein Ende

Einbildungskraft anbinden. Dass sie die Fundamente ihrer Ästhetik am Dilettantismus, also an der scheiternden Variante von Künstlerschaft durchspielen, macht schließlich Fallstricke, Ambivalenzen und Aporien innerhalb der ästhetischen Debatten im späten 18. Jahrhundert für die Analyse greifbar. Sich in dieser Perspektive mit Dilettantismus auseinanderzusetzen, bedeutet also immer auch, den Dilettanten und die Dilettantin als – geschlechtsspezifisch durchaus unterschiedlich konzipierte – Reflexionsfiguren für die Interaktionen von Kunst, Ästhetik und Anthropologie begreifen und einsetzen zu können. Eine Reflexionsfigur ist der Dilettant/die Dilettantin auch im Hinblick auf das Verhältnis von Naturwissenschaft(lichkeit) und ihrem je Anderen. Die paradigmatische Konstellation, in welche Naturwissenschaft und Dilettantismus um 1800 treten, unterscheidet sich vom Verhältnis zwischen Ästhetik und Dilettantismus. Während die Beteiligung des Dilettantischen bzw. des Dilettantismus in der Ästhetik ex negativo über Grenzziehungs- und Ausschlussprozesse erfolgt, ist für die sich formierenden modernen Naturwissenschaften eine aktive Beteiligung von Dilettant_innen – genauer müsste von ›Amateur_innen‹ oder ›Amateurwissenschaftler_innen‹ gesprochen werden – im Sinne von protowissenschaftlichen Leistungen zu verzeichnen. Bei einem methodischen Ansatz, der dem Verhältnis von Literatur und Wissen nachgeht, rücken u. a. die Methoden und Praktiken der Wissensgenerierung, -speicherung und -verbreitung in den Fokus, und zwar nicht zuletzt im literarischen Diskurs. So führt um 1800 beispielsweise die Umstellung der Weltund Wissensordnung auf Kontingenz in den Wissenschaften gleichermaßen wie in der Literatur zur Ausbildung von Experimentalanordnungen. Johann Wolfgang Goethe inszeniert 1809 in Die Wahlverwandtschaften Dilettantismus nicht zufällig unter anderem am Beispiel und zugleich in Gestalt eines Versuchs. »Unter anderem« gilt deshalb, weil in Goethes Roman auch künstlerischer Dilettantismus nach Maßgabe der Schemata Über den Dilettantismus verhandelt wird. An dieser Verhandlung fällt auf, dass in Goethes (im Vergleich zu den Schemata) späterem, literarischem Text keine Verurteilung der in den Künsten dilettierenden Protagonist_innen zu finden ist. Diese – im Horizont einer Komplementarität von Klassizismus und Romantik zu betrachtende – Öffnung für andere bzw. neue ästhetische/poetische Ansätze ist als ein selbstreflexives Moment im Dilettantismusdiskurs zu werten: Die Wahlverwandtschaften machen darauf aufmerksam, dass alle Konzeptionen eines ›Dilettantischen‹ erstens nur relative Gültigkeit besitzen und zweitens stets Zuschreibungen sind. Im 19. Jahrhundert setzt sich die Öffnung des Dilettantismusdiskurses in Richtung des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft(en) fort, es ist eine Akzentverschiebung von ästhetisch-anthropologischen zu erkenntnistheoretischen und wissenschaftspraktischen Fragestellungen zu konstatieren. Vor allem findet die Auseinandersetzung mit Erscheinungsweisen des Dilettantismus

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weniger in ästhetischen oder anderen Programmschriften statt, sondern vorrangig in der Literatur. Diese bezieht sich sowohl in reflektierender als auch in regelrecht intervenierender Weise auf den naturwissenschaftlichen Dilettantismusdiskurs. Im 19. Jahrhundert verdrängen protowissenschaftliche Praktiken wie Sammeln, Musealisieren oder Experimentieren mit ihrer besonderen Affinität zu künstlerischen Prozessen das aus psychischen Dispositionen wie Überempfindung, Selbsttäuschung und/oder hypertropher Einbildungskraft hergeleitete künstlerische Scheitern als Erscheinungsweisen des Dilettantismus. An den genannten Praktiken, vor allem an ihrer amateurhaften/dilettantischen Ausübung, lassen sich übergreifende epistemische Neuorientierungen fassbar machen. Grundsätzlich gilt: Die Zuschreibung »Dilettantismus« ist immer auch das Produkt der jeweils gültigen epistemischen Ordnung. Umgekehrt formuliert: Werden epistemische Verbindlichkeiten verfehlt oder ignoriert, ist schnell von »Dilettantismus« die Rede. Anhand der Praktiken Sammeln und Musealisieren inszeniert die Literatur des 19. Jahrhunderts Dilettantismus als ein Querstehen zur epistemischen Ordnung. Denn bei der Ordnung einer Sammlung geht es immer auch um die Ordnung von Wissen, um Wissensordnungen. Die Korrelation von dilettantischen bzw. amateurwissenschaftlichen Sammelbzw. Musealisierungsweisen und bestimmten epistemischen Ordnungen führt dazu, dass Dilettantismus bzw. dilettantische Praktiken zu konkretisieren vermögen, was sonst abstrakt bleibt: Sie bringen die jeweils gültigen Prinzipien der Wissensgenerierung und -ordnung zur Erscheinung. Dies kann exemplarisch am Sammeln und Musealisieren in Wilhelm Raabes historischem Roman Das Odfeld von 1888/89 und an Gustave Flauberts Dilettantenroman Bouvard et P8cuchet von 1881 nachgewiesen werden. Am Beispiel dieser beiden Romane lässt sich außerdem zeigen, dass und wie die Literatur des 19. Jahrhunderts ›Poetologien des Dilettantismus‹ folgt. Flaubert korreliert in Bouvard et P8cuchet die Erzählebenen (histoire und discours) mit je unterschiedlichen Verständnissen von Wissenschaftlichkeit und Dilettantismus und inszeniert die jeweilige Relativität/relative Gültigkeit dieser Auffassungen in literarischer Form und satirischer Absicht. Wilhelm Raabes Roman Das Odfeld fungiert als Austragungsort epistemischer Überlagerungs- und Konkurrenzsituationen. Der Text inszeniert den Dilettantismus des Protagonisten als eine Form epistemologischer Disziplinlosigkeit und macht ihn damit zum Probierstein epistemischer Neuformierungen. Zum Gegenstand programmatischer Schriften wird das Phänomen ›Dilettantismus‹ dann wieder um 1900. Zu dieser Zeit nimmt der Dilettantismusbegriff eine kulturpsychologische Prägung an und wird zu einer Kategorie kultureller Selbstbeschreibung umformatiert. Dabei ist ›Dilettantismus‹ sowohl Gegenstand vernichtender Urteile über einen (als solchen empfundenen) kulturellen Verfall als auch ein Modell für affirmative Bezugnahmen, bei-

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spielsweise für einige Poetologien der Avantgarde. Die Moderne um 1900 setzt ebenfalls am anthropologischen Fundament des Dilettantismus an. Wie um 1800 geht es um die Frage nach dem Wechselspiel von Sinnlichkeit und Verstand, anders als um 1800 wird ›Dilettantismus‹ nicht an das ästhetische Paradigma mit den Parametern ›Empfindungskraft‹ und ›Empfindungsfähigkeit‹, sondern an das medizinische Paradigma mit den Parametern ›Nervosität‹, ›Neurasthenie‹ und ›Hysterie‹ angebunden. Nicht mehr eine hypertrophe Einbildungskraft ist die dem Dilettantismus korrespondierende pathologische Erscheinung, sondern überreizte Nerven sind es. Außerdem wird Dilettantismus nicht mehr als eine spezifisch (un)künstlerische Kategorie konzipiert, sondern als allgemeine Epochensignatur verstanden, als Ausdruck der Mentalität einer gesamten Kultur. Die entsprechende Mentalität um die Jahrhundertwende wird nicht selten mit dem Schlagwort ›Dekadenz‹ versehen. In den Verhältnisbestimmungen von ›Dilettantismus‹ und ›Dekadenz‹ zeigt sich dann auch eine zentrale Ambivalenz, die den Dilettantismusdiskurs um 1900 auszeichnet: Von den einen wird ›Dekadenz‹ im Sinne einer Niedergangssemantik negativ gefasst und ›Dilettantismus‹ entsprechend zu einem Symptom des kulturellen Verfalls erklärt. Von den anderen wird ›Dekadenz‹ – etwa im Verständnis des Fin de siHcle – positiv konnotiert und ›Dilettantismus‹ wird zum Orientierungspunkt einer affirmativen Bezugnahme erkoren. Im Dandy, dem modernespezifischen Träger des Dilettantischen, spiegelt sich die kulturpsychologische Ausweitung des Dilettantismusbegriffs wider : Der Dandy steht nicht für einen künstlerischen Dilettantismus im engen Sinn, sondern für die Erweiterung des Felds des Ästhetischen um das eigene Leben. ›Dilettantismus‹ ist also gleichermaßen eine Reflexionskategorie der Moderne im Sinne einer (zeitgenössischen) Selbstdeutung und ein Schlüssel für eine (rückblickende) Analyse von Modernephänomen. Der historische Rahmen dieser Untersuchung setzt an den Phasen an, in welchen das Phänomen ›Dilettantismus‹ Hochkonjunktur hatte, nämlich um 1800 und um 1900. Der Blick in die ästhetischen bzw. kulturtheoretischen Programmschriften der beiden Jahrhundertwenden ist mit einer Analyse des jeweiligen literarischen Dilettantismusdiskurses zu verknüpfen. Entsprechend werden die Phasen ›um 1800‹ und ›um 1900‹ auch – und vor allem – durch Modellanalysen literarischer Texte erfasst, nämlich Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785-1790) und Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders (1912). Dem Anliegen dieser Arbeit, die Relevanz und Prägnanz des Dilettantismusdiskurses auch jenseits der oben genannten Konjunkturen aufzuzeigen, wird Folge geleistet, indem auch ein Künstler- bzw. Dilettantenroman der sog. Postmoderne einen zentralen Gegenstand der Untersuchung abgibt, nämlich Thomas Bernhards Der Untergeher (1983). Den historischen Rahmen an paradigmatischen Beispielen zu entfalten, bringt den Vorteil, Kriterien zu gewinnen, die übertragbar auf die literatur-

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wissenschaftlichen Modellanalysen sind. Die Eignung literarischer Texte wiederum, Gegenstand solcher Modellanalysen zu sein, ist über ihre historische Situierung hinaus auch eine systematische Frage. Die vorliegende Untersuchung ging in dieser Hinsicht von drei Hypothesen aus: (I.) Die Auseinandersetzung mit Dilettantismus ist entscheidend für die Bestimmung des status quo einer künstlerischen Disziplin und für das Entwerfen von in die Zukunft gerichteten ästhetischen Programmatiken. (II.) Der Verlauf der Literaturgeschichte ist als Geschichte der Positionierungen zu einem historisch je unterschiedlich konstruierten ›Dilettantismus‹ zu verstehen. (III.) Dilettantismus ist grundsätzlich als Triebfeder für jede Form künstlerischen Fortschritts zu begreifen und steht häufig in einer mehr oder weniger expliziten bzw. programmatischen Allianz mit Genialität. Sollen diese Hypothesen an typologischen Modellen des Zusammenhangs von künstlerischem Dilettantismus und kulturellem Wissen überprüft werden, ist man auf Figuren/Träger des Dilettantischen und die von ihnen vollzogenen Praktiken verwiesen. Denn die Träger und Praktiken sind es, die Dilettantismus in der Literatur zur Erscheinung bringen. Die hier untersuchten Texte Karl Philipp Moritz’, Carl Einsteins und Thomas Bernhards schließen systematisch an das Gründungsmanifest der Dilettantismusdiskussion, die Schemata Über den Dilettantismus, an, indem sie auf zentralen Feldern der Schemata angesiedelt sind: Anton Reiser setzt sich mit der Schauspielerei auseinander, Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders steht in einem Wechselverhältnis mit der bildenden Kunst, die Protagonisten von Der Untergeher sind Musiker. Mit diesen drei literarischen Beispielen sind zugleich Gegenstände gewählt, die Dilettantismus (I.) als Modell einer grundlegenden Reflexion des epochalen und ästhetischen Selbstverständnisses (Anton Reiser), (II.) als Ausdruck einer affirmativen Bezugnahme auf bislang nicht anerkannte Kunstformen im Sinne einer avantgardistischen Neuausrichtung der Kunst (Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders) sowie (III.) im Kontext verschiedener programmatischer Allianzen mit Genialität u. a. als Triebfeder für die künstlerische Zukunft verhandeln (Der Untergeher). (I.) Eine der historischen (Soll)Bruchstellen, an welchen die Literarisierung von Dilettantismus eine grundlegende Reflexion des epochalen und ästhetischen Selbstverständnisses bedeutet, markiert Karl Philipp Moritz’ Roman Anton Reiser, erschienen in vier Teilen 1785-1790. Mit dem ›epochalen Selbstverständnis‹ ist der (Selbst)Bildungsgedanke in der Nachfolge der Aufklärung und der sich zeitgenössisch formierenden Pädagogik angesprochen. Die Rede vom ›ästhetischen Selbstverständnis‹ zielt auf die Gattung Bildungsroman sowie auf die Autonomieästhetik. Die zwei Praktiken des pädagogischen Fremd- und

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Selbstbezugs, anhand derer in Anton Reiser stellvertretend der Bildungsroman und die Autonomieästhetik reflektiert und kritisch befragt werden, sind die Autodidaktik und das pädagogische Projektieren. Anton ist der Träger der Praktik Autodidaktik als Form des lernenden Selbstbezugs, der Erzähler ist der Träger der Praktik Projektemachen als Form des – in diesem Falle: erzieherischen – Fremdbezugs. Zugleich sind diese pädagogischen Praktiken je an ein poetologisches Modell gebunden: Der Selbstbezug ist die Signatur der Autonomieästhetik (und von laterna magica- bzw. l’art pour l’art-Konzepten), Nachahmungskonzepte (etwa das camera obscura-Prinzip) zeichnen sich wiederum durch einen Fremdbezug aus. In einem performativen Widerspruch zur eigenen pädagogischen Praxis propagiert der Erzähler für Anton das autodidaktische Lernen. In einer programmatischen Rede im vierten Teil des Romans elaboriert er außerdem eine autonomieästhetische Poetologie. Im Hinblick auf Anton geraten der pädagogische und der poetologische Ansatz des Erzählers allerdings in Widerstreit, denn der Text lässt in seinem Verlauf die selbstbezügliche Autodidaktik in poetischen Dilettantismus münden, der sich in Gestalt einer scheiternden selbstbezüglichen Poetik zeigt. Die pädagogische Praktik der Autodidaktik und das poetologische Prinzip der Autonomieästhetik erweisen sich als unvereinbar. Das Schaffensprinzip, auf welchem der poetische Dilettantismus Antons fußt, enthüllt umgekehrt seine Wesensverwandtschaft mit dem pädagogischen Selbstbildungsprinzip. Und das heißt nicht zuletzt, dass Dilettantismus und Pädagogik wechselseitig Auskunft übereinander geben können. Die vom Erzähler als Repräsentantin einer aufklärerischen Pädagogik propagierte Autodidaktik kann für Anton ihr Versprechen auf kreativ erwerbbares Wissen und eine gelingende, umfassende Selbst-Bildung nicht halten. Vielmehr zwingt sie den Lernenden in eine Position der Isolation, Einsamkeit und Orientierungslosigkeit. Dadurch befragt Anton Reiser nicht nur kritisch das pädagogische Programm der Aufklärung, für das der Bildungsroman stellvertretend eintritt, sondern auch die ebenfalls auf Selbstbildung beruhende Autonomieästhetik. Die Überlagerung von pädagogischem und poetologischem Selbst- und Fremdbezug greift auch auf das zentrale Feld des künstlerischen Dilettantismus in Anton Reiser, die Schauspielerei, aus. Die Verbindung von Antons poetischem Dilettantismus und seinem Scheitern als Schauspieler besteht darin, dass beide Varianten des Dilettierens Ausdrucksformen ein- und desselben Produktionsmodells sind. Antons auf Fühlen und Einfühlungsvermögen beruhender poetischer Dilettantismus hat sein Gegenstück in seiner nicht (mehr) zeitgemäßen Orientierung am Modell des empfindsamen Schauspielers, wie es Pierre R8mond de Sainte Albine vertreten hatte. Die Erhitzung seiner Einbildungskraft setzt Antons selbstvergessene Identifizierung mit den dramatischen Rollen in

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Gang und dauert während des Spiels fort. Die erhitzte Einbildungskraft ist auch die Schaltstelle, welche Antons poetisches Dilettieren und sein – aus der Warte des Erzählers bzw. schauspieltheoretischer Positionen eines Francesco Riccoboni oder Denis Diderot betrachtet – schauspielerisches Dilettieren miteinander verknüpft und als gleichursprünglich sowie demselben Produktionsprinzip folgend ausweist. Antons Schreiben gelingt, wenn es von einem äußeren Impuls stimuliert wird, also nicht selbstbezüglich funktioniert. Verwandt damit wäre ein schauspielerisches Rollenverständnis, das auf Distanz zur Rolle sowie auf deren Reflexion basiert; ein Rollenverständnis, das eben auch nicht auf reinen Selbstbezug setzt – was Anton beim empfindsamen Spiel jedoch tut. Dass Antons empfindsames Schauspielverständnis mit dem Wunsch, kein bloßer Zuschauer zu sein, verknüpft ist, korrespondiert dem Dilettantismusverständnis in Moritz’ Ästhetik: Anton reicht der Kunstgenuss nicht aus, er will die Kunst selbst aktiv hervorbringen und unterliegt dabei jener Selbsttäuschung über die eigenen Fähigkeiten, die nach Moritz für Dilettantismus verantwortlich ist. Mit der Selbsttäuschung löst Anton die zentrale Forderung, die de Sainte Albine an Schauspieler stellt, ein. Zugleich macht er sich damit zum Dilettanten im Verständnis sowohl des Erzählers als auch der Ästhetik Karl Philipp Moritz’. Mit seinem pathosformelhaften, deklamatorischen Spiel zum einen und seiner Orientierung an Goethes Auffassungen von Theater und Schauspielerei zum anderen, schlägt sich Anton Modellen zu, die aufgrund ihrer abgelaufenen bzw. noch nicht installierten Gültigkeit unmittelbar dem Dilettantismusverdacht ausgesetzt sind. Antons schauspielerischer Dilettantismus steht aber nicht nur in einem Zusammenhang mit konkurrierenden und sich ablösenden Darstellungsformen, sondern auch mit konkurrierenden und sich ablösenden Theaterformen – am Ende des Textes steht nicht zufällig der Untergang einer Wandertruppe. Für Anton Reiser wird die nur relative Gültigkeit der Zuschreibungen ›Genialität‹ und ›Dilettantismus‹ zu einer Lebenskatastrophe, d. h. der psychologische Roman unterzieht das Konzept ›Dilettantismus‹ im weitesten Sinn auch ethischen Fragestellungen. (II.) Endet Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser mit dem Untergang der Wanderbühne, nobilitiert Carl Einstein in Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders die Körper- bzw. Unterhaltungskünste und mit ihnen das, was der bürgerlichen Kunst als Dilettantismus gilt. Einsteins gegen den etablierten ästhetischen Kanon gerichtete Aufwertung des Dilettantischen in Gestalt des Artistischen markiert eine Zäsur in der Literaturgeschichte. Diese verdankt sich einer grundlegenden Revision im Verständnis dessen, was als ›Dilettantismus‹ angesehen wird. In Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders findet eine programmatische Auseinandersetzung mit dem Dilettantismusbegriff im Sinne

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einer avantgardistisch ausgerichteten Neubewertung statt. Einstein nimmt diese Revision bzw. Neubewertung in Bebuquin konkret in Form einer ›Erhöhung‹ der ›niederen‹ zirzensischen Künste vor, die er – in Korrespondenz mit seiner kunstwissenschaftlichen Schrift Negerplastik – in einer konzeptuellen Nähe zum Primitiven situiert. Die zirzensischen Künste erweisen sich in dieser Perspektive als Aneignungen des Primitiven unter den Bedingungen der modernen europäischen Großstadt. Dilettantismus bei Einstein ist die Ausprägung des Primitiven in moderner, europäischer Gestalt. Die Erscheinungsweisen dieser Art Dilettantismus sind die Zirkus- und Variet8künste, seine wesentliche Praktik ist die Artistik. Die Artistik und die primitive Kunst, die traditionell als niedere Kunstformen, als dilettantisch galten, werden von Einstein zu Vorbildern für die europäische Kunst erhoben: die Artistik als sprachlose Körperkunst zur Antwort auf die Sprachkrise der Moderne, die primitive Kunst zur Antwort auf Raumprobleme der bildenden Kunst, v. a. des Kubismus. Die primitive Kunst und die Zirkus- und Variet8bühnen erfüllen dieselbe kulturelle Funktion: Sie negieren die meisten Elemente der legitimierten Kunst. Die gegenkulturelle Funktion des Primitiven erschließt sich nicht nur durch die explizit-programmatischen Bezugnahmen der modernen auf die primitive Kunst. Darüberhinaus sind implizit-strukturelle bzw. implizit-ästhetische Bezüge nachweisbar. Im Fall Carl Einsteins sind das auf der strukturellen Ebene die Analogisierung der Körper von Puppen und Artistinnen mit afrikanischen Plastiken durch ein einheitliches Formprinzip. Die Schaufensterpuppe Euphemia bildet vermittelt über das kubistische Formprinzip das moderne europäische Gegenstück zu den afrikanischen Plastiken. So wird sie auch zur Reflexionsfigur für Völkerschauen und die museale Anthropologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Hieran wird deutlich, dass der literarische Dilettantismusdiskurs dieser Zeit an unterschiedlichen Wissensfeldern partizipiert sowie zwischen diesen Verbindungen und Überlagerungen herstellt. Damit leistet die Literatur einen Beitrag zum Thema ›Dilettantismus um 1900‹, der außerhalb der Reichweite disziplinär verankerten und generierten Wissens liegt. In den Erscheinungsweisen Artistik und primitive Kunst zeigen sich zentrale Transformationen im Verständnis von Dilettantismus: Erstens meint Dilettantismus nicht mehr nichtprofessionelles Liebhabertum, denn die Artist_innen gehen ihrer Kunst als einer Erwerbstätigkeit nach. Zweitens ist der Dilettantismus um 1900 in globale Zusammenhänge, nämlich in den Imperialismus und den Kolonialismus, eingebunden. Vor allem aber wird drittens in dem, was »Dilettantismus« heißt, nun Genialität gesucht. Die Umkodierung von Dilettantismus und Genialität schlägt sich auch in der zirzensischen Ästhetik, welche die Textur von Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders prägt, nieder. Mit der Revuehaftigkeit der Textanordnung bricht Einstein in doppelter Weise mit der literarischen Tradition: Die Mischung von dramatischen und narrativen Ele-

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menten steht im Widerspruch zur klassizistischen Forderung nach Gattungsreinheit. Die Verletzung dieses Gesetzes hatten Goethe, Schiller und Meyer zum Kennzeichen von Dilettantismus erklärt. Dasselbe gilt für die Sprengung geschlossener Formen. Die Inversion von Peripherie und Zentrum opponiert gegen die Mittelpunktsfixierung der Autonomieästhetik und wird durch die Fokussierung und Aufwertung des Marginalisierten überdies inhaltlich gespiegelt. Einsteins artistische Ästhetik inszeniert ein neues Verständnis des Dilettantischen, in dem die ›niederen‹ Unterhaltungskünste zu Fluchtpunkten einer positiven ästhetischen Bezugnahme werden. Nicht zuletzt reflektiert Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders bereits die inneren Zusammenhänge der Konstellationen, in welchen Dilettantismus um 1900 zur Erscheinung kommt. Denn er setzt sich nicht mit der Praktik Artistik und/oder der primitiven Kunst, sondern mit der Praktik Artistik als primitiver Kunst auseinander. Mit der artistischen Ästhetik hat Einstein ein Beispiel avantgardistischer Literatur geschaffen, die einen literarischen Primitivismus vorstellt, der seine modernen, europäischen Ausgangsbedingungen nicht verschleiert – und dann »Dilettantismus« heißt. (III.) Eine Allianz mit Genialität geht Dilettantismus – in anderer Weise – auch in Thomas Bernhards Künstler- bzw. Dilettantenroman Der Untergeher ein. Die Allianz geht aus der Musiktheorie Glenn Goulds bzw. der »Kunstauffassung« des fiktiven Glenn hervor. Auch in Der Untergeher erfährt die Opposition von Genialität und Dilettantismus eine Revision. Hier ist es eine postmoderne, musikund medientheoretische Revision, die sich in der literarischen Darstellung bestimmter (musikalischer) Medienpraktiken artikuliert. Die »Kunstauffassung« Glenn Goulds sieht eine durch die elektronischen Medien bewerkstelligte Verschmelzung von Künstler_in, Werk und Rezipient_in vor und vermischt damit Kategorien, die einzeln und getrennt voneinander die Stützpfeiler der traditionellen Ästhetik bilden. Außerdem setzt die Nutzung elektronischer Medien, folgt man Glenn Gould, zentrale ästhetische Kategorien wie Nachahmung, Erfindung und Originalität außer Kraft. Gould räumt der dilettantischen bricolage ein genialisches Potential ein. Er erklärt die dilettantischen Rezipient_innen gewissermaßen zu artistic heros – wobei Genialität nicht Originalität meint, sondern ergebnisoffenes Ausprobieren und künstlerisches Heldentum nicht Virtuosität bedeutet, sondern kreative Bastelei. Insofern weist der Dilettantismus im elektronischen Zeitalter bereits auf die kontroversen Debatten über das Dilettieren in der digitalen Welt voraus. In Der Untergeher beglaubigen Glenns Umgang mit den neuen Medien, der Rückzug in das Tonstudio und die Schallplattenaufnahmen Glenns Genialität. Diese Genialität zeigt sich außerdem in Glenns Verhältnis zu seinem Klavier, das

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– mit Marshall McLuhan gesprochen – als Erweiterung des Musikers in sein Instrument, mithin als eine Verschiebung des menschlichen Sinnesapparats in die Medien zu beschreiben ist. Dass Glenns Kunstauffassung und seine Medienauffassung sich wechselseitig fundieren, bedeutet also: Das Medium ist das Genie. Und für den übergeordneten Zusammenhang, die Frage nach dem Stellenwert von Dilettantismus im elektronischen Zeitalter der Postmoderne, heißt das: Genialität ist nurmehr im programmatischen Verbund mit den neuen Medien, in aktiver, genial-dilettantischer bricolage zu haben. Sich den elektronischen Medien zu verweigern, ist Ausdruck eines bloßen Dilettantismus, der die Zeichen der Zeit (noch) nicht erkannt hat. Zum einen unterscheidet Bernhard Genialität und künstlerischen Dilettantismus an der Bereitschaft, elektronische Medien zu nutzen; zum anderen führt er den Dilettantismus in einen Zusammenhang mit Lebenskunst ein. Dilettantismus ist also nicht mehr (wie noch um 1800) in erster Linie als künstlerisches, wissenschaftliches oder handwerkliches Phänomen zu verstehen, sondern (wie schon um 1900) als grundsätzliche Signatur (jetzt) postmodernen Lebens. Der programmatische Dilettantismus des Erzählers entspricht weitgehend der Selbstsorgephilosophie Michel Foucaults und bildet die Grundlage für ›Lebenskünstlerschaft‹ und ›Weltanschauungskünstlertum‹. Diese Form programmatischen Dilettantismus ist als prototypisches Lebenskunst-Modell unter den Bedingungen der Postmoderne einzuordnen. Der Untergeher präsentiert das Modell eines künstlerischen Dilettantismus, der die Zeichen der Zeit erkannt hat und Künstlerschaft nun am eigenen Leben übt, d. h. zu einem programmatischen Dilettantismus wird. Programmatisch ist der Dilettantismus dahingehend, dass die Absage an die musikalische Kunst die Hinwendung zur Lebenskunst legitimiert und so die Option auf Glück/Erfolg/Gelingen als Lebenskünstler eröffnet. Auch die Lebenskunst des Erzählers steht in einem engen Zusammenhang mit Medien/Medialität, allerdings nicht wie bei Glenn in Gestalt des Umgangs mit elektronischen Medien, sondern in Form der »biographischen Selbstreflexion«, genauer : in der »Selbstverschriftung« im Rahmen diverser Schreibprojekte. Hier werden die medialen Praktiken mit Selbsttechniken verkoppelt, ja die Selbsttechniken realisieren sich gerade in diesen Praktiken des Schreibens und Über-das-Schreiben-Reflektierens. Dilettantismus erscheint in Der Untergeher in dreierlei Weisen: Erstens als bloßer künstlerischer Dilettantismus, der weder an der Genialität des Mediums partizipieren, noch den Dilettantismus programmatisch in Richtung einer Lebenskünstlerschaft zu wenden vermag (Wertheimer). Zweitens tritt der Dilettantismus in eine Allianz mit (postmodernen) Formen von Genialität, indem er einen Fundus an Praktiken – wie Basteln und Fälschen – parat stellt, die im Verbund mit den elektronischen Medien eine radikal neue Kunstauffassung ermöglichen (Glenn). Drittens werden im Horizont der allgemeinen kulturellen

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Situation im ausgehenden 20. Jahrhundert Praktiken der Selbstsorge zu Erscheinungsweisen eines programmatischen Dilettantismus (Erzähler). Der Roman Der Untergeher selbst, das gedruckte Buch, sichert sich dabei seine Teilhabe an der musikalisch-elektronischen Genialität seines Protagonisten Glenn, indem er das Erzählverfahren an die Aufnahmetechniken von dessen historischem Vorbild anlehnt: Der Text integriert die Stimmen Michel Foucaults und Marshall McLuhans, in ihm klingen die Gouldsche Kunstauffassung und die Foucaultsche Lebenskunst in einer Weise zusammen, die als Poetologie einer bastelnd-dilettantischen literarischen Genialität, die in das elektronische Zeitalter der Postmoderne eingetreten ist, gelten kann. Abschließend ist festzuhalten: Plädierte der Klassizismus für ein genialisches Kunstleben, so setzt die Postmoderne auf programmatisch-dilettantische Lebenskunst. Diese Entwicklung nachzuzeichnen und zu reflektieren war das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Der Blick auf die Debatten um Medienamateure in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsweisen und mit ihren vielseitigen Praktiken zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt, dass der Dilettantismus noch lange nicht am Ende ist.

G.

Literaturverzeichnis

I.

Primärliteratur

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