Autobiografietheorie in der Postmoderne: Subjektivität in Texten von Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Thomas Glavinic und Paul Auster 9783839433393

Autobiographical theory after the »death of the author«: a new survey of the genre in the theory and analysis of contemp

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Autobiografietheorie in der Postmoderne: Subjektivität in Texten von Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Thomas Glavinic und Paul Auster
 9783839433393

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Teil A: Theoretische Grundlagen
1. Die Theorie der Autobiografie
1.1 Anfänge der Autobiografietheorie
1.2 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt
1.3 Modelle der Inszenierung
1.4 Neuere Modelle
1.5 Zwischenfazit: Grundtendenzen der modernen Autobiografietheorie
2. Postmoderne Theoriebildung und Autobiografietheorie
2.1 Hayden Whites Theorie der Geschichtsschreibung
2.2 Mensch und Subjektkritik bei Foucault
2.3 Das »Subjekt der Schreibweise« bei Julia Kristeva
2.4 Roland Barthes’ alternative Subjektkonzeptionen
2.5 Zwischenfazit: Die Autobiografie unter den Bedingungen der Postmoderne
Teil B: Studien zur Autobiografik
3. Goethes linguistic turn: Zur intertextuellen Subjektkonstruktion in Dichtung und Wahrheit
3.1 Dichtung und Wahrheit und die klassische Autobiografietheorie
3.2 Subjektivität als intertextuelle Konstruktion: Goethe in Sesenheim
3.3 Zwischenfazit
4. »In die entgegengesetzte Richtung«: Thomas Bernhard
4.1 Der Keller und seine Auseinandersetzung mit autobiografischem Schreiben
4.2 Wende und Heterotopie als zentrale Figuren in Bernhards autobiografischen Texten
4.3 Zwischenfazit
5. Immer mit dabei: Thomas Glavinic
5.1 Die Arbeit der Nacht: Arbeit am Ich ohne andere
5.2 Das bin doch ich – Was denn eigentlich? Definitionsstrategien eines Autor-Ichs
5.3 Meine Schreibmaschine und ich: Ich-Konstitution in der Poetikvorlesung
5.4 Zwischenfazit
6. Kreisen um den Ursprung: Josef Winkler
6.1 Textuelles Spiel mit autobiografischen Erwartungen: Josef Winklers Dankesrede für den Georg-Büchner-Preis 2008
6.2 Biographeme eines Selbstmordchronisten: Josef Winklers Trilogie Das wilde Kärnten
6.3 Blick zurück von außen: Roppongi. Requiem für einen Vater
6.4 Zwischenfazit
7. Ganz bei sich: Paul Auster
7.1 Leben, Schreiben, Bedeutung – Die Autobiografie als fiktionaler Text
7.2 Das Leben im Text ›er-finden‹ – The Invention of Solitude
7.3 The Red Notebook – Sammelwerk und Autobiografie
7.4 Beware of your operatives! – Travels in the Scriptorium
7.5 Zwischenfazit
Fazit
Dank
Literaturverzeichnis

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Robert Walter-Jochum Autobiografietheorie in der Postmoderne

Lettre

Robert Walter-Jochum, geb. 1981, studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Neuere Geschichte und Philosophie an der FU Berlin und der Université Libre Bruxelles. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche und niederländische Philologie der FU Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Intertextualitäts- und Erzähltheorie, deutsche und österreichische Gegenwartsliteratur sowie »Literatur und Religion«.

Robert Walter-Jochum

Autobiografietheorie in der Postmoderne Subjektivität in Texten von Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Thomas Glavinic und Paul Auster

Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2015 als Dissertation an der Freien Universität Berlin angenommen. Die Drucklegung wurde durch einen Zuschuss aus der leistungsbezogenen Mittelvergabe des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der FU Berlin gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Einleitung | 7

TEIL A: THEORETISCHE GRUNDLAGEN 1.  

Die Theorie der Autobiografie | 21 

1.1  1.2   1.3   1.4   1.5  

Anfänge der Autobiografietheorie | 21  Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt | 40  Modelle der Inszenierung | 50  Neuere Modelle | 55  Zwischenfazit: Grundtendenzen der modernen Autobiografietheorie | 62

2.

 

2.1   2.2   2.3   2.4   2.5  

Postmoderne Theoriebildung und Autobiografietheorie | 65 

Hayden Whites Theorie der Geschichtsschreibung | 65  Mensch und Subjektkritik bei Foucault | 73  Das »Subjekt der Schreibweise« bei Julia Kristeva | 83  Roland Barthes’ alternative Subjektkonzeptionen | 90  Zwischenfazit: Die Autobiografie unter den Bedingungen der Postmoderne | 111

TEIL B: STUDIEN ZUR AUTOBIOGRAFIK 3.

 

3.1   3.2   3.3   4.

 

4.1   4.2   4.3  

Goethes linguistic turn: Zur intertextuellen Subjektkonstruktion in Dichtung und Wahrheit | 115 

Dichtung und Wahrheit und die klassische Autobiografietheorie | 115  Subjektivität als intertextuelle Konstruktion: Goethe in Sesenheim | 122  Zwischenfazit | 148 »In die entgegengesetzte Richtung«: Thomas Bernhard | 151 

Der Keller und seine Auseinandersetzung mit autobiografischem Schreiben | 151  Wende und Heterotopie als zentrale Figuren in Bernhards autobiografischen Texten | 172  Zwischenfazit | 189

5.

 

5.1   5.2   5.3   5.4   6.

 

6.1   6.2   6.3   6.4   7.

 

7.1   7.2   7.3   7.4   7.5  

Immer mit dabei: Thomas Glavinic | 191 

Die Arbeit der Nacht: Arbeit am Ich ohne andere | 191  Das bin doch ich – Was denn eigentlich? Definitionsstrategien eines Autor-Ichs | 203  Meine Schreibmaschine und ich: Ich-Konstitution in der Poetikvorlesung | 228  Zwischenfazit | 240 Kreisen um den Ursprung: Josef Winkler | 243 

Textuelles Spiel mit autobiografischen Erwartungen: Josef Winklers Dankesrede für den Georg-Büchner-Preis 2008 | 243  Biographeme eines Selbstmordchronisten: Josef Winklers Trilogie Das wilde Kärnten | 249  Blick zurück von außen: Roppongi. Requiem für einen Vater | 266  Zwischenfazit | 278 Ganz bei sich: Paul Auster | 281 

Leben, Schreiben, Bedeutung – Die Autobiografie als fiktionaler Text | 281  Das Leben im Text ›er-finden‹ – The Invention of Solitude | 284  The Red Notebook – Sammelwerk und Autobiografie | 298  Beware of your operatives! – Travels in the Scriptorium | 311  Zwischenfazit | 318

Fazit | 321 Dank | 327 Literaturverzeichnis | 329 

Einleitung

Intus, et in cute Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird. Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.1

Mit diesen kraftstrotzenden Worten eines selbstbewussten Autobiografen beginnt Jean-Jacques Rousseau das erste Buch seiner Bekenntnisse – und, wenn man (in einer gewissen in den Konventionen der Literaturgeschichtsschreibung nicht ganz unüblichen Übertreibung) so will, die Tradition der Autobiografik in der Moderne.2 Das Innovationspotenzial seiner Autobiografie lässt sich bereits an dem Sinnspruch ablesen, den Rousseau seinem Text voranstellt: »Intus, et in cute« – »Im Inneren und unter der Haut«, entliehen den Satiren des Aulus Persius Flaccus,3 wo es ausführlich heißt: »Ego te intus, et in cute novi« – »Ich kenne dich im Inneren und unter der Haut«. Rousseaus Projekt unterscheidet sich damit ab der ersten Zeile von früheren autobiografischen Texten, die sich im Wesentlichen den äußeren Bedingungen und Ereignissen des Lebens widmeten – wenn wir etwa Caesars De bello gallico als autobiografisches Werk in diesem Sinne wahrnehmen, wird in dessen vollständiger Orientierung am Handeln seines (durchgehend in der dritten Person

1

Jean-Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse. Übersetzt v. Alfred Semerau, durchgesehen v. Dietrich Leube. Mit einem Nachwort u. Anmerkungen v. Christoph Kunze. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2012, S. 9.

2

So bezeichnet etwa Michaela Holdenried – ohne Vorläufer gering zu schätzen – Rousseaus Text als das »Paradigma moderner Autobiographik«. Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart: Reclam 2000, S. 148.

3

Aulus Persius Flaccus: Satiren III, V. 30. Zit. n. The Satires of A. Persius Flaccus. With a translation and commentary by John Conington. Ed. by H. Nettelship. 2. Nachdruckauflage der Ausgabe Oxford 1893. Hildesheim: Olms 1967, S. 56.

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angesprochenen) Verfassers deutlich, dass Zweck und Gegenstand der Darstellung eben nicht das »Innere« des autobiografischen Protagonisten sind, sondern allein dessen ruhmreiche Taten bis in ihre militärischen Details und politischen Konsequenzen hinein.4 Das Projekt Rousseaus ist demgegenüber ganz anders geartet und setzt damit (nicht als erstes, aber sicherlich als einflussreichstes autobiografisches Werk am Beginn der Moderne) den Grundton für das, was bis zum heutigen Tag im allgemeinen Sprachgebrauch unter »Autobiografie« verstanden wird: Die intensive rückblickende Auseinandersetzung eines schreibenden Ichs mit den Umständen seines Lebens, seinen Gedanken und den innersten Beweggründen seines Handelns. Eingebunden ist Rousseaus Darstellung in die übergreifende sakramentale Struktur des Bekenntnisses, wie im Anschluss an die zitierte Passage klar wird: Mag die Posaune des Jüngsten Gerichts wann immer erschallen, ich werde mit diesem Buch in der Hand mich vor den obersten Richter stellen. Ich werde laut sagen: »Sieh, so handelte ich, so dachte ich, so war ich! Ich habe das Gute und das Böse mit dem gleichen Freimut erzählt. […] Ich habe mich so gezeigt, wie ich war. […] Ich habe mein Inneres entblößt, so wie du selbst es gesehen hast. Ewiges Wesen, versammle um mich die unzählbare Schar meiner Mitmenschen; […] Jeder von ihnen enthülle seinerseits sein Herz mit der gleichen Aufrichtigkeit zu den Füßen deines Throns, und dann möge auch nur einer dir sagen, wenn er es wagt: Ich war besser als dieser Mensch da!«5

Deutlich wird hier eine intrikate Perspektive auf die biblische Vorstellung vom Jüngsten Gericht, die gleichzeitig als Rechtfertigung dieser neuen Form autobiografischen Schreibens zu lesen ist:6 Vor dem Thron des obersten Richters wird nicht allein das »Buch des Lebens« aufgeschlagen, auf dass die Toten »gerichtet« werden können, »ein jeglicher nach seinen Werken« (Offb 20, 12 f.), sondern der vor dem Richterstuhl Stehende führt in dieser Vision selbst ein alternatives Buch ins Feld:

4

Vgl. Gaius Iulius Caesar: Der Gallische Krieg. Übersetzt u. hg. v. Marieluise Deissmann. Stuttgart: Reclam 1980. – Das Beispiel Caesars verwendet im Kontext der Bestimmung des Autobiografischen auch Gérard Genette: Fiktion und Diktion. Aus dem Franz. v. Heinz Jatho. München: Fink 1992, S. 82. – Zu anderen Autobiografien »vor Rousseau« und den Unterschiede zu dessen Bekenntnissen vgl. unten, Kap. 1.1.

5

Rousseau: Die Bekenntnisse, S. 9.

6

Die Darstellung Rousseaus ist offensichtlich an die Offenbarung des Johannes angelegt, die am ehesten eine derartige Gerichtsszene nahelegt und mit der Dasrstellung hier vergleichbare Attribute aufweist. Zum Gericht Gottes im Allgemeinen vgl. Klaus Seybold u.a.: Gericht Gottes. In: Horst Robert Balz u.a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12. Berlin/New York: de Gruyter 1984, S. 459–497.

E INLEITUNG

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seine Bekenntnisse, die offensichtlich dazu dienen können, Gott von seiner Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit zu überzeugen und den Gerichteten damit ins »neue Jerusalem« einziehen zu lassen (vgl. Offb 21). An die Stelle des »Buchs des Lebens«, das ja gerade dadurch besticht, dass es keinen individuellen Autor hat und damit die Objektivität des göttlichen Urteils verbürgt, tritt so eine vom Individuum autorisierte Schrift, deren Aufrichtigkeit über die Möglichkeit entscheidet, auf ihrer Grundlage zu erlösen oder zu verdammen – der fiktionale, eine Sinnzuschreibung in Bezug auf das eigene Leben vorsehende Text konkurriert hier mit der nur für Gott selbst erkennbaren Wirklichkeit. Rousseaus Bekenntnisse sind so zu verstehen als Beichte im Kontext des Bußsakraments, demzufolge jenem seine Sünden vergeben werden (absolutio), der diese nach Erforschung seines Gewissens in Reue (contritio cordis) und mit dem guten Vorsatz zur Besserung bekennt (confessio oris) und möglichst Wiedergutmachung (satisfactio operis) leistet.7 Anders als im Neuen Testament vorgesehen, erscheint jedoch in dem Setting, das wir bei Rousseau präsentiert bekommen, die göttliche Absolution weniger als Gnade des Herrn, aus der sie der Überlieferung des Wortes Christi zufolge herrührt,8 sondern als quasijuristischer Anspruch, den derjenige geltend machen kann, der (anders als andere) in Vollständigkeit, Ausführlichkeit und ganzer Aufrichtigkeit bekannt hat.9 Durch diese Einlei-

7

Vgl. auch Ernst Bezzel: Beichte, III. Reformationszeit. In: Balz u.a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 5 (1980), S. 421–425, S. 422, sowie Isnard W. Frank: Beichte, II. Mittelalter. Ebd., S. 414–421, hier S. 417. Vgl. zu den Ursprüngen der Kodifizierung dieser Anforderungen im 4. bis 6. Jahrhundert die ausführliche Darstellung bei Henning von Soden: Confessio zwischen Beichte und Geständnis. Eine dogmengeschichtliche Betrachtung über die Entwicklung des Schuldbekenntnisses vom römischen Recht bis zum IV. Lateranum. Diss. Bonn 2010, S. 103–142. Die Beichte selbst entwickelte sich historisch aus der juristischen confessio, dem eine Verurteilung hervorrufenden Geständnis – sie steht also bereits vor der Glaubens- in einer juristischen Tradition. – Zur Bandbreite ritualisierter Formen des Bekenntnisses vgl. Ulrich Breuer: Bekenntnisse. Diskurs – Gattung – Werk. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2000, S. 81–154.

8

Vgl. Egon Brandenburger: Gericht Gottes, III. Neues Testament. In: Balz u.a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12, S. 469–483, hier S. 469 f.

9

Das Tridentinum (1545–1563) stärkt in der katholischen Kirche die Tradition der Analogisierung von Gerichtsverfahren und Beichte, indem es an alt- und neutestamentliche Gerichtsvorstellungen anknüpft, ohne jedoch die hier von Rousseau imaginierte Verteidigungssituation im Blick zu haben. Vgl. Rupert Maria Scheule: Einleitung. In: ders. (Hg.): Beichten. Autobiographische Zeugnisse zur katholischen Bußpraxis im 20. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2001, S. 11–41, hier S. 22–24, 28 f.; Bezzel: Beichte, III., S. 425.

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tung wird die umfassende Beichte, die Rousseau ablegt, funktionalisiert: Sie muss aufrichtig sein und darf nichts aussparen, soll sie ihr Ziel, vor Gott zur Exkulpation des Gerichteten wirksam zu werden, erfüllen.10 Zwei Elemente des Autobiografischen, die für die an Rousseau anschließende Tradition von kaum zu überschätzender Bedeutung sind, werden hier deutlich: einerseits der Charakter der Autobiografie als Gerichtsdokument, das seinen Lesern – sei es, wie in der textinternen Rezeptionsfiktion angenommen, Gott selbst, sei es nur ein diesseitiges Publikum – ermöglicht, über den Verfasser und Gegenstand des Textes ein Urteil zu fällen, und andererseits der von dieser Vorstellung der Beichte ausgehende Charakter der notwendigen Authentizität des Bekenntnisdokuments, ohne den die gesamte Funktion der auf der Beichte beruhenden Vergebung nicht wirksam werden kann. Die Autobiografie Rousseau’scher Prägung, wie sie sich als zentraler Typus der Gattung in der Folge durchsetzt, ist somit in ihrer Wurzel von normativen Ansprüchen geprägt: Sie muss erstens notwendig authentisch sein, will sie ihren Zweck erreichen, Vergebung zu erlangen, und sie liefert sich, zweitens, als referenzielles Dokument, das reale Gedanken und Taten seines Verfassers zum Gegenstand hat, dem Urteil eines Publikums aus, das den Anspruch erheben kann, mit der Wahrheit konfrontiert zu werden. Hinzu tritt ein Drittes: das hier beinahe als Anmaßung Gott gegenüber formulierte Aufschwingen des Ichs zum Autor seiner eigenen Geschichte, das heißt also die kraftvolle Geste des Subjekts, das die Verantwortung für sein Tun und Schreiben übernimmt und sich so durch ein alternatives Projekt zum »Buch des Lebens« selbst in Schrift umsetzt. Wie deutlich wird, dienen diese drei wesentlichen Parameter in den Bekenntnissen einer textinternen Argumentation, um eine bestimmte Textwirkung zu erzielen bzw. eine Funktion innerhalb der rhetorischen Ökonomie von Rousseaus Projekt zu erfüllen. Authentizität, Referenzialität und die damit verbundene Geste des über sich selbst verfügenden Subjekts sind so von vornherein Textstrategien, die im Kommunikationssystem des autobiografischen Schreibens textintern wie -extern spezifisch funktionalisiert werden. Zu Merkmalen der Gattungstheorie werden sie von hier ausgehend erst in einem zweiten Schritt, der damit verbunden ist, dass die

10

Franz von Sales prägte für diese Form 1609 den Terminus der »Generalbeichte«, in der der Gläubige »alles Sündhafte aus [s]einem Leben zusammen[trägt]« und es »verabscheu[t] und verwirf[t] […] durch die aufrichtigste Reue, deren [s]ein Herz fähig ist«. Hierdurch bereite die Beichte die »vollständige Erneuerung des Herzens und die Hingabe der ganzen Seele an Gott« vor. Vgl. Franz von Sales: Anleitung zum frommen Leben. Philothea. In: Deutsche Ausgabe der Werke des hl. Franz von Sales. Bd. 1. Eichstätt/Wien: Sales-Verlag 1959, S. 42 f.

E INLEITUNG

| 11

Spezifika von Rousseaus Bekenntnissen von dieser Textgrundlage abgekoppelt und zu Momenten einer übergreifenden Gattungsdefinition gemacht werden. In diesem Bereich der Gattungstheorie lassen sich zwei verschiedene Argumentationswege unterscheiden. Die erste, offenbar mit geringeren Problemen behaftete Methode wäre eine induktive Vorgehensweise, die ausgehend von diesen am Objekt vorgefundenen Parametern bestimmte Eigenschaften abstrahiert, die zur Bildung einer Menge von Texten genutzt werden können. In dieser Weise argumentiert etwa Gérard Genette mit seiner Theorie der Architextualität.11 Der Architext bzw. die Gattung wird hier auf Basis konkreter Texteigenschaften oder -strategien begründet, ohne der problematischen Tendenz einer Essenzialisierung von Gattungsbegriffen ausgehend von (letztlich deduktiv) in sie hineingetragenen allgemeinen Merkmalen zu unterliegen, wie sie in den Gattungstheorien des zweiten Typs vorherrscht, die in der Tradition einer organizistisch-morphologischen Ästhetik stehen.12 Genettes Verdienst ist es auch, herausgestellt zu haben, dass die Bestimmung von Gattungen – im Gegensatz zur Bestimmung von »Aussageweisen« oder »Modi« – immer auch ein inhaltliches Element umfasst, was an einer Gattungsbestimmung der Autobiografie, die auf den drei fokussierten Momenten aufbaut, deutlich erkennbar wird.13 Der Vorteil einer derartigen Methodik besteht zudem darin, dass sie angelegt ist auf einen historisch bewussten Umgang mit Gattungsbegriffen, was eine gewisse Variabilität in den Parametern der Gattungsdefinition voraussetzt. Als wirkmächtiger in der Literaturtheorie haben sich jedoch Gattungstheorien des benannten zweiten Typs erwiesen, die deduktiv von festen Merkmalskombinationen ausgehen und diese als normativen Anspruch an eine Gattung herantragen. Für die Gattung der Autobiografie, wie sie in der Moderne konzipiert wird, bedeutet das, dass die bei Rousseau textintern begründeten Momente der Authentizität des Geschilderten und der Referenzialität (als Übereinstimmung des Berichteten mit der außertextlichen Realität im Sinne eines Anspruchs auf historische Wahrheit) zu festen Parametern der Gattungsdefinition werden. In der Folge wird die Gattung »Autobiografie« nicht über ihre poetischen Verfahrensweisen festgelegt, sondern an außertextliche Merkmale gekoppelt: Autobiografisch ist ein Text diesem Verständnis zufolge genau dann, wenn sich in ihm a) ein selbstbewusstes Autor-Ich in seinen innersten Beweggründen ausdrückt und b) an der Realität zu referenzierende Fakten Gegenstand der Darstellung sind. Die genannten Textstrategien, die für Rousseaus

11

Gérard Genette: Einführung in den Architext. Aus dem Franz. v. J.-P. Dubost. Stuttgart: Legueil 1990.

12

Zum Verhältnis von Induktion und Deduktion in der Gattungstheorie vgl. Genette: Einführung in den Architext, S. 81.

13

Vgl. hierzu Genette: Einführung in den Architext, S. 83, das Zitat S. 79.

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Text spezifisch sind, werden durch diesen Wechsel der Vorzeichen zu fixen, historisch nicht als variabel angesehenen Definitionskriterien gemacht.14 Damit liegt der Akzent nicht mehr darauf, danach zu fragen, auf welche Weise Konzepte wie Authentizität und Referenzialität im einzelnen Text angewendet bzw. textintern begründet werden, sondern er wird verschoben in Richtung einer Messbarkeit der autobiografischen Gattung, ja letztlich ihrer Kopplung an den authentischen Ausdruck und die (faktuale15) Wiedergabe von Realität – eine Vorgehensweise, die, wie später herausgearbeitet werden soll, bereits der für sie argumentativ in Anspruch genommene Goethe’sche Urtext Dichtung und Wahrheit nicht unterstützt. Wie zu zeigen sein wird, spielen diese beiden Definitionskriterien jedoch bis in die heutige Beschäftigung mit autobiografischen Texten hinein eine zentrale Rolle und bilden für weite Teile der Autobiografietheorie den argumentativen Kernbestand. Die Autobiografie ist für sie ein faktualer Text, in dem sich ein selbstbewusstes Subjekt zu den Realien seines Lebens äußert. Diese Diagnose, die im Verlauf von Kapitel 1 zu erhärten und anhand der theoretischen Literatur genauer zu fassen sein wird, ist – vor dem Hintergrund der Geschichte der Literaturtheorie der letzten 60 Jahre gesehen – durchaus überraschend. Und zwar vor allem deshalb, weil die Autobiografie über diesen Definitionsweg auf zwei Bereiche verweist, die in der theoretischen Diskussion spätestens seit Ende der 1960er-Jahre massiv umstritten sind: die Bereiche der Integrität des (Autor-) Subjekts und der Verlässlichkeit des sprachlichen Verweisens auf die Realität. Während die Autobiografietheorie auf Grundlage einer Hypostasierung der Grundlinien ihres Rousseau’schen »Urtextes« nahezu ungebrochen auf das sich selbst authentisch zeigende Autorsubjekt und dessen Kraft zur Wiedergabe der Realität in der Autobiografie baut, ist im Rahmen der postmodern oder poststrukturalistisch genannten Theoriedebatten große Skepsis hinsichtlich der selbstbewussten Subjek-

14

Dies führt zum Teil dazu, dass derartige Theorien einen historisch und kulturell übergreifenden Anspruch formulieren, der so nicht zu halten ist. Wie bereits Georges Gusdorf betont hat, handelt es sich bei der Autobiografie dieser Form eben nicht um eine historisch und kulturell übergreifend auftretende Textsorte, sondern um ein Phänomen, das historisch und begrifflich (beispielsweise über ein spezifisches Subjekt- und Autorschaftskonzept) an die europäische Moderne seit dem 18. Jahrhundert gebunden ist. Vgl. genauer hierzu unten, Kap. 1.1.3. Zu dem konkreten Einwand vgl. Georges Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie [1956]. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: WBG 1989, S. 121–147, S. 122.

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Vgl. zum Begriff des »faktualen« Textes im Gegensatz zum »fiktionalen« Text Gérard Genette: Fiktion und Diktion, S. 67 f.

E INLEITUNG

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tivität wie auch der Schnittstelle Text/Realität geäußert worden. So wird aus semiotischer bzw. texttheoretischer Perspektive die Einschätzung stark gemacht, dass vom Text zunächst einmal kein direkter Weg in die Realität führt, sondern dass jeglicher Realitätsbezug auf konventionalisierten Zeichen bzw. Narrationsformen beruht, an deren Gebrauch kein Weg vorbeigeht und die dazu beitragen, dass eine konkrete Rückbindung des Textes an ihm vorgängige ›Fakten‹ unmöglich wird – die Autobiografik ist damit Ergebnis von »Akten des Fingierens«16 und also dem Bereich der fiktionalen Literatur zuzuordnen, weshalb sie auch nur wie diese analysiert werden kann. Im Verbund mit derartigen Diagnosen, wie sie in Kapitel 2 dieser Studie vorgestellt werden sollen, ist darüber hinaus bestritten worden, dass die Verfertigung eines Textes (und so auch einer Autobiografie) letztlich einem geschlossenen, individuell handelnden und die Tragweite seines Handelns überblickenden Subjekt zugeschrieben werden könne: Jede Skepsis, die an der Verantwortlichkeit eines Autors für seinen Text angebracht wird, gilt ebenso für autobiografische Texte, die hier keine (wie auch immer begründbare) Sonderrolle einnehmen. Mit anderen Worten: In enger Verbindung hat die poststrukturalistische Theoriebildung die beiden Kernelemente der klassisch vorgehenden Autobiografietheorie – Autor-Ich und Referenzanspruch – argumentativ destruiert. Dies bringt die Aufgabe mit sich, von diesen Positionen ausgehend zu einem neuen Umgang mit der Gattung Autobiografie zu kommen und aus diesen Infragestellungen theoretische und textanalytische Schlüsse zu ziehen, was in der Theoriegeschichte bislang weitgehend unterblieben ist. Ziel dieser Studie ist es also, aus den Herausforderungen an die Ideen des Subjekts und der Referenzialität die Konsequenzen zu ziehen und eine produktive Konzeptualisierung der Autobiografie hervorzubringen, die den Erkenntnissen der postmodernen Theoriebildung Rechnung trägt und ihren Ansprüchen standhält – eine Aufgabe, die nach wie vor ein Desiderat der Forschung bildet, wie der Überblick in Kapitel 1 zeigt. Diesem Projekt widmet sich der zweite Teil dieses Buches (Kapitel 3 bis 7), und zwar in Form einer induktiv vorgehenden Analyse von Texten, die auf der Basis traditioneller autobiografietheoretischer Annahmen in der literarischen bzw. literaturwissenschaftlichen Öffentlichkeit diskutiert worden sind. Dies erscheint deshalb sinnvoll, weil in Bezug auf die diskutierten Texte deutlich wird, zu

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Vgl. zu der Begründung von Fiktionalität auf »Akten des Fingierens«, die in einem triadischen Verhältnis zwischen »Realem« und »Imaginärem« vermitteln (wodurch die Unterscheidung zwischen faktualen und fiktionalen Texten unterlaufen wird) Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 18–51.

14 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE

welchen Ergebnissen und Analysewegen eine veränderte Autobiografietheorie beitragen kann, die eine autobiografietheoretische Analyse klassischen Zuschnitts nicht in den Blick bekommt.17 Dabei wird von der Grundhypothese ausgegangen, dass die texttheoretische Basis der zugrunde gelegten poststrukturalistischen Theoriegebäude besonders gute Ausgangsbedingungen dafür bietet, die diskutierten literarischen (fiktionalen) Texte in ihren Verfahrensweisen und Textstrategien zu beleuchten, ohne dass die Jagd nach vermeintlichen Autorintentionen oder Referenzansprüchen in den Vordergrund tritt, wie sie die klassische, auf ein faktual basiertes Gattungskonzept ausgerichtete Auobiografietheorie begünstigt. Das Herausarbeiten von Subjektivität in diesen Texten setzt dabei nicht auf die Rückbindung des Textes an eine ihm vorgängige Realität, sondern es befasst sich mit den vorwiegend intertextuellen und diskursorientierten Mechanismen, die ein Subjekt im Text greifbar werden lassen. Die Abweichungen zwischen den Ergebnissen der einen und der anderen Vorgehensweise sind im Kontext der Analysen jeweils zu reflektieren, was bei einer Verwendung anderer potenziell aus Sicht der poststrukturalistischen Theoriebildung geeigneter Texte so nicht möglich wäre. Der historische Index der ausgewählten Texte ist dabei außerdem im Blick zu behalten: Es handelt sich um Texte, die die Grundprinzipien der ›modernen Autobiografie nach Rousseau‹, wie sie vorläufig im Vorangegangenen abgeleitet wurden, in sich aufnehmen, sie aber gleichzeitig auch reflektieren und infrage stellen – insofern sind die Texte selbst in ihrem Zugang zur Gattung skeptischer und reflektierter als ein Großteil der theoretischen Entwürfe, mit denen auf sie zugegangen worden ist. Wenn man so will, liegt in dieser reflektierten Bezugnahme auf die autobiografische Gattung ein postmoderner Zug dieser Texte, wobei der Begriff der Postmoder-

17

Ein derartiges Programm skizziert auch Ansgar Nünning, wenn er hervorhebt, dass der »Hintergrund postmoderner Krisen von Subjekt, Autor und Identität« Ansatzpunkte »für eine Reihe von literatur- sowie kulturwissenschaftlichen Fragestellungen« biete, »die in das Zentrum der Forschung zum autobiographischen Schreiben führen«. Nünning nimmt dabei eine spezifische Textgattung in den Blick, die diese Fragen selbst verhandelt und die er demzufolge als »fiktionale Metaautobiographie« bezeichnet. Ansgar Nünning: Metaautobiographien: Gattungsgedächtnis, Gattungskritik und Funktionen selbstreflexiver fiktionaler Autofiktionen. In: Christoph Parry u. Edgar Platen (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 2: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. München: Iudicium 2007, S. 269–292, hier S. 270; vgl. zur Formulierung des Forschungsdesiderats einer »differenzierteren Beschreibung« ebd., S. 289–292. Zum hier auch verwendeten, eher problematischen Begriff der »Autofiktion« vgl. unten Kap. 1.4.1.

E INLEITUNG

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ne im Sinne eines Reflexivwerdens moderner Konzepte gefasst werden kann18 (das, wie sich zeigen wird, durchaus schon im 19. Jahrhundert erfolgen konnte). Ziel der Analysen ist schließlich, zu verdeutlichen, welche Gedankengänge eine ›postklassische‹ Autobiografietheorie in den Mittelpunkt stellen könnte, um sich ihren Gegenständen auf der Textebene und unabhängig von nur außertextlich relevanten Produktions- und Referenzzusammenhängen zu nähern. Im Fazit der Arbeit wird schließlich versucht, diese Schlussfolgerungen auf den Punkt zu bringen. Für die Analysen wurde ein Textkorpus gewählt, das durch die in ihm vorzufindende Bandbreite von Textstrategien einen breit gefächerten Überblick über Entwicklungen ›autobiografischen‹ Schreibens in der Gegenwartsliteratur ermöglicht. Um aber darüber hinaus zu verdeutlichen, dass es sich bei den herausgearbeiteten Textstrategien nicht um Momente handelt, die etwa nur einer Literatur eigen sind, die literaturgeschichtlich einer (wie auch immer konzipierten, gegen Ende des 20. Jahrhunderts einsetzenden) »postmodernen Epoche« zuzuordnen wäre, wurde neben den Werken von vier zeitgenössischen (bzw. annähernd zeitgenössischen) Autoren zunächst ein historisch für die autobiografische Gattung im deutschsprachigen Raum bedeutendes Werk in die Untersuchung einbezogen: Johann Wolfgang von Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit19 (Kapitel 3). Die Untersuchung von Goethes Jugendautobiografie verdeutlicht, dass die Thematisierung einer Kritik an Referenzialität und uneingeschränkter Autorsubjektivität auch schon in diesem Text des 19. Jahrhunderts – der vielleicht für die deutschsprachige Gattungstheorie eine ähnliche Relevanz hat wie Rousseaus Bekenntnisse für die französische – eine markante Rolle spielt, die man aus der Perspektive klassischer autobiografietheoretischer Verfahren, wie sie beispielsweise von den Kommentaren

18

Diese Begriffsverwendung findet sich etwa auch bei Peter V. Zima: Moderne/Postmoderne. Tübingen: Francke 32014, S. 237 ff. Zima stellt außerdem Bezüge zum Ursprung der Soziologie in diesem »Reflexivwerden der Moderne« her, das er als konstante Bewegung von Durkheim und Weber bis hin zu Giddens und Etzioni markiert (ebd., S. 47 ff.). Hiervon zu unterscheiden ist das Konzept einer »reflexiven Modernisierung« (Ulrich Beck), das zwar zeitgleich mit der Durchsetzung des Postmodernebegriffs entstanden ist, aber inhaltlich bisweilen der sonstigen postmodernen Theoriebildung entgegengesetzte Schlüsse zieht (vgl. ebd., S. 63–66).

19

Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1986 (= ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Hendrik Birus u.a., Bd. I, 14). Die Bände dieser Ausgabe werden im Folgenden mit der Sigle FA, römischer Ziffer für die Abteilung und arabischer Bandnummer nachgewiesen.

16 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE

der relevanten Ausgaben repräsentiert werden,20 möglicherweise übersieht. Diese Diagnose ist vor allem deshalb überraschend, weil Dichtung und Wahrheit gerade für die Autobiografietheorie des klassischen, deduktiven und faktual ausgerichteten Paradigmas als Musterbeispiel bzw. teleologischer Zielpunkt fungierte – zu Unrecht, wie hier deutlich werden soll. Goethes Text wird in seinem Dementi einer authentischen Erfahrungswiedergabe vorgestellt, das sich vor allem über markante intertextuelle Bezüge realisiert, weshalb es für die poststrukturalistisch argumentierende Intertextualitätstheorie deutlich erkennbare Anschlussstellen bereithält. Der erste der im Kontext dieser Studie diskutierten Autoren des 20. Jahrhunderts ist Thomas Bernhard, dessen als Die Autobiographie21 vermarktete Texte Die Ursache, Der Keller, Der Atem, Die Kälte und Ein Kind (erschienen 1975–1982) zu den erfolgreichsten und am meisten gelesenen Texten des Autors, aber auch zu den am stärksten in Öffentlichkeit und Forschung diskutierten autobiografischen Texten unserer Zeit gehören (Kapitel 4). Ausgehend von Bernhards These, dass alles autobiografische Schreiben durchgängig »Fälschung« und »Verfälschung« sein müsse, wird den erzählerischen Strategien, mit deren Hilfe in seinen Texten ein autobiografisches Ich im Gegensatz zur Gesellschaft und ihren Ansprüchen entsteht, nachgegangen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem zweiten autobiografischen Band, Der Keller, der sich stärker und expliziter als die anderen Werke mit Fragen nach der Möglichkeit autobiografischen Schreibens auseinandersetzt; die dort aufgefundenen Textstrategien der Etablierung eines starken Erzählersubjekts werden dann in den anderen Bänden des autobiografischen Werks weiterverfolgt. Ein Gegenwartsautor, dessen Verortung in den Spannungslinien autobiografischen bzw. subjekt- und referenzkritischen Schreibens der aktuellen literarischen Debatten offenkundig ist, ist Thomas Glavinic. In seinem Roman Die Arbeit der Nacht sowie seinem im Kontext der Schnittstelle des Autobiografischen diskutierten Text Das bin doch ich spürt er der Selbstdefinition des (Nicht-mehr-)Subjekts

20

Neben der »Frankfurter Ausgabe« sind hier die entsprechenden Bände der »Münchner« sowie der »Hamburger Ausgabe« gemeint: Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Peter Sprengel. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1985 (= ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter, Bd. 16); ders.: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: ders. Autobiographische Schriften I u. II. Hg. v. Erich Trunz. München: Beck 1955/1959 (= Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. v. Erich Trunz, Bd. 9 u. 10).

21

So der Sammeltitel, den der 10. Band der Bernhard-Werkausgabe trägt, der die genannten Texte umfasst. Vgl. Thomas Bernhard: Die Autobiographie. Hg. v. Martin Huber u. Manfred Mittermayer. Frankfurt a.M. 2004 (= ders.: Werke. Hg. v. Martin Huber u. Wendelin Schmidt-Dengler, Bd. 10).

E INLEITUNG

| 17

am Beginn des 21. Jahrhunderts nach.22 Ihre Wege artikulieren sich in erster Linie als gesellschaftliches »Dabei-Sein«, was einen spezifisch postmodernen Zug dieser Texte ausmacht.23 Glavinics Poetikvorlesung unter dem Titel Meine Schreibmaschine und ich24 knüpft an diese Strategien an und verdeutlicht, inwiefern für dieses aus dem Literaturbetrieb hervorgehende »Ego-Dokument«25 dieselben Rahmenbedingungen gelten wie für das literarische Werk im engeren Sinne. Besonders eine Bestimmung des Menschen durch die Diskurse, in die er sich einschreibt und an denen er partizipiert, lässt sich hier hinsichtlich ihrer Ersatzfunktion für eine referenziell-autobiografische Gestaltung des Ichs diskursanalytisch erfassen (Kapitel 5). Der dritte österreichische Autor, der auf ganz andere Weise das Feld des vermeintlich Autobiografischen mit seinem Werk besetzt, ist der Büchnerpreisträger Josef Winkler. Winklers Dankesrede anlässlich der Büchnerpreisverleihung 2008

22

Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht. Roman. München/Wien: Hanser 2006, sowie ders.: Das bin doch ich. Roman. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2012 (zuerst: 2007).

23

Hier sei auf die Orientierung der postmodernen Theoriebildung an Fragen des »extremen Individualismus, der Anomie und Entfremdung« und des »Streben[s] nach Selbstverwirklichung« mit »narzißtische[n] Tendenzen« verwiesen, die beispielsweise mit den Namen der Theoretiker Anthony Giddens und Zygmunt Bauman verbunden sind. Vgl. hierzu Zima: Moderne/Postmoderne, S. 69. In kulturkritischer Perspektive hat Richard Sennett den öffentlichen Diskurs zu diesen Fragen mit dem Begriff einer »Tyrannei der Intimität« geprägt. Vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986.

24

Thomas Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich. Bamberger Vorlesungen. Mit einem Vorwort v. John Burnside. München: Hanser 2014.

25

Zu diesem aus dem Bereich der Sozialgeschichte stammenden Begriff vgl. Winfried Schulze: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung »Ego-Dokumente«. In: ders. (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin: Akademie-Verlag 1996, S. 11–30. Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt, z. T. auf Grundlage derselben theoretischen Basistexte, die sogenannte Selbstzeugnisforschung. Vgl. hierzu etwa Claudia Ulbrich, Hans Medick u. Angelika Schaser (Hg.): Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2012, sowie allgemein die Publikationen aus dem Umfeld der DFG-Forschergruppe 530: Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive (2004–2012). Der Begriff kann in seiner starken Konzentration auf den historischen Zeugnischarakter von Texten als problematisch wahrgenommen werden und ist dementsprechend in Bezug auf seine autobiografietheoretische Tragweite kritisch betrachtet worden. Vgl. hierzu etwa Holdenried: Autobiographie, S. 23.

18 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE

bietet hier einen ersten Anlass, sein metareflexives Spiel mit Topoi des Autobiografischen zu beobachten. In seiner Orientierung an einzelnen Ereignissen, Ritualen und Konflikten des dörflichen Kärntner Lebens demonstriert sein Werk einen Schreibmodus, der mithilfe von Roland Barthes’ Begriff der »Biographeme« in seiner Funktionsweise und seinem Bedeutungspotenzial erschlossen werden kann. Gegenstand der Untersuchung sind, neben der Dankesrede, Winklers drei erste Romane Menschenkind, Der Ackermann aus Kärnten und Muttersprache (zuerst 1979, 1980 und 1982 publiziert),26 außerdem sein 25 Jahre später erschienenes »Requiem« Roppongi,27 das in gewandelter Form auf dieselben Themen und »Biographeme« zurückgreift, deren Relevanz, aber auch Veränderlichkeit über die Zeit als permanentes Kreisen um den Ursprung so deutlich werden (Kapitel 6). Wie auch in diesem Fall erkennbar ist, spielen die faktualen Bezüge auf die Lebenswelt der Autoren eine gegenüber fiktionalen Strategien der Ich-Konstitution eine bei Weitem untergeordnete Rolle – an allen untersuchten Texten ist abzulesen, dass sie Leben mit spezifisch fiktionalen Mitteln darstellen können, wohingegen die Annahme einer einfachen Abbildung des Lebens im Text am Kern der Werke vorbeigeht. Den Abschluss der Analysen bildet schließlich – in komparatistischer Ergänzung des Textkorpus – die Auseinandersetzung mit einem Werk, das immer wieder als in weiten Teilen von autobiografischen (faktualen) Momenten geprägt dargestellt worden ist, obwohl es wie wenige andere den prekären Status autobiografischen Schreibens im Feld der Fiktion thematisiert: Die Rede ist vom Werk des USAmerikaners Paul Auster. An seinen Texten in The Invention of Solitude28 und The Red Notebook and other Writings29 sowie seinem autointertextuellen Roman Travels in the Scriptorium30 wird verdeutlicht, wie aus einem intertextuell angelegten Gesamtwerk mit autobiografischem Charakter schließlich ein Schreiben erwächst, das als ununterbrochener Verweis auf das fiktionale Universum dieses Gesamtwerks seine Summe findet und insofern in seiner Radikalität die Texte der anderen hier verhandelten Autoren noch übertrifft (Kapitel 7).

26

Die drei Texte werden vom Verlag als Trilogie unter dem Sammeltitel Das wilde Kärnten vermarktet: Josef Winkler: Das wilde Kärnten. Menschenkind. Der Ackermann aus Kärnten. Muttersprache. Drei Romane. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995.

27

Josef Winkler: Roppongi. Requiem für einen Vater. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007.

28

Paul Auster: The Invention of Solitude. London: Faber & Faber 2005 (zuerst: 1982).

29

Paul Auster: The Red Notebook and other Writings. London: Faber & Faber 1995.

30

Paul Auster: Travels in the Scriptorium. New York: Picador 2006.

Teil A: Theoretische Grundlagen

1. Die Theorie der Autobiografie

1.1 A NFÄNGE

DER

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Wenn in der Einleitung der Versuch skizziert wurde, das Verständnis der Autobiografie in der Moderne mit dem Erscheinen von Rousseaus Bekenntnissen zu synchronisieren, verweist dies auf ein konkretes Verständnis des Autobiografischen, das in der Folge das Nachdenken über die Gattung gewissermaßen monopolisiert hat: Der autobiografische Text ist demnach einer, in dem sich (1.) ein seiner selbst sicheres Subjekt (2.) in konkreter Orientierung an historischen Daten und Geschehnissen unter (3.) den Vorzeichen einer authentischen Schilderung des Erlebten äußert. Eine derartige Konzeptualisierung der Gattung basiert auf verschiedenen historischen Annahmen, nicht zuletzt auf einer konkreten Vorstellung von der Relevanz des Subjekts als Autorinstanz, die klar mit neuzeitlichem Denken verbunden ist und, wenn man der klassischen Lehre folgen will, erst seit Descartes’ positivistischer Konstitution des subjektiven Beobachterstandpunkts so denkbar erscheint. Im Folgenden wird kein durchgehender historischer Überblick über Formen autobiografischen Schreibens gegeben, an denen in der Literatur zudem kein Mangel herrscht.1 Vielmehr werden in knapper Form zunächst einige Stationen der Gat-

1

Konzise, aber dennoch detaillierte Darstellungen bieten etwa Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 100–201, und (ausführlicher) Holdenried: Autobiographie, S. 85–268, sowie dies.: Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im autobiographischen Roman. Heidelberg: Winter 1991, S. 16–315. Vgl. auch die weitgehend historische, bezogen auf die Gattungstheorie kritische Darstellung bei Oliver Sill: Zerbrochene Spiegel. Studien zur Theorie und Praxis modernen autobiographischen Erzählens. Berlin/New York: de Gruyter 1991, S. 1–155, ganz zu schweigen von groß angelegten Projekten wie demjenigen von Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. 4 Bde. in 8 Teilbänden. Leipzig: Teubner/ Frankfurt a.M.: Schulte-Bulmke 1907–1969.

22 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE

tungsentwicklung vor dem Hintergrund der Entstehung und Etablierung der Kategorien der Referenzialität, des Subjekts und der Authentizität angesprochen, bevor auf die im engeren Sinn theoretische Begründung der Gattung seit 1900 eingegangen wird. 1.1.1 Auffassungen autobiografischen Schreibens vor 1900 Die Autobiografie hat »glücklicherweise […] nicht erst darauf gewartet, daß ihr die Philosophen die Existenzberechtigung erteilen«,2 und also lassen sich natürlich – von einem modernen Standpunkt ausgehend und unabhängig von einer stärker theoretischen Beschäftigung mit diesem Gegenstand ab etwa 1900 – auch viel ältere Texte als der Rousseaus als Autobiografien lesen. Martina Wagner-Egelhaaf ist recht zu geben, wenn sie darauf hinweist, dass etwa die Humanisten im 14. und 15. Jahrhundert im Zusammenhang mit einem übergreifenden Programm der imitatio veteris, also des Nachvollzugs antiker Vorbilder, historische Quellen als Lebenszeugnisse antiker Persönlichkeiten untersuchten.3 Bereits in diesem Bemühen zeigt sich ein Interesse am Quellencharakter von historischen Selbstauskünften, das heißt, diese Texte werden im Hinblick darauf gelesen, inwiefern sie über konkrete Lebensereignisse referenziell Auskunft geben. Hinzu kommt jedoch ein zweiter Punkt: Von Interesse sind bereits in diesem spätmittelalterlichen Bemühen »bedeutende[ ] Persönlichkeiten«,4 es findet also schon hier eine Einschränkung auf die Autobiografik (vermeintlich) großer Männer statt, die sich in den folgenden Jahrhunderten nur mit großen Anstrengungen theoretisch wieder zurücknehmen oder zumindest relativieren ließ – auch vor dem Entstehen eines philosophischen Konzepts des Subjekts besteht also bereits eine besondere Betonung der persönlichen Leistungskraft und Relevanz derjenigen Instanz, die ihre Lebensgeschichte im autobiografischen Text avant la lettre niederlegt.5 Zu unterscheiden ist dieser Umgang

2 3

So Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 121. Vgl. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 18. – Zur Autobiografik des Humanismus vgl. die ausführliche, auch gattungstheoretisch bedachte und zeitlich über den Fokus bei Wagner-Egelhaaf hinausreichende Arbeit von Karl A.E. Enenkel: Die Erfindung des Menschen. Die Autobiografik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius. Berlin/New York: de Gruyter 2008.

4

Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 18.

5

Vgl. zu dieser Problematik und zu Versuchen einer Ergänzung des ›autobiografischen Kanons‹ die Anmerkungen bei Laura Marcus: Auto/biographical discourses. Theory, criticism, practice. Manchester/New York: Manchester University Press 1994, S. 56 f., 220; Holdenried: Autobiographie, S. 62–84 (»Autobiographik von Frauen – eine eigene

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| 23

mit den entsprechenden Texten von dem mit der ›modernen Autobiografik‹ insofern, als die Befassung mit derartigen Lebensbeschreibungen – wie erwähnt – nicht in erster Linie der Feier des Subjekts selbst dient, sondern in ein dieses übersteigendes Programm eingebettet ist, das die umfassende Orientierung an antiken Vorbildern in verschiedensten Bereichen des kulturellen Schaffens vorsieht. Die Personen, die hier in den Blick geraten, sind weniger an sich interessant, vielmehr als Exponenten der Antike und beispielsweise ihrer Glaubensvorstellungen, ihrer Staatsoder Baukunst bzw. ihrer Philosophie, die in Humanismus und Renaissance adaptiert werden.6 Ähnliches gilt – unter anderen Bedingungen – auch noch im 18. Jahrhundert. Weniger in theoretischer Hinsicht als im praktischen Vollzug haben quasiautobiografische Texte Hochkonjunktur im Kontext von Bekehrungs- und Bekenntnisschriften des Pietismus und der sich daraus entwickelnden Gelehrten- bzw. Berufsautobiografie. Der Bekenntnischarakter der Texte führt hier – wie unter veränderten Vorzeichen auch noch bei Rousseau zu beobachten ist – zu einer Betonung des Authentizitätsparadigmas, der in gewisser Weise die relative Einförmigkeit und starke intertextuelle Vorprägung der nach bestimmten sich etablierenden Schemata ausgerichteten Texte dieser Gattung entgegensteht: Der vermeintliche Ausdruck der tiefsten inneren Regungen erfolgt hier in immer denselben wiederkehrenden Formeln und Strukturen, die den Weg des Einzelnen zum tiefen Glauben schematisch nachvollziehbar werden lassen.7 In stärker literarisierender Form, sich aber von der übergreifenden theologischen Einbindung nicht lösend, schließt die Lebensgeschichte Johann Heinrich Jungs, genannt Jung-Stilling, hier an, die – nicht zuletzt aufgrund ihrer vom Autor nicht autorisierten Drucklegung durch den Studienkollegen Goethe und dessen Rezeption in Dichtung und Wahrheit – für die Gattungsge-

Geschichte?«), sowie Betty Bergland: Postmodernism and the Autobiographical Subject: Reconstructing the »Other«. In: Kathleen Ashley, Leigh Gilmore u. Gerald Peters (Hg.): Autobiography and Postmodernism. Amherst: University of Massachusetts Press 1994, S. 130–166. 6

Zur Autobiografik im 17. Jahrhundert, die einerseits von der Tendenz eines quantitativen Rückgangs aufgrund der politischen Krisen, andererseits aber auch vom Entstehen neuer Formen autobiografischen Schreibens von Autorinnen geprägt ist, vgl. Holdenried: Autobiographie, S. 118–126.

7

Vgl. Holdenried: Autobiographie, S. 127–130. – Für Roy Pascal handelt es sich bei den pietistischen Bekenntnistexten aufgrund dieser Orientierung an statischen Schemata sogar nicht einmal um Autobiografien im strengen Wortsinn, da ihnen aus seiner Sicht die Bezugnahme auf die das Ich prägende Umwelt fehle. Vgl. Roy Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1965, hier S. 20.

24 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE

schichte einige Relevanz entfaltet.8 Auch ein wichtiger anderer Text speist sich letztlich aus dieser Tradition, überschreitet sie aber in charakteristischer Hinsicht in Richtung einer stärker psychologisch, ja zuweilen pathologisch konkretisierten individuellen Entwicklung:9 Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser – wie auch Jungs Texte eigentlich ein Roman, der aufgrund der von Zeitgenossen enttarnten Verbindungen zum Leben des Autors in der Folge als verdeckte Autobiografie gelesen wurde10 und den Holdenried in zustimmungsfähiger Hochschätzung des Textes als »traditionsbildendes und literarische Maßstäbe setzendes Projekt«11 beschreibt. Vor allem geht Moritz mit seiner Darstellung im Zeichen der von ihm begründeten Disziplin einer »Erfahrungsseelenkunde«12 als einer frühen Psychologie neue Wege in

8

Zu dem Gesamtwerk, das diesen Titel erst nachträglich aus editorischen Gründen erhielt, gehören die Teile Heinrich Stillings Jugend (geschrieben um 1772, gedruckt 1777), Heinrich Stillings Jünglingsjahre, Heinrich Stillings Wanderschaft (beide 1778) sowie die später entstandenen Teile Heinrich Stillings häusliches Leben (1789) und Heinrich Stillings Lehrjahre (1804). – Der Autor Johann Heinrich Jung übernahm schließlich den Namen der von ihm verwendeten Rollenfigur Stilling in seinen persönlichen Namen.

9

Ein weiterer wichtiger Text, der diesen Weg bereits 1738 ein Stück weit beschreitet, ist die Eigene Lebensbeschreibung von Adam Bernd, die weit vor Moritz und Rousseau der Erörterung der eigenen Pathologien großen Raum gibt. – In diesem Kontext erwähnenswert ist auch die Selberlebensbeschreibung Jean Pauls, die – indes erst 1818/19 entstanden – in satirisch überspitzender Form auf die Konjunktur derartiger Texte Bezug nimmt.

10

Im Rahmen bestimmter autobiografietheoretischer Entwürfe, etwa demjenigen Lejeunes, wären beide Texte insofern nicht als Autobiografien zu bezeichnen, da sie den »autobiografischen Pakt« der Namensidentität zwischen Autor, Erzähler und Figur nicht einhalten. Vgl. hierzu unten, Kap. 1.2.

11

Holdenried: Autobiographie, S. 140. – Holdenried kommt zu der These, dass von Bernd, Jung-Stilling und Moritz eine alternative Traditionslinie ausgehe, die sich als pathografische, nicht von gelingender Identität her entwickelnde Form der Autobiografik gegen die von Goethes Dichtung und Wahrheit dominierte Linie stellen lasse. Auch wenn Holdenried in ihrer treffenden Einschätzung der Texte dieser Reihe zuzustimmen ist, scheint mir die Entgegensetzung zu Goethe auf einem in der Literaturwissenschaft tradierten ›Goethe-Vorurteil‹ zu beruhen, das so meines Erachtens nicht zutrifft. Vgl. hierzu Kap. 3.

12

Moritz gab zu diesem Zweck die erste psychologische Zeitschrift deutscher Sprache heraus, die vor allem hinsichtlich ihres Bemühens um eine empirische Erfassung psychopathologischer Fälle hervorzuheben ist: Gnothi Sauton oder Magazin zur Erfah-

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| 25

der Schilderung der inneren Entwicklung seines Helden, was, theoretisch betrachtet, einen wichtigen Schritt für die Hochschätzung eines (in sich nicht abgeschlossenen, problematisch bleibenden) Subjekts darstellt. Wagner-Egelhaaf verweist als weitere wichtige Etappe für die Theorieentwicklung im deutschsprachigen Raum auf Johann Gottfried Herders Rolle in der Unterstützung von Projekten der Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst (so der Titel einer Sammlung von Georg Müller, die 1791 erstmals erschien und die Herder mit »einleitenden Briefen« begleitete). Herders Einleitung, die zunächst von Zurückhaltung gegenüber derartigen Projekten geprägt ist, setzt sich mit dem Erscheinen von »Rousseau’s Confessionen« auseinander, die »Sensation erregt haben« und aus seiner Sicht in der Öffentlichkeit ihrer Beichte von einer falschen Tendenz der »Gaukelei« zeugen, die ihren Autor wie viele seiner Nachfolger und Vorgänger die »Krambude seines Herzens« öffnen lässt und ihn damit zu einem »selbstsüchtige[n] Heuchler« macht.13 Insofern betrachtet Herder den Trend zur Autobiografie eher kritisch als Anzeichen einer weit verbreiteten Eitelkeit, ja – sicherlich auch im Hinblick auf das zeitgenössische Textmaterial der pietistischen Bekenntnisliteratur – als Ausfluss »fromme[n] Wahnsinn[s]« und »gläubige[r] Phantasterei«: »man glaubt endlich zu sein, was der andre lange geglaubt, und uns überredet hat, daß wir wohl sein könnten; und so wird man mit bestochenem eigenem Gewissen vor Gott und Menschen ein eitler scheinheiliger Popanz«.14 Dem

rungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Hg. v. Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels u. Salomon Maimon. 10 Bde. 1783–1793. Digitale Edition. Hg. v. Sheila Dickson u. Christof Wingertszahn. Online unter: telota.bbaw.de/mze/ (23.04.2015). 13

Vgl. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 18. – Aus Müllers erster, von Herder begleiteter Sammlung entwickelte sich eine Reihe, die bis 1810 sechs Bände umfasste: Johann Georg Müller (Hg.): Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst. 6 Bde. Winterthur: Steiner 1791–1810. – Das Zitat vgl. Johann Gottfried Herder: Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst. Hg. v. Joh. Georg Müller, nebst einigen einleitenden Briefen v. Hrn. Vizepräsident Herder. In: ders.: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a.M.: Deutscher KlassikerVerlag 1998 (= ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Günter Arnold u.a., Bd. 8), S. 11– 28, hier S. 11 u. 15. Hervorhebung im Original. – In Bezug auf Rousseau kommt Herder schließlich zu einer Pathologisierung des Autors: Alles, was er an Anstößigem »darstellt und ausmalet«, sei »abermals mit nichts, als der Krankheit selbst [zu] entschuldigen«. »Die Anlage dazu, so wie zu manchem andern Fehler lag gewiß mit in seinem kränklichen Körper« (ebd., S. 24).

14

Herder: Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst, S. 15.

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Aufschwingen des sich selbst gestaltenden Subjekts in der Selbstdarstellung begegnet Herder also mit großer Skepsis, ebenso der Vorstellung authentischer Wiedergabe eigenen Fühlens, die sich hier als unkontrollierbare Mischung von Selbst- und Fremdbild wiedererkennen lässt – eine Reserve gegenüber diesem Moment des Autobiografischen, das er gleichwohl in einzelnen Fällen, etwa bei Augustinus und Petrarca, gelten lässt: Diese »Seelen von solcher Aufrichtigkeit«15 hätten vornehmlich im Sinne eines Zeugnisablegens sich selbst gegenüber geschrieben, nicht, wie Herders Zeitgenossen, mit Blick auf einen literarischen Markt und in einem anmaßenden Urteil über die eigene Person, das er als unmöglich klassifiziert.16 Während also die »Konfessionen« seiner Zeitgenossen aus Herders Sicht wenig Erbauliches für die Mitmenschen zu bieten haben und er diese Gattung letztlich verwirft, sind es die hiervon klar getrennt zu betrachtenden »Lebensbeschreibungen«, die er positiv bewertet: Ein Vater will hierin seinen Kindern, ein Bürger seinen Mitbürgern, ein Gelehrter oder Staatsmann »denen, die seines Berufs sind, ein Erbteil an seinem Leben hinterlassen«17 und gibt dabei (unter Auslassung zahlreicher persönlicher Details) ein »Vermächtnis der Sinnesart« und einen »Spiegel der Zeitumstände«. Somit wäre insgesamt eine Bibliothek derartiger Texte »gewiß ein vortrefflicher Beitrag zur Geschichte der Menschheit«, weshalb Herder letzten Endes das Projekt Müllers, zu dem er hier beiträgt, in dieser speziellen Form begrüßt.18 Deutlich wird, dass die moderne Autobiografie Rousseau’scher Prägung seine Sache nicht ist, sondern dass er die Lebensbeschreibung als historisch lehrreichen, auf Fakten basierenden Text ansieht, der, eingebunden in ein größeres Projekt, nämlich eine »Geschichte der Menschheit«, einen nützlichen Zweck erfüllt. Das Individuum ist dabei nicht als solches interessant, sondern als Beispiel, als besonderer (durchaus vorbildlicher) Fall, der eine allgemeine menschheitsgeschichtliche Entwicklung veranschaulichen hilft; prägend sind auch hier weiterhin die Be-

15

Herder: Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst, S. 16. – Interessant ist hierbei, dass Herder in Bezug auf Augustinus von dessen »ohnedem etwas langweiligen Konfessionen« spricht, die eben nicht dazu dienen könnten, dessen »Denkart« plastisch werden zu lassen: »Es erforderte ein ganzes Gemälde aus seinen Briefen, Handlungen, Konfessionen und andern Schriften.« (Ebd., S. 17.) Herder legt also hier theoretisch ein Autorbild zugrunde, das sich aus einer Vielzahl von Texten speist, unter denen die eigentlich autobiografischen gerade keinen privilegierten Status genießen.

16

Vgl. Herder: Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst, S. 21.

17

Herder: Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst, S. 26 f. Hervorhebungen im Original.

18

Herder: Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst, S. 27. Hervorhebungen im Original.

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deutung der Verfasser (vor einem spezifischen Hintergrund der Menschheitsgeschichte) und der Quellencharakter der Darstellung. Das Herder’sche Projekt hat somit im Angesicht des epochemachenden Beispiels Rousseaus einen diesem entgegengesetzten Impetus, indem es weiterhin auf die lehrreiche Einbindung des Einzelfalls in ein übergreifendes Programm Wert legt. Eine eigentliche Theorie der Gattung fehlt in all den genannten Fällen noch, wobei die umstandslose Annahme der Tatsache, dass ein bedeutender Mann über sich selbst und konkrete Ereignisse, an denen er beteiligt gewesen ist, schreibt, bereits eine einfache Gattungsdefinition zu implizieren scheint, der dann die Momente der Referenzialität und der eigenen Beteiligung am Geschilderten (und zunehmend auch eine stärkere Rolle des Subjekts) zugrunde liegen – eher strukturelle Aspekte also, deren Tragfähigkeit zum Teil bei Goethe (vgl. Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit), grundsätzlich aber erst in späteren Jahrhunderten infrage gestellt werden sollte (vgl. Kapitel 2). 1.1.2 Die Autobiografietheorie als Musterdisziplin der Geisteswissenschaften bei Dilthey und Misch Eigentlich gattungstheoretische Überlegungen zur Autobiografie finden sich dann in wirkmächtiger,19 von kritischen Kommentatoren gar als »schwere Hypothek – bis heute«20 bezeichneter Form einhergehend mit der Begründung der Geisteswissenschaften durch Wilhelm Dilthey an der Wende zum 20. Jahrhundert. Sein Konzept der »Selbstbiographie«, das im engen Konnex mit der geisteswissenschaftlichen Grundtätigkeit des Verstehens (und daher mit einer hermeneutischen Wissenschaftsausrichtung) entsteht, wird dabei flankiert von der historischen Bestandsaufnahme seines Schülers Georg Misch, dessen Lebenswerk sich seit der Jahrhundertwende einer achtbändigen, mehr als viertausendseitigen Geschichte der Autobiographie widmet.21 Misch bietet zunächst am Anfang des 1907 erschienenen ersten Bandes seiner Auswahl eine viel zitierte Minimaldefinition der »protëischen«

19

Vgl. zur Einschätzung der Dilthey’schen Theoriebildung als »focus which has come to largely dominate the critical field of autobiographystudies«: Marcus: Auto/biographical discourses, S. 148.

20 21

Holdenried: Autobiographie, S. 16. Misch: Geschichte der Autobiographie (1907–1969). – Zur komplexen Entstehungsgeschichte dieses Werks, dessen spätere Bände posthum erschienen sind, aber zum Teil auf Vorarbeiten um die Jahrhundertwende zurückgehen, vgl. das Vorwort von Gerhard Schulte-Bulmke im letzten Teilband: Misch: Geschichte der Autobiographie, Bd. IV/2 (1969), S. 561–563.

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und also schwer zu fassenden Gattung, die die Autobiografie bestimmt durch »Erläuterung dessen, was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)«22 – eine rein deskriptive Definition, die, wie Misch selbst formuliert, »nur zur Klarheit und Bestimmtheit des Begriffs [erhebt], was durch die Geschichte der Literatur als eine natürliche, menschliche, vielleicht allzumenschliche Erscheinung hindurchgeht«.23 Aufgrund dieser Vorannahme verfolgt er das sehr weite Feld der hierunter subsumierbaren Texte dann von der Antike bis in seine Gegenwart. Einen wesentlich markanteren und auch einflussreicheren theoretischen Überbau erhält die Autobiografie in der Perspektive Wilhelm Diltheys. Diltheys Überlegungen zum Zusammenhang von »Erleben« und »Selbstbiographie« sind eingebettet in sein über Jahre hinweg verfolgtes Projekt des Aufbaus der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften.24 Sein Begriff der Geisteswissenschaften, an dem letztlich bis heute hinsichtlich seiner institutionellen Bindekraft festgehalten wird, basiert auf der Grundannahme, dass deren Gegenstand – »Menschheit oder menschlich-gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit«25 –, anders als die Gegenstände der Naturwissenschaft (zu denen auch die physische Seite des Menschen gehört), nicht durch Gesetze erklärbar ist, sondern durch den Prozess des Verstehens erschlossen werden muss, der darauf ausgerichtet ist, menschliche Erlebnisse, in denen sich physische und psychische Momente in untrennbarer Verbindung26 und

22

Misch: Geschichte der Autobiographie, Bd. 1 (31949, zuerst: 1907), S. 7. Hervorhebungen im Original.

23

Misch: Geschichte der Autobiographie, Bd. 1 (31949, zuerst: 1907), S. 8.

24

Diltheys Aufsatz dieses Titels erschien erstmals 1910 in den Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, ein Jahr vor Diltheys Tod. Die Erörterungen zur Autobiografie entstammen Diltheys seit 1906 entstandenen Entwürfen zur Fortsetzung dieses Projekts als einer »Kritik der historischen Vernunft« und wurden 1927 aus dem Nachlass herausgegeben, was eine bestimmte philologische Zurückhaltung impliziert, die gleichwohl der Wirkmächtigkeit seiner Theorie, deren Grundlagen Dilthey in seinen Hauptwerken gelegt hatte, keinen Abbruch tat. Die Texte liegen gesammelt vor als: Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Einleitung v. Manfred Riedel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, zur Textgeschichte vgl. ebd., S. 81 f.

25 26

Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 91. Die Untrennbarkeit von Physis und Psyche im Erleben ist der Grund für eine kritische Auseinandersetzung Diltheys mit dem Subjektbegriff von Descartes, der im Subjekt eine der Erfahrung vorgängige Instanz sieht, was Dilthey als sekundäre Formulierung

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im Ablauf der Zeit konstituieren, nachzuvollziehen und ihren Sinn zu erschließen.27 Für Diltheys Vorstellung des hermeneutischen Zugriffs auf die menschlichen Erlebnisse und die aus ihnen resultierenden kulturellen Produkte, die »Ausdruck« solcher Erlebnisse sind, ist die Annahme charakteristisch, dass diese »immer, wie der Mensch selbst, den Bezug einer äußeren sinnlichen Seite auf eine den Sinnen entzogene und darum innere«28 enthalten, die er im idealistischen Anschluss an Hegel als den »Geist« bezeichnet, den der Prozess des Verstehens sichtbar werden lässt. Das »Doppelverhältnis von Erleben und Verstehen« markiert die besondere Stellung der Geistes- gegenüber den (rein logisch-argumentativ, nach Gesetzen verfahrenden) Naturwissenschaften, was Dilthey folgendermaßen ausführt: »Kurz, es ist der Vorgang des Verstehens, durch den Leben über sich selbst in seinen Tiefen aufgeklärt wird, und andererseits verstehen wir uns selber und andere nur, indem wir unser erlebtes Leben hineintragen in jede Art von Ausdruck eigenen und fremden Lebens.«29 Wie die lebensphilosophische Akzentuierung hier bereits nahelegt, ist eine der zentralen Grundannahmen von Diltheys Konzept der Geisteswissenschaften ein starkes Subjekt, das neben den logischen Potenzen, die es aus der Philosophie Kants mitbringt,30 in noch einer weiteren Hinsicht große Relevanz hat: Anders als bei Kant – so Diltheys Grundthese in seinem Entwurf einer über Kant hinausgehenden »Kritik der historischen Vernunft«, also des zweiten Teils seiner Grundlegung der Geisteswissenschaften – ist durch die Bedeutung, die dem Erlebnis als Grundlage der Geisteswissenschaften zukommt, das Verstehen stets mit einem historischen Index versehen, der als subjektives Durchleben eines Ereignisses zum Tragen kommt: Im Erlebnis »wird die Zeit erfahren als das rastlose Vorrücken der Gegenwart, in welchem das Gegenwärtige immerfort Vergangenheit wird und das Zukünftige Ge-

einstuft, zu der das Ich erst in der theoretischen Distanznahme von der Erfahrung gelangen kann. 27

Vgl. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften,

28

Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 95.

29

Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 99.

S. 89–94.

30

In dieser Hinsicht ist das Subjekt der Ort, an dem überhaupt erst die Welt, die die Geisteswissenschaften in den Blick nehmen, entsteht; Dilthey deutet in diesem Kontext das Problem an, »wie der Aufbau der geistigen Welt im Subjekt ein Wissen der geistigen Wirklichkeit möglich mache«, auf das er mit seiner »Kritik der historischen Vernunft« reagieren will. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 235. Vgl. zur Problematisierung dieses Anspruchs Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 20.

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genwart«.31 Da Zeitlichkeit aus Diltheys Sicht in ihrem Vollzug »im strengen Sinn« nicht »erlebbar« ist, kommt dem verstehenden Subjekt insofern eine besonders große Rolle zu, als es diejenige Instanz ist, die die Gesamtheit des historischen Ablaufs überhaupt nur zusammenhält.32 Dilthey schreibt: »Der Lebensverlauf besteht aus Teilen, besteht aus Erlebnissen, die in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen. Jedes einzelne Erlebnis ist auf ein Selbst bezogen, dessen Teil es ist; es ist durch die Struktur mit anderen Teilen zu einem Zusammenhang verbunden.«33 Das Subjekt ist also in diesem Konstrukt diejenige Instanz, die nicht nur für Verstehen und Wahrnehmung an sich zuständig ist, sondern darüber hinaus auch den historischen Zusammenhang konstituiert, der für die Geisteswissenschaften und die mit ihnen verbundene Dreiheit von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen charakteristisch ist. Die Dilthey’sche Begründung der Geisteswissenschaften stellt sich damit als Philosophie dar, die eine Aufwertung des Subjekts noch über dessen erkenntnistheoretische Stellung bei Descartes oder Kant hinaus betreibt, indem sie ihm die Verankerung der Historizität einschreibt. Angesichts dieser Hochschätzung des Erlebnisses und des historisch verstehenden Subjekts in Diltheys Konzeption erstaunt es nicht, wenn er der Autobiografie einen nicht zu überschätzenden Stellenwert zuweist. In aller Klarheit formuliert er: »Die Selbstbiographie ist die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt«, denn sie garantiert eine »besondere Intimität des Verstehens«, weil derjenige, der sich hier verstehend zu seinem eigenen Leben verhält, auch gleichzeitig der ist, der es »hervorgebracht« hat34 – Erleben, Ausdruck und Verstehen, die drei Momente der geisteswissenschaftlichen Tätigkeit, fallen hier in einem Punkt zusammen, nämlich dem erlebenden, sich ausdrückenden und seinem Leben verstehend einen Sinn gebenden Subjekt.35 Unter den verschiedenen Äußerungsmodi der Geisteswissenschaften, so kann man Dilthey

31

Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 237.

32

Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 238.

33

Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 240.

34

Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 246.

35

Insofern bleibt z.B. ein Theorieentwurf wie der von Janet Varner Gunn, der sich zum Ziel setzt, einen Blickrichtungswechsel vom »private act of a self writing« hin zum »cultural act of a self reading« vorzunehmen, genau in dieser Tradition Diltheys, für den beide Akte in der Autobiografie untrennbar miteinander verbunden sind. Das versprochene Innovationspotenzial, »an answer, even an alternative, to classical autobiography theory« darzustellen, kann auf diesem Wege nicht realisiert werden. Janet Varner Gunn: Autobiography. Toward a poetics of experience. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1982, hier S. 8.

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hier (angelehnt an die Positionierung der Mathematik im Reich der Naturwissenschaften durch Gauß) deuten, ist die Autobiografie genau aufgrund dieses Zusammenfallens von Erleben und Verstehen im Ausdruck des Subjekts die Königin. Die hermeneutische Tätigkeit, einzelne Erlebnisse im übergreifenden historischen Zusammenhang zu begreifen und ihnen somit Sinn zu geben, lässt sich in dieser Form der Auseinandersetzung besonders treffend und mit möglichst geringen Verlusten vollziehen, da, wie Dilthey formuliert, die »Aufgaben für die Auffassung und Darstellung geschichtlichen Zusammenhangs hier schon durch das Leben selbst halb gelöst«36 sind, wenn sich der Autobiograf aus einer gesicherten Position im fortgeschrittenen Leben heraus auf dieses rückbesinnt und nicht nur den (anfänglichen) »Lebensplan«,37 sondern auch dessen rückblickend zu konstituierenden »Lebensverlauf«38 in Rechnung stellen kann. Diltheys Theorie legt dabei weniger als die zunächst aufkommenden Verwendungsweisen autobiografischen Schrifttums in der Renaissance bzw. dem Humanismus (und in späteren Zeiten) den Akzent auf konkrete biografische Daten, sondern fasst diese unter einer übergreifenden Bedeutungszuschreibung auf, die aus der Gesamtheit der Erlebnisse einzelne isoliert, sodass die Autobiografie »nicht ein einfaches Abbild des realen Lebensverlaufs so vieler Jahre sein kann, der es auch nicht sein will, weil es sich eben um ein Verstehen handelt, der aber doch das ausspricht, was ein individuelles Leben selber von dem Zusammenhang in ihm weiß«.39 Von einer Formulierung wie dieser aus – die

36

Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 246.

37

Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 246. – Einen ex post in der Autobiografie deutlich werdenden »Lebensplan« nimmt Bernd Neumann als konstitutives Merkmal der Gattung in ihrer klassischen Ausprägung wahr. Vgl. Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt a.M.: Athenäum 1970.

38

Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 247. – Für die Autobiografie gilt also gegenüber anderen Gegenständen des Verstehens gerade das am wenigsten, was Wagner-Egelhaaf als Problem der Hermeneutik identifiziert, nämlich dass diese »den Sinn immer enger einkreist, allerdings ohne sich dieses Sinnes in letzter Gewissheit sicher sein zu können« (Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 20): Diltheys (seinerseits sicherlich problematischer) Optimismus, »Sinn« tatsächlich erfassen zu können, ist nirgendwo so groß wie in seiner Beschreibung der Autobiografie.

39

Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 247. – Dilthey argumentiert hier vor dem Hintergrund der Beispiele Augustinus, Rousseau und Goethe, in deren Autobiografien er jeweils konkrete Sinnzuschreibungen aufweist, die dieses Verfahren beglaubigen sollen. Vgl. ebd., S. 244–246. Goethe erscheint dabei als teleologischer Zielpunkt des Potenzials der Autobiografie, worauf an späterer Stelle

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man durchaus als etwas vage bezeichnen kann – ist der Weg vorgezeichnet zu einer Kategorie wie derjenigen der Authentizität als einer Form der Darstellung, die vielleicht nicht bis ins letzte Detail referenzielle Faktentreue verbürgt – und damit Momente der ästhetischen Gestaltung stärker würdigt40 –, aber die eigene Auffassung des Lebens in unverfälschter Form zu präsentieren strebt; ein Zusammenhang, der hier auch in der Formulierung anklingt, wenn die Rede davon ist, was der autobiografische Text »sein will«. 1.1.3 Die Stärkung von Subjektivität und Authentizität als Konstituenten der Autobiografie bei Gusdorf und Pascal Während Wilhelm Diltheys Anspruch, in der Autobiografie die allgemein menschliche Fähigkeit zum Verstehen in ihrer reinsten Form verankert zu finden, die Gattung gleich in ihrer ersten wirksamen theoretischen Fassung auf ein Podest stellt, relativiert der französische Theoretiker Georges Gusdorf Diltheys These insofern, als er darauf verweist, dass dieser Typus der Autobiografie, wie er der von Dilthey in den Blick genommenen Tradition zugrunde liegt, »nicht« auf ein »generelle[s] Bedürfnis« reagiere: »Es zeigt sich erst seit ein paar Jahrhunderten und nur auf einem kleinen Teil der Weltkarte.«41 Die moderne Autobiografik erfährt hierdurch ei-

eingegangen werden soll (vgl. Kap. 3). – Auch die Arbeit Holdenrieds bleibt letztlich dieser Dilthey’schen Perspektive des Verstehens verhaftet, wenn sie »die Verfälschung des Faktischen […] als notwendige Bedingung eines weitreichenderen Zugriffs aufs Leben« postuliert und die Wahrheit der Autobiografie in der »Transzendierung des Tatsächlichen in den Modus ästhetisch konkretisierter Utopie« verortet. Holdenried: Im Spiegel ein anderer, S. 94. Auch ihr Entwurf weist schließlich in Richtung des Authentizitäts- und Inszenierungsparadigmas. Vgl. ebd., S. 174–207. 40

Vgl. die Formulierung bei Holdenried: Autobiographie, S. 16: »Aus dem fließenden Lebensstrom müssen einzelne Erlebniseinheiten herausgenommen und zur Sinn-Einheit des gelebten Lebens zusammengeschmolzen werden. Dazu bedarf es der ästhetischen Gestaltung.«

41

Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 122. – Pascal folgt Gusdorf in dieser Einschätzung, wenn er die Autobiografie als »typisches Erzeugnis abendländischer, nachrömischer Kultur« beschreibt. Pascal: Die Autobiographie, S. 209. – In seiner historisierend-psychologisierenden Darstellung folgt auch Neumann dieser These und arbeitet heraus, welche historischen Etappen zur Autobiografie als Schrift des Subjekts führen, die »die endlich errungene, festumrissene Identität des Autobiographen« schildere. Vgl. Neumann: Identität und Rollenzwang, S. 94. – Auch neue Forschungsergebnisse bestätigen diese Bindung der Autobiografie an die europäische

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ne Historisierung und eine kulturelle Einordnung, die dem auf das allgemeine Verstehen gerichteten Denken Diltheys fremd ist: Sie basiert, so Gusdorf, auf der »Schaffung bestimmter metaphysischer Voraussetzungen«, und zwar vor allem der Erkenntnis eines geschichtlichen Ablaufs (statt der Annahme einer ewigen Wiederkehr des Gleichen bzw. der Unwandelbarkeit der Lebensbedingungen) sowie der Annahme, jedem Menschen komme ein »autonomes Schicksal« zu: »Jeder Mensch ist für die Welt von Bedeutung, jedes Leben und jeder Tod; das Zeugnis jedes einzelnen über sich selbst ist eine Bereicherung für das gemeinsame kulturelle Erbe.«42 Während diese beiden Elemente seiner Theorie zufolge zunächst der Biografie zum Durchbruch verhelfen, ist es ab Mitte des 18. Jahrhunderts das Interesse am »Privaten«, das nun dazu führt, dass in einer Art Umkehr des Blicks nicht nur der im sozialen Außen angesehene Bürger Montaigne sich autobiografisch äußern kann, sondern beispielsweise auch der »literarische[ ] Abenteurer« Rousseau sein Inneres vor den Lesern ausbreitet.43 Während Gusdorf also, anders als Dilthey, den kulturellen und historischen Differenzen Rechnung trägt, schließt er in seiner Formulierung des »Sinns« der Autobiografie dicht an ihn an,44 und zwar in charakteristischer Zuspitzung auf den über das Material seines Lebens selbstständig verfügenden Autor: Der Verfasser einer Autobiographie stellt sich die Aufgabe, seine eigene Geschichte zu erzählen; es geht ihm darum, die verstreuten Elemente seines persönlichen Lebens zu sammeln und sie in einer Gesamtskizze geordnet darzustellen. Der [Autobiograph …] bemüht sich […] um eine ganzheitliche und zusammenhängende Darstellung seines gesamten Lebens.45

Hier kommt der Dilthey’sche Sinn-Anspruch der Autobiografie zum Tragen, deren Zusammenhang vom Autobiografen sowohl verstehend selbst hergestellt als auch sich ausdrückend nachvollzogen wird.46 Gusdorf gibt sich zum einen deskriptiv,

Moderne und ihre Gedankenwelt. Vgl. hierzu etwa Peter Alheit u. Morten Brandt: Autobiographie und ästhetische Erfahrung. Entdeckung und Wandel des Selbst in der Moderne. Frankfurt a.M./New York: Campus 2006, hier S. 11. 42

Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 124.

43

Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 125.

44

Gegen Ende seines Textes macht Gusdorf seine Ausrichtung an Dilthey explizit, wenn er unterstellt, dass Dilthey »genau das«, was er, Gusdorf, ausgeführt habe, mit seiner Positionierung der Autobiografie im Rahmen der Geisteswissenschaften habe ausdrücken wollen. Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 142.

45

Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 130.

46

Insofern suspendiert die Autobiografie in dieser Optik bereits einen strengen Referenzialitätsanspruch, sie muss notwendigerweise immer »entstellt« von der Vergangenheit

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wenn er darauf hinweist, dass es sich bei dem Vorgang, dem Leben in der Autobiografie rückblickend einen Sinn zu verleihen, um eine unausweichliche »Erbsünde«47 handelt, die in allen autobiografischen Äußerungen zu beobachten sei, stärkt aber zum anderen die Intention des Autors: Er ist es, der ein Vorhaben geordnet umsetzt und sein Leben und dessen Daten in einer auf eine »bewußte[ ] Entscheidung«48 gegründeten Auswahl zum Material nimmt – ein starker Begriff von Subjekt und Autorschaft, der bei Dilthey vorbereitet wird, aber hier noch klarer greifbar wird. Der Autor der Autobiografie wird für Gusdorf zur letzten, richtenden Instanz: Hingegen weiß niemand besser, was ich geglaubt und was ich gewollt habe; wenn es um mich geht, besitze ich allein das Privileg, auf der anderen Seite des Spiegels zu stehen, ohne daß man den Schutzwall des Privatlebens vor mir aufrichten könnte. […] Niemand vermag sich besser gerecht zu werden als der Betroffene selbst […].49

Durch diese Formulierung wird die Autobiografie nicht nur (wie bei Dilthey) zur erkenntnistheoretisch grundlegenden Form erhoben, sondern sie erscheint auch als gegen jede Kritik von außen imprägniert: Wenn der Autobiograf per definitionem stets das letzte Wort hat, ist eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Text praktisch überflüssig, ist er doch der Einzige, der sich selbst wirklich gerecht werden kann. In diesem ›Gerechtwerden‹ steckt aus Gusdorfs Sicht eine Relativierung der Relevanz der Referenzialität: Das, was sich (etwa in einer die eigene Rolle schönenden politischen Memoirenliteratur) aufgrund anderer Datenquellen als falsch erweisen lässt, ist eben falsch – in der modernen Autobiografie, die ihrerseits nicht mehr in erster Linie auf das Außen der Faktenwelt, sondern auf das Innen der »Geschichte einer Seele«50 zielt, kommt es hierauf jedoch nicht mehr an, sondern es geht statt der »Wahrheit der Fakten« um eine »Wahrheit des Menschen«,51 die sich

sprechen, da es sich um eine Rekonstruktion in bestimmter Absicht handelt. Vgl. Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 134. 47

Vgl. Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 138.

48

Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 139.

49

Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 131. – Zur hier verwendeten Metapher des Spiegels, die bei Gusdorf mit Jacques Lacans Begriff des »Spiegelstadiums« assoziiert und also an eine spezifische psychoanalytische Theoriebildung gebunden ist, aber in der Autobiografietheorie auch bei Goethe einen markanten Vorläufer hat, vgl. Kap. 3. Zu Lacan vgl. die Auseinandersetzung mit der ebenfalls in dieser Tradition stehenden Theoriebildung Julia Kristevas in Kap. 2.3.

50

Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 132.

51

Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 140.

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»vom Inneren des persönlichen Lebens her ausdrückt«.52 Peter Bürger hat gezeigt, dass sich diese Wahrheitsvorstellung, die sich mit Gusdorf und Pascal zum Gattungsmaßstab erhebt, aus Rousseaus Bekenntnissen ableitet.53 Für sie kommt es letztlich nur auf die Identität zwischen auktorialem Empfinden und Ausdruck an, mit einem Wort: auf die ›Authentizität‹ des Geschilderten, die von außen her (oder von Leserseite) grundsätzlich aufgrund des privilegierten Status des Autobiografen nicht anzuzweifeln ist (weshalb Gusdorf als Endzweck einer jeden Autobiografie in Anerkennung einer unangetasteten Autorintention die »eigene Apologie«,54 ja die »Theodizee des persönlichen Wesens«55 postuliert). Die Autobiografie ist aus Gusdorfs Sicht mit diesem Anspruch der Authentizität weniger »Dokument« als »Kunstwerk« und insofern »Projektion des Innenlebens in die Außenwelt«56 – eine gedankliche Konstruktion, die, wie leicht zu erkennen ist, von einem vorgängigen, in sich ruhenden Bewusstsein des starken Autorsubjekts ausgeht, das sich in der Darstellung seiner Lebenszusammenhänge nicht immer faktengetreu, aber eben authentisch ausdrückt.57

52

Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 133. An anderer Stelle variiert Gusdorf diese Formulierung und spricht von der »neue[n] und tiefere[n] Auffassung von der Wahrheit als Ausdruck des inneren Wesens« (ebd., S. 142). – In dieser Vorstellung von der Wahrheit schlägt sich offensichtlich eine existenzialistische Deutung von Martin Heideggers Wahrheitsbegriff nieder, der in Sein und Zeit eine Differenzierung zwischen einer sekundären (als »Apophansis« bezeichneten) Faktenwahrheit, um die es etwa der positivistischen Wissenschaft geht, und einer ›eigentlichen‹, ›entdeckenden‹ und dieser gegenüber grundlegenden Wahrheit der Existenz einführt. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer

18

2001, hier v. a. § 44,

S. 212–230. 53

Bürger stellt fest, dass für Rousseau »die Suche nach der Wahrheit nicht in erster Linie ein erkenntnistheoretisches, sondern ein existenzielles Problem« sei, was auf die Anknüpfung der philosophischen Gedankenwelt des Existenzialismus an das Denken Rousseaus anspielt. Peter Bürger: Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 99.

54

Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 135.

55

Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 136.

56

Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 141.

57

In der Schlusspassage seines Aufsatzes weitet Gusdorf die Perspektive und kommt dann zu dem Schluss, dass das, was er für die Autobiografie postuliert habe, eigentlich für sämtliche Werke eines Autors gelte: Neben der Autobiografie selbst sei »das Gesamtwerk des Künstlers, das denselben Stoff in aller Freiheit und unter dem Deckmantel des Inkognito noch einmal aufgreift«, nichts anderes als die andere der »zwei Instanzen«

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Die in den 1960er-Jahren im angloamerikanischen und seit ihrer Übersetzung 1965 auch im deutschsprachigen Raum einflussreiche Autobiografietheorie Roy Pascals schließt an diese beiden Punkte an. Bereits in der Eingangspassage seines Buchs, das im Original den charakteristischen Titel Design and Truth in Autobiography trägt und also bei der Frage des Wahrheitsbegriffs ansetzt, den Gusdorf für die Autobiografie bereits in einer spezifisch neuen Form auf die persönliche Wahrheit der Authentizität enggeführt hatte, schreibt Pascal, dass Autobiografen, »selbst wenn das, was sie uns mitteilen, nicht buchstäblich, selbst wenn es nur zum Teil wahr ist«, doch immer einen »wahre[n] Ausdruck ihrer Persönlichkeit« lieferten.58 Pascal geht sogar so weit, in der »Geschichte der Autobiographie […] die Vorgeschichte des Existenzialismus« zu erkennen, in dem »die Verantwortung des Menschen sich selbst gegenüber die Aufgabe seines Lebens« darstelle »und wo das ›Eigentliche‹, das authentische Sein, Ausgang und Ziel« sei; die Autobiografie liefere in ihrer Betonung des Ausdrucks eines persönlichen, individuellen Standpunktes im Rahmen authentischer Selbstdarstellung gewissermaßen den materialen Boden, auf dem die Theorieentwürfe von Heidegger bis Sartre entstehen konnten.59 Pascals Definition der Autobiografie spiegelt dies vor allem in ihrer Betonung der Annahme wider, dass ein konkreter Konstruktionsakt des Autors durch die Anwendung be-

der Autobiografie (Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 144) – eine gewagte These, die angesichts der starken Bindung der Autobiografie an die Autorintention aber wohl nicht überraschend kommt. – Einen wortgewaltigen Unterstützer aus dem Bereich der postmodernen Theoriebildung findet diese These in gewisser Hinsicht in Paul de Man, der – ohne im gleichen Maße auf die Intentionalität zu vertrauen – aus Lesersicht formuliert: »Autobiographie ist damit keine Gattung oder Textsorte, sondern eine Lese- oder Verstehensfigur, die in gewissem Maße in allen Texten auftritt. […] Das heißt aber nichts anderes, als daß jedes Buch mit einem lesbaren Titelblatt in gewisser Hinsicht autobiographisch ist.« Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel [1979]. In: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hg. v. Christoph Menke. Aus dem Amerik. v. Jürgen Blasius. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 131–146, hier S. 134. Hieran schließt der Autofiktionsbegriff in der Fassung von Vincent Colonna an. Vgl. dazu Vincent Colonna: Autofictions et autres mythomanies littéraires. Auch: Tristram 2004. 58

Pascal: Die Autobiographie, S. 11 (im Original: ders.: Design and Truth in Autobiography. Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1960). – Hier wird auf Grundlage der deutschen Übersetzung gearbeitet, für die Pascal sein Buch im Hinblick auf die gewählten Beispiele, jedoch nicht hinsichtlich der Thesenbildung überarbeitet hat (vgl. ebd., S. 6).

59

Vgl. Pascal: Die Autobiographie, S. 211. Hervorhebung im Original.

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stimmter Muster für Kohärenz sorge.60 Zudem ist hier die existenzialistische Grundvorstellung Heideggers gut erkennbar, dass das menschliche Leben vorwiegend vom In-der-Welt-Sein her, also ausgehend von seiner Einbindung in konkrete soziale und praktische Zusammenhänge, zu verstehen sei (eine Vorstellung, die eine markante Weiterentwicklung des Dilthey’schen Erlebnisbegriffs darstellt): [Die Autobiografie] verlangt die Rekonstruktion des Ablaufs eines Lebens bzw. eines Lebensabschnitts in den Bedingungen und Umständen, unter denen es gelebt wurde. Sein Interessenmittelpunkt ist das Ich, nicht die Außenwelt […]. [Autobiografie ist] Formung der Vergangenheit […]. Sie legt einem Leben ein Muster (»pattern«) unter, konstruiert aus ihm eine kohärente Geschichte. […] Diese Kohärenz verlangt, daß der Schreiber einen besonderen Standpunkt bezieht, und zwar den Standpunkt des Augenblicks, in dem er sein Leben wiedergibt und von dem aus er sein Leben interpretiert […], [der] ihn befähigt, sein Leben als eine Art Einheit zu sehen, als etwas, das auf eine Ordnung zurückgeführt werden kann.61

Die Aufwertung von Authentizität und Autorschaft geht hier – wie bei Gusdorf und letztlich auch bei Dilthey – einher mit einer Relativierung des Referenzanspruchs,62 sodass die Bedeutung der Autobiografie »in Wirklichkeit mehr in der Enthüllung der gegenwärtigen Situation als in der Entschleierung der Vergangenheit«63 liegt, wobei unter der »gegenwärtigen Situation« hier der »gewählte[ ] Standpunkt«64 des Autors verstanden wird, der über die Qualität der Autobiografie entscheidet: »Der

60

Historisch gedeutet wird diese Struktur in dem autobiografietheoretischen Konzept von Carola Hilmes, die die »literarische Moderne als Integrationseinheit von Autobiographie und Poesie« wahrnimmt, weshalb aus ihrer Sicht »die Dichtung und Wahrheit verbindende Kraft […] die Subjektivität selbst« sei. Hierin zeigt sich eine Aufwertung der Subjektivität und der auktorialen Intentionen für die Autobiografie, die dazu führt, dass das Konzept letztlich mit subjekt- und intentionalitätskritischen Positionen nicht vereinbar ist. Carola Hilmes: Das inventarische und das inventorische Ich. Grenzfälle des Autobiographischen. Heidelberg: Winter 2000, hier S. 13.

61 62

Pascal: Die Autobiographie, S. 20. In aller Entschiedenheit drückt Pascal dies in dem Abschlusskapitel seines Buchs aus: »Ich kann jedoch nicht glauben, daß Information dieser Art […] den Ansprüchen einer Autobiographie genügt. Es ist sicher unmöglich, Autobiographien unter diesem Gesichtspunkt zu besprechen. […] Als historische Dokumente müssen sie mit größter Skepsis studiert und geprüft werden.« Pascal: Die Autobiographie, S. 208 f.

63

Pascal: Die Autobiographie, S. 23.

64

Pascal: Die Autobiographie, S. 22.

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Wert einer Autobiographie hängt letztlich von der Geistesart des Autors ab.«65 Die Autobiografie erhält so einen charakteristischen Zwischenstatus zwischen Referenzialität und authentischem Ausdruck des Autors von seinem aktuellen Standpunkt aus,66 zwischen denen im Schreibakt eine »Balance« hergestellt werden muss.67 Der in früheren Zeiten gemachten »Erfahrung« wird dabei nun eine »Bedeutung« zugeschrieben, die sie zum Zeitpunkt des Erlebens noch nicht haben konnte, wobei die ex post gefundene Bedeutung Pascal zufolge das »entscheidende Element« einer jeden Autobiografie ist.68 Die – vor allem im Hinblick auf den Wahrheitsbegriff – von bestimmten Momenten des philosophischen Existenzialismus geprägten Theorieentwürfe Gusdorfs und Pascals markieren eine wichtige Station in der Geschichte der Autobiografietheorie, da in ihnen deutlich wird, inwiefern auch in einem sich verändernden theoretischen Umfeld den Leitlinien der Dilthey’schen Hermeneutik weiterhin volle Geltung zugesprochen wird. Bedeutungs- bzw. Sinnzuschreibung, Konzentration auf das historisch gewordene, den zeitlichen Zusammenhang verbürgende Subjekt69

65 66

Pascal: Die Autobiographie, S. 32. Vgl. auch das (problematische) Anknüpfen an diese intentionale Gegenwartsbezogenheit der Autobiografie bei Hilmes: Das inventarische und das inventorische Ich, S. 15.

67

Dieser Linie bleibt letztlich auch die Arbeit von Oliver Sill verhaftet, wenn sie »das autobiographische Werk als eine Modellierung des Autor-Ichs und der von ihm erlebten historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit« versteht. Der Verweis auf das ›Erleben‹ verdeutlicht hier, dass Sills Theoriebildung – anders, als es ihr Anspruch ist – den intentionalistisch-hermeneutischen Paradigmen der Gattungstheorie nicht entkommt. Für die Analysen Sills, die gattungstheoretische Überlegungen (zugunsten der Textanalyse) letztlich völlig hinter sich lassen und den größeren Teil seines Buches bilden, stellt sich dieser Bezug jedoch nicht als großes Problem dar, auch wenn er die autobiografietheoretischen Entwicklungen schon ab Lejeune (ganz zu schweigen von der poststrukturalistischen Theoriebildung) nicht zur Kenntnis nimmt. Sill: Zerbrochene Spiegel, S. 42. Hervorhebung im Original.

68 69

Vgl. Pascal: Die Autobiographie, S. 29. Hierauf weist in ihrem knappen, aber instruktiven Überblick über die Geschichte der Autobiografietheorie auch Claudia Gronemann hin, die die Tradition, in der Gusdorf und Pascal stehen, folgendermaßen charakterisiert: »All jene Begründungen führen letztlich immer wieder zum Entwurf eines Diskurses, den das Subjekt – in welcher Form auch immer – kontrollieren kann. Sie rekurrieren auf die traditionelle Vorstellung von Subjektivität«. Claudia Gronemann: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Literatur. Autofiction –

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und schließlich die Etablierung einer individuellen Wahrheit der Existenz bzw. der Persönlichkeit sind wichtige Momente, die den autobiografietheoretischen Diskurs in der Folgezeit prägen.70 Interessant ist vor allem im Hinblick auf die einflussreichste Weiterentwicklung der Autobiografietheorie in den nachfolgenden Jahrzehnten – die Konzeption Philippe Lejeunes –, dass schon Gusdorf und Pascal (anschließend an Dilthey bzw. Heidegger) das Moment der Referenzialität relativ stark einschränken: Indem sie den Bezugsrahmen von einer Orientierung an der Wahrheit der in Autobiografien dargestellten Fakten zu einer Wahrheit des authentischen Ausdrucks wechseln, schaffen sie gleichzeitig Raum für die ästhetische Gestaltung des autobiografischen Textes durch den von ihnen als zentrale, prägende Instanz angesehenen Autor und dessen konkrete, von einem Standpunkt der rückblickenden Übersicht aus gewonnene Intentionen hinsichtlich der Sinngebung. Die von ihnen vorgelegten Konzepte werden mit der Infragestellung des Subjekts vor einem poststrukturalistischen Hintergrund kritikabel; von der sich an Lejeune entzündenden Kritik an dessen zu einfach gedachter Vorstellung der Referenz sind diese Konzeptionen jedoch weniger tangiert.

Nouvelle Autobiographie – Double Autobiographie – Aventure du Texte. Hildesheim u.a.: Olms 2002, S. 21–29, hier S. 23. 70

Breitenwirksam wird dies beispielsweise in der Theorie von Paul John Eakin weitergeführt, die darauf abzielt, »the state of mind that motivates autobiographical discourse« in den Blick zu nehmen und den Begriff der »Self-Invention« hierfür findet. Hieran schließt wiederum das Paradigma der Inszenierung an, auf das in Kap. 1.3 noch genauer eingegangen wird. Paul John Eakin: Fictions in Autobiography. Studies in the Art of Self-Invention. Princeton: Princeton University Press 1985, hier S. 3 u. Kap. 4: »SelfInvention in Autobiography: The Moment of Language«. Vgl. auch James Olney: Metaphors of Self. The Meaning of Autobiography. Princeton: Princeton University Press 1972, Ingrid Aichinger: Künstlerische Selbstdarstellung. Goethes »Dichtung und Wahrheit« und die Autobiographie der Folgezeit. Bern u.a.: Lang 1977, sowie Hilmes: Das inventarische und das inventorische Ich.

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1.2 P HILIPPE L EJEUNE : D ER

AUTOBIOGRAPHISCHE

P AKT

Philippe Lejeunes Konzept der Autobiografie, 1975 in seinem Buch Le pacte autobiographique71 dargelegt, kann gelesen werden vor dem Hintergrund einer literaturtheoretischen Entwicklung, die einerseits Probleme mit dem Konzept der Autorschaft zu verarbeiten hat – hier wären als Stichworte die Debatte um Wimsatts und Beardsleys Begriff der intentional fallacy sowie der von Barthes ins Spiel gebrachte »Tod des Autors« zu nennen –, und auf der anderen Seite bestrebt ist, dem Leser einen größeren Spielraum im Zusammenhang mit der Literaturrezeption einzuräumen. Von produktionsorientierten Konzepten des Nachvollzugs einer Autorintention kommt man so zunehmend ab – radikal vollzieht diese Wende Roland Barthes, dem der »Tod des Autors« gleichzeitig die »Geburt des Lesers«72 und seiner stets wandelbaren, inkommensurablen »Lektüren«73 ist. Parallel zu Barthes bildet sich – als eine mildere Variante der Leserermächtigung – die Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik um Hans Robert Jauß74 und Wolfgang Iser75 heraus, deren Ziel es ist, nicht wie Barthes die vollständige Wandelbarkeit und Unvorhersehbarkeit jeder erneuten Lektüre an die Stelle einer textorientierten Literaturwissenschaft zu stellen, sondern den »Akt des Lesens« als einen von bestimmten ›Leitplanken‹ geprägten Vorgang wahrzunehmen, in dem intersubjektiv nachvollziehbare und analysierbare textuelle Strukturen einen im Großen und Ganzen bestimmbaren Spielraum

71 72

Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. Paris 1975. So die Pointe in Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez u. Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000, S. 185–193, hier S. 193.

73

Vgl. Roland Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 19.

74

Jauß vertrat zunächst eine eher literaturgeschichtliche Variante der Rezeptionsästhetik, die weniger als diejenige Isers auf den einzelnen Lektüreprozess abhebt. Dennoch sind seine wissenschaftlichen Leistungen im Sinne eines Begründungsprozesses einer rezeptionsästhetischen Theoriebildung in diesem Zusammenhang nicht zu vernachlässigen. Vgl. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1967; ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991.

75

Vgl. die verschiedenen Abwandlungen dieser allgemeinen These in ihrer historischen Entwicklung bei Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1971; ders.: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett (zuerst: 1972). München: Fink 31994; ders.: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (zuerst: 1976). München: Fink 1994.

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sinnvoller Lesarten eines Textes eingrenzen.76 Die Rezeption reagiert dabei auf die ästhetische fictio des Textes, auf dessen »Leerstellen« und »Unbestimmtheitsbeträge«,77 die Interpretationsspielräume eröffnen, und ist also hiervon nicht vollkommen unabhängig, wie es Barthes nahezulegen scheint, wenn er von einer »brüchige[n], durch Stimmung, Gewohnheit, Umstände verwitterte[n] Lust« am Text spricht, die eine »Unmöglichkeit, über diesen Text vom Gesichtspunkt der positiven Wissenschaft zu sprechen«,78 mit sich bringe. Lejeune ordnet sich in dieses Feld, das Barthes und Iser bereitstellen, ein, wenn er im Vorfeld seiner Verhandlung der Autobiografie feststellt: Textuell gesehen, gehe ich von der Position des Lesers aus: Es handelt sich weder darum, von der Innerlichkeit eines problematischen Autors auszugehen, noch den Kanon einer literarischen Gattung aufzustellen. Indem ich von der Lesersituation ausgehe (von meiner, der einzigen, die ich gut kenne), eröffnet sich mir die Aussicht, die Funktionsweise der Texte (ihr unterschiedliches Funktionieren) klarer zu erkennen, da sie doch für uns Leser geschrieben wurden und wir sie lesend zum Funktionieren bringen.79

Lejeune macht hier klar, dass er einerseits »[t]extuell« argumentieren, andererseits dennoch von der Lesersituation ausgehen will – das ist, wenn man so will, die Position der Rezeptionsästhetik, die es sich ebenso wie hier Lejeune zur Aufgabe macht, das »Funktionieren« der Texte aufseiten der Rezeption zu beobachten. Der hervorgehobene Verweis darauf, dass Lejeune »von meiner« Lesersituation, »der einzigen, die ich gut kenne«, ausgehen will, die ein wenig nach Barthes’ libertärem Leserermächtigungskonzept klingt, steht gewissermaßen im Gegensatz hierzu und wird, wie im Verlauf von Lejeunes Darstellung deutlich wird, von diesem auch nicht mit größerem Interesse weiterverfolgt. Vielmehr kommt Lejeune direkt in der Folge zu einer angesichts dieser anfänglichen Betonung der Leserposition eher überraschenden Definition der Autobiografie:

76

Bei Iser ist hier eine Bewegung festzustellen, die von dieser engeren Form der Rezeptionsästhetik hin zu einer offeneren Konzeption verläuft, die sich schließlich eher in Richtung der Denkweise Barthes’ entwickelt. Zu letzterer Vorstellung vgl. etwa Iser: Das Fiktive und das Imaginäre.

77

Vgl. Iser: Die Appellstruktur der Texte, S. 11.

78

Barthes: Die Lust am Text, S. 78.

79

Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 14.

42 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE DEFINITION: Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.80

Lejeune unterteilt diese Definition, die, wie man leicht sieht, vom zuvor beschworenen Leser völlig unabhängig ist,81 in Elemente aus vier Bereichen, die zusammenkommen müssen, damit man ihm zufolge von einer Autobiografie sprechen darf:82 Dies sind die Bereiche    

der »sprachlichen Form« (Erzählung in Prosa), des »behandelten Themas« (Geschichte einer Persönlichkeit), der »Situation des Autors: Identität zwischen dem Autor (dessen Namen auf eine tatsächliche Person verweist) und dem Erzähler« sowie der »Position des Erzählers« (Identität zwischen Hauptfigur und Erzähler, also autodiegetische Erzählsituation, und rückblickende bzw. nachträgliche Erzählung83).

Diese Elemente haben dabei, wie es derartige Definitionen fast ausnahmslos mit sich bringen, eine unterschiedliche Tragkraft und sind auch für die Theorie, die mit einer Definition dieser Art arbeitet, unterschiedlich relevant. Betrachten wir sie kurz im Einzelnen:

80

Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 14. Hervorhebung im Original.

81

Dies wäre etwa einzuwenden gegen die Deutung von Lejeunes Konzept bei Martina Wagner-Egelhaaf, die ihm – bei aller Kritik – als entscheidenden Fortschritt zugutehält, die Autobiografie »als Rezeptionseffekt« zu beschreiben und »nicht ontologisch« zu argumentieren. Ersteres bleibt in Lejeunes Denken meines Erachtens eine bloße Geste, Letzteres gelingt ihm unterm Strich, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht. Vgl. zur zitierten Einschätzung Martina Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe – Barthes – Özdamar. In: Ulrich Breuer u. Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. München: Iudicium 2006, S. 353–368. Vgl. auch dies.: Einleitung: Was ist Auto(r)fiktion? In: dies. (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstitution. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 7–21, hier S. 11.

82 83

Alle Zitate im Folgenden: Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 14. Vgl. zur Begriffsverwendung Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Franz. v. Andreas Knop, mit einem Nachwort hg. v. Jochen Vogt. München: Fink 21998, S. 153 f. u. 175 f.

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Dass Lejeune die Autobiografie auf ihre Prosaform festlegt, hat sicherlich keinen tiefer greifenden Anspruch, sondern ist eher der Tatsache geschuldet, dass uns Texte, die wir gemeinhin als autobiografisch verstehen, bereits seit der Antike vor allem in der Form der Prosa vorliegen.84 Lejeune arbeitet mit diesem Kriterium nicht weiter – man geht daher vermutlich nicht fehl, wenn man es als vernachlässigbar einstuft: Alles, was Lejeune aus seiner Autobiografiedefinition ableitet, ließe sich ebenso gut im Hinblick auf einen Text in Versen, etwa ein autobiografisches Langgedicht oder Epos, aufrechterhalten (oder eben genauso gut infrage stellen).85 Allein die Tatsache, dass uns solche Texte kaum vorliegen, lässt es sinnvoll erscheinen, für eine Definition der Autobiografie von einem Prosatext auszugehen. »Behandeltes Thema« und »Position des Erzählers« sind zwei Bestimmungen, die eng miteinander verbunden sind. Wenn das Thema eines autobiografischen Textes die Erzählung eines »persönlichen Lebens«, der »Geschichte« einer »Persönlichkeit« ist, was als definitorischer Kern sicherlich naheliegt, dann ergeben sich daraus sinnvollerweise in den meisten Fällen eine autodiegetische Erzählanlage und eine rückblickende bzw., mit Genette, nachträgliche Erzählung: Das Erzählen in der ersten Person ist die einfachste Art und Weise, einen Rückblick auf die Ausbildung der eigenen Persönlichkeit zu gestalten – das Erzählen im Präteritum bringt der Rückblick in der Regel mit sich; es wird in den Theorieentwürfen Diltheys oder Pascals als zentrales Moment angesetzt, das mit der Sinngebung, die im Prozess des

84

Wobei die Bände zur antiken und mittelalterlichen Autobiografie im großen historischen Überblickswerk von Georg Misch natürlich auch zahlreiche Texte enthalten, die in Versen verfasst sind. Misch kommt so in der Einleitung seines Werks im Hinblick auf die Autobiografie zu der Einschätzung: »Und keine Form fast ist ihr fremd. Gebet, Selbstgespräch und Tatenbericht, fingierte Gerichtsrede oder rhetorische Deklamation, wissenschaftlich oder künstlerisch beschreibende Charakteristik, Lyrik und Beichte, Brief und literarisches Porträt, Familienchronik und höfische Memoiren, Geschichtserzählung […], Roman und Biographie in ihren verschiedenen Arten, Epos und selbst Drama«. Misch: Geschichte der Autobiographie, Bd. 1,1, S. 6. Vgl. zu diesem Befund auch Enenkel: Die Erfindung des Menschen, S. 23 f.

85

Lejeune selbst ordnet hier das »autobiographische Gedicht« sowie »Selbstporträt oder Essay« unter den »Nachbargattungen« der Autobiografie ein, die das Kriterium der Rede in Prosa bzw. der Erzählung nicht erfüllen. Sachlich erscheint seine Differenzierung hier jedoch nicht gerechtfertigt – sie ergibt sich offenbar allein aus dem definitorischen Kategorienset, das er zugrunde legt. Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 14.

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autobiografischen Schreibens erfolgt verbundenes ist.86 Angenommen, man übernähme in eine Autobiografiedefinition also die von Lejeune skizzierte thematische Ausrichtung der Texte, dann würden bei einer empirischen Stichprobe in einer beliebigen Bibliothek sicherlich die meisten Texte, auf die diese inhaltliche Festlegung zutrifft, auch diesen Erzählparametern entsprechen. Wie in Bezug auf das Kriterium der Prosa ließe sich aber auch hier fragen, ob es einem Text etwas anhaben könnte, wenn er einer dieser narratologischen Anforderungen nicht entspräche: Werden die Passagen in Goethes Dichtung und Wahrheit, in denen sich der Autor eines präsentischen Erzähltempus bedient, hierdurch zu nicht autobiografischen Textteilen? Stellen sie geradezu Goethes Text in toto als Autobiografie infrage? Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Und auch wenn Paul Auster in seinem Book of Memory die dritte Erzählperson, also formal eine heterodiegetische Erzählweise wählt und den autobiografischen Charakter seiner Erzählung durch andere Mittel unterstreicht,87 scheint es mir nicht naheliegend zu sein, diesen unter Verweis auf Lejeunes narratologisches Argument zur Disposition zu stellen. Von den ersten drei beobachteten Definitionskriterien Lejeunes lässt sich also eines als nachvollziehbare thematische Eingrenzung der Gattung auf die Erzählung der Geschichte einer Persönlichkeit verstehen, während die anderen beiden – die sprachliche Form und die Erzählposition – zwar häufige Kombinationen anzeigen, jedoch darüber hinaus keinen definitorischen Wert haben. Dass Lejeune das offenbar ähnlich sieht, zeigt die Tatsache, dass er sich mit diesen Kriterien eigentlich kaum weiter aufhält bzw. bereits auf der folgenden Seite verschiedene Einschränkungen in Bezug auf diese Momente findet, in denen das Wort »hauptsächlich« (»principalement«) eine zentrale Rolle spielt.88 Lejeunes eigentlich ›hartes‹ Kriterium und somit Kern des autobiografischen Paktes, den der Leser mit Autor und Text schließen soll, ist nun aber die Annahme, dass realer Autor, Erzähler und Hauptfigur identisch sind: Hier gibt es weder Übergänge noch Ermessensspielraum. Identität besteht oder besteht nicht. […] Damit es sich um eine Autobiographie (und allgemeiner, intime Literatur) handelt, muß Identität zwischen dem Autor, dem Erzähler und dem Protagonisten bestehen.89

86

Vgl. hierzu Kap. 1.1.2 und 1.1.3. – Die hiermit verbundenen hermeneutischen Momente, die das Selbstverstehen des Autors im Rahmen der Lebensbeschreibung zentral setzen, spielen bei Lejeune verglichen hiermit eine geringere Rolle.

87 88

Vgl. zu diesem Fall im Speziellen Kap. 7.2. Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 15, bzw. ders.: Le pacte autobiographique, S. 15.

89

Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 15. Hervorhebungen im Original.

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Als Autor, das muss hier nochmals eigens festgehalten werden, weil es ja zu Lejeunes Zeit bereits Theorieentwürfe gibt, die hier weniger harsch sind, gilt Lejeune eine »tatsächliche Person«,90 das heißt ein Subjekt außerhalb des Textes, das diesen in der ›realen Welt‹ hervorbringt.91 Über die Identität dieses Autors mit seinen Agenten innerhalb der Textwelt, dem Erzähler und dem Protagonisten, wird die Autobiografie direkt an die äußere Welt gebunden: Sie ist keine fiktionale Gattung im engen Sinn des Wortes, sondern sie verweist referenziell auf die Außenwelt. Diese Bestimmung der Autobiografie durch die Bindung an die Außenwelt, die Festlegung auf ihren Referenzcharakter, hat in der Literaturwissenschaft die Karriere des Lejeune’schen Entwurfs gesichert. Sie erlaubte es gewissermaßen, in einem Umfeld, das sich mit Referenz-, Fiktionalitäts- und Subjektivitätsproblemen (nicht nur im Zusammenhang mit dem Thema der Autorschaft) befasste, noch einmal in einen prä-strukturalistischen Raum zurückzugehen und ganz ohne methodische Einschränkungen auf Fragen einzugehen, die letztlich den Abgleich von Textinhalten mit den ihnen vorgängigen Geschehnissen im Leben des Autors zum Ziel hatten (und damit auch noch den Erkenntnisstand, den Gusdorf und Pascal in ihrer Relativierung der Referenzialität bereits erreicht hatten, zu unterschreiten).92 Lejeunes

90

Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 14.

91

Zu einer derartigen Einschätzung des Lejeune’schen Autors als Subjekt klassischer Prägung, das einem »metaphysischen Subjektdenken« entspringt, vgl. auch Gronemann: Postmoderne/postkoloniale Konzepte der Autobiographie, S. 26. Gronemann verweist hier auch auf den Anachronismus von Lejeunes Projekt, das – wie bereits dargestellt und im Kap. 2 noch näher auszuführen – in seinen Grundannahmen hinter die zeitgenössische theoretische Diskussion sowie die aktuelle literarische Praxis zurückfällt.

92

Markant ist dabei, dass auch strukturalistische Theoretiker des Erzählens wie etwa Genette keine Lösung der sich aus dem Referenzcharakter ergebenden Probleme anboten, sondern letztlich Lejeune in seiner Darstellung folgten. Das wird etwa deutlich in Genette: Fiktion und Diktion, S. 79–89. Obwohl Genette in Die Erzählung (1972) zunächst mit guten Gründen für die generelle Differenzierung von Autor und Erzähler eintritt, zeigt er sich – knapp 20 Jahre später – in Fiktion und Diktion (1991) bereit, etwa für den Fall der Autobiografie Rousseaus darauf zu verzichten, indem er hier eine Gleichsetzung von Autor und Erzähler zulässt: »[W]elchen Sinn hätte es, vom ›Erzähler‹ der Confessions oder der Geschichte der französischen Revolution zu sprechen?« Die Frage, woran der Referenzcharakter zu überprüfen wäre, suspendiert Genette im gleichen Kontext, wenn er »dieses Problem einer Pragmatik der Lüge, die wir freilich meines Wissens noch immer entbehren«, zuweist – er löst also das entscheidende erkenntnistheoretische Problem auf eine geradezu provokant nonchalante Weise nicht (vgl. ebd., S. 88). Vgl. zu seiner früheren Position Genette: Die Erzählung, S. 17. In seinem Neuen

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Theorieentwurf, der selbst offenbar, wie oben in Bezug auf die Leserorientierung gezeigt, von dem Willen getragen war, die Gattung der Autobiografie an aktuelle Entwicklungen der Literaturtheorie (und, weiter gefasst, der Erkenntnistheorie) anzukoppeln, galt seit seinem Erscheinen zahlreichen Nachfolgern als Kronzeuge für eine Literaturwissenschaft, die sich diesen Fragen eben gerade nicht stellen wollte: Er wurde bisweilen sogar zum theoretischen ›Feigenblatt‹ für eine letztlich vom Biografismus früherer Tage kaum zu unterscheidende Art des Umgangs mit als autobiografisch eingestuften Texten.93 In der literaturwissenschaftlichen Praxis ergab sich daraus, dass das Bewusstsein, das beispielsweise Ansätze der Rezeptionsästhetik, denen Lejeunes Denken an sich nahesteht, für textuelle Phänomene und Strategien zeigen, in den Hintergrund trat. Die Referenzfrage und der durch sie gedeckte Abgleich des Textes mit anderweitig zu recherchierenden Fakten überstrahlten derartige Erkenntniswege bei Weitem – eine Diagnose, die auch noch für große Teile der Autobiografieforschung heutiger Tage gilt. Die Konzentration auf die Referenz – ausgelöst durch Lejeunes theoretischen Schachzug, dem realen Autor für die Definition der Autobiografie eine prominente Funktion zu geben – erweist sich dabei nicht nur als erkenntnistheoretisch problematisch (woran hier später angeknüpft werden soll, vgl. Kapitel 2), sondern sie hat darüber hinaus vor allem die pragmatisch problematische Folge, dass sie eine Befassung mit der Autobiografie als Literatur hintanstellt gegenüber einem Umgang mit ihr, der sie in allererster Linie als historische Quelle wahrnimmt, die zum Beispiel dazu dienen kann, das Leben eines Autors zu erhellen und von dort aus eine eindimensionale Lektüre seiner Werke zu befördern. Ein interessanter Aspekt an der Entschlossenheit, mit der Lejeune auf den Autor als zentrale Definitionsquelle der Autobiografie zurückgreift, ist die Tatsache, dass aus seiner eigenen Darstellung bereits hervorgeht, wie problematisch und letztlich brüchig diese Wahl ist. Lejeune reflektiert nämlich die Problematik, die sich für seine Grundvorstellung von Identität aus der Tatsache ergibt, dass die Autobiografie als schriftliches Dokument vorliegt:

Diskurs der Erzählung (1983) vertritt Genette im Abschnitt »Implizierter Autor, implizierter Leser?« bereits eine Position, die näher an derjenigen Lejeunes ist (vgl. ebd., S. 286–289). 93

Autobiografietheoretische Konzeptionen, die Lejeunes Entwurf in unterschiedlichen Graden dieser Referenzorientierung weiterverarbeiten, sind etwa: Elizabeth W. Bruss: Autobiographical Acts. The Changing Situation of a Literary Genre. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1976. Olney: Metaphors of Self. Hilmes: Das inventarische und das inventorische Ich. Ruth Klüger: Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Göttingen: Wallstein 2006.

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Im Falle einer schriftlichen Kommunikation muß die Person, die die Rede äußert, ihre Identifizierung innerhalb dieser Rede durch andere als materielle Indizien wie etwa Poststempel, die Handschrift oder besondere Rechtschreibung erlauben, wenn sie nicht (was auch vorkommt!) anonym bleiben will.94

Während die Referenzfrage in der mündlichen Kommunikation durch die Tatsache, dass sie performativ durch eine Person verbürgt wird, sich in weniger drängender Weise stellt – wenngleich sie ebenso wenig zu vernachlässigen ist und man argumentieren könnte, dass die Weltgeschichte der geglückten Falschaussagen Argumente gegen diese Legitimation durch den Augenschein in großer Zahl bereithielte –, besteht bei jeder schriftlichen Kommunikation das strukturelle Manko, dass vom Text kein direkter Weg in die Welt zurückführt und auch alle weiteren »Indizien« die Identifikation mit ihrem Urheber nicht zweifelsfrei möglich machen. Die von Lejeune skizzierte Beglaubigungsstrategie führt somit, beim Wort genommen, in einen unendlichen Regress auf immer weitere Beglaubigungsschritte – denn wer garantiert dafür, dass die Handschrift, der Poststempel oder die »Signatur«95 einen höheren Wahrheitsgehalt haben als das, was als vermeintlicher autobiografischer Text vorliegt? Der Leser wird in diesem Verifikationsprozess letzten Endes, wie Paul de Man in seiner Lejeune-Kritik formuliert, zu einer Art »mit Polizeigewalt versehenem Richter«, der untersuchen und darüber urteilen muss, inwiefern der Autor sich in seinem Text auch so verhält, wie es der geschlossene Pakt erfordert.96 Es entbehrt daher nicht eines gewissen Dezisionismus, wenn Lejeune nun auf Grundlage einer eher zwielichtigen entwicklungspsychologischen Argumentation die Entscheidung trifft, dass der Name des Autors auf dem Titelblatt verbürgt, dass er die Verantwortung für das im Buch Gesagte übernimmt (und also, so die weitere Folgerung, die Lejeune zieht, dafür einsteht, dass die Gleichheit dieses Autornamens mit dem Namen des Erzählers und des Protagonisten innerhalb des Textes dessen Referenzialisierbarkeit an der Außenwelt verbürgt): In den gedruckten Texten wird jede Äußerung von einer Person getragen, die gewöhnlich ihren Namen auf den Umschlag des Buches, auf das Vorsatzblatt oder über oder unter den Titel setzt. In diesem Namen ist die ganze Existenz des sogenannten Autors enthalten: Er ist im

94 95

Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 21 f. So der Oberbegriff, den Lejeune für derartige Beglaubigungsinstrumente findet, aber gleichzeitig auch die Bezeichnung für den aus seiner Sicht schließlich zentralen Akt der »Unterschrift«. Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 19 u. 23.

96

de Man: Autobiographie als Maskenspiel, S. 135. – Vgl. zu dieser Problematik auch Marcus: Auto/biographical discourses, S. 251–266 (»Authenticating Authorship«).

48 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE Text die einzige unzweifelhaft außertextuelle Markierung, die auf eine tatsächliche Person verweist, die dadurch verlangt, man möge ihr in letzter Instanz die Verantwortung für die Äußerung des gesamten geschriebenen Textes zuweisen.97

Lejeunes Argumentation geht hier jedoch von einer weiteren unausgesprochenen Annahme aus, die man sicherlich so nicht ohne Weiteres machen sollte: Er nimmt an, allein die Tatsache, dass ein Autor mit seinem Namen (also gewissermaßen juristisch) für den von ihm geschriebenen Text einstehen muss, führe dazu, dass dieser nur korrekte Äußerungen über die Wirklichkeit enthalte. Das ist aber eine Vorstellung, die infrage zu stellen es noch nicht einmal erfordert, in den kriminalistischen Bereich zu wechseln. Natürlich spielt die Lüge in Bezug auf namentlich unterzeichnete Zeugenaussagen, wie oben angedeutet, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Darüber hinaus kann es aber spätestens seit der ersten Kritik an Platons Verbannung der lügnerischen Dichter aus der idealen Polis nicht mehr überzeugen, wenn man mit moralisch-juristischer Empörung darauf reagiert, dass ein Text, der von einem Autor im Bereich des Literarischen verfasst worden ist, »lügt«, Fiktionen anstelle von Fakten in den Mittelpunkt stellt.98 Die Vorstellung, dass der Verfasser einer Autobiografie – anders als andere Schriftsteller – eben einem besonderen »Pakt« unterliege, demzufolge er sich an die Wahrheit zu halten habe, wenn er eine Autobiografie verfasst, während derselbe Autor in einem von ihm verfassten Roman alle Freiheit zur »Lüge« habe, ist dabei nicht nur irritierend, sondern stößt tatsächlich auch auf permanente Abgrenzungs- und Bestimmungsprobleme, da es ja äußerst unwahrscheinlich ist, dass irgendein Leser jedes einzelne Faktum eines Textes extern verifizieren und damit die Gattungszuordnung »Autobiografie« zu 100 Prozent sicherstellen könnte. Lejeunes eigene Beschreibung eines solchen Authentifizierungsprozesses mithilfe immer weiter nach Bestätigung strebender ›Poststempel‹ macht klar, dass hier kein Ende abzusehen ist und diese Argumentationskette also notwendig ins Leere laufen muss. Die moralische (zuweilen justiziable) Empörung, die derjenige äußern kann, der sich in seinem Vertrauen in einen »autobiographischen Pakt« getäuscht sieht, entsteht so letztlich nicht auf Grundlage eines Textes, der, wie eigentlich auch von Lejeune gesehen, eben diese Bürgschaft für die

97

Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 23. Hervorhebungen im Original.

98

Diese ethische Komponente wird auch dann zum Problem, wenn man nicht die referenzielle Faktenwahrheit als Grundlage der Autobiografie begreift, sondern die subjektive Ehrlichkeit des Verfassers an ihre Stelle setzt. Diesen Versuch einer Verankerung der Autobiografie in entsprechenden ethisch grundierten Produktionsabsichten wagt Micaela Maftei: The Fiction of Autobiography. Reading and Writing Identity. New York/ London: Bloomsbury 2013, hier v.a. Kap. 1, S. 17–58.

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Wahrheit des in ihm Beschriebenen gar nicht geben kann, sondern sie resultiert aus der Enttäuschung von Erwartungen, die ihrerseits von außen – das heißt: von Leserseite – an den Text herangetragen wurden. Es handelt sich somit um eine wohlfeile Enttäuschung, die letztlich die Enttäuschung desjenigen ist, der sich in seinem Glauben an einen »Pakt« gekränkt sieht, den jedoch nur er selbst mit einem sehr dubiosen Partner – einem Text, der selbst nie Zugriff auf die Wirklichkeit haben kann – geschlossen hat.99

99

Derartige »Kränkungen« waren etwa zu beobachten im »Fall Wilkomirski«, der Publikation eines Textes, der den Anschein erweckte, eine Autobiografie eines ShoahÜberlebenden in Lejeunes Sinne zu sein, sich aber in der Folge als fiktionaler Text des Schweizer Autors Bruno Dössekker herausstellte. Dössekkers mediale Präsenz »als« Wilkomirski könnte darüber hinaus als ein Beispiel dienen, das Zweifel auch an der Vorstellung erlaubt, dass ein performativ seine Geschichte verbürgender Erzähler eine höhere Authentifizierungskraft habe als eine bloße »Signatur« – der vermeintliche Shoah-Überlebende hatte vier Jahre lang mit der schriftlichen und performativen Präsentation seiner Geschichte großen Erfolg, bis wissenschaftliche Zweifel die Oberhand gewannen. Vgl. Binjamin Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag 1995. Zu der Debatte vgl. Martin A. Hainz: »Kein Schrei kommt aus seiner Kehle, aber ein mächtiger, schwarzer Strahl schießt aus seinem Hals«. Zu Binjamin Wilkomirski. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle, Funktionen, Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 613–623, sowie Alexandra Bauer: My private holocaust. Der Fall Wilkomirski(s). In: Sic et non. Zeitschrift für Philosophie und Kultur im Netz. Januar 2006. Online unter: www.sicetnon.org/index.php/sic/article/view/136/155 (23.04.2015). Bauer bringt Lejeunes Autobiografietheorie und den Fall Wilkomirski in Dialog und zeigt, inwiefern Authentizitätsannahmen, wie sie Wilkomirski entgegengebracht wurden, an der von Lejeune beschriebenen Ausgestaltung des autobiografischen Paktes ansetzen können (vgl. ebd., S. 19–23). – Ruth Klügers Eingehen auf den »Fall Wilkomirski« löst im Rahmen einer an moralischen Kriterien anknüpfenden Auseinandersetzung die erkenntnistheoretischen Probleme, die er aufwirft, nicht. Sie operiert im Hinblick auf die von ihr in den Rahmen der Geschichtsschreibung eingeordneten Autobiografik mit den Begriffen »Wahrheit« und »Lüge« in einem (an Lejeune orientierten) auf Referenz basierenden Sinn. Vgl. Ruth Klüger: Fakten und Fiktionen. In: dies.: Gelesene Wirklichkeit, S. 68–93, hier S. 91, sowie allgemeiner dies.: Wie wirklich ist das Mögliche? Das Spiel mit Weltgeschichte in der Literatur. Drei Essays zur literarischen Behandlung von Geschichte. Ebd., S. 143–219, hier S. 146.

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1.3 M ODELLE

DER I NSZENIERUNG

Ein neueres Paradigma, das in Theorie100 und aktuellen Analysen101 großen Widerhall gefunden hat, das jedoch – wie im Folgenden gezeigt werden soll – letztlich keine Änderung am bisher skizzierten Stand hervorbringt, ist die Unterscheidung zwischen authentischer und inszenierter Darstellung eines Subjekts im Text. Basis der Inszenierungstheorie ist zunächst stets die besagte Gegenüberstellung zwischen

100 Für die deutschsprachige Tradition auf die Autobiografik zugeschnitten vgl. etwa die Arbeit von Almut Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. Berlin: Erich Schmidt 1999. Fincks Studie artikuliert ein großes Bewusstsein für die erkenntnistheoretischen Probleme herkömmlicher Gattungsdefinitionen, löst sie aber durch den Rekurs auf das Inszenierungsparadigma gerade nicht, was sie vielleicht prototypisch für dessen Verwendung macht. Vgl. auch Holdenried: Im Spiegel ein anderer, S. 174–207. Im angloamerikanischen Raum einflussreich v.a. Eakin: Fictions in Autobiography. – Zum theoretischen Kontext des Inszenierungsbegriffs Martin Seel: Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs. In: Josef Früchtl u. Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Phänomens, S. 48–62; Mieke Bal: Mise en scène. Zur Inszenierung von Subjektivität. Ebd., S. 198–221. Erika Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung. In: dies. u. Isabel Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen: Francke 22007, S. 11–27; Eleonore Kalisch: Aspekte einer Begriffsund Problemgeschichte von Authentizität und Darstellung. Ebd., S. 31–44. 101 Vgl. etwa Nathalie Amstutz: Autorschaftsfiguren. Inszenierung und Reflexion von Autorschaft bei Musil, Bachmann und Mayröcker. Köln: Böhlau 2004; Sandra Heinen: Literarische Inszenierung von Autorschaft. Geschlechtsspezifische Autorschaftsmodelle in der englischen Romantik. Trier: WVT 2006; Christoph Jürgensen u. Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte. Heidelberg: Winter 2011; Wilhelm Hemecker u. Manfred Mittermayer (Hg.): Mythos Bachmann. Zwischen Inszenierung und Selbstinszenierung. Wien: Zsolnay 2011; Fridolin Schley: Kataloge der Wahrheit. Zur Inszenierung von Autorschaft bei W.G. Sebald. Göttingen: Wallstein 2012; Klaus Bichler: Selbstinszenierung im literarischen Feld Österreichs. Daniel Kehlmann und seine mediale Inszenierung im Bourdieu’schen Feld. Frankfurt a.M.: Lang 2013; Annette Keck: ›Das ist doch er‹. Zur Inszenierung von ›Autor‹ und ›Werk‹ bei Thomas Glavinic. In: Andrea Bartl, Jörn Glasenapp u. Iris Hermann (Hg.): Zwischen Alptraum und Glück. Thomas Glavinics Vermessungen der Gegenwart. Göttingen: Wallstein 2014, S. 238–249; Stephanie Catani: Glavinic 2.0. Autorschaft zwischen Prosum, paratextueller und multimedialer (Selbst-)Inszenierung. Ebd., S. 267–284.

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authentischem Original und inszenierter Darstellungsform. Wolfgang Iser bringt in Das Fiktive und das Imaginäre das Verhältnis zwischen beiden auf den Punkt: Nun beinhaltet Inszenierung, daß ihr etwas vorausliegen muß, welches durch sie zur Erscheinung kommt. […] Anders gewendet ließe sich auch sagen, daß jede Inszenierung aus dem lebt, was sie nicht ist. Denn alles, was sich in ihr materialisiert, steht im Dienste eines Abwesenden, das durch Anwesendes zwar vergegenwärtigt wird, nicht aber selbst zur Gegenwart kommen darf. Inszenierung ist dann die Form der Doppelung schlechthin, nicht zuletzt, weil in ihr die Bewußtheit herrscht, daß diese Doppelung unaufhebbar ist.102

Der Doppelungscharakter in Bezug auf die Inszenierung lässt sich, überträgt man dieses Paradigma auf die Literatur (und dann noch gerade die Autobiografie), leicht als Gedankenfigur lesen, die die Anwesenheit des realen, außertextlichen Autors ex negativo zum Definiens des Textes macht103 (anders als dies der zitierte Iser tut, der, ausgehend von seiner These, genau zu der entgegengesetzten Vorstellung kommt104). Zwar ist der Autor in einem Text, in dem er sich auf bestimmte Weise

102 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 511. 103 Matala de Mazza und Pornschlegel verweisen sogar explizit darauf, dass die Verwendung des Theatralitäts- bzw. Inszenierungsbegriffs in der Regel geradezu auf eine »Delegitimierung der Vorherrschaft des Textes« abzielt, was, führt man diesen Gedanken weiter, letztlich zu einer Verdrängung der Literaturwissenschaft als Textwissenschaft führen würde. Die Autoren treten dem durch eine alternative Fassung des Theatralitätsbegriffs entgegen, die diesen stärker auf das Moment des Zeichenhaften verengt und damit texttheoretisch besser nutzbar macht, als es in der Mehrheit der Fälle zu beobachten ist. Ethel Matala de Mazza u. Clemens Pornschlegel (Hg.): Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte. Freiburg i.Br.: Rombach 2003, S. 9. 104 Iser setzt den Akzent darauf, dass der Inszenierung in dieser Darstellung und in dem Bewusstsein ihres Doppelcharakters »noch nicht einmal die Prätention eignet, täuschende Nachbildung einer authentischen Vorgabe zu sein. [Sie] bricht […] jene Charakterisierungen des Menschen auf, die diesen als Monade, Subjekt, Selbst oder transzendentales Ich bestimmt haben – nicht zuletzt, weil das Simulacrum immer die Anzeige mit sich führt, daß das, was es formt, nicht formbar ist.« Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 514. – In tragfähiger Form macht Michael Gärtner Isers Konzept der »Akte des Fingierens« für die autobiografietheoretische Arbeit nutzbar, wobei er inkonsequenterweise an Lejeunes Begriffswelt festhält, deren Unhaltbarkeit er eigentlich festgestellt hat. Vgl. Michael Gärtner: Zur Psychoanalyse der literarischen Kommunikation: »Dichtung und Wahrheit« von Goethe. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, hier S. 90 f., 104–106.

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inszeniert, nicht authentisch anwesend, aber dieser Text gilt dennoch als durch seinen Autor bestimmt – einen autobiografischen Text nach seinem Inszenierungscharakter zu bewerten heißt damit, die Strategien, die im Text erkennbar sind, durchgehend im Hinblick auf die andere Seite der beschriebenen »Doppelung« – den authentischen Autor hinter seiner kunstvoll inszenierten Fassade – zu lesen. Authentizität und Inszenierung sind damit aufeinander angewiesen, erkennbar in der »Semantik«, mit der »das Reden von Inszenierung auf ein Nichtinszeniertes verweist«.105 Damit bildet sich, wie sich in Bezug auf Adorno besonders klar herausstellen lässt,106 eine kämpferische Gegenposition zu Vorstellungen der poststrukturalistischen Theoriebildung, die ihr Augenmerk auf die (Inter-)Texte legt und demgegenüber die Suggestion eines einheitlichen Subjekts, das für die Inszenierung oder »Selbstpräsentation«107 intentional verantwortlich wäre, zurückweist.108 Diese

105 So Josef Früchtl u. Jörg Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Phänomens. In: dies. (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Phänomens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 9–47, hier S. 21. 106 Vgl. zu dieser Deutung Josef Früchtl: Der Schein der Wahrheit. Adorno, die Oper und das Bürgertum. In: ders. u. Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, S. 164– 182. Zum dialektischen Verhältnis Inszenierung/Authentizität bzw. »Schein«/»Wahrheit« vgl. ebd., S. 170. 107 Diesen Begriff verwenden Alheit und Brandt mit konstitutiver Funktion für ihr Autobiografieverständnis, das damit ebenfalls im Rahmen eines intentionalen, subjektzentrierten Denkens angesiedelt ist und für das dementsprechend dieselben Vorbehalte gelten. Ihre Darstellung ist zudem geprägt von der Vorstellung, dass die »klassischmoderne« Autobiografie sich von früheren Formen über ihre tendenzielle Unabhängigkeit von vorgängigen Sinnmustern und Konzepten abhebt und vor allem auf einer »selbstreferenzielle[n] Aktivität« beruht – eine Vorstellung, die sich so, wie die Analysen im zweiten Teil dieses Buches zeigen, nicht bestätigen lässt. Vgl. Alheit u. Brandt: Autobiographie und ästhetische Erfahrung, S. 27 u. 17 f. Hervorhebung im Original. 108 Die Gegenposition zu Adorno umreißt Früchtl mit den Namen Baudrillard, Virilio, Flusser und Derrida. Vgl. Früchtl: Der Schein der Wahrheit, S. 170 f. – Doris Kolesch rekurriert in ihrer Arbeit über Baudelaire, Barthes und Adorno zunächst auf das Inszenierungsparadigma, während sie es jedoch im Verlauf ihrer Textanalysen zunehmend ignoriert. Insofern erscheinen Formulierungen in der Einleitung, die etwa feststellen: »Inszeniert ist diese Subjektivität, insofern sie bewußt mit ästhetischen Formen spielt und experimentiert«, von einer problematischen Intentionalitätsannahme geprägt, die aber in der konkreten Auseinandersetzung etwa mit Barthes nicht weiter verfolgt wird. Insofern scheint die Studie am Übergang zwischen Inszenierungsparadigma und der

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intentionale Verantwortlichkeit eines (sich) inszenierenden (Autor-)Subjekts ist es, die den Kern des Konzepts ausmacht, wie zum Beispiel an der (auf das Theater bezogenen, engen) Inszenierungsdefinition des Philosophen Martin Seel deutlich wird, der als ersten Punkt anführt, dass »Inszenierungen […] absichtsvoll eingeleitete oder aufgeführte, sinnliche Prozesse« seien, wobei das Attribut »absichtsvoll« die Verankerung in einer intentionalistischen Grundlage verdeutlicht.109 Analysen, die sich des Inszenierungsparadigmas bedienen, rekurrieren in vielen Fällen dementsprechend offensiv auf die Kategorie der Autorintention. Hierdurch versuchen sie auch, das Problem zu lösen, dass über die Zuschreibung der Attribute »authentisch« oder »inszeniert« in Bezug auf bestimmte Textpassagen nicht auf Grundlage des Textes entschieden werden kann: Als »signifikant« bewertet wird dabei nur das, was der Autor intentional gewollt hat – nicht etwa das, was aus seinem Text im Rahmen der Rezeption zu erkennen ist110 –; die aus einer derartigen Hierarchisierung entstehenden problematischen Zuschreibungsprozesse liegen auf der Hand.111 In dieser Differenzierung versteckt sich letztlich die Frage, welcher Teil der Autobiografie ungefiltert den Autor ins Bild rückt und welcher seine inszenierte Rolle hervorbringt – mit anderen Worten: Der Frage der Referenzialität der

konsequenten Anwendung postmoderner Theorieannahmen zu stehen, was zu diesen textinternen Widersprüchen führt. Eine tatsächliche Öffnung des Inszenierungsbegriffs für eine nicht intentionale Theoriebildung gelingt der Arbeit meines Erachtens nicht. Vgl. Doris Kolesch: Das Schreiben des Subjekts. Zur Inszenierung ästhetischer Subjektivität bei Baudelaire, Barthes und Adorno. Wien: Passagen 1996, hier S. 17. 109 Seel: Inszenieren als Erscheinenlassen, S. 49. Vgl. auch Heinen: Literarische Inszenierung von Autorschaft, S. 26. Fischer-Lichte zitiert den im gegebenen Kontext interessanten Text »In die Szene setzen« von August Lewald (1837), in dem es bereits heißt: »›In die Szene setzen‹ heißt, ein dramatisches Werk vollständig zur Anschauung bringen, um durch äußere Mittel die Intention des Dichters zu ergänzen […].« FischerLichte: Theatralität und Inszenierung, S. 14. 110 Heinen bedient sich in diesem Kontext einer Konstruktion, die sie »Autorbild« nennt und die sie konsequent vom Text abkoppelt (wobei sie sich von Booths Konzept des »Impliziten Autors« distanziert, das aus ihrer Sicht zu stark am Text festhält). Vgl. Heinen: Literarische Inszenierung von Autorschaft, S. 49. 111 Ähnlich wie in Bezug auf Lejeunes Verankerung der Autobiografie in immer weiter zurückreichenden, aufeinander verweisenden Prozessen der Authentifizierung kommt es hier zu einem infiniten Regress auf potenzielle Beweismittel hinsichtlich der Autorintention – eine Vorgehensweise, die erstens immer weiter vom Text wegführt und zweitens einen letztgültigen Beweis logischerweise immer schuldig bleiben muss. Vgl. zu dieser Problematik de Man: Autobiographie als Maskenspiel, S. 135.

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Autobiografie kommt auch hier weiterhin eine zentrale Bedeutung zu. Diese Funktion verschärft sich unter den Vorzeichen des Inszenierungsparadigmas noch weiter, wenn, wie dies häufig der Fall ist, die Gattung moralisch über die Form eines zu erfüllenden Paktes auf eine authentische Wiedergabe der Realität festgelegt wird (beispielweise bei Lejeune).112 Inszenierung erscheint dann gewissermaßen als Schwundstufe des Autobiografischen, wenn argumentativ die Bereitschaft vertreten wird, ›auch noch‹ inszenierte Texte unter einem derartigen Gattungsbegriff subsumieren zu wollen. Tatsächlich verdeutlicht die Begriffswahl jedoch eben keine Auflösung der Bindung der Gattung an die Referenzialität gegenüber der Außenwelt, sondern stärkt diese Bindung an ein vorgängiges Reales, indem sie auch das, was offensichtlich von der authentischen Wiedergabe abweicht, in Bezug auf den Autor und seine intentionalen Strategien zur Inszenierung (verstanden als intentional hervorgebrachte Verstellung) interpretiert. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass über das Paradigma der Inszenierung letztlich jeder beliebige Text eines Autors zugrunde gelegt werden könnte, um als Quelle zu dessen Person gelesen zu werden, denn alle Inszenierungen, auch besonders massiv abweichende, dienen dieser theoretischen Grundlage zufolge dazu, über denjenigen, der inszeniert, Auskunft zu erteilen. Wenn man letztlich die Bindung des autobiografischen Textes an die Mimesis einer vorgängigen Realität sowie die zu starke Verhaftung bei einer geschlossenen, intentional agierenden Autorinstanz als Ausgangspunkt der Lektüre im Konzept Lejeunes kritisieren möchte, gelten dieselben Kritikpunkte mutatis mutandis für das Konzept der Inszenierung von Autorschaft. Es stellt dementsprechend keinen Fortschritt hinsichtlich der hier verhandelten Fragestellungen gegenüber dem Konzept Lejeunes dar.

112 In den autobiografietheoretischen Schriften Ruth Klügers lässt sich dieser Zusammenhang sehr gut beobachten. Mit dem moralischen Verweis auf den Anspruch, dem Autobiografen seine Authentizität zuzugestehen, wird hier die Forderung verbunden, faktengenau und korrekt zu erzählen – ein Zusammenhang, der natürlich vor allem vor dem Hintergrund der Shoah-Autobiografik und ihrer ›Fälschungen‹ virulent wird. Die problematische erkenntnistheoretische Frage, wie ein Text diese Authentizität der Wiedergabe einlösen soll, bleibt bei Klüger charakteristischerweise offen bzw. wird unter Verweis auf den höheren Authentizitätsgrad mündlicher Äußerungen umgangen. Vgl. hierzu die Aufsätze in dem Band: Ruth Klüger: Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Göttingen: Wallstein 2006, insb. »Lanzmanns Shoah in New York« (ebd., S. 9–28) und »Fakten und Fiktionen« (ebd., S. 68–93), wo sich Klüger mit den Problemfällen um Binjamin Wilkomirski und Wolfgang Koeppens Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch befasst.

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1.4 N EUERE M ODELLE 1.4.1 Autofiktion Das »mächtige[ ] Diskursmodell«113 der »Autofiktion«, wie es im Anschluss an den französischen Autor und Literaturwissenschaftler Serge Doubrovsky von verschiedenen Theoretikern formuliert worden ist, knüpft letztlich zu eng an Konzepte der Inszenierung an, um hier einen grundlegend neuen Weg aufzuzeigen.114 Claudia Gronemann legt den Begriff, der grundsätzlich die fiktionale Abweichung des Textes von einer subjektiv wahrgenommenen referenzierten Welt in Rechnung stellt,115

113 Diese Klassifizierung nehmen Christine Ott und Jutta Weiser, die gleichwohl die Unschärfe des Begriffs in Rechnung stellen, in ihrer Einleitung zu einem Band mit Analysen vor, die auf den Begriff rekurrieren: Christine Ott u. Jutta Weiser: Autofiktion und Medienrealität. Einleitung. In: dies. (Hg.): Autofiktion und Medienrealität. Kulturelle Formungen des postmodernen Subjekts. Heidelberg: Winter 2013, S. 7–16, hier S. 7. – Ein weiterer, zeitgleich erschienener Band, der sich dem Phänomen widmet, ist von Martina Wagner-Egelhaaf herausgegeben worden, die sich auch schon in früheren Arbeiten der Autofiktion gewidmet hat: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstitution. Bielefeld: Aisthesis 2013. Vgl. dies.: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie, sowie dies., Anna CzajkaCunico u. Richard Gray: Einleitung: Autofiktion. Neue Verfahren literarischer Selbstdarstellung. In: Franciszek Grucza (Hg.): Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Bd. 8. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2012, S. 129–131. 114 Besonders deutlich wird dies in einem Aufsatz von Pottbeckers, der anschließend an eine Darstellung verschiedener Verwendungen des Autofiktionsbegriffs schließlich zu einer Gleichsetzung mit dem Begriff der Inszenierung kommt: »der Autor inszeniert sich selbst als literarische Figur«. Jörg Pottbeckers: Autor-Anti-Helden. Literarische Inszenierungspraktiken zwischen Autofiktion und Parodie bei Bret Easton Ellis, Michel Houellebecq und Thomas Glavinic. In: Jan Standke (Hg.): Die Romane Thomas Glavinics. Literaturwissenschaftliche und deutschdidaktische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Lang 2014, S. 121–138, hier S. 126. – Dasselbe gilt für andere Versuche, den Begriff fruchtbar zu machen, die auf dem Konzept Lejeunes und dem Inszenierungsparadigma aufbauen, etwa abzulesen an den Beiträgen in Elio Pellin u. Ulrich Weber (Hg.): »… all diese fingierten, notierten, in meinem Kopf ungefähr wieder zusammengesetzten Ichs«. Autobiographie und Autofiktion. Göttingen/Zürich: Wallstein/Chronos 2012. 115 Auf die »ganz unterschiedlichen ›Mischungszustände‹ zuwischen ›Fiktion‹ und ›Autobiographie‹« hebt Martina Wagner-Egelhaaf in ihrer Begriffsbestimmung ab. WagnerEgelhaaf: Einleitung: Was ist Auto(r)fiktion? S. 9.

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so an, dass im Mittelpunkt ihrer Konzeption der Schreibakt des Verfassers steht;116 Ott und Weiser halten in ähnlicher Stoßrichtung fest, dass Autofiktion sich »immer auch als Schreibtherapie« verstehe.117 Wie damit deutlich wird, handelt es sich um einen Theorieentwurf, der trotz betonter postmoderner Einschläge (vor allem hinsichtlich einer Kritik an Referenzvorstellungen118) auf die Annahme einer in sich geschlossenen Autorintention nicht verzichtet, was die Nähe zum Inszenierungskonzept ausmacht:119 Gronemann reflektiert dabei anhand von Doubrovsky die

116 Vgl. Gronemann: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie, S. 11; vgl. auch ebd., S. 71: »Schreiben ist hier nicht mehr eine nachträgliche Repräsentation der Referenzen und deren sekundäre Manifestation, sondern der Schreibakt selbst stellt eine primäre Welterfahrung dar«. – Auf Gronemanns Konzeption mit dem Begriff einer »Selbstsetzung, die es einem Subjekt erst erlaubt, sich mittels der und im Spiegel der Sprache zu positionieren« aufbauend, das skizzierte Problem aber, wie der Rückgriff aufs aktive »Subjekt« im Zitat verdeutlicht, nicht lösend argumentiert WagnerEgelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie, S. 361. 117 Ott u. Weiser: Autofiktion und Medienrealität, S. 8. – Sie stellen einen davon abweichenden, jedoch zu einer geringeren Durchschlagskraft gelangten weiten Autofiktionsbegriff in Rechnung, der an jeder »Fiktionalisierung der eigenen Person« ansetzt, wie ihn – nicht zuletzt anschließend an Paul de Man – Vincent Colonna geprägt hat. Vgl. Colonna: Autofiction et autres mythomanies littéraires. 118 So heißt es bei Gronemann: »Wenn sich ein Text jedoch nicht mehr konfliktfrei auf ›Wirklichkeit‹ zu beziehen vermag, weil sich deren objektive Bestimmung als unmöglich erweist, kann auch zwischen referenziellen und nicht-referenziellen [Texten …] nicht mehr […] unterschieden werden.« Gronemann: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie, S. 12. – In Ansgar Nünnings Konzeption irritiert am Umgang mit der Frage der Referenz, dass er diese von der Autorinstanz abhängig zu machen scheint, indem er zwischen »heteroreferenziellen« (›klassischen‹) und »autoreferenziellen« Formen der Autobiografie unterscheidet. Das erkenntnistheoretische Problem der Unmöglichkeit von wirklicher Referenz, wie es etwa Hayden White aufnimmt, wird hierdurch logisch nicht konsistent zu einem Entscheidungsspielraum einer starken Autorinstanz verzerrt. Vgl. Nünning: Metaautobiographien, S. 278–280. – In eher problematischer Weise reflektiert Eric Achermann den Zusammenhang zwischen Autofiktion und Referenzialität: Eric Achermann: Von Fakten und Pakten. Referieren in fiktionalen und autobiographischen Texten. In: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstitution. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 23–53. – Zur Auseinandersetzung mit der Frage der Referenzkritik vgl. Kap. 2.1. 119 Vgl. dazu auch die Idee, neue Autobiografien »inszenier[t]en« das Wissen um die Materialität ihres Textes »im Rahmen von Fiktionen, worunter nicht mehr nur eine Opposi-

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»grundsätzliche Divergenz zwischen der vom Autor paratextuell vorgenommenen Klassifizierung als Roman und der auf der Textebene formulierten Intention, Biographisches mitzuteilen«,120 und bleibt insofern im Rahmen einer intentionalistischen Konzeption, die sie eigentlich theoretisch zu überwinden antritt.121 Auch die Fassung der Subjektbildung im Text als Form einer »Repräsentation des Ich«122 weist darauf hin, dass derartige Theorieentwürfe im Rahmen tradierter epistemologischer Vorstellungen bleiben und keine bzw. unzureichende Konsequenzen aus den theoretischen Entwicklungen des Poststrukturalismus ziehen, auf den sie gleichwohl dezidiert verweisen. In Otts und Weisers Band zur Autofiktion wird gar (in offensichtlicher Konfrontation poststrukturalistischer Ansätze) die Ansicht vertreten, dass »die Suche nach dem Ich in der Literatur der letzten zehn Jahre sogar gänzlich obsolet« geworden sei, weshalb entsprechende subjektkritische Positionen inzwischen zu vernachlässigen seien und an ihre Stelle die Untersuchung einer bewussten »Erfindung des Selbst bzw. des Autors« trete.123 Zipfel verhandelt den Begriff im Kontext von Lejeunes letztlich intentionalem Paktmodell und verwendet ihn dabei für Texte, die ihrem Leser sowohl einen autobiografischen wie einen Romanpakt anbieten, aber letztlich keinen der beiden Pakte voll erfüllen und sich tendenziell der Reflexion dieses Schwebezustandes widmen.124 Der Schwerpunkt des Konzepts »Autofiktion« liegt damit auf dem Phänomen, dass neuere Texte die Fragen von Referenzialität und Subjektivität offensiv thematisieren und damit zu »Me-

tion zur Realität zu verstehen ist, sondern ein semiotischer Prozeß der Niederschrift, die gleichzeitige Reflexion dieses Aktes sowie die unvermeidbare Brüchigkeit seiner Resultate« bei Gronemann und de Toro. Diese Konzeption verrät eine Abhängigkeit von intentionalistischen Paradigmen, die den Grundsätzen der theoretischen Texte, auf die sie verweist, widerspricht. Vgl. Alfonso de Toro u. Claudia Gronemann: Einleitung. In: dies. (Hg.): Autobiographie revisited. Theorie und Praxis neuer autobiographischer Diskurse in der französischen, spanischen und lateinamerikanischen Literatur. Hildesheim/Zürich/New York: Olms 2004, S. 7–21, hier S. 8. 120 Vgl. Gronemann: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie, S. 49. 121 Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit Referenz- und Subjektivitätskritik in der Einleitung und dem ersten Kapitel in Gronemann: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie, S. 9–41. Hervorhebung im Original. 122 de Toro u. Gronemann: Einleitung, S. 9. 123 Ott u. Weiser: Autofiktion und Medienrealität, S. 10. 124 Frank Zipfel: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? In: Simone Winko, Fotis Jannidis u. Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 285–314.

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tatexten«125 werden, deren »Autoren« es nicht mehr gelingt, »autobiographische[ ] Intentionen« einzulösen, sondern sich dafür darauf verlegen, »das Scheitern aller Vermittlungsansprüche zu inszenieren«;126 tatsächliche Konsequenzen für die eigenen Analysen und die mit ihnen einhergehende Theoriebildung werden hieraus, wie an der verwendeten Terminologie deutlich wird, jedoch nicht gezogen. Ähnlich gelagerte Konzepte, die auf Doubrovskys Ideen basieren – so etwa Ansgar Nünnings Konzept der »Metaautobiographien« –, rekurrieren ebenfalls offensiv auf den »Autobiographen als forschende[s] und schreibende[s] Subjekt«,127 das im Mittelpunkt bestimmter neuerer Texte der Gattung stehe, was verdeutlicht, dass auch sie in ihrer Theoriebildung und ihren konkreten Analysen der Infragestellung des Autorsubjekts kaum Rechnung tragen.128 1.4.2 Rückkehr des Autors Unter dem Schlagwort von der Rückkehr des Autors, wie es im Titel eines einflussreichen Sammelbandes von 1999 aufgegriffen wurde, versammeln sich verschiedene Positionen, denen die Erkenntnis gemeinsam ist, dass nach einer ersten Phase der Autor- und Subjektkritik, die sich direkt an das Erscheinen der einschlägigen Texte von Michel Foucault, Julia Kristeva und Roland Barthes anschloss – auf die im nächsten Kapitel ausführlicher eingegangen werden soll –, die Funktionen des Au-

125 Gronemann: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie, S. 68. 126 Gronemann: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie, S. 69. 127 So Nünning: Metaautobiographien, S. 278 f. – Vgl. auch das oben zitierte Anknüpfen an Gronemann in Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie, für das dieselben Vorbehalte gelten. 128 Dieselbe Argumentationslinie verfolgt Frank Oliver Jäger, wenn er anhand des Autors differenziert zwischen Typen der referenziellen und der literarischen Autobiografie, die deshalb literarisch genannt wird, weil sie von einem Schriftsteller verfasst worden ist. Frank Oliver Jäger: Literarische Selbstinszenierung zwischen Transgression und Paradoxie. Zur Hybridisierung autobiographischen Schreibens bei Marcel Proust, Michel Leiris und Claude Simon. Freiburg i.Br.: Rombach 2014, S. 16. – Jägers Projekt, die »Mischformen« zwischen beiden Typen zu untersuchen, ist erkenntnistheoretisch deshalb grundlegend problematisch, weil er von der tatsächlichen Möglichkeit eines referenziellen autobiografischen Textes ausgeht und diese Frage zu einer der auktorialen Entscheidung macht, anstatt sie epistemologisch zu klären. Eine Weiterentwicklung des Inszenierungsparadigmas, wie es der Titel seiner Arbeit zu suggerieren scheint, leistet er dementsprechend nicht, sondern bleibt in dessen intentional grundierter Kategorienbildung verhaftet.

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tors für die literaturwissenschaftliche Arbeit wieder eine größere Rolle zu spielen begannen.129 Es handelt sich um keine im engeren Sinn autobiografietheoretischen Entwürfe; dennoch ist der Band in seiner Thematisierung möglicher Probleme in Bezug auf die Autorschaft, die der traditionellen Autobiografietheorie wie gesehen als zentrale Kategorie gilt, für die vorliegende Arbeit von Bedeutung. Ein wichtiges Verdienst des Bandes besteht darin, die Vielschichtigkeit möglicher Kritik am Autorbegriff zu systematisieren. So kommen die Herausgeber zu vier Strömungen der Autorkritik:130 Eine erste hier zu berücksichtigende Theorieströmung ist mit Wimsatts und Beardsleys Begriff der Intentional Fallacy verbunden.131 Die beiden Yale-Gelehrten argumentieren in den 1940er-Jahren jedoch nicht im eigentlichen Sinne autor- oder intentionalitätskritisch, sondern verweisen letztlich nur darauf, dass eine geglückte Autorintention sich in einem vollkommenen Werk niederschlage, während eine missglückte (und dann eventuell über andere Wege herauszuarbeitende Intention) dazu führen müsse, dass das Werk selbst zu verwerfen sei. Die Textbedeutung ist damit unabhängig von der Autorintention – ein wichtiger Schritt für eine Interpretationspraxis, die sich hierdurch stärker auf den Text selbst konzentriert. Wimsatt und Beardsley legen somit den Grundstein für die textimmanente Lektürepraxis des New Criticism, für den der Autor keine Rolle mehr spielt. An dessen Stelle tritt jedoch ein starker, von eher problematischen Wertsetzungen der Einheitlichkeit und Geschlossenheit bestimmter Werkbegriff. Als zweiten Aspekt der Autorkritik nennen Jannidis et al. die Differenzierung zwischen Autor und Erzähler in der Erzähltheorie seit Käte Hamburger und Wolf-

129 Die entsprechenden Aufsätze des Bandes legen z.T. erheblich voneinander abweichende und unterschiedlich tragfähige Konzeptionen vor, weshalb eine detaillierte Darstellung hier nicht zielführend ist. Kritik haben Positionen erfahren, die dabei »im Sinne eines backlash den mit der poststrukturalistischen Theorie erreichten Reflexionsstand« unterschreiten. So Moritz Baßler: Das Subjekt als Abkürzung. In: Stefan Deines, Stephan Jaeger u. Ansgar Nünning (Hg.): Historisierte Subjekte – subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte. Berlin/New York: de Gruyter 2003, S. 93–104, hier S. 93. 130 Vgl. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez u. Simone Winko: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven. In: dies. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen: Niemeyer 1999, S. 3–35, hier S. 11–15. 131 Vgl. William K. Wimsatt u. Monroe C. Beardsley: Der intentionale Fehlschluss (1946). In: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000, S. 84–101.

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gang Kayser.132 Die große, durchgehend anerkannte Leistung dieser theoretischen Tradition ist es, kommunikationspragmatisch unterschieden zu haben zwischen der für die Aussagen eines Textes verantwortlich zu machenden Erzählinstanz und einem dieselbe letztlich ›erschaffenden‹ Autor. Der Erzähler des narrativen Textes erscheint so als »Rolle«133 des Autors, ein direkter Rückschluss auf dessen Intentionen als direkte Verrechnung von Erzähleraussagen mit den Vorstellungen des Autors wird hierdurch unmöglich. Für Kayser bedeutet diese Trennung jedoch keineswegs, dass der Autor für die Interpretation irrelevant würde (auch wenn der sich hieran anschließende Begriff der werkimmanenten Interpretation das suggeriert): Als diejenige Instanz, die intentional für den Kommunikationsakt, den der literarische Text dieser Sicht zufolge darstellt, verantwortlich ist, bleibt der Autor von hohem Gewicht und es bedarf weiterer theoretischer Annahmen, um ihn aus der Interpretation auszuklammern. Die Grundlegung der Erzähltheorie kommt somit zu einer wichtigen Instanzentrennung,134 ohne letztlich die (dann auf komplexeren Wegen in die Interpretation eingehende) Autorintention zu verabschieden. Eine dritte autorkritische Strömung, die in Rückkehr des Autors benannt wird, ist die Differenzierung zwischen realem und »implizitem« (oder, je nach Übersetzung, »impliziertem«) Autor, die an die Terminologie Wayne C. Booths anknüpft.135 Der Begriff des Implied Author dient Booth dazu, den ethischen Ausdruck eines Textes, seine Wertsysteme, bestimmen zu können, ohne die Trennung

132 Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart: Klett 21968; Wolfgang Kayser: Wer erzählt den Roman? (1957). In: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000, S. 127–137. 133 Kayser: Wer erzählt den Roman? S. 127. 134 Auch die spätere, bis heute als zentraler Entwurf der Erzähltheorie angesehene Konzeption Gérard Genettes stellt sich nicht gegen die Funktion des Autors als solche, sondern klammert ihn nur aus dem Bereich der Erzähltheorie aus. Vgl. dazu etwa Genette: Die Erzählung, S. 17, sowie dessen Auseinandersetzung mit der Begriffswelt von Wayne C. Booth in dem zum Neuen Diskurs der Erzählung gehörigen Kapitel »Implizierter Autor, implizierter Leser?« (ebd., S. 283–295). 135 Wayne C. Booth: Der implizite Autor [1961]. In: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000, S. 142–152, bzw. ders.: The Rhetoric of Fiction. Chicago: University of Chicago Press 1961. – Zur Zusammenfassung der Debatte, die hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kann, vgl. den Überblick von Tom Kindt u. Hans-Harald Müller: The Implied Author. Concept and Controversy. Berlin/New York: de Gruyter 2006. Eine wichtige argumentative Stoßrichtung des Buches von Kindt und Müller besteht darin, die Abhängigkeit des Konzeptes von der Vorstellung der Autorintention nachzuweisen.

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zwischen Autor und Erzähler, die er übernimmt, anzutasten. Der implizite Autor bietet hierbei die Möglichkeit, ein Bild des Autors auf Grundlage des Textes zu konstruieren, Booth nutzt ihn jedoch nicht dazu, den Text vom Autor tatsächlich abzukoppeln, sondern begreift ihn als notwendige Instanz im Rahmen einer (intentionalen) Ausdrucksästhetik: Der Autor muss danach für den Fall, dass sein Erzähler nicht dieselben ethischen Positionen vertritt wie er selbst, in den Text Momente einbauen, die deutlich werden lassen, dass zwischen seiner Intention und dem, was sein Erzähler sagt, eine Differenz besteht. Ein ironisches oder unzuverlässiges Erzählen bedarf aus dieser Perspektive im Text verankerter Hinweise, die verdeutlichen, dass es sich um uneigentliches Sprechen handelt. Für die Analyse heißt das, dass die Autorinstanz als vom Text implizierte Größe zu verhandeln ist. Wie bei diesen drei Gruppen deutlich wird, nehmen sie sämtlich nicht Abstand von der Vorstellung, dass ein intentional agierendes Subjekt den Ursprung des literarischen Textes bildet, und reflektieren diese Annahme nicht im Lichte subjektkritischer Vorstellungen. Diese werden erst in die Untersuchungen einer vierten Gruppe einbezogen, die bei Jannidis et al. mit den Namen Foucault, Kristeva und Barthes verbunden wird. Die Subjektkritik dieser poststrukturalistischen Strömung wird im folgenden Kapitel bezogen auf ihre Implikationen für die Autobiografietheorie detaillierter dargelegt. Wichtig ist an dieser Stelle die Erkenntnis, dass sie sich insofern grundlegend von den anderen drei skizzierten Gruppen unterscheidet, als sie eine tief greifende Kritik an den Vorstellungen sowohl der Subjektivität als auch der Repräsentation übt, weshalb sie deutlich weiter reicht als die ihr in die eine oder andere Richtung vorausgehenden Theorieentwürfe.136

136 Insofern erscheint mir die Einschätzung von Jannidis et al., die skizzierten »andere[n] Theorien [hätten] vergleichbar fundamentale Einwände gegen den Autor formuliert, ohne eine ähnliche Wirkung erzielt zu haben«, auf ein grundsätzliches dem Band zur Rückkehr des Autors zugrunde liegendes Missverständnis hinzuweisen. Die Autorkritik der anderen drei ›Schulen‹ basiert auf der Kritik an bestimmten Momenten der Interpretationspraxis, die durch einen bewussteren Umgang mit der Kategorie »Autor« vermieden werden können, was an sich auch bereits eine wichtige Leistung darstellt; die poststrukturalistische Autorkritik hingegen legt gewissermaßen die Axt an die Wurzeln dieser Kategorie selbst, indem sie ihr einen anderen ontologischen Status zuschreibt, und hat daher eine sehr viel weiter gehende Wirkung, worauf im folgenden Kapitel genauer einzugehen sein wird. Vgl. Jannidis u.a.: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern, S. 15.

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1.5 Z WISCHENFAZIT : G RUNDTENDENZEN DER MODERNEN A UTOBIOGRAFIETHEORIE Der Überblick über die Geschichte der Autobiografietheorie von ihrer Grundlegung um 1900 bis zu heutigen Modellen, die diese klassische Prägung aufrechterhalten, hat gezeigt, dass bis heute die Fragen der Referenz, der Authentizität und eines selbstbewussten Autorsubjekts die Eckpfeiler der Autobiografietheorie bilden. Hierbei war von der These ausgegangen worden, dass es sich bei der Zentralsetzung dieser Elemente um eine Hypostasierung der Grundanlage der Bekenntnisse JeanJacques Rousseaus handelt, die dessen einer konkreten textinternen Kommunikationssituation entspringenden Textstrategien zu Definitionskriterien der Gattung an sich aufwertet. Ausgehend von der bei Rousseau im Mittelpunkt stehenden Stärkung des Subjekts als derjenigen Instanz, die selbstbewusst über die Darstellung ihres Lebens entscheidet und urteilt, hat die Autobiografietheorie in ihrem Entstehungskontext in Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften eine Ausprägung gefunden, die das starke, ein Gesamturteil über gelebtes Leben im Verstehen desselben ablegende Subjekt unverzichtbar für die Gattungstradition werden ließ. Spätestens mit der existenzphilosophischen Grundierung, die etwa von den Dilthey-Adepten Gusdorf und Pascal noch stärker herausgearbeitet wurde, geriet die Frage nach dem schreibenden Ich, seinen Einschätzungen und dem Ausdruck seiner persönlichen, ›authentischen‹ Wahrheit in den Mittelpunkt der Gattungsdefinition, aus dem sie bis in Modelle der Inszenierung von Autorschaft, aber auch in neueste Entwürfe der »Autofiktion« hinein nicht vertrieben werden konnte. Dass es sich bei dieser Konzeption um ein voraussetzungsreiches Gedankengebilde handelt, das etwa von Zweifeln an Intentionalität und Subjektivität infrage gestellt werden könnte, blieb dabei in den meisten Fällen ausgeklammert. Anders als seine existenzialistisch-lebensphilosophischen Vorläufer, die bereits seit Dilthey konzedierten, dass die ›Wahrheit‹ der Autobiografie eine Wahrheit jenseits der korrekten Wiedergabe von Fakten sei, kam dann Mitte der 1970er-Jahre Philippe Lejeune zu der Annahme, dass die Autobiografie letztendlich nur durch ihren faktualen Status definiert werden könne. Seine Vorstellung vom »autobiographischen Pakt« – wohl angelegt als Position, die die Autobiografietheorie mit aktuellen Entwicklungen in Leserorientierung und Pragmatik in Einklang bringen sollte – wirkte sich in der Folge als Reorientierung an der Vorstellung von der Faktenhaltigkeit autobiografischer Literatur aus und schien es zu erlauben, vom autobiografischen Text direkt auf die in ihm referenzierten, von einem Autor per »Signatur« beglaubigten historischen Fakten zurückzuschließen. In den an Lejeune anknüpfenden Positionen, vor allem aus dem Bereich der Inszenierungsmodelle, zeigte sich schließlich eine erneute Aufwertung der Frage, was an einem gegebenen

D IE T HEORIE

DER

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autobiografischen Text faktual (»authentisch«) und was demgegenüber erfunden, geschönt oder mit spezifischen Intentionen zurechtgeschnitten (»inszeniert«) sei. Die im vorliegenden Kapitel diskutierten Positionen der Autobiografietheorie ziehen fast nie (oder höchstens in Ansätzen bzw. einzelnen Punkten) Konsequenzen aus der literatur- und subjekttheoretischen Entwicklung seit den 1960er-Jahren, die immer wieder zumindest mit den Namen Foucault, Kristeva und Barthes in Verbindung gebracht wird. Diese Entwicklungen stellen jedoch die zentralen Definitionskriterien der klassischen Autobiografietheorie grundlegend infrage. Im folgenden Kapitel wird diesen Denkrichtungen, ihrem Einfluss auf autobiografietheoretische Konzepte sowie der Frage nachzugehen sein, was eine Autobiografietheorie, die sich der Herausforderung durch die poststrukturalistische Infragestellung ihrer Fundamente stellt, hierdurch gewinnen könnte und inwiefern so eine texttheoretisch informierte poststrukturalistische Autobiografietheorie möglich würde.

2.

Postmoderne Theoriebildung und Autobiografietheorie

2.1 H AYDEN W HITES T HEORIE DER G ESCHICHTSSCHREIBUNG 2.1.1 Whites Kritik am Referenzparadigma Das Werk des Geschichtstheoretikers Hayden White ist deshalb für eine Revision der skizzierten Formen der Autobiografietheorie relevant, weil er an einer hierfür entscheidenden Stelle ansetzt, wenn er sich mit der Frage der Referenzialität von historischen Erzählungen befasst. White analysiert die Wege, auf denen historische Daten, wie sie etwa unverbunden in der Form der historischen Chronik vorliegen, zur dominanten diskursiven Form innerhalb der Geschichtswissenschaften werden: der Geschichtserzählung. Dabei geht er von einer gut nachvollziehbaren epistemologischen Grundlage aus, wenn er festhält, dass die Aufgabe der Geschichtswissenschaften darin bestehe, »einer Folge von Ereignissen Sinn zu verleihen, die so wie sie sich darbieten, fremd, rätselhaft oder geheimnisvoll erscheinen«1 – ein Prozess, der zu dem führt, was White Narrativity nennt, und der auf die Bemühung hinweist, die zunächst einmal nicht zusammenhängenden Daten der Geschichte mit einer kulturell gängigen Einbindung zu versehen, damit sie die »formal coherency of a story« erhalten.2 Dieser Kohärenzvorstellung liegt letztlich der aristotelische Begriff

1

Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Einführung v. Reinhart Koselleck. Aus dem Amerik. v. Brigitte Brinkmann-Siepmann u. Thomas Siepmann. Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 106.

2

Hayden White: The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1987, S. 4.

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des μῦθος (was man sowohl als »Handlung« als auch als »Geschichte«3 übersetzen könnte) zugrunde, der, wie Aristoteles ausführt, davon geprägt ist, dass er »Anfang, Mitte und Ende hat«.4 Die Wirkung dieser Formulierung auf die Konzeption Whites wird deutlich, wenn er die Chronik nicht zuletzt aufgrund ihrer Unabgeschlossenheit als nicht narrative Form auffasst: »It starts out to tell a story but breaks off in medias res, in the chronicler’s own present; it leaves things unresolved, or rather, it leaves them unresolved in a storylike way«.5 In seiner Behandlung einer frühen Geschichtsschreibung, die die Form der Annalen und dann die der Chronik wählte, die sich darauf beschränken, mit offenem Anfang und Ende Daten aufzuführen, ohne Beziehungen und Ganzheit6 herzustellen, verdeutlicht White, dass Fakten an sich nicht in der Lage sind, Bedeutung zu vermitteln. Vielmehr ist dies erst möglich, wenn ein Anschluss an übergeordnete kulturelle Denkfiguren hergestellt wird – eine Vermittlungsaufgabe, die etwa der Historiker übernimmt. Während die Fakten selbst also in ihrer Unvorhersehbarkeit als Ereignisse7 notwendig geheimnisvoll

3

In der Übersetzung Fuhrmanns wird der konstruktive Charakter von Geschichte (Mythos), den White im Blick hat, besonders deutlich, wenn er dafür die Wendung »Zusammenfügung der Geschehnisse« findet. Vgl. Aristoteles: Poetik. Übersetzt u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1994, Kap. 7, S. 25. In der Übersetzung von Schmitt ist im selben Zusammenhang weniger deutlich von »einzelnen Handlungen« die Rede (Aristoteles: Poetik. Übersetzt u. erläutert v. Arbogast Schmitt. Berlin: Akademie-Verlag 22011, Kap. 7, S. 12).

4

Aristoteles: Poetik (Übers. Schmitt), Kap. 7, S. 12.

5

White: The Content of the Form, S. 5, vgl. ebd., S. 16–24.

6

Dieser Anspruch an Ganzheit und Geschlossenheit des Erzählens ist dabei sicherlich fragwürdig – die weiteren im Folgenden diskutierten Positionen der poststrukturalistischen Theoriebildung teilen ihn, aus meiner Sicht zu Recht, nicht (vgl. Kap. 2.2 bis 2.4). Im vorliegenden Zusammenhang wird diese Vorstellung für die Argumentationslinie Whites jedoch nicht zum Problem, weshalb an dieser Stelle hierauf nicht weiter eingegangen wird. Aus Whites Sicht wird die Frage der Ganzheit im Zusammenhang mit seiner (ebenfalls eher problematischen, den Kern seines Gegenstandes wohl verfehlenden) Diskussion des Schaffens Foucaults angesprochen. Vgl. White: The Content of the Form, S. 104–141, hier S. 107 f. (»Foucault’s Discourse: The Historiography of AntiHumanism«).

7

In diesem Verständnis des Ereignisses als inkommensurables Faktum, das eben nur deshalb ein ›Ereignis‹ ist, weil es sich der vollständigen Erklärbarkeit durch seine Rahmenbedingungen entzieht, nimmt White implizit Bezug auf den Ereignis-Begriff Wilhelm Diltheys, der seinerseits mit einem großen Bestand an metaphysischem Deutungs-

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bleiben müssen, bedarf es zu ihrer Erklärung einer Einbindung in eine narrative Struktur und darüber hinaus eines Einschreibens dieser Ereignisse in übergeordnete Denkfiguren »wie etwa metaphysische Konzepte, religiöse Glaubensauffassungen oder Formen von Geschichten (story forms) […]. Die angestrebte Wirkung solcher Kodierungen ist es, das Unvertraute vertraut zu machen«.8 Im Umkehrschluss bedeutet das für die aus diesem Prozess entstehenden Texte, dass sie keinen direkten Zugang mehr zu den Fakten selbst bieten können – denn jeder historiografische Text als »tatsächlich vorliegende Kombination von Fakten und Bedeutung«, die nicht »auseinander zu halten« sind,9 stellt eine feste Einheit von Ereignisgrundlage und Interpretation dar, die im Nachhinein nicht mehr aufzulösen ist.10 Dieselben Fakten können dabei dazu dienen, eine Erzählung als Tragödie oder Satire anzuregen, wobei jede Form auch darauf basiert, bestimmte Fakten anders zu betonen und andere demgegenüber zu vernachlässigen oder schlicht nicht zu erwähnen – der Versuch, herauszufinden, »wie es eigentlich gewesen«, wie er Ziel der am Referenzparadigma orientierten Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts war, erscheint damit von vornherein als vergebliches Bemühen.11 White betont demgegenüber, dass der Nachvollzug von Ereignissen desto schwieriger wird, je mehr Texte darüber sich zwischen uns und das Ereignis selbst geschoben haben – die grundlegende »Intransparenz«, die schon jede historische Quelle aufweist, weil sie eben stets nur die Umsetzung eines Ereignisses in Text ist, »wird durch die [ihrerseits auf Quellen basierenden] historischen Erzählungen, wenn ir-

potenzial belastet ist, was hier jedoch nicht weiter ausgeleuchtet werden kann. Vgl. hierzu Kap. 1.1.2. 8

White: Auch Klio dichtet, S. 106.

9

White: Auch Klio dichtet, S. 131.

10

Insofern erscheint es mir auch theoretisch fragwürdig, Whites Theorie mit dem Begriff der Referenzialität zusammenzudenken, wie dies Gronemann versucht: Den Verfechtern einer Theorie der referenziellen Autobiografie geht es in zahlreichen Fällen genau darum, konkrete Fakten in ihr repräsentiert zu sehen – anders als dies Gronemann behauptet, wenn sie nur einen spezifischen reduzierten Referenzanspruch im Sinne des White’schen Emplotment ansetzt. Vgl. Gronemann: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie, S. 25.

11

So die Formulierung bei Leopold von Ranke: Geschichten der romanischen und germanischen Völker 1494 bis 1514. Leipzig: Duncker & Humblot 21874 (zuerst: 1824; = Sämmtliche Werke, Bd. 33/34), S. VI. Zu Whites Auseinandersetzung mit Ranke und der Kritik an dessen Objektivitätsideal durch Droysen und andere vgl. White: The Content of the Form, S. 83–103 (»Droysen’s Historik: Historical Writing as a Bourgeois Science«).

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gendetwas, dann nur verstärkt«; je mehr Geschichtserzählungen die Forschung zu einem Gegenstand hervorbringt, desto aussichtsloser erscheint mithin der Versuch, sich den Fakten zu nähern.12 Ein Verhältnis einfacher Referenzialiät, so kann man White verstehen, ist also nicht denkbar – historiografische Quellen und Erzählungen schildern Fakten niemals nur als Fakten, sondern sie tragen kulturspezifische Erklärungsmuster in sich, die unhintergehbar sind; nicht zuletzt deshalb, weil eine Überprüfung am (ja nicht mehr verfügbaren, da vergangenen) Original, wie sie etwa die Naturwissenschaften vollziehen können, im Hinblick auf die historischen Ereignisse niemals möglich ist. Indem die sich performativ vollziehenden Ereignisse in Text umgesetzt werden, wird jede Chance, aus der Rezeptionsperspektive eine Verbindung zu ihnen herzustellen, gekappt13 – der Wechsel vom performativen Charakter des historischen Ereignisses selbst zum diskursiven Charakter seiner Vermittlung erscheint hier als die entscheidende Brücke, die nur in einer Richtung zu beschreiten ist und auf der kein Weg zurück vom Text zum Ereignis führt.14

12 13

White: Auch Klio dichtet, S. 110. Dementsprechend erscheint es aus dieser Perspektive als nicht gewinnbringend, Differenzierungen zwischen ›mehr‹ oder ›weniger‹ referenziellen historiografischen bzw. autobiografischen Texten als Gattungsmerkmale einzuführen: Es handelt sich bei der Frage der Referenzialität nicht um eine Frage der Auswahl, der Entscheidung eines Autors, die so oder so ausfallen kann, bzw. der individuellen Textgestaltung, sondern um eine epistemologische Erkenntnis, die für sich in Anspruch nimmt, generell und unabhängig vom Einzelfall gültig zu sein – White geht es nicht um die Frage, ob ein Text mehr oder weniger referenziell ist oder einen Akzent auf Referenzialität oder Autoreferezialität setzt; vielmehr geht es ihm darum herauszustellen, dass Texte nicht im starken Sinne des Wortes referenziell sein können. Einen entsprechend wenig sinnvoll erscheinenden Versuch der Differenzierung zwischen »heteroreferenziellen« und »autoreferenziellen« Autobiografien (zwischen denen es Zwischenstufen gäbe) macht Nünning: Metaautobiographien, S. 278.

14

Insofern teilt White nicht den Optimismus Diltheys, der ja dem Selbstbiografen die Kraft zuschreibt, diese Brücke überschreiten zu können. Vgl. Kap. 1.1.2. – Die dem Begriff der ›Historio-Graphie‹ innewohnende Paradoxie, die darauf beruht, dass in der Geschichte und dem Schreiben die einander gegenüberstehenden Einheiten des Realen und des Diskurses vereint erscheinen, hat 1975 bereits Michel de Certeau zum Anlass für eine kritische Revision des Referenzcharakters von historiografischen Texten genommen, auf der White deutlich erkennbar aufbaut. Vgl. Michel de Certeau: L’écriture de l’histoire. Paris: Gallimard 1975.

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Für die über die Herstellung von Narrativity hinausgehende Ausrichtung historischer Daten an bestehenden architextuell zugrunde zu legenden Erzählmodellen15 hat White – in Orientierung an der Fiktionalitätstheorie von Northrop Frye16 – den Begriff Emplotment geprägt: »Unter ›emplotment‹ verstehe ich einfach die Kodierung der in der Chronik enthaltenen Fakten als Bestandteile bestimmter Arten von Plotstrukturen«.17 Dabei lässt White keinen Zweifel daran, welche Folgen dieser Prozess für die Differenz zwischen faktualen und fiktionalen Texten aus seiner Sicht hat: Sie verschwindet. Northrop Fryes Konzept der Fiktionalität, auf dem Whites Gedankengang basiert, nimmt als zentrales fiktionalisierendes Verfahren die Ausrichtung von Geschichten an bereits bestehenden archetypischen »prägenerischen Plotstrukturen«18 auf. Wenn White dieses Kriterium für Fiktionalität nun aber gerade auch in historischen Erzählungen auffindet, bleibt letztlich keine andere Möglichkeit, als die Unterscheidung zwischen faktualen (referenziellen) und fiktionalen Texten auf dieser Basis aufzugeben.19 Folgerichtig bescheinigt White dem

15

White verwendet Genettes Begriff der Architextualität nicht, obwohl er sich mit dessen Theoriebildung befasst hat, wie etwa in The Content of the Form deutlich wird (vgl. S. 2 f.). In seiner Argumentation in Bezug auf den Begriff des Emplotments kommt er jedoch zu gattungstheoretischen Annahmen, die wie diejenigen Genettes auf der induktiven Bestimmung von Gattungsbegriffen auf Grundlage beobachteter Phänomene basieren. Er bedient sich dabei eines alternativen Begriffssystems, wenn er die entsprechenden Plotstrukturen, »mit denen [der Leser] als Teil seines kulturellen Erbes vertraut ist«, mit C. S. Peirce als »Ikon« wertet. Vgl. White: Auch Klio dichtet, S. 107–110.

16

White nimmt hier Bezug auf Northrop Frye: Anatomy of Criticism. Four Essays. Princeton: Princeton University Press 1957, ders.: Analyse der Literaturkritik. Stuttgart: Kohlhammer 1964, sowie ders.: New Directions from Old. In: ders.: Fables of Identity. Studies in Poetic Mythology. New York: Harcourt, Brace & World 1963, S. 52–66.

17 18

White: Auch Klio dichtet, S. 103. Hervorhebung im Original. White: Auch Klio dichtet, S. 103. Wie aus dem Skizzierten deutlich wird, verabschiedet sich White von der bei Frye noch vorherrschenden Vorstellung, dass es sich hierbei um allgemein gültige, archetypische Strukturen im Sinne einer »Grammatik literarischer Archetypen« biblischen und mythischen Ursprungs handelt (Frye: Analyse der Literaturkritik, S. 137); er kalkuliert die Möglichkeit historischer und kultureller Variabilität von Verstehensprozessen ein und konzipiert die besagten Plotstrukturen nicht überhistorisch und unabhängig von kulturellen Differenzen, sondern in Abhängigkeit von der kulturellen und historischen Verortung eines Rezipienten (was sein Konzept anschlussfähig macht für ähnliche Gedankengänge wie den der Architextualität).

19

Hiermit geht White also über Genette, der dieses Begriffspaar geprägt hat, hinaus, während sein Konzept in anderen Punkten durchaus in Übereinstimmung mit dessen Ge-

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Historiker, dass seine Funktion darin besteht, »eine bestimmte Plotstruktur und eine bestimmte Menge von historischen Ereignissen, der er eine bestimmte Bedeutung verleihen will, einander an[zupassen]«20 und damit ein »im wesentlichen […] literarisches, d.h. fiktionsbildendes Verfahren«21 einzusetzen. Referenzialität als Eigenschaft historiografischer Texte verschwindet hiermit: Als eine symbolische Struktur reproduziert die historische Erzählung nicht die Ereignisse, die sie beschreibt; sie sagt uns, in welcher Richtung wir über die Ereignisse denken sollen und lädt unser Nachdenken über diese Geschehnisse mit verschiedenen emotionalen Valenzen auf. Die historische Erzählung bildet nicht die Dinge ab, auf die sie verweist; sie ruft die Bilder von Dingen, auf die sie verweist, ins Bewußtsein, in derselben Weise, wie es eine Metapher tut.22

Der zur Metapher gewordene historiografische Text, der die Faktenbasis nur mehr in transponierter Form zur Erscheinung bringen kann, verliert durch diesen Prozess – der einer am Referenzkriterium orientierten Wissenschaftskultur als Verlust erscheinen musste und dementsprechend bekämpft wurde – jedoch nichts von seinem Potenzial der Erkenntnis- und Sinnstiftung. Anders als es einem am Referenzgedanken festhaltenden Historiker vor Augen steht, resultiert Erkenntnis dieser Vorstellung zufolge aus einer Erklärung der »reale[n] Welt, indem wir ihr jene formale Kohärenz verleihen, die wir normalerweise mit den Werken von Autoren der fiktionalen Erzählliteratur assoziieren«:23 Tatsächlich ist damit gerade die Entfernung des historiografischen Textes von seiner Faktengrundlage die notwendige Bedingung dafür, dass er ›erklären‹, Bedeutung haben kann, was, wie White zeigt, eben die Fakten selbst nicht können.24

dankengängen zu bringen ist. Zur Frage Faktualität/Fiktionalität vgl. Genette: Fiktion und Diktion, S. 67 f. 20

White: Auch Klio dichtet, S. 106.

21

White: Auch Klio dichtet, S. 106. Insofern handelt es sich dabei um einen »Akt des Fingierens«, wie er auch für Wolfgang Iser als Entstehungsbedingung von Fiktionalität entscheidend ist. Für Iser sind neben der metafiktionalen Selbstanzeige Selektion und Kombination von Realien Momente, die einen fiktionalen Text hervorbringen – White liegt mit ihm diesbezüglich genau auf einer Linie. Zu Isers Fiktionalitätstheorie vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 18–51.

22

White: Auch Klio dichtet, S. 112. Hervorhebung im Original.

23

White: Auch Klio dichtet, S. 121.

24

Eine noch weiter gehende Destruktion des Referenzparadigmas, die bereits an der Einebnung der linguistisch-semiotischen Differenzierung von Signifikat und Signifikant

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UND

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2.1.2 Zu einer Autobiografieanalyse im Zeichen von Narrativity und Emplotment Was Hayden White mit guten Gründen als erkenntnistheoretische Grundlage für jede historische Erzählung ansetzt, lässt sich ohne Weiteres auf die Autobiografie übertragen: Einem ihrer traditionellen Definitionskriterien, der Referenzialisierbarkeit an einer dem Text vorgängigen Außenwelt, wird der Boden entzogen – von diesseits des Textes ist kein Rückgriff auf die jenseits desselben liegenden Fakten möglich. (Und, so müsste man vielleicht hinzufügen: Er ist angesichts des textpragmatischen Umgangs mit historiografischen Texten auch gar nicht zu wünschen, weil die Fakten selbst eben keine Sinngebung ermöglichen.) Eine Folge davon ist, dass für eine Gattungsdefinition der Autobiografie ein alternativer Weg beschritten werden muss, der ohne dieses Kriterium auskommt – nimmt man Whites referenzkritische Argumente für die Autobiografietheorie zur Kenntnis, kann die Gattung nicht mehr an die Wiedergabe einer vorgängigen historischen bzw. biografischen Wahrheit gekoppelt werden. Methodisch eröffnet Whites Konzept des Emplotments einen Weg zur Untersuchung von sich selbst als autobiografisch ausweisenden Texten, deren Bezugnahmen auf ihnen vorgängige Plots ein wichtiges Merkmal zur Beschreibung der sich in ihnen vollziehenden Prozesse der Bedeutungskonstitution darstellen. Aufgabe einer Autobiografietheorie nach White wäre es also, vorgefundene autobiografische Erzählungen dahin gehend zu analysieren, entlang welcher bereits tradierten Erzählstrukturen sie verfahren – und auf diese Weise wäre so auch ein Beitrag zu den konkreten Verfahren der Sinnstiftung im Bereich der Autobiografie zu erzielen. Erkenntnistheoretisch ist daran auch der Grundgedanke interessant, dass die Zuschreibung von Bedeutung und Sinn zunächst einmal ein Prozess ist, der auf kulturell bereits bestehende Muster zurückgeht und damit auf den ersten Blick einem Moment widerspricht, das gerade für die Autobiografie wichtig zu sein scheint: Der von vielen Texten der Gattung ausgestellte Anspruch, das autobiografische Ich und seine Lebensgeschichte in ihrer Einmaligkeit und ihrem nicht hintergehbaren individuellen Verlauf zu präsentieren, stößt demnach schon allein deshalb an eine Grenze, weil er schlicht als solcher für einen Rezipienten nicht verständlich sein kann. Verstehen erfolgt in dieser Perspektive ja gerade dadurch, dass Bezüge zu bekannten

ansetzt, ließe sich auf der Basis des Denkens von Jacques Derridas Grammatologie vornehmen. Hier wird diese Linie aufgrund ihrer aus meiner Sicht gegenüber White geringeren textanalytischen Anschlussfähigkeit nicht weiterverfolgt. Vgl. zu entsprechenden Konsequenzen Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie, S. 357.

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Mustern hergestellt werden – das Einzigartige, Individuelle sperrt sich, wie White klarmacht, gegen das Verstehen (weswegen die Ereignisse einer Chronik im Gegensatz zu den in eine Geschichtserzählung eingebundenen ›rätselhaft‹ und ›exotisch‹25 bleiben). In den Analysen literarischer Texte im Rahmen dieser Studie ist dieses Verfahren später zu erproben – beispielhaft wird eine Technik der Beglaubigung einer individuellen Geschichte durch ihre Bindung an tradierte Plots in Paul Austers The Invention of Solitude erkennbar (vgl. Kapitel 7.1). Angesichts der fundamentalen Referenzkritik, die White übt, mutet es vielleicht überraschend an, welch große Rolle er dem anderen Ankerpunkt der traditionellen Autobiografietheorie einräumt: dem selbstbestimmten (Autor-)Subjekt. Wie gesehen, ist es ja der Historiker mit seiner spezifischen Kompetenz als Autor von Geschichtserzählungen, der für die Wahl der Plots verantwortlich gemacht wird, mit denen er Sinngebung und Verstehen ermöglicht. Die Realisierung von Narrativity und Emplotment ist, obwohl faktisch vor allem im Zusammenspiel zwischen Text und Rezipient relevant, ein Vorgang, der aus Whites Sicht darauf beruht, dass der fähige Historiker eine bestimmte vorgängige Darstellungsform für seine Erzählung wählt26 – sie bleibt damit letztlich ein intentionales Konzept, was seine eigenen Probleme mit sich bringt. Das Referenzparadigma fällt bei White, das Autorschaftsbzw. Subjektivitätsparadigma bleibt in seiner Theoriebildung hingegen weitgehend intakt. Andere Theoretiker sehen hierin jedoch Probleme, die es sinnvoll erscheinen lassen, auch dieses Paradigma in einer Form aufzulösen, durch die für die Autobiografietheorie etwas zu gewinnen ist. Diesen Versuchen widmen sich die folgenden Kapitel zu diskursanalytischen und intertextualitätstheoretischen Ansätzen.27

25

Vgl. White: Auch Klio dichtet, S. 106.

26

Ob Elemente einer Geschichte »ihren Platz am Ende in einer tragischen, komischen, romantischen oder ironischen Geschichte (story) finden […], hängt von der Entscheidung des Historikers ab, sie entsprechend den Erfordernissen der einen Plotstruktur oder des einen Mythos statt eines anderen anzuordnen.« White: Auch Klio dichtet, S. 104 f. Hervorhebung: RWJ.

27

An Whites Auseinandersetzung mit dem Schaffen Foucaults lässt sich ablesen, inwiefern er sich gegen dessen Vorstellungen von einer Umdeutung bzw. Auflösung des Subjektbegriffs wendet. Letztlich verfolgt White hierbei eine ethische Linie, die Foucaults Vorgehensweise als »antihumanistisch« kritisiert, indem er nicht dessen epistemologische Fragestellung in den Blick nimmt, sondern vor allem eine politische Linie der Kritik an Diskursen der Autorität in Foucaults Werk herauszuarbeiten sucht. Indem er die erkenntnistheoretischen Gründe, die Foucault für seinen Verzicht bzw. seine Neudeutung des Subjektbegriffs anführt, hintanstellt, entgeht White meines Erachtens der zentrale Aspekt in dessen Werk, wie er im folgenden Abschnitt ausgeführt werden soll.

P OSTMODERNE THEORIEBILDUNG

2.2 M ENSCH

UND

S UBJEKTKRITIK

UND

BEI

A UTOBIOGRAFIETHEORIE

| 73

F OUCAULT

2.2.1 Zur Revision von Subjektivität in der Diskurstheorie Von den diskursanalytischen Überlegungen Michel Foucaults nimmt eine wichtige Strömung der Subjektkritik seit den 1960er-Jahren ihren Ausgang. Foucault siedelt seine Thesen in einem Bereich an, der auch von anderen Theoretikern immer wieder in den Blickpunkt gerückt wird: in dem der Kritik historisch argumentierender Wissenschaften. Er formuliert hier so klar wie entschieden: Diskurs im allgemeinen und wissenschaftlicher Diskurs im besonderen ist eine so komplexe Realität, daß wir nicht allein Zugang dazu auf anderen Ebenen und mit verschiedenen Methoden finden können, sondern sollten. Wenn es aber einen Weg gibt, den ich ablehne, dann ist es der […], der dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt, der einem Handeln eine grundlegende Rolle zuschreibt, der seinen eigenen Standpunkt an den Ursprung aller Historizität stellt – kurz, der zu einem transzendentalen Bewußtsein führt. Mir scheint, daß die historische Analyse des wissenschaftlichen Diskurses letzten Endes Gegenstand nicht einer Theorie des wissenden Subjekts, sondern vielmehr einer Theorie diskursiver Praxis ist.28

Das Bewusstsein des Subjekts wird – entgegen der Tradition – nicht mehr als Zentrum historischer Erkenntnis gesehen, seine transzendentale Gewalt als wahrnehmendes und wissendes »Ding an sich«, die der Tradition mit Descartes und Kant als Dreh- und Angelpunkt ihres Weltbildes gegolten hatte und das in der autobiografietheoretischen Tradition Diltheys die wesentliche Instanz bildete, die die Einheit der Geschichte und des Verstehens sicherte, wird aus dieser Position verdrängt. Gleichzeitig schlägt Foucault eine Alternative vor, der sein Projekt der Diskursanalyse gewidmet ist: Er begreift die Welt des Diskurses nicht als eine Welt wissender Subjekte, sondern als eine der »diskursiven Praxis«,29 um deren Theoriebildung und

Deutlich wird gleichwohl, dass hinsichtlich der Referenzfrage eine große Einigkeit in den Konzeptionen Whites und Foucaults festzustellen ist (vgl. etwa White: The Content of the Form, S. 104–141, hier S. 123). 28

Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften.

29

Zum Begriff der »diskursiven Praxis«, der erst in der Archäologie des Wissens seine

Aus dem Franz. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 15. charakteristische Ausgestaltung erhält, vgl. Andrea D. Bührmann: Der Diskurs als Diskursgegenstand im Horizont der kritischen Ontologie der Gegenwart. In: Hannelore Bublitz u.a. (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt a.M./New York: Campus 1999, S. 49–62, hier S. 50.

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Analyse es ihm zu tun ist. In dieser diskursiven Praxis scheint nun das Subjekt zu verschwinden – und in der Rezeption ist Foucaults Angriff auf die transzendentalphilosophischen Grundfesten der europäischen Tradition mithin als Schlacht gegen das Subjekt, um dessen Tod es Foucault gehe, bekämpft worden.30 Was bei einer solchen Überspitzung von Foucaults Theorieansatz übersehen wird, ist jedoch die Tatsache, dass an die Stelle eines von Anfang an als transzendentaler Anker festgelegten Subjekts etwas anderes gestellt wird, und zwar die »diskursive Praxis«, in der es allererst entstehen kann. Foucault ›tötet‹ das Subjekt nicht, er tritt nur für eine andere Betrachtung desselben ein: »Auch nach seinem Tode ist für uns das Subjekt noch gegenwärtig, nur nicht mehr als ein widerspruchsfreies Schema der Ordnung unserer Beziehung zur Welt und zu uns selbst, sondern als ein in sich brüchiges«,31 wie Peter Bürger an Foucault anschließend formuliert. Der Weg zu seiner Kenntnis ist für ihn nicht mehr so unproblematisch, wie es die aus seiner Sicht weitgehend unbekümmerten Verwendungen des »Ich« in Descartes’ »Ich denke, also bin ich«32 oder Kants »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen

30

Vgl. hierzu etwa die Auseinandersetzung mit Foucaults subjektkritischem Diskursbegriff im Zeichen einer alternativen, »kommunikativen« Subjektphilosophie bei Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, insb. S. 279–389, sowie die entsprechende Kritik bei White, die oben benannt wurde (White: The Content of the Form, S. 104–141). Vgl. auch die Wahrnehmung postmodernen Denkens als »Gelächter über die Bodenlosigkeit der nachkantischen Philosophie« und als »nicht mehr subjektphilosophisches Denken« bei Peter Bürger: Die Wiederkehr der Analogie. Ästhetik als Fluchtpunkt in Foucaults ›Die Ordnung der Dinge‹. In: Jürgen Fohrmann u. Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 45–52, hier S. 45. – Eine Gleichsetzung von Foucaults Umgang mit dem Subjektbegriff mit Barthes’ Schlagwort vom »Tod des Autors« nimmt Seán Burke: The Death and Return of the Author. Criticism and Subjectivity in Barthes, Foucault and Derrida. Edinburgh: Edinburgh University Press 1992, vor.

31

Bürger: Das Verschwinden des Subjekts, S. 13.

32

René Descartes: Entwurf der Methode. Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie. Übersetzt u. hg. v. Christian Wohlers. Hamburg: Meiner 2013, S. 30 (4. Abschnitt). Hervorhebung im Original. – Zum Anschließen der poststrukturalistischen Subjektkritik an Nietzsches Auseinandersetzung mit Descartes und die dort geprägte Formulierung vom Ich als »regulative[r] Fiktion« (Nietzsche: KSA 11, S. 526. Hervorhebung im Original), vgl. Martin Stingelin: »er war im Grunde der eigentliche Schriftsteller, während ich bloss der Autor war«. Friedrich Nietzsches Poetologie der Autorschaft als Paradigma des französischen Poststrukturalismus (Roland Barthes, Gilles

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begleiten können«33 im (wenn auch nicht ungebrochenen, so doch zumindest hoffnungsfrohen) Vertrauen auf die Introspektionskraft des Subjekts noch erkennen ließen – Foucault macht deutlich, dass der direkte Zugriff des Einzelnen auf sein Inneres und damit auch dasjenige seines Gegenübers (zunächst für den Bereich der historischen Wissenschaften) problematisch wird. Was für ein Zugang bleibt aber zum anderen? Die Antwort Foucaults: Einerseits wird der Mensch durch die Arbeit, das Leben und die Sprache beherrscht: seine konkrete Existenz findet in ihnen ihre Bestimmungen. Man kann zu ihm nur Zugang durch seine Wörter, seinen Organismus, die von ihm hergestellten Gegenstände haben. Als hielten sie als erste (und vielleicht allein) die Wahrheit in den Händen. Und er selbst enthüllt sich, sobald er denkt, seinen eigenen Augen nur in der Form eines Wesens, das bereits in einer notwendig darunterliegenden Schicht, in einer irreduziblen Vorherigkeit, ein Lebewesen, ein Produktionsinstrument, ein Vehikel für präexistente Wörter ist. Alle diese Inhalte, die sein Wissen ihm als ihm äußerlich und älter als seine Entstehung enthüllt, antizipieren ihn, überpfropfen ihn mit ihrer ganzen Festigkeit und durchdringen ihn, als wäre er nichts weiter als ein Naturgegenstand oder ein Gesicht, das in der Geschichte verlöschen muß.34

Introspektion, wie sie von Descartes und Kant als Ursache der Gewissheit des Subjekts über sich selbst und als Ausweis seiner Unabhängigkeit von der empirischen Welt angesprochen wird, enthüllt in Foucaults Blickwinkel die Endlichkeit des Menschen, seine Abhängigkeit von bereits vor ihm und nach ihm existierenden Netzwerken diskursiver Praxis. Was der »Mensch« – Foucault vermeidet hier den transzendental aufgeladenen Subjektbegriff – tut, ist, seine »konkrete Existenz« in diesen bereits vor ihm vorhandenen Netzwerken zu positionieren. Das geschieht, indem er arbeitet, Dinge produziert oder seinen Körper in Interaktion mit der Welt setzt. Wenn nun aber der Mensch selbst nur über die Vermittlung des Diskurses Zugang zu seinen eigenen Produktionen erhält, so gilt dies ebenso von anderen Menschen, die Zugang zu ihm erhalten wollen. Der Weg dazu ist angesichts dieser

Deleuze, Michel Foucault). In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 80–106. 33

Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der 1. und 2. Originalausgabe hg. v. Raymund Schmidt. Hamburg: Meiner 31990, I. Buch, II. Hauptstück, § 16. – Zu Foucaults (tendenziell polemischer) Sicht auf Kant, vgl. Barbara Becker-Cantarino: Foucault on Kant. Deconstructing the Enlightenment? In: Sara Friedrichsmeyer u. dies. (Hg.): The Enlightenment and Its Legacy. Studies in German Literature in Honor of Helga Slessarev. Bonn: Bouvier 1991, S. 27–33.

34

Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 378 f.

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Weltsicht vorgezeichnet: Er kann nur über die Verknüpfung der individuellen Position des anderen, die sich in dessen nach außen hin sichtbaren, praktischen Produktionen zeigt, mit den bereits vor Erscheinen des Einzelnen existenten Netzwerken diskursiver Praxis beschritten werden. Individuelle Menschlichkeit zu erkennen heißt mit Foucault, die diskursive Praxis des Einzelnen im Zusammenspiel mit der ihn umgebenden, wandelbaren diskursiven Umwelt wahrzunehmen. Hier ist die Stelle des Menschen innerhalb der Diskurse, hier wird auch – in einem veränderten, transzendentalphilosophisch ›entschlackten‹ Sinne – wieder Raum für die Rede vom Subjekt geschaffen. Dieses Subjekt ist indes – da es nur in Abhängigkeit vom sich stets wandelnden Raum der Diskurse beschrieben werden kann – weit weniger festlegbar und stetig als dasjenige der klassischen Subjekttheorie. Sein Sich-Einschreiben in den Diskurs ändert denselben und ist gleichzeitig von seinen Formationsgesetzen bestimmt. Die Grenzen sind dabei nicht eindeutig auszumachen: Es ist das Wechselspiel zwischen eigenständiger Positionierung und allgegenwärtiger, immer schon vorgängiger Diskursmacht, in dem so etwas wie Subjektivität entstehen kann. Derjenige, der da produziert und an seinen Produktionen erkannt werden kann, wird von Foucault immer schon als Schnittpunkt der Bedingungen gedacht, die diese Produktivität erst möglich machen.35 Er ist nicht ein transzendentaler Autor seiner Hervorbringungen, der die Bedingungen seines Schaffens qua cogito von Anfang an unter Kontrolle hätte.36 Die Werke eines Subjekts sind daher nicht mehr Repräsentationen seiner selbst, sondern sie verweisen nur in indirekter Weise – vermittelt über die Gesamt-

35

Oder anders: »Die Idee des Autors als kreativ-bildendes Subjekt, sprachmächtig und sprachschöpfend zugleich, weicht der einer vorgängigen symbolischen Ordnung und der Vorstellung vom Einzelnen als Schnittpunkt differenter Diskurse jenseits aller Selbstdurchsichtigkeitsphantasmen.« Jürgen Fohrmann u. Harro Müller: Einleitung. Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. In: dies. (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9–22, hier S. 15.

36

Die Vorstellung von Autorschaft, die Foucault zurückweist, kann man mit Uwe Japp als die »Fiktion eines absoluten Autors« bezeichnen, dessen »Tod« durch Foucault und Barthes suggeriert werde. Beide löschten jedoch »die Bedeutung des Autors nicht aus«, sondern »vermehrten« sie, indem sie die »Eigendynamik des Diskurses bzw. der Sprache in Erinnerung« brächten. Dies bewertet Japp kritisch, wenn er betont, dass es hierbei zu Einseitigkeiten komme. Aus dieser von ihm beobachteten Struktur ergibt sich aber gleichwohl die Möglichkeit, eine andere Analyse von Autorschaft auf dem in diesem Buch verfolgten Weg zu leisten. Vgl. Uwe Japp: Der Ort des Autors in der Ordnung des Diskurses. In: Fohrmann u. Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, S. 223–234, hier S. 233.

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heit der diskursiven Praxis – auf den nicht mehr selbst ›hinter ihnen stehenden‹, sondern allererst durch sie hervorgebrachten ›Autor‹; Foucault beschreibt diesen Zusammenhang als eine »charakteristische Trennung des Bewußtseins von der Repräsentation«, bei der Letztere für das Bewusstsein selbst eben nicht mehr »transparent« ist.37 Das Subjekt, das aus Foucaults Subjektkritik hervorgeht, ist schließlich eins mit seiner diskursiven Praxis.38 Es gibt für Foucault keinen Grund mehr, auf ein Bewusstsein ›hinter‹ derselben Rückgriff zu nehmen, weil dieses, wie er feststellt, ohnehin intransparent, weder ›von außen‹ noch ›von innen‹ je erreichbar ist. Subjektivität ist damit ein Ergebnis diskursiver Praxis, die gleichzeitig der einzige Ort ist, an dem die Analyse des Subjekts stattfinden kann. Die Formen, in denen sich ein Mensch auf die Gesamtheit des Diskurses bezieht – etwa in seinen textuellen Äußerungen, um die es der Literaturwissenschaft vorrangig geht –, stellen den Menschen als Punkt in einem Netzwerk der Diskurse erst her, er ist damit letztlich selbst ein textuelles Phänomen, das durch eine spezifische Art der verknüpfenden Textanalyse, wie sie Foucault mit der Diskursanalyse betreibt, ansprechbar wird.39

37 38

Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 434 f. Vgl. hierzu und zu den Verbindungen dieser Art der Subjekttheorie mit einer »(post)strukturalistischen Wissenssoziologie« im Anschluss an Weber und Bourdieu: Rainer Diaz-Bone: Probleme und Strategien der Operationalisierung des Diskursmodells im Anschluss an Michel Foucault. In: Bublitz u.a. (Hg.): Das Wuchern der Diskurse, S. 119–135, hier S. 124–126.

39

Insofern ist die Herangehensweise, die Foucault in seinen diskursanalytischen Grundlagentexten der 1960er- und 1970er-Jahre – vor allem in Die Ordnung der Dinge, Archäologie des Wissens und Überwachen und Strafen – wählt, für eine literaturwissenschaftliche Analysemethodik einschlägiger als die stärker praxisphilosophische Denkrichtung, die sein Spätwerk prägt. Zwar geschieht auch etwa Foucaults Analyse der Selbstpraktiken bzw. der Selbstkultur, die er in der Hermeneutik des Subjekts anstrebt, immer noch auf diskursanalytischen Pfaden, allerdings bringt es die dort stattfindende stärkere Konzentration auf Praktiken der Bereiche »Diätetik, Wirtschaft, Erotik« (Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France 1981/82. Aus dem Franz. v. Ulrike Bokelmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 205) mit sich, dass der Zugang einer textorientierten Analyse verglichen mit dem Foucault’schen Frühwerk erschwert wird. Ähnliches gilt für die beiden letzten Teile des Projekts Sexualität und Wahrheit (1984). Für das in dieser Studie im Mittelpunkt stehende Erkenntnisinteresse spielt daher Foucaults Spätwerk eine untergeordnete Rolle, die im Folgenden ausgearbeitete Methodik orientiert sich in erster Linie an den programmatischen und methodologischen Grundlagentexten Die Ordnung der Dinge und Archäologie des Wissens.

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Hier liegt der Ort, an dem eine an Foucault orientierte Theorie der Autorschaft und des Subjekts gleichermaßen anknüpfen kann: In der Textualität des Menschen bietet sich die Möglichkeit, seine Subjektivität sowie seine spezifische Form der Verbindung von Diskursen, als die man Autorschaft beschreiben kann, in den Blick zu nehmen. Die Diskurspraxis eines Einzelnen – etwa eines Autors – kann ausschließlich über seine diskursiven Beiträge erschlossen werden; die Texte selbst lassen die Subjektivität dessen entstehen, der sie im Rahmen diskursiver Praxis hervorbringt. Das Verhältnis »Autor/Text« ist aus diesem Blickwinkel nicht ein einseitiges Verhältnis von Produzent und Produkt, sondern eine komplexe Struktur der diskursiven Praxis, in der der Autor gleichermaßen vom Text hervorgebracht wird, wie er ihn hervorbringt. Das bedeutet aber nicht, dass ein »Autorsubjekt« hier nicht mehr angesprochen und analysiert werden könnte – es verlangt jedoch einen Wechsel des Blickpunkts, der sich von der traditionellen Vorstellung eines Subjekts, das aus sich selbst heraus schöpferisch textuelle Beiträge produziert, verabschieden muss. Gelingt dies, so zeigt sich der große Vorteil eines solchen Begriffs von Autorschaft und Subjektivität für die Literaturwissenschaft: Der Autor wird dann zum analysierbaren Ausdruck des Textes und bleibt nicht eine inkommensurable, außertextliche Monade, die in unklärbarer Verantwortung die genial-produktive Wurzel eines von ihr vollkommen abgekoppelten Objekts darstellt. Mit Foucaults Grundlagentexten der Diskursanalyse lässt sich so eine Theorie der Autorschaft entwickeln, die mit der spezifischen Theorie des Subjekts, die der Diskursanalyse zugrunde liegt, parallel geht. Eine komplexe Textanalyse, die Strategien diskursiver Formationen und der Textgestaltung im Blick behält, entspricht so der differenziellen Feststellung einer Subjektposition im Netz der Diskurse. Foucaults eigene Ausführungen zur Autorschaft, etwa in dem kanonischen Vortrag Was ist ein Autor?, decken sich nur partiell mit dieser Vorgehensweise. Er selbst scheint eher die Mechanismen in den Blick zu nehmen, die der Begriff des Autors im Diskurs auslöst, weniger die Konstruktion eines Autorsubjekts. Dennoch skizziert er sein Vorhaben hier ganz ähnlich wie in den oben zitierten Schlüsseltexten: Es geht darum, das traditionelle Problem umzukehren. Nicht mehr die Frage zu stellen: wie lässt sich die Freiheit eines Subjekts in die Kompaktheit der Dinge einfügen und ihr einen Sinn verleihen, wie kann sie von innen die Regeln einer Sprache beleben und so ihre eigenen Ziele an den Tag bringen? Vielmehr sollte man fragen: wie, aufgrund welcher Bedingungen und in welchen Formen kann so etwas wie ein Subjekt in der Ordnung des Diskurses erscheinen? Welchen Platz kann es in jedem Diskurstyp einnehmen, welche Funktionen kann es ausüben, indem es welchen Regeln folgt? Kurzum, es geht darum, dem Subjekt (oder seinem

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Substitut) seine Rolle als ursprüngliche Begründung zu nehmen und es als variable und komplexe Funktion des Diskurses zu analysieren.40

Die oben beschriebene Vorstellung eines Subjekts als Resultat der Diskurse, in die es eingebunden ist, spiegelt sich auch hier wider. Foucault betont, dass das Subjekt – hier verwendet er sogar den in Die Ordnung der Dinge noch vermiedenen Begriff – nicht Urheber von Diskursen ist, nicht die Instanz ihrer »ursprüngliche[n] Begründung«, sondern dass ihm in der »Ordnung des Diskurses« ein Platz zugewiesen wird, der als variable und komplexe Funktion des Diskurses selbst zu beschreiben ist und der sich also – wie oben angedeutet – aus dem Zusammenspiel eigener Beiträge zur diskursiven Praxis mit der Gesamtheit des Diskurses ergibt. Im Rest des Textes verfolgt Foucault jedoch daneben eine andere Fragestellung, die meist mit seiner Theorie der Autorschaft verbunden wird.41 Er legt den Akzent auf die Fragen: »Was ist ein Autorname? Und wie funktioniert er?«42 Hier geht es Foucault nicht um den grundsätzlichen Status von Autorschaft, um die Herstellung von so etwas wie Subjektivität in verschiedenen Diskursen, sondern hier hat er im Blick, wie ein bestimmter Begriff – der des Autors – historisch im Diskurs entstanden und wirksam geworden ist, er spricht auch vom Auffinden und Untersuchen der »›Autor‹-Funktion«.43 Er betreibt »historische Diskursanalyse« im engeren Sinne, wenn er etwa feststellt, in welchen bestimmten Diskursen der Begriff des Autors auftaucht, wozu er verwendet wird, was die historischen Nebenbedingungen einer solchen Verwendung sind und welche diskursiven Formationsregeln sich aus der Verwendung des Begriffs ergeben. Die Autorfunktion zeigt schließlich, dass eine bestimmte Art, Diskurse zu strukturieren – in diesem Fall eben über die Zuschreibung bestimmter Texte zu einem Autor – ausgreifende Konsequenzen für den Diskurs selbst und seine Fortschreibung hat. Diese Frage kann aber nur im Mittelpunkt stehen, wenn man sich – wie das Foucault ja ausführlich getan hat – mit bestimmten Feldern des wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Diskurses selbst befasst. Für

40

Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: ders.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Übersetzt v. Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek u. Hermann Kocyba. Auswahl u. Nachwort v. Martin Stingelin. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 234–270, hier S. 259.

41

So z.B. in zwei einschlägigen Aufsätzen von Simone Winko und Fotis Jannidis im Sammelband Rückkehr des Autors: Simone Winko: Einführung: Autor und Intention. In: Jannidis u.a. (Hg.): Rückkehr des Autors, S. 39–46; Jannidis: Der nützliche Autor. Ebd., S. 353–389.

42

Foucault: Was ist ein Autor? S. 242.

43

Foucault: Was ist ein Autor? S. 245.

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eine Fragestellung wie die hier verfolgte – wie werden Autorschaft und Subjektivität in literarischen Texten erkennbar? – ist die andere Strömung Foucault’schen Denkens ergiebiger. 2.2.2 Zur Methodik: Autorsubjektivität als Resultat von Diskursen Welche methodischen Folgerungen sind aus dem skizzierten Verständnis von Mensch und Diskurs bei Foucault nun für eine Untersuchung zu ziehen, die sich mit Texten befasst, die schreibende Subjekte in ihren Mittelpunkt stellen? Es handelt sich bei diesen Texten gewissermaßen um einen Sonderfall, für den die diskursanalytische Zugangsweise besonders gut geeignet erscheint: Anders als in anderen Texten, in denen die Bestimmung eines Subjekts im beschriebenen Sinn oft nur durch äußere Rahmenbedingungen des Diskurses möglich ist, verhandeln autobiografische Texte nicht nur diese Rahmenbedingungen, sondern in der Regel auch das Produktivwerden der Subjekte im Diskurs. Als Autoren schreiben sie sich in das präsentierte diskursive Umfeld ein und tragen so in besonderer Weise zur Bestimmung ihrer eigenen Position bei. Indem Schreibende durch ihre diskursive Aktivität und das sie umgebende diskursive Umfeld beschrieben werden, beinhaltet das Hervortreten von Subjekten in solchen Texten ein aktivisches Moment; Autobiografien unterstreichen so, dass Subjektivität im Foucault’schen Sinne eben nicht – wie vielfach fälschlich beklagt – mit Determination durch den Diskurs gleichzusetzen ist, sondern stets auch das Moment einer an diskursive Bestimmtheit anschließenden Produktivität einschließt. Im Folgenden gilt es, als methodische Vorüberlegung zur konkreten Textanalyse noch einmal das Verhältnis von Einzeltext und Diskurs sowie das daran anschließende Verhältnis von Diskurs und Subjekt im Hinblick auf diese besonderen Eigenschaften der hier zu untersuchenden Texte in den Blick zu nehmen. Der Zugriff der Diskursanalyse auf Einzeltexte ist bestimmt von der Grundannahme, dass diese nicht Produkte einer einzigartigen kreativen Leistung eines Verfassers seien, sondern dass sie durch diskursive Rahmenbedingungen ermöglicht werden, die sich in den Texten selbst wiederfinden lassen. Das heißt, dass sich ein Text gleichsam als Raum wahrnehmen lässt, in dem sich verschiedene Strömungen des Diskurses bzw. verschiedene Diskurse überlagern. Das spezifische Verhältnis des Einzeltextes im Verhältnis zum Ganzen der Diskurse, an denen er partizipiert, lässt sich beschreiben durch ein Nachzeichnen dieser Diskurse und der Stellen, an

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denen der Text selbst auf sie verweist.44 Ein singulärer literarischer Text ist so zwar nicht unabhängig vom ihn umgebenden Diskurs (ja, er wird durch diesen erst ermöglicht); gleichwohl wird er nicht direkt und in voraussehbarer Weise durch den Diskurs determiniert, sondern erscheint als komplexes Konstrukt, das an verschiedenen Diskursen teilhat, die im Text erkennbar präsent sind. Der Diskursanalyse gelingt so im Hinblick auf den Begriff des Textes zweierlei: Einerseits verweist sie darauf, welche nachprüfbaren diskursiven Rahmenbedingungen sich im Text erkennen lassen und öffnet den Textbegriff hiermit – ein Text ist demzufolge nicht hermetisch abgeschlossen, sondern kann eher als Knotenpunkt in einem den Text selbst bei Weitem übersteigenden diskursiven Netzwerk wahrgenommen werden.45 Andererseits, und das beinhaltet die Metapher vom »Knotenpunkt« bereits, ist die genaue Stelle, die der Text in verschiedenen Diskursen einnimmt, anzugeben: Durch seine spezifische Konstellierung verschiedener diskursiver Stränge erhält jeder Text seine eigene und einzigartige Position im Diskurs, die durch den Nachvollzug der sie bedingenden Diskurselemente beschrieben werden kann.46 Eine Besonderheit, die auf die Texte zutrifft, die man traditionell unter dem Gattungsetikett Autobiografie zusammengefasst hat, ist es nun, dass sie diese Eigenschaft von Texten nicht nur selbst aufweisen, sondern dass sie explizit (und natürlich in verschiedenen Graden) verdeutlichen, dass dieser Mechanismus der Verortung im Diskurs nicht nur für Texte gilt, sondern auch für die Figuren, die den Diskurs in Gang halten, indem sie Texte produzieren: für schreibende Menschen oder Autorsubjekte. Auch sie lassen sich – analog zu den durch sie hergestellten Diskursbeiträgen – in dieses diskursive Netzwerk einordnen, und Autobiografien

44

Eine solche Beschreibung muss im Zusammenhang der hier angestrebten Textanalysen stets notwendig fragmentarisch bleiben, vollständige Diskursanalysen im engeren Sinn sind dabei nicht zu leisten.

45

In dieser Hinsicht ergeben sich die deutlichsten Schnittstellen zwischen Diskursanalyse und Konzepten der Intertextualität. Vgl. hierzu Kap. 2.3 und 2.4.

46

Je genauer dabei die Analysen der einzelnen Diskurse sind, desto genauer wird sich eine solche Konstellation skizzieren lassen. Im Hinblick auf die Textanalyse muss hier betont werden, dass die Genauigkeit dieser Analysen zuallererst davon abhängig ist, wie stark der untersuchte Text selbst Einblicke in die von ihm dargestellte diskursive Umwelt zulässt – Autobiografien, so die Annahme, tun dies in stärkerem Maße als andere Texte, da sie sich häufig gerade mit der Schnittstelle des Einschreibens eines Subjekts in die umgebenden Diskurse befassen. Zu dieser Eigenschaft autobiografischer Texte vgl. z.B. die gattungstheoretisch argumentierende Arbeit von Gabriele Schabacher: Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die Funktion ›Gattung‹ und Roland Barthes’ Über mich selbst. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.

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tun dies in unterschiedlicher Weise. Foucault legt nahe, dass sich Subjektivität danach bestimmen lasse, mit welchen Mitteln und an welcher Stelle sich ein Mensch im Diskurs verortet, erhält man doch Zugang zu seiner Existenz nur »durch seine Wörter, seinen Organismus, die von ihm hergestellten Gegenstände«.47 Texte, die das schreibende Subjekt thematisch in den Mittelpunkt stellen, verhandeln mithin genau das Moment, an dem für Foucault Subjektivität in einem veränderten Sinn sichtbar wird. Aus ihrer – im zu untersuchenden Text partiell vergegenwärtigten – diskursiven Umgebung heraus wird erkennbar, was die Bedingungen des Produktivwerdens einer solchen Autorfigur sind, und deren Bild entsteht durch ihre hier geschilderte Einbindung in die »diskursive Praxis«, an der sie als Autoren teilnehmen. In den in den folgenden Kapiteln untersuchten Texten wird die Frage verhandelt, auf welchen Wegen das Subjekt zum Schreiben kommt und welchen diskursiven Rahmenbedingungen es dabei ausgesetzt ist. Nicht nur der Text selbst erscheint so als spezifischer Schnittpunkt der Diskurse, die sich in ihm überlagern, sondern innerhalb der erzählten Welt wird diese Ansammlung von Diskursen dazu fruchtbar gemacht, das Schreiben selbst, den Eintritt eines Autors in den Diskurs abzubilden. In einer Autobiografietheorie, die sich in dieser Weise an Foucault orientiert, geht es mithin nicht mehr um die Annahme eines transzendentalen (Autor-)Subjekts, dessen reales Produktivwerden im Text zur Abbildung kommt, sondern die so verstandene Autobiografie markiert ihrerseits eine spezifische diskursive Stelle, an der das schreibende Subjekt erst hervorgebracht bzw. produktiv wird. Autor wie Text werden dabei konsequent als diskursive Instanzen wahrgenommen, von denen aus kein Weg zurück in eine in anderen Theorien als ungeklärte Ausgangsbedingung behauptete vor-diskursive, ›reale‹ Welt führt. Anders als es Foucault in seinem eigenen Umgang mit dem Autorbegriff tut – sein Untersuchungsgegenstand war die Stelle des Begriffs »Autor« im breiteren wissenschaftlichen Diskurs –, nutzt die hier folgende Analyse also die Vorstellung, dass Autoren (als Menschen, die sich in den ihr Schreiben ermöglichenden Diskurs selbst einschreiben) in autobiografischen Texten entstehen, die ihrerseits Ausschnitte der sie umgebenden Diskurse präsentieren. Es ergibt sich demnach die Frage, welche Diskurse in den Texten als bestimmend für den schreibenden Menschen wahrgenommen werden, auf welche Weise sie das Schreiben dieser Figur prägen und in welcher Hinsicht sich durch diese diskursive Verortung Kombinationen ergeben, die sich als spezifische Schnittstelle verschiedener Diskurse darstellen, die also als markant für die jeweils infrage stehende Figur wahrgenommen werden können.

47

Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 378.

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2.3 D AS »S UBJEKT DER S CHREIBWEISE « BEI J ULIA K RISTEVA Julia Kristeva gebührt das Verdienst, das Schaffen des russischen Theoretikers Michail Bachtin in die fruchtbare literaturtheoretische Diskussion im Frankreich der späten 1960er-Jahre eingeführt zu haben. Bachtins Werke waren zu dieser Zeit noch nicht übersetzt worden; sein Schaffen, das seit den späten 1920er-Jahren direkt an die Formalisten anschloss, hatte zu zwei Studien über Dostojewskij und Rabelais geführt, die literaturtheoretisch hochinteressant sind, aber aus politischen Gründen erst 1963 und 1965 in russischer Sprache erscheinen konnten.48 In ihrem frühen zentralen Aufsatz Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman,49 zuerst 1967 in Critique erschienen und wohl auf eine Präsentation zurückgehend, die die 25-jährige Doktorandin 1966 im Seminar von Roland Barthes gegeben hatte,50 führt Kristeva in das Schaffen Bachtins ein, überformt aber zum Teil bereits dessen Theoriebildung: Das Werk des russischen Theoretikers bildet den Ausgangspunkt für daran anknüpfende eigene Gedanken, die fest im literaturtheoretischen Diskurs des Tel-Quel-Umfeldes verankert sind51 – ein intellektueller Kontext, von dem Bachtins Denken in verschiedener Hinsicht weit entfernt ist (was aufgrund des

48

Michail M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Aus dem Russ. v. A. Schramm. München u.a.: Hanser 1971 (im Original: 1963); ders.: Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur. Hg. u. mit einem Vorwort v. Renate Lachmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987 (im Original: 1965). – Wie auch die Formalisten hatte Bachtin unter einem Publikationsverbot zu leiden, durch das die stalinistische Wissenschaftspolitik die mit der offiziellen Doktrin des sozialistischen Realismus aus ihrer Sicht nicht vereinbaren Theorierichtungen unterdrückte.

49

Im Folgenden zitiert nach der Übersetzung: Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman (1967). In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S. 345–375.

50

Vgl. Andrea Lesic-Thomas: Behind Bakhtin: Russian Formalism and Kristeva’s Intertextuality. In: Paragraph 28 (2005), H. 3, S. 1–20, hier S. 1.

51

Kristeva konnte Ende 1965 dank eines Stipendiums aus dem sozialistischen Bulgarien ausreisen und lebte seitdem in Paris, wo Lucien Goldmann ihre Doktorarbeit betreute und sie unter anderem bei Barthes Seminare belegte. Schon ab 1966 arbeitete sie an der Zeitschrift Tel Quel mit und knüpfte Kontakte zu anderen wichtigen Theoretikern, darunter Foucault, Claude Lévi-Strauss und Jacques Lacan. Zu den biografischen Umständen von Kristevas erster Zeit in Paris vgl. Noelle McAfee: Julia Kristeva. London: Routledge 2004.

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zeitlichen und kulturellen Abstandes nicht verwundern kann).52 Bachtins Konzept der Dialogizität begreift Kristeva als theoretisch entscheidende Wegmarke, die bereits avant la lettre eine »Dynamisierung des Strukturalismus« vorbereitet habe, erscheine der literarische Text darin doch nicht als feststehende Struktur, sondern im Zusammenhang seiner Herstellung im Prozess eines »Dialog[s] verschiedener Schreibweisen«, die sich in ihm überlagern.53 Kristevas übergreifendes Projekt einer Öffnung des Textbegriffs ist in dieser Bachtin-Lektüre klar erkennbar, wenn sie feststellt, dass das Wort des literarischen Textes horizontal und vertikal über diesen hinausweise: Mit der vertikalen Verweisrichtung spricht Kristeva dabei die Beziehung des Wortes im Text zum »vorangegangenen oder synchronen literarischen Korpus«54 an – mit anderen Worten: dessen Intertextualität (so Kristevas neuer Begriff, der hier erstmals auftaucht). Gemeint ist damit eine umfassende Beziehung, die – unabhängig von in irgendeiner Weise intentionalen Bezugnahmen – jede schriftliche Äußerung mit anderen Texten verbindet;55 ein Text besteht demzufolge immer aus Worten, die stets schon in Beziehun-

52

Insofern ist die Darstellung, beim begrifflichen Wechsel von Dialogizität zu Intertextualität durch Kristeva handle es sich letztlich nur um »one of the great intellectual repackaging and marketing schemes in recent history« (Lesic-Thomas: Behind Bakhtin, S. 1; vgl. auch Mary Orr: Intertextuality: Debate and Contexts. Cambridge: Polity Press 2003, S. 23–25), sicherlich nicht zutreffend: Bachtin ist für Kristeva ein Ausgangspunkt für eigene Theoriebildung; die Annahme, dass ihre Präsentation Bachtins diesem ›gerecht‹ würde und bei seinen Gedanken bliebe, führt in die Irre. Lesic-Thomas stellt zu Recht fest, dass vor allem Kristevas »erasing of the concept of subjectivity from Bakhtin’s thought« (Lesic-Thomas: Behind Bakhtin, S. 3) einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Denkern ausmacht; Bachtin selbst verfolgt keineswegs eine vergleichbare subjekt- und intentionalitätskritische Agenda wie Kristeva, sondern verbindet ein relativ starkes Autorkonzept mit seiner Vorstellung der Dialogizität. – Gegen den Strich und unter Verwendung von Blooms Begriff der Anxiety of Influence (also in einem Rahmen, den man als subjektzentriertes Gegenkonzept zur Intertextualität wahrnehmen könnte) verhandelt Susan Stanford Friedman Kristevas Anschließen an Bachtin als »self-authorizing strategy« eines »mis-reading« des Originals: Susan Stanford Friedman: Weavings: Intertextuality and the (Re)Birth of the Author. In: Jay Clayton u. Eric Rothstein (Hg.): Influence and Intertextuality in Literary History. Madison: University of Wisconsin Press 1991, S. 146–180, hier S. 147.

53

Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 346.

54

Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 347.

55

Dieser weite Intertextualitätsbegriff unterscheidet das Konzept Kristevas fundamental von anderen Begriffsverwendungen, die unter Intertextualität die konkret nachweisbare

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gen zu unzähligen anderen Texten der Kultur stehen und – so schließt später Roland Barthes hieran an – im Rezeptionsakt von einem Leser auf diesen bezogen werden können.56 Neben dieser vertikalen Verankerung der Worte des literarischen Textes im Korpus der Intertexte sieht Kristeva – in charakteristischer Überinterpretation an Bachtin anschließend – auf der horizontalen Ebene weitere Verknüpfungen: »das Wort im Text gehört zugleich dem Subjekt der Schreibweise und dem Adressat[en]«.57 Dabei handelt es sich um ein Anknüpfen an Bachtins Konzept der Dialogizität, das – knapp gesagt – von der Erkenntnis ausgeht, dass das Wort im (modernen58) Roman nicht nur einer festgelegten Autorinstanz zuordenbar ist, sondern

Präsenz eines Textes in einem anderen verstehen. Vgl. hierzu etwa die Begriffsverwendung bei Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Franz. v. Wolfgang Bayer u. Dieter Hornig, übersetzt nach der ergänzten 2. Auflage (1982). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 10; Ulrich Broich u. Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer 1985; oder Susanne Holthuis: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tübingen: Stauffenburg 1993. 56

Vgl. Barthes: Die Lust am Text, S. 93 (»Typologie der Lektürelust – oder der Lustleser«). – Tatsächlich ist überraschend, dass Kristeva die Leserperspektive, die zur Realisierung dieser Art von Intertextualität eigentlich unabdingbar ist, weitgehend ausblendet. Insofern erscheinen Barthes’ stärker leserorientierte Anmerkungen als wichtige Ergänzung des Konzepts. Vgl. zu dieser Problembeschreibung und verschiedenen Ansätzen einer semiotisch und subjekttheoretisch adäquaten Ergänzung um Leserkonstrukte auch Tilottama Rajan: Intertextuality and the Subject of Reading/Writing. In: Clayton u. Rothstein (Hg.): Influence and Intertextuality in Literary History, S. 61–74.

57

Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 347.

58

Man kann diskutieren, ob sich Bachtins Theoriebildung letztlich aus einem bestimmten historischen Korpus speist, das seine Begriffe im Detail prägt und sie in anderen Zusammenhängen weniger brauchbar macht. Für Bachtin spielen mit Rabelais und Dostojewskij, die ihm als zentrale Exponenten dialogischen Schreibens dienen, zumindest ein Autor des 16. und einer des 19. Jahrhunderts zentrale Rollen – in der Gegenposition verortet er Formen des monologischen Schreibens im Epos sowie im Roman des bürgerlichen Realismus, den er beispielsweise mit Tolstoi assoziiert. Kristeva knüpft in erster Linie bestimmte Autoren der sogenannten klassischen Moderne – Joyce, Proust, Kafka – sowie die Idee des »polyphonen Romans« an das Konzept an, was sicherlich auch vor dem Hintergrund ihres Bemühens zu sehen ist, sich politisch mit ihrer Konzeption zu positionieren. Vgl. Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 354. – Mir erscheint eine Bachtin-Lektüre sinnvoller, die die Begriffe des monologi-

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zugleich durch den Einbezug von Figurenperspektiven und externen Diskursen eine Mehrdeutigkeit erlangt, die es vom Autor in gewisser Weise abkoppelt und ihm einen vom Subjekt unabhängigen Eigenwert verleiht, der sich – je nach Betrachtungsweise – als Dialogizität oder Ambivalenz des Wortes zeigt. Bachtin selbst legt in seiner Theoriebildung großen Wert auf Fragen des politischen und ideologischen Bewusstseins von Autor, Leser und ›Held‹, geht also von einem klassischen Subjektbegriff aus, der die Basis für seine Konzeption des dialogischen Romans bildet. Dieser ist hierdurch immer auch ein intersubjektiver Roman, in dem sich das Bewusstsein verschiedener Subjekte überlagert.59 Kristeva interpretiert Bachtin hingegen im Sinne eines poststrukturalistischen Diskursbegriffes so, dass die Bezugnahme auf den Adressaten immer nur über dessen ›Vertextung‹ denkbar ist, was es ihr ermöglicht, die Relationen Text/Kontext und Subjekt/Adressat in eins zu setzen (Kristeva signalisiert hier, dass sie eine recht eigenständige Interpretation Bachtins vornimmt, wenn sie darauf hinweist, dass aufgrund eines »Mangel[s] an Strenge« diese Verbindung bei ihm gewissermaßen

schen und dialogischen Schreibens von literaturhistorischen Zusammenhängen stärker löst und sie als zum Teil koexistierende Formen auffasst, wie auch Bachtin dies letztlich nahezulegen scheint. Aus der Optik von Kristevas Theoriebildung wird die Frage des monologischen Schreibens letztlich obsolet, weil sie den Text über den Intertext in eine übergreifende Struktur einbindet, durch die jedes Schreiben Momente der Intertextualität hat (»Der Dialogismus ist den Tiefenstrukturen des Diskurses koextensiv«, ein »Prinzip jeglichen Aussagens«, ebd., S. 357), die aus Kristevas Sicht in bestimmten Formen der Literatur (beschreibendes Epos und bürgerlicher, realistischer Roman, historischer Diskurs, wissenschaftlicher Diskurs) durch eine selbst auferlegte »Zensur« ausgeblendet werden (vgl. ebd., 360), woraus resultiert dass die dialogische, sich ihrer Intertextualität versichernde Literatur die ›eigentliche‹ Literatur ist, während die benannten monologischen Formen Kristeva letztlich normativ als politisch verdächtige Schwundphänomene gelten, die die Macht des Subjekts als »Gott« über den Text künstlich aufrechterhalten. – Die Herkunft des Intertextualitätsbegriffs aus der Befassung mit der politisch aufgewerteten avantgardistischen Literatur des 20. Jahrhunderts wird in Kristevas Aufsatz sehr klar (vgl. auch ebd., S. 370 f.), wobei für ihn dennoch ein historisch übergreifender Status reklamiert wird. 59

Vgl. etwa Bachtin: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, S. 143. – Vgl. zu dieser Diagnose auch Andreas Blödorn u. Daniela Langer: Implikationen eines metaphorischen Stimmenbegriffs: Derrida – Bachtin – Genette. In: dies. u. Michael Scheffel (Hg.): Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Berlin/New York: de Gruyter 2006, S. 53–82, hier S. 67–69.

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aus Versehen aufscheine, die sie jetzt jedoch zum Kern ihrer Theorie macht60). Ihre berühmte Folgerung aus diesem theoretischen Kurzschließen des Bachtin’schen Dialogizitätsbegriffs mit einem postmodernen Diskursbegriff Foucault’scher Prägung, die aufgrund dieser Gleichsetzungsoperation eben auch subjektphilosophische Relevanz hat, lautet: [J]eder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen.61

Was für den Text als Ganzes gilt – der Aufbau als »Mosaik aus Zitaten« –, gilt gleichermaßen für die »drei Dimensionen (Subjekt – Adressat – Kontext)«, aus denen er sich aufbaut: Sie sind »als eine Gesamtheit semischer Elemente im Dialog oder als eine Gesamtheit ambivalenter Elemente«62 zu lesen.63 Kristevas Intertextuali-

60 61

Vgl. Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 348. Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 348. Hervorhebungen im Original. – Dass diese Erkenntnis nicht so einfach Bachtin zugeschrieben werden kann, sondern der subjektkritischen Linie von Kristevas poststrukturalistischem Denken entspricht, stellt Lesic-Thomas: Behind Bakhtin, S. 5, heraus, die insgesamt betont, dass Kristevas Konzept Ideen aus dem Kreis der russischen Formalisten (Tynjanov, Ejchenbaum, Šklovskij, Jakobson) mit deren Autor-Skepsis deutlich näher ist als vielen Momenten im Denken Bachtins.

62

Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 348.

63

Über Bachtins Begriff der »Ambivalenz« beginnt Kristeva eine weit führende zeichentheoretische Diskussion, die ihr semiologisches Projekt in der Folge prägt, hier aber aufgrund des davon abweichenden Fokus nicht näher dargestellt werden kann. Schwerpunkt ist eine Dynamisierung des Verhältnisses Signifikat/Signifikant, wie sie ähnlich auch in Bezug auf die Begriffe vom Text und vom Subjekt erfolgt. Über diese Linie zeigt sich Kristevas Denken anschlussfähig für eine psychoanalytische Theoriebildung Lacan’scher Prägung mit ihrem Konzept vom »Gleiten des Signifikanten«, die Kristeva fruchtbar aufnimmt. Vgl. hierzu Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 351–355, sowie dies weiterführend Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978 (im Original: 1974). Vgl. außerdem zur Lacan’schen Zeichentheorie Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft nach Freud (1957). In: ders.: Schriften II. Ausgewählt, übersetzt u. hg. v. Norbert Haas. Freiburg i.Br./Olten: Walter 1975, S. 15–55. – In Orientierung an Lacan setzt sich Gronemann mit der postmodernen Autobiografie auseinander. Vgl. Gronemann: Postmoderne/postkoloniale Konzepte der Autobiographie, S. 31–34. –

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tätstheorie öffnet damit also nicht nur den Begriff des Textes, sondern gleichzeitig auch den des Subjekts, das seinerseits Gegenstand einer Textwissenschaft wird, die Kristeva als »literarische Semiologie« bezeichnet.64 Von einem klassischen Subjekt kantischer Prägung ist dieses Subjekt Kristevas natürlich – wie das Foucaults und anders als das Bachtins – weit entfernt. Zu Recht stellt Nünning in Bezug auf die hieraus resultierenden Folgen für einen Bereich wie die Autobiografietheorie fest: »[D]as Ausstellen von intertextuellen Echos« hat insofern »weitreichende Konsequenzen, als [es] die Authentizität und den Zeugnischarakter, der traditionellerweise dem autobiographischen Schreiben zugeschrieben wird, unterminier[t]«65 – das »Subjekt der Schreibweise« ist ein Konzept, das sich erst über den Intertext herstellen lässt und keine vorgängige Existenz beanspruchen kann;66 insofern sind Momente wie Authentizität und Zeugnischarakter allein schon deshalb keine sinnvollen Kriterien für die Autobiografietheorie mehr, da die Instanz eines erlebenden und schreibenden Autorsubjekts, auf der sie basieren, durch Kristevas Theoriebildung aufgelöst und zum rein textuellen Effekt wird, der sich aus dem Zusammenspiel intertextueller Verweise und verschiedener ›Stimmen‹ bzw. Aussagen (énonciations) zusammensetzt, denn »es ›spricht‹ der Schriftsteller, aber ein fremder Diskurs ist stets anwesend in jener von ihm selbst entstellten Rede«, wie Kristeva auf die Autobiografie bezogen formuliert.67 Ohne die Tatsache zu leugnen, dass am physikalischen Ursprung eines Textes ein Autor steht, der ihn schreibt, fasst Kristeva den Moment, in dem der Text entsteht, als den entscheidenden Schritt auf, der diesen Autor verschwinden und ihn sich in einer textuellen (und für die Intertextualität offenen) Struktur auflösen lässt:68

Kristevas Theoriebildung hat natürlich auch Kritik erfahren; von semiologischer Seite vgl. zuletzt Jürgen Rauter: Julia Kristevas Intertextualitätstheorie: Widersprüche und Konsequenzen. In: Zeitschrift für Semiotik 32 (2010), H. 3/4, S. 355–366. 64

Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 348.

65

Nünning: Metaautobiographien, S. 275.

66

»The position taken by the writer and the content of the text are effects of its language rather than autonomous entities«, formuliert Rajan: Intertextuality and the Subject of Reading/Writing, S. 65.

67

Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 357. – Von hier aus ergeben sich Verbindungen zum narratologischen Begriff des »Erzählers«, den Kristeva hier aufnimmt und in den übergreifenden Zusammenhang der Intertextualitätstheorie einbindet.

68

An anderer Stelle formuliert Kristeva: »Intertextuality invalidates all talk of an author: writing is the perpetual displacement of voices and the text within an unlimited space, the point of convergence of these various codes; carried off by the plurality of his own

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Der Autor – das Subjekt der Erzählung – wird dadurch verwandelt, daß er sich in das System der Erzählung einbezieht, er ist nichts und niemand, sondern die Möglichkeit einer Permutation […] von der Geschichte zum Diskurs und vom Diskurs zur Geschichte. Er wird zur Anonymität, zur Abwesenheit, zur Lücke, damit er es der Struktur ermöglicht als solche zu existieren.69

Die psychoanalytischen und semiologischen Folgerungen, auf die Kristeva im Anschluss an diese Erkenntnis verweist – das Verhältnis von Subjekt des Aussagens und Subjekt der Aussage fasst sie als dyadisches Verhältnis, in dem beide Subjekte füreinander jeweils Signifikate und Signifikanten sein können70 –, können im vorliegenden Zusammenhang vernachlässigt werden. Zentral bleibt jedoch die Vorstellung Kristevas von einer Abkoppelung des Textes von seinem Verfasser, an dessen Stelle ein immer wieder neu in der Lektüre bestimmbares »Subjekt der Schreibweise« bzw. der »Aussage« tritt, das sich in seiner intertextuellen Vielschichtigkeit als komplexe Konstellation, eben als »Mosaik von Zitaten« fassen lässt. Die Nähe, die Kristevas Konzeption zu der Michel Foucaults hat, ist hier deutlich erkennbar: Wie er nimmt auch Kristeva eine Öffnung vor, die jedoch aufgrund der Orientierung an Bachtin nicht von den übergreifenden Strukturen des Diskurses

text, the author is dispossessed of himself, as it were, now an elusive figure, indistinguishable from the text, lost in the domain of references.« Julia Kristeva: [Art.] Roland Barthes. In: Lawrence D. Kritzman (Hg.): The Columbia History of Twentieth-Century French Thought. New York: Columbia University Press 2006, S. 407–412, hier S. 410. 69

Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 358. – Kristeva nimmt hier Bezug auf Émile Benvenistes Differenzierung von Diskurs und Geschichte (discours und histoire), die auf die strukturalistische Narratologie entscheidenden Einfluss ausgeübt hat. Deutlich wird, inwiefern sich Letztere aus Kristevas Perspektive als nichtintentionales Konzept lesen lässt, das von Autorinstanzen unabhängig ist – eine Tatsache, die in neuerer Zeit immer wieder kritisch diskutiert worden ist, ohne dass die Argumentationslinie Kristevas hier berücksichtigt worden wäre. Vgl. hierzu etwa Gerhard Lauer: Kafkas Autor. Der Tod des Autors und andere notwendige Funktionen des Autorkonzepts. In: Jannidis u.a. (Hg.): Rückkehr des Autors, S. 209–234, oder Klaus Weimar: Doppelte Autorschaft. Ebd., S. 123–133. – Kristevas Bezugnahme auf die Konzepte der Narratologie unterscheidet sie abermals von Bachtin, der über den Begriff des Erzählers, auf den Kristeva in diesem Kontext zurückgreift, nicht verfügt, sondern – wie etwa schon im Titel Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit deutlich wird – andere Instanzen in den Mittelpunkt seines Denkens stellt.

70

Diese Denkfigur führt – ohne den Bezug auf die Literatur – schon 1957 Jacques Lacan aus. Vgl. Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten.

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her gedacht wird, sondern gewissermaßen aus der Gegenrichtung entsteht: Die Mosaikhaftigkeit des »Subjekts der Schreibweise« wird bei ihr erkennbar durch die Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit des dialogischen und ambivalenten (Einzel-) Texts im Zusammenspiel mit dem Intertext, während sich das Foucault’sche »Subjekt« als Schnittpunkt der Diskurse erst in Abhängigkeit von diesen konturieren lässt. Im Ergebnis kommen Foucault und Kristeva zu ähnlichen Konzeptionen, die sich nur im Ausgangspunkt ihrer Betrachtung – einmal dem übergreifenden Diskurs, einmal dem dialogischen Einzeltext – voneinander unterscheiden. Noch deutlicher ist jedoch die Verwandtschaft von Kristevas Denken mit dem eines weiteren Theoretikers, der mit ihr die Tel-Quel-Schule teilt und produktiv an sie anschließt: Während Kristeva den Begriff des »Subjekts der Schreibweise«, den sie prägt, zugunsten einer stärkeren Ausrichtung auf semiotische Fragestellungen nicht sehr stark weiterverfolgt, findet sie in Roland Barthes einen Theoretiker, der diesen Gedanken weiterdenkt und aus ihm für die Geschichte der Literaturtheorie entscheidende Schlussfolgerungen zieht.

2.4 R OLAND B ARTHES ’ ALTERNATIVE S UBJEKTKONZEPTIONEN Argumentative Schwerpunkte in Barthes’ Theoriebildung sind die Eigengesetzlichkeit der Sprache und des (Inter-)Textes sowie eine spezifisch linguistisch konnotierte Form der Subjektkritik. Deutlich wird diese bereits 1968 in seiner viel rezipierten Schrift zum Tod des Autors. Aus Sicht der vorliegenden Studie ist Barthes als Autor aber nicht zuletzt deshalb besonders interessant, weil er aus diesen Grundannahmen eigene Folgerungen für eine Theorie der (Auto-)Biografie abgeleitet hat, die er einerseits in Bezug auf andere Autoren in der Studie Sade, Fourier, Loyola,71 darüber hinaus aber auch in Bezug auf sich selbst in Roland Barthes par Roland Barthes/Über mich selbst72 exemplifiziert. Wie im Folgenden deutlich wird, ergeben sich in den unterschiedlichen Schriften verschiedene aufeinander aufbauende Konzeptionen, die kurz skizziert und hinsichtlich ihrer Relevanz für eine revidierte Autobiografiekonzeption diskutiert werden sollen.

71

Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola. Übersetzt v. Maren Sell u. Jürgen Hoch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986 (zuerst: 1971).

72

Roland Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes [1975]. In: ders.: Œuvres Complètes. Hg. v. Éric Marty. Bd. 3. Paris: Seuil 1995, S. 79–250, bzw. ders.: Über mich selbst. Aus dem Franz. v. Jürgen Hoch. Berlin: Matthes & Seitz 2010.

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2.4.1 Der Tod des Autors als Intertextualitätstheorie des »Schreibers« Bereits der Einleitungsabsatz seines Aufsatzes zum Tod des Autors verdeutlicht, dass Barthes’ Theoriebildung Teil derselben Strömung ist, die mit Kristevas zeitlich gerade vorangegangenem Anschließen an Bachtins Begriff der »Dialogizität« verbunden ist.73 Er stellt die Frage »Wer spricht hier?« in Bezug auf einen Absatz aus Balzacs Sarrasine und beantwortet sie mit einer Vielzahl an Möglichkeiten, die darauf verweisen, dass hier keine Eindeutigkeit herzustellen ist, weil »die Schrift [écriture] jede Stimme, jeden Ursprung zerstört. Die Schrift ist der unbestimmte, uneinheitliche, unfixierbare Ort, wohin unser Subjekt entflieht, das Schwarzweiß, in dem sich jede Identität aufzulösen beginnt, angefangen mit derjenigen des schreibenden Körpers«.74 Der Begriff der écriture zieht die Konsequenzen aus Kristevas Begriff der Intertextualität und nimmt diesen positiv auf: Der fixierte Text verhindert die Zuordnung seiner Aussagen zu einem festgelegten Subjekt, da sich in ihm zahlreiche Ebenen überlagern75 – nach Bachtin, von dem Barthes hier zunächst aus-

73

Kristevas Aufsatz Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman war im April 1967 in Critique gedruckt worden und geht auf einen Vortrag im Seminar von Barthes zurück. Bereits in Sofia hatte Kristeva Bachtin gelesen; dessen Popularisierung in Frankreich ist wesentlich auf ihre Vermittlung zurückzuführen – auch Barthes kam wohl erst hierdurch mit Bachtins Denken in Kontakt. Sein Text muss offenbar aus demselben Arbeitskontext hervorgegangen sein wie Kristevas Bachtin-Aufsatz; er erschien zunächst in englischer Sprache 1967 im Aspen Magazine, 1968 dann auf Französisch in Manteia. – Zu den theoretischen Verbindungen zwischen Kristeva und Barthes vgl. allgemein Doris Kolesch: Roland Barthes. Frankfurt a.M./New York: Campus 1997, S. 88 f.

74

Barthes: Der Tod des Autors, S. 185.

75

Insofern erscheint es nicht treffend, den Begriff der écriture rhetorisch zu deuten und damit wieder intentionale Restbestände in das Konzept einzuführen, die Barthes mit dieser Begriffsbildung gerade verdrängt. Vgl. zu dem entsprechenden Versuch Schabacher: Topik der Referenz, S. 206–236 (»›Schreibweise‹ als rhetorisches Verfahren«). Von derartigen Versuchen aus entwickelt sich eine Debatte über eine vermeintliche Rückkehr klassischer Subjektivität in Barthes’ Spätwerk, die meines Erachtens die Zusammenhänge, die hier im Folgenden ausgeführt werden, fehlinterpretiert, weil sie den eigenen intentionalistischen Grundannahmen nicht entkommt. Auch wenn Barthes über den Biographem-Begriff die auf den ersten Blick sehr strikte antisubjektivistische Ausrichtung, wie sie bei Kristeva zu finden ist, zum Teil umdeutet (indem er das ›Subjekt‹ dialektisch über sprachliche Strukturen zurückkehren sieht), handelt es sich hierbei nicht um eine Rückkehr zu intentionalistischen Prinzipien im Sinne der klassischen

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zugehen scheint, die Ebenen der Autor- und der Figurenstimme in der Dialogizität des Romans, dessen ›ideologischer Standpunkt‹ (Bachtin) nie festzulegen ist; und nach Kristeva die nicht abschließbare Komplexität des Intertextes, die dazu führt, dass Barthes letztlich an die 25 Jahre jüngere Theoretikerin bis in die Formulierung hinein anschließend76 zu dem Schluss kommt, jeder Text sei »ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur«,77 er sei »aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen«.78 Die Argumentation zum ›Tod des Autors‹ basiert bei Barthes auf einer linguistischen Grundeinschätzung: Er setzt den Begriff des Autors im Schreibakt an dieselbe Stelle, die im Sprechakt der indexikalische Ausdruck »ich«79 als grammatisches Subjekt einnimmt. Genauso wie das Wort »ich« jedoch nur im Sprechakt von Bedeutung sein kann, der sich darauf bezieht, und an sich keinen eigenen, festen Inhalt hat, konzipiert Barthes den Autor, den er nun »Schreiber«, scripteur, nennt, um ihn von den klassischen Konnotationen des Begriffs (Ganzheit, selbstbewusste Subjektivität, Intentionalität, Transzendenz) zu befreien: »der moderne Schreiber [wird] im selben Moment wie sein Text geboren. Er hat überhaupt keine Existenz, die seinem Schreiben voranginge oder es überstiege; er ist in keiner Hinsicht das Subjekt,

Subjekttheorie. Vgl. zu dieser Diskussion auch Daniela Langer: Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes. München: Fink 2005, S. 259–310, und Bürger: Das Verschwinden des Subjekts, S. 203–216. 76

Ein Dokument, das die Hochschätzung seiner Studentin und Tel-Quel-Beiträgerkollegin deutlich werden lässt, an die er ohne jeden hierarchischen Vorbehalt anschließt, ist der Aufsatz L’étrangère, den Barthes 1970 im Anschluss an das Erscheinen von Kristevas Séméiotiké in La Quinzaine littéraire publiziert. Er stellt darin die von Kristeva begründete »Sémanalyse« in ihrer Relevanz auf eine Stufe mit der Psychoanalyse, wenn er feststellt: »En somme, ce que Julia Kristeva fait apparaître, c’est une critique de la communication (la première, je crois, après celle de la psychanalyse).« Ihre Arbeit sei »l’orchestration finale« der aktuellen Umwälzung der geistigen Landschaft, deren Theoretikerin sie zugleich sei. Roland Barthes: L’étrangère. In: ders.: Œuvres complètes. Nouvelle édition. Hg. v. Éric Marty. Bd. 3. Paris: Seuil 2002, S. 477.

77

Barthes: Der Tod des Autors, S. 190. Vgl. Kristevas Formulierung von Subjekt und Text als »Mosaik von Zitaten« in Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 348.

78 79

Barthes: Der Tod des Autors, S. 192. Später benutzt Barthes dafür auch den hiermit synonymen Begriff shifter, um die Unbestimmtheit des Ichs jenseits des Textes zu beschreiben. Vgl. Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 61.

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dessen Prädikat sein Buch wäre.«80 Barthes verdeutlicht so, dass der Schreibakt, durch den das schreibende ›Nicht-mehr-Subjekt‹ erst entsteht, kein Akt des »Repräsentierens«81 oder ›Ausdrückens‹82 mehr ist – Schreiben verweist nicht auf eine vorgängige Instanz, sondern bringt den Schreiber erst performativ zum Vorschein –, der Schreiber hat keine Existenz jenseits seines Textes, sondern er wird, wie Kristevas »Subjekt der Schreibweise«, zur Funktion desselben. Damit ist keine Vorstellung der Originalität verbunden, wie sie wirksame Theorien von Autorschaft spätestens seit der Genieästhetik vertreten haben, sondern der Schreiber wird – als Funktion des Textes – zu der Instanz, in der sich verschiedene Zitate und Intertexte, unabhängig von ihm bestehende »Schreibweisen [écritures]«,83 überlagern. Hinsichtlich dieser Vorstellung eines im Text selbst erst entstehenden, nicht hinter bzw. zeitlich vor diesem zu platzierenden Subjekt schließt Barthes also bruchlos an die Konzeption Kristevas an. Eine gewisse Erweiterung lässt sich erahnen, weil er im gegebenen Zusammenhang nicht den Begriff des Intertexts benutzt, sondern von »Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur«84 spricht – eine Formulierung, die zumindest eine Erweiterung in nicht diskursiver, performativer bzw. sachlicher Hinsicht offen lässt, die Barthes dann, wie sich zeigen wird, in seiner Theorie der Biographeme zum Tragen bringt. Ein weiterer entscheidender Unterschied ist, dass Barthes sein Augenmerk hier und in späteren Schriften auf den Leser verlagert: »Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors«,85 beendet er apodiktisch seinen Text und verdeutlicht damit seine später wiederkehrende Einschätzung, dass die Realisierung intertextueller Bezüge, die Sinnbildung auf deren Basis und das Anschließen an ein vorliegendes ›Gewebe von Zitaten‹ im Rezeptionsakt stattfinden, der in jedem Einzelfall unterschiedlich aussieht. Dies führe womöglich zu Grenzen für die literaturwissenschaftlich-hermeneutische Verständigung über Texte und bereite einem antihermeneutischen Umgang mit diesen den Weg.86

80

Barthes: Der Tod des Autors, S. 189. – Zu einem anderen Schluss kommt Kolesch, wenn sie das Subjekt »sowohl Produkt als auch Produzent der Sprache« sein lässt – Barthes’ hier vorliegender Gedankengang sieht explizit kein dem Text vorgängiges »Subjekt« als wirklichen ›Produzenten‹ vor. Vgl. Kolesch: Roland Barthes, S. 96.

81 82

Barthes: Der Tod des Autors, S. 189. Vgl. Barthes: Der Tod des Autors, S. 190. Vgl. hierzu auch Langer: Wie man wird, was man schreibt, S. 248 f.

83

Barthes: Der Tod des Autors, S. 190.

84

Barthes: Der Tod des Autors, S. 190.

85

Barthes: Der Tod des Autors, S. 193. Hervorhebung im Original.

86

Vgl. dazu die offene Intertextualitäts- und Lektürekonzeption in Barthes: Die Lust am Text. Vgl. zu einer derartigen Einordnung Klaus-Michael Bogdal: Problematisierungen

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Letzteres muss jedoch nicht der Fall sein. Barthes’ Rede vom »Tod des Autors« birgt – wie Kristevas Begriff vom »Subjekt der Schreibweise« – in seiner Ablehnung einer dem Text vorgängigen Subjektivität zunächst einmal nur ein Gefahrenpotenzial für eine Autobiografietheorie, die sich dem Referenz- und dem Subjektivitätsparadigma unterwirft. Für eine neue Theorie der Autobiografie stellt sie jedoch die Möglichkeit dar, über Subjektivität auf Grundlage des Textes selbst zu sprechen: Wenn der Autor als Funktion des Textes erscheint, ist er vielleicht in seiner traditionellen Form »tot«; als aus Textelementen herzustellendes Bild, das den autobiografischen Diskurs grammatisch im gleichen Maße trägt wie das »Ich« des Aussagesatzes, bleibt er jedoch erhalten und wird – anders als ein traditioneller Autor – zu Objekt und Gegenstand der Textanalyse. Aus diesem Umstand sollen die Analysen in den nächsten Kapiteln die Konsequenzen ziehen. Zunächst gilt es jedoch, Barthes’ weitere Einlassungen zur skizzierten Problematik zu verfolgen, die letztlich über Kristevas Begriffsbildung noch weiter hinausgehen, als dies in Der Tod des Autors der Fall ist: Zunächst wird daher ein Blick auf Sade, Fourier, Loyola geworfen – ein Buch, das im ersten Schritt als konkrete textanalytische Anwendung der skizzierten Theorien von Barthes und Kristeva begriffen werden kann. In einem weiteren Schritt wird dann zu zeigen sein, inwiefern Barthes in diesem Text sowie in Roland Barthes par Roland Barthes/Über mich selbst mithilfe des Biographem-Begriffs diese Theoriebildung weiterentwickelt. 2.4.2 Sade, Fourier und Ignatius von Loyola als »Logotheten« Der Auswahl seiner drei Untersuchungsgegenstände in Sade, Fourier, Loyola – des »verfemte[n] Schriftsteller[s]« Sade, des »große[n] Utopist[en]« Fourier und des »heilige[n] Jesuit[en]« Ignatius von Loyola87 – legt Barthes ein Kriterium zugrunde, das bereits im vorangegangenen Kapitel ausgiebiger verhandelt wurde: Die drei verbindet »die gleiche Schreibweise«.88 Barthes’ Auswahl basiert mithin nicht auf Momenten, die dem klassischen Bereich der Bio-Grafie zuzuschreiben sind, also Momenten des gelebten Lebens eines im Mittelpunkt stehenden Subjektes, sondern

der Hermeneutik im Zeichen des Poststrukturalismus. In: Heinz Ludwig Arnold u. Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996, S. 137–156, hier S. 148 f. 87

Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 7. – Im Folgenden ist in Bezug auf den Begründer des Jesuitenordens – eigentlich Iñigo López de Loyola – angesichts der Tatsache, dass es sich bei »Loyola« nur um eine Herkunftsbezeichnung, nicht aber um einen Nachnamen handelt, von »Ignatius« die Rede.

88

Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 7.

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er widmet sich den Figuren als »Logotheten«, als »Begründer[n] von Sprachen«.89 Barthes liegt damit auf der Linie, die Kristeva verfolgt, wenn sie das »Subjekt der Schreibweise« in den Blick nimmt, womit nicht eine außertextliche Instanz gemeint ist, sondern ein aus dem Text herauszuarbeitendes sprachliches Prinzip, das diesen Text formt und gliedert. Die stärker intertextuell argumentierende Position aus Der Tod des Autors, die in den Mittelpunkt die Zitathaftigkeit jeder Autorschaft stellte, tritt dabei eher in den Hintergrund, wenn auf den Innovationscharakter der neuen Sprachen hingewiesen wird, die die drei untersuchten Autoren als Sprachschöpfer in ihren Werken hervorbringen: Die von ihnen erarbeiteten Klassifikationen, die Barthes beschreibt, lassen sie in ihren Texten als spezifische Begründer einer neuen Sprech- oder Denkweise erkennbar werden, die sich in jedem der drei Fälle durch den Bruch mit Tradition und Überlieferung auszeichnet – dass auch für Sade, Fourier und Ignatius Intertexte relevant sind, die in ihren Texten neu konstelliert bzw. ›entstellt‹90, ›gespielt‹91 oder ›abgewiesen‹92 und damit als Zitate explizit oder implizit aufgenommen werden, ist ein Aspekt, der in dieser Darstellung nur in der detaillierten Analyse zum Tragen kommt. So erscheint sie als Fortentwicklung des Barthes’schen Subjektdenkens, das die Individualität einer neuen Grammatik nun an die Seite der Individualität tendenziell tilgenden Intertextualität stellt. Im Folgenden sei kurz darauf eingegangen, auf welche Weise Barthes zu der These kommt, seine als historische Figuren kaum miteinander in Verbindung zu bringenden Gegenstände betrieben in ihrer Funktion als Sprachschöpfer letztlich ein und dieselbe Tätigkeit. Alle drei erscheinen Barthes als Begründer klassifikatorischer Systeme, die er als Sprachen in den Blick nimmt. Wie jeweils deutlich wird, knüpft Barthes dabei im ersten Schritt direkt an die Konzeption Kristevas an, weshalb seine Darstellungen von Sade, Fourier und Ignatius von Loyola zunächst einmal als Analysen von »Subjekten der Schreibweise« gelesen werden können. Den Marquis de Sade kennzeichnet Barthes dabei als Theoretiker der »aufs äußerste codierten Gesellschaft« der »Libertins« und ihrer »Objekte«, einer »ein für allemal fest[stehenden]« Klasseneinteilung.93 Sie entsteht im Rahmen einer präzise ausgearbeiteten »assertorisch[en] und kombinatorisch[en]«94 Logik der Sexualität, deren Regelungen in Sades Werk detailliert ausgeführt werden und der Barthes in seiner Analyse dieser praktischen ›Sprache‹, die bestimmten »Einheiten und Re-

89

Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 7.

90

Vgl. Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 141 (zu Sade).

91

Vgl. Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 116 (zu Fourier).

92

Vgl. Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 62 (zu Ignatius).

93

Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 31.

94

Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 33.

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geln«95 folgt, nachgeht. Barthes interessiert sich dabei nicht für die Inhalte dieses auch geradezu als »Syntax«96 bezeichneten Codes, das heißt für die konkreten sexuellen Praktiken der Sade’schen Lehre und die ihnen zugeschriebene Bedeutung, oder gar für eine juristisch-moralische Bewertung, sondern er vollzieht nach, auf welche Weise der Code selbst funktioniert, welche Klassifikationskriterien und Einund Ausschlussgründe Sades Texte etablieren, um das von ihnen abgesteckte Feld des abgeschlossenen Serails zu gliedern (sei es nun das Schloss Silling in Die 120 Tage von Sodom oder das Kloster Sainte-Marie-des-Bois in Justine oder die Unglücksfälle der Tugend).97 Sade, so Barthes, entscheide sich »stets für den Diskurs und gegen das Erzählte. Immer steht er auf seiten der Semiosis und nicht auf seiten der Mimesis«98 – sein Text zeichne sich durch eine Betonung der Ebene des Signifikanten (des Codes) aus, der gegenüber die Ebene des Signifikats (des dargestellten Inhalts99) sekundär werde.100 Sade als »Individuum«, als historische Person, hat für

95

Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 33.

96

Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 37.

97

Das Kapitel »Sade I« hatte Barthes in einer früheren Fassung bereits 1967 in Tel Quel unter dem Titel »L’arbre du crime« veröffentlicht, dabei markanterweise im Titel das Motiv des Baums aufgreifend, das in der Linguistik – etwa in Noam Chomskys generativer Grammatik – eine große Rolle spielt. Vgl. hierzu Éric Marty: Pourquoi le XXe siècle a-t-il pris Sade au sérieux? Paris: Seuil 2011, S. 366 f.

98

Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 44 f. Hervorhebungen im Original. – Damit geht Barthes darüber hinaus, diese Erkenntnis nur als sein analytisches Interesse zu deklarieren, sondern betont, dass Sades Werk letztlich selbst seinen Schwerpunkt auf diese Klassifikations- und Codegenerierungsprozesse verschiebe. – Auf derselben inhaltlichen Linie liegt Susan Sontag, wenn sie die Verortung von Sades Werk im Feld der Pornografie infrage stellt, weil es deren Zweck der sexuellen Erregung nicht erfülle: »His descriptions are too schematic to be sensuous«, seine Ideen »principles of a dramaturgy«, womit sie ihn wenn schon nicht im Bereich der Grammatik, so doch immerhin in einem verwandten Klassifikationssystem verortet, wie Barthes dies tut. Vgl. Susan Sontag: The Pornographic Imagination. In: dies.: A Susan Sontag Reader. New York: Vintage 1982, S. 205–233, hier S. 218.

99

Eine stärker inhaltlich orientierte Beschreibung dieses Codes, die Barthes’ Grundvorstellung von der grammatischen Struktur jedoch aufrechterhält, geben die Kapitel zu den Werken Sades in Volker Reinhardt: De Sade oder die Vermessung des Bösen. Eine Biographie. München: Beck 2014, hier etwa S. 191–217 (zu Die 120 Tage von Sodom), 264–284 (Justine), 352–363 (Juliette). Reinhardt würdigt Barthes für dessen »bahnbrechende Erkenntnisse, mit denen die Würdigung des Literaten de Sade, ohne gehobenen oder gesenkten ideologischen Daumen, einsetzen konnte« (ebd., S. 435).

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die Entstehung dieser Sprache und damit auch für Barthes keine Relevanz: Vielmehr erscheint er in der Rolle eines »mythischen ›Erzählers‹«101 und damit als Funktion seines Diskurses – mit Kristeva könnte man sagen: als »Subjekt der Schreibweise«. Der Sprachschöpfer Ignatius von Loyola – Gründer des Jesuitenordens und in der Zeit zwischen 1521 und 1548 Verfasser der Exercitia spiritualia bzw. Ejercicios espirituales102 – ist Barthes zufolge auf demselben Feld tätig wie Sade;

100 Dies kann man natürlich auch anders sehen und es ist als spezifisch Barthes’scher Ansatz diskreditiert worden, Zugang zu einer »expérience pure du texte« zu erhalten, indem auf diese Weise »[u]n Sade sans sadisme« hergestellt werde. Für Barthes’ These und seinen Umgang mit Sades Werk ist gleichwohl entscheidend, dass der Akzent auf der grammatischen Struktur liegt – unabhängig davon, ob seine These zum Verhältnis Semiosis/Mimesis tatsächlich auch hinsichtlich der Prioritätensetzung der Quellentexte Bestand hat. Vgl. die entsprechende Kritik bei Marty: Pourquoi le XXe siècle a-t-il pris Sade au sérieux? S. 375. Hervorhebung im Original. Vgl. auch die politisch grundierte (aufgrund des anderen Interessengebiets jedoch tendenziell ins Leere gehende) Kritik an einer solchen sich vom Inhalt befreienden Lesart: ebd., S. 386. – Die inhaltlich begründete Bedeutung von Sades Werk als Schlüsseltext einer amoralischen, instrumentellen Vernunft der Moderne wird natürlich am markantesten in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung ausgeführt, wobei ihnen Sade verkürzend als Propagandist einer morallosen »Anarchie« (S. 123) gilt, wie sie die Libertins pflegen. Vgl. Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Fischer 2001 (zuerst: 1944/47), hier das Kapitel »Juliette oder Aufklärung und Moral«, S. 88–127. Vgl. zur Aufnahme Sades bei Horkheimer und Adorno auch Reinhardt: De Sade oder die Vermessung des Bösen, S. 414–417. 101 Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 41. 102 1535 war eine erste lateinische Übersetzung der Exerzitien entstanden; über lange Zeit der Wirkungsgeschichte galt eine Abschrift des (2013 heiliggesprochenen) IgnatiusWeggefährten Peter Faber von 1541 als übliche Version; 1548 wurde eine von Ignatius unterstützte Neuübersetzung von Papst Paul III. approbiert (die sogenannte Vulgata). In der Folgezeit erschienen jedoch auch Texte, die sich auf spanischsprachige frühere Handschriften bezogen. Die Quellenlage wird dadurch kompliziert, dass Ignatius bis 1548 immer weiter an dem Text arbeitete, sodass kontrovers diskutiert wird, auf welche Fassung sinnvollerweise zurückgegriffen werden sollte. Vgl. zu diesem Themenkomplex Heinrich Bacht SJ: Der heutige Stand der Forschung über die Entstehung des Exerzitienbuches des hl. Ignatius von Loyola. In: Geist und Leben 29 (1956), S. 327– 338. Vgl. auch Gottfried Maron: Ignatius von Loyola. Mystik – Theologie – Kirche. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, hier S. 203–210.

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eine Einschätzung, die rasch erkennen lässt, dass inhaltliche Parameter hierfür sicherlich nicht ausschlaggebend sein können. Die Etablierung seiner neuen Sprache erfolgt nicht im Material des Serails, sondern in dem des Gebets, des Exerzitiums, es handelt sich darum, eine »Anrede technisch auszuarbeiten, d.h. eine neue Sprache, die zwischen der Gottheit und dem Exerzitanten zirkulieren kann«.103 Das Innovationspotenzial dieser neuen Sprache liegt Barthes zufolge darin, die Kommunikationsrichtung umzukehren: Statt der Erfüllung eines a priori festgelegten Gotteswillens wird es für den Exerzitanten, den Ignatius’ Sprache festlegt, zur Aufgabe, den göttlichen Willen überhaupt erst zu erfragen: »Diese interrogative Struktur gibt den Exerzitien ihre historische Einmaligkeit«,104 die Barthes also abermals in einem grammatisch-strukturellen, nicht einem inhaltlichen Merkmal erkennt. In der Gegenüberstellung von Semiosis und Mimesis, das heißt diskursiver Vermittlung und Abbildung, verortet Barthes Ignatius auf derselben Seite wie Sade: Auch in den Exerzitien rückt die beschreibende, bildliche Ebene in den Hintergrund gegenüber »intellektuelle[n] Chiffre[n]«.105 Die Bilder der Exerzitien erscheinen so selbst als Codes, deren Bedeutung intertextuell aufschlüsselbar ist über topisches Wissen, etwa über »die zehn Gebote, die sieben Todsünden, die drei Seelenkräfte (Gedächtnis, Verstand, Wille) und vor allem die fünf Sinne«.106 Ihre Deutung bleibt jedoch vollkommen unabhängig von einem individuellen (Autor-)Subjekt, und damit einhergehend ist dieselbe Schlussfolgerung, die Barthes auch für Sade gezogen hat: »Das Ich des Ignatius hat […] keinen Seinswert, es wird in keiner Weise beschrieben, prädiziert, seine Erwähnung ist rein transitiv, imperativ«107 – mit anderen Worten: Es ist erneut nur als rhetorisch-diskursive Funktion von Bedeutung, deren Schreibweise (im Sinne eines spezifisch im vorliegenden Text der Exerzitien etablierten Codes) das Einzige ist, das für den Namen Ignatius steht. Der dritte Gegenstand von Barthes’ Analyse von Sprachschöpfern ist Charles Fourier, der französische Gesellschaftstheoretiker und Utopist des 19. Jahrhunderts.108 Fouriers Konzeption eines harmonischen Weltzustandes, die ihm vor allem

103 Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 55. 104 Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 56. 105 Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 61. 106 Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 70. 107 Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 61. 108 Eine konzise Übersicht über Fouriers Denken und seine Werke bietet die Arbeit von Michel Brix: L’héritage de Fourier: utopie amoureuse et libération sexuelle. Jaigne: La chasse au snark 2001. Eine gedankliche Linie Fourier–Benjamin–Barthes diskutiert Michael Hollington: Benjamin, Fourier, Barthes. In: Gerhard Fischer (Hg.): ›With the

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den Nachruhm eingebracht hat, ein früher Theoretiker der freien Liebe gewesen zu sein,109 basiert Barthes zufolge auf einer spezifischen grammatischen Intervention (was auch hier verdeutlicht, dass die Inhalte von Fouriers Denken für dessen Darstellung als Sprachschöpfer zunächst sekundär sind): Er setzt, so Barthes, neben die grammatischen Achsen des Syntagmas und des Paradigmas die Relation der Serialität, wodurch in seinen Schriften eine neue Art des Sprechens und Denkens entsteht.110 Durch die Betonung der Serialität erreicht Fouriers ›Sprache‹ einen Zustand der Harmonie, in dem verschiedene gleichwertige Denksysteme nebeneinander existieren können, ohne miteinander in Konflikt zu geraten, wie es die Achsen des Syntagmas, also der metonymischen Ähnlichkeit, und des Paradigmas, also der kontrastierenden Unterscheidung, vorsehen – Barthes führt das angestrebte System über seine zu einiger Berühmtheit gelangte Differenzierung zwischen den »Sekten« der Esser von Kuskus mit ranziger oder nicht ranziger Butter ein, die unterschiedlicher Meinung sein, aber dennoch ohne Konflikt nebeneinander existieren können (was, grammatisch gesprochen, an der Kategorie der Serialität festzumachen ist, die alternative Bedeutungssetzungen nebeneinander erlaubt, ohne eine davon als überlegen oder »normal« zu privilegieren).111 Es kommt durch diese grammatische Operation zur Bildung einer Sprache, deren Durchschaubarkeit verloren geht: Die Hierarchie der Bedeutungen wird »desorientiert«,112 die klare Festlegbarkeit der Signifikation, wie sie die hergebrachte Grammatik vorsieht, geht verloren in einem »Spiel glücklicher Metaphern«,113 der Lust an einer »Wucherung des Signifikanten«114 – und damit verliert sich auch die Möglichkeit, eine Aussage einem Subjekt klar zuzuordnen: Das ›Subjekt‹ Fourier spielt für seinen Diskurs (genau wie auf andere Weise die Subjekte Sade und Ignatius von Loyola) nur noch als »Subjekt der

Sharpened Axe of Reason‹. Approaches to Walter Benjamin. Oxford/Washington, D.C.: Berg 1996, S. 113–128. 109 Brix betont in seiner Würdigung des Denkers und seines (von Brix kritisch betrachteten) Nachlebens den Aspekt der »utopie amoureuse et libération sexuelle«, wie der Untertitel unterstreicht. Er stellt der Bedeutung Fouriers in diesem Kontext ein womöglich etwas zu optimistisches Zeugnis aus, wenn er schreibt: »L’heure de gloire du réformateur est venue au XXe siècle, époque où sa doctrine rencontra moins de rieurs que d’apôtres.« Brix: L’héritage de Fourier, S. 14. 110 Vgl. Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 113 f. 111 Vgl. Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 91 f. 112 Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 108. Hervorhebung im Original. 113 Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 99. 114 Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 115. – Vgl. hierzu auch Hollington: Benjamin, Fourier, Barthes, S. 121.

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Schreibweise« eine Rolle, also als Auslöser dieser sprachlichen Desorientierung, die Grundlage und Ziel der Fourier’schen Sprache ist: Das Ziel der Harmonie ist nicht, sich vor einem Konflikt zu schützen […] noch ihn zu reduzieren […], auch nicht, ihn zu transzendieren […], sondern ihn zur größten Lust eines jeden, und ohne jemanden zu verletzen, auszunutzen. Und wie? Indem man ihn spielt und aus dem Konfliktuellen einen Text macht.115

Die Fourier’sche Harmonie ist also ein Zustand, der immer neue Texte produziert – und zwar aufgrund der Struktur der ihm zugrunde liegenden Sprache, die mit dem Namen Fourier als »Subjekt der Schreibweise« assoziiert wird. 2.4.3 Vom »Subjekt der Schreibweise« zum »Biographem« Im bisher Dargestellten ließ sich Barthes’ Sade, Fourier, Loyola als praktische Anwendung und Nutzbarmachung von Kristevas Begriff eines ›Subjekts der Schreibweise‹ nachvollziehen. Er zieht jedoch neben dieser Linie seiner Schrift eine zweite, die eine gewisse Abänderung der von Kristeva implizierten Subjektkritik andeutet.116 In Sade, Fourier, Loyola bleibt diese nur in einzelnen Punkten erkennbar – für Über mich selbst wird sie zum zentralen Kompositionskriterium, wie im Folgenden gezeigt wird. Was Barthes von Ansätzen einer radikalen Subjektkritik abgrenzt, ist die Tatsache, dass er sich der performativen Widersprüche, die über eine Subjektkritik mithilfe eines Terminus wie »Subjekt der Schreibweise« in die Diskussion getragen werden, Rechenschaft ablegt und versucht, die hieraus entstehenden Spannungen produktiv zu machen. In den Blick nimmt er vor allem das Problem – die »List der Dialektik« –, dass Kristevas Begriff dazu führt, dass das gerade aus dem Text entfernte Subjekt als »Subjekt der Schreibweise« gewissermaßen wiederkehrt – allerdings in veränderter Form:

115 Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 116. Hervorhebung im Original. – Auf die Nähe, die Fouriers Denken im Begriff des Spiels zu dem Barthes’ hat, weist Hollington: Benjamin, Fourier, Barthes, S. 124 f., hin. 116 Ette spricht in Bezug auf Über mich selbst davon, dass Barthes im Zeichen der Lust am Text »die Last abendländischer Subjektzentriertheit wie die Last avantgardistischer Textualitätsdogmatik« unterlaufe, wobei unter dem letzteren Topos wohl auch die Intertextualitätstheorie Kristeva’scher Prägung subsumiert werden kann. Ottmar Ette: LebensZeichen. Roland Barthes zur Einführung. Hamburg: Junius 2011, S. 127.

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Wenn aber eine List der Dialektik will, daß in dem jedes Subjekt zerstörenden Text doch ein liebenswürdiges Subjekt sei, so ist dieses Subjekt doch verstreut, wie Asche, die man nach dem Tode in alle Winde streut […]: Wäre ich Schriftsteller und tot, wie sehr würde ich mich freuen, wenn mein Leben sich dank eines freundlichen und unbekümmerten Biographen auf ein paar Details, einige Vorlieben und Neigungen, sagen wir auf »Biographeme« reduzieren würde, deren Besonderheit und Mobilität außerhalb jeden Schicksals stünden und wie die epikuräischen Atome irgendeinen zukünftigen und der gleichen Auflösung bestimmten Körper berührten.117

Barthes führt in diesem Zusammenhang einen neuen Begriff ein. Das im Text »wie Asche« verstreute Subjekt ist aufgelöst in kleinste Bestandteile, »Details«, »Vorlieben« und »Neigungen«, die ihrerseits nur in der spezifischen Konstellation ihres Auftretens eine individuelle Gestalt erkennen lassen. Diese Momente bezeichnet er als »Biographeme«. Diese Kennzeichnung verweist eindrücklich auf die Differenz zwischen dem ›alten‹ Subjekt und dem an seine Stelle getretenen »Subjekt der Schreibweise«: Letzteres ist nur noch Asche, das heißt tote Materie, die im Text »verstreut« wiederzufinden ist – von ihr führt jedoch kein Weg zurück zum Subjekt vor dessen Tod, das als selbstherrlich agierende Instanz den Ursprung von Texten markieren konnte; jeder Versuch, aus dieser Asche wieder ein ›Subjekt‹ zu machen, bedarf eines imaginativen Aktes der Rezeption, der die Einzelteile zu einem Ganzen zusammensetzt, ohne dass dieses Ganze jemals wieder die vom Subjektbegriff zunächst einmal implizierte Bedeutung und Potenz haben könnte (das Zusammensetzen von »Asche« wird natürlich niemals zur Wiederherstellung eines zuvor gegebenen Gegenstandes führen können, sondern kann immer nur ein fiktionalisierendes, die bleibenden Lücken frei ausdeutendes Verfahren sein – eine Perspektive, die die Ganzheitsvorstellungen der klassischen Theoriebildung etwa bei Dilthey deutlich zurückweist). Barthes verwendet den Begriff »Biographeme« hier in Anführungszeichen, was vielleicht auch signalisiert, dass er ihm keinen systematischen Wert beimisst (wie seine poststrukturalistischen Schriften ohnehin zu einer Schreibweise tendieren, die die klaren Festlegungen, die noch die Werke seiner ›strukturalistischen Phase‹ bestimmt haben, negiert und hinter sich lässt118). Anders als die Gegenstände seiner

117 Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 13. 118 In einem Nachruf auf Barthes formuliert Tzvetan Todorov: »Man hatte große Schwierigkeiten damit, Barthes’ Texte einem der großen Diskurstypen zuzuordnen, die uns vertraut sind und von unserer Gesellschaft als natürlich hingenommen werden; und dies diente häufig als Ausgangspunkt eines Angriffs auf Barthes«. Wie er weiter herausstellt, unterläuft Barthes’ Schreibweise dabei die Möglichkeit, hier überhaupt von einem »Be-

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Darstellung – die Klassifikateure und Schöpfer neuer Sprachsysteme Sade, Fourier und Ignatius – klassifiziert Barthes selbst nicht mehr, was eine wichtige Konnotation des Biographem-Begriffs ist:119 Er steht für das Aufgreifen eines vermeintlich irrelevanten Details und die einigermaßen willkürliche Herstellung von Verbindungen zwischen einander fremden, aber in einer individuellen Kombination signifikant werdenden Elementen: Das »Territorium der Wahrheit, der Seele, des Großen und Ganzen« hat diese Form der Autobiografik hinter sich gelassen, »vor den Begriff der ›Lebensgeschichte‹ ist das Verhältnis von Subjekt und Sprache gerückt«, charakterisiert Silvia Henke Barthes’ Theoriebildung.120 Biographeme sind dann kleinste Punkte innerhalb einer Netzstruktur, die ein schriftliches Bild vom Subjekt gibt, das – wie bereits bei Foucault bzw. Kristeva – nicht mehr mit den Potenzen der klassischen Subjekttheorie kantischer bzw. Descartes’scher Prägung aufgeladen ist, sondern sich letztlich im Rezeptionsvorgang aus der verknüpfenden Lektüre des auf Biographeme abhebenden Textes herstellt.121 Oder, mit Jacques Derrida gespro-

griff« zu sprechen im Sinne einer »wohlerprobten Waffe, die ich [als Leser Barthes’] künftig selbst gebrauchen könnte. […] Die Wörter Barthes’ sind niemals Waffen und verbieten das ›Begreifen‹ [im Original deutsch]«. Tzvetan Todorov: Der letzte Barthes. In: Hans-Horst Henschen (Hg.): Roland Barthes. Mit Beiträgen zu seinem Werk von Jacques Derrida u.a. München: Boer 1988, S. 129–138, hier S. 130 f. – Wenn hier gleichwohl an den Terminus des Biographems angeschlossen wird, geschieht dies im Bewusstsein dieses prekären Verhältnisses und in Fortführung der Funktion dieses ›Wortes‹, Begriffe eher aufzulösen als sie als »Waffe« nutzbar zu machen. – Vgl. zur Charakterisierung der Schreibweisen Barthes’ auch Kolesch: Roland Barthes, S. 84. – Zu den Schwierigkeiten bei der Einordnung von Barthes in die theoretischen Strömungen seiner Zeit vgl. Langer: Wie man wird, was man schreibt, S. 182–187, und Réda Bensmaïa: Vom Fragment zum Detail. In: Henschen (Hg.): Roland Barthes, S. 181– 208, hier S. 181 f. 119 Treffend stellt Langer fest: »Barthes war keineswegs ein Systematiker« und verweist auf seine »Flexibilität schon innerhalb des Strukturalismus«. Langer: Wie man wird, was man schreibt, S. 181 u. 182. 120 Silvia Henke: Im Besonderen oder »die unmögliche Wissenschaft vom einzigartigen Wesen«. Zur Konstruktion autobiographischer Räume bei Roland Barthes, Elias Canetti und Else Lasker-Schüler. In: Marianne Schuller u. Elisabeth Strowick (Hg.): Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung. Freiburg i.Br.: Rombach 2001, S. 237–252, hier S. 238. 121 Zu Barthes’ Vorstellung des individuellen Lektüreaktes, in dessen Rahmen sich dann eine in jedem einzelnen Fall verschieden verlaufende Aktualisierung eines Subjektbildes ereignen könnte, vgl. seine Konzeption der Lektüre in Barthes: Die Lust am Text.

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chen, der in einer Würdigung des verstorbenen Barthes an dieses Prinzip anzuknüpfen scheint: Sie sind »kleine Steine, nachdenklich am Rande eines Namens aufgereiht wie die Verheißung einer Wiederkehr«, oder eine »endlose Reihe der Wundmale«, die den »Platz für die Substitution frei« lassen und also das Subjekt eher umkreisen, als es tatsächlich festzulegen.122 Während ein ähnlicher Gedankengang bei Foucault aus der Vorstellung vom ›Subjekt‹ als Schnittpunkt der Diskurse123 entsteht, erweitert Barthes die Perspektive über den diskursiven Rahmen hinaus und bezieht – spätestens in Über mich selbst/Roland Barthes par Roland Barthes – performative Momente der Praxis oder Gegenstände124 mit ein, die in Form von Biographemen im Text wiederkehren. Der für Foucault wichtige Gedanke, dass die Diskurse, die sich durch die Bezugnahme des Individuums auf sie quasi in einem Punkt schneiden, stets über das Subjekt hinausweisen und zunächst einmal von diesem unabhängig bestehen, rückt beim späten Barthes in den Hintergrund: Die Biographeme selbst sind in sich abgeschlossene Details, denen nicht in allen Fällen dieselbe Makrostruktur eignet, wie sie für Foucaults Diskurse typisch ist. Während man also bei Foucault metaphorisch vom Subjekt als Knoten in einem Netz der Diskurse sprechen könnte, läge bei Barthes eher die Metapher vom Subjekt als Netz im Sinne einer Verbindung einzelner Punkte nahe.125 Ganz unabhängig von dieser metaphorischen Umschreibung haben beide Konzeptionen jedoch gemeinsam, dass

122 Jacques Derrida: Die Tode des Roland Barthes. In: Henschen (Hg.): Roland Barthes, S. 31–73, hier S. 32 u. 71 f. 123 Eine Formulierung, die etwa Kolesch auch für Barthes übernimmt: Vgl. Kolesch: Das Schreiben des Subjekts, S. 208. 124 Markant ist etwa die Beschreibung des Nachlebens eines Knochenstücks, das – dem Text zufolge – Barthes bei einer Operation entnommen wurde und das sein Nachleben nicht nur in einer Schublade, sondern – nach einer »Verwandlung des Körpers in Schrift« (Henke) – auch in Über mich selbst findet. Vgl. Barthes: Über mich selbst, S. 69 f. (»Das Kotelett«) – Eine semantische Auswertung der Passage in autobiografietheoretischer Hinsicht bietet Henke: Im Besonderen oder »die unmögliche Wissenschaft vom einzigartigen Wesen«, S. 237–239, das Zitat S. 239. 125 Zumindest gilt das für die hier verhandelten Texte; in Bezug auf die frühere Thematisierungen von Autorschaft in Der Tod des Autors, die noch wesentlich näher an Kristevas Gedankenwelt liegt, lässt sich dies nicht so ohne Weiteres sagen. Insofern er hier von einem offenen Intertextualitätsbegriff Kristeva’scher Prägung ausgeht, dessen Zitate stets über den gegebenen Text in Richtung eines umfassenden Intertextes hinausweisen, liegt er nicht nur näher an Kristeva, sondern auch näher an der Konzeption Foucaults, der statt des Intertextualitäts- den Diskursbegriff verwendet. Vgl. Barthes: Der Tod des Autors, S. 190, und Kap. 2.4.1.

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die Frage eines transzendentalen Bewusstseins, das hier bestimmend agieren könnte, in ihnen keine Rolle mehr spielt.126 In Sade, Fourier, Loyola finden sich – neben der theoretischen Einführung des Begriffs »Biographem« – konkrete Andeutungen, wie eine derartige Subjektkonstruktion mithilfe von Biographemen im (auto)biografischen Text praktisch aussehen kann. Während das Kapitel »Loyola« eher eine Ordnung aufweist, die dem von Ignatius etablierten Sprachsystem über abstrakte Termini nähertritt, die in vielen Fällen eine Art strukturalistischer Sprachbeschreibung anzudeuten scheinen (»Der multiple Text«, »Die Mantik«, »Die Imagination«, »Topik« etc.), vollzieht das Kapitel »Sade II« in seinen Überschriften in bestimmter Form eine beliebige Anordnung nach dem Prinzip der Biographeme nach. So gewinnt der Sade des mit diesem Namen verbundenen Werkes Gestalt in diversen Details seines Schaffens, die in ihrer Wiederkehr in verschiedenen Texten bzw. in ihrer Relevanz für die von Sade geschaffene ›Sprache‹ vorgeführt werden. Praktiken – »Das Weib verbergen«, »Der Widerwille gegen Brot« – stehen dabei neben allgemeineren Ordnungsbegriffen – »Nahrung«, »Höflichkeit« – und speziellen Einzeldingen – »Das Fließband«, »Das Taschentuch« –, deren Zirkulieren im Sade’schen Text verfolgt wird. Während das Kapitel »Sade I« noch das Interesse am Inhalt zugunsten der Orientierung am Code dementierte, kommt es in »Sade II« auf dieser Basis zu einer Vermischung: Zwar bleibt das übergeordnete Interesse die Herstellung der besonderen Regeln des Codes von Sades Werken und damit ihres »Subjekts der Schreibweise«; an dessen Seite tritt nun jedoch eine auch inhaltlich markante Verbindung unterschiedlicher sachlich definierter Momente, deren semiotische Relevanz im Zusammenspiel vorgeführt wird. Neben der der Grammatik entsteht damit eine stärker auf die Inhalte der Texte angewiesene Ebene, die gewissermaßen gegenüber »Sade I« um die Funktion erhellender Beispiele erweitert ist: Führt die Lektüre des ersten SadeKapitels beinahe zu keinerlei Aufschluss über die Inhalte des Sade’schen Werks, ermöglicht »Sade II« eine konkrete Anknüpfung der abstrakten Sprachtheorie an deren Material – durch die Ergänzung des »Subjekts der Schreibweise« um diese inhaltlichen Details, die man als Biographeme deuten könnte, ergibt sich ein höheres Maß an Plastizität, das mit dem Namen ›Sade‹ verbunden werden kann (ohne

126 Vgl. z.B. auch Kolesch: Das Schreiben des Subjekts, S. 119. – Insofern scheint mir Wagner-Egelhaafs Rede vom »imaginären Ich-Entwurf«, der sich bei Barthes finde, oder die Beschreibung als »inszenierte[r]« Text in eine falsche Richtung zu weisen: Es geht hier nicht mehr um den (intentional von einem Autor verantworteten) Entwurf bzw. die Inszenierung, sondern um die Präsentation von Material, aus dem in der Rezeption ein Bild ›zusammengesetzt‹ wird. Vgl. Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie, S. 359.

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dass hier je die referenziell von klassischen Biografien angestrebten Bezüge auf das Leben des Autors eine Rolle spielen würden). Noch weiter geht die Aufwertung der sachlich-sinnlichen, stärker plastischen Komponente des Subjektbilds mithilfe der Biographeme im Falle Fouriers, zu dem es heißt: »Fourier liebt Kompott, schönes Wetter, vortreffliche Melonen, kleine aromatische Pasteten, mirlitons genannt, und die Begleitung der Sapphinnen.«127 Barthes zieht hier aus Fouriers Texten Momente ab, aus denen sich ein Bild der ›Person Fourier‹ konstruieren lässt.128 Entscheidend ist dabei im vorliegenden Fall die Rückführung auf Fouriers Texte: Es handelt sich also nicht um referenzielle Bezugnahmen auf das Leben Fouriers, sondern um eine intertextuelle Konstruktion, die Momente aus Werken des Theoretikers aufnimmt und zusammenführt. So entsteht ein Subjektkonstrukt, das dementsprechend mit den Potenzen des transzendentalen Subjekts kantischer Prägung nicht mehr verbunden ist, sondern durch einen im Text (Barthes’) niedergelegten Rezeptionsakt anderer Texte (Fouriers) konstruiert wird – eine Vermittlung, die nicht ganz unwichtig ist, weil sie verhindert, dass Barthes hinsichtlich seines Subjektbildes Probleme mit der Frage der Referenzialität bekommt: Er behauptet nicht, dass es sich um Erkenntnisse über die tatsächliche Person Fourier handle, die er hier wiedergibt, sondern es wird deutlich, dass eine Subjektkonstruktion durch den Leser auf der Basis von Texten erfolgt. An die Seite des »Subjekts der Schreibweise«, das mit Kristeva – wie gezeigt – über linguistische Strukturen des Fourier’schen Schreibens herausgearbeitet wird, tritt durch entsprechende kurze Anmerkungen ein Subjektbild, das auf die textuell niedergelegte Praxis, auf Vorlieben, häufige Themen und Gewohnheiten, die im Text aufgegriffen werden, zurückgreift und somit der Instanz ›Fourier‹ eine spezifische personale Plastizität verleiht, die die Konstruktion des »Subjekts der Schreibweise« in ihrer rein funktional-grammatischen Struktur so nicht erreicht.129

127 Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 93. Hervorhebung im Original. 128 Eine ähnliche Strategie verfolgt das Sade, Fourier, Loyola abschließende kurze Kapitel »Lebensläufe«, in dem auf Grundlage von Werk und Biografik Biographeme in Beziehung gesetzt werden und ein Bild der ›Subjekte‹ Sade und Fourier entsteht (das Kapitel erfüllt also keineswegs den Zweck einer referenziellen Chronik im Sinne eines Curriculum Vitae, wie man vielleicht angesichts des Titels denken könnte). Aufgrund des eher ergänzenden Charakters dieses Kapitels und der strukturellen Analogie zum auf Fourier bezogenen Abschnitt des Buches wird auf eine genauere Auseinandersetzung hiermit verzichtet. Vgl. Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 195–209. 129 In Bezug auf Sade erfolgt dasselbe im Kapitel »Lebensläufe« unter Rückgriff auf Momente wie die Etymologie des Namens »Sade« (Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 197), die Relevanz von »Theaterkostüme[n]« (ebd., S. 198), ein Verzeichnis des Inhalts einer

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2.4.4 Über mich selbst als Inventar zur Herstellung eines Textsubjekts »[M]ein Körper ist eurem nicht gleich«130 – diese Umschreibung von Individualität131 ist es, mit der Barthes in Über mich selbst auf den Punkt bringt, welche ›Bedeutung‹132 über Biographeme erzeugt werden kann.133 Sie ermöglichen es, durch Zuschreibung im Rezeptionsvorgang ein Bild herzustellen, das ein Individuum anderen gegenüber unverwechselbar macht – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Barthes’ Versuch, die Autobiografie als Schrift ›über sich selbst‹ aufzufassen, verrät in ihrem übersetzten Titel stärker als im Original den Bezug auf die zeitgleich entstandene Autobiografiekonzeption Lejeunes, der ja von der Identität des Schreibenden mit dem Dargestellten ausgeht – es handelt sich ihm zufolge bei der Autobiografie ja um die Erzählung »einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz«,134 sie lebt von der »Identität zwischen dem Autor, dem Erzähler und dem Protagonisten«,135 die wiederum in der Doppelung des Eigennamens im französischen Originaltitel gut zum Ausdruck kommt –, und Barthes’ Text unterläuft diese Idee geschickt: Er verdeutlicht, dass es jenseits dieses Textes und der von ihm ausgelösten Rezeption gar keinen Roland Barthes ›gibt‹, dessen Identität mit dem im Text präsentierten festgestellt werden könnte.136 Man könnte sagen, dass die Gestaltung von Über mich selbst und die zurückhaltende Vorstellung von Individualität,

Kiste, die sich Sade aus Neapel nachschicken lässt (ebd., S. 200), oder bestimmter Zahlenreihen aus seinen Briefen (ebd., S. 203 f.). 130 Barthes: Über mich selbst, S. 137. Hervorhebung im Original. 131 Zum Verhältnis der Begriffe »Subjekt« und »Individuum« vgl. Barthes: Die Lust am Text, S. 92. 132 Vgl. Barthes: Über mich selbst, S. 137. 133 Zur Lesbarkeit von Über mich selbst auf Basis der Biographem-Theorie vgl. allgemein auch Langer: Wie man wird, was man schreibt, S. 304 f. 134 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 14. Hervorhebung im Original. 135 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 15. Hervorhebung im Original. 136 Kristeva hält in Bezug auf Roland Barthes par Roland Barthes fest: »The confusion of subjective voices invalidates all notions of the author as preexisting his utterance: the subject emerges only in, and through, his own voice; and only during the time of his utterance.« Kristeva: [Art.] Roland Barthes, S. 411. – Zur Entgegensetzung Barthes/ Lejeune vgl. auch Christian Martin: Roland Barthes et l’éthique de la fiction. New York u.a.: Lang 2003, hier S. 107.

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die darin artikuliert wird, tatsächlich das tun, was Lejeune nur ankündigt, wenn er behauptet, in seiner Darstellung vom Leser auszugehen.137 Roland Barthes’ Über mich selbst bietet – wie es die Theorie des Biographems vorsieht – in seinem Text kein zusammenhängendes Narrativ, das auf ein Subjekt als Kern und Ausgangspunkt zurückgeführt werden kann, sondern stellt auf gut 200 Seiten bildliches und schriftliches Material in Form von Fragmenten zur Verfügung,138 das insgesamt dem Leser die Möglichkeit gibt, aus einer beliebigen Kombination dieses Materials ein Bild zusammenzustellen, das einerseits plastisch und nahbar – »lesbar, zugleich aber auch erlebbar und lebbar«139 – erscheint, andererseits aber allein schon durch die Tatsache, dass es von jedem Leser wieder anders zusammengestellt werden könnte,140 jeden Referenzanspruch dementiert. Das Buch ist damit eine Art Baukastensystem zur Zusammenstellung von ›Barthes-Lektüren‹141 – es ermöglicht es, im Text ein »Subjekt der Schreibweise« zu finden, das sich jedoch (ganz im Einklang mit Barthes’ Lektüretheorie in Die Lust am Text) nie

137 Vgl. zur Auseinandersetzung mit Lejeune Kap. 1.2. 138 Kolesch verwendet – ausgehend von einer Interviewäußerung Barthes’ und von der Verwendung des Begriffs bei Baudelaire – für die Art der Darstellung den Begriff des »Kaleidoskops«, das es erlaubt, aus ungeordneten Bruchstücken ein Bild herzustellen. Vgl. Kolesch: Das Schreiben des Subjekts, S. 120–123. 139 So Ette: LebensZeichen, S. 126. Vgl. a. Martin: Roland Barthes et l’éthique de la fiction, S. 113. 140 Der eigentlich reizvollen Idee, den Begriff des Biographems im Sinne eines ›Rezepts‹ zur Herstellung eines Text-Ichs aufzufassen, steht die Tatsache entgegen, dass auf Basis der von Barthes zur Verfügung gestellten ›Zutaten‹ gewissermaßen eine Vielzahl verschiedener ›Gerichte‹ zubereitet werden könnte. Zu dieser Terminologie, die dennoch vor dem Hintergrund eines im Detail treffenden Bildes von Barthes’ Theoriebildung verwendet wird, vgl. George H. Bauer: Met(s)atextualité poétique: Les biographèmes de Roland Barthes. In: L’Esprit Createur 31 (1991), H. 2, S. 68–75. 141 Ursula Kocher kommt in Auseinandersetzung mit Romanen von Reinhard Jirgl, Reif Larsen und Leanne Shapton, die ähnlich verfahren, indem sie den »Roman im Kopf des Betrachers und Lesers entsteh[en]« lassen, zum Begriff des »hypertextuellen Erzählens«, in dem die Linearität des Textes aufgebrochen wird, sodass an deren Stelle ein vom Leser ausgehendes Hin- und Herspringen im Material tritt. Hiervon ausgehend ließe sich auch Über mich selbst als hypertextuelle Erzählung, deren Erzählinstanz ›Roland Barthes‹ auf vergleichbare Weise herzustellen wäre, einordnen. Vgl. Ursula Kocher: Erzählen an den Textgrenzen. In: Julia Schöll u. Johanna Bohley (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 117–127, hier S. 125 f.

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festlegen lässt, sondern stets imaginative Momente des Lesers umfasst, die von einem anderen Leser nie in derselben Form zu duplizieren sind. Auf die Lesbarkeit der Person als Text spielt auch das Motto an, das am Anfang von Über mich selbst steht – markanterweise nicht nur in gedruckter Form, sondern auch als Reproduktion von Barthes’ Handschrift142 –: »All dies muss als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird.«143 Anders als es Lejeune zeitgleich glauben machen will, besteht Barthes’ Text hiermit darauf, dass es keinen Unterschied zwischen einem »autobiographischen Pakt« und einem »Romanpakt« gibt: Im Akt der Lektüre ist alles denkbar – der autobiografische Kurzschluss ebenso wie die textund fiktionsimmanente Deutung, die in Lejeunes Optik dem Roman zuzuordnen wäre; eine Vorentscheidung über einen »Pakt«, den Barthes skeptisch beurteilt,144 ist im Bereich der offenen Lektüren eine Illusion.145 Unabhängig davon bleibt das Subjekt, das hier vorliegt, eines aus Buchstaben: das, was allen Lektüren des ›Subjekts Roland Barthes‹ gemeinsam ist, ist der Text, auf den sie referieren – er steht im Zentrum, ist in sich jedoch durch die nicht aufeinander bezogenen Biographeme ein »offene[s], dezentrierte[s] Textgewebe«.146 Barthes füllt dieses Feld der Biographeme, die hier noch einmal näher als »Anamnesen: die ich dem Autor, den ich liebe, verleihe«, bestimmt und die auch als »Handlung […] um […] eine Feinheit der Erinnerung wiederzufinden«147 näher gefasst werden, wie schon in Sade, Fourier, Loyola mit disparaten Elementen, an die die Rezeption frei anschließen muss, um ein Gesamtbild herzustellen. In großen

142 Dies erscheint als ironischer Reflex auf Lejeune, der ja die eigenhändige Unterschrift mit großer Bedeutung für die Authentifizierung des autobiografischen Autors auflädt; als sollte hiermit gezeigt werden, dass die eigenhändige Schrift auch genau das Gegenteil dessen fordern kann, das Lejeune mit ihr verbindet. Vgl. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 19 u. 23. 143 Barthes: Über mich selbst, S. 5. 144 Vgl. das Lemma »Zweideutiges Lob des Vertrags«, wo es heißt: »da dieser Vertrag meistens verdeckt ist, besteht das kritische Vorgehen darin, die Verwicklung der Gründe, der Alibis, alles Scheinhaften, kurz gesagt, als das gesellschaftlich Naturhafte zu entziffern, um den geregelten Austausch offenkundig zu machen, auf dem der semantische Gang und das kollektive Leben beruhen« – auf dieses »kritische Vorgehen« wird bei Lejeune, wie häufig kritisiert worden ist, verzichtet, wenn er umstandslos von der Gültigkeit entsprechender Lektüreverträge ausgeht. Barthes: Über mich selbst, S. 67 f. 145 Ette spricht von einem »autobiographischen Pakt […], der mit derselben Geste abgeschlossen und wieder aufgekündigt wird«. Ette: LebensZeichen, S. 130. 146 So Kolesch: Das Schreiben des Subjekts, S. 131. 147 Barthes: Über mich selbst, S. 129.

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Teilen verfährt er dabei nach einem vergleichbaren intertextuell gestützten Prinzip, wenn er Momente aus seinem eigenen Schreiben abzieht und hier in neuer Form präsentiert.148 Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein einzelnes Bild aus einem Barthes-Text isoliert und in seinem spezifischen Eigengewicht betrachtet wird – so (um einige unter den zahlreichen Beispielen zu nennen) etwa im Abschnitt »Die Geste des Sehers«, der auf S/Z rekurriert,149 unter »Chaplin«, wo seine Auseinandersetzung in Mythologies neu kontextualisiert wird,150 oder unter dem Lemma »Fourier oder Flaubert?«, das entsprechend die Frage aus Sade, Fourier, Loyola wieder aufnimmt, worin die historisch bedeutsame Rolle des Utopisten bestehe.151 Auf einer ersten Ebene stellt Über mich selbst also (erneut, könnte man sagen) das Material eines Gesamtwerks zur Verfügung, das dazu dienen kann, ein klarer identifizierbares Subjektbild auf Basis von literarisch-theoretischen Themen zu formen; die hiermit verbundenen Fragmente sind intertextuelle Marker, die eine Position des schreibenden Subjekts ›zwischen seinen Texten‹ anzeigen, ganz ähnlich wie es zum Teil in Sade, Fourier, Loyola der Fall ist. Es kommt zu einer fiktionalen Herstellung eines Autorsubjekts, eines »Énonciateur«,152 die sich aus dem fingierenden Akt der Rekombination intertextueller Elemente speist (der seine Basis im Text hat, jedoch dann erst individuell in der Rezeption vollzogen wird).153

148 In der Deutung von Ann Jefferson zeigt sich dieses Prinzip als das einzige Prinzip, nach dem in Barthes’ Text die klassische Autobiografie infrage gestellt wird, was im Lichte der hier vorliegenden Argumentation als Vereinseitigung der verschiedenen zusammentretenden Strategien von Über mich selbst erscheint. Vgl. Ann Jefferson: Autobiography as Intertext: Barthes, Sarraute, Robbe-Grillet. In: Michael Worton u. Judith Still (Hg.): Intertextuality. Theories and practices. Manchester: Manchester University Press 1990, S. 108–129. 149 Barthes: Über mich selbst, S. 53. 150 Barthes: Über mich selbst, S. 61. 151 Barthes: Über mich selbst, S. 108. 152 So die Beschreibung, die Todorov nach Barthes’ Tod zu dessen Charakterisierung verwendet und die mir sehr gut auf der Linie von Über mich selbst zu liegen scheint: »Barthes war weniger der authentische Romancier einer fiktiven Geschichte als der nicht-authentische Vermittler [énonciateur] wahrer Geschichten«, wobei das Attribut »wahr« noch einer klareren Spezifizierung bedürfte, die jedenfalls nicht im Bereich referenzieller Faktenwahrheit liegt. Todorov: Der letzte Barthes, S. 131. 153 Mit Wolfgang Iser ließe sich allein in dieser Selektion und Rekombination von intertextuellen Fundstücken ein »Akt des Fingierens« erkennen, der also die Grundlage dafür bildet, dass ein Text als fiktional zu lesen ist. Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 18–51.

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Anders als in Sade, Fourier, Loyola spielen jedoch hier auch Momente eine Rolle, die nicht aus der Welt des Barthes’schen Werks stammen, sondern diesen Bereich in Richtung persönlicher Szenen überschreiten, deren referenzieller Gehalt vonseiten des Textes und der Rezeption nicht feststellbar (und daher irrelevant) ist. In der Zusammenstellung dieser Szenen kommt somit ein noch stärker fiktionalisierendes Element in die Darstellung, als es die alleinige Kombination intertextueller Momente, wie sie etwa in den Präsentationen Sades und Fouriers vorliegt, mit sich bringt – der hier tatsächlich im Sinne einer »Romanfigur« klassischer Prägung auftretende Barthes (der es eben schon allein durch den Vorsatz des Bandes vermeidet, als bevorzugte Lesestrategie eine Strategie der Referenzialität nahezulegen) ist hier der (in der Regel der namentlich ungenannte) Protagonist von Alltagsszenen und besonderen praktischen Vorlieben, die ihn als Figur aus Lesersicht auch jenseits des Werkes fassbar machen. Tatsächlich spielt sich dabei auf der Textebene nichts anderes ab als bei Formen der indirekten Charakterisierung von Romanfiguren, die über ihre Präferenzen, Ticks, spezielle Idiosynkrasien oder symbolträchtige Handlungsmomente für den Leser fassbar werden. Wenn wir also erfahren, auf welche Weise der Protagonist gemeinsam mit seiner Mutter unter einem Bettlaken eine Fledermaus aus dem Zimmer vertrieben hat oder von ihr beim kindlichen Spiel aus einer Baugrube gerettet worden ist,154 dass er »Salat, Zimt, Käse, Gewürze, Mandelteig«, aber nicht »Frauen in langen Hosen, Geranien, Erdbeeren, das Cembalo, Miró« liebt,155 verdeutlicht dies, dass Barthes praktisch und in großer Transparenz dafür plädiert, Charakterisierungsstrategien der schönen Literatur auf den Bereich der Autobiografie zu übertragen. Er führt konkret vor, wie dies geschieht, und ver-

154 Barthes: Über mich selbst, S. 126 u. 143. – Eine in ihrer Fokussierung auf die MutterImago für die Psychoanalyse charakteristische Lektüre des Textsubjekts Barthes liefert (offenbar auf der Basis von Über mich selbst und Die helle Kammer) Julia Kristeva in ihrer posthumen Charakterisierung des Kollegen: »La clarté réservée de cette attitude, si solitaire, si pacifiée, si dure et donc si distinguée, provient, me semble-t-il, de l’élection de la mère comme objet intact d’un désir absolu et qui résume tout – début et fin condensés. C’est bien cette élection fascinante et pour cela même traumatique de la mère secrète, qui suspend la filiation réelle en même temps que la transmission symbolique : il n’y a pas d’›élèves‹ de Barthes, si ce n’est des épigones, comme il arrive avec les écrivains.« Julia Kristeva: La voix de Barthes. Rede, 2008. Online unter: www.kriste va.fr/barthes.html (23.04.2015). – Eine alternative, zeichentheoretische Deutung der Stelle über die Befreiung aus der Baugrube (die also verdeutlicht, wie offen der Text für unterschiedliche hermeneutische Anschlüsse ist), bietet Ette, der den Akzent auf Barthes’ Theorie der Exklusion und Inklusion legt: Ette: LebensZeichen, S. 131–133. 155 Barthes: Über mich selbst, S. 137.

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deutlicht damit, dass die Relevanz solcher Szenen nicht in ihrer Referenzialität liegt, sondern in den Möglichkeiten der individuellen hermeneutischen Auswertung des vorliegenden Textes im Lektüreakt. Dieser kann die Symbolträchtigkeit der einzelnen Szenen bewerten und deutend an sie anschließen, indem er eine diesseits des Textes herstellbare Identität der Chiffre »Barthes« erarbeitet, ganz im Sinne einer Rezeptionstheorie, der die auch hier erneut unterstrichene Erkenntnis zugrunde liegt: »was ich von mir schreibe, ist niemals das letzte Wort davon: umso ›aufrichtiger‹ ich bin, umso interpretierbarer bin ich unter dem Auge anderer Instanzen, die glaubten, sich nur einem einzigen Gesetz unterwerfen zu müssen: der Authentizität«.156

2.5 Z WISCHENFAZIT : D IE A UTOBIOGRAFIE UNTER DEN B EDINGUNGEN DER P OSTMODERNE Wie der Überblick über charakteristische Theoriepositionen, die alle in verschiedener Hinsicht dem Bereich postmodernen Denkens zugeordnet werden können, gezeigt hat, ergibt sich aus Sicht der Autobiografietheorie ein Handlungsbedarf, wenn diese den entsprechenden philosophischen Entwicklungen Rechnung tragen will. Die beiden zentralen Grundannahmen der ›klassischen‹ Autobiografietheorie – die Annahme der Referenzialität des Geschilderten und die Annahme eines sich authentisch oder in spezifischer Inszenierung äußernden Autorsubjekts – sind nicht aufrechtzuerhalten, nimmt man die theoretischen Entwicklungen beim Wort. Welchen Weg kann eine Autobiografietheorie im Zeichen dieser Theoriebildung nun einschlagen? Ausgehend von Hayden White ist zunächst festzuhalten, dass das Referenzialitätsparadigma nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Das bedeutet, dass die theoretische Auseinandersetzung mit der Autobiografie sich über die Narrativisierung und das Emplotment ihres Gegenstandes Rechenschaft ablegen muss. Textanalysen sollten damit also verdeutlichen, inwiefern auf Strukturen des Erzählens oder vorgängiger Plots zurückgegriffen wird, um beispielsweise Episoden eines Autorenlebens oder den Weg eines Autors zum Schreiben im Text zu erfassen. Aus dem referenziellen Rückgriff auf das Leben eines Autors wird damit eine intertextuelle Konstruktion im Kontext vorliegender Handlungs- und Erzählstrukturen, an die ein Text seinerseits in neuen Kombinationen anschließt. Auf der Basis der postsubjekttheoretischen Konzepte Foucaults, Kristevas und Barthes’ ist daneben zu konstatieren, dass die Zuschreibung geschilderter Inhalte zu

156 Barthes: Über mich selbst, S. 142.

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einer sich – authentisch oder in bewusster Inszenierung – äußernden Autorinstanz so nicht sinnvoll erscheint. Vielmehr verlagert sich auch hier der Akzent vom Betrachten einer vermeintlich intentional gesteuerten Darstellung hin zu einer in der Rezeption erkennbar werdenden Überlagerung von Texten, die ihrerseits ein Subjektbild hervorbringen. Für Foucault sind dabei konkret das Wissen organisierende Diskurse zentral, deren individuelle Kombination in einem Text eine subjektstiftende Wirkung entfaltet; aus Sicht Kristevas eine unspezifischer gefasste Intertextualität, die ein semiotisch-grammatisch spezifisches »Subjekt der Schreibweise« als »Mosaik von Zitaten« hervorbringt; und für Barthes eine Kombination von Kristevas Konzept mit einem stärker inhaltlich ausgerichteten, sich in der Rezeption realisierenden netzartigen Bild, das sich aus »Biographemen«, kleinsten für den Rezipienten in seiner individuellen Konstruktion des Subjekts relevant werdenden Lebensdetails, zusammensetzt. Die theoretischen Wege, die White, Foucault, Kristeva und Barthes einschlagen, machen deutlich, dass die Autobiografietheorie durch die postmoderne Theoriebildung nicht an ihr Ende kommt, wie man angesichts der entsprechenden Schlagworte vom »Tod des Autors« oder dem »Verschwinden des Subjekts« annehmen könnte; vielmehr ermöglichen es diese Theoretiker durch eine Verlagerung des Akzents auf textuelle Verfahren der Subjektkonstruktion, die Autobiografietheorie als Texttheorie, die auf Referenz und Intentionalität verzichten kann, auf ein neues Fundament zu stellen. So bieten sie eine Basis für Textanalysen, die auf andere Weise Aufschluss über Fragen der Autorschaft und der Lebensbeschreibung bieten können, als es die Autobiografietheorie klassischer Prägung vermag. Diesen Analysen widmet sich im Folgenden der zweite Teil dieser Studie.

Teil B: Studien zur Autobiografik

3.

Goethes linguistic turn: Zur intertextuellen Subjektkonstruktion in Dichtung und Wahrheit

3.1 D ICHTUNG

UND W AHRHEIT UND DIE KLASSISCHE A UTOBIOGRAFIETHEORIE

In der Geschichte der textuellen Reflexion von Autorschaft bildet ein Text einen Höhepunkt, der in den letzten 200 Jahren im Zentrum einer Vielzahl von Konstruktionen der Gattung Autobiografie gestanden hat: Johann Wolfgang von Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit.1 So ist es kein Ausnahmefall, wenn Ingrid Aichinger zu der diesbezüglich an Klarheit nicht zu wünschen übrig lassenden Überschrift ihres theoretischen Kernkapitels kommt: »Abgrenzung des Idealtypischen (Goethe: ›Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit‹)«2 – Goethes Text ist hier der Idealtypus, der der Theoriebildung zugrunde gelegt wird. Martina WagnerEgelhaaf weist darauf hin, dass diese Rolle des Textes als »Klassiker der Autobiographie« ihm einen Rezeptionsmodus einbrachte, der lange Zeit zum Problem der Einseitigkeit führte: »Bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein erschien Dichtung und Wahrheit als Zeugnis der bedeutungsvollen Selbstgegenwärtigkeit ei-

1

Vgl. über das im Folgenden gesagte hinaus den ausführlichen Forschungsüberblick zu dieser Frage bei Gabriele Blod: »Lebensmärchen«. Goethes Dichtung und Wahrheit als poetischer und poetologischer Text. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 11– 41. – Das vorliegende Kapitel greift auf eine frühere Version der Arbeit an Dichtung und Wahrheit zurück, die bereits publiziert wurde als: Robert Walter: »… aus dieser fingierten Welt in eine ähnliche wirkliche versetzt«? Die Theorie der Autobiographie und ein postmoderner Goethe. In: Goethe Yearbook 19 (2012), S. 231–260.

2

Aichinger: Künstlerische Selbstdarstellung, S. 33.

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nes mit sich identischen und zugleich über sich hinauswachsenden Geistes«;3 ein Zusammenhang, in dem Gerhart von Graevenitz zu Recht betont, dass Dichtung und Wahrheit »eine Art Leitfossil« für »organische Einheit und Totalität des Ich« geworden sei.4 Beispiele für diese Lesart des Textes sind etwa Emil Staigers Wahrnehmung des autobiografischen Helden als »organisches, folgerichtig entwickeltes Kunstwerk«,5 auch Dieter Borchmeyer tendiert – noch deutlich später – in eine ähnliche Richtung, wenn er Dichtung und Wahrheit als »durchaus affirmative Selbstdarstellung eines bedeutenden Individuums in seinen historischen Bezügen« liest.6 Nicht von einem derartig in sich ruhenden Ich überzeugt sind andere Autoren: In umgekehrter psychologischer Richtung haben beispielsweise Walter Muschg, Hans Mayer und Klaus-Detlef Müller den Text interpretiert, wenn sie die Autobiografie als Kompensationsinstrument für die Erfahrung eines Autors gelesen haben, dem das Unzusammenhängende und die vermeintliche Erfolglosigkeit des eigenen Schaffens auf der Seele lagen.7 Gemeinsam ist diesen divergierenden Positionen ei-

3 4

Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 161 f. Gerhart von Graevenitz: Das Ich am Rande. Zur Topik der Selbstdarstellung bei Dürer, Montaigne und Goethe. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1989, S. 30 f. Graevenitz selbst propagiert alternativ hierzu eine fruchtbare Lesart, die »das Nebeneinander von Einheitsmaxime und Heterogenität des Textes« ausleuchtet und so die Brüche in der autobiografischen Konstruktion nicht kaschiert (ebd., S. 32).

5

Emil Staiger: Goethe. 3 Bde. Zürich/Freiburg i.Br.: Atlantis 1956–1959, hier Bd. 3, 1959, S. 254: »Zwar nicht das Buch, wohl aber sein Held erscheint als organisches, folgerichtig entwickeltes Kunstwerk.« Staiger spricht der Goethe-Figur in Dichtung und Wahrheit damit eine Geschlossenheit zu, die er dem Werk selbst, das er diesbezüglich kritisiert, abspricht – eine Wahrnehmung, die so im Blick auf den Text sicherlich kaum haltbar ist. Zu den Wurzeln, die diese Einschätzung etwa bereits in der Romantik – zwischen Bettina von Arnim, Varnhagen von Ense und Carus – hat, vgl. Maximilian Nutz: Das Beispiel Goethe. Zur Konstituierung eines nationalen Klassikers. In: Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar: Metzler 1994, S. 605–637, hier S. 613–620.

6

Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim: Beltz Athenäum 1994, S. 485. Vgl. daneben die Darstellung von Dichtung und Wahrheit als »Entelechie der autonomen Persönlichkeit« bei Neumann: Identität und Rollenzwang, S. 136–149.

7

Vgl. Walter Muschg: Wiederholte Pubertät. In: ders.: Studien zur tragischen Literaturgeschichte. Bern/München: Francke 1965, S. 59–81. Hans Mayer: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg (1973). In: ders.: Goethe. Hg. v. Inge Jens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 45–215. Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literari-

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nes: Sie rekurrieren auf die Erfahrung eines Ichs, die sie im Text niedergelegt sehen. Wenn auch die Autobiografie dabei nicht notwendig als Quellentext zur Biografie Goethes gelesen wird – was oft genug geschehen ist8 –, wird dennoch im Hinblick auf die individuelle Erfahrung des Dichters von der Referenzialität des Textes ausgegangen, zumindest im Hinblick auf eine Wahrheit, die sich »vom Inneren des persönlichen Lebens her ausdrückt«,9 wie sie Gusdorf mit explizitem Bezug auf Goethe konzipiert. Und Roy Pascal bewertet Dichtung und Wahrheit geradezu als »major statement of the psychology of artistic creation«, welches verdeutliche, aus welchen »pressures of his experience« Goethes Werke entstanden seien.10 Mit welcher Stoßrichtung auch immer: Die Autobiografie wird in solchen Interpretationen und theoretischen Entwürfen jeweils zum Ausdruck einer tief empfundenen Erfahrung, zur Objektivierung eines subjektiv Erlebten, ja gar zum Mittel, psychologisch Unverarbeitetes doch noch schreibend kompensieren zu können.11

schen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen: Niemeyer 1976. In jüngerer Zeit verfolgten eine ähnliche Argumentation Benedikt Jeßing: Dichtung und Wahrheit. In: Goethe Handbuch. Hg. v. Bernd Witte u.a. Bd. 3: Prosaschriften. Hg. v. Bernd Witte u. Peter Schmidt. Die naturwissenschaftlichen Schriften v. Gernot Böhme. Stuttgart/Weimar: Metzler 1997, S. 278–330, sowie Deirdre Vincent: Text as Image and Self-Image: The Contextualization of Goethe’s Dichtung und Wahrheit (1810–1813). In: Goethe Yearbook 10 (2001), S. 125–153. 8

Die Konjunkturen biografistischer Argumentation ausgehend vom 19. Jahrhundert untersucht unter Berücksichtigung der von Goethe betriebenen Veröffentlichungen von autobiografischen bzw. lebensweltlichen Dokumenten Hans-Martin Kruckis: GoethePhilologie als Paradigma neuphilologischer Wissenschaft im 19. Jahrhundert. In: Fohrmann u. Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, S. 451–493. Vgl. auch Nutz: Das Beispiel Goethe, S. 613–617.

9

Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, S. 133.

10

Pascal: Design and Truth in Autobiography, S. 48.

11

Die neuere kulturwissenschaftliche Analyse von Dirk Kemper bleibt ebenfalls bei dieser Einschätzung. Zwar wird hier angenommen: »Individualität ist eben nicht mehr subjektzentriert, sondern nur noch dezentriert als Interaktion mit den genannten Umweltfaktoren zu begreifen« (S. 411 f. Hervorhebung im Original); dass es sich bei Dichtung und Wahrheit um einen Text handle, der grundsätzlich auf dem Boden referenzieller Bezüge zur äußeren Welt stehe, bleibt jedoch die nicht anschlussfähig erscheinende Ausgangsbasis dieser Argumentation. Kempers kulturwissenschaftliche Vorgehensweise tendiert so dazu, die textlichen Mechanismen, mit denen die Dezentrierung des Subjekts realisiert wird, zu missachten und ihnen einen ontologisch und erkenntnistheoretisch problematischen Status zuzuschreiben, der die Textualität der Autobiografie aus

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Vor allem in der älteren Goethe-Forschung sind darüber hinaus Äußerungen, die Dichtung und Wahrheit als vermeintlich zuverlässige Quelle für biografische Hintergrundinformationen zum Leben des Dichters einsetzen, Legion. Bereits im Jahre 1903 stellte ein skeptischer Beobachter fest, dass es kaum Goethe-Biografen gab, die »›Dichtung und Wahrheit‹ gegenüber volle Selbständigkeit gewahrt« hätten, und es lasse sich folglich bezweifeln, dass sie, sich an der Autobiografie orientierend, »vorher diese ihre Hauptquelle gründlich prüfen«.12 Und noch in den wichtigen und einflussreichen Bemerkungen Hans Mayers zum »Historiker«, der der Autobiograf Goethe gewesen sei, wird festgestellt: Keine Rede also davon, daß Goethe bei der Wahl dieses Titels einigen Episoden ihre geschichtliche Glaubwürdigkeit entzogen hätte, um frei zu fabulieren. […] Die Wahrheit lag für Goethe in den berichteten Tatsachen, die er keineswegs durch freies Fabulieren zu entstellen gedachte. ›Dichtung‹ aber meinte das große geschichtliche Gesamtprinzip.13

Goethes Text, der ja schon im Titel das Spannungsverhältnis von Authentizität und Fiktionalität aufnimmt, geht jedoch in einem für sein Entstehungszeitalter außergewöhnlichen Umfang auf die Tatsache ein, dass Text und Leben einander zunächst einmal fremd sind, ja dass eine wichtige Eigenschaft von Texten eben gerade darin besteht, darüber, »wie es eigentlich gewesen«,14 hinwegzutäuschen. Das, was im Text vom Leben übrig bleibt, ist – das macht Goethes Autobiografie von Anfang an bewusst – Konstruktion, also »Dichtung« in einem deutlich näher am Begriff der Fiktionalität liegenden Sinn, als ihn Mayer seiner Einschätzung zugrunde legt. Dementsprechend muss auch das in der Autobiografie auftauchende Subjekt ›Goethe‹ als Resultat von textuellen Strategien wahrgenommen werden, der Verweis auf eine sich vermeintlich direkt im Text äußernde Erfahrung führt dabei in die Irre:

dem Blick verliert. Die Frage nach den »ursächlichen Bedürfnissen« Goethes für die »Ausbildung und Handhabung symbolischer Bedeutungen« (S. 180), die den Ausgangspunkt solcher Beschäftigung mit Autobiografien bildet, lässt sich, so muss gegen dieses Erkenntnisinteresse Kempers eingewendet werden, auf der Basis von Texten letztlich nicht beantworten. Vgl. Dirk Kemper: »ineffabile«. Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne. München: Fink 2004. 12

Hans Glagau: Das romanhafte Element in der modernen Selbstbiographie im Urteil des Historikers (1903). In: Niggl (Hg.): Die Autobiographie, S. 55–74, hier S. 56 f. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte darüber hinaus Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 316–320.

13

Mayer: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg, S. 183–185.

14

Ranke: Geschichten der romanischen und germanischen Völker, S. VI.

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Denn Erfahrung, so könnte man plakativ formulieren, ist nicht Text, ebenso wenig, wie Lebensereignisse sich bruchlos in der Sprache wiederfinden lassen.15 Die Reflexion des zu konstruierenden Zusammenhangs von Text und Leben beginnt im Vorwort von Dichtung und Wahrheit mit einem fiktiven »Brief eines Freundes« an den Autobiografen. In diesem Brief heißt es: »Wir haben, teurer Freund, nunmehr die zwölf Teile Ihrer dichterischen Werke beisammen, und finden, indem wir sie durchlesen, manches Bekannte, manches Unbekannte; ja manches Vergessene wird durch diese Sammlung wieder angefrischt. Man kann sich nicht enthalten, diese zwölf Bände, welche in Einem Format vor uns stehen, als ein Ganzes zu betrachten, und man möchte sich daraus gern ein Bild des Autors und seines Talents entwerfen. Nun ist nicht zu leugnen, daß für die Lebhaftigkeit, womit derselbe seine schriftstellerische Laufbahn begonnen, für die lange Zeit, die seit dem verflossen, ein Dutzend Bändchen zu wenig scheinen müssen. Eben so kann man sich bei den einzelnen Arbeiten nicht verhehlen, daß meistens besondere Veranlassungen dieselben hervorgebracht, und sowohl äußere bestimmte Gegenstände als innere entschiedene Bildungsstufen daraus hervorscheinen, nicht minder auch gewisse temporäre moralische und ästhetische Maximen und Überzeugungen darin obwalten. Im Ganzen aber bleiben diese Produktionen immer unzusammenhängend; ja oft sollte man kaum glauben, daß sie von demselben Schriftsteller entsprungen seien.«16

Das »Bild des Autors« soll, so der Wunsch des erdachten »Freundes«, ausgehend von den Werken entworfen werden – ein Anliegen, das schon deshalb zum massiven Problem wird, weil die einzelnen »Produktionen« wesenhaft so verschieden sind, dass sie »unzusammenhängend« erscheinen.17 Die Integration von Werk und

15

Wenn Gabriele Blod vom »Lebensmärchen« spricht, geht es ihr um ebendiesen Zusammenhang: Ziel ihrer »Untersuchung ist es, die Rede vom ›Lebensmärchen‹ ernst zu nehmen und Dichtung und Wahrheit als poetischen Text und nicht als – in welchem Grad auch immer – poetisierte Lebensbeschreibung zu lesen« (Blod: »Lebensmärchen«, S. 9). Referenzen auf die außertextliche Realität nimmt sie dabei als nebensächlich wahr, »wo sie jedoch in den Blick rücken, wird in erster Linie nicht nach ihrem Realitätsbezug gefragt, sondern nach dem Verweissystem, in dem sie innerhalb des Textes stehen« (ebd., S. 60). Blod kommt im Einzelnen zu überzeugenden Beobachtungen am Text, klammert jedoch in Orientierung an Derrida die Frage nach einer textuellen Konstitution von Subjektivität weitgehend aus.

16

FA I, 14, S. 11.

17

Graevenitz stellt im Vergleich zu den Essais Montaignes mit Bezug auf diese Stelle fest: »Mit diesem Auftrag, Ganzheit und Einheit von Ich und Werk zu konstituieren, tut sich die in Dichtung und Wahrheit praktizierte Schreibweise allerdings auffallend

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Leben gelingt nicht auf Anhieb – Autorschaft ist nichts, was ohne Weiteres die Texte zusammenbringt, sondern sie bedarf ihrerseits einer textuellen Konstruktion, die erklärt, wie das Disparate integriert werden kann. Gegen Positionen, die eine subjekttheoretische Position vermeintlicher Ganzheit an der Wurzel von Dichtung und Wahrheit vermuten, kann diese Stelle angeführt werden: Selbst wenn ein in sich ruhendes Subjekt den Text komponiert haben sollte, so ist Letzterer kein Zeugnis dieser Ruhe, sondern er präsentiert den Vorgang einer aktiven Herstellung von Subjektivität mit textlichen Mitteln.18 Für den Leser erhält die wie auch immer geartete – brüchige oder in sich ruhende – Subjektivität des in der Autobiografie vorgeführten Ichs nur textuelle Evidenz; Referenzialität und die Rückbindung des autobiografischen Helden an eine außertextliche Realität, wie sie zahlreichen autobiografietheoretischen Entwürfen zugrunde liegen, sind nicht nur methodisch nicht nutzbar zu machende Größen – der Text selbst spricht sich an Stellen wie der oben zitierten auch explizit gegen dieses Vorgehen aus. Bei dem konstruktiven Akt der Herstellung einer Autorsubjektivität handelt es sich, so soll im Folgenden gezeigt werden, in erster Linie um ein textuelles Vorgehen – psychologische Gründe, wie sie die erwähnten Mayer und Müller in der Nachfolge Muschgs dem vermeintlich um Integration des Fragmentarischen bemühten Dichter zuschreiben zu müssen meinen, bleiben hier außer Betracht. Für den Briefschreiber erscheint es wünschenswert zu wissen, was denn »›sowohl die Lebens- und Gemütszustände, die den Stoff dazu [zu den einzelnen Werken] hergegeben, als auch die Beispiele, welche auf Sie gewirkt, nicht weniger die theoretischen Grundsätze, denen Sie gefolgt‹«,19 gewesen seien. Die Bildungsgeschichte, die in Dichtung und Wahrheit erzählt wird und die aus einer Darlegung dieser Zusammenhänge entsteht, erweist sich aber, wie der Brief bereits klarmacht, von Anfang an als Konstruktion, denn die Werke, mit denen man es zu tun hat, ge-

schwer. […] In Montaignes sprunghafter Gangart füllt dieses Schreiben die Lücken des Werks mit den Bruchstücken der Autobiographie. Nicht Ganzheit und Einheit von Werk und Ich kann daraus entstehen, sondern, wie bei Montaigne, ›schlecht gefügte Einlegearbeit‹.« Vgl. Graevenitz: Das Ich am Rande, S. 27. Zur Interpretation des Briefes als Signal für die Literarizität des im Folgenden Dargebotenen vgl. Gärtner: Zur Psychoanalyse der literarischen Kommunikation, S. 132–137. 18

Jeßing spricht zu Recht von einer »Konstitution der biographischen Identität als Dichtung«, bleibt aber letztlich einer zu stark intentionalistischen Perspektive verpflichtet, wenn er nur die Zeitgebundenheit des auktorialen Blicks auf die eigene Entwicklung in Rechnung stellt, statt den grundsätzlich textuellen Charakter der Subjektivitätskonstruktion anzuerkennen. Vgl. Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 279.

19

FA I, 14, S. 12.

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ben die erwünschte Einheit eben von selbst nicht her.20 Durch die innerhalb der Autobiografie immer wieder thematisierte Fragwürdigkeit der Textdokumente, wie sie hier ein erstes Mal offensichtlich wird, wird im Rückschluss klar, dass auch die Autobiografie selbst – als Text – nichts anderes ist als eine textuelle Konstruktion eines sich fiktional bildenden Ichs, die ihrerseits von vornherein nicht ›authentischer‹ oder ›referenzieller‹ sein kann, als es die anderen Texte sind, die offenbar verschiedene Autoren nahezulegen scheinen.21 Goethes Dichtung und Wahrheit erweist sich mit diesen immer wieder geäußerten Vorbehalten eben eindeutig als »Dichtung«, aus der die »Wahrheit« nicht umstandslos abzulesen ist. Mit heutiger Terminologie kann man sagen: Es handelt sich dabei um einen fiktionalen Text insofern, als »Akte des Fingierens« dazu notwendig sind, das hervorzubringen, was im Text als Subjektivität begegnet.22 Die Stiftung eines Zusammenhangs zwischen Werken und Leben entsteht durch Akte der Auswahl und der Kombination, die von Wolfgang Iser schlüssig als Anzeichen für

20

Dies wäre einzuwenden gegen die Position Martina Wagner-Egelhaafs, die den Brief am Anfang von Dichtung und Wahrheit als Beleg dafür nimmt, dass Goethes Text zum »Referenztext« für das »hermeneutische Autobiographieparadigma« werde. Aus meiner Sicht wird allein durch die Tatsache, dass der Text sich diese Position nicht selbst zu eigen macht, sondern sie einem »Freund« in den Mund legt, deutlich, dass die Dinge (und damit die Konzeption des Autobiografischen in Dichtung und Wahrheit) komplexer sind, als es diese Einordnung nahelegt. Vgl. Wagner-Egelhaaf: Einleitung: Was ist Auto(r)fiktion? S. 8.

21

Stefan Keppler beobachtet eine entsprechende Textpraxis der Herstellung und Infragestellung von Subjektivität anhand von Goethes Erzählwerk, vertritt jedoch im Hinblick auf die autobiografischen Texte die Auffassung, dass »Goethe bemüht [war], die Deformation des Subjekts aus den verschiedenen Registern seiner Selbst-Aufzeichnung fernzuhalten«. Dem soll hier, durchaus an Kepplers Untersuchungen der Romane anschließend, entgegengesetzt werden, dass auch die Autobiografie die dort beobachteten Topoi und Techniken der Auflösung eines scheinbar a priori geschlossenen Subjekts nutzt. Vgl. Stefan Keppler: Grenzen des Ich. Die Verfassung des Subjekts in Goethes Romanen und Erzählungen. Berlin/New York: de Gruyter 2006, hier S. 146.

22

Vgl. dazu auch Keppler, der versucht, den Wahrheitsbegriff Goethes für Fiktionalität zu öffnen: »Das Ich ist nicht fiktiv, sondern ›Wahrheit‹, wenn es auch nur fiktional (in ›Dichtung‹) dargestellt werden kann.« Keppler: Grenzen des Ich, S. 99. – Kepplers gleichfalls im Rückgriff auf Iser vorgeschlagene Differenzierung zwischen Fiktivität und Fiktionalität scheint mir jedoch zu Anschlussproblemen im Hinblick auf die Frage der Referenzialität von Texten zu führen, die sich, bleibt man beim Fiktionalitätsbegriff, umgehen lassen.

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die Fiktionalität eines Textes eingeschätzt werden. In diesen Kontext muss das Unternehmen einer Autobiografie gestellt werden; ein referenzieller Gehalt, der über Fiktionalität in diesem Sinne hinausgeht, erscheint weder überprüfbar noch als epistemologisch sinnvolle Annahme.23

3.2 S UBJEKTIVITÄT ALS INTERTEXTUELLE K ONSTRUKTION : G OETHE IN S ESENHEIM Eine Episode aus Dichtung und Wahrheit, die vor allem im Hinblick auf die vermeintliche Authentizität Goethe’schen Gefühlsausdrucks Geschichte gemacht hat, ist die durch Topoi der Idylle24 ausgezeichnete Sesenheim-Handlung um die Bekanntschaft des Helden mit Friederike und deren Familie. Klaus-Detlef Müller begreift das »Sesenheim-Erlebnis« entsprechend als »eindrucksvollstes Beispiel« für den Goethe’schen »Bekenntnisdrang«, der sich vorwiegend bei »unbewältigten und noch nicht durch das private ›Heilmittel‹ der Dichtung überwundenen Momenten

23

Auch Stefanie Haas schließt an Iser an und versucht, basierend auf seiner Modellierung der Fiktionalität die Relevanz des Realen für die Autobiografik herauszustellen. Dass jedoch in Isers Modell der Zugriff auf das Reale ausgehend vom Text grundsätzlich unmöglich ist, weil es in diesem stets durch die genannten Akte des Fingierens überformt erscheint, gerät in ihrer Darstellung aus dem Blick. Isers Fiktionalitätstheorie ließe sich so gerade als Einwand gegen eine die Interferenz von »Text und Leben« analysierende Arbeit anführen, wie sie Haas vorlegt. Vgl. Stefanie Haas: Text und Leben. Goethes Spiel mit inner- und außerliterarischer Wirklichkeit in Dichtung und Wahrheit. Berlin: Duncker & Humblot 2006, hier S. 19. – Schlüssig begründet Gärtner im Rückgriff auf Iser, dass »der Versuch, die Autobiographie ontologisch durch einen besonderen Wahrheitsanspruch bzw. eine fundamentale identitätsbildende Funktion autobiographischen Schreibens vom Roman abzuheben, ebenso zum Scheitern verurteilt ist wie der, den authentischen Charakter der Gattung durch spezifische Textmerkmale zu belegen«. Vgl. Gärtner: Zur Psychoanalyse der literarischen Kommunikation, S. 90 f.

24

Wilperts Sachwörterbuch der Literatur spricht in Bezug auf die Idylle von der »Schilderung friedvoll-bescheidenen, behagl[ich]-gemütl[ichen] Winkelglücks harmlos empfindender Menschen in e[iner] heilen Welt harmoni[ischer] Geborgenheit und Selbstgenügsamkeit und natürlich-alltägl[ichen] Land- und Volkslebens«, was auf den ersten Blick sehr gut auf die Sesenheim-Situation zu übertragen ist (auch wenn sich dieser Eindruck, wie gezeigt werden soll, schließlich nicht aufrechterhalten lässt). Gero von Wilpert: [Art.] Idylle. In: ders.: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner 82001, S. 365 f., hier S. 365.

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des Lebens« bemerkbar mache, wenn diese zum Gegenstand der Autobiografie werden.25 Borchmeyer erkennt in der Friederike-Erzählung ein »Schuldbekenntnis«,26 während Emil Staiger im Hinblick auf Goethes Sesenheimer Bekanntschaft mit Friederike gar von dem »Ereignis […], das ihn mehr als alles andere verwandelt hat«, spricht.27 Goethes Besuche bei der Sesenheimer Pfarrersfamilie sind durch zahlreiche Selbstaussagen des Dichters verbürgt. Die Kommentare zu den verschiedenen Ausgaben von Dichtung und Wahrheit widmen sich sämtlich im Abgleich der vorliegenden Darstellung mit solchen Dokumenten der chronologischen Einordnung des Besuchs und den Abweichungen, die die in der Autobiografie präsentierte Abfolge der Ereignisse gegenüber dem daraus rekonstruierbaren Verlauf aufweist.28 Der idyllische Charakter der Sesenheim-Episode wird dabei immer wieder in den Vordergrund gestellt, wobei in der Regel davon ausgegangen wird, dass Goethe um dieser Wirkung willen in seinem Text Details unterschlagen oder angepasst habe.29 Die Lebendigkeit, mit der dieses »Sesenheimer Liebesidyll«30 in Dichtung und Wahrheit präsentiert wird, hat den kleinen Ort Sessenheim im Elsass über die Jahrhunderte zur Pilgerstätte von Goethe-Verehrern gemacht, die meinten, hier dem Geist der in Dichtung und Wahrheit aufgenommenen Örtlichkeiten und Personen nachspüren zu können. Ein bekanntes, schriftlich niedergelegter Fall einer derarti-

25

Müller: Autobiographie und Roman, S. 298.

26

Borchmeyer: Weimarer Klassik, S. 485.

27

Staiger: Goethe, Bd. 1, 1956, S. 52.

28

HA 9, S. 744; MA 16, S. 996; FA I, 14, S. 1188.

29

Dies wird insbesondere hinsichtlich der Anpassung der echten Familie Brion an das literarische Vorbild der Familie Primrose aus Goldsmiths The Vicar of Wakefield häufig betont. Zugunsten der erwünschten Übereinstimmung seien so zwei der Brion-Schwestern unterschlagen und die Namen der übrigen Geschwister Friederikes an Goldsmiths Text angepasst worden, aus dem wiederum drei weitere Söhne der Familie Primrose nicht in die Darstellung in Dichtung und Wahrheit übernommen wurden. Vgl. hierzu neben vielen anderen: FA I, 14, S. 1188 f.; MA 16, S. 997; HA 9, S. 744. Ausführlich auf die Differenzen geht ein: Pierre Grappin: Dichtung und Wahrheit – 10. und 11. Buch. Verfahren und Ziele autobiographischer Stilisierung. In: Goethe Jahrbuch 97 (1980), S. 103–113, hier S. 105 f. u. 109.

30

Vgl. Raymond Matzen: Das Sesenheimer Liebesidyll. Friederike Brion in Goethes Liedern und Schriften. Kehl: Morstadt 1983. Dieser Band dokumentiert das touristische Interesse an Sesenheim, das durch Goethes Erwähnungen des Ortes entstanden ist. Auf der gleichen Ebene mit Goethe-Zitaten stehen hier Beschreibungen und Federzeichnungen zeitgenössischer und heutiger Gebäude und Örtlichkeiten.

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gen Literaturreise ist etwa die bereits 1822 terminierte »Wallfahrt nach Sesenheim« des Bonner Altphilologen August Ferdinand Näke,31 und selbst ein Vertreter textimmanenter Interpretation wie Emil Staiger ließ es sich nicht nehmen, den Ort aufzusuchen, an dem »die wesentliche Geschichte des neueren europäischen Geistes innig und unauffällig begonnen hat«.32 Dabei war Näke die Ehre zuteilgeworden, von Goethe mit einem ausführlichen Antwortbrief bedacht zu werden, nachdem dem Dichter das Manuskript seines Reiseberichts zugegangen war. Diese Antwort, zehn Jahre später unter dem Titel Wiederholte Spiegelungen33 gedruckt, ist von einigem Interesse für die verfolgte Fragestellung. In neun Punkten rekapituliert Goethe die Geschichte des Sesenheim-Topos, wobei er den Akzent auf den Charakter der »Spiegelungen« legt, die das, was ursprünglich Bestandteil einer einigermaßen abwertend als »jugendlich seliges Wahnleben« bezeichneten Periode gewesen sei, »zu einem höheren Leben empor steigern«, wohingegen die am Ursprung der Sache liegende »Localität« nunmehr »verödet« sei. Goethe bestreitet nicht den grundsätz-

31

August Ferdinand Näke: Wallfahrt nach Sesenheim. Hg. v. Karl August Varnhagen von Ense. Berlin: Duncker & Humblot 1840. Dem enthusiastischen Ton von Näkes Bericht, in dem dieser feststellt, dass er »in der Erinnerung an die kleine Begebenheit dieses Tages eine unvergängliche Quelle der Rührung und des Entzückens zu haben« glaubt (ebd., S. 4), steht die dürftige Ausbeute seiner Recherchen entgegen: Im Gespräch mit einem Nachfolger des Pfarrers Brion ermittelt er einige Informationen über die Familie, die sich im Vergleich zu anderen Quellen jedoch als falsch erwiesen haben. Den noch lebenden Wirtssohn George findet Näke nicht, die Verbindung der Örtlichkeit mit der Goethe’schen Schilderung gelingt genau betrachtet in keinem einzigen Fall. Dass die Ermittlung von Realien letztlich frucht- und sinnlos bleibt, scheint gegen Ende seines Berichts selbst der mit positivistischem Anspruch angetretene Näke zu ahnen, wenn er schreibt: »Ich ging die ganze Zeit in Sesenheim wie auf Wolken, und vollends die beiden Male, da ich so im Wohnzimmer des Pfarrhauses saß, der Thür gegenüber, floß vor mir Neu und Alt, Gegenwart und Vergangenheit, Gehörtes und Erlebtes, Frideriken’s Elternhaus und der jetzige Pfarrer mit seiner Familie wie in Eins zusammen.« (Ebd., S. 39. Hervorhebung im Original.) Vgl. zu diesem Befund auch Kruckis: GoethePhilologie als Paradigma neuphilologischer Wissenschaft, S. 472.

32

Emil Staiger: Sesenheim. In: Atlantis 22 (1950), H. 8, S. 325–331, hier S. 325. Auch wenn Staigers kurzer, bebilderter Reisebericht – mit Verweis auf Wiederholte Spiegelungen – ein Bewusstsein von der Differenz zwischen Ort und Text artikuliert, stellt er fest: »Denn wie wir auch lächeln mögen – der tiefsten Rührung erwehren wir uns hier nicht« (S. 328) – ein Rezeptionsmodus, zu dem angesichts der ›realen‹ Örtlichkeit nicht nur Staiger neigte.

33

FA I, 17, S. 370 f.

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lichen Referenzcharakter des in der Sesenheim-Episode Geschilderten und spürt psychologisch dem »Trieb« seines Lesers Näke nach, »alles was von Vergangenheit noch heranzuzaubern wäre zu verwirklichen«. Dennoch macht er deutlich, dass die eigentliche Relevanz Sesenheims aus dem fiktionalisierenden Prozess der »Spiegelungen« in verschiedenen Texten resultiert. Was vor Ort zu finden ist, hat entsprechend kaum noch etwas mit dem zu tun, was einst dort war – und es ist erst recht nicht kommensurabel mit dem Topos, der textuell daraus geworden ist. Dass für den Dichter selbst Erinnerungen wach werden, wenn er sich erneut das Original mit all seinen Spiegelungen ins Gedächtnis ruft, ist das eine – demgegenüber steht für denjenigen, dem (weil er nur Rezipient der fiktionalisierten Erinnerungen eines anderen ist) jeder Rückgriff aufs Original verschlossen ist, ›nur‹ ein Text. Was gleichwohl erreichbar bleibt, sind die Spiegel, deren Funktionieren nachvollzogen werden kann und von denen Dichtung und Wahrheit wohl der bedeutsamste und interessanteste sein dürfte. Im Gegensatz zu zahlreichen Nachfolgern zeigt Goethes Interpretation seines eigenen Textes also ein großes Bewusstsein für die darin wirksamen fiktionalisierenden Prozesse; Wiederholte Spiegelungen begreift Dichtung und Wahrheit gemeinsam mit den anderen Texten, die um Sesenheim kreisen, nicht in deren etwaigem Quellencharakter, sondern nimmt sie als Literatur jenseits solcher Referenzansprüche wahr. Unabhängig von solchen nachträglichen Interpretationen markiert Dichtung und Wahrheit selbst den entsprechenden Abschnitt mehrfach mit intertextuellen Verweisen, deren Einbeziehung in die Analyse sich lohnt.34 Auf der einen Seite der intertextuellen Klammer – die Reise nach Sesenheim einführend – steht der Bericht

34

Generell und unter Anführung desselben Beispiels weist auch Gärtner auf die »Intertextualisierung« der Autobiografie hin, die »eine Verunsicherung der Leser hinsichtlich des autobiographischen Wahrheitsgehalts« zur Folge habe. Eine die Texte einbeziehende Analyse der intertextuellen Beziehungen bietet er jedoch nicht. Problematisch ist seine von zu starken Intentionalitätsvorstellungen geprägte Einschätzung, dass Goethe sich durch diese Vorgehensweise »einen literarischen Rahmen geschaffen hat, der es ihm ermöglichte, sich seinen Gefühlen, vielleicht auch seinen Erinnerungen stärker zu öffnen, ohne daß andere dies als unmittelbares Bekenntnis auffassen konnten«. Vgl. Gärtner: Zur Psychoanalyse der literarischen Kommunikation, S. 154–158. – Auf die Relevanz der Intertextualität als Gegenpol zum vermeintlich Bekenntnishaften im Werther hat mit ähnlicher Stoßrichtung bereits Waltraud Wiethölter hingewiesen (vgl. FA I, 8, S. 947). Ähnlich zu Werther vor einem dekonstruktivistischen Hintergrund und unter dem treffenden Untertitel »Das Originalgenie als Zitatenbündel«: Jörg Löffler: Unlesbarkeit. Melancholie und Schrift bei Goethe. Berlin: Erich Schmidt 2005, hier S. 85–91.

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Herders über Oliver Goldsmiths Roman The Vicar of Wakefield,35 den der Lehrer als »ein fürtreffliches Werk« ankündigt, von dem er den jüngeren Mitgliedern seiner Reisegruppe »die deutsche Übersetzung durch selbsteigne Vorlesung bekannt machen« will.36 Als weiterer aufschlussreicher Intertext kann in der Mitte der Sesenheim-Episode Goethes Märchen Die neue Melusine gelten, das der Gast selbst den beiden Töchtern des Hauses und dem mitreisenden Freund Weyland kurz vor dem zwischenzeitlichen Abschied zu Gehör bringt.37 3.2.1 Subjektivität durch Intertextualität I: The Vicar of Wakefield Viele Kommentatoren haben Goldsmiths Roman vor allem als Idylle gelesen;38 eine Einschätzung, die Goethes Erzähler mit seiner viel zitierten Beschreibung des Stoffes nahelegt:

35

Zitiert wird nach folgender Ausgabe unter der zusätzlichen Nennung der Kapitelnummer: Oliver Goldsmith: The Vicar of Wakefield. A Tale. Supposed to be written by HIMSELF. Edited with an Introduction by Stephen Coote. London: Penguin 1982.

36

FA I, 14, S. 464. Die erste von mehreren Übersetzungen des 1766 erschienenen Romans wurde von Johann Gottfried Gellius besorgt und erschien bereits 1767. Goethe scheint im Arbeitsprozess neben dem englischen Original auch die Übersetzung von Johann Joachim Christoph Bode von 1776 verwendet zu haben. Vgl. HA 9, S. 744.

37

Vgl. FA I, 14, S. 485 f. Auf verschiedene weitere hier präsente Intertexte – etwa die Werke der Enzyklopädisten Diderot und Voltaire, Johann Peter Hebels Gedicht Sonntagsfrühe oder Shakespeares Hamlet –, die in diesem Kontext eine weniger prominente Funktion haben, kann im Folgenden nur am Rande eingegangen werden.

38

Vgl. MA 16, S. 997; HA 9, 744; Kerstin Timmermann: Der evangelische Landprediger. Studien zu seiner Darstellung bei Thümmel, Lenz, Goldsmith und Nicolai. Marburg: Tectum 2005, S. 203. Müller interpretiert die Anführung Goldsmiths im Zusammenhang mit der Sesenheim-Episode, die innovativen bzw. kritischen Züge des Prätextes missachtend, als Beispiel für den »idealisierenden Charakter der Dichtung«, dem die problembehaftete Wirklichkeit Goethe’scher Zeitumstände gegenüberstehe (Müller: Autobiographie und Roman, S. 307). Vgl. ebenfalls Vittorio Hösle: Erste und dritte Person bei Burchell und Goethe: Theorie und Performanz im zehnten Buch von »Dichtung und Wahrheit«. In: Goethe Jahrbuch 123 (2006), S. 115–134, hier S. 126 f. Zu Recht kritisch betrachtet entsprechende Einschätzungen Horst Meller: Literatur im Leben: Goethes Pfarrhaus in Sesenheim und Goldsmiths Landpfarrer von Wakefield. In: Aleida Assmann u. Anselm Haverkamp (Hg.): Stimme, Figur. Kritik und Restitution in der Literaturwissenschaft. Sonderheft der Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), S. 197–230, hier S. 203 f. Vgl. in ähnlicher

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Ein protestantischer Landgeistlicher ist vielleicht der schönste Gegenstand einer modernen Idylle; er erscheint, wie Melchisedech, als Priester und König in Einer Person. An den unschuldigsten Zustand, der sich auf Erden denken läßt, an den des Ackermanns, ist er meistens durch gleiche Beschäftigung geknüpft; er ist Vater, Hausherr, Landmann und so vollkommen ein Glied der Gemeine [sic].39

Der Landgeistliche Charles Primrose erscheint in dieser Darstellung als Stereotyp des unentfremdeten Menschen, der voll und ganz in seinem Kreise aufgeht, der ans Land durch den Acker, an die Mitmenschen durch seine Gemeinde, an seine Familie durch das Dasein als Vater und Hausherr gebunden ist. Man könnte meinen, Goethe, der große Naive unter den modernen Dichtern,40 habe hier eine Figur im Blick, die genau dieses Modell der Eingebundenheit in die Welt, der ungebrochenen Subjektivität und Selbstdefinition aus noch nicht zum Problem gewordenen Lebensumständen verkörpert. – Herder hingegen wird in Dichtung und Wahrheit als derjenige präsentiert, der dafür sorgt, dass bei seinen Zuhörern dieser auf den ersten Blick idyllische Charakter des Textes keinen zu großen Eindruck hinterlässt: [E]r wartete nicht ab, bis der Zuhörer einen gewissen Teil des Verlaufs vernommen und gefaßt hätte, um dabei richtig empfinden und gehörig denken zu können: voreilig wollte er so-

Stoßrichtung Bernhard Greiner: Dialogisches Wort als Medium des Über-Sich-Redens: Goethes Bekenntnisse einer Schönen Seele im Wilhelm Meister und die FriederikenEpisode in Dichtung und Wahrheit. In: Freiburger literaturpsychologische Gespräche 11 (1992), S. 95–120. 39

FA I, 14, S. 465. Vgl. bereits hier die Parallele zur Beschreibung in dem von Goldsmith dem Buch vorangestellten »Advertisement«. Dort wird jedoch sogleich der zeitkritische Impetus solcher Darstellung deutlich: »In this age of opulence and refinement whom can such a character please?« Vgl. Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 31.

40

Vgl. die entsprechende Stilisierung Goethes durch Schiller, der etwa im Brief vom 23.08.1794 (MA 8.1, S. 12–16), immerhin den konstruktiven Akt anerkennend, dessen es zur Herstellung des Idyllischen bedarf, Goethe als denjenigen sieht, der dazu in der Lage ist, in seiner »Imagination das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, durch Nachhülfe der Denkkraft zu ersetzen, und so gleichsam von innen heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebären« (S. 14). Ein entsprechendes Bild, das Goethe als modern-naiven Kontrapunkt zum eigenen sentimentalischen Schaffen aufruft, bildet auch den Hintergrund in Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: ders.: Theoretische Schriften. Hg. v. Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1992 (= Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Otto Dann u.a., Bd. 8), S. 706–810 u. 1420–1444, hier v.a. S. 734 f., 760 f., 1420–1425.

128 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE gleich Wirkungen sehen, und doch war er auch mit diesen unzufrieden, wenn sie hervortraten. Er tadelte das Übermaß von Gefühl, das bei mir von Schritt zu Schritt mehr überfloß. Ich empfand als Mensch, als junger Mensch; mir war alles lebendig, wahr, gegenwärtig. Er, der bloß Gehalt und Form beachtete, sah freilich wohl, daß ich vom Stoff überwältigt ward, und das wollte er nicht gelten lassen. […] [B]esonders aber erzürnte er sich über unsern Mangel an Scharfsinn, daß wir die Kontraste, deren sich der Verfasser oft bedient, nicht voraussahen, uns davon rühren und hinreißen ließen, ohne den öfters wiederkehrenden Kunstgriff zu merken. Daß wir aber gleich zu Anfang, wo Burchel, indem er bei einer Erzählung aus der dritten Person in die erste übergeht, sich zu verraten im Begriff ist, daß wir nicht gleich eingesehn oder wenigstens gemutmaßt hatten, daß er der Lord, von dem er spricht, selbst sei, verzieh er uns nicht […]. Man sieht hieraus, daß er das Werk bloß als Kunstprodukt ansah und von uns das Gleiche verlangte, die wir noch in jenen Zuständen wandelten, wo es wohl erlaubt ist, Kunstwerke wie Naturerzeugnisse auf sich wirken zu lassen.41

Weit davon entfernt, der mitfühlenden Wahrnehmung des Textes als Idylle, die den jungen Zuhörer mitreißt, freien Lauf zu lassen, wird durch die Entgegensetzung dieser Sichtweise gegen die analytische Lesart Herders herausgestellt, dass der Text selbst eine ganz andere Komposition hat. Originellerweise argumentiert die hier auftretende Herder-Figur ganz im Einklang mit einer der Figuren in Goldsmiths Roman: Moses, der Sohn des Landpfarrers, rechtfertigt in einem Literaturgespräch seine Bevorzugung Ovids gegenüber zeitgenössischen Dichtern damit, dass »the Roman poet understands the use of contrast better«;42 es zeigt sich die komplexe Verflechtung von Text und Prätext, bei der Letzterer nicht nur angeführt wird, sondern sich darüber hinaus gleich in Details im Text wiederfindet. Das Wertungsschema, das Herder in den Mund gelegt wird, steht also seinerseits bereits in einer intertextuellen Beziehung zum Vicar und stützt so auch für Dichtung und Wahrheit die von Herder auf Goldsmiths Roman bezogene Kunstwerk-These: Der Gebrauch künstlerischer Mittel wird hier wie da evident, wenn der Leser die intertextuelle Anspielung zu entschlüsseln vermag. Dass es sich beim Roman über den Landpfarrer tatsächlich um ein Kunstwerk handelt, bestreitet der gealterte Goethe-Erzähler also keineswegs – seinem jugendlichen Ich meint er jedoch, mangelnden Scharfsinn und großes emotionales Engagement als altersbedingt akzeptablen Rezeptionsmodus zubilligen zu dürfen.43

41

FA I, 14, S. 467. Die Stelle, auf die hier angespielt wird, vgl. Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 48 (Kap. 3).

42 43

Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 63 (Kap. 8). Auf die Funktion des Herder-Einschubs als »Leseanweisung« für die Friederiken-Episode hat bereits Bernhard Greiner hingewiesen. Vgl. Greiner: Dialogisches Wort als

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In der Tat ist Goldsmiths Vicar alles andere als ein »idyllisches« Werk, in dem der Landprediger – der oben zitierten Einschätzung analog – als unentfremdetes Subjekt geschildert würde, und genauso wenig eignet sich der Roman zur beschriebenen Art der Einfühlung. Die Ich-Erzählung – der volle Titel des Romans lautet: The Vicar of Wakefield. A Tale supposed to be told by HIMSELF – zeigt einen moralisch durchaus gebrochenen Landprediger, der (nicht willens, im unschuldigbeschränkten Kreise der Idylle zu bleiben) als Finanzjongleur glücklos, als Landwirt und Haushaltsvorstand wenig fähig, als Theologe obskuren Dogmen anhängend, dem Müßiggang nicht abgeneigt und als Erzähler häufig kaum glaubhaft ist: So verliert Primrose beinahe sein gesamtes Vermögen, weil er es bei einem dubiosen Händler angelegt hat,44 er wirtschaftet nicht nachhaltig und lässt sich aus Gier um seine einzigen beiden alten Pferde bringen;45 gegen die Herrschaft seiner Gattin in Alltagsdingen kann er nur wenig ausrichten.46 Sein Lieblingsthema der lebenslangen Monogamie, zu dem er verschiedene Traktate verfasst hat, nimmt ihn derartig ein, dass er seine Gemeinde damit langweilt, die Ehe seines Sohnes George durch Prinzipienreiterei verhindert und über Debatten darüber beinahe seine Tochter ertrinken lässt; und statt in aller wirtschaftlichen Not die Bemühungen um das Überleben der Familie zu intensivieren, richtet er sich behaglich-bescheiden am geselligen Kaminfeuer ein.47 Seine Darstellung des Geschehens bleibt dabei deutlich durch seine eigenen Wertvorstellungen gefärbt und um sein Verhalten jeweils in günstigem Licht erscheinen zu lassen, verzichtet er entsprechend darauf, dessen realistische Rahmenbedingungen zu präsentieren.48

Medium des Über-Sich-Redens, S. 114. Haas’ Lesart der Stelle, die hier nur eine Distanzierung des eine »lebendige Rezeptionsweise« propagierenden Autobiografen vom »kunstsinnigen Herder« erkennt, wäre demnach zu widersprechen. Haas: Text und Leben, S. 70. 44

Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 42 f. (Kap. 2).

45

Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 81–84, 88–93 (Kap. 12, 14).

46

Vgl. zum anfänglichen Scheitern und der Entwicklung des Vicars in seiner Vaterrolle: David Aaron Murray: From Patrimony to Paternity in The Vicar of Wakefield. In: Eighteenth-Century Fiction 9 (1997), H. 3, S. 327–336.

47 48

Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 49–51 (Kap. 4). Vgl. auch Thomas R. Preston: Moral Spin Doctoring, Delusion, and Chance: Wakefield’s Vicar Writes an Enlightenment Parable. In: The Age of Johnson 11 (2000), S. 237–281, hier S. 255. Auch dieser Zug der Erzählperspektive lässt sich am besten im Zusammenhang mit des Vicars Lieblingsthema, der Monogamie, beobachten: So wird deutlich, dass ein großer Teil der Gefahren und Rückschläge, denen die Familie Primrose ausgesetzt ist, davon verursacht wird, dass der Vicar sich vorwiegend mit sei-

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Der Lebensweg des Predigers führt ihn schließlich auf direktem Wege in absolute Armut und ins Gefängnis – der Text ist mithin keineswegs als gefühlvolle Idylle, sondern viel eher als Parodie auf dieses zeitgenössisch beliebte Genre zu lesen. Das glückliche Ende mit einer Doppelhochzeit geht nicht organisch aus den Bemühungen eines ehrbaren Mannes hervor, wie man es traditionell annehmen würde und wie es Goethes Zusammenfassung nahelegt, sondern es kommt durch die Enttarnung der Verkleidung Burchells als Deus ex machina zustande, die – obwohl eigentlich alles dagegen spricht – zu guter Letzt die glückliche Wendung ermöglicht. Der satirische Zug des Romans erfasst dabei insbesondere das Thema romantischsentimentaler Liebe: Goldsmiths Text unterläuft die Leseerwartungen eines an stereotyper Lektüre geschulten Publikums und bietet nichts, »that could in any way give young and inexperienced readers any false illusions about the delights of being in love«.49 The Vicar of Wakefield erweist sich damit viel eher als kritisch-satirische Einlassung in einer Literaturdebatte, mit der Goldsmith gerade gegen entsprechende romantisch-idyllische Tendenzen seiner Zeit Stellung nimmt. Die Erwähnung des Romans im Umfeld der Sesenheim-Episode weist deshalb, obwohl Goethes Erzähler bemüht ist, diesen Eindruck durch die massive Betonung des Idyllischen aufzuheben, darauf hin, dass dem Liebespaar Goethe und Friederike kein günstiges Schicksal bestimmt ist. Das Scheitern der ungleichen Beziehung ist intertextuell durch Goldsmith vorgeformt, dessen Prediger seine Töchter in aller Schärfe warnt: »Disproportioned friendships ever terminate in disgust«.50 Es ist, wie sich zeigt, notwendig, Goldsmiths Text in die Lektüre der entsprechenden Stelle bei Goethe miteinzubeziehen, will man es vermeiden, sich von den Ablenkungsmanövern des Erzählers, der Idylle und tiefes Gefühl betont, allzu leicht irreführen zu lassen. Die intertextuelle Bedeutsamkeit des Vicar of Wakefield bestätigt sich auch hinsichtlich der hier verfolgten Fragestellung im Spannungsfeld von Fiktionalität und Referenz. Der Untertitel des Romans weist auf die Gattung der Autobiografie hin, wobei die Einschränkung von deren Authentizitätscharakter, der Text sei nur »angeblich« vom Landprediger selbst erzählt, ein erstes Signal dafür ist, dass eine nai-

nem »hobby-horse« befasst. Ein Bewusstsein für diese Tatsache entwickelt er jedoch nicht, vielmehr findet er allerlei vermeintliche äußere Gründe, die ihm schaden – dass er selbst sich von seinem Lieblingsthema derart einnehmen lässt, dass er an Alltagsdingen scheitert, vertuscht er in seinem Bericht. 49

Sven Bäckman: This Singular Tale. A Study of The Vicar of Wakefield and its Literary Background. Lund: Gleerup 1971, S. 117. Zur Auseinandersetzung des Romans mit einer bukolischen Idyllentradition vgl. ebd., S. 84–91.

50

Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 55 (Kap. 5).

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ve Lesart des Textes nicht aufgehen kann.51 Dem entspricht die Qualifizierung des Textes als »Tale«: Referenz darf nicht erwartet werden, der Landprediger als vermeintlicher Verfasser wird hier bereits zur bloßen Suggestion in einem fiktionsinternen Spiel mit der Autorfunktion. Der paratextuelle Hinweis macht deutlich, dass Vorsicht bei der Selbsteinschätzung des Landpredigers geboten ist, wenn der sich selbst bei seinem Bericht anfangs die »veracity of the historian« auferlegt.52 Wichtige Impulse zur Reflexion des fiktionalen Charakters der Darstellung gehen auch von den Literaturgesprächen bei Goldsmith aus, und eine zentrale Rolle spielt die Referenzfrage in dem gleichfalls von Goethe aufgenommenen Verkleidungsthema. Die im Zusammenhang mit Herders Hinweisen zum angemessenen Rezeptionsmodus angesprochene Episode um den angeblich armen (und vom Vicar mit jeder Menge Vorurteilen und Skepsis belegten) Menschenfreund Burchell, der sich als Gast des Hauses und Schwiegersohn-Kandidat in die Familie des Landpfarrers begibt und sich schließlich in einer das Romanende glücklich gestaltenden Fügung als identisch mit Sir William Thornhill, dem Herrn des Landpredigers, herausstellt, dient als textlicher Anknüpfungspunkt für diese beiden Strategien. Bei Goldsmith werden beide Themen – literarische Selbstreflexion und die Thematik von Referenz, Authentizität und Verkleidung – im Zusammenhang mit moralisch-gesellschaftlichen Fragen verhandelt.53 So verkleidet sich Sir William und nimmt die Rolle eines ärmlichen Reisenden an, um die Möglichkeit zu erhalten, »respect

51

Vgl. auch Timmermann: Der evangelische Landprediger, S. 88: »Goldsmith macht seinen Lesern deutlich, dass es sich um eine Fiktion handelt, die Wahrhaftigkeit suggeriert, tatsächlich aber nicht zuverlässig die Wahrheit repräsentieren muss.«

52

Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 37 (Kap. 1). Bäckman unterschätzt die in der gezeigten Weise doppelbödige Erzählanlage des Romans und dessen Spiel mit Fiktionalitätskriterien und Referenzerwartung, wenn er Goldsmiths Text als neoklassizistische Reaktion auf zeitgenössische Erzählexperimente wie bei Laurence Sterne interpretiert. Vgl. Bäckman: This Singular Tale, S. 118–120. Neben Goldsmith zählte Goethe rückblickend auch »Lorenz Sterne« zu jenen, denen »wir die ersten Anregungen, die anfänglichen Einwirkungen schuldig geworden«. In diesem Zusammenhang weist er auf die Charakterisierung von Figuren durch deren »Eigenheiten« hin, die er bei Sterne gelernt habe. Ähnliches trifft auch auf Goldsmiths Charakterisierungstechnik zu. Vgl. Goethe: Lorenz Sterne. In: FA I, 22, S. 338 f.

53

Zu den moralphilosophischen Diskursen, an denen der Roman partizipiert, vgl. Preston: Moral Spin Doctoring. Preston ignoriert jedoch die satirischen Züge, die der Roman aufweist, und konzentriert sich ausschließlich auf die moralischen Debatten um menschliche Fehlbarkeit im Diesseits, auf die Goldsmiths Text durchaus auch in ironisierender Weise anspielt.

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uncontaminated by flattery«54 zu erfahren, was ihm als reichem Herrn von Stand in einer von der Konzentration auf Äußerlichkeiten geprägten Welt sonst nicht möglich ist. Der moralisch Integre muss sich verkleiden, um die waltende Oberflächlichkeit zu unterlaufen, von der sich auch die Familie Primrose betroffen erweist, wenn sie die gesellschaftlich und finanziell günstige Platzierung der Töchter über deren moralische Integrität stellt.55 Im Verkleidungskontext steht gleichzeitig – in traditionell kulturkritischem Impetus – die Blendung des Gegenübers durch Äußerlichkeiten, der der Vicar und seine Familie im Fall des Squire, des Gegenspielers und Neffen Burchells bzw. Sir Williams, erliegen. Bei ihm führt »the power of fortune and fine cloaths«56 dazu, dass eine anfängliche Skepsis dem übel beleumundeten Landherrn gegenüber rasch vergessen wird. Wie in der korrespondierenden Szene bei Goethe wird der derartig ›verkleidete‹ Gast rasch mit einem Lied empfangen, das er seinerseits mit Gitarrenspiel beantwortet, dessen Klänge allerdings von der Tochter Olivia zunächst als »louder than even those of her master« und im Nachhinein als »shocking« bezeichnet werden.57 In der im Anschluss geschilderten Szene, die den im Wortsinn verkleideten Burchell wieder in den Kreis der Familie führt, steht ebenfalls die Kunst im Mittelpunkt; Burchell erweist sich jedoch im Literaturgespräch als Anhänger einer Kunst, die frei ist von »false taste« und »luxuriant images« »that improve the sound, without carrying on the sense«.58 Verstellung im Sinne einer gesellschaftlichen Gefallsucht, so lässt sich die in der Mittagspause auf dem Felde in einem typischen bukolischen Idyllenumfeld angesiedelte Szene lesen, ist Burchells Sache nicht. Er vergreift sich nicht im Ton und ist in seiner Darbietung nur laut statt schön, wie es dem Squire nachgesagt wird. Vielmehr gibt er eine Ballade zum Besten, die nicht nur formal einfach gehalten ist, sondern auch inhaltlich zu Bescheidenheit und wahrem Gefühl statt Eitelkeit und Blendung rät.59 Dass ein Angestellter des Squire den Vogelsang, der die Szene

54

Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 181 (Kap. 30).

55

Vgl. Goldsmith: Vicar of Wakefield, Kap. 11 u. 12.

56

Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 53 f. (Kap. 5).

57

Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 54 f. (Kap. 5).

58

Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 63 (Kap. 8).

59

Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 64–68 (Kap. 8). Daneben verhandelt das Gedicht des Vicars Lieblingsthema, nämlich die monogame Lebensweise über den (hier nur vermeintlichen) Tod hinaus. Selbst diese inhaltliche Übereinstimmung lässt Primrose jedoch dem ärmlich erscheinenden Burchell gegenüber, der sich die Zuneigung der Tochter Sophia erworben hat, skeptisch bleiben. – In ihrer wichtigen Charakterisierungsfunktion zeigt sich die große Relevanz, die die Literaturgespräche auch inhaltlich für den Roman haben. Sie sind deshalb keineswegs, wie Bäckman dies tut, als bloß didakti-

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rahmt, beendet, indem er eine der balzenden Amseln mit einem Schuss erlegt, macht deutlich, welche Rollen den beiden Kontrahenten zugeschrieben werden. Die Auseinandersetzungen um Musik und Literatur erfüllen so einerseits eine Charakterisierungsfunktion, andererseits ermöglichen sie es aber auch, literarische Standpunkte in öffentlichen Debatten einzunehmen und darüber hinaus den vorliegenden Text selbst in seinem Charakter als Kunstwerk entlang der Linien dieser Gespräche zu reflektieren, wie es im Zusammenhang mit Herders Aufnahme der Wertungskriterien einer Goldsmith’schen Figur oben gezeigt wurde.60 Auf mehreren Ebenen wird also das Thema der Verstellung verhandelt: In doppelter Weise hinsichtlich der Wahl von Kleidung und Verkleidung, wobei Erstere dem Bösen dazu dient, über die eigenen moralischen Abgründe hinwegzutäuschen, während Letztere dem Guten ein einfaches Ansehen verleiht, das zu falschen Schlüssen über dessen moralischen und gesellschaftlichen Rang führt. Andererseits aber spielt die Frage von Ausschmückung, Staffage und Verfeinerung in den Literaturgesprächen eine Rolle, wobei auf der Seite des Guten jeweils das Einfache steht, während das Raffinierte mit Dekadenz, Blendung und tendenziell negativen Absichten verbunden und so moralisch gebrandmarkt wird. Dichtung und Wahrheit nimmt diese Perspektiven vollständig in der ermittelten Komplexität auf. Das Verkleidungsspiel des jungen Goethe ist so mit ambivalenten Konnotationen verbunden, die allesamt im Text angesprochen werden. Was zunächst als leichtfüßiger »Spaß«61 daherkommt, wenn der Student sich in die Burchell-Rolle begibt, wird vom Erzähler sofort selbst als potenzielles Zeichen »für einen unverzeihlichen Hochmut«62 wahrgenommen, da es – durchaus im Einklang mit dem leuchtenden Vorbild Burchell aus der Goldsmith’schen Vorlage und den darüber hinaus angeführten Beispielen Heinrichs des Vierten und Jupiters – als die Anmaßung einer den Getäuschten überlegenen Stellung gewertet werden kann. Und genau an der Differenz der Lebenswelten, die sich aus der Sicht des werdenden Juristen im Lauf der Episode mehr und mehr manifestiert, scheitert ja letztlich die Beziehung zu Friederike. Sowohl die Rolle des »lateinischen Reiters« als auch die des

sche Einschübe zu verstehen, die den fiktionalen Rahmen des Romans stören würden (vgl. Bäckman: The Singular Tale, S. 63–65). Im ersten Teil von Goldsmiths Roman ist es tendenziell ein satirischer, im zweiten ein stärker didaktischer Zug des Textes, der diesen an zeit-, sitten- und literaturkritische Debatten anschließt. 60

Hiermit erfüllen die Literaturgespräche auch eine eminent fiktionsbildende Funktion, folgt man Wolfgang Iser und seinem Konzept der »Selbstanzeige« als »Akt des Fingierens«. Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 18–51.

61

FA I, 14, S. 468.

62

FA I, 14, S. 469.

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Wirtssohnes George, dessen Auftritt später in unzweideutiger Überhebung über dessen Intellekt durch seine »dusselige Weise«,63 ein Gespräch zu führen, gekennzeichnet wird, erweisen sich im Nachhinein als bestimmt von einem studentischen Dünkel, der – ganz den Warnungen des Vicars entsprechend – die These stützt, dass Beziehungen mit sozialem Unterschied nicht gedeihlich sein können.64 Solche Differenzen erfahren zudem eine Reflexion in literarischer Hinsicht. Während Friederike zur (mit einem hohen Maß an literarischer Einbildungskraft verbundenen65) Melancholie nicht fähig ist, sind es die einfachen »Elsasser- und Schweizerliedchen«, die ihr gelingen – in die Welt, in der sich ein werdender Doktor der Rechte mit Voltaire und Diderot befasst, die als »bejahrt und vornehm«66 geschildert und

63

FA I, 14, S. 485.

64

Dies scheint mir eine ausreichend weitgehende Interpretation zu sein; Blods Annahme, im Zusammenhang mit der George-Verkleidung würde die Frage eines Inzest-Tabus verhandelt, scheint mir über das Ziel hinauszuschießen und dem Text sowie seinen Bezügen zum satirischen Vorgänger, die Blod ebenfalls mit einbezieht, nicht gerecht zu werden (vgl. Blod: »Lebensmärchen«, S. 212 f.).

65

Zum hinter dieser Einschätzung stehenden Melancholiekonzept, das an die pseudoaristotelischen »Problemata« anschließt, vgl. die Studie von Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie. Tübingen: Niemeyer 2002, hier S. 19 f. Die Melancholie ist danach »mit dem Gedanken einer genialen Begabung fest verknüpft« und »notwendige Voraussetzung für intellektuelle und künstlerische Höchstleistungen«. Ohne auf Dichtung und Wahrheit einzugehen, weist Valk die überragende Bedeutung von Melancholietopoi im Gesamtwerk Goethes nach. Dabei weist er darauf hin, dass Goethe im Rahmen einer literaturkritischen Debatte die melancholieaffine Empfindsamkeit tendenziell abwertet; auch Goldsmith verortet Valk in dieser literarischen Strömung, was, wie anhand der vorliegenden Darstellung deutlich wird, nur eingeschränkt richtig ist, da dessen Texte sich ebenfalls in einer kritischen Distanz zur angesprochenen empfindsamen Literatur befinden (vgl. S. 10). Der kritische Impetus gegenüber seinem jüngeren Ich, der den autobiografischen Erzähler hier antreibt, verortet so dieses literaturaffine, durch melancholische Genietendenzen des Sturm und Drang charakterisierte Ich jenseits der Welt Friederikes, deren gesellschaftliche Einbindung und Natürlichkeit als positives, jedoch schließlich zurückgelassenes Gegenbild zu derartigen Strömungen erscheinen. Zur besonderen Nähe von literarischem Schaffen und Melancholie, durch die die nicht melancholische Friederike in Distanz zur Literaturwelt der jungen Goethe-Figur gesetzt wird, vgl. auch Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart/Weimar: Metzler 1997, hier v.a. S. 4, 137–158, 202–206.

66

FA I, 14, S. 527.

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damit in direkte Opposition zur geschätzten Einfachheit des Landes gesetzt werden, passt sie deutlich nicht.67 Selbst wenn für den jungen Dichter in solcher Literatur Anlass zu »Verdruß« und »Abneigung«68 liegt, ist sie Ausdruck gesellschaftlicher Schranken, die in den literarischen Reflexionen zu antizipieren sind und deren reale Bedeutung sich dann beim Besuch der ländlichen Freundinnen in Straßburg erweist. Die in diesem Zusammenhang vorgeführte Goethe-Figur hat charakteristischerweise Teil an allen in Verbindung mit dem Goldsmith-Komplex angesprochenen Tendenzen: Zunächst erscheint sie – als Burchell-Typus – als Galan im einfachen Kleid, der sich dazu anschickt, in idyllischer Weise Glück und Liebe ins sittliche Pfarrhaus zu bringen.69 Diese Tendenz wird, ebenfalls wie bei Goldsmith, durch den Verweis auf dazu passende, einfach-idyllische Kunstformen wie das Volkslied oder entsprechende Dichtungen wie Hebels Sonntagsfrühe flankiert.70 Andererseits verkörpert die Goethe-Figur auch diejenigen Tendenzen, die bei Goldsmith mit dem verachtungswürdigen Squire verbunden sind: Eitelkeit, Schmuck und Blendung,71 die Hochmut und ein Bewusstsein von Standesgrenzen in sich tragen, was sich schließlich für die umworbenen Mädchen fatal auswirkt. Auf dieser Seite des Spektrums steht die intellektuelle Welt, die sich dem Studenten und Dichter eröffnet und die deutlich jenseits des Horizontes der Sesenheimer Idyllenwelt liegt. Die literarische Entwicklung weg von den Enzyklopädisten und der Tragédie Classique hin zur Shakespeare-Verehrung, die dann mit Herders entsprechendem

67

Valk weist anhand der Lotte-Figur aus Die Leiden des jungen Werthers eine zur hier vorliegenden Situation analoge Entgegensetzung von Melancholie und einfachem Liedgut nach. Vgl. Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 185.

68

FA I, 14, S. 529.

69

Vgl. FA I, 14, S. 468: »Es ist eine verzeihliche Grille bedeutender Menschen, gelegentlich einmal äußere Vorzüge in’s Verborgene zu stellen, um den eignen innern menschlichen Gehalt desto reiner wirken zu lassen.«

70

Vgl. FA I, 14, S. 495 f., Hervorhebung im Original: »Ich genoß an der Seite des lieben Mädchens der herrlichen Sonntagsfrühe auf dem Lande, wie sie uns der unschätzbare Hebel vergegenwärtigt hat.«

71

Vgl. FA I, 14, S. 495. Bei der Rückkehr der Goethe-Figur in der eigenen Kleidung spottet Olivia über den »geputzt und wohl ausstaffiert« Eintretenden, während Friederike »es vorteilhaft [fand], eine solche Erscheinung mir nicht als Eitelkeit auszulegen«. Die Szene hat bei Goldsmith eine Parallele in der Kommentierung des Gitarrenspiels des Squire, bei der sich die Original-Olivia – wie gezeigt – ebenfalls eher harsch äußert, Sophia hingegen höflich und freundlich bleibt; vgl. Goldsmith: Vicar of Wakefield, S. 55 (Kap. 5).

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Aufsatz in Von deutscher Art und Kunst verbunden wird,72 erscheint insofern als Mittelweg zwischen hoher Literatur und »Geschichte […], Zeitgeist, Sitten, Meinungen, Sprache, Nationalvorurtheilen, Traditionen, und Liebhabereien«, der durch »edles Deutsches Würken« ein zeitgemäßes, historisches und national verankertes Theater hervorbringen soll.73 Der studierende Dichter entwickelt so neue literarische Formen durch das Zusammenspiel zwischen klassischem Kanon und ländlichsittlicher Einfachheit und findet zu entsprechenden Vorbildern – aber genau wie den Franzosen, die auf dem Weg zurückgelassen werden, ergeht es Friederike. Sie repräsentiert den einfachen, historischen Geist, der schließlich in der ShakespeareVerehrung aufgeht. Dass es ausgerechnet die vom Zerfall einer Liebe durch männliches Streben nach Höherem berichtende Hamlet-Tragödie ist, die der Liebende im Moment der offenbar werdenden Distanz vorträgt, reflektiert den Abschied im Medium der neu erworbenen literarischen Eindrücke erneut.74 Die Qualifizierung der Beziehung durch den Erzähler als »der nächtlich geworfenen Bombe zu vergleichen, die in einer sanften, glänzenden Linie aufsteigt, sich unter die Sterne mischt, ja einen Augenblick unter ihnen zu verweilen scheint, alsdann aber abwärts, zwar wieder dieselbe Bahn, nur umgekehrt, bezeichnet, und zuletzt da, wo sie ihren Lauf geendet, Verderben hinbringt« dokumentiert drastisch, welch unterschiedliche Welten in Dichtung und Wahrheit gegeneinander ausgespielt werden und welch schlechte Karten die einfache Welt der »sich immer gleich« bleibenden Friederike hat.75 Die literarische Synthese der Lebensfäden, die hier in der Verbindung zweier Welten hergestellt wird, endet für einen Teil des Lebens, das mit Literatur in Berührung gekommen ist, im Verderben; der junge Dichter wird so eher als rücksichtslos

72

Vgl. die ausführliche Auseinandersetzung FA I, 14, S. 522–539.

73

Johann Gottfried Herder: Shakespear. In: Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter. Hg. v. Hans D. Irmscher. Stuttgart: Reclam 1999, S. 63–91, hier S. 75, 91.

74

Vgl. Blod: »Lebensmärchen«, S. 221. Auf die paradigmatische Bedeutung des HamletStoffes im diskursiven Kontext der Melancholie (der oben als Gegenbild zur Lebenswelt Friederikes rekonstruiert wurde) weist anhand von Wilhelm Meisters Lehrjahre Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 185, hin. Die Interpretation dieses intertextuellen Verweises im Zusammenhang mit der Abkehr vom vermeintlich idyllischen Goldsmith-Text verkennt den nicht idyllischen Charakter des Vicar. Der Hamlet macht den Abschied vom engen, ländlichen Horizont deutlich; hierdurch wird aber vielmehr die Brüchigkeit der Idyllenwelt durch das Eindringen des Dichters hervorgehoben, eine Tendenz, die in abgewandelter Form auch schon bei Goldsmith erkennbar ist (zu entsprechend problematischen Interpretationen vgl. Haas: Text und Leben, S. 81; Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 301).

75

FA I, 14, S. 542 f.

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an der Literatur orientierter ›Squire‹ denn als das Leben der Einfachheit aufwertender ›Burchell‹ präsentiert. Der Schreck der Mutter Friederikes, der das »Wort im Munde stockt[ ]«, als sie dem erneut verkleideten Studenten begegnet und die die Frage danach stellt, »wie viele Gestalten«76 dieser denn habe, trifft so etwas Wahres, auch wenn das zu diesem Zeitpunkt für die Frau noch nicht abzusehen ist: Die verschiedenen »Gestalten« liegen miteinander im Konflikt, Authentizität bleibt unerreichbar und die Figur, die ihr im jungen Goethe gegenübersteht, ist eben nicht im mit Schiller als naiv zu bezeichnenden Bereich anzusiedeln, sondern von sentimentalischen Spaltungen geprägt. Der Schein des lustigen Gesellen, der sich ins Dorfleben und die ländlichen Vergnügungen offenbar bruchlos einfügt, trügt; es handelt sich um eine nicht ohne Weiteres greifbare, eigentlich in einer anderen, mit der eigenen kaum vermittelbaren Welt angesiedelte Person. Die verschiedenen Masken versinnbildlichen die Ungreifbarkeit eines Subjekts, das sich im entscheidenden Moment – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – entzieht. Schon aus der Innenperspektive des fiktionalen Raumes, in dem die Sesenheim-Episode angesiedelt wird, ist das Subjekt Goethe nicht eindeutig zu bestimmen, die Wahrnehmung schwankt mithin zwischen armem Gelehrten, bäuerlichem Wirtssohn, fröhlichem Gesellschafter und Liebhaber, Märchenerzähler und Dichtungsinnovator sowie kühlem, über den einfachen Kreis Sesenheims hinausdrängendem Karrieremenschen.77 In der Außensicht auf diese erzählte Welt kommt eine intertextuelle Perspektive hinzu, die die beschriebenen Eigenschaften in einen weiteren Rahmen stellt und vor allem ihre grundlegende Fiktionalität betont, indem sie das hier sichtbare, gebrochene Subjekt als auf einer literarischen Vorlage basierende Konstruktion entlarvt. An die Stelle der so infrage zu stellenden ›autobiografischen‹ Funktion, die referenziell über ein vermeintlich festlegbares Goethe-Ich Auskunft gäbe, tritt eine intertextuelle Öffnung sowohl des Textes als auch der Subjektivität der Hauptfigur (ähnlich wie sie später Kristeva in den Blick nimmt). Diese ist nicht nur im referenziellen Sinne ungreifbar, sie löst sich darüber hinaus in einem literarischen Diskurs auf, der eine komplexe Bestimmung wechselnder subjektiver Positionen als Dichter ermöglicht. Das,

76 77

FA I, 14, S. 480. Problematisch ist deshalb erneut die Interpretation von Haas, die dem GoetheProtagonisten in seiner Ausrede gegenüber der Mutter folgt und feststellt: »Damit ist das Maskenspiel als Scherz von der wahren Identität als Ernst unterschieden.« Dem ist, wie der Text sehr deutlich macht, nicht so – die ›Identität‹ bildet sich erst, und zwar in problematischer Weise durch die entsprechenden Maskenspiele. Vgl. Haas: Text und Leben, S. 73. Auf die Verknüpfung der angesprochenen Bereiche, die hier stattfindet, hat bereits Trunz hingewiesen: vgl. HA 9, S. 747.

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was in verschiedenen Kommentaren als literaturgeschichtliche Abhandlung innerhalb von Dichtung und Wahrheit gelesen worden ist,78 verhandelt diese Dichtersubjektivität und ihr Schwanken zwischen ländlicher Idyllik sowie deren Kritik und Satire, zwischen klassischer, aber als überlebt empfundener Dichtung und einer zu reaktivierenden Tradition, die in Verbindung mit dem Typus ländlicher, spezifisch deutscher Einfachheit, für die Sesenheim als Chiffre steht, den Weg in eine neue Dichtungsepoche frei macht. Im Kontext dieser literarischen Entwicklung ist auch Sesenheim wahrzunehmen, das so nicht zur Éducation sentimentale eines dichtenden Jünglings Aufschlüsse ermöglicht, sondern vielmehr zur spezifisch literarischen Positionierung und Subjektbildung eines vom Text hervorgebrachten Autors. Dichtung und Wahrheit nimmt, so lässt sich zusammenfassen, also Bezug auf einen Text, der selbst in vielfältiger Weise sowohl hinsichtlich seiner Erzählanlage als auch durch den satirischen und ironischen Bezug auf die Idyllenthematik dieselbe infrage stellt und als literarisch-erzählerische Konstruktion entlarvt, die schließlich in ihrem Scheitern vorgeführt wird. The Vicar of Wakefield ist ein Prätext, der ähnliche Fragen verhandelt, wie es Dichtung und Wahrheit tut: Kann man der Aussage eines Erzählers trauen? Was sind die Elemente, die eine Person ausmachen, und wie entstehen sie im Spiel mit verschiedenen Masken? Wie sind Subjekt und Geschichte verknüpft und wie wird diese Verknüpfung wahrgenommen und artikuliert? Und schließlich: Was kann man zu diesen Fragen sagen, wenn man einkalkuliert, dass ein Text sich auf bestimmte Muster, eine literarische Tradition bezieht? Wenn im Anschluss an die Verhandlung dieses Textes, der sich – wie die Herder-Figur in Dichtung und Wahrheit völlig zu Recht moniert – eben überhaupt nicht zu Einfühlung und naivem Miterleben eignet, sondern dieses gerade kritisch reflektiert, die Sesenheim-Episode folgt, die den Protagonisten der Autobiografie »aus dieser fingierten Welt in eine ähnliche wirkliche versetzt«,79 dann ist gerade hinter diesen Wirklichkeitscharakter ein deutliches Fragezeichen zu setzen.80 Die Episode

78

Vgl. etwa Jeßing, der die entsprechende Stelle als »Exkurs« apostrophiert und nicht in ihrer engen Verklammerung mit der Subjektivitätsproblematik begreift: Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 302.

79 80

FA I, 14, S. 468. Grappin bemerkt zu Recht: »In diesem Schlüsselsatz […] zeigt sich deutlich der Weg von der Fiktion in die reale elsässische Umwelt, oder auch umgekehrt, eine Hin- und Herbewegung, die sich im 10. und 11. Buch beobachten läßt. Dabei entsteht außerdem eine mehrfache wechselseitige Beeinflussung beider Elemente.« Er erkennt den fiktionalisierenden Einfluss der Intertextualität, macht jedoch – inkonsequenterweise – bei der Annahme Halt, im Mittelpunkt des Textes stünden dennoch reale Ereignisse. Eine konsequente Untersuchung des inhaltlich und fiktionalitätstheoretisch bestimmten

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steht damit unter einem akuten Fiktionalitätsvorbehalt, und zwar vor allem für den intertextuell informierten Leser, den der Erzähler sich vorstellt und den er mit einer minimalen, die Identität der Umstände aus dem Roman mit denen im Sesenheimer Pfarrhof betonenden Zusammenfassung auf die Intertextualität deutlich hinweist.81 Nicht nur dass das, was folgt, ganz offensichtlich nach einem intertextuellen Vorläufer gestaltet und eben nicht authentische Wiedergabe von Erfahrenem ist – der zugrunde liegende Prätext ist zudem einer, der selbst bereits die Frage nach textueller und narrativer Authentizität stellt und in virtuoser Weise verhandelt. Um Goethes Text gerecht zu werden, ist ein Rezeptionsmodus vonnöten, der nicht demjenigen der Einfühlung und des Mitgerissenwerdens folgt, den der autobiografische Erzähler seinem jungen Ich selbst zuschreibt, sondern der sich die Herder’sche Skepsis bewahrt und nach »Gehalt und Form« eines »Kunstwerks« und seinen Verbindungen zur Tradition Ausschau hält, anstatt sich in der auf den ersten Blick idyllischen, mit Topoi des Locus amoenus gespickten Handlung zu verlieren. 3.2.2 Subjektivität durch Intertextualität II: Die neue Melusine Ein zweiter, am Ende des zehnten Buches von Dichtung und Wahrheit positionierter intertextueller Verweis bietet ebenfalls Aufschluss hinsichtlich der hier verfolgten Fragestellung. Der Held trägt »ein Märchen vor, das ich hernach unter dem Titel, ›die neue Melusine‹ aufgeschrieben habe«.82 Er rühmt sich der großartigen Wirkung, die diese Erzählung gezeitigt habe, sei es ihm doch gelungen,

Spannungsfelds zwischen Goethe und Goldsmith bietet Grappin nicht. Vgl. Grappin: Dichtung und Wahrheit, S. 108. 81

FA I, 14, S. 466: »Ich kann voraussetzen, daß meine Leser dieses Werk kennen und im Gedächtnis haben«.

82

FA I, 14, S. 485. Hervorhebung im Original. Zur Entstehung vgl. ebd., S. 1189, und FA I, 10, S. 827 f., 1206 f.; HA 9, S. 744 f. Die Endfassung der Neuen Melusine wurde im September 1812 parallel zur Arbeit am vorliegenden Abschnitt von Dichtung und Wahrheit diktiert. Zuerst erschien das Märchen in zwei Teilen 1816/17 bzw. 1819. 1821 bzw. 1829 wurde es Bestandteil von Wilhelm Meisters Wanderjahre; diese Fassungen unterscheiden sich nur in orthografischen Einzelheiten und durch die Einbettung in die jeweiligen Zusammenhänge (vgl. FA I, 10, S. 850–852). Der Kommentar der Frankfurter Ausgabe nimmt in seinen Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte in eher problematischer Weise auf die Darstellung in Dichtung und Wahrheit Bezug, vgl. FA I, 10, S. 1206: »Aus der Nacherzählung des Stoffes im Hause Brion in Sesenheim (1771, vgl. Dichtung und Wahrheit II 10) entwickelt sich Jahrzehnte später der Plan zu einer eignen Ausformung des Volksbuches […].«

140 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE die Neugierde zu erregen, die Aufmerksamkeit zu fesseln, zu voreiliger Auflösung undurchdringlicher Rätsel zu reizen, die Erwartungen zu täuschen, durch das Seltsamere, das an die Stelle des Seltsamen tritt, zu verwirren, Mitleid und Furcht zu erregen, besorgt zu machen, zu rühren und endlich durch Umwendung eines scheinbaren Ernstes in geistreichen und heitern Scherz das Gemüt zu befriedigen, der Einbildungskraft Stoff zu neuen Bildern und dem Verstande zu fernerm Nachdenken zu hinterlassen.83

Ein wirkliches Kunststück, so mag man denken, mit diesem kleinen Text beinahe sämtliche über die Jahrhunderte hinweg ermittelten Bestände von Wirkungsästhetik und Affektdramaturgie ausgelöst zu haben. Die Aufzählung all dieser (sich zum Teil durchaus widersprechenden) Befunde erscheint in dieser Fülle weniger als realistische Beschreibung eines Vermittlungsvorgangs denn als Verweis auf die Geschichte der Ästhetik, in der all die genannten Kategorien zu verschiedenen Zeiten zentrale Rollen gespielt haben.84 In den Text aufgenommen wurde das Stück, das all jene Emotionen auszulösen im Stande gewesen sein soll, nicht, weil es nach Meinung des Erzählers im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit und affektuelle Gestaltung des vorliegenden Zusammenhangs »der ländlichen Wirklichkeit und Einfalt, die uns hier gefällig umgibt, schaden« könnte – eine erneute Bestätigung der oben ermittelten textuellen Tendenz, die die Darstellung des Sesenheimer Lebens und die Kunst in Opposition setzt.85 Nur im mündlichen, Authentizität verbürgenden Vortrag passt das Märchen dorthin, allein so entfaltet es eine Wirkung, die es in der Schriftform verliert, denn »Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede«.86 Erneut wird in diesem Zusammenhang die Problematik der Textferne des Lebens bzw. der Lebensferne des Textes in den Mittelpunkt gerückt. Was ›wirklich‹ geschehen ist, lässt sich anhand einer – gerade deshalb unterlassenen – textuellen Wiedergabe nicht ermitteln; das Auslösen von Affekten, das im performativen Erzählen über verschiedene Kanäle gewährleistet werden kann, bleibt im »Surrogat« der Schriftform, wie der Erzähler deutlich macht, auf die Umwandlung in textuelle Strategien angewiesen.87 So bleiben Über-

83

FA I, 14, S. 485 f.

84

Vgl. auch Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 300.

85

FA I, 14, S. 485.

86

FA I, 14, S. 486.

87

Der Kunstwerkcharakter von Erzählung bzw. Märchen wird auch von der Einbindung des Melusine-Textes in Wilhelm Meisters Wanderjahre betont. Der Erzähler Rotmantel ist hier Barbier und übt also eine Beschäftigung aus, die »gewöhnlich eine große und oft lästige Geschwätzigkeit mit sich führt«. Deshalb hat er »auf die Sprache Verzicht getan, insofern etwas Gewöhnliches, oder Zufälliges durch sie ausgedrückt wird; daraus aber

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legungen zur Relevanz des ausgesparten Märchens auf die Beziehung der Texte verwiesen; die affektive, lebensweltliche Wirkung, das gibt der Text deutlich zu verstehen, bleibt dem Leser grundsätzlich verschlossen.88 Die Geschichte des Melusine-Märchens thematisiert erneut eine ungleiche Beziehung, die aufgrund dieser Ungleichheit scheitern muss. Das Märchen stellt sich so als Verweis auf das anstehende Scheitern der Beziehung des autobiografischen Helden mit Friederike dar, der jedoch wiederum nur dann wirklich verständlich

hat sich ihm ein anderes Redetalent entwickelt, welches absichtlich, klug und erfreulich wirkt, die Gabe des Erzählens nämlich« (FA I, 10, S. 632). Das Kunstwerk der Erzählung – in diesem Fall die in der Ich-Form erzählte Neue Melusine – steht auch hier im Gegensatz zur Sprache des Lebens; eine Erkenntnis, die im Umkehrschluss auch für den Text der Autobiografie gilt, der diese Erzählung gleichwohl ausspart. Obwohl der Barbier die Geschichte als seine eigene ausgibt, ist von Anfang an klar, dass es sich beim Bericht in der Ich-Form um eine kunstgerechte Erzählung ohne Referenzcharakter handelt; ein Punkt, der entsprechend auch für die Autobiografie in Anschlag zu bringen wäre. Analysen, die Rotmantel umstandslos als den Protagonisten des Melusinen-Märchens ansprechen, tragen der Komplexität dieses Verhältnisses nicht angemessen Rechnung. Vgl. etwa Konstanze Bäumer: Wiederholte Spiegelungen – Goethes ›Mignon‹ und die ›Neue Melusine‹. In: Gerhart Hoffmeister (Hg.): Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretationen und Rezeption. New York u.a.: Lang 1993, S. 113–133; Franziska Schößler: Aufbrechende Geschlechterrivalitäten und die ›Verzwergung‹ der Frau. Zu Goethes Märchen Die neue Melusine. In: Ina Brueckel u.a. (Hg.): Bei Gefahr des Untergangs. Phantasien des Aufbrechens. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 77–90; Jochen Golz: Märchen Goethes neu gelesen. Der neue Paris und Die neue Melusine. In: Gerhard Kaiser u. Heinrich Macher (Hg.): Schönheit, welche nach Wahrheit dürstet. Beiträge zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Heidelberg: Winter 2003, S. 71–84. 88

Problematisch bleiben deshalb solche Interpretationen, die über die vermeintliche Differenz des ausgelassenen und des später gedruckten Textes spekulieren. Sie legen implizit die Annahme zugrunde, dass die Relevanz der Episode für ihre Analyse und Interpretation von einem wirklich geschehenen Erzählereignis abhänge, auf das sich der Text beziehe. In der Rezeption und der Beziehung der Texte untereinander ist es jedoch nur das Verhältnis bestehender Texte, das relevant werden kann; hierauf beschränkt sich auch die vorliegende Analyse. Spekulationsfreudiger und referenzorientierter sind in dieser Frage beispielsweise die Analysen von Gärtner: Zur Psychoanalyse der literarischen Kommunikation, S. 157, sowie Christine Lubkoll: In den Kasten gesteckt: Goethes ›Neue Melusine‹. In: Irmgard Roebling (Hg.): Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien. Pfaffenweiler: Centaurus 1992, S. 49–63, hier S. 53.

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wird, wenn man der intertextuellen Spur folgt. Zunächst entspringt die Problematik der im Märchen geschilderten Beziehung äußerst ungewöhnlichen Umständen, ist doch das ins Auge fallende Hindernis die Tatsache, dass Mensch und Zwergenprinzessin zumindest zeitweise in verschiedenen Welten leben. Als entscheidend wird dabei weniger die Tatsache dieses Unterschieds selbst als vielmehr das Bewusstsein davon dargestellt. Sobald der Ich-Erzähler um die Differenz zwischen den Lebenswelten weiß, gelingt ihm das sorglose Fortführen der Beziehung nicht mehr, er fühlt sich von der »Schönen einigermaßen entfremdet«, was die Geliebte ohne Weiteres nachvollziehen kann: »du bist von dem Zustand unterrichtet, in dem ich mich zu gewissen Zeiten befinde; dein Glück und das meinige ist hiedurch unterbrochen, ja es steht auf dem Punkte, ganz vernichtet zu werden.«89 Auch hier spielt noch die außerordentliche, märchenhafte Ungleichheit der Partner die Hauptrolle, die im Vorgang der Bewusstwerdung erst Relevanz erhält. Im entscheidenden Moment, als es ans Heiraten gehen soll, rückt der konkrete Fall jedoch in den Hintergrund und gewinnt so Übertragbarkeit für die Rahmenhandlung der Autobiografie. Ein wichtiges Medium, in dem generelle Charakterdifferenzen zwischen Heldin und Held artikuliert werden, ist ihre jeweilige Einstellung zur Musik. Wie in Dichtung und Wahrheit, wo der Abstand zwischen den Liebenden zunächst ebenfalls anhand ihrer Beziehung zur Musik festgestellt wird – erinnert sei an Friederikes Neigung zum einfachen Liedgut und ihre Ferne von der Dichter-Melancholie des aufstrebenden Hamlet-Lesers –, werden auch hier den rein künstlerischen Bereich überschreitende Differenzen in musikalischen Termini verhandelt. Zunächst ist von der Abneigung des Erzählers gegenüber jeglicher Art von Musik die Rede, wohingegen die Geliebte »herrlich die Laute« spielt.90 Hierüber kommt es zum entscheidenden Streit zwischen den Liebenden; in einer Mischung aus Missgunst, gekränkter Eitelkeit und alkoholisiertem Kontrollverlust herrscht der Ich-Erzähler seine Partnerin mit den entlarvenden, kränkenden Worten »Was will der Zwerg?« an.91 Obwohl sie hiernach zur »Scheidung« entschlossen ist, dauert die Beziehung fort, und zwar unter der Bedingung, dass der Mann sich mit ihr ins Zwergenreich begibt, wo der Zwergenkönig, sein potenzieller Schwiegervater, rasch zur Vermählung schreitet, da sein zentrales Anliegen das durch das Blut eines vermeintlichen Ritters zu sichernde Fortbestehen seiner Dynastie ist.92 Hier wird jedoch, abermals in musikalischem Ausdruck, klar, dass die Vorbehalte, die der erzählende Abenteurer gegen die Ehe hegt, überhaupt nichts mit der

89

FA I, 10, S. 642.

90

FA I, 10, S. 644.

91

FA I, 10, S. 645.

92

Vgl. FA I, 10, S. 648 f.

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aktuellen Situation zu tun haben. Die von ihm wenig geschätzte Musik, so seine Beurteilung, lebe davon, dass sich mehrere Leute einer Kapelle in der Illusion befänden, harmonisch zusammenzuspielen. »Bei dem Ehestand hingegen ist dies nicht einmal der Fall: denn ob er gleich nur ein Duett ist und man doch denken sollte, zwei Stimmen, ja zwei Instrumente müßten einigermaßen übereingestimmt werden können, so trifft es doch selten zu; […] Und also, da mir die harmonische Musik zuwider bleibt, so ist mir noch weniger zu verdenken, daß ich die disharmonische gar nicht leiden kann.«93

Es offenbart sich, dass der Erzähler grundsätzlich der Vorstellung ehelichen Ausgleichs wenig abgewinnen kann; sein Abenteurerleben passt nur wenig zur Rolle des Ehemannes.94 Nachdem die Ehe gelöst und seine Flucht gelungen sind, endet das Märchen für ihn schließlich, wie es begann: mit dem Werben um Frauen, die ihm sein Leben in kulinarischer Hinsicht erleichtern können; »und so kam ich denn endlich, obgleich durch einen ziemlichen Umweg, wieder an den Herd zur Köchin, wo Ihr mich zuerst habt kennen lernen.«95 Doch nicht nur auf der skizzierten Ebene einer Ankündigung des nahenden Endes der Beziehung zwischen Jung-Goethe und Friederike erscheint die Einbettung des Melusine-Stoffes in Dichtung und Wahrheit ertragreich, auch hinsichtlich der Frage einer prekären Subjektivität ergeben sich aus der intertextuellen Verbindung

93

FA I, 10, S. 654.

94

Lubkoll bemerkt treffend, das Märchen verhandle nicht den Einzelfall, sondern »eine kulturelle Institution, von der die eigentliche Bedrohung ausgeht: die Ehe«. Ob dies, wie sie mutmaßt, mit Goethes Verarbeitung »seiner eigenen problematischen Ehebeziehung« zusammenhängt (und was aus dieser Frage für den Text zu schließen wäre), muss wohl dahingestellt bleiben. Vgl. Lubkoll: In den Kasten gesteckt, S. 53. In ihrer Betonung kultureller Umstände, die auch Golz: Märchen Goethes neu gelesen, S. 81 f., teilt, scheint mir Lubkolls Interpretation den Text stimmiger nachzuvollziehen, als das bei der Deutung von Schößler der Fall ist. Sie nimmt an, das Märchen habe vor allem Teil an einer zeitgenössischen biologistischen Wende und verhandle das Scheitern der Ehe durch »eine medizinisch sanktionierte, naturalisierte Grenze zwischen Mann und Frau«, die nicht überschritten werden könne. Offenbar liegen doch aber die unüberbrückbaren Differenzen vor allem im leichtlebigen, sich nicht festlegenden Charakter der Abenteurerfigur begründet, der wohl nicht so einfach als typisch männlich bezeichnet werden sollte. Vgl. Schößler: Aufbrechende Geschlechterrivalitäten und die ›Verzwergung‹ der Frau, S. 85.

95

FA I, 10, S. 656.

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Aufschlüsse. Die neue Melusine ist ein Märchen, das von Anfang an Fragen der Identität bzw. der Mehrgesichtigkeit der Protagonisten verhandelt, die sich am Ende in verschiedener Weise negativ auswirkt.96 Offensichtlich ist das zunächst bei der Zwergenprinzessin: Die Notlage ihrer Familie zwingt sie dazu, eine andere Gestalt anzunehmen; die Spaltung ihres Subjekts ist aus der Not geboren und setzt, was nur im märchenhaften Kontext denkbar erscheint, direkt am Körper an – im Vergleich zum romanhaften (Goldsmith’schen) wie zum autobiografischen (Goethe’schen) Kontext, wo solche Spaltung nur durch das Mittel der Verkleidung ausgedrückt werden konnte, also deutlich tiefer. Die Notwendigkeit, die Doppelgesichtigkeit zunächst geheim zu halten, und die Neigung des Partners, sein Wissen um die Spaltung zum Machtmittel auszubauen, erweisen sich als entscheidende Bedrohungen, die das Zusammenleben mit dem anderen letztlich unmöglich machen. Die Unmöglichkeit einer Beziehung liegt so in der prekären Subjektivität begründet, von der aus ein Zusammengehen mit einem Partner vor ernsthaften Problemen steht.97 Analog gilt das Problem der Spaltung für die Erzählerfigur. Dort ist es zwar nicht die körperliche Doppelgestalt, die problematisch wird, allerdings ergibt sich aus den nicht miteinander vereinbaren sozialen Rollen, die der Erzähler einnimmt, eine ebenso große Schwierigkeit. Der umherziehende Abenteurer, der Wein und Weib (im Gegensatz zum Gesang) nicht abgeneigt ist und es nie lange an einem Ort

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In Analysen des Märchens ist vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte des Textes betont worden, dass solche Brüchigkeit sich auch aus den Helden zugeschriebenen Eigenschaften ergibt, die deren endgültiger Gestaltung im Text nicht gerecht werden. Besonders ist das der Fall bezüglich der Nixenattribute bei der »Schönen«: Obwohl sie im Text – anders als in Entwürfen – gar nicht mehr als Wasserelementargeist firmiert, sondern zur Zwergin geworden ist, bleibt die Benennung als Nixe erhalten, sie wird so zur »aus Heterogenem komponierte[n] Kunstfigur«; insofern reflektiert auch der inkohärente Text die prekäre Subjektivität der Protagonistin. Ähnliches gilt für den Helden. Vgl. hierzu: Monika Schmitz-Emans: Vom Spiel mit dem Mythos. Zu Goethes Märchen »Die neue Melusine«. In: Goethe Jahrbuch 105 (1988), S. 316–332, hier S. 321 f.

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Schmitz-Emans weist darüber hinaus darauf hin, dass die Zwergin unter einem »›zwergenhaft‹ eingeengten Blickwinkel[ ]« leide, der sich in der von ihr erzählten Schöpfungsgeschichte offenbare und so die Differenz zum Abenteurer erneut markiere. Die Melusine sei so zu betrachten als »Repräsentantin des Denkens auf jener vor-läufigen Entwicklungsstufe« des mythischen Denkens. Übertragen auf die Situation von Goethe und Friederike verweist diese Sicht der Dinge erneut auf die bereits oben festgestellte Differenz von naiv-ländlicher und dichterisch-weitgereister Weltsicht. Vgl. SchmitzEmans: Vom Spiel mit dem Mythos, S. 329.

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aushält, führt ein ausschließlich auf seine Person ausgerichtetes Leben.98 Die Beziehung, in die er dadurch gerät, dass ihm das ominöse Kästchen anvertraut wird, ergibt sich zunächst aus genau diesen Umständen – sie bringt ihm weibliche Gunst und finanzielles Auskommen –, entwickelt sich dann jedoch in eine verbindlichere Richtung, der er zwar eine Weile lang nachgibt, die mit seinem libertinen Lebensentwurf jedoch kaum vereinbar scheint. Die Flucht vor der Ehe, die als grundsätzlich disharmonisches Duett angesehen wird, ist die Folge. Die Fremdzuschreibungen, denen er ausgesetzt ist – immerhin betrachten ihn Frau und Zwergenkönig als »Ritter« –, entsprechen seiner Lebenspraxis nicht, die dahinter befürchtete Festschreibung und Verpflichtung auf eine einheitliche Subjektivität, die das wechselhafte, sich nicht festlegende Leben beenden würde, wirkt so als Bedrohung.99 In dieser Hinsicht spiegelt das Märchen abermals das Sesenheimer Geschehen. Auch hier kommt ein Reisender an einen Ort, nähert sich einer Frau, die seinem Leben und seiner Weltsicht fernsteht, und schließlich verlässt er sie wieder, um den von ihm eingeschlagenen, noch offenen Weg weiterzugehen, ohne sich besonders um das Schicksal der Verlassenen zu kümmern. Anders als beim Abenteurer im Märchen erscheint der Abschied hier jedoch als Schritt auf einem Weg des persönlichen Fortschritts und der Ausbildung einer weitergehenden Subjektivität als Schriftsteller und Dichtungsinnovator; der Abenteurer hingegen landet am Ende wieder dort, wo er angefangen hat, eine positive Entwicklung ist nicht erkennbar. Dennoch sind die Parallelen zwischen Goethe-Figur und Abenteurer evident; zu ihnen gehört einerseits eine offene, sich noch nicht festlegen wollende Subjektivität, die sich hinter verschiedenen Masken verbirgt (im übertragenen wie im wörtlichen Sinne), andererseits ein gewisses Maß an Kaltherzigkeit und Egozentrik, die sich um die auf dem Weg zurückgelassenen Frauen, denen die Protagonisten mit eher instrumentellem Geist gegenübertreten, wenig schert. Verschiedene Interpretationen haben daneben die Tatsache in den Mittelpunkt gestellt, dass im Märchen auf einer Ebene die Frage dichterischer Produktivität verhandelt wird, wobei vor allem auf den vom Erzähler betriebenen Vergleich des (weiblich konnotierten) Kästchens

98

Er ist ein »mit sich selbst beschäftigte[r] Lebenskünstler, [dessen] Bedeutung zweifelhaft und [dessen] Charakter schwankend ist«, so Bäumer: Wiederholte Spiegelungen, S. 116.

99

Vgl. auch Golz: Märchen Goethes neu gelesen, S. 80–82. Golz verhandelt diesen Zug des Märchens auf einer zeitkritischen Ebene. Der Abenteurer sei »Produkt einer modernen Zivilisation, der Liebe nicht mehr fähig« und »Repräsentant« einer »Kultur des gedankenlosen Müßiggangs«. Über die Figur des Helden artikuliere das Märchen dementsprechend eine »bittere Kritik an der zeitgenössischen Kultur und Zivilisation«.

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bzw. »Frauenzimmers«100 mit dem (männlich konnotierten) »künstlichen Schreibtisch von Röntgen«101 verwiesen worden ist. Die Darstellung des Rahmenerzählers Rotmantel, der in den verschiedenen Druckfassungen der Einbettungen des Märchens beschrieben wird, als »mit besonderer Kunst und Geschicklichkeit«102 begabter Märchenproduzent stützt diese Interpretationslinie. Neben den genannten Parallelen von Märchenhandlung und Sesenheimer Geschehen reflektieren so beide Texte die Frage einer dem Leben hinderlich gegenüberstehenden, mit der Entwicklung einer eigenen Subjektivität verbundenen Dichtung, unter der in beiden Fällen (in verschiedener Weise) die Frauen zu leiden haben.103 Zurück im Nachtquartier kommen die Goethe-Figur und ihr Reisegenosse Weyland ins Gespräch, nachdem sie im Anschluss an die Märchenerzählung Sesenheim verlassen haben. Der Dichter fragt sich, ob seine Erzählung eine angemessene Wahl gewesen sei, »denn es fuhr mir durch den Kopf, daß es vielleicht unschicklich sei, den guten Kindern solche Fratzen zu erzählen, die ihnen besser unbekannt blieben, und ihnen von den Männern so schlechte Begriffe zu geben, als sie von der Figur des Abenteurers sich notwendig bilden müssen«.104 In Anbetracht dessen, was hier – ohne Wiedergabe im Text – erzählt worden ist, und hinsichtlich der für den Erzählenden wenig schmeichelhaften Vergleichbarkeit der Situationen in ›Leben‹ und Erzählung handelt es sich bei diesen Überlegungen um durchaus angemessene Sorgen. Und dass die Nähe zwischen Leben und Text frappierend ist, bestätigt auch Freund Weyland, wenn auch in anderer Art und Weise, denn er berichtet, dass die Mädchen in den Protagonisten des Märchens ein ihnen bekanntes Ehepaar wiedererkannt hätten. Gegen diese Vorstellung verwahrt sich der Dichter, indem er sich

100 FA I, 10, S. 641. 101 FA I, 10, S. 652. 102 FA I, 10, S. 632. 103 Dabei gibt es keine Interpretationen, die diese Ähnlichkeit von Melusine-Märchen und Dichtung und Wahrheit in den Blick nehmen. Auf das Märchen bezogen erkennt etwa Lubkoll in der letztgenannten Interpretationslinie »eine kulturell festgeschriebene Opposition des ›Männlichen‹ und ›Weiblichen‹«, wobei auf der männlichen Seite Parameter von Diskursmacht und Autorschaft stehen, auf der weiblichen hingegen die (mit dem Lustprinzip assoziierte) Musik und die Fortpflanzung, vgl. Lubkoll: In den Kasten gesteckt, S. 54. Ähnlich argumentiert Wolf Kittler: Causa sui. Mythen der Autorschaft bei Goethe und Hölderlin. In: Thomas W. Kniesche (Hg.): Körper/Kultur. Kalifornische Studien zur deutschen Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 167– 192. Vgl. auch Schößler: Aufbrechende Geschlechterrivalitäten und die ›Verzwergung‹ der Frau, S. 85–90. 104 FA I, 14, S. 491 f.

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auf eine Dichtungskonzeption zurückzieht, die von einer von der Außenwelt unabhängigen Inspiration ausgeht: ich verwunderte mich sehr: denn ich hatte weder an ein diesrheinisches noch an ein überrheinisches Paar gedacht, ja ich hätte gar nicht anzugeben gewußt, wie ich auf den Einfall gekommen. In Gedanken mochte ich mich gern mit solchen Späßen, ohne weitere Beziehung, beschäftigen, und so, glaubte ich, sollte es auch andern sein, wenn ich sie erzählte.105

Mit dieser Begründung schließt sich ein Kreis, denn diese Auffassung nimmt das Thema adäquater Kunstrezeption auf, das bereits zu Beginn der Sesenheim-Episode im Zusammenhang mit Herder angesprochen worden ist. Dort jedoch wurde dem jungen Rezipienten Goethe eine Haltung zugeschrieben, wie sie nun die Pfarrerstöchter einnehmen: Eine Trennung zwischen Lebenswelt und Fiktion war ihm noch nicht möglich, vielmehr erschien sein Rezeptionsverhalten als Ausdruck eines jugendlich-unbedarften Literaturverständnisses. Hiervon hat sich der junge Dichter inzwischen in einer bestimmten Hinsicht gelöst: Nun entspringt aus seiner Sicht die Kunst seinem Ingenium, sie ist autonom und unabhängig von weltlicher Inspiration, wenn sie auch Dinge, die in der Welt möglich sind, mit sicherem Blick darstellt – inzwischen wird der Goethe-Figur also ein Dichtungsverständnis zugeschrieben, das dem der an Shakespeare orientierten Genie-Ästhetik entspricht; der dichterische Fortschritt und damit die lebensweltliche Entwicklung aus einem beschränkt-ländlichen Kreise hinaus (dem eben ein ähnlicher Entwicklungsstand zugeschrieben wird, wie ihn der Erzähler ›vor Sesenheim‹ noch hatte) manifestiert sich erneut und unterstreicht, dass Sesenheim und das Denken seiner Bewohner eigentlich zu diesem Zeitpunkt bereits hinter dem autobiografischen Helden liegen.106 Während er zur Zeit der Ankunft in Sesenheim noch der einfachen Lebenswelt bedurfte, die er dort vorfand, verfügt er darüber nun aus seinem genialisch begabten Inneren heraus, die eigene Einbildungskraft kann die äußere Anwesenheit von Vorbildern ersetzen. Wie bereits oben gezeigt, geht das zulasten der Mitmenschen des Dichters, deren Relevanz letztlich nur für dessen eigenes Fortschreiten gegeben ist – und die verloren geht, sobald die nächste Stufe der eigenen Entwicklung erreicht ist.

105 FA I, 14, S. 492. 106 Auch Jeßing stellt die Verhandlung von »Geniebegriff und beginnende[r] Autonomieästhetik« in den Büchern 10 und 11 in Rechnung, geht aber nicht auf den hier dargestellten Entwicklungsprozess der Dichterfigur ein. Vgl. Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 298 f. Hinsichtlich des Melusine-Märchens ähnliche Argumente finden sich bei Schmitz-Emans: Vom Spiel mit dem Mythos, S. 332, und Golz: Märchen Goethes neu gelesen, S. 76.

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Eine weitere Ebene zeitlicher Distanz bringt die Differenz zwischen dem erzählten und dem erzählenden Goethe mit sich: Anhand der Goldsmith-Einbindung war bereits festgestellt worden, dass der Wertungsmaßstab des Letzteren deutlich näher an dem der Herder-Figur liegt, die das Kunstwerk als solches in seiner Gemachtheit reflektieren konnte. Der Beziehungsreichtum des Melusine-Märchens unterstreicht, dass die vom Erzähler für dessen Auslassung gelieferte Begründung, der Text passe hier gerade nicht hin, den Leser, der diesen zu naiver Lektüre anleitenden Hinweisen folgt, in eine Richtung lenkt, aus der er die intertextuelle Relevanz des angesprochenen Märchens nicht in den Blick bekommt. »Ohne weitere Beziehung« ist das Beispiel von der Zwergenprinzessin und ihrem leichtlebigen Freier vielleicht in der elsässischen Provinz; zwischen den Texten ergeben sich sehr wohl Beziehungen, die auf die Gestaltung der verliebten Protagonisten deutlichen Einfluss ausüben. Erneut birgt der intertextuelle Verweis also eine Leseanweisung, er verweist auf die fictio, die Gemachtheit des Textes, und muss entschlüsselt werden, will der Leser dem Text jenseits seiner vermeintlichen Referenzialität gerecht werden. Die Sesenheimer Situation und das in ihr vorgeführte Ich erweisen sich so abermals als Produkte von (inter)textuellen Strategien, deren referenzieller Charakter schon vom Text selbst, der sich als konstruiert ausweist, grundsätzlich infrage gestellt wird.

3.3 Z WISCHENFAZIT Was ist die Autobiografie, wenn man ihr im Lichte postmoderner Theoriebildung den Referenzcharakter und das starke Autorsubjekt abspricht? Von Referenz zu sprechen, ist ein problematisches Unterfangen: Einerseits suggeriert die Annahme eines referenziellen Gehalts der Autobiografie, dass vom Text aus auf außertextliche Bestände zurückgegriffen werden könnte, sie basiert auf dem Gedanken, dass das, was aus dem Text hervorgeht, eine Grundlage in der »echten« Welt habe, die in einem bestimmten, vom Text aus direkt bestimmbaren Verhältnis zum Text selbst steht. Diese Annahme ist auf der einen Seite – das hat die Auseinandersetzung mit der postmodernen Theoriebildung in Kapitel 2 nahegelegt – erkenntnistheoretisch nicht zulässig; vom Text führt kein Weg zu einer Welt hinter ihm, daran ändert auch der vermeintliche Sonderfall der Autobiografie nichts, in dem eine, wie angenommen wird, in sich ruhende Person auf ihr eigenes Leben zurückblickt. Andererseits ist in der Beschäftigung mit Goethes Dichtung und Wahrheit deutlich geworden, dass die Referenzannahme etwas ist, das die Texte letztlich noch nicht einmal selbst suggerieren: Dichtung und Wahrheit weist an zahlreichen Stellen, von denen hier nur einige wenige betrachtet werden konnten, selbst darauf hin, dass die Annahme von Referenzialität als problematisch zu gelten hat und dass die Konstruktion von Ereignissen und Subjekten, die im Text stattfindet, auf anderen Me-

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chanismen beruht. Selbst ein klassischer Text der Autobiografik, die über lange Jahrzehnte der Theoriebildung als referenzielle Gattung schlechthin angesehen worden ist, dementiert so diese Theoriegrundlage und bietet sich deshalb als Einstieg in eine Kritik der Autobiografietheorie von einem postmodern-subjektkritischen Standpunkt aus an. Goethe schreibt nicht über Ereignisse, die er selbst erlebt hat und die dann – dank seines immer wieder gepriesenen großartigen Gedächtnisses – ohne Weiteres in den Text übergehen können; sein Text Dichtung und Wahrheit vollzieht ein Emplotment von Subjektivität, er konstruiert ein dichtendes Ich mit narrativen Mitteln und im Anschluss an literarische Muster und intertextuelle Vorgänger. Das Bild des Dichters Goethe, das wir in der Autobiografie erkennen, ist ein Konstrukt, das nicht von Referenzen auf außertextliche Ereignisse, sondern vor allem von Bezügen zu anderen Texten lebt. Die (Dichter-)Autobiografie als Gattung macht diese textuelle Eigenschaft der Konstruktion von Subjektivität häufig transparenter als viele andere Textformen, weil sie sich mit ihrer Verfasstheit, mit dem Vorgang ihrer Entstehung und mit dem literarischen Boden, zu dem sie in Beziehung steht, oft deutlich expliziter auseinandersetzt, als das etwa in historischer Literatur (dem Beispiel, an dem Hayden White Ähnliches beobachtet) oder im Roman der Fall ist. Vom Roman unterscheidet sich die Autobiografie so zumeist durch den Grad, in dem dieser Vermittlungsvorgang thematisiert wird; in diesem Sinne sind gattungstheoretische Entwürfe, die auf die Frage eines konventionalisierten Umgangs mit einer Textgruppe Bezug nehmen, sinnvoll. Eine grundlegende Differenz, wie sie weite Teile der Gattungstheorie am Merkmal der Referenzialität festmachen wollen, ist jedoch nicht begründbar. Dasselbe gilt für historiografische Texte, wie Hayden White deutlich gemacht hat. Die Differenzen zwischen Geschichtsdarstellung, Autobiografie und Roman sind graduell, und zwar nicht hinsichtlich ihrer Referenz auf außerliterarische Tatbestände, sondern nur hinsichtlich ihrer Bezugnahme auf Fakten, denen in dem jeweiligen Diskurs, dem sie angehören, ein entsprechender referenzieller Wert zugeschrieben worden ist. Eine Gattungstheorie, die absolute Grenzen ziehen will, führt angesichts der einzelnen Texte, die bestimmten Gattungen zugeordnet werden sollen, notwendig in eine Sackgasse, das zeigen alle in dieser Studie behandelten Beispiele. Dichtung und Wahrheit hat sich als Beispiel für eine Literatur erwiesen, die den Vorgang der Suggestion von Subjektivität zu wesentlichen Teilen durch intertextuelle Mechanismen vollzieht. Von einem von Anfang an in sich ruhenden AutorIch, das etwa jovial-selbstsicher auf vergangene Zeiten zurückblicken würde, kann nicht die Rede sein. Vielmehr wird – beispielsweise in der hier behandelten Sesenheim-Episode – herausgestellt, dass Subjektivität ein grundsätzlich prekäres Konzept ist, das zu keinem Zeitpunkt endgültig festgelegt werden kann und im Text als komplexe, instabile, sich stets bewegende Konstruktion vorgestellt wird. Subjektivität ist in den analysierten Passagen ein Maskenspiel – und hinter den Masken findet sich mitnichten ein einheitliches, sich nur verstellendes Ich (wie es der Wahr-

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heitsbegriff der klassischen Autobiografietheorie annimmt, an den auch deren inszenierungstheoretische Variante anschließt), sondern der äußerliche Zugriff auf Subjektivität bleibt stets auf die Masken angewiesen. Dieser Modus prekärer Subjektivität wird einerseits inhaltlich durchgespielt, andererseits entspricht ihm das Spiel mit wechselnden intertextuellen Vorlagen, an denen sich das Emplotment von Subjektivität orientiert. Oliver Goldsmiths Roman The Vicar of Wakefield und Goethes Märchen Die neue Melusine sind dabei Texte, die ihrerseits die Frage der nicht festlegbaren Subjektivität in ganz ähnlicher Weise verhandeln; in der Korrespondenz zwischen den Texten festigt sich die Erkenntnis, dass Subjektivität ein instabiles, sich stets entwickelndes Konstrukt bleibt. Durch den Einbezug der Prätexte in die textuelle Subjektivitätskonstruktion wird – neben den inhaltlichen Folgerungen, die hierdurch möglich werden – vor allem unterstrichen, dass autobiografische Subjektivität das Ergebnis textueller Mechanismen ist. Sie ist Dichtung, nicht eine dem Text vorgängige Wahrheit; sie entsteht im Text und ihre Entstehung ist an der Oberfläche des Textes und seiner Intertexte nachzuvollziehen. Die Subjektivität des Dichters bezieht sich in ihrer Entwicklung nicht nur auf diese beiden Texte: vermeintlich literaturgeschichtliche Exkurse dienen demselben Zweck. Literatur und erdichtete Lebenswelt werden so in ein Spannungsverhältnis gesetzt, das sowohl für die Weiterentwicklung der Subjektivität des Dichters als auch für die Innovation seiner Dichtkunst produktiv wird. Dort, wo Schreiben und Subjektivität der Dichterfigur gewinnen, werden Prätexte und vermeintliche Lebenswelt sekundär; sie werden zurückgelassen, auf dass das Dichtersubjekt sich selbst von ihnen aus auf eine neue Ebene begebe. Die Reflexion von Kunstrezeption und -schaffen dient so einerseits dazu, Subjektivität in ihrer Entwicklung darzustellen, andererseits fungiert sie als Kommentar auf den Lektüremodus, der für ein Verständnis des Textes in seinen intertextuellen Bezügen notwendig ist. Subjektivität und Textualität sind auch hier wieder aufs Engste miteinander verknüpft, das »Subjekt Goethe« erkennt nur, wer den komplexen »Text Goethe« durchschaut.

4.

»In die entgegengesetzte Richtung«: Thomas Bernhard

4.1 D ER K ELLER

UND SEINE A USEINANDERSETZUNG MIT AUTOBIOGRAFISCHEM S CHREIBEN

Zunächst ein Einblick in ein autobiografietheoretisches Problem, wie es in Thomas Bernhards Der Keller geschildert wird: Die Wahrheit, denke ich, kennt nur der Betroffene, will er sie mitteilen, wird er automatisch zum Lügner. Alles Mitgeteilte kann nur Fälschung und Verfälschung sein, also sind immer nur Fälschungen und Verfälschungen mitgeteilt worden. […] Und eine Zeit, eine Lebens-, eine Existenzperiode aufzuschreiben, gleich, wie weit sie zurückliegt, und gleich, wie lang oder kurz sie gewesen ist, ist eine Ansammlung von Hunderten und von Tausenden und von Millionen von Fälschungen und Verfälschungen, die dem Beschreibenden und Schreibenden alle als Wahrheiten und als nichts als Wahrheiten vertraut sind. […] die Wahrheit ist überhaupt nicht mitteilbar.1

1

Thomas Bernhard: Die Autobiographie. Hg. v. Martin Huber u. Manfred Mittermayer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004 (= ders.: Werke. Hg. v. Martin Huber u. Wendelin Schmidt-Dengler, Bd. 10), S. 135. Hervorhebungen im Original. Der Band, nach dem im Folgenden zitiert wird, enthält unter Reflexion der Publikationsgeschichte die fünf einzeln erschienenen Texte Die Ursache (1975), Der Keller (1976), Der Atem (1978), Die Kälte (1981) und Ein Kind (1982). Die Frage, ob es sich – wie die Zusammenfassung in einem Band zu suggerieren scheint – um ein einheitliches autobiografisches Gesamtwerk handelt, ließe sich kontrovers diskutieren. Dagegen spricht die zum Teil narratologisch unterschiedliche Anlage und thematische Schwerpunktsetzung der Bände, auf die in diesem Kapitel immer wieder eingegangen wird; dafür scheinen die chronologische Folge der Bände und ihre Bezugnahme aufeinander, auch auf motivischer

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Bernhards Erzähler legt, leicht erkennbar, den Finger in die beschriebene Wunde der Autobiografietheorie. Wenn er behauptet, Wahrheit sei nicht mitteilbar, sie sei als Erfahrungstatsache, über die ein »Betroffener« verfüge, zwar evident, durch ihre Versprachlichung verschwinde sie aber und werde gewissermaßen direkt zur Lüge, zur »Fälschung«, dann kann eine Autobiografietheorie nach dem traditionellen Muster, das einen autobiografischen Pakt und damit die Garantie der Referenzialität voraussetzt, nicht mehr funktionieren.2 Und dieses Argument – es kann nur Lüge

Ebene, zu sprechen. Ein weiteres Argument für die Einheit der Bände könnte in ihrer Entstehungs- und Publikationsgeschichte gefunden werden, wie sie etwa der Briefwechsel zwischen Bernhard und seinem Verleger Siegfried Unseld verdeutlicht: Dort ist von den autobiografischen Bänden immer wieder im Sinne eines zusammenhängenden Vorhabens die Rede; auch die Tatsache, dass die Bände schließlich (im Gegensatz zum sonstigen Werk) nicht bei Suhrkamp, sondern als »Neben-Werk« (so Unseld Bernhard zitierend) im Salzburger Residenz-Verlag erschienen, scheint für den Zusammenhang der Einzelteile zu sprechen. Vgl. hierzu Thomas Bernhard/Siegfried Unseld: Der Briefwechsel. Hg. v. Raimund Fellinger, Martin Huber u. Julia Ketterer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, das Zitat S. 503 (Mai 1976), sonst etwa S. 274 (Mai 1972: »Plan zu autobiographischen Aufzeichnungen, die zunächst unter dem Titel Erinnern zwischen Th. B. und S. U. besprochen werden«), vgl. ebd., S. 281, Unseld an Bernhard, 02.08.1972 (»Bibliothek Suhrkamp ›Erinnern‹«), u. S. 300, Unseld an Bernhard, 09.10.1972 (»wir haben vereinbart, daß wir […] im September 1973 einen Band ›Erinnern‹ ankündigen.«). Nach dem Erscheinen von Ein Kind schreibt Bernhard, die Spannung zwischen Ganzheit und Einzelteilen des autobiografischen Projekts wahrend: »Inzwischen habe ich meine ›Biografie‹ abgeschlossen mit einem fünften Teil, […] der, wie das Ganze, ›Ein Kind‹ heisst.« (Ebd., 17.12.1981, S. 644.) 2

Interessant ist, inwiefern hier ein entscheidendes Gegenargument zu der autobiografietheoretischen These, nur der Autobiograf könne sich selbst gerecht werden (wie sie etwa von Gusdorf vertreten wird, vgl. Kap. 1.1.3), deutlich wird: Aus der Perspektive von Der Keller ist es eben gerade nicht so, dass der Autobiograf sich selbst gerecht werden könnte: Als Schreibender ist er in dieser Optik ontologisch unfähig, die Wahrheit zu berichten. – Trotz dieser Reflexion im Text ist Bernhards Autobiografie häufig ausgehend von klassischen theoretischen Annahmen gelesen worden, etwa der Vorstellung folgend, sie verhandle im Sinne einer »Bewältigung« die »Wahrheit der gestalteten Erfahrungen, mit ihrer existenziellen Aufrichtigkeit«, so Urs Bugmann: Bewältigungsversuch. Thomas Bernhards autobiographische Schriften. Bern u.a.: Lang 1981, S. 18. Als »Suche nach der geistigen Identität« im Sinne Pascals und »Selbsterforschung« des Autors liest Cho die Texte: Hyun-Chon Cho: Wege zu einer Widerstandskunst im autobiographischen Werk von Thomas Bernhard. Frankfurt a.M.: Lang 1995, S. 35 u. 213. Den

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DIE ENTGEGENGESETZTE

R ICHTUNG «: T HOMAS B ERNHARD

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mitgeteilt werden – ist auch nicht durch eine andere Theorieströmung zu beseitigen, die darauf hinweist, in der Autobiografie werde eine Inszenierung des Autors geboten, der eben nicht darstelle, wie etwas wirklich gewesen sei, sondern sich analog einer Romanfigur selbst entwerfe bzw. eine innere Wahrheit abbilde, die zwar nicht die Fakten, aber doch seine Sicht der Dinge ausgehend von konkreten Intentionen spiegle.3

Abgleich mit der Wirklichkeit legt auch Damerau nahe: Burghard Damerau: Selbstbehauptungen und Grenzen. Zu Thomas Bernhard. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, hier S. 399. Szendi spricht in Bezug auf die Werke von »Bekenntnisliteratur«: Zoltán Szendi: Das Ich und seine nahen Verwandten. Zu Thomas Bernhards autobiographischem Zyklus. In: ders.: Durchbrüche der Modernität. Studien zur österreichischen Literatur. Wien: Praesens 2000, S. 134–144, hier S. 134. 3

Das Inszenierungsparadigma erfreut sich in der Bernhard-Forschung, vermutlich aufgrund der markanten Präsenz des Autors in medialen Zusammenhängen und der im Folgenden herauszuarbeitenden starken Erzählinstanzen der autobiografischen Texte, großer Beliebtheit. Vgl. etwa Willi Huntemann: Artistik und Rollenspiel. Das System Thomas Bernhard. Würzburg: Königshausen & Neumann 1990; Alexandra Ludewig: Grossvaterland. Thomas Bernhards Schriftstellergenese dargestellt anhand seiner (Auto-)Biographie. Bern u.a.: Lang 1999; Suitbert Oberreiter: Lebensinszenierung und kalkulierte Kompromißlosigkeit. Zur Relevanz der Lebenswelt im Werk Thomas Bernhards. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1999; Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Stuttgart/Weimar: Metzler 1995; ders.: »… ich hatte immer nur ich werden wollen«. Thomas Bernhards autobiographische Erzählungen. In: ders. u. Sabine Veits-Falk (Hg.): Thomas Bernhard und Salzburg. 22 Annäherungen. Salzburg: Jung und Jung 2001, S. 13–30; Olaf Kramer: Wahrheit als Lüge, Lüge als Wahrheit. Thomas Bernhards Autobiographie als rhetorisch-strategisches Konstrukt. In: Joachim Knape u. ders. (Hg.): Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 105–122. Im Inszenierungsparadigma wurzelnd, letztlich aber z. T. darüber hinausgehend: Eva Marquardt: Gegenrichtung. Entwicklungstendenzen in der Erzählprosa Thomas Bernhards. Tübingen: Niemeyer 1990. In Anerkennung von Bernhards Referenzkritik: Roman Halfmann: Darsteller, Regisseur und Kritiker: Thomas Bernhards Trias – Ein biographischer Versuch in Zeiten der Postmoderne. In: Franciszek Grucza (Hg.): Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Bd. 8. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2012, S. 193–197. Vgl. schließlich in Bezug auf die Interviews von Bernhard Clemens Götze: »Die Ursache bin ich selbst!« Thomas Bernhards inszenierte Autorschaft am Beispiel seiner (Film-)Interviews. In: Johann Georg Lughofer (Hg.): Thomas Bernhard. Gesellschaftliche und politische Bedeutung der Literatur. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2012, S. 357–371.

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Es stellt sich also vom Text ausgehend die Frage, auf welche Weise das hier vorgeführte autobiografische Subjekt entsteht und mit welchen Mitteln es im Text zum Vorschein kommt, da die Konzepte des autobiografischen Pakts und der Inszenierung keine aus dem Text begründbaren Erkenntnisse hinsichtlich eines derartigen Subjekts zulassen.4 4.1.1 Zur narratologischen Bestimmung des Erzählersubjekts in Der Keller Dass in Bernhards Text ein Subjekt in Erscheinung tritt, ist nicht zu leugnen. Mit großer Deutlichkeit wird es in den Mittelpunkt des Textes gestellt, etwa wenn über Seiten hinweg von einem »Ich« oder »Wir« die Rede ist. So heißt es – stark gekürzt – im direkten Anschluss an die oben zitierte Passage: Wir beschreiben einen Gegenstand und glauben, wir haben ihn wahrheitsgemäß und wahrheitsgetreu beschrieben, und müssen feststellen, es ist nicht die Wahrheit. Wir machen einen Sachverhalt deutlich, und es ist nicht und niemals der Sachverhalt, den wir deutlich gemacht haben wollen, es ist immer ein anderer. Wir müssen sagen, wir haben nie etwas mitgeteilt, das die Wahrheit gewesen wäre, aber den Versuch, die Wahrheit mitzuteilen, haben wir lebenslänglich nicht aufgegeben. Wir wollen die Wahrheit sagen, aber wir sagen nicht die Wahrheit. Wir beschreiben etwas wahrheitsgetreu […]. Wir müßten die Existenz als den Sachverhalt, den wir beschreiben wollen, sehen, aber wir sehen, so sehr wir uns bemühen, durch das von uns Beschriebene niemals den Sachverhalt. In dieser Erkenntnis hätten wir längst aufgeben müssen, die Wahrheit schreiben zu wollen, und also hätten wir das Schreiben überhaupt aufgeben müssen. […] Die Wahrheit, die wir kennen, ist logisch die Lüge, die, indem wir um sie nicht herumkommen, die Wahrheit ist. […] Wir haben in unserer ganzen Leseexistenz noch niemals eine Wahrheit gelesen […]. Ich habe zeitlebens immer die Wahrheit sagen wollen, auch wenn ich jetzt weiß, es war gelogen.5

Narratologisch gesprochen haben wir es in diesen Aussagen mit einem homodiegetischen Erzähler zu tun, der durch diese Art der expliziten Äußerung in den Vordergrund der Erzählung geschoben wird. Thematisch ist diese auf die Vorgeschichte

4

Vgl. hierzu auch den kritischen Forschungsüberblick und eine ähnliche Diagnose bei Wendelin Schmidt-Dengler: »Auf dem Boden der Sicherheit und Gleichgültigkeit«. Zu Thomas Bernhards Autobiographie ›Der Keller‹. In: Klaus Amann u. Karl Wagner (Hg.): Autobiographien in der österreichischen Literatur. Von Franz Grillparzer bis Thomas Bernhard. Innsbruck: Studien-Verlag 1998, S. 217–240.

5

Bernhard: Die Autobiographie, S. 135 f. Hervorhebungen im Original.

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des Erzählers zentriert, »Held« und Protagonist ist also eine Figur, die mit dem Erzähler identisch ist, der »weit über drei Jahrzehnte«6 später sein jugendliches Ich in den Blick nimmt – demnach wäre hier von einer »autodiegetischen«7 Erzählsituation zu sprechen, die Gérard Genette in seinem Discours du recit immer wieder auch einfach als »autobiographisch«8 benennt. Die Frage der Erzählstimme, wie sie Genette stellt, ist also auf den ersten Blick relativ leicht zu beantworten. Schwieriger gestaltet sich indes die von denselben Rahmenbedingungen ausgehende Frage nach dem Modus der Erzählung, spezifischer: die nach ihrer Fokalisierung. Genettes Fokalisierungsbegriff setzt voraus, dass zwischen Erzählinstanz und Figur stets getrennt werden kann, basieren die unter dem Oberbegriff »Fokalisierung« abgehandelten Differenzierungen doch jeweils auf den Wissens- oder Informationsunterschieden zwischen Erzählinstanz und Figur. Die Nullfokalisierung ist, wie Genette in Anlehnung an Todorov definiert, dort anzusetzen, wo »der Erzähler […] mehr weiß als die Figur«, während die interne Fokalisierung dadurch bestimmt ist, dass der »Erzähler […] nicht mehr [sagt], als die Figur weiß«.9 Die notwendige Trennung zwischen Erzähler und Figur, die auch im Fall der autodiegetischen Erzählung unverzichtbar ist, will man mit der Kategorie der Fokalisierung operieren, hat man in der Geschichte der Erzähltheorie durch eine zeitliche und erkenntnistheoretische Differenzierung in den Griff zu bekommen versucht, nämlich die Unterscheidung zwischen erzählendem und erlebendem bzw. erzähltem Ich.10

6

Bernhard: Die Autobiographie, S. 131. – Vor dem Hintergrund einer referenziellen Bindung der Autobiografie an das Leben des Autors korrigiert der Kommentar zur Autobiografie, dass es sich um einen Zeitraum von unter 30 Jahren gehandelt habe, der zwischen der Tätigkeit des Autors in der Scherzhauserfeldsiedlung und seinem Niederschreiben von Der Keller gelegen habe. Wie oben bereits am Beispiel von Dichtung und Wahrheit beobachtet, verfährt auch diese Ausgabe im Kommentarteil dem klassischen Autobiografieparadigma entsprechend. Vgl. ebd., S. 577.

7

Genette: Die Erzählung, S. 176.

8

Vgl. etwa Genette: Die Erzählung, S. 141.

9

Genette: Die Erzählung, S. 134.

10

Dass Genette für viele Fälle an dieser sachlichen Differenzierung festhält, wird in Die Erzählung deutlich. Vgl. ebd., S. 138 u. 141 f. – Zum Ursprung der Begrifflichkeit vgl. Leo Spitzer: Zum Stil Marcel Prousts. In: ders.: Stilstudien. 2 Bde., München: Hueber 2

1961 (zuerst: 1928), Bd. 2, S. 365–497, hier S. 448 f. Vgl. auch die Verwendung des

Begriffs bei Franz K. Stanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman. Dargestellt an »Tom Jones«, »Moby-Dick«, »The Ambassadors«, »Ulysses« u.a. Wien/Stuttgart: Braumüller 1955, S. 61 f., sowie ders.: Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 41989 (zuerst: 1979), z.B. S. 258–294. Auch wenn das Problem hier

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Diese Aufspaltung erscheint Genette jedoch im Nachhinein für manche Fälle problematisch, wie der Nouveau discours du recit, also Genettes Auseinandersetzung mit Kritik an seinem Werk, verdeutlicht. Auch für den vorliegenden Fall lässt sich sagen, dass hier die Differenzierung zwischen einem erzählenden und einem erlebenden Ich, was die Wissensunterschiede angeht, an manchen Stellen ins Leere läuft. So liegt ja beispielsweise in der oben angeführten Erzählerrede der entscheidende Punkt darin, dass eben kein wirklicher Wissensunterschied angesetzt werden kann: Mit Begriffen und Wendungen wie »nie«, »niemals«, »lebenslänglich« oder »zeitlebens« wird deutlich gemacht, dass auf beiden Zeitstufen sowohl der Wille zur Wahrheit als auch das Bewusstsein von deren Unmöglichkeit angesetzt werden müssen – das erzählende Ich postuliert gewissermaßen eine zeitlose ›Wahrheit‹ über das Schreiben der Wahrheit, die auch die Zeitstufe, auf der das erlebende Ich angesiedelt ist, mit einschließt. Die Erzählinstanz arbeitet mit großem Einsatz da-

in ähnlicher Weise erfasst und als bedeutsam erkannt wird, macht Stanzel keine Vorschläge zum analytischen Umgang mit einer Erzählsituation, in der erzählendes und erlebendes Ich als kaum trennbar erscheinen, gibt allerdings Hinweise zu den »existentiellen Fäden«, die die beiden Instanzen aneinander binden. Zu den angeführten Fällen besonderer Nähe, die »Konfusion, Chaos und Orientierungslosigkeit« in den Erzählvorgang bringe, scheint der vorliegende Text Bernhards nicht zu passen (vgl. ebd., S. 272 f.). – Eberhard Lämmert behauptet zu pauschal, der »Wechsel von Handlungsund Erzählergegenwart« sei grundsätzlich leicht zu erschließen durch eine »einfache und stets einhellig durchführbare Beobachtung dieses Wechsels der Zeitschichten«. Er nimmt die Trennung zwischen »begrenzter Perspektive« der Figur und der Perspektive eines »den gesamten Ablauf des Geschehens von späterer Warte« übersehenden Erzählers demzufolge als unproblematisch wahr, Differenzierungen werden diesbezüglich nicht gemacht (vgl. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart: Metzler 1955, hier S. 72). – Ansgar Nünning lehnt das entsprechende Begriffspaar ab, unter anderem weil diese Begriffe den »sog. ›Ich-Roman‹ zu stark an das Schema der Autobiographie« bänden und die in Ersterem vorhandene Vielfalt der erzählerischen Möglichkeiten verdunkeln würden. Dass es jedoch gerade auch innerhalb der vermeintlich homogenen Gruppe von Texten, die hier unter »Autobiographie« gefasst werden, deutliche Differenzen in der Gestaltung des Verhältnisses Erzählinstanz/Figur geben kann, kommt so nicht in den Blick; dabei zeigt sich, dass sich Autobiografie und Ich-Roman narratologisch nicht voneinander abgrenzen lassen, eine Konsequenz, die Nünning – man möchte fast sagen: überraschenderweise – nicht zieht (vgl. Ansgar Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung. Die Funktionen der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots. Trier: WVT 1989, S. 46).

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ran, die Differenz zwischen einem vermeintlich geringeren Wissensstatus des Helden und einem größeren Wissen der Erzählinstanz einzuebnen, indem die Diagnose der Unmöglichkeit, die Wahrheit zu schreiben, ins Überzeitliche gerückt wird. Das geschieht wohlgemerkt nicht in der Weise eines nicht narrativen Reflexionseinschubs, sondern in der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte und also mit dem Helden, dem immer wieder zugeschrieben wird, das diskutierte Wissen schon gehabt zu haben, etwa wenn es heißt: »Wir haben in unserer ganzen Leseexistenz noch niemals eine Wahrheit gelesen, auch wenn wir immer wieder Tatsachen gelesen haben«, oder »Die Vernunft hat es mir schon lange verboten, die Wahrheit zu sagen und zu schreiben, weil damit doch nur eine Lüge gesagt und geschrieben ist, aber das Schreiben ist mir die Lebensnotwendigkeit«.11 Auch das Wissen um den der Scherzhauserfeldsiedlung zugeschriebenen Ausgrenzungscharakter wird keineswegs als nachträgliche Einordnung durch den Erzähler präsentiert, sondern es wird bereits dem erlebenden Ich zugeschrieben12 – auffälligerweise

11

Bernhard: Die Autobiographie, S. 136. – An anderen Stellen, etwa wenn es um konkrete Erinnerungsvorgänge geht, gelingt die Trennung zwischen den beiden Instanzen ohne Schwierigkeiten: »Eine kurze Zeitungsnotiz hat in meinem Kopf wieder in Gang gebracht, was vor langer Zeit in meinem Gedächtnis zum Stillstand gekommen war, den Erinnerungsmechanismus, die Scherzhauserfeldsiedlung betreffend« (ebd., S. 137).

12

Mit der klaren zeitlichen Zuordnung zum erlebenden Ich beginnt eine mehrseitige Schilderung des Ansehens der Scherzhauserfeldsiedlung: »[Ich] rannte aus dem Arbeitsamt hinaus auf die Gaswerkgasse und hinüber in die Scherzhauserfeldsiedlung, die mir bis zu diesem Zeitpunkt nur der Bezeichnung nach bekannt gewesen war als das Salzburger Schreckensviertel« (Bernhard: Die Autobiographie, S. 127; Hervorhebung im Original). Am Ende dieser Passage, nachdem die öffentliche Wahrnehmung der Scherzhauserfeldsiedlung als »Schmutz- und Schandfleck« (ebd., S. 131) und die davon ausgehenden Folgen für das Selbstbild der Siedlungsbewohner vom hier fokalen Helden reflektiert worden sind, folgt der markierte Wechsel in die Erzählgegenwart (»Auch heute, weit über drei Jahrzehnte nach meiner Tätigkeit in der Scherzhauserfeldsiedlung«; ebd.), in der es, wie festgestellt wird, genauso aussieht, weshalb die weitere Würdigung der Siedlung, ohne dass grundlegende Änderungen in der Art der Bewertung feststellbar wären, fortgeführt wird und schließlich in ein poetologisch zu lesendes Bekenntnis zum Versuch, die Wahrheit zu schreiben, mündet (vgl. ebd., S. 133). Durch die gleichbleibenden Bewertungsmuster unterläuft der Text hier die Trennung zwischen Erzähler-Ich und erzähltem Ich, zwischen denen – abgesehen von Spekulationen der Erzählinstanz über die anzunehmende Verschlimmerung der Zustände im Laufe der Zeit – keine Wissensdifferenzen ausgemacht werden können, wodurch die Kategorie der Fokalisierung infrage gestellt wird bzw. anders gefasst werden muss.

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wird die Siedlung sowohl im Zusammenhang mit der Figurenwahrnehmung als auch im Zusammenhang mit einer Reflexion des Erzählvorgangs durch eine Theorie der Ghetto- bzw. Lagerbildung erfasst.13 Und schließlich scheint bereits das erlebende Ich eine Erkenntnis zu haben, die für den Erzählvorgang der Autobiografie und dessen Reflexion konstitutiv ist; es erkennt nämlich, dass das Schildern eines glaubhaften Lebens mit der Rekombination von Erzählsegmenten zu tun hat, deren ›Wahrheit‹ zunächst einmal gar keine Rolle spielt – eine Erkenntnis, die genauso in den poetologischen bzw. erkenntnistheoretischen Erzählerreflexionen zum Schreiben der Wahrheit relevant wird.14 An anderen Stellen des Textes wird der nahtlose Übergang zwischen erlebendem Ich und erzählendem Ich geradezu im Text in seinem Vollzug dargestellt, wenn es zum Beispiel heißt:

13

So heißt es zunächst im ersten Teil der angesprochenen Passage dezidiert aus Sicht des Helden: »Als Verbrecherghetto bezeichnet, war die Scherzhauserfeldsiedlung immer die Siedlung gewesen, aus welcher nur das Verbrechen in die übrige Stadt kommen konnte« (Bernhard: Die Autobiographie, S. 131). Aber auch nach dem wie oben gezeigt markierten Übergang zur Reflexion der Erzählinstanz bleibt in gewisser Abwandlung dieses Bild erhalten, so ist dann die Rede von der »Siedlung, die an die sibirischen Straflager erinnerte, nicht nur wegen der Numerierung [sic] ihrer Blöcke« (ebd., 132).

14

Im Bericht über das Einleben des Helden in seiner neuen beruflichen Situation heißt es: »Hier durfte ich, was ich zuhause niemals durfte, mich ganz einfach in dem ganzen Reichtum meiner Phantasie gehen lassen, daß es der Scherzhauserfeldsiedlung entsprechend gewesen war, ist nicht verwunderlich. Einmal mit dem Mechanismus der häufigsten Unterhaltungssparten im Keller vertraut, hatte ich gewonnen, ich nützte den Reichtum meiner außergewöhnlichen Kombinationsgabe aus und stellte selbst die Abgebrühtesten in den Schatten. Die Jugend und der Charme des Jünglings, der ich damals gewesen war, dazu die Gabe eines fortwährend paraten, in allen Farben und Zwischenfarben schillernden Wortschatzes, ich war gemacht.« (Bernhard: Die Autobiographie, S. 141.) Dem Helden wird hier also die Erkenntnis zugeschrieben, dass die Herstellung eines Bildes vom eigenen Ich nicht mit dem Berichten realer Erfahrungen, sondern mit dem sprachlich möglichst geschickten Rekombinieren standardisierter Kommunikationspartikel zu tun hat – er betreibt hier eine Art Emplotment der eigenen Lebensgeschichte (vgl. hierzu auch unten Kap. 4.1.2). Genau das ist aber die Problemlage, von der auf der Ebene der Reflexion des autobiografischen Erzählens (wie gesehen, vgl. ebd., S. 133–135) ebenso ausgegangen wird – auch hier haben sich die Wertungsmaßstäbe des Ichs zwischen vermeintlichem Erlebens- und Erzählzeitpunkt nicht geändert, sodass die Frage der Fokalisierung in ihrer klassischen Form nicht zu beantworten ist.

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Ein solcher Störenfried bin ich zeitlebens gewesen, und ich werde immer der Störenfried sein und bleiben, als welcher ich immer von meinen Verwandten bezeichnet worden bin, schon meine Mutter hatte mich, seit ich zurückdenken kann, einen Störenfried genannt, mein Vormund, meine Geschwister, ich bin immer der Störenfried geblieben, in jedem Atemzug, in jeder Zeile, die ich schreibe.15

Die gesellschaftlichen Rollen des erlebenden und des erzählenden Ichs werden hier eins, Erzähler und Held sind nicht nur dieselbe, sondern eine in ihren Grundzügen zudem nicht veränderliche Person, was sich auch in den oben angesprochenen Reflexionen des Erzählens und der gesellschaftlichen Umgebung zeigt. Wenn man einen solchen Reflexionsstand aber bereits dem erlebenden Ich zurechnen kann und sich auf der Seite des erzählenden Ichs keine umfassenden Alterationen dieses Informationsstandes finden lassen, dann wird es (abgesehen von einigen gut erkennbaren zeitlich bedingten Erweiterungen) beinahe unmöglich, eine klare Grenze zwischen Erzähler- und Figurenwissen zu ziehen. Die Kategorie der Fokalisierung, die auf diesen von Bernhards Erzählung geleugneten bzw. aufwendig verwischten Wissensunterschieden aufbaut, gerät so ins Schwanken. Genette greift dieses Phänomen im Nouveau discours du recit auf. Er widmet sich dem Problem der autodiegetischen Erzählung hier erneut und gesteht ein, dass er für diesen Typ von Erzählung in seiner Beschreibung der Fokalisierungen, seinen sonstigen Begriffsapparat durchkreuzend, eine »Fokalisierung auf den Erzähler« angesetzt hat.16 Gemeint ist damit die Tatsache, dass wir es im Fall des Bernhard’schen Kellers mit einer homodiegetischen Erzählinstanz zu tun haben, die einerseits über die »Informationen des Helden im Moment der Geschichte«, andererseits aber gleichzeitig über »dessen spätere Informationen« zum Erzählzeitpunkt verfügt.17 Die Wahl einer homodiegetischen Erzählinstanz, die Ereignisse referiert, die ihre eigene Vorgeschichte betreffen, führt deshalb in manchen Fällen – und, so meine These, auch im vorliegenden Fall von Bernhards Keller – zu einer »Präfokalisierung«.18 Unter diesen Begriff fasst Genette eine Einschränkung der Informationsmenge insofern, als der mit dem Helden identische Erzähler nur solche Informationen haben kann, die er im Lauf seines Lebens erworben hat – die homodiegetische Erzählung aus der Vorgeschichte des Erzählers geht demnach »a priori«

15

Bernhard: Die Autobiographie, S. 133 f.

16

Vgl. Genette: Die Erzählung, S. 141, 145 u. 155; das Eingeständnis des Durchkreuzens in zumindest zweien der benannten Fälle: ebd., S. 243.

17

Genette: Die Erzählung, S. 244. Hervorhebung im Original.

18

Genette: Die Erzählung, S. 244. Hervorhebung im Original.

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mit einer »modalen Einschränkung« auf die interne Fokalisierung einher.19 Alle Informationen, die in einer solchen Erzählung gegeben werden, entsprechen also dem Figurenwissen zu unterschiedlichen Zeitpunkten, und wenn in der Erzählung selbst die Unterschiede zwischen Erzähler- und Figurenwissen nivelliert werden, was bei Bernhard wie gezeigt der Fall ist, verschwimmen die Fokalisierung »auf die Figur« und die »auf den Erzähler« – also die Nullfokalisierung – und werden an manchen Stellen ununterscheidbar. Genette problematisiert damit für bestimmte Fälle die traditionelle narratologische Definition autobiografischen Erzählens, die an der Unterscheidung zwischen erzählendem und erlebendem (bzw. erzähltem) Ich und den unterschiedlichen Wissensständen dieser beiden Instanzen ansetzt – eine Differenzierung, die beispielsweise im Falle von Dichtung und Wahrheit gut funktioniert (und es ermöglicht, zwischen einer am erzählenden Ich orientierten Nullfokalisierung und einer die Informationsvergabe an der Position des erlebenden Ichs orientierenden internen Fokalisierung relativ trennscharf zu unterscheiden).20 Im Fall von Der Keller jedoch trifft die Infragestellung dieser Differenzierung, wie sie Genette hier vornimmt, einen wichtigen Punkt: Denn die Trennung zwischen beiden Positionen ist vielfach nicht eindeutig möglich, da sich die Erzählung darum bemüht, einen bruchlosen Übergang zwischen erzähltem und erzählendem Ich nahezulegen, was dazu führt, dass die analytische Aufspaltung der autobiografischen Instanz auf zwei verschiedene Wissenslevel häufig nicht funktioniert. Das hat auch zur Folge, dass uns leserseitig nichts anderes übrig bleibt, als die »Präfokalisierung« auf das autobiografische Ich, also die Koppelung des Wissensstandes der Erzählinstanz an das Wissen eines von ihr nicht trennscharf zu unterscheidenden »Helden«, zu akzeptieren und als logische Prämisse der Erzählung die Annahme anzusetzen, dass diese intern fokalisiert ist – Nullfokalisierung und interne Fokalisierung fallen, wenn die Trennung zwischen Held und Erzählinstanz nicht möglich ist, zusammen. Wenn man so will, könnte man von einer Überlagerung der tatsächlichen internen Fokalisierung auf den Helden durch die (ebenfalls ›interne‹) Fokalisierung auf die Erzählinstanz, also den Helden als Erzähler, sprechen. Die gegebenen Informationen tragen so stets den Index des Subjektiven, sie sind permanent als Informationen ausgewiesen,

19

Genette: Die Erzählung, S. 244.

20

Wie Genette zeigt, leistet sie auch für das Verständnis und die Analyse von Prousts Recherche gute Dienste, weshalb er zu der Folgerung kommt, dass »die Fokalisierung auf den Helden« eben nicht »durch die autobiographische Form erzwungen« werde, sondern dass es sich bei dieser »weit verbreiteten Vorstellung« um ein Resultat einer »ebenso weit verbreiteten Vermengung der beiden Instanzen« Erzähler und Held handle. Vgl. Genette: Die Erzählung, S. 145.

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die dem Wissensstand des Ichs entsprechen – die Häufung von Personalpronomen in der ersten Person unterstreicht das –, wobei oft nicht deutlich wird, ob es sich um nachträgliche Erweiterungen durch den inzwischen gealterten Helden als Erzähler oder um die Bewertungen und den Informationsstand des (›jungen‹) Helden als Figur der Erzählung handelt. Durch die derartige »Präfokalisierung« der Erzählung entsteht eine erzählte Welt, die gewissermaßen ›autistisch‹ nur von der Darstellung einer Figur (die gleichzeitig Erzähler ist) abhängig ist und in der dementsprechend andere Stimmen und Diskurse kaum zu Wort kommen – die präfokalisierte Erzählinstanz fungiert als nicht zu umgehender Informationsfilter, der die Welt der Geschichte nur aus einer immer gleichen Sicht präsentiert. Mit dem Begriff Michail Bachtins ließe sich von einer monologischen Erzählung sprechen, die das Zur-Geltung-Kommen anderer Stimmen so gut es geht auszuschließen versucht.21 Wenn man noch weiter geht und die Tatsache anrechnet, dass die Erzählinstanz die Wurzel dieses narrativen Systems bildet, könnte man sogar sagen, dass der Text auch das Zu-Wort-Kommen seines Helden verhindert: Die Macht der Rede hat nur derjenige Anteil des Ichs, der mit der Erzählung betraut wird – er »schreibt« auch das Ich, das erlebt und selbst

21

Natürlich behält auch eine solche Erzählung die grundlegende Dialogizität, die sich in der Sprache findet, bei; die für das »Wort im Roman« geltende weitergehende Dialogizität, die aus der Divergenz von »fiktivem Autor« – wie Bachtin den Erzähler nennt – und Held entsteht, wird hier jedoch minimiert. Folgt man der Darstellung Julia Kristevas, ließe sich von einer spezifischen Form der Selbstzensur sprechen, die die Dialogizität des Textes zu minimieren versucht, indem sie eine einzelne Stimme künstlich privilegiert. Vgl. hierzu: Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 360 (siehe auch Kap. 2.3); Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman [1934/1935]. In: ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. u. eingeleitet v. Rainer Grübel. Aus dem Russ. übersetzt v. Rainer Grübel u. Sabine Reese. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 154–300, hier insb. S. 154–191. Vgl. zum Verhältnis Autor (Erzähler)/Held als Wurzel der spezifischen Dialogizität des Romans außerdem Michail M. Bachtin: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit [1941]. Hg. v. Rainer Grübel, Edward Kowalski u. Ulrich Schmidt. Aus dem Russ. v. Hans-Günter Hilbert u.a. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Zur Wahrnehmung der Autobiografie als einer Form, die tatsächlich nur ein reduziertes Maß an Dialogizität ermögliche, vgl. ebd., S. 211–228. – Auf den monologischen Charakter der autobiografischen Texte Bernhards verweist auch bereits Bianca Theisen: Im Guckkasten des Kopfes. Thomas Bernhards Autobiographie. In: Franziska Schößler u. Ingeborg Villinger (Hg.): Politik und Medien bei Thomas Bernhard. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 246–265, hier S. 247.

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nicht zur Sprache kommt.22 Das im Text gestaltete Subjekt wird so – trotz der auf den ersten Blick betonten Relevanz des eigenen Erlebens – schließlich deutlich als »geschriebenes« Subjekt ausgewiesen, das mit dem erlebenden Subjekt nicht in eins zu setzen ist.23 In der Auseinandersetzung mit Bernhards Text werde ich im Folgenden diese Diagnosen zu untermauern versuchen.

22

Insofern wäre einer Interpretation zu widersprechen, die den Akzent auf »die SelbstKlärung des späten, schreibenden Bernhard über den frühen, erleidenden« legt: Tatsächlich ist dieses Moment der Selbstklärung in dem Maße in den Hintergrund gedrängt, wie auch die erlebende Instanz in der Autobiografie durch diese Erzählhaltung marginalisiert wird (ferner wäre an der Deutung ihr referenzieller Kurzschluss von der Erzählinstanz auf die Autorperson zu kritisieren). Vgl. zu dieser Deutung Willi Huntemann: »Treue zum Scheitern«. Bernhard, Beckett und die Postmoderne. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Thomas Bernhard. Ed. Text+Kritik. München 31991, S. 41–74, hier S. 50. – Oliver Jahraus kommt zu dem Schluss, dass angesichts dessen die Subjektbildung in Bernhards Texten scheitere – eine Diagnose, die so aus meiner Sicht nicht zu teilen ist und nur Bestand hat auf Grundlage eines zu engen Subjektbegriffs, wie ihn Jahraus in der engen Verbindung von Kommunikation und Bewusstsein ansetzt. Auf den Text bezogen (und hinsichtlich der Produktion eines Subjektbildes auf textueller Ebene) gelingt Bernhard sehr wohl eine klare Positionierung des schreibenden Ichs. Vgl. Oliver Jahraus: Die Geburt der Kommunikation aus der Unerreichbarkeit des Bewußtseins. In: Alexander Honold u. Markus Joch (Hg.): Thomas Bernhard. Die Zurichtung des Menschen. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 31–42.

23

Während diese Ausgestaltung der Erzählinstanz und ihrer Fokalisierung im Rahmen der als autobiografisch bezeichneten Bände von Bernhards Werk weitgehend auch für Der Atem und Die Kälte gilt, weichen die narrativen Gestaltungen von Die Ursache und Ein Kind hiervon ab: Die Ursache ist geprägt von einer anfänglichen Aufspaltung zwischen Held und homodiegetischer Erzählinstanz, die als Schriftsteller auf ihr Jugendleben zurückblickt, sich selbst als Jugendlichen aber (in daher deutlicher Trennung zwischen erlebender und erzählender Instanz) in der dritten Person anspricht (vgl. etwa Bernhard: Die Autobiographie, S. 12 f.; Hervorhebungen im Original: »Der Dreizehnjährige ist plötzlich, wie ich damals empfunden (gefühlt) habe und wie ich heute denke, […] mit vierunddreißig Gleichaltrigen in einem schmutzigen und stinkenden […] Schlafsaal im Internat in der Schrannengasse zusammen […]«). Im Verlauf der Erzählung über die Zerstörung Salzburgs durch alliierte Luftangriffe wird diese Trennung zunächst zugunsten eines »Wir« der Internatsschüler aufgegeben und in der Folge finden sich zunehmend Ansätze der dann in Der Keller dominant werdenden Erzählsituation. Ein Kind, fünfter und letzter Band der Reihe, ist zwar als durchgehend homodiegetische Erzählung angelegt, verfolgt jedoch nicht im gleichen Maße die Monologisierung des erzäh-

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4.1.2 Die Deutungshoheit des Autobiografen. Das Schreiben des Subjekts in Bernhards Der Keller Ein übergreifendes Thema, in das die zu Anfang dieses Kapitels angerissene Diskussion über die Wahrheit einer autobiografischen Schilderung eingebettet ist, ist das Thema der persönlichen Entwicklung des Helden, die vor allem durch eine Positionierung »in der entgegengesetzten Richtung«24 geprägt ist. Der Weg des Helden in die »entgegengesetzte Richtung« führt nicht mehr in Richtung des Gymnasiums, der »Hohe[n] Schule des Bürger- und des Kleinbürgertums«,25 in Richtung einer traditionellen Bildungslaufbahn, die von den gesellschaftlichen Institutionen gebilligt wird und dem Lernenden einen Platz innerhalb der Gesellschaft sichert. Die Entscheidung für eine Lehrstelle im Lebensmittelgeschäft des Herrn Podlaha, dem sogenannten Keller, sinnfällig als Umkehr oder ›Wende‹ des Helden auf seinem Weg zum Gymnasium präsentiert,26 führt in die Gegend, die von diesen Institutionen als das radikal Ausgeschlossene, ihr zur eigenen Selbstdefinition dienende Gegenteil angesehen wird, als »Hohe Schule der Außenseiter und Armen«.27 Die Differenz zwischen beiden Welten sieht der Erzähler in ihrem Bezug zu anderen:

lenden Ichs, sondern wechselt stärker zwischen der internen Fokalisierung des Kindes (dem jedoch wenig kindgerechte Reflexionen zugeschrieben werden) und einer abgeklärteren Übersicht, wodurch sich der Eindruck einer weniger als in Der Keller und den beiden folgenden Bänden auf die Abschirmung der Erzählinstanz gegen die Außenwelt gerichteten Erzählweise ergibt. 24

Bernhard: Die Autobiographie, S. 113.

25

Bernhard: Die Autobiographie, S. 113.

26

Diese Präsentation als ›Wende‹ im wörtlichen Sinn lädt dazu ein, Bernhards Text vor dem Hintergrund der existenzialistischen Philosophie Jean-Paul Sartres zu lesen, in der die ›Wende‹ als Durchbruch zu einer eigentlichen Existenzform symbolisch stark aufgeladen ist. Vgl. hierzu Walter Wagner: Aspekte des französischen Existenzialismus in Thomas Bernhards Autobiografie. In: Martin Huber, Bernhard Judex u. Manfred Mittermayer (Hg.): Thomas-Bernhard-Jahrbuch 2009/2010, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, S. 95–106.Vgl. auch die Deutung dieser ›Wende‹ als zentrales Stilisierungsmerkmal in Der Keller, das die Unentwirrbarkeit von Erinnern und Erfinden symbolisiere, bei Eva Marquardt: ›Ist es ein Roman? Ist es eine Autobiographie?‹ »Erfinden« und »Erinnern« in den autobiographischen Büchern Thomas Bernhards. In: Joachim Knape u. Olaf Kramer (Hg.): Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 123–133, hier S. 130 f. – Das Konzept der Wende als zentrales Motiv der autobiografischen Schriften insgesamt wird weiterverfolgt im Kap. 4.2.

27

Bernhard: Die Autobiographie, S. 113.

164 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE Ich war jahrelang in eine Lernfabrik gegangen und war an einer Lernmaschine gesessen, die meine Ohren taub und meinen Verstand zu einem verrückten gemacht hatten, jetzt war ich aufeinmal wieder mit Menschen zusammen, die von dieser Lernfabrik gar nichts wußten und die von dieser Lernmaschine nicht verdorben waren, weil sie mit ihr nicht in Berührung gekommen waren.28

Das Gegenstück, die »entgegengesetzte Richtung« zu der Lernfabrik, in der keine Menschen gebildet werden, sondern taube und verrückte Produkte entstehen, ist ein Ort, an dem der »unmittelbare[ ] direkte[ ] Zugang zu Menschen«29 möglich ist – sich mit dieser reale Erfahrungen ermöglichenden Welt zusammenzuschließen, ist dem Erzähler-Helden die letzte Alternative zum Selbstmord.30 Der reale Zugang zum anderen hat in der Welt des Gymnasiums gefehlt, in der der Held »jahrelang in Büchern und Schriften und unter Köpfen existiert [hatte], die nichts anderes als Bücher und Schriften gewesen waren«31 – einer Welt, die durch die Mauer der Schrift von der menschlichen Erfahrung getrennt ist, und zwar in einem solchen Maße, dass selbst die »Köpfe« dort »nichts anderes als Bücher und Schriften« sind. Zunächst werden also zwei Sphären modelliert, die in ihrem Zugang zur Welt diametral entgegengesetzt sind: Hier die (gesellschaftlich positiv konnotierte) Welt der Schrift, in der eine diskursive Bildung vermittelt wird, die fern von jeder Erfahrung ist und einen besonderen Typus des »Kunstmenschen«32 hervorbringt – »in der

28

Bernhard: Die Autobiographie, S. 115 f.

29

Bernhard: Die Autobiographie, S. 116 f.

30

Vgl. Bernhard: Die Autobiographie, S. 114 f. – Die Stelle unterstreicht abermals das Bemühen, einen bruchlosen Übergang ohne relevante Wissensunterschiede zwischen Helden- und Erzähler-Ich zu präsentieren (Hervorhebung: RWJ): »Zwei Möglichkeiten hatte ich gehabt, das ist mir auch heute noch klar, die eine, mich umzubringen, wozu mir der Mut fehlte, und/oder das Gymnasium zu verlassen, von einem Augenblick auf den andern, ich hatte mich nicht umgebracht und war in die Lehre. Es ging weiter.« – Die Reflexion des Selbstmordes spielt auch in den anderen Teilen der Autobiografie eine große Rolle, zunächst in den Gedanken des ausgegrenzten Jugendlichen in Die Ursache (vgl. ebd., S. 13–22) und schließlich in den Gesprächen zwischen dem Achtjährigen und seinem Großvater in Ein Kind, in denen die Möglichkeit des Selbstmords als »der einzige tatsächlich wunderbare Gedanke« (ebd., S. 422) herausgestellt wird, der die Freiheit des Einzelnen dokumentiert, aus den ihn bedrückenden Umständen aussteigen zu können.

31

Bernhard: Die Autobiographie, S. 117.

32

Bernhard: Die Autobiographie, S. 184. In pejorativem Sinne ist dort alternativ auch vom »Kunstgewerbemenschen« die Rede.

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entgegengesetzten Richtung« eine (von der Gesellschaft als das ausgeschlossene andere definierte) Welt der Erfahrung, in der nicht nur der Kontakt mit Gegenständen des täglichen Lebens, sondern auch mit Menschen in einem emphatischen Sinn des Wortes möglich wird. Für diese Menschen gibt es »keine Rettung«, sie sind krank, begehen »die furchtbarsten Verbrechen« und haben – wohl entgegen den Schrift-Köpfen der anderen Sphäre – vor allem teil an einem zwar sinnlosen, aber die Grenzen des Lebens permanent erfahrenden Kreislauf von Werden und Vergehen: »Sie machten in ihrem Wahnsinn Kinder und töteten diese Kinder in ihrer fortgeschrittenen Verblödung als Folge ihrer latenten Verzweiflung.«33 Die räumliche Codierung dieser Sphären ist ganz eindeutig: Die bürgerliche Sphäre, die gleichzeitig über ihre Institutionen – neben dem Gymnasium etwa das Arbeitsamt34 und die für die bauliche Planung Salzburgs verantwortlichen »Stadtväter«35 – Diskursmacht beansprucht und ausübt, hat ihr Zentrum in der »Stadtmitte«,36 die antibürgerliche Sphäre der Außenseiter liegt topografisch »in der entgegengesetzten Richtung« außerhalb der eigentlichen Stadt, »genau in dem Abstand von ihr, der notwendig erschien, […] in diese Wiesen hineingebaut, […] gerade so weit weg, daß sie nicht damit konfrontiert wurde«.37 Das bringt es mit sich, dass der Erzähler und Held von Anfang an Assoziationen eines »Verbrecherghetto[s]«,38 eines »Straflager[s]«,39 vom »Verzweiflungsghetto« oder »Beschämungsghetto«40 bzw. eines »Aussätzigenlagers«41 formuliert – die Siedlung, in der die leidgeprägten, mit der Gewalt der Verhältnisse konfrontierten Menschen leben, ist der Gegenort, der sowohl institutionell als auch diskursiv ausgeschlossen wird. Dementsprechend fungiert er als Dispositiv, das die dort lebenden Menschen daran hindert, aus der ihnen zugewiesenen Außenseiterposition auszubrechen, ja sie sogar durch »jahrzehntelange[ ] Anschuldigung und Verächtlichmachung« dazu bringt, dass sie »mit der Zeit selbst daran glauben, daß sie seien, als was man sie bezeichnete, ein Verbrechergesindel«42 – der Bewohner der Siedlung »übernimmt die

33

Bernhard: Die Autobiographie, S. 135.

34

Vgl. Bernhard: Die Autobiographie, S. 120–124.

35

Bernhard: Die Autobiographie, S. 130.

36

Vgl. Bernhard: Die Autobiographie, S. 120 (Arbeitsamt); »Mitte der Stadt« (Gymnasium; ebd., S. 113).

37

Bernhard: Die Autobiographie, S. 132.

38

Bernhard: Die Autobiographie, S. 131.

39

Bernhard: Die Autobiographie, S. 132.

40

Bernhard: Die Autobiographie, S. 137.

41

Bernhard: Die Autobiographie, S. 138.

42

Bernhard: Die Autobiographie, S. 131. Hervorhebung im Original.

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Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung«.43 Die mit diskursiven Mitteln vorgenommene topografische Aufteilung des Lebensraums in eine positiv codierte Stadt und einen negativ als Lager codierten Siedlungsraum bringt so dieselben Effekte hervor, wie sie der eben zitierte Michel Foucault für den panoptischen Gefängnisbau des ausgehenden 18. Jahrhunderts formuliert hat. Foucault legt auf einen Punkt besonderes Gewicht: Der Insasse des klar institutionell abgegrenzten Lagers »ist Objekt einer Information, niemals Subjekt in einer Kommunikation«44 – und das ist auch in Bezug auf die Scherzhauserfeldsiedlung und ihre Bewohner festzustellen. Ihnen wird die eigene Rede entzogen, indem ihnen, den der Schrift und der Sprache des Leitdiskurses fernstehenden Menschen, durch die Anlage der Siedlung und ihre diskursive Bewertung und Festlegung die Deutung des leitenden Diskurses eingeprägt wird. Wenn sie sich schließlich selbst als »Verbrechergesindel« wahrnehmen, sind sie keine Subjekte der Kommunikation, sondern einem sie prägenden, sie gewissermaßen zu- oder abrichtenden Diskurs unterworfen. Der Text präsentiert jedoch die Unfähigkeit dieser Menschen, ihr Dasein selbstständig in der Sprache des Leitdiskurses zu fassen, zunächst einmal als befreiendes Moment für den Helden. Die hier gesprochene Sprache ist gegenüber der entleerten, bürokratisierten Sprache der Institutionen, die den Helden von der Schule vertrieben hat, eine »intensivere, deutlichere Sprache«,45 die ihre Deutlichkeit, so kann man mutmaßen, daraus bezieht, dass sie in enger Verbindung mit dem alltäglichen Leben »in der Gegenwart, in allen ihren Gerüchen und Härtegraden« steht und eben deshalb nicht den »muffigen Geruch der verschimmelten und vertrockneten Geschichte« atmet, von dem die menschenferne Sprache der bürgerlichen Bildung gekennzeichnet ist.46 Der autobiografische Held versteht es, sich in diese Welt einzufinden. Getrieben vom befriedigenden Gefühl, »auf die nützliche Weise […] unter Menschen für

43

Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem

44

Foucault: Überwachen und Strafen, S. 257.

Franz. übersetzt v. Walter Seitter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 260. 45

Bernhard: Die Autobiographie, S. 129. – Dieser Gedankengang wird in Bezug auf die kommunikativen Vorlieben des Großvaters in Ein Kind erneut aufgegriffen: »Wenn ein einfacher Mensch spricht, ist das eine Wohltat. Er redet, er schwätzt nicht. Je gebildeter die Leute werden, desto unerträglicher wird ihr Geschwätz.« (Ebd., S. 419.)

46

Bernhard: Die Autobiographie, S. 117.

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Menschen tätig zu sein«,47 begibt er sich in ein seinerseits von einer »ungeheueren Nützlichkeit« geprägtes »Spannungsverhältnis« zwischen Mitarbeitern und Kunden, das die »von den Widrigkeiten der Erziehungsmethoden« zugedeckten »absoluten Vorzüge [s]eines Charakters« unmittelbar wieder zum Vorschein bringt.48 Die tägliche körperliche Arbeit gelingt ihm ebenso wie die Kommunikation mit den Kunden aus der Umgebung. Bei Letzterer wird indes bereits deutlich, dass diese Kommunikation nicht als eine Unterhaltung auf Augenhöhe stattfindet, sondern von einem Durchschauen der erzählerischen Mechanismen und Regeln der Scherzhauserfeldsiedlung durch den Helden geprägt ist, der sich schnell an die dort üblichen Bedingungen anpasst: Hier durfte ich, was ich zuhause niemals durfte, mich ganz einfach in dem ganzen Reichtum meiner Phantasie gehen lassen, daß es der Scherzhauserfeldsiedlung entsprechend gewesen war, ist nicht verwunderlich. Einmal mit dem Mechanismus der häufigsten Unterhaltungssparten im Keller vertraut, hatte ich gewonnen, ich nützte den Reichtum meiner außergewöhnlichen Kombinationsgabe aus und stellte selbst die Abgebrühtesten in den Schatten. Die Jugend und der Charme des Jünglings, der ich damals gewesen war, dazu die Gabe eines fortwährend paraten, in allen Farben und Zwischenfarben schillernden Wortschatzes, ich war gemacht. Es hatte fünf Hauptthemen der Kellerunterhaltung gegeben, die Lebensmittel, die Sexualität, den Krieg, die Amerikaner und, völlig isoliert von den schon angeführten, die Atombombe, deren Wirkung auf die japanische Stadt Hiroshima noch allen in den Knochen gewesen war.49

Wenn sich der Erzähler also in die Kommunikation der Siedlungsbewohner einfügt, so tut er dies nicht, weil ihn die gleichen Themen bewegen würden und er eine mit ihnen gemeine Sprache und Interessenlage hätte, sondern indem er einen »der Scherzhauserfeldsiedlung entsprechen[den]« Code der »häufigsten Unterhaltungssparten« befolgt. Bereits der Held begibt sich also auf eine Ebene der Metakommunikation, was ihn dazu befähigt, die Erzählungen der Siedlungsbewohner unter Anwendung seiner diesen überlegenen sprachlichen Fähigkeiten zu imitieren und sogar zu übertreffen. Mithilfe seiner »Phantasie«, also eines Dichtung anregenden Vermögens, erschafft der Kaufmannslehrling Erzählungen, die strukturell und thematisch denjenigen der Siedlungsbewohner gleichen, pragmatisch jedoch eine vollständig andere Funktion erfüllen: Dienen sie den Kunden im Geschäft zur Verarbeitung und Reflexion der sie existenziell betreffenden Themen rund um Leben und

47

Bernhard: Die Autobiographie, S. 114. Hervorhebung im Original.

48

Bernhard: Die Autobiographie, S. 117. Hervorhebung im Original.

49

Bernhard: Die Autobiographie, S. 141.

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Tod, so geht es dem Helden keineswegs um eine auch nur annähernd damit vergleichbare existenzielle Betroffenheit, sondern um die Möglichkeit, dichterisch produktiv zu werden. Seine Einbindung in die Kommunikation mit den Siedlungsbewohnern entspringt nicht authentischen Erfahrungen und Nöten, sondern imitiert diese nur; der Held vollzieht in seiner Kommunikation gewissermaßen ein Emplotment seiner selbst, wenn er in seiner Darstellung ihn vermeintlich bewegender Sachverhalte einfach in nachahmender Weise an vorhandene Stoffe und Erzählungen anknüpft. Von der vermeintlichen Authentizität der in der Siedlung vorgefundenen unverbildeten Menschen ist das weit entfernt: Sein Gang »in die entgegengesetzte Richtung« bewirkt nicht, dass der Held tatsächlich zur Gruppe der Siedlungsbewohner zugehörig wird – tatsächlich fällt ihm der Abschied, wie wir später erfahren, leicht und eine Wiedereingliederung nach der Krankheit scheint aussichtslos50 –, sondern die Konfrontation mit dem Außenseitermilieu gibt ihm nur die Möglichkeit, in der eigenen Selbstdarstellung ein kreatives Potenzial zu entfalten, das unterdrückt werden musste im Umfeld einer reinen Buchgelehrsamkeit, wie sie das Gymnasium und die selbiges stützende und das Ausleben der »Phantasie«51 hemmende Familie für ihn verkörpern. Die Zeit des Lehrlings in der Scherzhauserfeldsiedlung, der so gewissermaßen als Außenseiter unter die Außenseiter geworfen ist, hat so viel weniger den zunächst vorgegebenen Effekt der Nähe zu den Menschen, die ihm das Leben rette, sondern sie ist viel eher als eine wichtige Phase in der Schriftstellerwerdung des Helden einzuschätzen. Im Emplotment der eigenen Lebensgeschichte findet sich hier ein erster Schritt auf dem Weg, an dessen vorläufigem Ende uns der Held als Erzähler seiner eigenen Lebensgeschichte entgegentritt und der so auch auf dieser Ebene eine bruchlose Entwicklung vom erzählten zum erzählenden Ich suggeriert. Der Held der Autobiografie nimmt damit eine markante Position zwischen den beiden diskursiven wie topografischen Sphären »Stadt« und »Scherzhauserfeldsiedlung« ein. Als Pendler zwischen den Welten, der sich ja jeden Morgen zur Arbeit aus der Stadt in die Siedlung begibt,52 bleibt er auch in diskursiver Hinsicht darum bemüht, sich in keine der beiden Sphären einordnen zu müssen. Einerseits vollzieht er – durch den Gang in die »entgegengesetzte Richtung« – den Bruch mit

50

Vgl. hierzu die Darstellung einer versuchten Rückkehr in Die Kälte: Bernhard: Die Autobiographie, S. 346 f.

51

Bernhard: Die Autobiographie, S. 141.

52

Vgl. die Hinweise auf den täglichen Arbeitsweg z.B. Bernhard: Die Autobiographie, S. 113, 134 (»Jeden Tag trat ich in die Vorhölle ein«) u. 150 f. (»ich ging tatsächlich in die Scherzhauserfeldsiedlung, wenn ich in der Frühe um halb acht aus dem Haus ging«; Hervorhebung im Original).

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den Regeln des Stadt-Diskurses, indem er sich zu dessen Gegenteil bekennt. Andererseits aber wird er nicht Teil dieser Gegensphäre, sondern gewinnt eine von ihr unabhängige Position: Er bedient sich der dort herrschenden diskursiven Regeln, um sich zurechtzufinden, ist aber diesen Regeln, die für die Bewohner der Scherzhauserfeldsiedlung existenziellen Charakter haben, nicht in gleicher Weise unterworfen. Der Geste der Abwendung vom herrschenden Diskurs der Stadt wird eine Geste der Anverwandlung typischer Schicksale und Themen der abjekten Sphäre der Scherzhauserfeldsiedlung an die Seite gestellt – in beiden Fällen handelt es sich jedoch um Gesten, die die grundlegenden diskursiven Verhältnisse, in die das autobiografische Ich eingebunden ist, nicht verändern, sondern nur der Herstellung einer (vermeintlich) eigenständigen Position dienen sollen. Die Einbindung des autobiografischen Helden in seine neue, als authentische Gegenwelt zum herrschenden Diskurs konzeptualisierte Umgebung erfolgt also mittels einer Textstrategie, die die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge ignoriert. Authentisch ist hier, was zweckmäßig ist, was also der lückenlosen (und, dank besonderer Wortgewandtheit, sogar das Soll qualitativ übererfüllenden) Einbindung in den Gegendiskurs dient. Von dieser Warte aus fällt jedoch ein ganz besonderes Licht auf die in der Erzählerreflexion so betonte Relevanz des eigenen Erlebens für die Autobiografie. Dort ist im Sinne einer Art »Ethik« der Autobiografie die Rede von einer Pflicht, die eigenen »furchtbaren und entsetzlichen Wahrnehmungen […] mitzuteilen«: Aber man darf nicht aufhören, ihnen die Wahrheit zu sagen, und die furchtbaren und die entsetzlichen Wahrnehmungen, die man macht, dürfen unter keinen Umständen verschwiegen oder auch nur verfälscht werden. Meine Aufgabe kann nur sein, meine Wahrnehmungen mitzuteilen, gleichgültig, wie die Wirkung ausfällt, immer die Wahrnehmungen, die mir mitteilenswert erscheinen, zu berichten […] Mein ganzes Leben als Existenz ist nichts anderes als ununterbrochenes Stören und Irritieren.53

Aus der Unmöglichkeit, das eigene Erleben zu verbalisieren, wird einerseits ein moralischer Anspruch des Subjekts generiert, andererseits aber auch eine neue Grundlegung des Autobiografischen gewonnen. Nicht die Faktenwahrheit ist es, die wiedergegeben werden kann, auch die Wahrheit der Wahrnehmungen, eine Wahrheit der Existenz, ist nicht korrekt wiederzugeben, aber Ziel ist es, die Wahrnehmungen selbst immer wieder mitzuteilen und so eine Stimme gegen den dominanten Diskurs der »Stadt« zu stellen. Dass diese Autobiografie ein paradoxes Projekt ist, wird schon anhand der Formulierungen klar: Zwar dürfen die »Wahrnehmungen

53

Bernhard: Die Autobiographie, S. 133 f.

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[…] unter keinen Umständen verschwiegen oder auch nur verfälscht werden«,54 aber wir haben ja schon gehört, dass »alles Mitgeteilte« nur aus »Fälschungen und Verfälschungen« besteht55 – der Wille zur Wahrheit, das wird hier ganz deutlich, ist also von Anfang an nutzlos, zum Scheitern verurteilt. Die hier benannten »Wahrheiten« werden nicht nur vom ihnen ideologisch entgegengesetzten Stadtdiskurs »als Lüge«56 bezeichnet, sondern auch der autobiografische Text selber gesteht ein, dass »nur der Betroffene« die Wahrheit kennt, »will er sie mitteilen, wird er automatisch zum Lügner«.57 Der »Wahrheitswillen« des Mitteilenden ist das eine – die Tatsache, dass alles Mitgeteilte automatisch zur Lüge wird, lässt diesen Wahrheitswillen jedoch als leer, als niemals einzulösendes Ideal erscheinen. Der Erzähler nimmt für sein gesamtes Leben in Anspruch, diesen Wahrheitswillen zum wichtigen Kriterium gemacht zu haben: »Ich habe zeitlebens immer die Wahrheit sagen wollen, auch wenn ich jetzt weiß, es war gelogen.«58 Das muss dann offensichtlich auch für den Zeitpunkt gelten, zu dem der Held unabhängig von jeder eigenen Erfahrung seine eigenen Erzählungen an die Geschichten der Siedlungsbewohner anknüpft. Wenn aber selbst ein freies Emplotment der eigenen Lebensgeschichte diesem Wahrheitsbegriff gerecht wird, so wird klar, dass es auch in der Autobiografie selbst unter dem Stichwort des Wahrheitswillens nicht darum gehen kann, dass die Faktenbasis derselben korrekt und nachvollziehbar ist. Ein »Betroffener« der Plots aus der Scherzhauserfeldsiedlung, an die er sich anschließt, ist der autobiografische Held nicht – und dasselbe gilt für den autobiografischen Erzähler, der sich durch seine zwischen dem Diskurs der Stadt und dem Diskurs der Siedlung eine selbstständige Position bestimmende Strategie der Abgrenzung und Anähnelung ja gerade als Nichtbetroffener erweist. Auch der als Pflicht zur Berichterstattung formulierte ethische Anspruch der Autobiografie wird so schließlich zur bloßen Geste, der keine eigene Erfahrung zugrunde liegen muss, sosehr diese auch betont wird. Das Erzählen selbst erhält sowohl in der Bewertung durch den Helden als auch in der Bewertung der Erzählinstanz einen Eigenwert zugeschrieben, der unabhängig ist vom Wahrheitsgehalt der Erzählungen. Der Gestus der Anklage, des Abrückens von der diskursiven ›Mehrheit‹, des Störens und Irritierens ist die Möglichkeit für das autobiografische Ich, eine eigenständige Position zu beziehen – Erfahrungstatbestände müssen dem jedoch nicht zugrunde liegen. Das wird inhaltlich in den eben

54

Bernhard: Die Autobiographie, S. 133.

55

Bernhard: Die Autobiographie, S. 135. Hervorhebung im Original.

56

Bernhard: Die Autobiographie, S. 133.

57

Bernhard: Die Autobiographie, S. 135. Vgl. ebd., S. 136: »Die Wahrheit, die wir kennen, ist logisch die Lüge, die, indem wir um sie nicht herumkommen, die Wahrheit ist.«

58

Bernhard: Die Autobiographie, S. 136.

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betrachteten Passagen deutlich und es spiegelt sich auch in der erzählerischen Anlage der Autobiografie: So verliert durch die Präfokalisierung des Textes die interne Fokalisierung auf die Hauptfigur ja letzten Endes den eigenständigen Charakter als Fokalisierungstyp, der die beschränkte Sichtweise einer Figur gegenüber einem potenziell größeren Wissen, das eine Erzählinstanz einbringen könnte, als erfahrungsgebundene Fokalisierung ausweist. Durch die Präfokalisierung wird die eigentliche interne Fokalisierung ›auf den Helden‹ gewissermaßen ›geschluckt‹ von einer Fokalisierung ›auf den Erzähler‹, die zwar als interne Fokalisierung zu bezeichnen wäre, die aber den Charakter einer erfahrungsbezogenen Figurenperspektive (und damit: die Möglichkeit der Dialogizität im Text, soweit sie, Bachtin zufolge, im Verhältnis Erzähler/Figur angelegt ist) eben gerade einbüßt. Durch die Engführung von Erzähler- und Figurensicht in der perspektivischen Anlage des Textes bleibt letzten Endes nur einer, der sowohl sieht als auch spricht – ein Erzähler, der zwar den Eindruck einer internen Fokalisierung erweckt, letztlich jedoch im Stile eines monologischen Erzählens keine anderen Instanzen zum Sprechen kommen lässt. Wenn dem aber so ist, dann kommen weder die »Betroffenen« selbst, die vom Leitdiskurs Ausgegrenzten, zur Sprache, noch wird einem erlebenden Ich hier eine Stimme verliehen. Die »Betroffenen« in der Scherzhauserfeldsiedlung dienen dem Erzähler-Helden als erste Bewährungsmöglichkeit eines Emplotments von Subjektivität, als dessen späteres Resultat der vorliegende autobiografische Text gelten kann. Was auf der fiktionsinternen Ebene der Kommunikation »im Keller« erstmals vorgeführt wird, findet auf der Ebene des Erzählens seine Fortsetzung: das Herausarbeiten eines eigenständigen Subjektstandpunktes in der Arbeit mit bzw. der Abgrenzung von bereits bestehenden Diskursen – eine Technik, die man als konstitutiv für das Gesamtwerk Bernhards ansehen könnte. Diese Strategie fände dann in der Autobiografie ihre fiktionale Rückbindung an die hier geschilderte erste Bewährung. Die Parteinahme für die Ausgegrenzten dient demnach nicht dazu, an deren Situation irgendetwas zu ändern, sondern sie dient ausschließlich der Selbstvergewisserung als erzählendes Subjekt. Der Gang in die Scherzhauserfeldsiedlung war für den Helden die Bedingung dafür, die eigene »Phantasie« ungehemmt durch die Institutionen Gymnasium und Familie kreativ einsetzen zu dürfen; die Bezugnahme auf den Ausgrenzungscharakter der Siedlung und den diese Ausgrenzung vornehmenden Leitdiskurs ist für den Erzähler die Möglichkeit, dieses Potenzial gewissermaßen weiterhin entfalten zu können und die Position seines Gegenstandes, des autobiografischen Ichs, zwischen den Fronten und gegen diesen Diskurs festzulegen. Selbst die am erlebenden Ich orientierten Berichte aus der Jugendzeit des Helden verlieren unter dem Aspekt der Präfokalisierung ihre den vorgeblichen Erlebnischarakter beglaubigende Funktion. Letzten Endes dienen auch sie nur dem Erzählziel, das Heldensubjekt mit erzählerischen Mitteln im Diskurs zu positionieren, ihm also gewissermaßen ›dichtend‹ eine Position in der Welt zuzuweisen. Mit dem Begriff Michel Foucaults ließe sich damit vom Vorgang einer Monumentali-

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sierung59 sprechen: Ein vorgefundener Gegenstand – hier: das autobiografische Ich – wird durch die Einbindung in verschiedene Diskurse bzw. durch die Anlagerung diskursiven Materials zum Monument gemacht, er wird das, als was er im Nachhinein angesehen werden kann, durch den Prozess des Erzählens selbst. Resultat der Monumentalisierung ist dementsprechend kein »Erfahrungs-Subjekt«, sondern ein »Diskurs-Mensch«, der durch sein Aktivwerden im Diskurs und seine damit einhergehende Bezugnahme auf andere, schon vorhandene Diskurse erkennbar wird. Der mit großer Verve vorgebrachte Verweis auf die Erfahrung als Grundlage jeder authentischen Beschreibung (sei diese auch angesichts der notwendigen Ablösung vom erfahrenden Subjekt immer schon Lüge) wird vom Text dabei unterlaufen: Gegenüber der Erfahrung behält, wie der Text ganz deutlich macht, stets die Erzählung selbst das letzte Wort. Eine derart ins Monologische gewendete Autobiografie verabsolutiert das vom erzählenden Ich bestimmte diskursive Subjektkonstrukt geradezu und betreibt somit, ganz unabhängig von einer intentional zentrierten Deutung, durch ihre erzählerische und diskurstheoretische Anlage die Apotheose des erzählenden Subjekts, das zum Kern und hinter allen Einzelheiten stehenden Zentralgegenstand der Autobiografie wird.

4.2 W ENDE UND H ETEROTOPIE ALS ZENTRALE F IGUREN IN B ERNHARDS AUTOBIOGRAFISCHEN T EXTEN 4.2.1 Geburt des Künstlers in der Schuhkammer – Die Ursache In der für Der Keller und die in diesem Text zentral gesetzte Subjektbildung konstitutiven Wende »in die entgegengesetzte Richtung« lässt sich eine Figur erkennen, die für das gesamte autobiografische Werk Bernhards prägend ist. Sind es hier die Institutionen des Gymnasiums und der Stadtgesellschaft insgesamt, verweisen die

59

Foucault beschreibt die diskursanalytische Technik, das Dokument als Monument aufzufassen und damit nicht mehr die Absicht zu verfolgen, »es zu interpretieren, nicht zu bestimmen, ob es die Wahrheit sagt und welches sein Ausdruckswert ist, sondern es von innen zu bearbeiten und es auszuarbeiten: sie [die moderne Geschichtswissenschaft] organisiert es, zerlegt es, verteilt es, ordnet es, teilt es nach Schichten auf, stellt Serien fest […], definiert Einheiten, beschreibt Beziehungen.« – Als Monument erscheint so die Instanz des autobiografischen Helden nicht interessant in Bezug auf ihren Ausdruckswert, sondern hinsichtlich ihrer Verankerung in Diskursen, wie sie hier nachgezeichnet wurde. Zum Monument vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Übersetzt v. Ulrich Köppen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, hier S. 13–22, das Zitat: S. 14.

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anderen Teile der Autobiografie auf ähnliche Dispositive, denen das Erzählersubjekt im Rahmen seiner Abkehr von deren dominierender Gewalt entgegentritt.60 Bereits in Die Ursache, dem ersten Teil der Autobiografie, findet sich eine analoge Bewegung in der Abgrenzung, die das jugendliche Ich des Erzählers61 gegenüber dem Internatsleben vornimmt, wenn es sich in eine ihm zugewiesene »Schuhkammer«62 zurückzieht, um Geige zu üben. Dass die Schuhkammer die Flucht aus der vom nationalsozialistischen Internatsungeist geprägten Existenz ermöglicht, wird zunächst in ihrer Assoziation mit den Selbstmordgedanken des Internatszöglings wider Willen deutlich: »Immer wenn er künftig in die Schuhkammer eintritt, tritt er in den Selbstmordgedanken ein.«63 Dieses Denken wird jedoch aufgewertet, da es als gegen den nationalsozialistischen Kraft- und Lebenskult64 gerichtetes Eigenes wahrgenommen werden kann, sodass »ihm der Eintritt in die Schuhkammer […] Zuflucht zu sich selbst«65 bietet. Die Bemühungen des das Geigenspiel unterstützenden Großvaters, aus dem Jugendlichen auf diese Weise »einen Künstler zu machen«,66 werden in diesem Kontext zunächst als vergeblich bezeichnet – ein wirklicher Violinist oder auch ein »Maler«67 scheint aus dem Enkel nicht zu werden. Die Verknüpfung von Einsamkeit und Künstlertum, die in dieser Abgrenzung von der Masse stattfindet, weist jedoch gleichwohl den Weg, den der werdende Schriftsteller, dessen vorliegendes Werk die Diagnose, dass der Wille zum Künstlertum nicht

60

Mittermayer spricht so in Bezug auf die Autobiografie zu Recht vom »großangelegte[n] Szenario der Selbstdurchsetzung eines Ichs gegen eine Umwelt, die es von Anfang an daran zu hindern trachtet.« Mittermayer: Thomas Bernhard, S. 84.

61

Die Ursache bietet, wie oben in Kap. 4.1.1 im Vergleich mit Der Keller bereits angemerkt, eine uneinheitliche Erzählsituation, in der der spätere homodiegetische Erzähler sein jugendliches Ich zunächst in der dritten Person anspricht. Da die Instanzen Held und Erzähler schließlich zusammengeführt werden, wird hier der Einfachheit halber von dieser gegen Ende des Textes hergestellten Einheit ausgegangen. – Zum Verhältnis Held/Erzähler in diesem Text vgl. auch Theisen: Im Guckkasten des Kopfes, S. 252.

62

Bernhard: Die Autobiographie, S. 14.

63

Bernhard: Die Autobiographie, S. 14.

64

Die Abgrenzung des Helden von diesem Kult der Stärke wird auch deutlich in seiner körperlichen Unterlegenheit den meisten Altersgenossen gegenüber, die unter anderem dazu führt, dass es ihm selten gelingt, einen Platz am morgendlichen Waschtisch zu erreichen, bevor alle Plätze von Stärkeren besetzt sind. Vgl. Bernhard: Die Autobiographie, S. 52 f.

65

Bernhard: Die Autobiographie, S. 14.

66

Bernhard: Die Autobiographie, S. 41.

67

Bernhard: Die Autobiographie, S. 41.

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erfolgversprechend sei, ja performativ dementiert, spätestens in Der Keller einschlägt: Die Herstellung des schreibenden Subjekts im Gegensatz zur gesellschaftlichen Umgebung greift damit zurück auf die zuvor präsentierte Außenseiterstellung des künstlerisch Begabten, die diesen – nachdem die das Außenseitertum provozierende Erziehungsanstalt einer vernichtenden Kritik unterzogen worden ist68 – im Nachhinein als hellsichtigen, nicht den Verführungen des Aufgehens in der (nationalsozialistischen/katholischen) Masse verfallenden Menschen kennzeichnet. Die Position, die das jugendliche Ich im Internat einnimmt, spiegelt in nuce seine Stellung in seiner Heimatstadt Salzburg.69 Wenn der autobiografische Text davon zeugt, dass aus dem hier geschilderten Internatszögling schließlich ein Schriftsteller geworden ist, so wird dieses Ergebnis von Anfang an unter das Vorzeichen eines »Trotzdem« gestellt: Verleumdung, Lüge, Heuchelei entgegen, muß er sich während der Niederschrift dieser Andeutung sagen, daß diese Stadt, die sein ganzes Wesen durchsetzt und seinen Verstand bestimmt hat, ihm immer und vor allem in Kindheit und Jugend, in der zwei Jahrzehnte in ihr durchexistierten und durchexerzierten Verzweiflungs- als Reifezeit, eine mehr den Geist und das Gemüt verletztende, ja immer nur Geist und Gemüt mißhandelnde gewesen ist, eine ihn ununterbrochen direkt oder indirekt für nicht begangene Vergehen und Verbrechen strafende und bestrafende und die Empfindsamkeit und Empfindlichkeit, gleich welcher Natur, in ihm niederschlagende, nicht die seinen Schöpfungsgaben förderliche.70

68

Einen Schwerpunkt von Die Ursache bildet die massive Kritik an den Erziehungsanstalten, insbesondere den »Mittelschulen«, die »eigentlich immer nur der Verrottung der menschlichen Natur« dienten (Bernhard: Die Autobiographie, S. 97) und die markanterweise durch bloße Umbenennung von nationalsozialistischen in katholische Institutionen umgewandelt werden können, ohne dass ein struktureller Wandel stattfände. Den bruchlosen Übergang zwischen beiden Denksystemen verdeutlicht Bernhard durch die Parallelisierung von Jesus und Hitler – das Kruzifix hängt an derselben Stelle, an der die ausgeblichene Wand noch vom bis vor Kurzem dort hängenden Hitler-Porträt zeugt – sowie die gleichbleibenden Rituale: Der Morgenappell mit Horst-Wessel-Lied wird ohne Bruch ersetzt durch die Andacht, bei der Ein feste Burg ist unser Gott gesungen wird (vgl. ebd., S. 63–109).

69

Eine zu enge Anbindung an die vermeintlich »authentische« Salzburg-Beschreibung »aus der subjektiven Perspektive des von den Erfahrungen dieser Zeit zutiefst verletzten jungen Menschen« bietet die Analyse von Manfred Mittermayer: »… ich hatte immer nur ich werden wollen«, S. 14.

70

Bernhard: Die Autobiographie, S. 10.

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Das Schriftstellerdasein wird damit zu einer Leistung, die dem Umfeld in direkter Konfrontation, in existenziellem Kampf abgetrotzt werden muss: Die Dispositive, die auf dem »architektonisch-erzbischöflich-stumpfsinnig-nationalsozialistischkatholischen Todesboden«71 der Heimatstadt herrschen, sind direkt gegen die Möglichkeiten der künstlerischen Entfaltung gerichtet, deren notwendige Grundlage damit das Aufsuchen von Orten ist, die als Enklaven in diesem System fungieren, in denen dessen als »Todeskrankheit«72 wirksame Regeln zumindest partiell suspendiert sind. Mit Foucault ließen sich diese Orte – der »Keller« des Kaufmanns Podlaha wie die Schuhkammer des nationalsozialistischen Schülerheims und schließlich das Sterbezimmer im städtischen Krankenhaus, wie es in Der Atem vorgeführt wird, sowie das Lungensanatorium, das der Erzähler in Die Kälte zu besuchen gezwungen ist – als »Heterotopien«73 bezeichnen: Es sind Orte, die eine Gesellschaft aus sich selbst heraus als Bereiche mit von der Mehrheitsgesellschaft abweichenden Regeln schafft, die »die sonderbare Eigenschaft haben, sich auf alle anderen Plazierungen zu beziehen, aber so, daß sie die von diesen bezeichneten oder reflektierten Verhältnisse suspendieren, neutralisieren oder umkehren«.74 Wie am Beispiel der vom

71

Bernhard: Die Autobiographie, S. 12.

72

Bernhard: Die Autobiographie, S. 11.

73

Vgl. hierzu Foucaults einschlägige Grundlagentexte von 1966/1967, die in seinem Schaffen keine rechte Fortsetzung gefunden haben und von der Forschung erst im letzten Jahrzehnt vermehrt wieder rezipiert worden sind: Michel Foucault: Andere Räume (1967). Aus dem Franz. v. Walter Seitter. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 51993, S. 34–46, sowie ders.: Die Heterotopien [1966]. In: ders.: Die Heterotopien/Les hétérotopies, Der utopische Körper/Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Übersetzt v. Michael Bischoff. Mit einem Nachwort v. Daniel Defert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 7–22. Deferts Nachwort (ebd., S. 67–92) gibt ausführlich Auskunft zur Wirkungs- und Editionsgeschichte des Radiovortrags, auf dem Foucaults Konzept basiert und aus dem auch der in der Folge intensiver rezipierte Text in deutscher Übersetzung hervorgegangen ist.

74

Foucault: Andere Räume, S. 38. – Foucaults Heterotopiekonzept steht in einem gewissen Spannungsverhältnis mit dem hier ebenfalls verwendeten, aus Überwachen und Strafen stammenden Konzept der Disziplinardispositive. Es stellt sich insbesondere die Frage, wie unterschieden werden kann, ob eine abgeschlossene Einrichtung als Dispositiv der Herrschaft einer Mehrheitsgesellschaft fungiert (wie es Foucault am panoptischen Gefängnisbau zeigt) oder als Heterotopie abweichenden Regeln unterworfen ist, für die gleichwohl ebenfalls durch den Diskurs der Mehrheitsgesellschaft Räume geschaffen werden (Foucault selbst scheint sich letztlich für die in Überwachen und Stra-

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Erzähler im Keller in der Scherzhauserfeldsiedlung vollzogenen diskursiven Aneignung fremder Gesprächsthemen gezeigt wurde, handelt es sich bei den Heterotopien um »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind«.75 Wie dort ist auch hier die Abwendung von der Mehrheitsgesellschaft verbunden mit dem Anschluss an andere von dieser Ausgestoßene: Solidarische Verhältnisse bilden sich einzig mit einem »vollkommen verkrüppelten«76 Mitschüler und dem »tatsächlich häßlichen«77 Geografieprofessor Pittioni heraus, deren Nichtzugehörigkeit zur Gesellschaft deutlich unterstrichen wird durch diese ausschließenden Attribute, die die Figuren gewissermaßen als Epitheta ornantia begleiten. Die Ausgeschlossenen werden hierbei zu Vorbildern, an denen dem Heranwachsenden vor allem ihr Aushalten in einer Gegenposition zum Leitdiskurs imponiert. So heißt es über Pittioni: dieser Mensch ist mir nach und nach überhaupt zum Mittelpunkt des Gymnasiums geworden und, von wo aus immer ich es heute betrachte, dieser Mittelpunkt geblieben, als das erschreckende Beispiel der Opferbereitschaft eines einzelnen einerseits und einer ganzen brutalen, sich an einem solchen fortwährend und unbekümmert und bedenkenlos vergehenden Gesellschaft andererseits […].78

Die Solidarität mit den Ausgegrenzten wird präsentiert als Schule fürs Leben, denn »die Gesellschaft als Gemeinschaft gibt nicht Ruhe, bis nicht einer unter den vielen oder wenigen zum Opfer ausgewählt und von da an immer zu dem geworden ist, der von allen und zu jeder Gelegenheit von allen Zeigefingern durchbohrt wird«.79

fen vorgeschlagene Variante zu entscheiden, indem er den Begriff der Heterotopie in seinem Werk nicht weiterverfolgt). Im Hinblick auf Bernhards Texte scheint eine Verlagerung des Problems auf die Art und Weise, in der der Einzelne diese abgeschlossenen Räume nutzt, nahezuliegen: Um ihr Freiheitspotenzial im Sinne einer Heterotopie realisieren zu können, bedarf es offenbar der Fähigkeit, entsprechend auf die Situation zu reagieren und sich von anderen, die sich in derselben Lage der Systematik des Dispositivs unterwerfen, abgrenzen zu können – ein Problem, das vor allem in Die Kälte ausgiebiger diskutiert wird (vgl. dazu Kap. 4.2.3). 75

Foucault: Andere Räume, S. 39.

76

Bernhard: Die Autobiographie, S. 100.

77

Bernhard: Die Autobiographie, S. 101.

78

Bernhard: Die Autobiographie, S. 101.

79

Bernhard: Die Autobiographie, S. 103.

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Als »Quälmaschine«80 fungieren so alle gesellschaftlichen Zusammenhänge von der Familie bis zur Stadtgesellschaft, die die von ihr ausgesonderten Einzelnen dazu bringt, »überhaupt nichts als nur Opfer der Gesellschaft«81 zu werden – eine Position, mit der das Erzähler-Ich zwar aufgrund seiner Distanz zu dieser Gesellschaft sympathisiert, die es aber selbst nicht einnimmt, indem es sich soweit möglich durch den Rückzug aus der Gesellschaft als Gang in die Heterotopie entzieht.82 Die Umwendung des Außenseiterstatus zum Künstlertum gelingt so nur durch die heilsame Distanz in den von der Gesellschaft selbst vorgesehenen Enklaven,83 in denen deren Regeln suspendiert sind – um nicht selbst »nur Opfer« zu werden, nutzt der Erzähler diese Gegenpositionen im System, um das Künstlertum als Alternative zum Opferstatus zu erlangen. 4.2.2 Die Klinik als »Denkbezirk« – Die Entscheidung zu einer neuen Existenz in Der Atem Diese Entwicklung zum Künstler setzt sich, nach dem Ende der Schulzeit und den ersten sprachkünstlerischen Erfahrungen des Erzählers, die Gegenstand von Der Keller sind und oben untersucht wurden, in der Krankheitsgeschichte fort, die den dritten und vierten Band der Autobiografie, Der Atem und Die Kälte, dominiert.

80

Bernhard: Die Autobiographie, S. 104.

81

Bernhard: Die Autobiographie, S. 105.

82

Der Anschluss an anerkannte Vertreter der Gesellschaft, wie sie etwa die »Hunderte[ ] von Salzburger Bürger[n]« repräsentieren, mit denen der Erzähler »verwandt« ist, kommt nicht infrage, da von ihnen nichts anderes zu erwarten ist, als zurückgestoßen zu werden, wie der Erzähler sich aufgrund der Erzählungen seines (als ehemaliger Kommunist, Anarchist und Künstler ebenfalls einen Außenseiterstatus einnehmenden) Großvaters sicher ist: »er wäre, wenn er zu ihnen gegangen wäre und selbst in der fürchterlichsten Verfassung, von ihnen nur vor den Kopf gestoßen und von ihnen zur Gänze vernichtet worden.« (Bernhard: Die Autobiographie, S. 43.) – Die Außenseiterstellung des Großvaters wird im Rahmen einer Prolepse besonders deutlich, in der der Erzähler auf die Schwierigkeiten hinweist, die es fünf Jahre später nach dem Tod des Großvaters bereitet, für ihn, der nicht kirchlich verheiratet war, einen Platz auf dem katholischen Friedhof zu finden (vgl. ebd., S. 44 f.)

83

Die Tatsache, dass der verhasste nationalsozialistische Internatsleiter Grünkranz dafür gesorgt hat, dass der Erzähler Zugang zu der besagten Schuhkammer erhält (»für die Geigenübungen ist ihm vom Grünkranz die Schuhkammer zugeteilt worden«; Bernhard: Die Autobiographie, S. 14), unterstreicht, dass diese Enklave von den Agenten der Mehrheitsgesellschaft selbst geschaffen worden ist.

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Aufgrund einer verschleppten »nasse[n] Rippenfellentzündung«84 muss sich der Erzähler ins Krankenhaus begeben, wo er umgehend in das Zimmer gelegt wird, in das »die alten Männer zum Sterben hereingebracht« werden, die sich dort in der Regel »nur Stunden oder höchstens Tage« aufhalten, weshalb der Erzähler für den Raum den Begriff »Sterbezimmer« wählt.85 Es kommt so – ohne eigenes Zutun des Helden – zu einer Verortung am absoluten Rand der Gesellschaft: Das erzählende Ich findet sich unter denjenigen wieder, deren Abschied aus der Gesellschaft praktisch bereits vollzogen ist;86 die Krankenschwestern betreten den Raum meist nur noch, um die »Letzte Ölung« der Patienten zu begleiten und um halbstündlich deren Puls zu prüfen, damit die Klinikbetten für die nachrückenden Sterbenden frei werden, sobald einer das Ende seines Weges erreicht hat. Die Rekonvaleszenz des Erzählers erscheint in diesem Kontext als außergewöhnliches Ereignis, das ihm Freiheiten beschert, die ihm sonst nicht zuteilwürden: Als Überlebender unter den Todgeweihten wird es ihm möglich, seinen Großvater – ebenfalls Patient der Klinik – täglich an seinem Krankenbett zu empfangen. Dies wird zum wichtigen Schritt der Persönlichkeitsbildung, der so nur in der Heterotopie möglich ist, die die beiden Kranken zusammenführt und ihnen Zeit fürs Gespräch einräumt: »Der Jüngling, der beinahe schon achtzehnjährige Enkel, hatte jetzt eine viel intensivere, weil vor allem geistige Beziehung zu seinem Großvater als der Knabe, der ihm nur in Gefühlen verbunden gewesen war.«87 – Die geistige Entwicklung in der Nähe zum Großvater ist ein Schritt, der eine »Zukunft […], wichtiger und schöner als die Vergangenheit«,88 ermöglichen soll; sie ist es, die eine intellektuelle Perspektive in der Außenwelt in Aussicht stellt, die jedoch auf der Ausgangsbedingung beruht, hier im Krankenhaus die nötige gemeinsame Zeit zu haben, die später, nach dem Tod des Großvaters, dem genesenden Enkel als Lesezeit dient, die ihn näher an die Literatur heranführt.89 Das »Sterbezimmer« wird so zur Quelle eines neuen, intellektuellen

84

Bernhard: Die Autobiographie, S. 219. Hervorhebung im Original.

85

Bernhard: Die Autobiographie, S. 228. Hervorhebung im Original.

86

»Diese alten Menschen im Sterbezimmer durften, so mußte ich, wenn ich die Ärzte bei der Visite beobachtete, denken, unter keinen Umständen mehr in das Leben zurück, sie waren schon abgeschrieben und schon aus der Menschengesellschaft abgemeldet« (Bernhard: Die Autobiographie, S. 252).

87

Bernhard: Die Autobiographie, S. 234.

88

Bernhard: Die Autobiographie, S. 234.

89

Vgl. Bernhard: Die Autobiographie, S. 294. – Die Mutter übernimmt hier die Funktion einer den Verlust des Großvaters überbrückenden Instanz, indem sie dessen Bücher zum Erzähler ins Krankenhaus bringt; »Novalis, Kleist, Hebel, Eichendorff, Christian Wagner, die ich zu dieser Zeit wie keine anderen geliebt habe« (ebd.).

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Lebenssinns – Der Atem markiert damit einen weiteren Entwicklungsschritt auf der Laufbahn des vereinzelten, seine Einsamkeit jedoch künstlerisch nutzenden Schriftstellers. Das großväterliche Credo, »die Seele und der Geist beherrschen den Körper«,90 soll beide auf dem Weg der geistigen Entwicklung über die körperliche Schwäche triumphieren lassen – ein Anspruch, der die geistige Entwicklung und letztlich die heterotope Sphäre der Kunst über die begrenzte, von körperlichem Leid und gesellschaftlichen Ausschließungsmechanismen geprägte Sphäre des Lebens stellt, wobei der Großvater in Bezug auf den Enkel nach wie vor davon überzeugt ist, »daß die Musik meine Rettung sei«91 und dass aus dem Kranken ein »weltberühmter und noch dazu musikalisch-philosophisch geschulter Sänger«92 werden könne (eine angesichts der Lungenerkrankung offenbar illusorische Perspektive, die schließlich den Schriftstellerberuf als Alternative nahelegt93). Nicht nur aus der Perspektive des Großvaters erscheint der gemeinsame Krankenhausaufenthalt so als »in einem existentiellen Sinne […] unumgängliche Notwendigkeit«,94 die im Setzen auf die persönliche geistige Weiterentwicklung als erneuter Wendepunkt des Lebens gekennzeichnet ist – eine Entwicklung, die sich der Großvater gemeinsam mit dem Enkel ausmalt, die er jedoch aufgrund seines rasch eintretenden Todes nicht mehr mit ihm zusammen erleben wird.95 Diese Wende ist deutlich mit dem Ort des Krankenhauses verbunden, es erscheint als »zu lebenswichtigen und existenzentscheidenden Gedanken geradezu herausfordernde[r] Leidensbezirk«,96 der so – als Alternative zu anderen Heterotopien wie Gefängnissen oder Klöstern – zum »Denk-

90

Bernhard: Die Autobiographie, S. 247.

91

Bernhard: Die Autobiographie, S. 248.

92

Bernhard: Die Autobiographie, S. 273 f.

93

Vgl. Bernhard: Die Autobiographie, S. 281. – Der Großvater erscheint auch in praktischer Hinsicht als Anreger dieser Alternativkarriere, indem er dem Erzähler testamentarisch seine Schreibmaschine vermacht, »auf welcher ich selbst heute noch meine Arbeiten schreibe« (ebd.). – Die Erfüllung eines zuvor gehegten Wunsches, nämlich das Geschenk eines Klavierauszugs der Zauberflöte, bringt dem Rekonvaleszenten die Gewissheit, dass die Gesangskarriere unerreichbar ist: »Die Zauberflöte als Klavierauszug in meinen Händen war also alles eher gewesen als das von ihr erhoffte Glück, sie hatte mir plötzlich wieder mit erschreckender Deutlichkeit meine Grenzen gezeigt, aber ich hatte mich nur die kürzeste Zeit der Sentimentalität ausgeliefert.« (Ebd., S. 302; Hervorhebung im Original.)

94

Bernhard: Die Autobiographie, S. 249.

95

Vgl. Bernhard: Die Autobiographie, S. 273.

96

Bernhard: Die Autobiographie, S. 249.

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bezirk«97 wird und die notwendige Bedingung darstellt, um im Rahmen einer Situation ohne äußere Beanspruchung Entscheidungen über die weitere eigene Entwicklung vorzubereiten, und der insbesondere für den »Schriftsteller« eine »unbedingte Voraussetzung« der eigenen Existenz sei.98 Die Ergebnisse dieser Weiterentwicklung zum Schriftsteller werden von der Gesellschaft und ihren Repräsentanten, in diesem Fall etwa den Ärzten, nicht anerkannt, wie der Erzähler aus nachträglicher Sicht reflektiert – ein Resultat, das logisch aus der Verankerung dieses Schreibens im Außenseiterstatus der Heterotopie hervorgeht, sodass diejenigen, die außerhalb der gesellschaftlichen Maßstäbe stehen, nicht von den Repräsentanten der sie ausschließenden Gesellschaft ernst genommen werden können: Die Ärzte […] mögen über alles, was hier notiert ist, den Kopf schütteln, aber hier wird auf das Kopfschütteln […] keinerlei Rücksicht genommen. Solche Notizen müssen auch in jedem Falle naturgemäß immer im Hinblick darauf gemacht werden, daß sie angefeindet und/oder verfolgt oder ganz einfach für die eines Verrückten gehalten werden. Den Schreiber hat eine solche Tatsache und eine noch so unsinnige Aussicht nicht zu irritieren, und er ist es vor allem gewohnt, daß, was er sagt und was er schreibt und was er bis jetzt schon alles im Laufe seines Lebens und Denkens und Fühlens aufgeschrieben hat, […] angefeindet und verfolgt und für verrückt erklärt worden ist.99

Mit dem Tod des Großvaters endet die Vorbereitungsepisode der Zeit im Krankenhaus, die offenbar – wie der Rückblick auf den Erzähler als Schriftsteller zeigt – die entscheidenden Wirkungen dennoch gezeitigt hat; das Sterben der engsten Bezugsperson wird vom Enkel jedoch nicht ausschließlich mit Schmerz aufgenommen, sondern als Komplettierung eines Zustands der Einsamkeit erfahren, der für die eigene künstlerische Entwicklung als vielversprechend erscheint:

97

Bernhard: Die Autobiographie, S. 251.

98

Bernhard: Die Autobiographie, S. 250.

99

Bernhard: Die Autobiographie, S. 265 f. – In diesem Zusammenhang reflektiert der Erzähler erneut die in Der Keller ausführlich diskutierte Frage der Referenzialität des Geschilderten, das »nur eine Annäherung und nur ein Versuch sein kann«, gleichwohl aber »niemals jedoch eine Fälschung oder gar eine Verfälschung« – Begriffe, die hier im Sinne eines existenzialisitschen Wahrheitskonzepts gebraucht werden, was die Auseinandersetzung in Der Atem von derjenigen in Der Keller unterscheidet, wo die Unausweichlichkeit von »Fälschungen« und »Verfälschungen« in der Lebensbeschreibung betont wurde. Vgl. ebd., S. 266.

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Die plötzlich durch den Tod des Großvaters klargewordene Tatsache, allein zu sein, hatte alle Lebenskräfte in mir sich auf dieses Ziel, gesund zu sein, konzentrieren lassen. […] Der Tod des Großvaters, so entsetzlich er sich gezeigt und sich auf mich auswirken hatte müssen, war auch eine Befreiung gewesen. Zum erstenmal in meinem Leben war ich frei […]. Eine zweite Existenz, ein neues Leben, und zwar ein solches, in welchem ich vollkommen auf mich selbst angewiesen war, stand mir offen. […] Die Schule meines Großvaters […] war abgeschlossen gewesen mit seinem Tod. […] Ein besseres Fundament hätte ich nicht haben können.100

Die Übersiedelung in eine weitere »Krankenverwahrung«,101 das zur Klinik gehörige als Lungensanatorium genutzte Hotel in Großgmain,102 die in Der Atem als Wendepunkt und »Abschluß einer Periode« markiert wird, »in welcher ich mein erstes und altes Leben, meine erste und alte Existenz abgeschlossen und, meiner wahrscheinlich wichtigsten Entscheidung gehorchend, mein neues Leben und meine neue Existenz angefangen hatte«,103 bringt den Erzähler an einen neuen ›anderen Ort‹, der – in Fortführung der im Krankenhaus gefallenen Entscheidung für ein neues Leben – mit dem Beginn der eigentlichen schriftstellerischen Tätigkeit verbunden wird: Zunächst kommt er hierzu in Form der Ausbildung eines Vermögens zur geistigen Verarbeitung des Erlebten,104 schließlich in der umfänglichen Lektüre und Annotation der »mir bis dahin verschlossene[n] sogenannte[n] Weltlitera-

100 Bernhard: Die Autobiographie, S. 277 f. 101 Bernhard: Die Autobiographie, S. 287. Hervorhebung im Original. 102 Im Anschluss an das »Sterbezimmer« des Krankenhauses, das nur in den seltensten Fällen genesende Patienten beherbergt, ist auch das Sanatorium ein Ort, wohin »die aufgegebenen Fälle, für welche in medizinischer Hinsicht nichts mehr zu machen gewesen war«, »einzig und allein zu dem Zweck ihres Sterbens« gebracht werden (Bernhard: Die Autobiographie, S. 294. Hervorhebung im Original). Die Verortung der Erzählinstanz am Rande der gesellschaftlichen Existenz setzt sich also in der Heterotopie dieses ›Sterbehauses‹ fort, das mithin auch ähnliche Bedingungen einer von äußeren Ansprüchen relativ freien Entwicklung bietet. Deren Grundlage ist freilich das eigene körperliche Überleben, das infrage gestellt wird von der Tatsache, dass das Haus mit zahlreichen Tuberkulosepatienten belegt ist, deren Ansteckungspotenzial auch die weniger schwer Erkrankten bedroht (vgl. ebd., S. 296 f.). Ihre Fortsetzung findet die Verortung in Erwartung des Todes in der Lungenheilstätte Grafenhof in Die Kälte, wo sich »die Lage der Patienten«, der »zweifellos endgültig aus der Menschengesellschaft Ausgestoßenen«, sich mit der Zeit nicht verbessert, sondern verschlimmert (ebd., S. 313 f.), sodass es »nur Todeszimmer […], nur Todeskandidaten« gibt (ebd., S. 334). 103 Bernhard: Die Autobiographie, S. 287. 104 Vgl. Bernhard: Die Autobiographie, S. 292.

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tur«,105 die die Entdeckung birgt, »daß die Literatur die mathematische Lösung des Lebens und in jedem Augenblick auch der eigenen Existenz bewirken kann«.106 Der Weg zur Entwicklung als Schriftsteller wird jedoch kompliziert durch die Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Helden, die dazu führt, dass eine weitere Verlegung des Patienten erfolgt, der sich nun – zum Beginn des vierten Teils der Autobiografie, Die Kälte – in der Lungenheilstätte Grafenhof wiederfindet. 4.2.3 Von Dämonen ins Leben getrieben – Die Kälte als Kampf um die Individualität des Künstlers Während in der Kliniksituation in Der Atem die positive Perspektive dominierte, die eigene geistige Entwicklung unabhängig von den Anforderungen der Außenwelt vorantreiben zu können, erscheint die Situation in Die Kälte zunächst weniger aussichtsreich: »Mit dem sogenannten Schatten auf meine Lunge war auch wieder ein Schatten auf meine Existenz gefallen«,107 setzt der vierte Band der Autobiografie ein, der gleichzeitig zum chronologischen Ende der fünf Bände führt.108 Anders als im Fall der zumeist nicht mehr ansprechbaren Mitpatienten im Salzburger Krankenhaus sieht sich der Erzähler in der Lungenheilstätte Grafenhof einem Patientenkollektiv gegenüber, das ihn zur Anpassung an die örtlichen Regeln drängt. An diesem ›anderen Ort‹, als den man auch dieses Sanatorium ansehen kann, scheint es kaum möglich zu sein, sich den hier herrschenden (von der Außenwelt zwar abweichenden, aber gleichwohl die Einordnung des Neuankömmlings erwartenden) Regeln zu entziehen und somit Raum für eine vom gesellschaftlichen Rahmen unabhängige, individuelle künstlerische Entwicklung zu erhalten – nicht zuletzt schon deshalb, weil die hoch ansteckenden Klinikinsassen durch rücksichtsloses Husten in alle Richtungen darauf abzuzielen scheinen, auch Neuankömmlinge schnellstmöglich zu infizieren. Die Diagnose, von der Tuberkulose befallen zu sein, ist in der alternativen Logik dieser »auf den Tod konzentriert[en]«109 Gemeinschaft der Lungenkranken gewissermaßen der Ritterschlag, der den Neuankömmling zu einem

105 Bernhard: Die Autobiographie, S. 298, vgl. ebd., S. 306. 106 Bernhard: Die Autobiographie, S. 306. 107 Bernhard: Die Autobiographie, S. 313. 108 Während die ersten vier Bände der Autobiografie chronologisch aufeinander folgen und die Zeit zwischen dem 14. und dem 20. Lebensjahr des Protagonisten umfassen, widmet sich Ein Kind, der fünfte Band, dem Helden im Alter von 8 bis 13 Jahren und liefert somit Momente aus der Vorgeschichte der anderen vier Bände nach bzw. reflektiert die dominanten Motive der ersten vier Bände auf neue Weise (vgl. hierzu Kap. 4.2.4). 109 Bernhard: Die Autobiographie, S. 319.

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von ihnen macht: »Tatsächlich war das Ergebnis, daß ich positiv sei, mit Genugtuung aufgenommen worden bei meinen Mitpatienten. Sie hatten erreicht, was sie wollten: keinen Außenseiter.«110 Die Bindekraft der Gemeinschaft in der Heterotopie steht an Brutalität derjenigen der Außenwelt in nichts nach, sodass auch hier gilt: »Der Individualist wird ausgemacht und abgetötet.«111 Dass dieses System – ähnlich wie das panoptische Gefängnis in der Beschreibung Foucaults – neben einer externen Disziplinierungswirkung auch in der Gefühlswelt des Individuums selbst ansetzt, wird in der Veränderung der Denkweise des Klinikinsassen deutlich, der »in diesen Wochen in diese meine Hoffnungslosigkeit und die allgemeine Hoffnungslosigkeit verliebt, möglicherweise sogar in Liebe vernarrt«112 ist; er internalisiert zunächst die Systematik, die ihm die neue Umgebung nahelegt. Um dieser Wirkung zu entkommen, bedarf es erneut einer individuellen Wende, die auch hier wieder als Aufschwingen des Einzelnen zum Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse konzipiert ist. Es gilt, dem in seinen Auswirkungen zunächst übermächtig erscheinenden Klinik-Dispositiv, das im ersten Schritt seine Disziplinierungswirkung voll entfaltet hat, eine Alternative entgegenzusetzen, die es ermöglicht, auch diese Klinik zur Heterotopie umzuwidmen und ihr damit die Möglichkeit abzuringen, sich von den sonst wirksamen gesellschaftlichen Ansprüchen freizumachen und diese gegen sich selbst zu wenden. Bei Bernhard erscheint dieses Aufschwingen zur Wende als individueller Kraftakt, dem die Erkenntnis zugrunde liegt, dass das einfache ›Fallenlassen‹ um »der Bequemlichkeit willen«113 (gleichsam ein Heidegger’sches »Verfallen« an die allgemeinen Bedingungen der uneigentlichen Umwelt114) verhindert, dass der Einzelne seinen individuellen Weg gehen kann. Es bedarf des aktiven Widerstands gegen die herrschende Disziplinarmacht, durch den schließlich, wie sich zeigen wird, die Möglichkeit entsteht, die eigenen Freiräume auch auf dieser Lebensetappe wiederherzustellen: Mein Standpunkt war um alles geändert. Ich lehnte mich heftiger denn je auf gegen Grafenhof und seine Gesetze, gegen die Unausweichlichkeit! Ich hatte meinen Standpunkt wieder am radikalsten geändert, jetzt lebte ich wieder hundertptozentig, jetzt wollte ich wieder […] meine Existenz haben, koste es, was es wolle.115

110 Bernhard: Die Autobiographie, S. 317 f. 111 Bernhard: Die Autobiographie, S. 320. 112 Bernhard: Die Autobiographie, S. 323. 113 Bernhard: Die Autobiographie, S. 325. 114 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, § 38, S. 175–180. 115 Bernhard: Die Autobiographie, S. 325. Hervorhebungen im Original.

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Diese Existenz, so wird deutlich, ist bereits hier die eines Schriftstellers. Am Sterbebett der Mutter liest der Achtzehnjährige seine zahlreichen Gedichte erstmals vor, die Resultat dieser neuen Lebensausrichtung sind: »Ich hatte mich schon zu dieser Zeit in das Schreiben geflüchtet, ich schrieb und schrieb, ich weiß nicht mehr, Hunderte, Aberhunderte Gedichte, ich existierte nur, wenn ich schrieb«.116 Die Schriftstellerexistenz ist unter den Bedingungen des normalen Lebens undenkbar – Grundlage für sie ist die ›Flucht‹ aus diesen Bedingungen, die sich in Grafenhof als innerer Widerstand gegen die Ansprüche des Kollektivs der Kranken und die Einnahme einer Beobachterposition realisieren lässt, die den Opferstatus, der dem Kranken zunächst eigen war, überwindbar macht.117 Dass Grafenhof schließlich als befreiende Heterotopie wahrzunehmen ist und seinen Status als einschränkendes Disziplinardispositiv verliert, wird am deutlichsten in der Rückkehr des zwischenzeitlich mit einer Fehldiagnose als geheilt entlassenen Patienten dorthin. Nach Salzburg zurückgekehrt wird ihm klar, dass er hier dazu verurteilt ist, »den Meinigen in der Radetzkystraße zur Last zu fallen«,118 da er als Lungenkranker weder in den Lebensmittelhandel zurückkehren noch etwa ein Gesangsstudium aufnehmen kann: Die ›normale‹ Gesellschaft hat keinen Platz für den Außenseiter, der für sie keinen Nutzen entfaltet – die Familie ist auf die ebenfalls todkranke Mutter konzentriert und der lungenkranke Sohn scheint hier aktuell unerwünscht zu sein. Die Rückkehr in die »Schreckensanstalt« erscheint somit als Glück, da sie »Zeit und Luft« verheißt, »über das Weitere nachzudenken«119 – wie einst das Krankenhaus in der Heimatstadt verheißt nun das Sanatorium die Freiheit der Heterotopie, die eigene geistige Entwicklung voranzutreiben in der »feste[n] Absicht, die Hausordnung täglich zu hintergehen, […] die Grafenhofener Gesetze [zu] brechen, um meinen Zustand zu verbessern«.120 Diese Gesetzesbrüche, die sich zunächst beispielsweise in den streng verbotenen Ausflügen ins Dorf äußern, werden letztlich zum Überlebensantrieb durch ein prägendes Lektüreerlebnis, das das Verlassen des Sanatoriums als wesentliches Ziel deutlich werden lässt: Es sind Dostojewskijs Dämonen, die dem lesenden Kranken

116 Bernhard: Die Autobiographie, S. 331. 117 Vgl. Bernhard: Die Autobiographie, S. 335: »Ich war in dieser Wissenschaft [der »Höheren Mathematik der Krankheit und des Todes«] aufgegangen, so hatte ich mich selbst auf die natürlichste Weise vom wehrlosen Opfer zum Beobachter dieses Opfers und gleichzeitig zum Beobachter aller anderen gemacht. Dieser Abstand war einfach lebensnotwendig, nur so hatte ich die Möglichkeit, meine Existenz zu retten.« 118 Bernhard: Die Autobiographie, S. 348 f. 119 Bernhard: Die Autobiographie, S. 349. 120 Bernhard: Die Autobiographie, S. 394. Hervorhebung im Original.

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den entscheidenden Entwicklungsschub versetzen, der ihn aus der Klinik hinausund in die Literatur hineintreibt, vor allem deshalb, weil die in der Anstaltsbibliothek verfügbare Literatur dominiert ist von »Geschmacklosigkeit und Stumpfsinn, […] Katholizismus und Nationalsozialismus«121 und also keine vergleichbaren Lektüreerlebnisse gewähren kann. Die Dämonen liefern hingegen eine Perspektive, die den Kranken (der sich immer noch als Musiker imaginiert122) in Richtung der Schriftstellerei und eines Lebens in der Literatur lenkt (sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinne): Die Ungeheuerlichkeit der Dämonen hatte mich stark gemacht, einen Weg gezeigt, mir gesagt, daß ich auf dem richtigen Weg sei, hinaus. Ich war von einer wilden und großen Dichtung getroffen, um selbst als ein Held daraus hervorzugehen.123

Das Leseerlebnis Dämonen ist auf diese Weise Bestärkung des Patienten auf seinem Weg zurück ins Leben, auf der anderen Seite ist es hingegen auch Ausgangspunkt für eine Literarisierung des eigenen Lebens im Sinne der Autobiografie: Den Status als »Held« entnimmt der Lesende dem Roman, um ihn schließlich sich selbst zu verleihen, wovon der vorliegende autobiografische Text zeugt. Die Literatur rettet dieses Leben nicht nur im Hinblick auf ihre Kraft, den Weg hinaus aus Klinik und Krankheit zu weisen, sondern auch hinsichtlich der Aufnahme dieses Lebens in die Literatur selbst: Der Erzähler wird zum Helden seines eigenen Romans, der in Form der Autobiografie und der von ihr betonten heldenhaft erzwungenen Wenden des eigenen Lebens vorgelegt wird. Betreibt Der Keller also die Apotheose des eigenen Erzählens, die Absolutsetzung der eigenen Stimme, so stärkt Die Kälte diese Position, indem sie die Erlösung aus Krankheit und Leid durch die und in der Literatur als Lebensperspektive an deren Seite stellt.

121 Bernhard: Die Autobiographie, S. 398. 122 Vgl. Bernhard: Die Autobiographie, S. 399. 123 Bernhard: Die Autobiographie, S. 397. Hervorhebungen im Original. – Die Dämonen werden bei Bernhard nicht (wie andere Werktitel) kursiv hervorgehoben – eine typografische Vorgehensweise, durch die die charmante Doppeldeutigkeit entsteht, dass einerseits das Werk, andererseits aber auch die tatsächlich hiervon freigesetzten »Dämonen« (im Sinne von Lebensgeistern) für den neuen Weg aus der Klinik heraus verantwortlich gemacht werden. Die Goethe’sche Fassung von »Δαιμων« in Urworte. Orphisch scheint dabei als Motto die Künstlerwerdung im Widerstand gegen äußere Gewalten, wie sie Bernhard präsentiert, zu präfigurieren: »Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form die lebend sich entwickelt«. Vgl. FA I , 2, S. 501 f.

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4.2.4 Reflexion vom Anfang her – Ein Kind als Wiederaufnahme zentraler Themen im Gewand der Kindheitsautobiografie Wende und Heterotopie sind in den vorangegangenen Kapiteln als konstitutive Elemente der autobiografischen Subjektkonstruktion in den ersten vier Bänden von Bernhards autobiografischem Werk herausgearbeitet worden. Ein Kind, der fünfte Band des Gesamtprojekts, der in Bezug auf die geschilderte Geschichte chronologisch den Anfang markiert, jedoch das Ende der Gesamterzählung bildet, reflektiert diese zentralen Denkfiguren erneut in der Form der Kindheitsautobiografie. Der bisweilen in den anderen Bänden herausstechenden existenzialistischen Verve, mit der das Moment individuellen Entwicklung behandelt wird, die vom Einzelnen unter großer Kraftanstrengung der dominanten Gesellschaft abzuringen ist, wird in Ein Kind eine Perspektive entgegengesetzt, die durch die Verankerung dieser schwerwiegenden Gedanken in der Reflexion eines Kindes einen grotesken bzw. ironischen Effekt erzielt.124 Ein Kind nimmt der Ausrichtung der Autobiografie auf die errungene künstlerische Entwicklung, wie sie sich als Fazit in Die Kälte formuliert findet, zu einem gewissen Teil den Ernst und legt damit offen, dass sich die existenziell anmutende Darstellung letztlich einem Emplotment entlang tradierter Linien verdankt, das, auf einen ihm nicht entsprechenden Gegenstand wie die Kindheit angewendet, eine irritierende Wirkung entfaltet. Die existenzielle Schilderung wird durch diese Technik als Methode des Schriftstellers enttarnt, das eigene Leben im Sinne einer literarischen Heldengeschichte zu erzählen – ein Manöver, das die Macht des Erzählers über die Selbstdarstellung unterstreicht und sich hiermit in die vor allem in Der Keller betriebene Hypostasierung des schreibenden Ichs einordnet. Ein Kind setzt ein mit einer Episode, die mit allen Mitteln des existenzialistischen Wende-Pathos ausgestattet ist, auch wenn sie aus der Fokalisierung eines achtjährigen Kindes erzählt wird.125 Der Junge entschließt sich dazu, zum Radfahrer zu werden und mit dem »Waffenrad« seines Vormundes den 36 Kilometer weiten

124 Für die Gesamtautobiografie behauptet auch Damerau diesen Charakter des Grotesken, verharrt aber ansonsten zu stark in einer psychologisch grundierten Version des Inszenierungsparadigmas. Vgl. Damerau: Selbstbehauptungen und Grenzen, S. 420. Mit Schwerpunkt auf Die Kälte verwendet Holdenried den Begriff des Grotesken: Holdenried: Im Spiegel ein anderer, S. 370. 125 Zur Einordnung dieser Episode in das autobiografische Gesamtprojekt Bernhards vgl. Martin Huber: »Möglichkeitsfetzen von Erinnerung«. Zur Rezeption von Thomas Bernhards autobiographischer Pentalogie. In: Wolfgang Bayer (Hg.): Kontinent Bernhard. Zur Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1995, S. 44– 57, hier S. 55.

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Weg vom Elternhaus im bayerischen Traunstein zu einer Tante nach Salzburg zurückzulegen. Dies wird als neuer Lebensabschnitt markiert, der allein vom Willen des Achtjährigen geprägt ist: Wenn die Meinigen wüßten, was ich, durch einen durch nichts vorher angekündigten Entschluß, schon erreicht habe, dachte ich, wenn sie mich sehen und naturgemäß gleichzeitig, weil sie keine andere Wahl haben, bewundern könnten! […] ich hatte an diesem Tag die größte Entdeckung meines bisherigen Lebens gemacht, ich hatte meiner Existenz eine neue Wendung gegeben […].126

»Entschluß« und »Wendung« sind hier die Stichworte des aus den anderen Bänden bekannten existenzphilosophischen Vokabulars, die der euphorisierte Radfahrer verwendet, um seine Tat als Beginn eines neuen Daseins zu feiern. Noch bedauert er es, dass ihm dabei die »Beobachter als Bewunderer«127 fehlen – eine Emotion, die jedoch in den Hintergrund tritt, als das Vorhaben kläglich scheitert, ja gar im »Inferno«128 eines Gewitters untergeht, das der blutende Gestürzte erlebt, der nur noch »ein Gerümpel«129 mit gerissener Kette statt des stolzen Waffenrades schiebt. Die »Wendung« hat zu einer krachenden persönlichen Niederlage geführt, der Aufbruch in eine neue Existenz in der »bewunderte[n] Kunst«130 des Radfahrens scheint jäh gescheitert. Der nächtliche Gang nach Hause, wo als disziplinierende Instanz die verbal wie körperlich strafende Mutter wartet, wird jedoch vermieden und der Achtjährige begibt sich an einen Ort, der es ihm offensichtlich ermöglicht, diese naheliegende Bewertung umzudrehen – er findet eine Heterotopie, in der andere Regeln gelten, als dies in der Umgebung des Traunsteiner Elternhauses der Fall wäre: Zum Großvater nach Ettendorf ging ich, wie immer, auch in dieser Nacht wie auf einen heiligen Berg hinauf. Ich stieg aus den Niederungen empor. […] Ich ließ den abscheulichen Geruch einer dumpfen Welt hinter mir, in welcher die Hilflosigkeit und die Gemeinheit an der Macht sind. Etwas Feierliches kam in meinen Gang, die Atemzüge weiteten sich, bergauf, zu meinem Großvater, zu meiner höchsten Instanz, wandelte ich mich ganz und gar selbstver-

126 Bernhard: Die Autobiographie, S. 408 f. 127 Bernhard: Die Autobiographie, S. 408. 128 Bernhard: Die Autobiographie, S. 410. 129 Bernhard: Die Autobiographie, S. 411. 130 Bernhard: Die Autobiographie, S. 407.

188 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE ständlich vom gemeinen Verbrecher […] zur Persönlichkeit, deren hervorstechendste Eigenschaft nichts als ein erhabener Stolz war.131

Auf diesem »Berg der Weisheit« gelten nicht die Regeln der Traunsteiner »Niederungen des Kleinbürgertums«,132 sondern das Vorbild des Großvaters, der hier zudem besonders als »Anarchist« markiert wird,133 legt dem Enkel nahe, seine Tat zu feiern, die doch zumindest als Ausbruch aus den eng gesteckten Grenzen der kleinbürgerlichen Existenz bewertet werden kann.134 Allein der Weg in diese Heterotopie, in der andere Bewertungsmaßstäbe gelten, genügt dem Achtjährigen, um sich in seinem eigenen Denken über die befürchtete mütterliche Erniedrigung und ihre zunächst sein Selbstbild als Gescheiterter bestimmende Ideologie hinwegzusetzen und sich aufzuschwingen zum »besonders intelligente[n], mit ganz besonderen Geistesgaben ausgestattete[n] Mensch[en]«, der »in so kurzer Zeit das Radfahren« erlernt und sich auf eine derartige Reise begeben hat. »Daß ich kurz vor dem Ziel scheiterte, schmälert nicht meine Wundertat. […] Denn selbst in meinem Scheitern ist noch meine Größe erkennbar.«135 Der Weg auf den Berg ist es, der dem Jungen die Möglichkeit eröffnet, als Autobiograf in eigener Sache ein alternatives Emplotment seines Scheiterns in die Hand zu nehmen: Das Vorbild des anarchistischen Großvaters vor Augen, der einen

131 Bernhard: Die Autobiographie, S. 418. 132 Bernhard: Die Autobiographie, S. 421. 133 Bernhard: Die Autobiographie, S. 417. 134 Alexandra Ludewig verfolgt die Rolle des Großvaters und der mit diesem assoziierten »Großvaterwelt« als konstitutives Moment verschiedener Figuren und Komplexe in Bernhards Gesamtwerk. Ohne auf den Heterotopiebegriff zurückzugreifen, verdeutlicht sie die Rolle dieser Sphäre als Alternative zu den Entwürfen der Mehrheitsgesellschaft. Eingeschränkt wird die Tragfähigkeit der Argumentation von unnötigen Kurzschlüssen zum realen Großvater Bernhards, die bisweilen Erkenntnisse zur Konstruktion dieser Figur im Werk verstellen. Vgl. Ludewig: Grossvaterland, hier v.a. S. 81 ff. – Im Kontext des Erwerbs kulturellen Kapitals betrachtet Billenkamp das Verhältnis Bernhards zu seinem Großvater, bleibt dabei indes unter problematischer Engführung von Werk und Leben auf der Ebene des Biografischen. Vgl. Michael Billenkamp: Thomas Bernhard. Narrativik und poetologische Praxis. Heidelberg: Winter 2008, hier v.a. S. 60–79. Billenkamps feldtheoretisch argumentierende Arbeit erbringt in intertextueller Hinsicht und bezüglich spezifischer Textstrategien interessante Ergebnisse, überzeugt jedoch in einer zu intentionalistischen Anwendung von Bourdieus Habitus-Konzept theoretisch nur teilweise. 135 Bernhard: Die Autobiographie, S. 418.

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DIE ENTGEGENGESETZTE

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Gutteil seiner Zeit mit der geheimnisvollen »Romanarbeit«136 verbringt, gelingt es ihm, seine Erzählung vorzubereiten, die er zunächst dem im selben Haus lebenden Bauernsohn Schorschi vorträgt und damit einen großen Erfolg als Schriftsteller und Autobiograf erzielt, wobei er gleichzeitig die Erkenntnis gewinnt, dass die Faktenbasis der autobiografischen Schilderung gegenüber dem gewählten Plot, in dem sie präsentiert wird, keine große Relevanz hat: Ich selbst genoß meinen Bericht so, als würde er von einem ganz andern erzählt, und ich steigerte mich von Wort zu Wort und gab dem Ganzen, von meiner Leidenschaft über das Berichtete selbst angefeuert, eine Reihe von Akzenten, die entweder den ganzen Bericht würzende Übertreibungen oder sogar zusätzliche Erfindungen waren, um nicht sagen zu müssen: Lügen. […] Ich hatte die Fähigkeit, mein klägliches Scheitern am Ende mit ein paar kurzen Sätzen zu einem Triumph zu machen. Es war mir gelungen: der Schorschi war an diesem Morgen überzeugt, daß ich ein Held bin.137

Die Darstellung dieser Episode in Ein Kind verdeutlicht, dass der autobiografische Bericht dem Kompositionsprinzip des Emplotments folgt und damit Erfolg hat: Das Leben in tristen, beengten Umständen, die existenzialistische Wende und deren Gelingen durch den Gang in die Heterotopie, die das Individuum für seine künstlerische Tätigkeit stärkt, signalisieren im Kleinformat, was die ersten vier Bände des autobiografischen Gesamtwerks im Detail ausgeführt haben: die Präsentation eines künstlerisch erschaffenen Realitätsbildes, das von einem spezifischen existenzialistischen Plot dominiert ist, der spätestens hier als ein solches den Ereignissen vorgängiges und auf sie im Erzählvorgang übertragenes Ordnungsmuster erkennbar wird. In dem Achtjährigen, der hier gestärkt durch den großväterlichen Einfluss und das mit ihm verbundene, seinem sonstigen Leben enthobene Denken zum Autobiografen wird, feiert Ein Kind die Literatur und eine starke, Einfluss nehmende Autorschaft, wie sie ohne die ironische Brechung der Kindheitsperspektive bereits in Der Keller konzipiert und in Die Kälte als lebensrettende Kraft vorgestellt wurde.

4.3 Z WISCHENFAZIT Die fünf Bände der Bernhard’schen Autobiografie sind durchzogen von einer Kritik an autobiografischen Referenzvorstellungen, der ein spezifisches Emplotment der vermeintlichen Lebensgeschichte an die Seite gestellt wird, das auf die existenzia-

136 Bernhard: Die Autobiographie, S. 426. Hervorhebung im Original. 137 Bernhard: Die Autobiographie, S. 425 f.

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listisch grundierte Figur der Wende und die Vorstellung von einem sich an den Rändern der Gesellschaft entfaltenden, den Bedingungen abgerungenen individuellen Künstlertum geprägt ist. Wie anhand von Der Keller gezeigt wurde, bildet die Ausgangsbasis dieser Subjektkonstruktion eine narratologische Grundanlage, die die Macht des Erzählenden gegenüber dem erlebenden Subjekt exponiert. Der Erzähler ist es schließlich auch, der in Konfrontation mit der abjekten Sphäre des »Kellers« in der Scherzhauserfeldsiedlung zum ersten Mal die Technik eines Emplotments von Lebensgeschichten entlang von vorhandenen diskursiven Versatzstücken erprobt: Die Wende von der Kopf-Welt des Gymnasiums hin zur existenziell durch Themen von Geburt und Tod geprägten Sphäre des Ladens ist für den Erzähler eine Wende »in die entgegengesetzte Richtung«: hin zur kreativen, phantasievoll an andere Erzählungen anschließenden Narration. Der Jugendliche begibt sich so durch seine Abwendung von der dominanten Sphäre der Stadtgesellschaft und seine Aneignung von Erzählfragmenten der Außenseiter auf den Weg zum Schriftsteller, der seine Existenz in eine neue Richtung lenkt. Im Folgenden ist hier gezeigt worden, inwiefern diese Figuren der Wende und der Heterotopie als Elemente eines die gesamte Autobiografie dominierenden Plots wahrgenommen werden können. In den einzelnen Teilen finden sie sich wieder als Rückzug vor der Masse in die Schuhkammer zur Ermöglichung einer künstlerischen Entwicklung (Die Ursache), als Nutzung des Sterbezimmers zur geistigen Vorbereitung auf ein anderes Leben (Der Atem) und schließlich als Kampf gegen die Regeln des Patientenkollektivs und Rettung durch die Literatur (Die Kälte). Die Tatsache, dass es sich bei der vorliegenden Darstellung um ein nicht authentisches Emplotment handelt, das sich auf künstliche Weise vor die Fakten der Biografie schiebt, reflektiert schließlich besonders deutlich Ein Kind: Der Zusammenhang von Wende-Motiv, Freiheitspotenzial der Heterotopie und künstlerisch-erzählerischer Gestaltung des eigenen Lebens wird hier, irritierenderweise verlegt in die Gedankenwelt eines Achtjährigen, als arbiträre Konstruktion durchschaubar gemacht, die geradezu dazu dienen kann, über die Tatsachen hinwegzutäuschen und die damit einer referenziellen Vorstellung von der autobiografischen Gattung diametral entgegengesetzt ist. Thomas Bernhards Autobiografie lässt sich so insgesamt lesen als Apotheose des Erzählers: Er ist derjenige, der dem Stoff die entscheidende Form gibt; nur er hat, als erzählendes Ich, im Text das Wort, während das erlebende Ich an den Rand gedrängt bzw. in seiner Schwäche vorgeführt wird. Insofern bieten die autobiografischen Bände Bernhards neben der Konstruktion eines Subjekts im Diskurs gleichzeitig ein Loblied auf die Literatur selbst, die in der Lage scheint, das triste Leben im literarischen Heldentum aufzuheben und so als Überlebensperspektive auch in den düstersten Umständen herausgestellt wird.

5.

Immer mit dabei: Thomas Glavinic

5.1 D IE A RBEIT DER N ACHT : A RBEIT AM I CH OHNE ANDERE Thomas Glavinics Roman Die Arbeit der Nacht fällt insofern aus der Reihe der in diesem Band analysierten Primärtexte heraus, als der Text in Kritik und Literaturwissenschaft nicht als autobiografisch gelesen wurde. Der »Endzeitroman«,1 dessen Handlungslinie von einer antireferenziellen, phantastischen2 Versuchsanordnung bestimmt wird, in der der Held Jonas eines Tages aufwacht und sich auf der Welt allein wiederfindet, wird hier dennoch knapp verhandelt, weil im Rahmen dieser Grundsituation zentrale Fragen nach der Entstehung von Subjektivität3 aufgeworfen

1

Vgl. die Einordnung des Romans in eine Literatur- und Theoriegeschichte der Apokalypse bei Birgit Holzner: Thomas Glavinics Endzeitroman Die Arbeit der Nacht. In: Evi Zemanek u. Susanne Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld: transcript 2008, S. 215–224, sowie Wolfgang Müller-Funk: The Disappearing of Ruins. Thomas Glavinic’s The Work of the Night and an Imaginary Symposium with Benjamin, Simmel, Freud and Foucault. In: ders.: The Architecture of Modern Culture. Towards a Narrative Cultural Theory. Berlin/Boston 2012: de Gruyter, S. 163–172. Vgl. auch Nick Büscher: Solipsismus in der Großstadt: Die Arbeit der Nacht. In: Jan Standke (Hg.): Die Romane Thomas Glavinics. Literaturwissenschaftliche und deutschdidaktische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Lang 2014, S. 183–209, hier S. 200.

2

So die Einordnung bei Silke Horstkotte: Heilige Wirklichkeit! Religiöse Dimensionen einer neuen Fantastik. In: dies. u. Leonhard Herrmann (Hg.): Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 67–82.

3

In der Forschung ist an verschiedenen Stellen auf diese wichtige thematische Linie des Romans hingewiesen worden. Vgl. etwa Maria Kublitz-Kramer: Einsame Mahlzeiten. Alleinessende in Marlen Haushofers Die Wand und Thomas Glavinic’ Die Arbeit der

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werden, die insgesamt das Werk von Glavinic und die in der Folge zu analysierenden Texte bestimmen. Die in den anschließenden Unterkapiteln herauszuarbeitende Hauptlinie in Glavinics Ich-Texten, die Definition des Subjekts durch sein Immermit-dabei-Sein, seine Teilhabe an sozialen Prozessen und Diskursen, wird im fünften Roman des Autors, Die Arbeit der Nacht, zunächst einmal in Form eines Negativs verdeutlicht: In der menschenleeren Welt entfallen ebendiese Prozesse und damit die Möglichkeit, das eigene Ich zu positionieren, was sich für den Protagonisten Jonas als das zentrale Problem seiner Existenz als Zurückgebliebener erweist. Die Arbeit der Nacht beginnt damit, dass Jonas versucht, Kontakt mit anderen aufzunehmen. Sein Guten-Morgen-Ruf bleibt unbeantwortet, die verschickte SMS ebenso, und auch der Rückgriff auf die Massenmedien misslingt: Der Fernseher zeigt kein Bild und der Kurier ist nicht geliefert worden. In nuce folgt bereits auf der ersten Seite des Romans das, was diesen durchgehend bestimmen wird: Jonas ist auf sich selbst zurückgeworfen; wo kein Kontakt zu anderen herzustellen ist, bleibt die Konfrontation mit den wenig erbaulichen Resultaten des eigenen Handelns: »Er blickte sich im Zimmer um. Über den Boden verstreut lagen Hemden, Hosen und Strümpfe. Auf der Anrichte stand das Geschirr vom Vorabend. Der Müll roch. Jonas verzog das Gesicht.«4 Zeigt schon diese Reaktion, dass dem Protagonis-

Nacht. In: Claudia Lillge u. Anne-Rose Meyer (Hg.): Interkulturelle Mahlzeiten. Kulinarische Begegnungen und Kommunikation in der Literatur. Bielefeld: transcript 2008, S. 277–293; Marta Famula: Gleichnisse des erkenntnistheoretischen Scheiterns. Thomas Glavinics Roman Die Arbeit der Nacht in der Tradition des labyrinthischen Erzählens bei Franz Kafka und Friedrich Dürrenmatt. In: Andrea Bartl (Hg.): Transitträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Augsburg: Wißner 2009, S. 103– 122; Friederike Gösweiner: Die Kehrseite absoluter Freiheit: die neue Einsamkeit der Postmoderne bei Arno Geiger, Xaver Bayer und Thomas Glavinic. In: Michael Boehringer u. Susanne Hochreiter (Hg.): Zeitenwende. Österreichische Literatur seit dem Millennium: 2000–2010. Wien: Praesens 2011, S. 465–481; Julia Schöll: Entwürfe des auktorialen Subjekts im 21. Jahrhundert. Daniel Kehlmann und Thomas Glavinic. In: dies. u. Johanna Bohley (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 279–292; Claudia Hillebrandt u. Sandra Poppe: Angst-Lektüre. Emotionsdarstellung und -evokation in Thomas Glavinics »Die Arbeit der Nacht«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 131 (2012), Sonderheft, S. 225–246; Felix Forsbach: Spur der Existenz. Die Hauptfigur in Glavinics Die Arbeit der Nacht als medial vermittelte Existenz. In: Andrea Bartl, Jörn Glasenapp u. Iris Hermann (Hg.): Zwischen Alptraum und Glück. Thomas Glavinics Vermessungen der Gegenwart. Göttingen: Wallstein 2014, S. 132–146. 4

Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 7.

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ten der Bezug auf die eigenen Erzeugnisse, die, beispielsweise Foucault zufolge, den Zugang zum Menschen ermöglichen sollen – »Man kann zu ihm nur Zugang durch seine Wörter, seinen Organismus, die von ihm hergestellten Gegenstände haben.«5 –, eher unangenehm ist, kommt es in der Folge zu einer zweideutigen, aber gleichwohl markanten Verweigerung eines Blicks nach innen (der den Traditionen Descartes’ und Kants als Anker der Subjektivität gedient hatte), der jedoch für Jonas plötzlich unausweichlich wird – zunächst in ganz materieller Form, da er sich mit dem Brotmesser in den Finger schneidet, darüber hinaus aber offenbar auch in übertragenem Sinne:6 Was er da sah, hatte noch nie ein Mensch gesehen. Auch nicht er selbst. Er lebte mit diesem Finger seit fünfunddreißig Jahren, doch wie es im Inneren aussah, wußte er nicht. Er wußte nicht, wie sein Herz aussah oder seine Milz. Nicht, daß er besonders neugierig darauf gewesen wäre, im Gegenteil. Aber unzweifelhaft war dieser blanke Knochen ein Teil von ihm. Den er erst heute sah.7

In dieser Äußerung der intern fokalisierten Erzählinstanz8 wird der zentrale Effekt deutlich, der im Roman durch das Wegfallen äußerer Kommunikationspartner und einer Gesellschaft, in die sich das Ich einordnen könnte, erzielt wird: Zwangsweise wird hierdurch der Blick aufs Ich gerichtet, nach innen, ohne dass der Protagonist dies aus eigenem Antrieb bezwecken würde – für Jonas offenbar eine kontraintuiti-

5

Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 378. Vgl. hierzu Kap. 2.2.1.

6

Vgl. auch Tabea Dörfelt-Mathey: »Das Ich. Das Ich der anderen.« Identität als zwischenmenschliches Ereignis bei Thomas Glavinic. In: Standke (Hg.): Die Romane Thomas Glavinics, S. 101–119, hier S. 105.

7

Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 8.

8

In der Wahl der Erzählinstanz – ein heterodiegetischer Erzähler, der in der dritten Person bei gleichzeitiger interner Fokalisierung auf Jonas erzählt – vollzieht der Roman eine Erzählanlage nach, die er mit einem wichtigen Intertext teilt: dem biblischen Buch Jona, das dieselbe Erzählanlage als einziges Buch in der Reihe der Prophetenbücher des Alten Testaments aufweist (sämtliche andere Prophetenbücher haben eine homodiegetische Erzählhaltung, sodass die Propheten jeweils selbst zu Wort kommen). Die Orientierung an diesem Prätext verbindet den Roman mit Paul Austers »Book of Memory«, auf das, auch hinsichtlich der erkenntnis- und subjekttheoretischen Implikationen dieses Erzählens, in Kap. 7.2 eingegangen wird. – Auf das Jona-Buch als Intertext für Die Arbeit der Nacht ist in der Forschung verschiedentlich hingewiesen worden, allerdings ohne dass die erzähltheoretische Gemeinsamkeit bemerkt worden wäre. Vgl. zuerst Famula: Gleichnisse erkenntnistheoretischen Scheiterns, S. 110 f.

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ve Handlung, der Blick ins Innere bricht mit der Gewohnheit des postmodernen Menschen, seine Selbstdeutung (wie mit Foucault beschrieben) vorwiegend aus dem Außen abzuleiten. Die Arbeit der Nacht exemplifiziert so einen Fall, der durch die Tatsache, dass gängige Strategien der Selbsterkenntnis im gesellschaftlichen oder diskursiven Rahmen ins Leere laufen, deren Relevanz bestätigt und besonders markiert: Jonas gelingt es nicht, aus sich selbst heraus einen Lebenssinn zu erschaffen, er scheitert letztlich daran, dass die Rahmenbedingungen, die im Normalfall sozialen Zusammenlebens als Ankerpunkte für Lebensgestaltung und Selbsterkenntnis dienen können, ausfallen – der Roman endet mit seinem Sprung vom Stephansdom in offensichtlich suizidaler Absicht.9 Wie in der Forschung zu Die Arbeit der Nacht bereits festgestellt worden ist, reagiert der Protagonist auf die Leere um ihn herum, indem er versucht, dem an der Außenwelt orientierten Selbsterkenntnisparadigma der Foucault’schen Theoriebildung gemäß, auch zu sich selbst über das Außen einen Zugang zu erhalten, wobei in einem ersten Schritt Medien eine zentrale Rolle spielen:10 Über schriftliche Sig-

9

Streng genommen kann man wohl nicht davon sprechen, dass der Roman mit Jonas’ Suizid ende, da bis zum Ende des Textes dessen Reflexionen während des Sturzes hinab in stark zeitdehnender Form wiedergegeben werden. Kublitz-Kramer spricht gleichwohl von der »Selbsttötung«, die von Jonas als »Auflösung der Persönlichkeit in der Gemeinschaft der Abwesenden« vollzogen werde, »als ihm endgültig klar wird, dass es ein Ich nur im Zusammenhang mit dem Anderen geben kann, dass die Differenzerfahrung das Fundament des Sozialen ausmacht«. Kublitz-Kramer: Einsame Mahlzeiten, S. 292. Vgl. auch Gösweiner: Die Kehrseite absoluter Freiheit, S. 476 f., wo der Akzent aber meines Erachtens zu stark auf die Frage entfallender »Werte und Normen« der Gesellschaft gelegt wird – ein moralischer Zusammenhang, der so aus meiner Sicht im Roman keine besonders große Rolle spielt, sondern gegenüber der Notwendigkeit der eigenen Selbstwahrnehmung im sozialen Kontext im Hintergrund steht. – Im Roman selbst wird an früherer Stelle der Gedanke geäußert, dass man »durch Langsamkeit sterben« könne, indem »man die Ausführung einer alltäglichen Handlung zeitlich dehnte […]: Weil man in diesem Dehnen und Ausdehnen die Welt verließ« – das Romanende scheint dieser Theorie zu entsprechen und den Tod des Protagonisten gewissermaßen durch die narrative Technik der Zeitdehnung herbeizuführen (Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 49).

10

Diesen Schwerpunkt setzt Forsbach in seiner Interpretation des Romans. Vgl. Forsbach: Spur der Existenz, hier z.B. S. 133. Forsbachs These, dass die Hauptfigur »aufgrund des Fehlens von Gesprächs- und Interaktionspartnern auf eine direkte Reflexion und Betrachtung ihrer Existenz zunehmend verzichtet und zu einer medialen Vergewisserung ihrer Existenz übergeht« (ebd., S. 139), lässt sich meines Erachtens jedoch nicht aufrechterhalten: Das Scheitern dieser medialen Vergewisserung wird im Roman rasch

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nale, die er in der Außenwelt platziert, versucht Jonas zunächst, Feedback eventueller anderer Überlebender einzuholen;11 als dies misslingt, beginnt er damit, einen umfassenden Überwachungsapparat aufzubauen, der über die Installation von Kassettenrekordern und Videokameras an verschiedenen Orten in der Stadt funktioniert,12 deren Bänder er akribisch kontrolliert13 und schließlich auch mit eigenen Aktionen füllt, aus deren Aufnahmen er einmal sogar einen regelrechten Film zusammenschneidet.14 Die Ergebnisse hinsichtlich der Bestimmung seiner Existenz sind indes ernüchternd: Zwar findet Jonas rätselhafte Geräusche auf einer der Kassetten – möglich, dass er es selbst ist, den er hört – und sein Telefon klingelt, ohne dass er die Person am anderen Ende der Leitung verstehen könnte,15 diese und an-

deutlich, weshalb Jonas weniger den Medien als einem fieberhaften Aktionismus in der Außenwelt folgt, um das Defizit an sozialer Ansprache auszugleichen. 11

Jonas schreibt Postkarten an sich und seinen Vater (Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 31, 36, 41), hinterlässt Botschaften in einem Salzburger Hotel (ebd., S. 39), in Villach, Klagenfurt, an der Grenzstation zu Slowenien und verschiedenen anderen Orten (ebd., S. 41 f.), schließlich in einer mysteriösen Wohnung, in der das Licht leuchtet und die wie seine eigene aussieht (ebd., S. 55), und an zahlreichen anderen Stellen in Wien (ebd., S. 56 f.), er versucht es mit telepathischen Mitteilungen an seine Freundin Marie und mit Kommunikation über das Internet – vergebens (ebd., S. 64 f.). Auch die an den Donauturm gehängte Fahne mit der Aufschrift »UMIROM«, ein Wort, das Jonas in einem Traum erschienen ist (und sich später in einer traumhaften Koinzidenz als der Name eines Medikaments gegen das Einschlafen erweist, vgl. ebd., S. 351 f.), führt nicht zu einer Rückmeldung (ebd., S. 66 f.), ebenso wenig wie seine Versuche, über Funk mit der Welt in Kontakt zu treten (ebd., S. 70).

12

Vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 74–78.

13

Vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 88–92.

14

Jonas filmt sich mithilfe einer Vielzahl an Kameras bei einer Hochgeschwindigkeitsfahrt durch Wien, die mit einem Unfall endet, und schneidet die Ausschnitte der einzelnen Aufnahmen, auf denen er im Auto zu sehen ist, danach auf einem Band hintereinander, das er sich erst am Tag seines Sprungs vom Stephansdom wieder ansieht. Der Vorgang der Videoproduktion lässt Zweifel an der Wahrnehmungsfähigkeit des Protagonisten (und damit an der Zuverlässigkeit seines Erzählens) aufkommen, wenn Jonas beim Schneiden des Materials Handlungen von sich selbst sieht, an die er sich nicht erinnern kann. Vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 205–208, 226–229, 383 f.

15

Vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 84 u. 86 f. Der Anrufer ist möglicherweise auch Jonas selbst; er findet später heraus, dass von seinem Handy um 16.31 Uhr seine Festnetznummer gewählt worden ist, um 16.42 Uhr hat er – nach dem ›Gespräch‹ – den Zeitpunkt des Anrufs notiert (vgl. ebd., S. 97).

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dere beobachtete Ereignisse führen ihn jedoch nicht weiter und erscheinen auch sachlich fragwürdig angesichts des unklaren Realitätsstatus, den die Schilderungen des Romans aufgrund der auf den immer labiler erscheinenden Jonas fixierten internen Fokalisierung zunehmend haben.16 Um der Sache auf den Grund zu gehen, posiert Jonas nicht nur für die Kameras, er überwacht sich auch selbst: Er macht sich zum Gegenstand eines medialen Produkts, indem er sich als Schlafenden filmt17 – mit dem Ergebnis, dass er den »Schläfer«18 als zweite Dimension seines Ichs erkennt, der, ohne dass dies dem Tages-Jonas bewusst wäre, nächtlichen Aktivitäten nachgeht19 und ihm schließlich als Gegner innerhalb der eigenen Person be-

16

Die strikt durchgehaltene interne Fokalisierung verhindert Erkenntnisse darüber, an welchen Stellen womöglich Träume oder Gedanken der Figur wiedergegeben werden, was angesichts der Unerklärlichkeit der Gesamtsituation sowie einzelner Vorkommnisse den Realitätsstatus des Geschilderten durchgehend verunklart. Schöll spricht diesbezüglich von einem Erzählen, das »fast manisch auf das Subjekt konzentriert bleibt«, wobei dem hinzuzufügen wäre, dass der Begriff »Subjekt« hier fragwürdig erscheint, da die Kapazitäten von dessen Weltwahrnehmung angesichts der Schilderungen genauso infrage stehen wie die seiner Selbsterfahrung in der menschenleeren Welt. Insofern trägt meines Erachtens Schölls These, der Roman sei vom Konzept eines »starke[n] Subjekt[s]« geprägt, nicht. Schöll: Entwürfe des auktorialen Subjekts im 21. Jahrhundert, S. 282 u. 280. Hervorhebung im Original.

17

Vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 99.

18

Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 104.

19

Zunächst ist nur zu erkennen, wie der »Schläfer« ein Auge öffnet; in einem zweiten Video steht er plötzlich auf und untersucht die Wand, bevor die Kassette endet (Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 114), in der nächsten Nacht wirft er eine Decke nach der Kamera und es sind Schreie zu hören, zu denen sich kein Bild mehr findet (ebd., S. 129– 131). Später starrt der »Schläfer« mehrere Stunden in die Kamera (ebd., S. 197 f.), rammt offenbar ein Messer in eine Betonwand und zieht es später wieder heraus, was Jonas tagsüber nicht gelingt (ebd., S. 202, 230, 241). Als Jonas eine anfangs unternommene Reise später nachvollzieht, drängt sich der Eindruck auf, dass er diese Tour zwischendurch als »Schläfer« erneut unternommen hat, wenn er etwa in einem Hotel eine Kamera aufgestellt findet (ebd., S. 247). In der letzten Phase ist offensichtlich der »Schläfer« dafür verantwortlich, dass Jonas mehrere Zähne verliert, die ihm tagsüber Schmerzen verursacht haben (ebd., S. 305); eine weitere Episode zeigt ihn als weißes Wesen in einem weißen Raum, was den Realitätsstatus des Geschilderten, das nicht erklärt wird, infrage stellt, ebenso wie der Fund einer Kamera, die ein Video seiner Mutter und seiner Großmutter enthält (ebd., S. 318–320). Eine Logik der Realität weicht in diesen Fällen zusehends einer Logik des Traums bzw. des Wahns.

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gegnet.20 Dieser »Ich-Verlust«21 im Sinne einer Persönlichkeitsspaltung, deren Hintergründe vom Roman nicht offengelegt werden, hat eine Reihe psychoanalytisch inspirierter Interpretationen angeregt22 – der Roman selbst lässt diese Lesart offen, wenn er über den Realitätsstatus des Erlebten spekuliert: »Oder er träumte. Oder er war wahnsinnig geworden.«23 Diese Spaltung ließe sich jedoch auch als Ersatzfunktion für das entfallende gesellschaftliche Gegenüber wahrnehmen: Wo das Du im Außen fehlt, sorgt das Ich für dessen Herstellung innerhalb der eigenen Psyche, was jedoch weniger der »Selbstfindung« dient, wie es in anderen Romanen mit vergleichbarer Versuchsanordnung der Fall ist, als es eine albtraumhafte »zunehmende Selbstzerstörung«24 vorantreibt, die darin gipfelt, dass dem »Schläfer« beispielsweise zugeschrieben wird, Jonas nachts in einer blutigen Aktion Zähne gezogen25 oder ihn im Kofferraum eines Autos eingesperrt zu haben.26

20

Frühere Irritationen des aufwachenden Jonas, der sich sicher ist, dass sich seit seinem Schlafengehen in der Wohnung etwas verändert hat, lassen sich im Nachhinein über die nächtlichen Aktivitäten, an die er sich nicht erinnern kann, erklären – zumindest scheint der Roman diese Sicht der Dinge nahezulegen. Vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 26, 41, 43, 52.

21 22

Hillebrandt u. Poppe: Angst-Lektüre, S. 226. So ist in Interpretationen etwa pathologisierend die Rede von »Wahnvorstellungen« (Schöll: Entwürfe des auktorialen Subjekts im 21. Jahrhundert, S. 281) oder den »existenzielle[n] Ängste[n]« der Hauptfigur (Hillebrandt u. Poppe: Angst-Lektüre, S. 226).

23

Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 17. – An anderer Stelle wird im Übergang zwischen Realitätsdarstellung und einer vermutlich als Fieberphantasie zu erklärenden Episode deutlich, inwiefern der Roman immer wieder ein Verschwimmen der Realitätsebenen präsentiert, ohne konkrete Hinweise zu den erfolgenden Wechseln zu geben (vgl. ebd., S. 168 f.). Im selben Kontext steht der Bericht von einer »Schläfer«-Episode, bei der Jonas sich selbst mit schwarzer Maske erkennt – der Text gibt außer dem Hinweis auf Jonas’ Fieber keine weiteren Erklärungen, die diese Geschehen erklären würden (vgl. ebd., S. 172 f.). Im Laufe der Zeit entwickeln sich bei Jonas Verfolgungsängste: So fürchtet er sich vor einem »Wolfsvieh«, unter dessen »Pelz etwas anderes, noch weit Schlimmeres« steckt – eine Vision, deren mangelnden Realitätsgehalt er in manchen Momenten durchschaut, in anderen wieder nicht (vgl. ebd., S. 191 f., 258, 269–271, 279, 308, 325, 355, 380).

24

So unter Verweis auf Defoes Robinson Crusoe und Marlen Haushofers Die Wand:

25

Vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 305.

26

Vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 342–346.

Kublitz-Kramer: Einsame Mahlzeiten, S. 283 f.

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Die mediengestützte Selbsterfahrung führt mithin nicht zu einer Stärkung der Subjektivität, wie von Jonas erhofft, sondern stellt diese noch grundlegender infrage, als es die Einsamkeit vermochte: In der unerwarteten Situation der vollständigen Verlassenheit bleibt ihm eigentlich nur das eigene Ich als Ankerpunkt, von dem aus die unverständlich gewordene Welt wahrgenommen und eingeschätzt werden kann – eine Perspektive, die der klassischen Subjekttheorie Descartes’scher oder Kant’scher Prägung entspricht, der zufolge die einzige Gewissheit im wahrnehmenden Subjekt selbst liegt. Durch seinen Blick in den digitalen Spiegel des von ihm selbst aufgezeichneten Kamerabildes erfährt Jonas in diesem Subjektverständnis jedoch eine Freud’sche Kränkung und muss feststellen, dass das Ich ganz offensichtlich nicht mehr Herr ist im eigenen Haus,27 sondern sich dieses mit einem von seinem Unbewussten angetriebenen anderen teilen muss – dem »Schläfer«, der mit seiner »Arbeit der Nacht« bisweilen das konterkariert, was Jonas tagsüber getan hat.28 Nicht nur die soziale Welt fällt damit als Taktgeber der Selbsterkenntnis weg, auch die Introspektion erscheint unter den Bedingungen des Ich-Zerfalls nicht mehr als gangbarer Weg zum Verständnis des eigenen Ichs. Die Versuche, sich der eigenen Person nicht innerhalb des Selbst oder dessen medial gestützter Wahrnehmung zu versichern, verlagern sich dementsprechend weiter auf die Außenwelt. Ein großer Teil des Romans besteht mithin in der Schilderung von Jonas’ Bemühungen, Orte des eigenen Lebens, der Kindheit oder gemeinsamer Erlebnisse mit anderen aufzusuchen;29 nachdem der Zugang zum Ich

27

Vgl. die Formulierung bei Sigmund Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917). In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 12: Werke aus den Jahren 1917–1920. Unter Mitwirkung v. Marie Bonaparte hg. v. Anna Freud u.a. London: Imago 1947, S. 3–12, hier S. 11. Ausführlicher wird auf die Relevanz dieser Erkenntnis für die Subjekttheorie im folgenden Kapitel zu Das bin doch ich eingegangen.

28

In den Tagen, bevor er Jonas in den Kofferraum gesperrt hat, hat der »Schläfer«, Jonas’ nächtliches Ich, wohl bereits dafür gesorgt, dass die Reifen eines anderen Autos, das Jonas tagsüber genutzt hat, ›hinter dessen Rücken‹ abgezogen und verbrannt worden sind (vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 336) und dass die Strecke Richtung Norden, die er auf der Suche nach seiner an der Grenze zu Schottland verschollenen Freundin Marie zurückgelegt hat, in der Nacht in der Gegenrichtung erneut zurückgelegt wurde, was sein Vorankommen erheblich hemmt und ihn schließlich dazu bringt, mithilfe schlafhemmender Medikamente sein Nacht-Ich zu verbannen (ebd., S. 339 f.).

29

Büscher bringt in seiner Lektüre des Romans den Begriff des Ecocriticism ins Spiel, der für den Roman sicherlich eine Rolle spielt, jedoch aus meiner Sicht nicht im Zentrum steht: Auch die Natur ist dem vermeintlich entfremdeten Stadtmenschen Jonas bei der Sinngebung nicht behilflich. Vgl. Büscher: Solipsismus in der Großstadt, S. 188–192.

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über »Wörter« oder den »Organismus«30 (Foucault) sowie die Introspektion (Kant) fehlgeschlagen ist, versucht es Jonas jetzt offenbar mit einer Festlegung des Ichs über ›Werke‹ im Sinne von bleibenden Veränderungen in der Welt, also über den dritten Weg, den Foucault vorschlägt, wenn er den Zugang zum Menschen über »die von ihm hergestellten Gegenstände« in Aussicht stellt.31 Die Wohnung, in der er aufgewachsen ist, befreit er von den Spuren ihrer zwischenzeitlichen Bewohner und erkennt dort von ihm selbst hinterlassene Graffiti an verborgenen Stellen wieder – die »eingefrorene Zeit« zu beleben, die sie widerspiegeln, gelingt ihm dennoch nicht.32 Die Einrichtung der väterlichen Wohnung überführt Jonas in die Kindheitswohnung, wobei er auf Hindernisse stößt und überrascht ist, wie viele bekannte Dinge er etwa in im Keller verwahrten Kisten findet, an die er zuvor nie gedacht hätte.33 Der Rekonstruktion der Vergangenheit, so wird hier klar, sind enge Grenzen gesetzt; ob sie gelingt, hängt vom Zufall des Wiederentdeckens ebenso ab wie von der Erinnerungsfähigkeit des Protagonisten, der immer wieder auch an Orte kommt, die ihm bekannt erscheinen, zu denen ihm aber wenig anderes einfällt. Die Beständigkeit der eigenen Person über die Zeit wird so fragwürdig, wie Jonas im Kontext einer Erinnerung an eine Urlaubsreise in seiner Jugendzeit feststellt:

30

Diese körperliche Komponente spielt immer wieder eine Rolle im zunehmenden gesundheitlichen Verfall des Protagonisten. Er ist ›nicht mehr er selbst‹, sondern von ungewohnten Krankheiten gepeinigt, er erkennt sich in seinem Organismus eben gerade nicht wieder: »Nein, das konnte nicht sein. Normalerweise war er höchstens einmal im Jahr erkältet. Er konnte doch nicht kurz nach einer überstandenen Erkältung schon wieder krank werden.« (Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 113, vgl. ebd., S. 298.) Schließlich kommt es im Zusammenhang mit dem »Schläfer«, der ja ausweislich des Videomaterials denselben Körper teilt, zu Irritationen über die Frage, ob Geist und Körper hierdurch auseinanderfallen; eine besonders irritierende Episode für den Protagonisten ist die, als der »Schläfer« ihn gewissermaßen zu imitieren scheint und eine Aufnahme seines Nacht-Ichs eine am Vortag gemachte Aufnahme kopiert, die Jonas bewusst hergestellt hat (vgl. ebd., S. 295 f.). Jonas begegnet diesen Irritationen mit fortwährenden Versicherungen im Zustand des Wachseins, dass er er sei (vgl. ebd., S. 298). Zweifel an seiner Wahrnehmung sorgen schließlich für weitere Irritationen, die verdeutlichen, dass die Selbstdefinition über den Körper nicht als sinnvoll erscheint: »Wie konnte er sich sicher sein, daß das, was seine Augen sahen, auch da war? Eigentlich war er ein Klumpen Fleisch, der sich durch die Welt tastete. […] Sein Ich, das war ein blindes Etwas in einem Käfig. Sein Ich war alles, was sich innerhalb seiner Haut befand.« (Ebd., S. 307.)

31

Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 378.

32

Vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 61 u. 181.

33

Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 124 f.

200 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE Er dachte an den Jungen, der er vor achtzehn Jahren gewesen war. Er erkannte sich nicht. Die Zellen eines Körpers erneuerten sich alle sieben Jahre zur Gänze, hieß es, wodurch man alle sieben Jahre physisch ein neuer Mensch wurde. Und die geistige Entwicklung schuf eine Person zwar nicht neu, veränderte sie jedoch in einem Ausmaß, daß man getrost ebenfalls von einem anderen Menschen sprechen konnte nach so vielen Jahren. Was war es also, ein Ich? Denn dieses Ich, das er gewesen war, das war noch immer er.34

Die Überbrückung des zeitlichen Abstandes zwischen dem jetzigen und dem einstigen Ich gelingt stets nur in einer fragilen Konstruktion, auch wenn die Tatsache des Erinnerns die Konstanz des Ichs zu verbürgen scheint.35 In verschärfter Form stellt sich die Frage nach der Relevanz des eigenen Ichs jedoch angesichts des veränderten Weltzustandes, in dem niemand mehr da ist, sodass das Konzept des Erinnerns für die Zukunft obsolet wird:36 Jonas selbst kann sich noch Gedanken über seine eigene Vergangenheit machen, genauso wie er etwa Goethe als jemanden imaginieren kann, der bestimmte Erlebnisse gehabt hat, heute aber nicht mehr selbst darauf zurückblicken kann.37 Dieser Vorstellung der Historizität, die von der Wahrnehmung oder Imagination eines Ichs in späteren Jahrhunderten abhängig ist, kommt dem Alleingelassenen jedoch abhanden: »Niemand würde über seinen Tod nachdenken. Niemand würde wissen, wie er gestorben war.«38 Die Geschichte der Menschheit,

34

Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 144; vgl. auch ebd., S. 256, wo Jonas erneut die Einheit seines Ichs beschwört, während er sich am Ort eines Kindheitsurlaubs an die Vergangenheit erinnert.

35 36

Vgl. auch Dörfelt-Mathey: »Das Ich. Das Ich der anderen«, S. 110. Müller-Funk macht diesen Gedanken an der grammatikalischen Zeitform des Futur II fest: In der im Roman vorliegenden Situation gibt es nur noch Jonas, der daran denken kann, dass er ›gewesen sein wird‹ – ein tatsächliches Erinnern ist jenseits seiner eigenen Existenz nicht mehr möglich. Vgl. Müller-Funk: The Disappearing of Ruins, S. 163 f. – Der Roman selbst löst diese Prognose des Protagonisten ein, indem er dessen Tod ausspart und nur in zeitdehnendem Erzählen annähert, bevor der Roman abbricht. Vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 391–395.

37

Vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 149.

38

Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 276. – Erkenntnistheoretisch liegt dieser Gedankenfigur das quantenmechanische Beispiel von »Schrödingers Katze« zugrunde, demzufolge über einen nicht zu beobachtenden Zustand keine Aussagen getroffen werden können: Ohne Beobachter verliert ein Phänomen demnach jede Relevanz, erst die Messung durch einen Beobachter kann eine Aussage über den tatsächlichen Zustand der Realität ermöglichen. Diese Thematik spielt im Roman immer wieder eine Rolle; Jonas scheint nach Beispielen zu suchen, wie die Existenz eines Phänomens auch ohne Beobachtung

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so wird Jonas klar, endet wohl mit ihm,39 was sein Verhältnis zu Zeit und Erinnerung markant wandelt. Klar wird ihm, dass die menschliche Existenz so zur weltgeschichtlichen Episode wird – das einzelne Leben wie das der gesamten Menschheit verliert demgegenüber seine Bedeutung. Eine Versicherung über das eigene Selbst durch Werke ist von dieser Perspektive mithin ebenso beeinträchtigt: Jonas ist der einzige Rezipient seiner Werke, ja sie basieren – wie etwa der Umzug in die Kindheitswohnung, für den die Einrichtungsgegenstände der dort bis zu ihrem Verschwinden wohnhaften anderen Familie weichen müssen – geradezu darauf, dass die Welt entleert ist. Eine Veränderung der Welt, die Spuren des Ichs hinterlässt, ist, verfolgt man den Gedanken der Einsamkeit und Beobachterlosigkeit dieser Veränderungen, nicht sinnvoll und kann den angestrebten Zweck, die eigene Relevanz zu bestätigen, nicht erfüllen. Auch Jonas scheint dies zu erkennen, wenn er nach einer gewissen Zeit damit beginnt, Spuren, die er zunächst hinterlassen hat, wieder auszulöschen, sein Wirken in der Welt also zurückzunehmen.40 Dieses Auslöschen des eigenen Handelns weist dabei schließlich schon den Weg zu einem Rückzug des Protagonisten aus der Welt, es stellt bereits eine erste Etappe seines Eingehens in die Gemeinschaft der Verschwundenen dar,41 dessen »letzter Akt«,42 so Jonas’ Wahrnehmung, mit der Reise nach England beginnt, auf der er den Spuren seiner Freundin Marie folgen will – ein letzter Versuch, den Anschluss an ein soziales Leben wiederherzustellen, den Jonas bereits im Voraus pessimistisch bewertet.

zu beweisen wäre. Hieran scheitert er; er versucht jedoch auf verschiedenen Wegen der indirekten Beobachtung – beispielsweise über den Gedankengang, dass etwa die Funktionsfähigkeit eines Navigationssystems auf den selbst nicht zu beobachtenden Satelliten zurückzuführen ist (vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 300) – den Beweis für die Existenz von Dingen zu erbringen, die er nicht sehen kann. Er bedient sich also einer an Modelle der Metaphysik erinnernden Technik, die charakteristischerweise hier nicht aufgeht (vgl. Horstkotte: Heilige Wirklichkeit! S. 76): Der über denselben Weg zu erbringende Gottesbeweis, der vielleicht eine Erklärung für die Situation der Welt zu geben im Stande wäre, gelingt dem postmodernen Subjekt nicht – sein Schicksal bleibt »enigmatisch«, es gleicht einer »säkularisierten Apokalypse«, deren Urheber im Dunkeln bleibt (Büscher: Solipsismus in der Großstadt, S. 200). 39

Zur »Geschichtslosigkeit« des Zustands, in dem sich Jonas wiederfindet, vgl. auch Büscher: Solipsismus in der Großstadt, S. 192.

40

Vgl. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 230: »Vielleicht war Ordnung der Schlüssel. […] Möglichst wenig verändern. Und da, wo es machbar war, den alten Zustand wiederherzustellen.«

41

Vgl. Kublitz-Kramer: Einsame Mahlzeiten, S. 292 f.

42

Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 313.

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Im Laufe dieser Reise nehmen die Reflexionen eines möglichen Auswegs aus dem Dilemma der nicht gelingenden Selbstdefinition zu: Jonas beschäftigt sich intensiver mit der Frage des Selbstmordes, den ihm der »Schläfer« durch Signale bereits nahegelegt hat. In einer Videoaufzeichnung hat sich dieser einmal ein Messer an den Hals gehalten und offensichtlich hat er im Rahmen seiner nächtlichen Arbeit schon dafür gesorgt, dass als Hinweis an sein Tages-Ich ein Strick mit Schlinge in dessen Weg hängt. Jonas’ Erklärung, warum sich Menschen, denen es auf den ersten Blick gut geht, etwa weil sie reich und prominent sind, umbringen, verweist auf die auch von ihm gemachte Erfahrung der Unhaltbarkeit des eigenen Ichs: Erst später hatte er begriffen, warum sich diese Menschen töteten. Nämlich aus demselben Grund wie die Unberühmten und Armen. Sie konnten sich an sich selbst nicht festhalten. Sie ertrugen es nicht, mit sich allein zu sein, und hatten erkannt, daß das Zusammensein mit anderen das Problem nur leiser drehte, in den Hintergrund rückte, nicht aber löste. Vierundzwanzig Stunden am Tag man selbst zu sein, nie ein anderer, das war in manchen Fällen eine Gnade, in anderen ein Urteil.43

Das Alleinsein führt dazu, dass sich die Menschen selbst nicht ausweichen können, gleichzeitig aber keinen Halt in ihrem Ich finden. Wie Jonas schmerzhaft erfahren muss, kann dieses keinen Halt bieten, da weder die brüchige Erinnerung noch die von der Spaltung der Persönlichkeit geprägte Gegenwart zu einer haltbaren Existenz führen. Die dabei entstehenden Konflikte durch soziale Interaktion in den Hintergrund treten zu lassen, bleibt dem vereinsamten Jonas verwehrt – sein »Urteil« ist es, 24 Stunden am Tag mit sich allein zu sein, und das heißt: den Kampf mit dem »Schläfer« in ihm selbst bestehen zu müssen; eine Perspektive, die auch ihm letztlich den Selbstmord als einzigen Ausweg verheißungsvoll erscheinen lässt, bei dem im Sturz nach unten nicht zufällig Gedanken an eine glückliche Vergangenheit in der Geborgenheit des Familienlebens den Schlusspunkt setzen.44 Die Arbeit der Nacht erweist sich als Roman, der das für diese Arbeit zentrale Konzept des Subjekts und die Frage seiner Definition in großer Breite unter verschiedenen Blickwinkeln diskutiert. Unter den Rahmenbedingungen des Extremfalls, auf sich allein gestellt zu sein, wird weniger die Suche nach anderen oder nach

43 44

Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 361. Eine Lektüre des Romans, die sich dieser Hochschätzung des Sozialen widmet, die trotz der Abwesenheit der anderen als zentral erscheint, bietet Dörfelt-Mathey: »Das Ich. Das Ich der anderen«, hier insbesondere S. 107 f.

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einer Begründung für diese Situation des Horrors45 thematisiert als die immer wieder fehlgehenden Versuche, die eigene Existenz mit Sinn zu füllen und eine Position zu finden, die unabhängig von einer sozialen Einbindung ein lebenswertes Leben verspricht. »Ich« ist ein Konzept, dessen Haltbarkeit von äußeren Beobachtern abhängt – fehlen diese, erscheint es als Leerformel, der sich weder durch Introspektion noch durch äußerliche Überwachung oder Zusammenhang stiftende Erinnerung ein Sinn abgewinnen lässt. Ex negativo verdeutlicht Die Arbeit der Nacht daher die hohe Relevanz des Sozialen zur Selbstdefinition und stärkt die poststrukturalistische These von der Abhängigkeit des Einzelfalls von einem diesen umgebenden System, sei es der Diskurs, sei es die soziale Umwelt oder der Intertext. Glavinics Roman lässt sich damit lesen als Text, der das zentrale autobiografietheoretische Konzept des Subjekts in einer bestimmten Hinsicht auf das Soziale ausrichtet, auch wenn dies gerade durch dessen Abwesenheit erfolgt. Diejenigen Texte Glavinics, die vonseiten einer traditionell argumentierenden Literaturwissenschaft unter einem autobiografischen Referenzparadigma gelesen worden sind, nehmen diese Konstruktion auf und ziehen für die Gestaltung des dort erkennbar werdenden Subjekts ›Thomas Glavinic‹ die Konsequenzen aus dieser Grundlage.

5.2 D AS BIN DOCH ICH – W AS DENN EIGENTLICH ? D EFINITIONSSTRATEGIEN EINES A UTOR -I CHS 5.2.1 Was heißt hier: »ich«? Der Titel von Thomas Glavinics Roman Das bin doch ich46 macht zunächst einen einigermaßen harmlosen Eindruck. Und schließlich irritiert den Leser zeitgenössischer Literatur sicherlich nicht, dass hier von »Ich« die Rede ist, ist doch von einer historisch argumentierenden Erzähltheorie immer wieder unterstrichen worden, dass der Einsatz von homodiegetischen Erzählinstanzen, die man im Rahmen über-

45

Insofern wäre Famula zu widersprechen, die behauptet, die Handlung des Romans bestehe »im Streben nach einem bestimmten Ort, an dem die Erklärung für die offenen Fragen zu finden ist«. Frappierenderweise spielt gerade dieser Impuls im Handeln Jonas’ keine besonders große Rolle. Famula: Gleichnisse erkenntnistheoretischen Scheiterns, S. 112.

46

Eine frühere Version der Analyse von Das bin doch ich ist bereits erschienen als Robert Walter-Jochum: Das bin doch ich – Was denn eigentlich? Zu Strategien der Definition eines Autor-Ichs in Das bin doch ich. In: Standke (Hg.): Die Romane Thomas Glavinics, S. 55–78.

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kommener Theoriebildung ja auch geradezu als »Ich-Erzähler« bezeichnet hat,47 eigentlich die der modernen Literatur gemäße Form des Erzählens ist, hinter der heterodiegetische Formen des Erzählens zumindest ›seit Thomas Mann‹ zurückstehen.48 Ob man diese Einschätzung quantitativ anhand von Neuerscheinungen tatsächlich belegen kann, sei dahingestellt49 – unverkennbar ist jedoch, dass, anders als es vielleicht Debattenschlagworte wie der »Tod des Autors« oder das »Verschwinden des Subjekts« nahelegen mögen, die schöne Literatur selbst einen äußerst entspannten Umgang mit dem Ich pflegt.50 Glavinics Text, der sich selbst paratextuell in die Gattung »Roman« einordnet, erfüllt aufgrund seines Ich-Sagens und der Tatsache, dass erzählender Protagonist und Autor auf denselben Namen hören, Lejeunes »autobiographischen Pakt« und wäre also auch dieser Gattung zuzuschlagen. Inwiefern der Text diese Zuschreibung aufnimmt und unterläuft, wird im Folgenden vor dem Hintergrund einer poststrukturalistischen Weiterentwicklung der Autobiografietheorie zu zeigen sein.51

47

Zu den konkurrierenden Begriffen vgl. Genette: Die Erzählung, S. 174–181, und Stanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman, S. 60–69.

48

Vgl. etwa Dorrit Cohn: Discordant Narration. In: Style 34 (2000), S. 307–316.

49

Keck reflektiert zumindest die »Fülle an Ich-Texten« seit den 1990er-Jahren, die ein »Bewusstsein für das Ich als Marke« artikulierten und an die Glavinic anschließe. Keck: ›Das ist doch er‹, S. 239.

50

Ob es unter diesen Bedingungen angeraten ist, angesichts der Debatte um die »Rückkehr des Autors« davon zu reden, dass die »poststrukturalistische Autorkritik entschärft werden konnte«, was es offenbar ermöglicht, sie zugunsten eines intentionalistischen Inszenierungsparadigmas zu ignorieren, ist m.E. zu bezweifeln. Die Differenzierung zwischen einem authentischen, privaten und einem öffentlichen, »inszenierten« »AutorIch« stellt jedenfalls, anders als es hier erscheinen mag, keine neue theoretische Entwicklung, sondern einen Rückgriff auf die Inszenierungstheorie mit ihren Wurzeln bei Dilthey um 1900 dar, auch wenn sie wohl im Hinblick auf die Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts noch einmal einen neuen Schub erhalten hat. Auch im Fall Glavinic erfreut sich diese Theorielinie großer Beliebtheit. Vgl. Catani: Glavinic 2.0, S. 268; vgl. darüber hinaus auch die in verschiedener Weise das Inszenierungsparadigma bedienenden Beiträge von Keck: ›Das ist doch er‹, Pottbeckers: Autor-Anti-Helden und Sandra Potsch: Thomas Glavinics Das bin doch ich. Ein Spiel zwischen Autobiografie und Fiktion. In: Bartl, Glasenapp u. Hermann (Hg.): Zwischen Alptraum und Glück, S. 250– 266. – Auf den Begriff der »narrative[n] Inszenierung des auktorialen Ich« greift auch zurück: Schöll: Entwürfe des auktorialen Subjekts im 21. Jahrhundert, S. 287.

51

Auf das Spielen der Romane Das bin doch ich und Unterwegs im Namen des Herrn mit dem »autobiographischen Pakt« hat bereits Wynfried Kriegleder hingewiesen. Er stellt

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Das bin doch ich erweist sich in der Tat bei genauerem Hinsehen als Text, der selbst keineswegs eine so einfache Definition wie die Lejeunes teilt, sondern offensiv ein Bewusstsein dafür artikuliert, dass deren Grundannahmen äußerst prekär sind.52 Für Lejeunes kommunikativen autobiografischen Pakt spielt der Name des Protagonisten wie des Autors die zentrale Rolle. In Das bin doch ich wird jedoch deutlich, dass gerade der Name schon im alltäglichen Zusammenleben von Menschen Kommunikation nicht gerade erleichtert, sondern bis ins Humoreske erschweren kann. So gelingt es dem Romanprotagonisten Thomas Glavinic schon in seinem Lebensumfeld nicht, seine Person – die man semiotisch als Signifikat ansehen müsste – mit einem stabilen Signifikanten, seinem Namen, zu versehen: Glavinic heißt für seine Mitmenschen beispielsweise »›GLA-WE-NITSCH‹«53,

jedoch nicht das Konzept Lejeunes als solches infrage, sondern verweist darauf, dass der in den Texten präsentierte Glavinic ein unzuverlässiger Erzähler im Sinne einer Instanz mit fragwürdiger »Wahrnehmungsfähigkeit« sei, dessen Auskünften also nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern aufgrund seines Alkoholkonsums und seiner psychischen Disposition nicht zu trauen sei: »wir sind aber nie ganz sicher, ob das fiktionale Ich tatsächlich Erlebtes oder nur Imaginiertes erzählt«. Die epistemologischen Probleme mit Lejeunes Konzept kommen damit nicht in den Blick. Vgl. Wynfried Kriegleder: Thomas Glavinic – Der unzuverlässige Erzähler. In: Bartl, Glasenapp u. Hermann (Hg.): Zwischen Alptraum und Glück, S. 41–64, hier S. 55. – Sandra Potsch setzt unguterweise an der »Intention« des Romans an und ordnet den Text, von Lejeune und vom Inszenierungsbegriff ausgehend, schließlich mit Nünning als »fiktionale Metaautobiographie« ein (Potsch: Thomas Glavinics Das bin doch ich, S. 265), in ein Konzept also, dessen intentionale Grundlage oben verdeutlicht wurde (vgl. Kap. 1.4). – Narratologisch spricht Jutta Müller-Tamm in Bezug auf die Erzählsituation des Romans von einer »Simulation des Autobiographischen« und einer »Virtualisierung von Identität«. Jutta Müller-Tamm: Das bin doch nicht ich. Autofiktionale Strategien in der Gegenwartsliteratur. In: Grucza (Hg.): Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Bd. 8, S. 211–215. Vgl. auch hieran anschließend dies. u. Annika Jensen: Echte Wiener und falsche Inder. Strategien und Effekte autofiktionalen Schreibens in der Gegenwartsliteratur. In: Wagner-Egelhaaf: Auto(r)fiktion, S. 315–328. 52

Angesichts dessen zeugt die Vorstellung, es handle sich dabei um eine »schonungslos offene Selbstbeschau«, von einem äußerst fragwürdigen Umgang mit den zahlreichen textinternen Signalen, die auf das Gegenteil hindeuten. Vgl. zu dieser methodisch problematischen, vollständig referenzzentrierten Herangehensweise Ann-Cathrin Oelkers: Vom »gesteigerte(n) Sich Ernstnehmen«. Thomas Mann und Thomas Glavinic. In: Standke (Hg.): Die Romane Thomas Glavinics, S. 139–154, hier S. 145.

53

Glavinic: Das bin doch ich, S. 97.

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»›Glanz‹«54, »›Glawatschnig‹«55, »›Glwntsch‹«56, »Glawienitsch«57 oder »›Glawischnig‹«58 – die vermeintlich Identität verbürgende sprachliche Benennung einer Person ist nicht stabil und bietet somit Raum für Zweifel bei der Zuordnung. Die Skepsis gegenüber der Zuverlässigkeit der Versprachlichung von Welt, die etwa White theoretisch formuliert, bestätigt sich in der vorgeführten erzählten Welt ganz praktisch und ›real‹. Ähnlich sieht es mit den Zweifeln am Subjekt überhaupt aus. In einer der literaturwissenschaftlichen Äußerungen zu Das bin doch ich wird die Ansicht vertreten, dass Glavinic die Vernichtung des Subjekts im Rahmen einer »Literaturmaschinerie«, zu deren Objekt ein Autor werde, »als höchst subjektives Erleben« nachzeichne und sich so »gewissermaßen schreibend seinen ›Subjektcharakter‹« zurückerobere und diesen sogar potenziere.59 Man könnte dabei noch weiter gehen, wenn man eine Äußerung zurate zieht, die Glavinics Freund Daniel (Kehlmann60) in einem Gespräch innerhalb des Romans macht: Der hier buddhistisch inspirierte, aber damit zugleich postmodern argumentierende Kehlmann rät dem um die Besetzung der Jury des Deutschen Buchpreises besorgten Glavinic, sich klarzumachen, dass die

54

Glavinic: Das bin doch ich, S. 138.

55

Glavinic: Das bin doch ich, S. 140.

56

Glavinic: Das bin doch ich, S. 157.

57

Glavinic: Das bin doch ich, S. 206. Hervorhebung im Original.

58

Glavinic: Das bin doch ich, S. 237.

59

Anja K. Johannsen: »In einem Anfall von Literaturbetriebswiderwillen.« Die Romane Thomas Glavinics im Geflecht des Literaturbetriebs. In: Paul Brodowsky u. Thomas Klupp (Hg.): Wie über Gegenwart sprechen? Überlegungen zu den Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2010, S. 105–118, hier S. 114. – Weniger überzeugend scheint mir hingegen eine Stoßrichtung, die unter charakteristischem terminologischem Rückgriff auf das Inszenierungsparadigma davon ausgeht, die »Inszenierung seiner Schwäche« führe bei Glavinic zu einer »Stärkung der Autorschaft«. Indem so – trotz des forcierten Rückgriffs auf Foucaults Autor-Aufsatz – die auktoriale Intention wiederbelebt wird, fehlt dem ansonsten einige der auch hier nachverfolgten Textstrategien aufspürenden Aufsatz von Annette Keck die letzte theoretische Pointe. Vgl. Keck: ›Das ist doch er‹, S. 248.

60

Im Roman ist in weiten Teilen nur von »Daniel« die Rede. Dieser Daniel ist jedoch als Autor des Bestsellers Die Vermessung der Welt deutlich als Kehlmann zu identifizieren – eine Ausdeutung der romaninternen Verweise, die nicht bedeuten muss, dass man das Handeln des Roman-Kehlmann mit dem des realen Autors in eine referenzielle Beziehung setzt. Insofern gilt für diese Figur dasselbe, was für die Erzählinstanz namens Thomas Glavinic im Roman gilt.

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Jurymitglieder letztlich als Subjekte nicht relevant seien: »›Du musst verstehen, daß Denis Scheck nicht existiert, dann geht es dir besser. […] Denis Scheck existiert nicht wirklich. Denis Scheck ist ein Knoten von Gegebenheiten.‹«61 Das Subjekt ist also nicht mehr tragfähige Instanz der Weltordnung, wie der Roman-Kehlmann in Übereinstimmung mit Peter Bürger festzustellen scheint, der dieses ja »nicht mehr als ein widerspruchsfreies Schema der Ordnung unserer Beziehung zur Welt und zu uns selbst, sondern als ein in sich brüchiges«62 wahrnimmt, sondern eine Ansammlung, ein »›Knoten‹« von Gegebenheiten, die seine Position markieren, aber darüber hinaus keine Relevanz besitzen.63 Der von Glavinic als Juror gefürchtete Literaturkritiker Denis Scheck scheint so für den ängstlichen, ja komplexbeladenen Autor den Schrecken zu verlieren. Aber die Kehlmann in den Mund gelegte Einschätzung gewinnt dabei poetologische Relevanz für den vorliegenden Roman selbst: Das bin doch ich, so die im Folgenden nachzuvollziehende und zu untermauernde These, ist ein Text, in dem genau diese Annäherung an einen diskursiven »›Knoten‹« namens ›Ich‹ vollzogen wird. Das Autorbild der »Thomas Glavinic« genannten Instanz, die hier als Erzähler und Protagonist auftritt, wird hergestellt im Sinne einer Schürzung dieses Knotens, einer Anlagerung von vermeintlich charakteristischem sprachlichen Material an diesen Namen, wodurch ein diskursives Subjektbild entsteht,64 das weder die Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit eines klassischen Subjekts erreicht noch referenziell über die Textgrenzen hinaus auf die ›reale Welt‹ eines Thomas Glavinic verweisen kann, aber dabei die Brüchigkeit und Arbitrarität einer solchen »Subjekt«-Konstruktion in verschiedenen Dimensionen vorführt und ausstellt.

61

Glavinic: Das bin doch ich, S. 220 f.

62

Bürger: Das Verschwinden des Subjekts, S. 13

63

Besonders markant an dieser »Position« des Nicht-mehr-Subjekts Scheck ist in diesem Fall, dass dieser »›Knoten‹« ganz postmodern aus sich widersprechenden Aussagen im Diskurs der Literaturkritik gebildet wird: Scheck hat Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt zunächst sehr positiv besprochen; je besser sich der Text jedoch verkauft, desto kritischer wird sein Urteil. Eine einheitliche Festlegung des Subjekts, wie sie eine klassische Subjekttheorie nahelegen würde, ist damit nicht nur theoretisch nicht möglich, das moderne Literaturkritiker-»Subjekt« entzieht sich einer solchen Festlegung auch durch seine widersprüchlichen Aussagen. Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 206.

64

Peter V. Zima spricht diesbezüglich vom Subjekt als »narrativem Programm«. Peter V. Zima: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen/Basel: Francke 2000, S. 15. Vgl. dort auch die ausführliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Zweigen der postmodernen Subjektkritik.

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5.2.2 Mein Tick und ich: Alltägliche Ich-Konstruktion Geht man hinter die oben skizzierten postmodernen Infragestellungen des Ichs zurück, erblickt man schon frühere Anfechtungen des Konzepts »Ich«, auf denen die postmoderne Subjektkritik zum Teil aufbaut. Zentral in diesem Zusammenhang ist Sigmund Freuds These von den drei großen Kränkungen, die der Mensch in seiner Geschichte hat hinnehmen müssen: Nach der Erkenntnis, dass sein Heimatplanet nicht im Mittelpunkt des Universums steht, sowie der schmerzlichen Einsicht, dass der Mensch nichts qualitativ anderes darstellt als ein Tier, befasste sich Freud selbst ausgiebig mit der »psychologischen Kränkung« des Menschen, dass sein »Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«.65 Das Ich, so ja Freuds These zum Triebleben, erkennt durch die Psychoanalyse, dass es von Triebregungen bestimmt ist, die sich seines bewussten Zugriffs letzten Endes entziehen und in einem unbewussten Bereich der Psyche wirksam werden, ohne dass sie auf direktem, rationalem Wege bearbeitet werden könnten – eine wichtige Grundidee, die für das Schicksal von Jonas, dem Helden aus Die Arbeit der Nacht, und seine Konfrontation mit dem »Schläfer«, seinem nächtlichen, unbewussten Ich, große Bedeutung hat.66 Kennzeichen für die Anfechtung des Ichs aus seinem Innern sind damit unkontrollierbare Triebe. Diese können auch zu psychischen Irregularitäten führen, die dem Ich das Leben im Alltag erschweren. Doch nicht nur das: Unter der postmodernen Bedingung, dass ohnehin die innere Einheit des Subjekts infrage steht, erhalten solche psychischen Auffälligkeiten als psychische Krankheiten, aber auch weniger drastisch als Ticks oder persönliche Marotten die Kraft, zu dem »›Knoten‹«, den man Ich nennen kann, Entscheidendes beizutragen. Psychische Ticks werden so zu Momenten einer, paradoxal formuliert, unbewussten Selbstinszenierung67 – oder weni-

65

Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, S. 11. Hervorhebung im Original.

66

Vgl. ebd.; s.a. Sigmund Freud: Das Ich und das Es (1923). In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 13. Unter Mitwirkung v. Marie Bonaparte hg. v. Anna Freud u.a. London: Imago 1940, S. 235–289.

67

Die paradoxale Formulierung zeigt an, dass das Inszenierungsparadigma, das sich in der Theorie der Autorschaft und der Autobiografietheorie großer Beliebtheit erfreut, daran krankt, dass es nur innerhalb der Grundannahmen intentionaler Schöpfungsprozesse funktioniert. Damit basiert es auf einem starken Subjektbegriff, dem in der postmodernen Theoriebildung (und letztlich: seit Freud) mit einiger Skepsis begegnet wird, weshalb er als kein günstiges Paradigma erscheint, um eine »Post-Lejeune’sche« Autobiografietheorie zu befruchten. Zum Inszenierungsparadigma allgemein und mit den genannten Vorbehalten vgl. oben, Kap. 1.3. In Bezug auf Glavinic vgl. auch die inszenierungstheoretischen Prämissen der Interviewerin in Stephanie Waldow: »Diese Bü-

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ger paradox gesprochen zu Merkmalen, die nach außen eine Erkennbarkeit und Identität des Ichs gewährleisten, die ihm aus postmodern-theoretischer Sicht von innen her nicht mehr zukommen. In Das bin doch ich spielt dieser Zug der Ich-Definition über Marotten, Ticks und persönliche ›Macken‹ – anders als in der menschenleeren Welt von Die Arbeit der Nacht68 – eine zentrale Rolle. Psychologisch gesprochen haben wir es mit einem hochneurotischen Protagonisten zu tun, dessen psychische Zwänge ihm das Leben einerseits schwer machen, andererseits aber auch eine Wiedererkennbarkeit des Helden über die Zeit schaffen: Er »ist« seine Ticks. Der Romanheld Glavinic erweist sich als Hypochonder, der seine Hypochondrie sogar in der Zeitung preisgibt – sich also, wenn man so will, über diese »inszeniert« – und sich daraufhin auf ein Treffen mit einer Ärztin einlässt, die mit ihm dieses Problem behandeln will;69 er hat panische Angst vor Haarausfall,70 Höhenangst,71 kann nicht damit leben, wenn beim Essen neben ihm geraucht wird,72 und muss sich mit Flugangst herumschlagen.73 Verständlicherweise besteht er auf der Selbsteinschätzung: »›Bin von Geburt an Hysteriker‹«,74 womit er im vorliegenden Fall seine panische Angst vor einem minimalen zahnärztlichen Eingriff rechtfertigt. Seine Ängste prägen das Bild, das der Roman von Glavinic kommuniziert, und wie das Zahnarztbeispiel un-

cher, alles was Sie lesen, das bin ich.« Thomas Glavinic im Gespräch. In: dies. (Hg.): Ethik im Gespräch. Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute. Bielefeld: transcript 2011, S. 147–155. 68

Hierin zeigt sich eine Funktion dieser psychischen Abweichungen, die unter den Umständen, die in Die Arbeit der Nacht gegeben sind – einer Welt ohne Mitmenschen und damit ohne Beobachter, die das Ich von außen identifizieren können – nicht zum Tragen kommt, was einer der Gründe für das Scheitern des Protagonisten Jonas in der Ausbildung einer stabilen Ich-Identität ist.

69

Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 7, 17, 20, 21 ff. Wichtig in unserem Zusammenhang ist die Erkenntnis, dass es Glavinic ganz offensichtlich vermeiden will, das Treffen tatsächlich stattfinden zu lassen, weil es ja mit einer Therapierung der Hypochondrie einhergehen könnte, die somit als festes Definiens der Persönlichkeit ausfallen würde. Vgl. auch weitere Hypochondrie-Passagen ebd., S. 111, 130, 191 f., 217.

70

Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 62, 133.

71

Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 98 ff.

72

Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 148.

73

Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 172, 176, 184, 196 ff.

74

Glavinic: Das bin doch ich, S. 141.

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terstreicht, prägen sie auch seine Selbstdarstellung im Sozialen und sein Handeln.75 Wenn der Protagonist feststellt, es sei »so schwer, die Grenze zu ziehen, wo gesunde Vorsicht, vernünftige Zweifel, verständliche Ängste in Paranoia übergehen«,76 so basiert ein Gutteil des Eindrucks, den man von ihm gewinnt, darauf, dass es ihm nicht gelingt, hier eine einigermaßen ausbalancierte Position zu gewinnen, sondern dass er eigentlich permanent diese Grenze in Richtung Paranoia überschreitet. Die vollkommene Verzweiflung angesichts der ihn vermeintlich bedrohenden Umwelt wird für den Protagonisten zur Routine, die für ihn selbst, aber auch für das Bild, das er anderen gegenüber abgibt, ein zentraler Haltepunkt ist. Doch nicht nur die Ängste übernehmen solche strukturbildenden Funktionen für Ich und Alltag, auch auf weiteren Feldern sind vergleichbare Prozesse zu beobachten. Ein wichtiger Bereich in diesem Zusammenhang ist das Trinkverhalten, das der Figur Thomas Glavinic zugeschrieben wird. Die durchaus berechtigt erscheinende medizinische Bewertung der Figur als Vollalkoholiker spielt dabei eine geringere Rolle als die Tatsache, dass der Alkoholkonsum den Lebensrhythmus Glavinics prägt und so ebenfalls strukturell identitätsbildende Wirkung zeitigt. Es vergehen im Roman kaum einmal zehn Seiten, ohne dass eine Trinkszene präsentiert würde.77 Auch

75

Der Verweis auf die eigenen Ängste wird auch in der Imageproduktion Glavinics in Interviews immer wieder fruchtbar gemacht, sodass eine Kommunikation zwischen Das bin doch ich und vermeintlichen Selbstaussagen des Autors hergestellt wird (die aus meiner Sicht gleichwohl letztlich keinen anderen, ›referenzielleren‹ Status einnehmen als der Roman). Vgl. hierzu Waldow: »Diese Bücher, alles was Sie lesen, das bin ich.«, S. 149 f., 154, sowie Klaus Nüchtern: »Es sind meine Ängste«. Ein Gespräch mit Thomas Glavinic. Online unter: www.thomas-glavinic.de/der-autor-thomas-glavinic/ interview/ (23.04.2015). – Im Hinblick auf den Status dieser Selbstaussagen wäre somit einer Position zu widersprechen, die diese kategorial vom Werk abtrennt, was insbesondere im Kap. 5.3 im Hinblick auf die Poetikvorlesungen Glavinics relevant ist. Vgl. eine entsprechende Einschätzung, die eine klare Linie zwischen Poetologie und Werk zu ziehen versucht, ohne darauf einzugehen, dass die Mechanismen der Selbstpositionierung in Werk und der vermeintlich hiervon getrennten Poetik genau dieselben sind, bei Claudia Hillebrandt: Atmosphärenmagie. Autorbild, Wirkungsästhetik und Werkverständnis in Thomas Glavinics poetologischen Texten. In: Standke (Hg.): Die Romane Thomas Glavinics, S. 79–100.

76

Glavinic: Das bin doch ich, S. 182.

77

Vgl. die folgende Auflistung von Seiten, auf denen der Protagonist Alkohol konsumiert: Glavinic: Das bin doch ich, S. 8, 10, 11, 13, 14, 26, 27, 28, 29, 44, 48, 49, 50, 54, 55, 57, 63, 64, 66, 67, 85, 91, 93, 95, 97, 110, 111, 148, 149, 150, 159, 160, 161, 162, 170, 171, 173, 176, 177, 181, 182, 185, 193, 194, 208, 209, 214, 215, 234.

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wenn der Protagonist Glavinic behauptet, er trinke nur in Gesellschaft, ist damit keine Einschränkung des Trinkens gemeint, denn »Gesellschaft« lässt sich offenbar zu diesem Anlass immer rasch herstellen, und sei es durch den Gang in eine seiner Stammkneipen, in denen sich »Beziehungen und Konstellationen« ergeben, »die überall sonst undenkbar wären, die aber an diesem einen Ort funktionieren«78 – der Alkohol wird zum verbindenden Element, das soziale Kontakte und Einbindung schafft, anstatt dass diese sozialen Kontakte als tatsächlicher Grund für das Trinken angenommen werden könnten, wie es der Protagonist vor sich zu rechtfertigen sucht (»du trinkst ja fast nur, wenn du ausgehst. Du hast keinen Leberschaden«79). »Gesellschaft« kann darüber hinaus offenbar zum Beispiel auch die Anwesenheit eines guten Buchs sein, das man auf einer Zugfahrt liest, während man »zwei Schnäpse und drei Dosen Bier«80 trinkt. Und nicht nur beim Trinken, auch beim Essen ist Glavinic derart von eingefahrenen Routinen geprägt, dass er feststellt: »es ist, als weigerte sich ein Teil meines Gehirns, über Alternativen auch nur nachzudenken«.81 ›Droge‹ seiner Wahl in diesem Fall ist das Essen eines Restaurants namens »Indian Pavillon« am Wiener Naschmarkt, zu dem der über die Mittagszeit hungrige Autor beinahe zwanghaft gehen muss, in härteren Zeiten täglich.82 Die Selbstdiagnose des Protagonisten macht deutlich, dass es hierbei nicht nur um eine kulinarische Präferenzbildung geht, sondern um eine psychische Grunddisposition, die ihn als Ich charakterisiert: »Ich bin wie ein Kind, alles muß seinen Gang gehen. Das Essen ist ausgezeichnet dort, aber jeden Tag? […] Thomas Glavinic ist ein Achtjähriger, und ich muß mit ihm leben.«83 Das Ich »Thomas Glavinic« wird in Das bin doch ich also auf einer ersten Ebene durch seine markante idiosynkratische Struktur gekennzeichnet. Ich sein heißt hier, Ängste zu haben, in hysterische Weltkonstruktionen eingebunden zu sein und in Kreisläufen von immer gleichen Routinen befangen zu agieren. Eine Rechtfertigungsstrategie für diese (dem Erzähler selbst auffällig erscheinenden) Verhaltensweisen liegt dabei in dem zeitlichen Ausschnitt aus dem Leben des Erzählers begründet, der im Roman abgebildet wird: Es ist die Zeit nach dem Abschluss eines Buchs bis zu dessen Erscheinen, die als für den Schriftsteller trostlose, leer gefegte

78

Glavinic: Das bin doch ich, S. 181.

79

Glavinic: Das bin doch ich, S. 111.

80

Glavinic: Das bin doch ich, S. 159.

81

Glavinic: Das bin doch ich, S. 20.

82

Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 18.

83

Glavinic: Das bin doch ich, S. 18.

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Periode gekennzeichnet wird.84 Das, was wir aus seinem Leben vorgeführt bekommen, wird gewissermaßen als Zeitabschnitt gekennzeichnet, in dem der Autor seiner persönlichen Berufung nicht nachgehen kann und also desto mehr auf seine Marotten zurückgeworfen wird. Indirekt erfolgt hierdurch eine Art Ich-Definition ›in absentia‹: Das, was dem Ich eigentlich am allerwichtigsten ist, fällt aus – und vor allem deshalb erscheint es so Tick-beladen, wie es hier im Roman vorgeführt wird. Der Erzähler bekennt: »Mir fehlt die tägliche Beschäftigung am Schreibtisch. Ich schleiche durch die Wohnung, rufe fünfmal in der Stunde Mails ab, suche nach Ablenkung.«85 Und an anderer Stelle heißt es: »Ende Mai. Für mich gibt es nichts zu tun. Die Arbeit der Nacht erscheint im August. Leere, Leerlauf, Warten.«86 Das Ich erscheint insofern durch Ausweichmechanismen bestimmt, die die Zeit füllen, die als an sich bedeutungslos, weil nicht vom Schreiben geprägt dargestellt wird. Als Dispositiv, das das Hervortreten von Ticks und Marotten begünstigt, fungieren so die zeitlichen Abläufe des Literaturmarkts, die Ticks füllen die Lücke, die aufgrund der Vermarktungs- und Produktionsprozesse im Anschluss an die Fertigstellung eines Werks durch seinen Autor entsteht. Die Ich-Darstellung erweist sich so bereits in diesem scheinbar vom Alltäglichen geprägten Zusammenhang als beeinflusst von den Prozessen des Literaturgeschäfts, die auch darüber hinaus eine zentrale Rolle für die Ich-Definition in Das bin doch ich spielen. 5.2.3 Ich ist die anderen: Arbeit am Diskurs »Literaturmarkt« Eine wesentliche Schnittstelle, an der Glavinic im diskursiven Feld »Literaturmarkt« aktiv wird, ist in der im Roman wiedergegebenen ›literaturlosen‹ Zeit des Autors seine E-Mail-Box: »Posteingang (4) / Gier. Adrenalin. Wer? Meine Agentin? Jemand, der mich zu einer Lesung einladen will? Eine Studentin mit einer Anfrage für ihre Dissertation?«87 Während Glavinic als Schriftsteller das diskursive Feld88 des Literaturmarkts eigentlich selbst mitprägt, indem er Romane schreibt, die

84

Assmann spricht diesbezüglich treffend von einer »›liminale[n]‹ Phase«. DavidChristopher Assmann: Das bin ich nicht. Thomas Glavinics Literaturbetriebs-Szene. In: Thomas Wegmann u. Norbert Christian Wolf (Hg.): »High« und »low«. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. Berlin/Boston: de Gruyter 2012, S. 121–140, hier S. 125.

85

Glavinic: Das bin doch ich, S. 8.

86

Glavinic: Das bin doch ich, S. 178.

87

Glavinic: Das bin doch ich, S. 22.

88

In dieser Begriffskombination überschneiden sich die Paradigmen der Diskurstheorie Foucaults und der Feldtheorie Pierre Bourdieus. Trotz unterschiedlicher Schwerpunkt-

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dann in diesen Diskurs eingehen und seine Verortung als Schriftsteller-Ich so sicherstellen,89 ist die Zeit in seinem Leben, die nicht von diesem Selbst-aktivWerden durch Schreiben in Anspruch genommen wird, von zahlreichen auf den Literaturmarkt bezogenen Ersatzhandlungen geprägt, die vor allem zum Ziel haben, aus dem Diskurs Feedback zur eigenen Person und zum eigenen Schaffen zu extrahieren und sich damit der eigenen Stellung zum Gesamtdiskurs zu versichern. Die Gier nach Resonanz bringt den Schriftsteller dazu, nicht nur, wie oben zitiert, »fünfmal in der Stunde« Mails abzurufen, sondern auch – zum Teil unkontrolliert und unter Alkoholeinfluss90 – Mails zu versenden, was die Angst auslöst, dass es gerade solche Mails sein könnten, die dann das Bild verschlechtern, das andere von seinem Schaffen gewinnen. Das Warten auf positive Nachrichten von seiner Agentin wird, nachdem der Roman bei einem Verlag untergebracht worden ist,91 abgelöst von der Hoffnung auf positive Rückmeldung von Verleger und Lektor, worauf

setzungen und Schlussfolgerungen im Einzelnen scheinen mir beide Begriffsapparate tauglich, um sich der hier angesprochenen Problematik zu nähern; insbesondere erscheinen die Unterschiede zwischen beiden Theoretikern im Bereich der Autorschafts-/ Literaturmarktthematik nicht so groß wie in anderen Interessengebieten der beiden Theoretiker. Vgl. zu dieser Diagnose etwa den instruktiven (nicht nur Bourdieu und Foucault vergleichenden) Aufsatz von Rolf Parr: Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in der Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Achim Geisenhanslüke u. Georg Mein (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld: transcript 2008, S. 11–64. 89

Bourdieu wie Foucault lösen sich vom Begriff des Subjekts in seiner hergebrachten Form und untersuchen die Verortungen, die aus dem diskursiven Aktivwerden des Einzelnen resultieren. Während Foucault hier die Position eines diskursiven Beitrags zum Gesamtdiskurs in den Blick nimmt (vgl. Kap. 2.2), gestaltet Bourdieu die Schnittstelle Einzelner/Feld über den Begriff des Habitus, in dem beide Ebenen in der vollzogenen gesellschaftlichen Praxis des Einzelnen zusammenkommen. Vgl. zur subjektphilosophischen Relevanz des Habitus-Begriffs Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, hier S. 277–286. Zur Frage der Positionierung des einzelnen Künstlers im Feld als »Netz objektiver Beziehungen«, in dem jede Position »durch ihre objektive Beziehung zu anderen Positionen« festgelegt ist, vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 365–371, hier S. 365.

90

Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 114, 218 f.

91

Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 95.

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schließlich die zwanghafte Beschäftigung mit der Resonanz von Lesern, potenziellen Lesern und Rezensenten folgt.92 Glavinic wird so als Autor dargestellt, der sich abhängig macht von der diskursiven Reaktion auf den eigenen diskursiven Beitrag, den er mit seinem Roman Die Arbeit der Nacht geleistet hat. Ein markanter Zug seines Ichs entsteht somit gewissermaßen in einer diskursiven Feedbackspirale, die er durch seine Interventionen in der Zwischenzeit – E-Mails, Interviews, Kontakte mit Kollegen – zu befeuern sucht. Der persönliche Kontakt spielt in vielen Fällen dabei keine Rolle: Verleger und Rezensenten, die seinen Text bewerten, hat er häufig noch nie persönlich getroffen oder näher kennengelernt, die Zufallsreaktionen von Anrufern im Rahmen eines Radiointerviews gehen ihm zum Teil nahe, obwohl eine Auseinandersetzung mit deren austauschbaren und bisweilen nicht besonders intelligent anmutenden Einwürfen vielleicht verzichtbar wäre. Glavinic kann dabei nicht trennen zwischen Ich und Text: Alle Kritik, die sich auf sein Werk bezieht, nimmt er als Kritik an sich persönlich wahr, und »wer [s]eine Bücher ablehnt, ist des Teufels«.93 Das Schriftsteller-Ich hat damit einen Anteil, der allein im Rahmen des Diskurses von Angriffen getroffen werden kann. Die Teilnahme am Literaturbetrieb stellt sich so als Aussetzen der eigenen (verschriftlichten) Person im Licht einer als potenziell gnadenlos empfundenen Öffentlichkeit dar. Unterstrichen wird diese Perspektive noch durch die Verdinglichung dieses diskursiven Erfolgs- und Bedrohungspotenzials in finanzieller Entschädigung des Schreibens und möglicher Belohnung durch Preise. Glavinic steht kurz vor der Pleite, sein Konto ist mit 7.000 Euro überzogen,94 der diskursive Erfolg des Werks hat also gleichzeitig enorme wirtschaftliche Relevanz.95 Die Finanzknappheit bringt es auch mit sich, dass der Schriftsteller Anschluss an Nebendiskurse des Literaturmarkts suchen muss, indem er zum Beispiel die Landesregierung der Steiermark,

92 93

Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 147–150, 178. Glavinic: Das bin doch ich, S. 27. Die in dieser Gleichsetzung zum Tragen kommende Ununterscheidbarkeit von Autor und Werk kann man als praktisches Äquivalent der theoretischen Einebnung dieser Unterscheidung bei Bourdieu und Foucault ansehen.

94

Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 116.

95

Hiermit steht, folgt man Bourdieu, Glavinic vor einem Dilemma, da der materielle Erfolg auf dem Literaturmarkt – einer »verkehrte[n] ökonomische[n] Welt« – dem künstlerischen Wert des literarischen Produkts tendenziell entgegensteht. Die Suche nach symbolischer Anerkennung als Künstler und die Hoffnung auf materielle Entschädigung schließen sich damit letztlich gegenseitig aus – ein nach Bourdieu feldtypisches Problem, das Glavinics Protagonist bestens veranschaulicht. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 134, vgl. auch ebd., S. 228 f.

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seines Heimatbundeslandes, um eine finanzielle Förderung bittet,96 die passgenau für seine Lebenssituation, wie sich herausstellt, nicht möglich ist: Für den Kulturförderbetrieb ist das Schriftstellerdasein als wirtschaftlich sinnvolle Tätigkeit gar nicht denkbar, man stuft nicht den Autor als hilfsbedürftige Person ein, sondern setzt den Akzent auf das Erscheinen eines Werks, das allein mit einem Druckkostenzuschuss förderbar ist. Dass es um die Förderung des Lebens, also der Erhaltung des Ichs und des Schreibens selbst gehen könnte, kann der auf anderen diskursiven Grundlagen agierende Kulturförderbetrieb, der Werke, aber nicht Schriftsteller fördern will, nicht nachvollziehen. Selbst eine derartige Institution erweist sich in Das bin doch ich, wenn man so will, als postmodern-subjektnegierend und den Text in den Mittelpunkt rückend.97 Der Prestigeerfolg »Deutscher Buchpreis« hingegen wird im Laufe der Zeit zum Phantasma, in dem der Drang des Protagonisten nach positiver Resonanz seinen verdinglichten Fluchtpunkt findet. Das Auswahlsystem des (bezeichnenderweise ja vom »Börsenverein des deutschen Buchhandels« und damit einer vor allem am Buchmarkt orientierten Institution gestifteten) Preises – Berufung einer prominenten Jury, Longlist, Shortlist, Verkündung des Preisträgers – entspricht dabei in markanter Weise der eine Tendenz zur Hysterie aufweisenden Steigerung des Spannungszustandes, der auch der Protagonist unterlegen ist. Die Gedanken Glavinics drehen sich immer wieder nur um die eine Frage, der seine gesamte öffentliche Präsenz im literarischen Feld in diesen Wochen untergeordnet wird: Schaffe ich es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises? […] Wäre schön, denn ein Erfolg kann mich materiell weitgehend sorgenfrei machen, zumindest für eine Weile. […] Ein Buch muß krachen. Seit Wochen laufe ich im Kreis. Ich denke immer dasselbe. Zeitungsartikel, Fernsehauftritte, Lesungen, und dabei abwarten, ob es kracht. In jeder Saison lassen es nur sehr wenige Romane krachen.98

Doch nicht nur vom ›Krachen‹ des Romans hängt eine entsprechende (symbolische wie materielle) Gratifikation für den Autor ab, in erster Linie gilt es, strategische Gesichtspunkte zu bedenken: Vor allem die Jurybesetzung spielt bei der Preisvergabe eine zentrale Rolle, die der Hoffende genau einzukalkulieren versucht, jedoch ohne dass dies zu großen Hoffnungen tatsächlich auch Anlass gäbe: Den in der Jury sitzenden Schriftstellerkollegen kann Glavinic aufgrund der eigenen Unkenntnis von dessen Werk schlecht einschätzen, Fragezeichen auch bei den beiden in der Ju-

96

Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 119.

97

Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 237 f.

98

Glavinic: Das bin doch ich, S. 185. Hervorhebung im Original.

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ry vertretenen Printjournalisten, hinzu kommt die Befürchtung, dass eine weitere Schriftstellerin, Trägerin des Bachmannpreises, genauso wenig mit seiner Literatur anzufangen weiß wie er mit ihrer.99 Ohne Begründung verrechnet Glavinic eine Germanistin und einen Buchhandelsvertreter zu seinen Gunsten – wobei hier vielleicht auch eher der Wunsch Vater des Gedanken ist. Und schließlich steht auf der Juryliste der Deutschlandfunk-Redakteur Denis Scheck, dessen Angst einflößendes Potenzial im Gespräch mit dem Schriftstellerkollegen Daniel Kehlmann ja dadurch gemildert werden muss, dass postmodern-buddhistisch seine Nichtexistenz beschworen wird, wie wir oben gesehen haben. Die Auseinandersetzung des Protagonisten und Erzählers mit den Akteuren aufseiten der Buchpreisjury lässt sich so lesen als Versuch einer genauen Abwägung von deren Positionen im literarischen Feld, die sich hinsichtlich des Schriftstellers Glavinic mit ganzer Härte auf sein eigenes Schaffen und damit seine eigene Feld- und Marktposition auswirken werden. Eine genaue Einschätzung dieser Feldpositionen würde – so jedenfalls die Theorie des womöglich feldtheoretisch informierten, aber zumindest diskurspraktisch erfahrenen Autors – eine sichere Prognose ermöglichen, was die eigenen Chancen angeht. Dass die anfängliche Hoffnung, »[d]ie Shortlist könnte zu schaffen sein«,100 sich letztlich nicht erfüllt, ist – angesichts der erheblichen Unsicherheiten, was die Einschätzung der Jury angeht, bzw. darüber hinaus der einigermaßen deutlich artikulierten Sicherheit, dass einige der Mitglieder nicht für Die Arbeit der Nacht stimmen werden – schon früh vorauszusehen, ohne dass dabei die literarische Qualität des Textes überhaupt eine größere Rolle spielen würde: Allein die Mechanismen des Literaturmarkts, der sich, Bourdieu zufolge, zwischen den Polen eines autonomen, »wirtschaftlich beherrschten, symbolisch aber herrschenden«101 und gleichzeitig materiell erfolgsarmen Avantgarde-Künstlertums sowie, auf der anderen Seite, einer ästhetisch minderwertigen »kommerziellen«,102 das heißt: wirtschaftlich umgehend positiv sanktionierten, aber künstlerisch anspruchslosen Literaturproduktion bewegt, lassen deutlich werden, wie es um das Schicksal von Glavinics mit den Hoffnungen des Autors beladenem Roman stehen wird. Glavinics Unsicherheit in Bezug auf die Bewertung durch die unterschiedlichen Akteure verweist dabei nicht zuletzt darauf, dass ihm selbst nicht klar zu sein scheint, an welchem Pol sein Roman eingeordnet werden kann. Die dezidierteste Avantgarde-

99

Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 205 f.

100 Glavinic: Das bin doch ich, S. 205. 101 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 135. Bourdieu ruft hier immer wieder auch das Stichwort des »L’art pour l’art« auf; vgl. ebd. S. 140. 102 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 136. Bourdieu spricht hier auch von »populärer« oder »bürgerlicher« Kunst.

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Akteurin (die Bachmannpreisträgerin) scheint von ihm weit entfernt zu sein, die doch wohl eher in Richtung Avantgarde zu verortende Germanistin bewertet er als potenzielle Unterstützerin, genauso wie aber auch den ganz offensichtlich zum Kommerzlager zu zählenden Buchhändler. Die Spannungskurve des Romans und die der Buchpreisvergabe werden parallel geführt – indes nur bis zur zweiten der genannten Stationen, denn Glavinics Buch verpasst (erwartungsgemäß?) bereits die Longlist und der Autor muss – ohne dies selbst zu kommentieren – hinnehmen, dass Daniel Glattauer, Wolf Haas und Paulus Hochgatterer ihm aus Sicht der Jury in dieser Buchpreissaison offenbar unter den Österreichern den Rang abgelaufen haben;103 die Kernhandlung von Das bin doch ich endet mit dieser in Listenform gegossenen Erkenntnis und wird nur noch gefolgt vom oben beschriebenen Kapitel um die steirische Literaturförderung, auf die der Nichtpreisträger wenn auch nicht angewiesen, so doch zurückgeworfen ist. Neben der Positionierung im Literaturbetrieb über Feedbackprozesse und deren verdinglichte Gestalt finanzieller oder symbolischer Gratifikation durch Tantiemen oder Preise gewinnt das Schriftsteller-Ich Glavinic vor allem durch einen im Roman bis zum Exzess getriebenen Vergleich mit anderen Schriftstellern Profil. Grundlage ist hier eine psychisch-schöpferische Disposition, die theoretisch als »EinflussAngst« beschrieben worden ist.104 Demnach ist es Glavinic unmöglich bzw. nicht ausreichend, seine Positionierung durch das eigene Schaffen herzustellen, sondern dieses Schaffen erhält erst dann Relevanz, wenn es sich von anderen bedeutenden

103 Bei allen dreien handelt es sich um Autoren, die vor allem in der Bourdieu’schen Sparte des materiellen Erfolgs Glavinic deutlich übertreffen dürften, was aus Sicht des Protagonisten einerseits Neid hervorrufen kann, andererseits aber auch als Bestätigung der symbolischen Höherwertigkeit des eigenen, vielleicht gerade aus Gründen der hohen ästhetischen Qualität weniger marktgängigen Schaffens wahrgenommen werden könnte. Eine Positionierung an der gegenüberliegenden Flanke des literarischen Feldes, nämlich der der avantgardistischen Höhenkammliteratur, kommt so in Betracht, die im Verlauf des Romans noch in anderen Zusammenhängen eine größere Rolle spielt, worauf im Folgenden eingegangen werden soll. Vgl. zum Funktionieren dieses »genuin antiökonomischen ökonomischen Universums« Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 135. 104 Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. Second Edition. New York/Oxford: Oxford University Press 1997. Deutsch als ders.: »Einfluss-Angst«. Eine Theorie der Dichtung. Übersetzt v. Angelika Schweikhart. Basel: Stroemfeld 1995. Streng genommen beschränkt Bloom seine Darstellung auf das Feld der Lyrik, wofür es Gründe gibt, die hier aber nicht näher in den Blick genommen werden müssen. Indem er selbst in seiner Darstellung immer wieder auch Beispiele unter Dramatikern und Prosa-Autoren wählt, öffnet er den Geltungsbereich selbst über dieses enge Feld hinaus.

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Autoren und deren Werken abgrenzen lässt. Harold Bloom beschreibt die Prozesse, die durch die sogenannte Einflussangst ausgelöst werden, im Sinne eines Kriegszustands aktueller Autoren mit ihren Vorläufern und Mitstreitern: »My concern is only with strong poets, major figures with the persistence to wrestle with their strong precursors, even to the death.«105 Demnach kann nur derjenige als Autor erfolgreich werden, der andere in den Schatten zu stellen vermag, etwa durch den Mechanismus eines literarischen Vatermords, durch den der aufstrebende Schriftsteller mit seinem Werk den Vorläufer überschreibt und damit gewissermaßen übertrumpft.106 Glavinic wird von seinem Publikum im Anschluss an das Erscheinen von Die Arbeit der Nacht mit Fragen konfrontiert, die das Verhältnis zu Vorläufern betreffen – die Frage nach möglichen Plagiaten steht im Raum, sodass der emotional als dünnhäutig skizzierte Schriftsteller sich an einen der ins Spiel gebrachten potenziell Plagiierten wendet – und zwar an Herbert Rosendorfer, dessen Roman Großes Solo für Anton107 eine Leere-Welt-Situation zugrunde liegt, wie sie auch Die Arbeit der Nacht bietet –, um gewissermaßen dessen Segen zu erhalten. Rosendorfer reagiert entspannt und abgeklärt auf den »bangen Brief« Glavinics – der solle sich »keine Sorgen machen, er sei auch nicht der erste gewesen, dem diese Idee gekommen ist«108 – und verweigert letztlich die von Bloom als Normalfall beschriebene kriegerisch-kompetitive Auseinandersetzung, zu der ihn der eher als zurückhaltender Leisetreter agierende Nachfahre auch nicht auffordert. Das Modell des Vater- oder Konkurrentenmords wird so im Sinne einer Kuschelatmosphäre konfliktscheuer Diskussionspartner durchbrochen, Profil gewinnt der Schriftsteller-›Sohn‹ so gerade

105 Bloom: The Anxiety of Influence, S. 5. 106 Wie hierbei deutlich wird, handelt es sich bei Blooms Konzept wie auch im Fall des Inszenierungsparadigmas um ein letztlich intentionales Konzept, das mit den postmodernen Vorbehalten gegenüber dem klassischen Subjektverständnis nicht vollständig vereinbar ist. Aufgrund der darin skizzierten klassischen Diskurssituation, auf die Glavinic zurückgreift, ist es hier aber dennoch von heuristischem Wert. 107 Herbert Rosendorfer: Großes Solo für Anton. Zürich: Diogenes 1976. Ein weiterer genannter Text, der eine ähnliche Versuchsanordnung aufweist, ist Marlen Haushofers Roman Die Wand von 1963, wobei eine Kontaktaufnahme durch Glavinic angesichts des frühen Todes der Autorin 1970 nicht infrage kommt. – Nick Büscher findet für diese Texte, die ein auf der Welt alleingelassenes Ich in ihren Mittelpunkt stellen, den Gattungsbegriff der »anthropofugalen« Literatur. Vgl. Büscher: Solipsismus in der Großstadt, S. 183. Vgl. darüber hinaus ders.: Apokalypse als Utopie. Anthropofugalität in der österreichischen Nachkriegsliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. 108 Glavinic: Das bin doch ich, S. 230.

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dadurch, dass er sich eben nicht mit dem ›Vater‹ anlegt, sondern den Kampf um Prestige und Geltung gegenüber anderen nach dem Motto »If you can’t beat them, join them« angeht und Allianzen schmiedet. Es kommt somit weniger zu einem Kampf um Einfluss als dass schriftstellerische Koalitionen gebildet werden, die helfen, die eigene Position abzusichern.109 A fortiori ist das der Fall im Verhältnis des Protagonisten zu seinem KollegenFreund Daniel Kehlmann (der im Roman durchgehend mit dem Vornamen angesprochen wird und so nur indirekt über die Verbindung mit dem Titel seines Bestsellers als dieser zu enttarnen ist110). Ein strukturierendes Moment des Romans besteht darin, dass Glavinic von diesem mit den Verkaufszahlen und weiteren Erfolgsmeldungen hinsichtlich des Anklangs seines Romans Die Vermessung der Welt versorgt wird. Glavinic arbeitet sich an diesem Erfolg geradezu ab: Es ist ein bisschen seltsam für mich, zuzusehen, wie Ruhm und Erfolg meines Freundes von Woche zu Woche größer werden. Vor einigen Jahren war ich für kurze Zeit der etwas weniger Unbekannte und Erfolglose. Jetzt hat er schon 25.000 Exemplare seines neuen Buches verkauft, und ich stehe ohne Verlag da.111

Der Anfangspunkt dieses Vergleichs macht deutlich, dass es sich ebenfalls um ein Verhältnis im Sinne von Blooms »Einfluss-Angst« handelt: Kehlmann erscheint hier als derjenige, der sich als erfolgreicher Nachfolger vom zuvor vermeintlich erfolgreicheren Freund abstößt. Um dies zu verhindern, intensiviert Glavinic die bestehende Freundschaft massiv, er klammert sich geradezu an Kehlmanns Expertise, Rat und Kommunikationsangebote, auch wenn die, hierin eher einer klassischen kompetitiven Einstellung im Sinne Blooms ähnelnd, vor allem die eigene Anerkennung in Form von Verkaufszahlen und symbolischer Gratifikation zum Thema haben – bis hin zu Kontaktaufnahmen der Bundeskanzlerin,112 Lesereisen rund um die

109 Diese Strategie verhandelt Bloom unter dem Stichwort der »Kenosis (or Repetition and Discontinuity)« und begreift sie ebenfalls als eine – besonders subtile – Form der ›Kriegsführung‹ gegen väterliche Vorläufer. Vgl. Bloom: The Anxiety of Influence, S. 77–92. 110 Die Verschlüsselung dieses wie auch anderer Namen erscheint mir jedoch zu oberflächlich, als dass es sich bei Das bin doch ich tatsächlich um einen Schlüsselroman mit dessen spezifischer Autorschaftskonzeption handeln würde. Vgl. auch Keck: ›Das ist doch er‹, S. 247 f. 111 Glavinic: Das bin doch ich, S. 12. 112 Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 179.

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Welt,113 Namensartikeln in Spiegel114 und New York Times115 sowie Verkaufszahlen, die am Ende des Romans bis zu 680.000 Exemplaren reichen.116 Es kommt zu einem Ringen um die Selbstdefinition Glavinics nach Kriterien des Literaturmarkts, in dessen Zusammenhang der Titel des Romans aufgerufen wird: Bei Perlentaucher lese ich, jemand schreibt in der Süddeutschen, Daniel sei der beste Autor seiner Generation. Ich zucke zusammen. Das bin doch ich! mein erster Gedanke. […] Ich fühle mich im Stich gelassen. Es ist, als hätten sich zwei zu einer Reise verabredet, und dann nimmt der eine den früheren Zug.117

Glavinics Gedankenblitz »Das bin doch ich!« bezieht sich in diesem Kontext in allererster Linie auf seine Rolle in den Zusammenhängen des Literaturgeschäfts. »Ich« ist der erfolgreiche Autor, der er gern sein möchte und der, so sieht es hier aus, von seinem noch erfolgreicheren Freund Daniel zurückgelassen wird. Ihm werden, wie ausgerechnet Kehlmann ihm berichtet, von einem wohlwollenden, aber illusionslosen Prognostiker – Günter Berg, dem Verlagsleiter von Hoffmann & Campe, der Die Arbeit der Nacht zwar gut findet, aber wegen geringer wirtschaftlicher Erfolgsaussichten abgelehnt hat – 8.000 verkaufte Exemplare vorhergesagt, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem sein Freund bereits 250.000 verkauft hat.118 Der von den Marktmechanismen Abgewertete verfällt so zunehmend in eine defensive, melancholische Stimmung, in der er zum Kampf um Prestige im Sinne Blooms kaum noch in der Lage ist. Der Literaturmarkt und der permanente Vergleich lassen ihn in dem mit Bloom als testosterongeladener Generationenkrieg zu verstehenden Literaturgeschäft als schwächlichen, durch seine hysterisch-hypochondrischen Anwandlungen zudem tendenziell pathologischen Außenseiter dastehen. Das Schriftsteller-Ich gewinnt hier Gestalt im Sinne einer nach persönlicher Nähe und Zuneigung gierenden Person, die der Härte des Marktalltags nicht gewachsen ist. Hierbei, so könnte man umgekehrt argumentieren, handelt es sich aber letztlich um einen besonders günstigen Schachzug der Selbstverortung: Glavinic reanimiert dabei ein Blooms Theoriegebäude tendenziell entgegengesetztes Konzept vom empfindsamen Künstler, der in der von herzlosen, unnachsichtigen Marktprozessen gelenkten Literaturwelt stets den Kürzeren zu ziehen droht. Anstatt hier-

113 Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 175 f. 114 Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 211. 115 Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 213. 116 Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 227. 117 Glavinic: Das bin doch ich, S. 41. Hervorhebungen im Original. 118 Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 148 f.

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durch jedoch ein individuelles Profil aufzubauen, wird gewissermaßen an die Stelle des einen ein anderer Plot im Sinne Hayden Whites gesetzt – an die Stelle des kämpferischen Autors tritt der empfindsame Künstlertypus, wie wir ihn aus der Literatenbiografik etwa in Gestalt von melancholieaffinen Akteuren kennen, die im literarischen Feld am nicht materiell orientierten Avantgarde-Pol stehen.119 Aus Sicht der Theorie des literarischen Feldes bedient sich der Protagonist von Das bin doch ich hierbei einer klassischen Strategie: Für den materiell erfolglosen Autor bietet sich immer noch die Chance, die große Geste der Abkehr vom Markt und der Hinwendung zu einer als symbolisch höherwertig angesehenen Kunst zu vollziehen120 – eine Geste, die Glavinic in diesem Roman vielleicht etwas halbherzig und mit ironischem Augenzwinkern,121 aber doch erkennbar vollzieht und thematisiert, wodurch er Profil gewinnt im Sinne eines Emplotments entlang dieser alternativen Linie.

119 Vgl. die explizite Thematisierung der eigenen Melancholie durch den Protagonisten im Zuge der Lektüre der Novelle Train Dreams von Denis Johnson: »Ich fühle mich emporgehoben […]. Etwas melancholisch vielleicht, weil ich mich frage, ob ich je imstande sein werde, etwas auch nur annähernd so Gutes zu schreiben.« Glavinic: Das bin doch ich, S. 160. – Zur Melancholiethematik und dem Konzept eines melancholischen Künstlertums und seinen Protagonisten im 18./19. Jahrhundert vgl. Valk: Melancholie im Werk Goethes; Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Als ein für die Melancholie besonders »anfälliger« Autor gilt Flaubert, dessen Verortung auf der Avantgarde-Seite des literarischen Feldes sich Bourdieu ausführlich widmet. Vgl. dazu klassisch Henning Mehnert: Melancholie und Inspiration. Begriffs- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur poetischen »Psychologie« Baudelaires, Flauberts und Mallarmés. Heidelberg: Winter 1978. 120 Assmann verweist auf eine parodistische Bezugnahme auf Momente der ›Wiener Moderne‹, die sich in dieser Selbstpositionierung und ihrer Kombination mit dem im Roman als heruntergekommene Salonkultur erscheinenden Wiener Literaturbetrieb zeige. Vgl. Assmann: Das bin ich nicht, S. 126 f. 121 Während zum Beispiel in der Beschreibung, die der Protagonist vom (materiell extrem erfolgreichen und sogar) »bestbezahlten Autor unter Dreißig«, Jonathan Safran Foer, gibt, auf dessen Veranlagung auch im Hinblick auf die hoch geistige Höhenkammliteratur hingewiesen wird – er wirkt »besonnen, klug, geistreich« –, muss der Protagonist einräumen, dass er, der materiell prekär Dastehende, auch dem Konzept eines verkannten Genies nicht gerecht werden kann: Foer »hat das, was Karl May ein ›feines, durchgeistigtes Gesicht‹ nennt, und das erinnert mich nicht ganz leidlos daran, dass ich das nicht habe, dass man meinem Gesicht nicht Bildung abliest oder Geistestiefe oder Scharfsinnigkeit oder die Lektüre von Tausenden Büchern, sondern – naja, irgend etwas anderes.« Glavinic: Das bin doch ich, S. 13.

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5.2.4 Ich bin, was ich lese: Intertextuelle Strategien der Ich-Bildung Harold Blooms Intertextualitäts- bzw. Einflusstheorie hebt auf den intentional ausgerichteten Kampf um Einfluss zwischen einzelnen ›großen‹ Autoren ab. Eine nichtintentionale Theoriegrundlage zur Verhandlung von Intertextualität, wie man sie etwa auch in Foucaults Diskurstheorie bzw. in Julia Kristevas Intertextualitätskonzeption sehen kann,122 macht es jedoch genauso möglich, die Positionierung eines Ichs im Verhältnis zu anderen Textidentitäten herzustellen: »Die Idee des Autors als kreativ-bildendes Subjekt, sprachmächtig und sprachschöpfend zugleich, weicht der einer vorgängigen symbolischen Ordnung und der Vorstellung vom Einzelnen als Schnittpunkt differenter Diskurse jenseits aller Selbstdurchsichtigkeitsphantasmen.«123 Glavinics Protagonist Glavinic in Das bin doch ich ist, wie im Text und vor allem anhand der darin repräsentierten Zeit des Nichtschreibens deutlich wird, ein aktiver Leser. Er gewinnt Gestalt durch die Erwähnung seiner Lektüren, anderer Autoren (die in vielen Fällen metonymisch für ihre Werke stehen) sowie die Stellungnahmen, die er zu ihnen abgibt und die eine Verortung seines eigenen Schaffens ermöglichen. Das bin doch ich kann so als der diskursive Beitrag der Erzählinstanz »Thomas Glavinic« in einem übergreifenden literarischen Diskurs gelesen werden, der durch seine Bezüge auf andere Diskursbeiträge – die Werke anderer Autoren – relational positionierbar wird. Bei der Vielzahl an Texten kann hier nur sehr bruchstückhaft auf die weitergehenden intertextuellen Implikationen eingegangen werden, die sich aus den Einzelbezügen ergeben. Deutlich wird jedoch, dass konkrete textuelle Bezugnahmen eher dezent bleiben und weniger zahlreich sind; im Vordergrund stehen eher die auf den Literaturbetrieb gemünzten Abgleiche zwischen der Geltung eines Autors und der des Protagonisten, die – wie oben in Bezug auf dessen permanenten Vergleich mit Daniel Kehlmann deutlich gemacht – in der

122 Foucault spricht in Bezug auf den (wissenschaftlichen) Diskurs davon, dass er denjenigen Weg, Zugang zu dieser »Realität« zu finden, der »dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt, der einem Handeln eine grundlegende Rolle zuschreibt, der seinen eigenen Standpunkt an den Ursprung aller Historizität stellt – kurz, der zu einem transzendentalen Bewußtsein führt«, ablehnt und eine textbasierte Analyse an dessen Stelle setzen will. Dies lässt sich, so meine ich, auch für eine antiintentionalistische Theorie von Autorbildern in Texten nutzen, wie sie hier an Glavinics Beispiel vorgeführt wird. Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 15. Zu den hierfür grundlegenden Gedankengängen vgl. Kap. 2.2 und 2.3. 123 Fohrmann u. Müller: Einleitung. Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, S. 15.

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Regel für Glavinic aus dessen eigener Sicht negativ ausfallen bzw. eine von den aktuellen Aushängeschildern der Branche abweichende (Markt-)Positionierung notwendig und möglich machen. Das bin doch ich wird eröffnet mit einem intertextuellen Bezug: Glavinic ist Gast auf einer Lesung des »weltweit bestbezahlte[n] Autor[s] unter Dreißig«124 Jonathan Safran Foer – ein »wohlerzogene[r] junge[r] Mann aus den Vereinigten Staaten«, von anderen maßgeblichen Schriftstellern als »Wunderkind«125 bezeichnet und also von Anfang an in einer aus Sicht des melancholischen Glavinic überlegenen Position. Foer liest aus seinem neuen Buch vor, in dem man, bezieht man den in Das bin doch ich abgebildeten Zeitraum ein, Extremely loud and incredibly close,126 Foers zweiten Roman, erkennen kann. Im Verlauf des Abends landet Glavinic gemeinsam mit Foer und den Veranstaltern der Lesung in einem Gasthaus. Hier kann man in einer Situation wiederum eine Anspielung auf Foers ersten Roman, Everything is illuminated,127 erkennen, wenn Glavinic dem als »besonnen, klug, geistreich«128 bezeichneten Amerikaner als »russischer Bauer« gegenübersteht, der ihm empfiehlt, »sich ordentlich einen an[zu]saufen«, und zwar mit dem österreichischen »Nationalgetränk« Grüner Veltliner.129 Glavinic nimmt hier die Grundsituation von Foers Roman auf, die darin besteht, dass ein junger, wohlerzogener, interessierter Amerikaner namens Jonathan Safran Foer sich in der Ukraine auf die Suche nach den Wurzeln seiner Familie begibt, wobei er in allerlei Situationen gerät, in denen er sich als respektvoll-irritierter Beobachter mit den Lebensund Trinksitten der einheimischen Bevölkerung auseinandersetzen muss. Die Positionierung des österreichischen Kulturschaffenden im Kontrast zum distinguierten Autor von Welt auf der Seite der unterprivilegierten ukrainischen (oder eben »russischen«) Landbevölkerung macht erneut das Kokettieren mit eigener Erfolglosigkeit und eigenen Mängeln deutlich, das das Bild von Glavinic in Das bin doch ich nachhaltig prägt. Darüber hinaus ist aber die Bezugnahme auf Foers geschichts- bzw. repräsentationskritischen Roman, die auf diese eher versteckte Weise erfolgt, gleichzeitig als Kommentar auf die eigene repräsentationskritische Vorgehensweise, die Das bin

124 Glavinic: Das bin doch ich, S. 11. 125 Glavinic: Das bin doch ich, S. 14. 126 Jonathan Safran Foer: Extremely loud and incredibly close. Boston u.a.: Houghton Mifflin 2005. 127 Jonathan Safran Foer: Everything is illuminated. New York u.a.: Harper 2003 (zuerst: 2002). 128 Glavinic: Das bin doch ich, S. 13. 129 Glavinic: Das bin doch ich, S. 14

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doch ich in Bezug auf das Ich wählt, aufschlussreich. Everything is illuminated ist ebenfalls ein Roman, in dem Hauptfigur und Autorinstanz denselben Namen tragen (und der also dieselben Fragen über den Zusammenhang zwischen Autor und Protagonist sowie die vermeintliche autobiografische Tendenz des Textes aufkommen lässt), und befasst sich noch stärker, als das bei Glavinic der Fall ist, mit der Frage, wie eigentlich ein Zusammenhang zwischen der Realität und Texten über diese Realität hergestellt werden kann. Der Protagonist Foer beginnt nach seiner Rückkehr in die amerikanische Heimat über den ukrainischen Ort zu schreiben, den er besucht hat – und mit dem Versuch, mit seinem Korrespondenzpartner Alex in der Ukraine brieflich Einigkeit über die Identität des Ortes Trachimbrod sowie die erzählten Ereignisse herzustellen.130 Auf der »Rückseite« der Ergebenheitsgeste, die Glavinic gegenüber Foer vollzieht, steht damit letztlich eine Aneignung von dessen Romanerstling zur subkutanen postmodernen Profilierung des eigenen Textes.131 Diese charakteristische Aneignung eines Intertexts stellt die eine Stoßrichtung der intertextuellen Anklänge dar, durch die der Protagonist Glavinic sich selbst kennzeichnet und im literarischen Diskurs verortet. Man könnte sie als Aneignung eines anerkannten Textes zur diskreten Unterstreichung bzw. Profilierung der eigenen ästhetischen Prinzipien wahrnehmen.132 Eine zweite intertextuelle Wirkung ist in der Herstellung von Verbindungen des Schriftstellers Glavinic mit tendenziell

130 Die konkreten Auseinandersetzungen hier nachzuzeichnen würde sicherlich zu weit führen, aber hingewiesen sei auf Alex’ in seinem unnachahmlichen (jedoch von Glavinic auch sich selbst zugeschriebenen) Englisch vorgetragenen Verweis auf unterschiedliche Ebenen der Realität, die es beim Schreiben zu berücksichtigen gelte (und die die Diskurse um einen autobiografischen Wahrheitsbegriff, wie sie hier im Kap. 1.2 nachgezeichnet wurden, aufnimmt): »You are a coward, Jonathan, and you have disappointed me. I would never command you to write a story that is as it occurred in the actual, but I would command you to make your story faithful.« Foer: Everything is illuminated, S. 240. 131 Expliziter ist das der Fall, wenn Glavinic die postmoderne Ikone Jorge Luis Borges zitiert: »›Die Wirklichkeit pflegt mit dem Vorausgesehenen nicht übereinzustimmen. Daraus folgt, daß etwas vorhersehen soviel heißt wie verhindern, daß es eintritt.‹« Glavinic: Das bin doch ich, S. 197. 132 Weitere Texte, die in diesem Zusammenhang aufgegriffen werden, scheinen mir Mario Vargas Llosas Der Hauptmann und sein Frauenbataillon (vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 18–20), Max Goldts Foyer des Arts-Liedtexte (vgl. ebd. S. 78, 107 f.), Denis Johnsons Train Dreams (vgl. ebd., S. 156–160) sowie die Texte Kehlmanns zu sein.

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gering geschätzten Textsorten – nicht zuletzt Computerspielen (Civilization133), TVSerien (Star Trek: Deep Space Nine,134 The Sopranos135) und TV-Filmen (DonCamillo-Reihe,136 Bud-Spencer-Filme137) – zu finden, die einerseits hiermit in einer den Kanon umstrukturierenden Weise aufgewertet werden, andererseits den Schriftsteller zunächst einmal oberflächlich als schlichtes Gemüt dastehen lassen, wenn man sich auf die verhandelten Inhalte, die möglicherweise jenseits dogmatischer Kanonisierungsprozesse eine spezifische Kennerschaft des Medienkonsumenten Glavinic verraten könnten, nicht einlässt. Die intertextuelle Positionierung des »Subjekts (oder seine[s] Substitut[s]) […] als variable und komplexe Funktion des Diskurses«138 markiert so einerseits Texte, denen sich der vorgelegte Roman annähert, andererseits stellt sie eine Refiguration und Neubewertung des bestehenden Diskurses dar, in dessen Gesamtrahmen der Diskursbeiträger Glavinic seinen Platz als postmoderner, eine Revision von Gattungsbewertungen einfordernder, aber gleichzeitig schlicht verkannter Marktakteur und Autor einnimmt.139

133 Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 17 f., 63 f. Ein ironischer Kommentar zum Bild des Autors als Schöpfer fiktionaler Welten, der hierdurch einen Allmachtsanspruch hat, der letztlich der realistischen Abbildung der Realität entgegensteht, scheint mir darin zu liegen, dass sich der von seinem eigenen Leben »deprimiert[e]« Autor Glavinic seine Zeit ausgerechnet mit dem Computerspiel Civilization vertreibt, das ihm die Möglichkeit gibt, in die Position eines Weltenlenkers zu schlüpfen, der das Schicksal einer gesamten ›Zivilisation‹ lenkt. Auch auf dieser intertextuellen Ebene wird die Debatte über das Verhältnis von schöpferischer Fiktionalität und ›nach-schöpferischer‹ Repräsentation weitergeführt, die Das bin doch ich durchzieht. 134 Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 179, 197. 135 Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 82. Die Sopranos werden – von einem engstirnigen Kanondiskurs aus gesehen vielleicht überraschend – hierbei sogar eigens als »große Kunst« apostrophiert, der in besonders prekären Lebenszusammenhängen rettende Funktion zukommt. 136 Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 175. 137 Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 224. Der offenbar einen eingeschränkteren Kanon bevorzugende Daniel Kehlmann quittiert die Erwähnung des Films Banana Joe hierbei folgendermaßen: »›Wieso schaust du dir solchen Dreck an? Das ist doch wirklich das Allerletzte.‹« Er wird indes als begeisterter Konsument von Horrorfilmen gekennzeichnet, der einen guten Filmabend der Lesung seines Freundes Thomas aus dessen Roman jederzeit vorzieht (vgl. ebd., S. 227 f., 235). 138 Foucault: Was ist ein Autor? S. 259. 139 Einen Schwerpunkt auf die letztere Tendenz legt die Erwähnung eines Romans von Knut Hamsun, den der fiebernde Schriftsteller im Krankenbett liest (vgl. Glavinic: Das

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5.2.5 Ich schreibe, also bin ich: Der Schriftsteller als Ich-Produzent [I]n mir tobt ständig etwas, und ich frage mich, was mich eigentlich zusammenhält. Nein, ich frage mich das nicht, ich weiß es ja, es ist das Schreiben, und deswegen muß ich etwas unternehmen, ich kann nicht einfach einen Roman zu Ende bringen und eine Weile nichts tun.140

»Das Schreiben« hält den Protagonisten und Erzähler von Das bin doch ich zusammen – eine Diagnose, die man, wie hier gezeigt werden sollte, in zweierlei Hinsicht verstehen kann. Einerseits und im ersten Sinn wird hier auf ein Schriftstellerstereotyp angespielt, mit dem in diesem Roman ausgiebig gearbeitet wird: Der Schriftsteller ist nur bei sich, nur er selbst als Schriftsteller, das heißt in seinem Schreiben, es wird zu seinem einzigen Lebenszweck. Dieser aus der Literaturgeschichte übernommene Plot von der Kunstproduktion als Berufung und Lebenszweck, dem zu genügen kaum je gelingt, bildet den Hintergrund für den vorliegenden Roman. Das bin doch ich ist jedoch, anders als man es vor dieser Kulisse vielleicht vermuten würde, eigentlich kein Roman über das Romanschreiben, sondern es ist ein Roman über das, was ein Schriftsteller tut, wenn er nicht schreibt: Thematisiert wird die Lücke, die im Schriftstellerleben vermarktungsbedingt entsteht, sodass der Roman eine Zeit schildert, die eben nicht von der Berufung des Autors, dem Schreiben selbst, gekennzeichnet ist, sondern in der der Schreibende auf sich selbst und seine Marotten zurückgeworfen wird, da er nicht schreiben kann, sondern seinen Tag auf andere Weise füllen muss. Wenn also in einem zweiten Sinne »das Schreiben« den Schriftsteller-Protagonisten »zusammenhält«, dann in dem Sinn, dass durch die Verschriftlichung seines Tagesablaufs ein Bild von ihm geschaffen wird, das nicht, beachtet man die im ersten Teil dieses Kapitels thematisierten postmodern-theoretischen Vorbehalte, als Abbild des Autors, sondern als fiktional produzierte Position eines schriftlichen Ichs im Diskurs wahrgenommen werden kann.141

bin doch ich, S. 115). Nahe liegt es, die mit dieser Umschreibung geschaffene Leerstelle mit Hamsuns erfolgreichstem Roman Hunger zu füllen, der den psychischen und physischen Verfall eines erfolglosen Schriftstellers zum Thema hat. 140 Glavinic: Das bin doch ich, S. 11. 141 Insofern irritiert eine intentionalistische Deutung des Textes, die letztlich darauf hinausläuft, dass es Glavinic gelinge, »durch die Erfindung der Figur Glavinic […], durch die Beschreibung des kreativen Vakuums, der schriftstellerischen Krise, diese Krise zu überwinden und die Shortlist zu erreichen« – ein kompensationstheoretischer Kurzschluss zwischen Textwelt und vermeintlich von ihr referenzierter Umgebung, der die

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Der Roman Das bin doch ich stellt eine Autor-, Erzähler- und Protagonisteninstanz her, indem er auf andere Diskurse Bezug nimmt und so eine Position belegt, die relational von anderen Positionen aus erkennbar wird. Der Rückgriff auf das Stereotyp des bis zur Hypochondrie empfindsamen Schriftstellers, auf Marktstrukturen, durch die dieser seinen lebensbestimmenden Platz erhält und die ihn prägen, auf andere diskursive Positionen wie Feedback zum eigenen Schaffen oder intertextuelle Quellen anderer Autoren macht den Thomas Glavinic dieses Romans zur anschlussfähigen und von der Kenntnis realer Lebensumstände nicht tangierten IchChiffre, deren Position nicht im Sinne eines Subjekts eingeholt werden kann, sondern als Schnittpunkt im Netz des Diskurses von außen sichtbar und verständlich wird. Individualität ist dabei ein Effekt des Diskurses, der letztlich aber nicht auf inkommensurablen Eigenschaften des Einzelnen beruht, sondern in erster Linie auf dessen Partizipation an tradierten, bekannten und gut profilierten Vorgängerdiskursen, zu denen sich das Individuum qua Roman in Beziehung setzen lässt. Die Festlegung dieses Ichs bleibt dabei flexibel und jederzeit durch neue Bezugnahmen veränderbar – sie ist nicht von einer festen, die Realität des Diskurses transzendierenden Substanz geprägt, wie der wieder zum Schreiben kommende Schriftsteller in einer wohl selbstreferenziell auf den vorliegenden Roman gemünzten Passage feststellen muss: Ich schaue in die Aufzeichnungen, die ich mir zu meinem nächsten Roman gemacht habe. Da und dort notiere ich etwas, ergänze, arbeite noch weiter aus. Ich sehe ihn vor mir, nicht handfest als Buch, sondern als Idee, und bin – ja, es ist schwer zu sagen, was ich bin.142

repräsentationskritischen Ansätze des Beitrags von Špela Virant ad absurdum führt. Špela Virant: Die uneinholbare Fiktion – Zu den Romanen Das Wetter vor 15 Jahren von Wolf Haas und Das bin doch ich von Thomas Glavinic. In: Jacek Rzeszotnik (Hg.): Schriftstellerische Autopoiesis. Beiträge zur literarischen Selbstreferenzialität. Darmstadt: Büchner 2011, S. 63–78, hier S. 67. 142 Glavinic: Das bin doch ich, S. 176.

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5.3 M EINE S CHREIBMASCHINE UND ICH : I CH -K ONSTITUTION IN DER P OETIKVORLESUNG »Sie sitzen zum Beispiel jetzt hier. Damit haben Sie unleugbar etwas zu tun, oder nicht?«143 – Der (einigermaßen impertinente) fiktive Interviewer in Thomas Glavinics vierter Bamberger Poetikvorlesung,144 die den Titel »Was andere denken« trägt, spielt hiermit auf einen wesentlichen Punkt in der Rezeption von Poetikvorlesungen an, in dem sich deren Aufnahme von derjenigen schriftlicher Ich-Texte unterscheidet: Die Präsenz des sprechenden Ichs, die etwa von Ruth Klüger theoretisch als entscheidendes Kriterium der Authentizität der autobiografischen Aussage aufgefasst wird145 und die womöglich in erster Linie den »Reiz« dieser Gattung ausmacht,146 macht es in der Rezeption noch schwieriger, Momente der postmodernen Subjekt- und Repräsentationskritik zu integrieren, als dies bei bloß gedruckt vorliegenden Texten der Fall ist: Die performativ erlebbare Tatsache, dass ein Au-

143 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 97. 144 Die Bamberger Poetikvorlesung ist mit der Institution der Bamberger Poetikprofessur verbunden, die Glavinic im Jahr 2012 zugesprochen wurde. In diesem Rahmen hielt er im Juni und Juli vier Poetikvorlesungen, die 2014 unter dem Titel Meine Schreibmaschine und ich in überarbeiteter Form gedruckt wurden. 145 Vgl. Klüger: Lanzmanns Shoah in New York, S. 24, wo es über ein Interview mit einem Zeitzeugen, in diesem Fall einem NS-Bürokraten, heißt: »Solche Szenen gewähren uns einen weitaus intimeren Einblick in die Innenwelt der Schuldigen, als das gedruckte Wort ihn vermittelt.« – Zur Problematik einer derartigen Authentizitätskonstruktion, die bei Klüger mit einer stark moralischen Argumentation verbunden ist, vgl. Kap. 1.1.3 u. 1.3. Glavinics Poetikvorlesung lässt sich gewissermaßen als Gegenthese zur Vorstellung der Authentizität verbürgenden Präsenz des Sprechers lesen, indem sie zeigt, dass der Rückschluss aufs ›authentische‹ Innere der Person auch in dieser Situation unmöglich ist – ein Effekt, den auch das bei Klüger reflektierte Beispiel Wilkomirski bereits deutlich werden ließ. 146 So Monika Schmitz-Emans: Reflexionen über Präsenz. Poetikvorlesungen als Experimente mit dem Ich und mit der Zeit. In: dies., Claudia Schmitt u. Christian Winterhalter (Hg.): Komparatistik als Humanwissenschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Manfred Schmeling. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 377–386, hier S. 378. Schmitz-Emans führt in ihrem Aufsatz am Beispiel der Poetikvorlesungen Ingeborg Bachmanns (und unter Verweis auf Ingolds Theorie zum Autor im Text) aus, inwiefern diese bereits eine Skepsis gegenüber dem Ich-Sagen artikulieren, das zu einem häufigen Thema von Poetikvorlesungen werde und die Referenzansprüche, die man zunächst in Bezug darauf haben könnte, unterlaufe.

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tor vor ihm steht, der seine Sicht der Dinge zu artikulieren scheint, lässt den Gedanken vom »Tod des Autors« oder dem »Verschwinden des Subjekts« für den Zuhörer einer Poetikvorlesung kontraintuitiv erscheinen, scheint doch die Präsenz des Sprechenden dessen auf die eigene Existenz bezogene Worte umgehend zu beglaubigen. Die Einordnung der Poetikvorlesung als »faktuale«, »metaliterarische Gebrauchsgattung«, von der zumeist »zusätzliche Auskunft über ein Werk, dessen Autor und seine spezielle Dichtungstheorie« erwartet werden, kann man demnach als verbreiteten Konsens der Literaturwissenschaft und des ihr zugehörigen universitären Betriebs wahrnehmen,147 wodurch die ihr zugeschlagenen Texte von vornherein mit einer über ähnliche Parameter definierten Autobiografik verbunden sind.148 So scheint es nahezuliegen, Poetikvorlesungen geradezu als »Bekenntnis« zu lesen, wie es etwa der etwas reißerische Klappentext der gedruckten Ausgabe von Glavinics Vorlesungen unter dem Titel Meine Schreibmaschine und ich formuliert, der das Genre so unter Rekurs auf den Titel des gattungsprägenden Rousseau’schen Textes direkt in den Kontext der Autobiografik stellt: »[S]elten hat man sich einem Autor so nahe gefühlt wie während der Lektüre dieses Bekenntnisses.«149 Eine intertextuelle Verbindung lässt jedoch rasch klar werden, dass dieser Authentizitätsillusion nicht notwendigerweise nachgegeben werden muss: Die erste der vier Poetikvorlesungen steht unter dem Titel »Was ich mag und was ich nicht mag« und imitiert damit das Modell, das auch Roland Barthes in Über mich selbst anwendet: Während dort in der Vielzahl kurzer Fragmente in Form von »Biographemen« Details zu den Vorlieben der »Romanfigur« Roland Barthes angesammelt werden und also aus dem Text ein plastisches Bild des ›Autors‹ entsteht, das gleichwohl unterstreicht, nur Effekt eines Textes zu sein,150 liefert auch das Porträt

147 So der zu Recht kritisierte Befund bei Johanna Bohley: Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung als »Form für nichts«. In: dies. u. Julia Schöll (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 227–242, hier S. 227 u. 230. Bohleys Einschätzung, eine Vorstellung des Autor-Ichs als »Erfindung« stoße sich an der »Tatsache der physischen Präsenz« (ebd., S. 239) des Autors, scheint mir nicht zuzutreffen – wie oben im Zusammenhang mit Ruth Klügers in ähnlicher Weise auf die Authentizität der performativen Darstellung vertrauenden Konzeption angesprochen, verhindert die Anwesenheit des Autors keineswegs, dass dieser eine fiktionale Darstellung seiner Person liefert. 148 Vgl. hierzu auch Schmitz-Emans: Reflexionen über Präsenz, S. 377. 149 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, Klappentext. 150 Vgl. hierzu detaillierter Kap. 2.4.4. – Paul Michael Lützeler verortet, von derartigen Fragestellungen sowie der Vielfalt immer neuer Realisierungsformen ausgehend, die Gattung der Poetikvorlesung als Ganzes im Rahmen der Postmoderne – eine These, de-

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Glavinics, das die Poetikvorlesung hervorbringt, Details, die in ihrer Kombination ein Autorbild ergeben, dessen referenzieller Wert jedoch vollkommen im Unklaren bleibt, da trotz der Anwesenheit des Autors keine Möglichkeit der Verifikation besteht. Hierfür sorgt nicht zuletzt das Format der (monologischen) Vorlesung, die es rein praktisch nicht vorsieht, die Probe aufs Exempel zu machen und etwa die Reaktion des Autors auf von diesem als »unsympathische Geschöpfe« deklarierte »Moskitos, Zecken und Wespen«151 oder den »Geruch von Marihuana« experimentell zu erheben – geschweige denn den Einfluss von dessen Konsum, der ausweislich des Textes beim Autor »Panikattacken« hervorruft.152 Sprechen also bereits die institutionellen Rahmenbedingungen der monologischen Gattung dagegen, dieser einen verifizierbaren referenziellen Gehalt zuzusprechen, unterminiert der Text im vorliegenden Fall diese Tendenz zudem mithilfe verschiedener Strategien, die zum Teil bereits in vergleichbarer Form anhand von Das bin doch ich skizziert wurden. Dies gilt vor allem für die Suche von Verbindungen zu anderen Texten und Autoren, die dazu führt, dass das Profil der Autorinstanz Glavinic (für die damit derselbe Status gilt wie für den gleichnamigen IchErzähler von Das bin doch ich) im Rahmen einer Bezugnahme auf literarische Vorbilder entsteht – die Namen Vargas Llosa, Denis Johnson oder Hamsun153 sind als prägende Figuren des vom Autor Glavinic geschätzten Literaturdiskurses, in den er sich selbst einschreibt, bereits aus Das bin doch ich bekannt und werden hier ergänzt durch Namen wie Truman Capote, Charles Bukowski, Philip Roth, Gabriel

ren Generalisierbarkeit man möglicherweise infrage stellen kann, die aber in Bezug auf die Gestalt, die die Gattung bei Glavinic erhält, sicherlich zutrifft. Vgl. hierzu Lützeler: Postmoderne Ästhetik: Poetikvorlesungen der Autoren. In: ders.: Klio oder Kalliope? Literatur und Geschichte: Sondierung, Analyse, Interpretation. Berlin: Erich Schmidt 1997, S. 150–157. Irritierend an Lützelers Darstellung ist die Tatsache, dass er die Poetikvorlesung einerseits als postmoderne Gattung auffasst, sie andererseits jedoch seit Uwe Johnson als »subjektive[n] autobiographische[n] Bericht« wahrnimmt, ja die wachsende Relevanz des Subjektiven geradezu als postmodernes Charakteristikum ausmacht: Aus den erkenntnistheoretischen Herausforderungen der Postmoderne an Subjekt- und Autobiografietheorie zieht er damit keine Konsequenz, auch wenn er explizit Foucaults und Barthes’ Relativierungen des Subjektbegriffs erwähnt. Für Lützeler ist – im Einklang hiermit und in deutlicher Spannung zu diesen letzteren Positionen – die Poetikvorlesung eine Gattung, die den Lejeune’schen »autobiographischen Pakt« anerkennt (ebd., S. 153). 151 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 25. 152 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 35. 153 Vgl. Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 27 f.

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García Márquez, Michel Houellebecq und Milan Kundera.154 Insofern sorgt natürlich die auch in der Poetikvorlesung (wie in anderen Selbstaussagen des Autors) vorgebrachte ›Verteidigung‹, bei dem ›Thomas Glavinic‹ in Das bin doch ich handle es sich um eine Figur, die mit der Autorinstanz, die diese Poetikvorlesung vorträgt, nicht besonders viel gemein habe,155 für Irritationen, sind doch die literarischen Säulenheiligen, die zur Einordnung der eigenen Position genutzt werden, hier wie dort dieselben, was die beiden Instanzen – Glavinic in Das bin doch ich sowie den Vortragenden der Poetikvorlesung, der sicherlich ebenfalls besser als Erzählinstanz angesprochen würde – in ihrer Entstehung als Teil eines übergreifenden Werkkontextes erscheinen lässt.156

154 Vgl. Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 28, 47 f. u. 111 f. 155 Vgl. Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 84. Interessanterweise wird die Aussage im Haupttext, »bitte verwechseln Sie mich nicht mit der Romanfigur Thomas Glavinic, ich habe mit ihr weniger zu tun, als die meisten Menschen glauben«, durch die Fußnote »Könnte auch eine Schutzbehauptung sein, ich weiß es nicht« in Zweifel gezogen. Was die beiden Instanzen miteinander »zu tun haben«, wird entgegen der hier vielleicht zunächst einmal naheliegenden Idee, beiden referenziell dieselbe reale Instanz zu unterlegen, so aufgefasst, dass beide Instanzen letztlich denselben textuellen Mechanismen der Festlegung von Subjektivität entspringen. – Die in Bezug auf die Reiseerzählung Unterwegs im Namen des Herrn, die hinsichtlich der Erzählsituation analog gestaltet ist, in der Poetikvorlesung geäußerte Einschätzung, sie sei »kein Roman, der IchErzähler ist mit mir identisch« (ebd., S. 88), ist gleichermaßen mit Vorsicht zu genießen – auch in diesem Fall erfolgt eine textuelle Subjektkonstruktion, von der aus nicht auf eine dahinterliegende Realität zurückgeschlossen werden kann. Die übertriebene Naivität diesbezüglich, mit der Glavinic sich hier zu Unterwegs im Namen des Herrn äußert, steht in markantem Gegensatz zu der subjekttheoretischen Versiertheit, die aus Die Arbeit der Nacht und Das bin doch ich bekannt ist, weshalb sie leicht als Rollenspiel zu erkennen ist. Unterwegs im Namen des Herrn beschäftigt sich in weiten Teilen damit, die Positionierung des Erzähler-Ichs zu seiner Reisegruppe und deren einzelnen Mitgliedern herzustellen – ein Verfahren, das die von Glavinic auch sonst verfolgte Praxis einer Bildung des eigenen Subjekts im sozialen Kontext erneut aufnimmt und veranschaulicht. Dass der Reisebericht seinerseits eine intertextuelle Tradition heraufbeschwört, die er in bestimmter Hinsicht konterkariert und so als scheinauthentisch herausstellt, hat Frank Jasper Noll gezeigt: Frank Jasper Noll: Die Zukunft einer Illusion? Zur Medialität des Glaubens in Thomas Glavinics Reiseerzählung Unterwegs im Namen des Herrn. In: Standke (Hg.): Die Romane Thomas Glavinics, S. 211–227. 156 Dass diese Konsequenz der Verbindung narrativer und poetischer Selbstkonstruktion naheliegt, wird bereits bei Bohley deutlich, die unterstreicht, dass die Poetikvorlesung

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Eine weitere Strategie des Textes, ein zu unbedarftes Anschließen an die Aussagen des Sprechers zu unterlaufen, ist der Einsatz von offensichtlichen Widersprüchen oder argumentativen Untiefen in der Poetikvorlesung. So stoßen beispielsweise in »Was ich mag und was ich nicht mag« zwei sehr unterschiedliche Arten zu schreiben direkt aufeinander: Einerseits das existenzialistisch anmutende Lob eines Schreibens über »die großen Dinge. Über Liebe, über den Tod, über das Scheitern, vielleicht auch über den Erfolg und das Glück und die Unendlichkeit«, das einen Text hervorbringt, »der Größe hat und Wucht, der uns niederdrückt durch seine Wahrhaftigkeit«; und andererseits das lapidar dahingesagte Bekenntnis »Ich mag Facebook«157 – das eine schließt also das andere nicht aus, der Text, der dem Autor

als »an den Autor gebundene Rede […] im Diskurs des Literarischen selbst steht« und sich insofern von der formal ähnlichen wissenschaftlichen Vorlesung abhebt. Bohley: Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung, S. 230. Vgl. auch Lützeler: Postmoderne Ästhetik, S. 150. – Auch Schöll unterstreicht, dass die »vermeintlich nicht-fiktionale Autorschaft […] von der fiktionalen Ebene nicht mehr klar zu differenzieren ist – und diese Vermischung der Ebenen, so die These, hat System«. Schöll: Entwürfe des auktorialen Subjekts im 21. Jahrhundert, S. 288 f. – Eine klare Trennung, wie sie etwa Hillebrandt zwischen Poetologie und »autofiktionalen Romanen« macht, erscheint mir angesichts dieser Bestandsaufnahme nicht ergiebig. Vgl. Hillebrandt: Atmosphärenmagie, S. 82. Auch Assmann hält fest, dass diese Differenzierung letztlich bei Glavinic »implodiert«; sein insgesamt differenzierter Aufsatz bleibt mit dem an das Konzept der Autofiktion angebundenen Begriff der »posture« jedoch in einem intentionalistischen Rahmen. Vgl. Assmann: Das bin nicht ich, S. 136. 157 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 29. – Die Glavinic’sche FacebookPräsenz wäre ein weiterer interessanter Gegenstand für die Frage der textuellen/medialen Ich-Konstitution, der hier nicht ausführlicher nachgegangen werden kann. Neben einer offenbar vonseiten des Hanser-Verlags betriebenen Facebook-Seite (www.facebook.com/glavinic.thomas), die sich vorwiegend der Vermarktung der Bücher, Lesungen, Interviews Glavinics etc. widmet und auch für Fanbotschaften offen ist, existiert auch ein privater Facebook-Account Glavinics (www.facebook.com/thomas. glavinic), der ebenso öffentlich verfolgt bzw. abonniert werden kann. Indem auf letzterer Seite ausführlich zu Themen der aktuellen Nachrichten, aber auch etwa Musik und Netzwelt gepostet wird, ergibt sich ein – nicht zuletzt durch Kommentare zu den einzelnen Posts – in kollektiver Autorschaft und Teilhabe an verschiedenen Diskursen entstehendes Glavinic-Bild, das auch angesichts des Mediums Fragen der Ich-Konstruktion im Gegensatz zu einer vermeintlichen Authentizität anreizt. Durch die doppelte Darstellung der Person in zwei Accounts mit zudem unklarer Autorschaft kommt es letztlich zu einer noch stärkeren Entkoppelung von Subjekt und Text, als es im Buch (oder gar der

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existenziell wichtig ist und aus dessen »Mitte heraus geschrieben wurde«, steht plötzlich auf einer Ebene mit einem Medium der Selbstdarstellung, das eher für kleinteilige ›Posts‹ zu Nebensächlichem steht als für die Reflexion letzter Fragen. Ähnlich verhält es sich mit der Aussage »Ich verzichte mittlerweile auf alle Drogen«, der im gedruckten Text eine Fußnote beigegeben ist, die dies offensichtlich in Zweifel zieht: »Haha! Anm. d. Lektorin«158 – was, ginge es tatsächlich auf einen Eingriff des Lektorats zurück, einerseits für dessen Selbstbewusstsein, andererseits aber auch für ein Agieren jenseits aller Konventionen dieser diskreten Zunft stehen würde. Es liegt auf der Hand: Der Instanz ›Thomas Glavinic‹, die diese Poetikvorlesung produziert, ist genauso wenig zu trauen wie der Instanz, die den Roman Das bin doch ich im selben Namen textintern verantwortet – der Text selbst unterläuft durch Widersprüchlichkeiten und offen artikulierte Referenzzweifel sowie den direkten Anschluss an die als fiktional deklarierten Verfahren des Romans die Erwartungen des Publikums, in der Poetikvorlesung tatsächlich mit den realen Leitlinien des Schreibens des Poetikprofessors bekannt gemacht zu werden.159 Dass in der

performativ beglaubigten Poetikvorlesung) der Fall ist, was nicht bedeutet, dass nicht der Online-Glavinic mit derselben Hartnäckigkeit, wie sie in Feuilleton und Literaturwissenschaft zu beobachten ist, von Kommentatoren auf seine Aussagen festgelegt würde. – In geringerem Maße erfüllt auch die Glavinic-Website eine vergleichbare Funktion; auch sie wird, anders als etwa Schöll dies darstellt, vom Hanser-Verlag verantwortet, sodass die ohnehin theoretisch fragwürdig intentionalistische Interpretation, sie werde von Glavinic zur »mediale[n] Selbstinszenierung« genutzt, auch sachlich fehlgeht. Vgl. Schöll: Entwürfe des auktorialen Subjekts im 21. Jahrhundert, S. 289. Zur Website und ihrer Funktion, die jedoch in erster Linie hinsichtlich der (intentional gedachten) »mediale[n] Selbstdarstellung« und mit Blick auf Das bin doch ich und Unterwegs im Namen des Herrn in dem ebenfalls intentionalistischen Kontext der Autofiktion verhandelt wird, vgl. Hillebrandt: Atmosphärenmagie, S. 81. 158 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 35. 159 Bohley hält fest, dass dieses Verfahren der Gestaltung der Poetikvorlesung im Sinne einer »fiktionale[n] Gattung« schon seit deren Anfängen weit verbreitet ist: Bohley: Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung, S. 237. – Dass dieser Technik aber nach wie vor das Potenzial eignet, Rezipienten nachhaltig zu irritieren, ja zu verärgern, wird etwa deutlich in der Rezension der Poetikvorlesung, die in der Neuen Zürcher Zeitung unter dem Titel Im Vorhof der Reflexion erschien und in der beklagt wird, dass man sich »auf weite Strecken durch eine Melange ermüdender Plattitüden« lesen müsse, die »Idee und Nukleus seines literarischen Programms« nur streiften, wenn sie etwa »die Angst, welche den sich selbst als ›Gefangene[n] meiner Neurosen und Ängste‹ charakterisierenden Wiener beim Schreiben vorantreib[e]«, bekennten. Der Rezensent, der hier Authentizi-

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letzten Poetikvorlesung – »Was andere denken« – gewissermaßen im Sinne einer Theaterperformance Glavinic als Soloschauspieler in einer Doppelrolle ein fiktives Interview zur Aufführung bringt, das ein Reporter des ebenso fiktiven Rützelshausener Volksboten mit ihm führt, der zudem die bereits aus Das bin doch ich bekannten Schwierigkeiten mit dem Namen des Autors hat,160 sorgt in der tatsächlichen Übernahme zweier Rollen durch den Autor nochmals dafür, dass die Frage nach der Referenzialität ausgeklammert wird: Der Text dieser ungewöhnlichen Poetikvorlesung signalisiert auch mit dieser Strategie erneut, dass er fiktional ist, was eben auch für das in ihm entworfene Autor-Ich gilt, zu dem – trotz der direkten performativen Verfügbarkeit – kein direkter Zugang möglich ist. Die beiden Vorlesungen »Was ich mag und was ich nicht mag« und »Was andere denken« bilden so eine fiktionalisierende Klammer um die Vorlesungen zwei und drei, die unter den Titeln »Was ich denke« und »Was ich dachte« am ehesten noch das zu liefern scheinen, was Kenner der Gattung Poetikvorlesung von diesem Format erwarten dürften: Informationen zur Arbeitsweise des Autors sowie zur Entstehungsgeschichte seiner Romane. Zweifel an der Referenzialität sind jedoch auch hier angebracht, die beiden Vorlesungen sind gewissermaßen infiziert durch die skizzierte Vorgehensweise in Vorlesung eins und vier, sodass auch hier nicht davon auszugehen ist, der Rezipient erhielte tatsächlich konkrete Einblicke in das Schaffen des Autors. So überrascht es nicht, dass der Text der zweiten Vorlesung, die sich allgemeiner den Bedingungen des eigenen literarischen Schreibens zu widmen scheint, mit der Einsicht beginnt: »Wenn ich erzählen müsste, was ich über das Schreiben, mein Schreiben, weiß, wäre ich schnell fertig, denn von Wissen kann da

tät in einem Topos wittert, der nicht nur in Das bin doch ich ausführlich ausgespielt wird, sondern auch auf eine literaturgeschichtliche Ahnenreihe anspielt, in die sich der Text damit stellt (vgl. oben, Kap. 5.2.2), durchforstet mithin den Text auf referenzielle Momente und Erklärungen eines selbstbewussten Autors über das Werk, für das er verantwortlich ist – ein Lektüremodus, mit dem man zumindest diese Form der Poetikvorlesung (wenn überhaupt je eine) sicherlich nicht treffend interpretieren kann. Vgl. Björn Hayer: Im Vorhof der Reflexion. Thomas Glavinics enttäuschende Poetikvorlesung. In: Neue Zürcher Zeitung, 31.05.2014. Online unter: www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/litera tur/im-vorhof-der-reflexion-1.18312478 (23.04.2015). 160 Dieser firmiert auch hier in den Worten des Interviewers »I« alternativ als »Glawinik« (Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 93), »Glawienik« (S. 101), »Glawinitsch« (ebd.) »Glawnik« (S. 110), »Glaschinik« (S. 114) und sogar auch mal »Glavinic« (S. 107).

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keine Rede sein. […] Wie das genau funktioniert, weiß ich nicht.«161 – eine Einsicht, die den Redner gleichwohl nicht davon abhält, knapp 20 Seiten mit Einlassungen zu dieser Frage zu füllen, wobei im Laufe der Zeit die anfangs geäußerten Zweifel vollständig verloren zu gehen scheinen – alternativ ließe sich der Eingangssatz auch so interpretieren, dass der Vorlesende in einer Poetikvorlesung diesen Auftrag letztlich ja auch gar nicht befolgen »muss«, sondern sozusagen qua Verfügungsmacht über das Podium auch einen ganz anderen Text vorlegen darf, den zu akzeptieren sein Publikum dann eben nicht umhinkann. Glavinic skizziert in der Folge jedenfalls ein konkretes Modell des Schreibens, das auf dem zufälligen Finden einer Idee, ihrem länger andauernden Erwägen und Wachsen und schließlich einem extrem formalisierten Schreibprozess basiert: Dieser besteht der Darstellung zufolge darin, dass über drei Wochen täglich exakt zwei Seiten auf einer mechanischen Schreibmaschine, einer »Olivetti lettera 32«, geschrieben werden (ohne dass am Ende ein Satz oder Abschnitt vollständig sein müsste), die dann am folgenden Tag erneut abgeschrieben und dabei überarbeitet werden. Auf eine Drei-Wochen-Phase folgt eine Pause, bevor die nächste Schreibperiode nach demselben Muster beginnt. Für wie realistisch man eine derartige Beschreibung halten mag (die von Jonas, dem Protagonisten der Arbeit der Nacht, zumindest in ihrer Sinnhaftigkeit angezweifelt wird162), sei dahingestellt: Die Skiz-

161 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 47. – Hierbei handelt es sich um einen beinahe schon stereotypen Einstieg in eine Poetikvorlesung, wie die Beispiele bei Bohley: Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung, S. 237–239, zeigen. – Wenn Daniel Kehlmann, dessen Texte mit denen Glavinics ja in verschiedener Hinsicht intertextuell verstrickt sind, in seiner Göttinger Poetikvorlesung von 2006 den Lesehinweis gibt: »Glauben Sie keinem Poetikdozenten«, bereitet er – wie andere Autoren – den Boden für Glavinics fiktionalen Text. Vgl. Daniel Kehlmann: Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen. Göttingen: Wallstein 2007, S. 5. 162 Jonas kommt kurz vor Ende der Romanhandlung auf seinen Streifzügen durch Wien durch eine zufällige Eingabe in das Navigationssystem eines von ihm genutzten Autos in die Wohnung eines Paares mit den Namen »Ilse-Heide Brzo/Christian Vidovic«, wo er im Arbeitszimmer »je ein Dutzend Exemplare drei verschiedener Bücher« findet: »Ein Schachbuch, ein Krimi, ein Lebensratgeber« (man könnte dahinter leicht Carl Haffners Liebe zum Unentschieden, Der Kameramörder und Wie man leben soll erkennen, wobei dann markanterweise bereits hier der Roman Herr Susi aus dem fiktionalisierten Gesamtwerk des Autors Glavinic/Vidovic ausgeschlossen wäre), sowie eine »Olivetti lettera 32«, neben der ein Computer steht. Seine Reaktion auf dieses Setting, das der in der Poetikvorlesung von Glavinic präsentierten Einrichtung seines eigenen Arbeitszimmers entspricht, ist die Artikulation von Zweifeln an der Arbeit auf der

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ze erinnert jedenfalls an berühmte andere Schreibende: Hinsichtlich der Bedeutung der Inspiration für das Schreiben orientiert sie sich möglicherweise an Franz Kafka, der einem ikonischen Tagebucheintrag drei Tage nach der ebenfalls im Tagebuch dokumentierten Niederschrift seiner Erzählung Das Urteil zufolge dieselbe in einer Nacht heruntergeschrieben habe. Kafka formuliert dort seine Freude darüber, wie alles gewagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle, ein großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn. Wie es vor dem Fenster blau wurde. Ein Wagen fuhr. Zwei Männer über die Brücke giengen. […] Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.163

Das Bild vom Feuer der Ideen findet sich bei Glavinic in der vierten Vorlesung wieder, wo dem Autor im Interview nach einem früheren Verweis auf Kafkas Verwandlung164 festhält: »Das Schreiben kommt nicht aus dem Denken, das Schreiben kommt aus dem Feuer!«,165 womit er gleichzeitig der Überschrift seiner zweiten Vorlesung – »Was ich denke« – gewissermaßen widerspricht. Das Kafka’sche Ideal, wie es in der Aufzeichnung zum Urteil erkennbar ist, wird auch deutlich, wenn Glavinic festhält: »Im Idealfall schreibe ich aus meinem tiefsten Wesenskern heraus.«166 Den inspirierend-unheimlichen Charakter eines Blicks aus dem Fenster, wie ihn Kafka formuliert, nimmt Glavinic schließlich in seiner Beschreibung der Inspiration zu Die Arbeit der Nacht auf, womit auch hier erneut ein intertextueller

Schreibmaschine: »Daß jemand noch mit so einem mechanischen Monster geschrieben hatte, verblüffte ihn. Wozu war dann der Computer gut?« Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 374 f. – Wenn man so will, liefert also Die Arbeit der Nacht einen fiktionalen Prätext für die in der Poetikvorlesung skizzierte Arbeitsweise, was deren referenziellen Status erneut infrage stellt. 163 Franz Kafka im Tagebuch am 23.09.1912. Zit. n.: Franz Kafka: Drucke zu Lebzeiten (Apparatband). Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neumann. Frankfurt a.M.: Fischer 1996 (= ders.: Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. v. Jürgen Born u.a.), S. 85 f. 164 Vgl. Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 95. – Kafkas Verwandlung ist als wichtiger Intertext für Die Arbeit der Nacht herausgestellt worden: Beide Texte teilen die phantastische Grundsituation, dass der Protagonist erwacht und sich über Nacht eine entscheidende Änderung in seinem Leben vollzogen hat – Gregor Samsa ist zum Insekt geworden, Jonas zum letzten verbleibenden Menschen auf Erden. Vgl. hierzu Hillebrandt u. Poppe: Angst-Lektüre, S. 229 f. 165 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 107. 166 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 63.

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Vorläufer für die vermeintlich authentische Schilderung erkennbar ist.167 Neben den Bezügen zu dieser weithin bekannten Schreibszene Kafkas, an der sich Glavinic in seiner Hochschätzung der Inspiration offensichtlich orientiert, ergeben sich auffällige Parallelen zu einer Beschreibung des schriftstellerischen Arbeitsprozesses, die Thomas Mann als Antwort auf eine Umfrage der Zeitschrift Die literarische Welt formuliert hat: Glavinic beschreibt den Schreibprozess als von der Außenwelt abgeschotteten, stark rhythmisierten Vorgang und scheint dabei genau den Fragen zu folgen, denen sich der berühmte Vorgänger 1928 stellen musste: Arbeiten Sie zu bestimmten Stunden oder Tageszeiten? […] Brechen Sie ab, auch wenn Sie Lust haben, weiterzuarbeiten? […] Haben Sie bestimmte Gewohnheiten, was die Art und Anordnung des Schreibmaterials und der Schreibutensilien betrifft? Können Sie überall arbeiten? Wo am besten? […] Arbeitshygiene: Enthalten Sie sich während intensiver Arbeit von bestimmten Genüssen und verschaffen Sie sich bestimmte Genüsse (Stimulantien)? […] Schreiben Sie schnell herunter oder langsam und mühevoll? Korrigieren Sie während der Arbeit?168

167 Vgl. Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 82 f.: »[…] erwachte ich nachts in meiner damaligen Wohnung in der Wiener Brigittenauer Lände. Ich konnte nicht wieder einschlafen, trank ein Glas Wasser, stellte mich ans Fenster und schaute auf die leere Straße. Ja, sie war leer. Kein Auto, keine Fußgänger. […] Nach ein paar weiteren Minuten waren dann doch einige Autos zu sehen, ich beruhigte mich allmählich […].« – Motivisch auffällig ist, dass sowohl das Urteil als auch Die Arbeit der Nacht mit dem Sprung des Protagonisten in den Freitod enden: Georg Bendemann vollzieht das »Urteil«, das ihm vom Vater gesprochen wurde, indem er sich von der Brücke ins Wasser stürzt, während Jonas, darüber sinnierend, ob alle Menschen »verurteilt« seien, vom Stephansdom springt. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, S. 390. 168 Thomas Mann: Zur Physiologie des dichterischen Schaffens. Ein Fragebogen (1928). In: ders.: Essays. Hg. v. Hermann Kurzke u. Stephan Stachorski. Bd. 3: Ein Appell an die Vernunft. Essays 1926–1933. Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 101–104, hier S. 101. – Auf Verbindungen zwischen Mann und Glavinic geht Ann-Cathrin Oelkers ein, allerdings ausgehend von der methodisch äußerst problematischen Annahme, dass angesichts der Tatsache, dass »[i]n beider Fall […] Werk und Leben aufs engste verwoben« seien, »[p]rinzipielle Einwände gegen biographische Interpretationsansätze […] nicht« greifen würden. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade die Verflechtung macht umso deutlicher, dass eine Interpretation, die das Werk einfach als Referenz der Biografie auffasst, die wesentlichen Strategien der literarischen Ich-Konstruktion nicht in den Blick bekommen kann. Oelkers: Vom »gesteigerte(n) Sich Ernstnehmen«, S. 139 f.

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Glavinics Poetikvorlesung liest sich – wie bereits oben zitiert – stellenweise praktisch wie eine Antwort auf diese Fragen und deckt sich in verschiedener Hinsicht mit den Antworten, die Thomas Mann auf diese gab. Bei Glavinic heißt es etwa: Ich stehe morgens auf und setze mich an den Schreibtisch, ich arbeite sozusagen noch aus dem Schlaf heraus, und ich arbeite bei lauter Musik und mit Kopfhörern, um mir den Tag und die Welt vom Leib zu halten. Ich will vom Draußen nichts wissen, ich will in Zeitlosigkeit versinken und unbehelligt von Tagesresten meine zwei Seiten schreiben. Und wenn ich sie geschrieben habe, ist Feierabend,169

wobei hohe Relevanz hat, dass ihn die »komplexere Art des Arbeitsprozesses« mit seiner mechanischen Schreibmaschine »zu größerer Genauigkeit zwinge«.170 In der viel zitierten Antwort Thomas Manns auf die entsprechende Umfrage heißt es: Ich arbeite vormittags, etwa von 9 bis 12 oder ½1 Uhr, täglich, mit seltenen Ausnahmen […] Ich brauche weißes, vollkommen glattes Papier, flüssige Tinte und eine neue, leichtgleitende Feder. Äußere Hemmungen rufen innere hervor. Damit es kein Durcheinander gibt, lege ich ein Linienblatt unter. Ich muss auf Klarheit halten […]. Der freie Himmel ist gut zum unverbindlichen Träumen und Entwerfen: die genaue Arbeit verlangt den Schutz einer Zimmerdecke.171

Wie Glavinic stellt auch Mann fest: »Ich korrigiere das Geschriebene meist am nächsten Tage vorm Weiterschreiben«,172 wobei Glavinics Pensum von zwei Typoskriptseiten möglicherweise eine versteckte Superioritätsgeste beinhaltet, wenn der Ertrag bei Thomas Mann »auf ein Normalpensum von 1 bis 1½ Manuskriptseiten«173 hinausläuft, das unter Nikotineinfluss hervorgebracht wird – »Beim Schreiben rauche ich« –, während Glavinics Autor-Persona (wie zitiert und von der Lektorin per Fußnote angezweifelt) »auf alle Drogen« verzichtet.174 Der Text sät auch hier wieder Zweifel an seinem Referenzgehalt, indem er einerseits die Darstellung an den (so unterschiedlichen) prominenten Vorläufern ausrichtet, andererseits aber erneut Widersprüche und Ungereimtheiten aufkommen

169 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 57. 170 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 57. 171 Mann: Zur Physiologie des dichterischen Schaffens, S. 102. 172 Mann: Zur Physiologie des dichterischen Schaffens, S. 103. – Vgl. Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 58. 173 Mann: Zur Physiologie des dichterischen Schaffens, S. 103. 174 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 35.

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lässt: So irritiert die Aussage, aufgrund des präsentierten Konzepts könne man den falschen Eindruck gewinnen, der Autor würde »in sechs Wochen einen Roman fabrizieren«,175 die mit den genannten zeitlichen Abläufen keinesfalls in Übereinstimmung zu bringen ist (schließlich wäre ein Roman, der, wie an dieser Stelle angegeben, beispielsweise 240 Seiten umfasst, nach dem skizzierten Tempo frühestens in acht dreiwöchigen Schreibzyklen, also nach etwa einem halben Jahr fertigzustellen). Darüber hinaus dementiert jedoch die Darstellung des Entstehungsprozesses der einzelnen Romane, die die dritte Vorlesung – »Was ich dachte« – gibt, die eben aufgestellte These vom klar regulierten Schreibprozess, indem sie verdeutlicht, dass dieser bei jedem einzelnen der vorgeführten zehn Romane vollkommen spezifisch gewesen sei und also von einem durchgängigen Schreibschema, wie es »Was ich denke« suggeriert, nicht die Rede sein kann. So wird etwa vom großen Rechercheaufwand berichtet, den das Schreiben des historischen Romans Carl Haffners Liebe zum Unentschieden mit sich gebracht habe, während der Schreibprozess beim zweiten Roman Glavinics, Herr Susi, vor allem vom Zeitdruck geprägt gewesen sei, den ein vorab geschlossener Blankovertrag mit dem Verlag ausgelöst habe (mit dem Resultat, so die immer wieder versicherte Einschätzung des Autors, dass dieser Text als vollkommen misslungen aus dem Gesamtwerk gewissermaßen herausfalle). Der Kameramörder sei in sechs Tagen beendet gewesen, inspiriert durch einen Traum, in dem Urlaubserlebnisse mit einem befreundeten Paar und dessen unerzogenen Kindern verarbeitet worden seien. Das mit einer an Kafkas Selbstzeugnis zur Entstehung des Urteils gemahnenden Inspiration einsetzende Schreiben des Romans Die Arbeit der Nacht wird demgegenüber als von permanenten Ängsten des Schriftstellers begleitet geschildert (die sich dann auch inhaltlich in dem Roman spiegeln), während Das bin doch ich in einem Prozess entstanden sei, der aus Etappen bestanden habe, wobei jedes Kapitel in nicht mehr als »vier, fünf Tage[n]«176 niedergeschrieben worden sei. Ein übergreifender Plot ist es jedoch, der diese dritte Vorlesung zu strukturieren scheint: nämlich die immer wieder unterbrochene Entstehungsgeschichte des zehnten Romans, Das größere Wunder, der so als Projekt präsentiert wird, das sich gegen jede Systematik gesperrt hat und dessen Endfassung immer noch davon geprägt ist, dass der zum Zeitpunkt der Vorlesung noch im Arbeitsprozess steckende Autor bekundet, trotz der bereits geschriebenen »500 Seiten das Gefühl« zu haben, »noch immer so viel darüber zu erzählen zu haben«.177 Die dritte Vorlesung wird so einerseits zum Rückblick auf das Gesamtwerk genutzt, andererseits aber dient sie ganz offenbar dazu, in geradezu stereotypischer Weise

175 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 60. 176 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 84. 177 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 88.

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dem Roman Das größere Wunder bereits im Entstehungsprozess das Siegel eines Opus magnum aufzudrücken und einen Roman daraus zu machen, der dem Autor seit Jahren auf der Seele brennt und für den er – nach Unterbrechungen, in denen mehrere andere Texte entstanden seien – letztlich die formale Lösung gefunden hat, die es ihm ermöglicht, einen endgültigen Ausdruck für diese (nicht nur quantitativ) größte Geschichte seines Schriftstellerlebens gefunden zu haben. In der Kombination mit der rückblickenden Form der Poetikvorlesung kommt es hier also zu einer Nobilitierung des aktuellen Werks, das als Summe einer bis an diesen Punkt gelangten Autorenkarriere ausgezeichnet wird – eine Form des Emplotments, die von klassischen Narrativen des Fortschritts und der Verfeinerung des eigenen Könnens, wie sie etwa den realistischen Bildungsroman prägen, Gebrauch macht (die gleichermaßen dazu dienen kann, die Poetikvorlesung als Marketingveranstaltung für ein im Erscheinen begriffenes Buch zu nutzen). Wie deutlich wird, handelt es sich bei den Glavinic’schen Poetikvorlesungen um Texte, auf die ähnliche Momente zutreffen wie auf seine fiktionalen, zum Teil als autobiografisch wahrgenommenen Werke: Wie diese widmet sich auch die Poetikvorlesung Fragen der Selbstdarstellung und Ich-Konstitution im diskursiven Rahmen, wobei sie in Form der verwendeten Textstrategien der internen Widersprüchlichkeit, der Anähnelung an literarische Vorbilder und der Aneignung ikonischer Prätexte sowie der Strukturierung nach Kriterien des fiktionalen Schreibens im Sinne eines Emplotments den landläufig an Poetikvorlesungen angelegten Anspruch, die Prinzipien des eigenen Schreibens darzulegen, unterläuft. Im Interview der vierten Poetikvorlesung bringt der Interviewpartner ›Thomas Glavinic‹ die Zweifel an dieser Funktion abermals auf den Punkt, wenn er die Frage nach diesen Prinzipien direkt an seinen Interviewer zurückgibt und damit die Gattung der Poetikvorlesung in ihrer traditionellen Form infrage stellt: »Wer braucht denn beim Schreiben Prinzipien? Wozu sollen die gut sein?«178

5.4 Z WISCHENFAZIT Drei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Texte sind hier analysiert worden, die einen Eindruck vom Schaffen Thomas Glavinics vermitteln. Deutlich wird jedoch, dass alle drei Texte sich der Frage widmen, auf welche Weise und unter welchen Rahmenbedingungen von Ich und Subjekt gesprochen werden kann. Im apokalyptischen Roman Die Arbeit der Nacht scheitert der Protagonist Jonas daran, unter den Bedingungen, denen er aufgrund seines rätselhaften Schicksals ausgesetzt

178 Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich, S. 100.

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ist, eine stabile Vorstellung vom Ich zu entwickeln, die eventuell zur Sinngebung in diesem Rahmen beitragen könnte: Das Ausfallen sozial-diskursiver Netzwerke macht hierbei einen großen Teil seiner Schwierigkeiten aus, da es den Protagonisten auf sich selbst und damit in die psychologisch labile Situation des Kampfes zweier Persönlichkeiten innerhalb seiner Person zurückwirft, nachdem andere Versuche der Selbstvergewisserung über Sprache, Medien, seinen zunehmend verfallenden Körper und von keinem anderen zu würdigende Werke ins Leere gelaufen sind. Anders als in diesem Roman stehen in Das bin doch ich sowie im Rahmen der Poetikvorlesung die sozialen und diskursiven Zusammenhänge der Selbstdefinition uneingeschränkt zur Verfügung, sodass die Sprecherinstanzen in beiden Texten ausgiebig vom Rückgriff darauf Gebrauch machen können. Deutlich wird, dass textexterne Referenzialität hierbei keine Rolle spielt und die Texte sich ganz offensichtlich der poststrukturalistischen Erkenntnis stellen, dass dieser Bezug auf die Welt erkenntnistheoretisch ohnehin problematisch ist. Klar positionierbare Subjekte werden sowohl im einen als auch im anderen Fall mittels diskursiver Strategien hergestellt, unter denen der Anschluss an Vorbilder im Sinne der Intertextualität, aber auch im Sinne eines feldtheoretisch zu beschreibenden Literaturmarktes, der verschiedene Möglichkeiten der Selbstpositionierung bietet, eine wichtige Rolle einnimmt. Beide Texte vollziehen dabei ein Emplotment des schreibenden Subjekts, das weniger auf Einzigartigkeit abhebt als auf Anschlussfähigkeit: Wie es ja das Konzept Hayden Whites herausstellt, ist Grundlage einer gelingenden Kommunikation der Rückgriff auf Textstrukturen oder Narrationsformen, die dem Rezipienten bekannt sind. Glavinics Texte bedienen sich dieser Funktion bis zu einem Grad, der fraglich werden lässt, ob ihnen jenseits der diskursiven Rekombination bekannter Plots überhaupt Selbstständigkeit eignet: Insofern ließen sie sich als typisch postmoderne Emplotments von Subjektivität ansehen, in denen sich Individualität letztlich in allererster Linie als spezifische Kombination verschiedener ihrerseits immer schon bekannter Elemente wahrnehmen lässt. Eine der Grundbedingungen, unter denen dieses Konzept funktioniert, ist die wichtige Erkenntnis, dass eine Referenzialisierung dieser Emplotments an einer ihnen vorgängigen Außenwelt grundsätzlich am medialen bzw. performativen Format des Romans wie auch der Poetikvorlesung scheitern muss. Die Suche nach dem außertextlichen ›Ursprung‹ des hier kommunizierten Autorbildes muss daher stets ins Leere laufen, weshalb eine postmodern argumentierende ›neue‹ Autobiografietheorie wie hier geschehen auf die konkreten textuellen Verfahrensweisen zurückgeworfen ist.

6.

Kreisen um den Ursprung: Josef Winkler

6.1 T EXTUELLES S PIEL MIT AUTOBIOGRAFISCHEN E RWARTUNGEN : J OSEF W INKLERS D ANKESREDE FÜR DEN G EORG -B ÜCHNER -P REIS 2008 Josef Winklers Debütroman Menschenkind, erschienen 1979, ist – trotz der avantgardistischen Mittel, die der nur in einzelnen Fragmenten erzählend zu nennende Text wählt1 – beinahe ausschließlich als autobiografischer Text wahrgenommen worden. Im Zusammenspiel mit den beiden Folgeromanen – Der Ackermann aus Kärnten und Muttersprache –, die vom Verlag unter dem Sammeltitel Das wilde Kärnten vermarktet werden, hat man vielfach vom ›Bekenntnisbuch‹ gesprochen, die besondere Authentizität des Winkler’schen Schreibens wird immer wieder eigens betont,2 und noch die Jury, die Winkler 2008 den Georg-Büchner-Preis der

1

Ein engerer Begriff von »Erzählung«, der auf die Abbildung einer identifizierbaren Linie von miteinander zusammenhängenden Ereignissen (Geschichte bzw. Handlung) in einem Text (Erzählung) abstellt, stößt hier angesichts der Tatsache, dass eine durchgehende Handlungslinie nur mit Mühe ausgemacht werden kann, an seine Grenzen. In einem weiteren Sinne, der unter Geschichte nur einen »Komplex von Situationen« (Genette: Die Erzählung, S. 15) versteht, ohne höhere Anforderungen an Kohärenz und Kausalität im Gesamttext zu stellen, fällt es leichter, hier von »Erzählung« zu sprechen. Zu einem anspruchsvolleren, auf die Kohärenz der Handlung abstellenden Begriff von »Erzählung« vgl. z.B. Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt: WBG 2006, S. 10: »Erzählungen basieren auf Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, die auf Ereignissequenzen angewandt werden.«

2

Die Winkler-Forschung löst sich selten von klassischen Ansätzen der Autobiografieforschung. Das Authentizitätsparadigma bedienen etwa Andrea Kunne: Heimat im Roman: Last oder Lust? Transformationen eines Genres in der österreichischen Nach-

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Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zuerkannte, sprach in ihrer Begründung vom Preisträger als einem Autor, der »mit unerhörter Radikalität die Katastrophen seiner katholischen Dorf-Kindheit und die seines Ausgesetztseins in einer mörderischen Welt in barock-expressive, rhythmische Prosa von dunkler Schönheit verwandelt hat«.3 Winkler selbst hat immer wieder – so auch in der Dankesrede zum besagten Preis – diese Behauptungen des Vulgärbiografismus aufgenommen, sich aber genauso oft sprachlich von solchen Vorstellungen des direkten Übergangs vermeintlicher Fakten vom Leben ins Werk distanziert.4 Mit dem Blick auf das aus den Ro-

kriegsliteratur. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1991; Franz Haas: Demolierung der österreichischen Seele. Zum Prosawerk Josef Winklers. In: Modern Austrian Literature 25 (1992), H. 2, S. 97–116; ders.: Ketzergebete oder: Josef Winklers poetologische Herbergssuche. In: Günther A. Höfler u. Gerhard Melzer (Hg.): Josef Winkler. Graz: Droschl 1998, S. 39–54; Wendelin Schmidt-Dengler: Josef Winkler: Menschenkind (1979). In: ders.: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg: Residenz-Verlag 21996, S. 350–359; ders.: Josef Winkler: Muttersprache (1982), ebd., S. 433–446; Ernest W.B. Hess-Lüttich: Stätten des Stigmas: Guido Bachmann, Martin Frank, Christoph Geiser, Josef Winkler: fremd unter andern in der Enge des Tals. In: Forum Homosexualität und Literatur 36 (2000), S. 43–62. – Konkret auf Lejeunes »autobiographischen Pakt« referieren die Deutungen von Robert Heinz Vellusig: Josef Winklers »Wildes Kärnten«. Zur autobiographischen Anverwandlung der Lebenswelt. In: Sprachkunst 23 (1992), H. 1, S. 133–145; Kristina Werndl: Dem Tod vor Augen. Über Josef Winklers literarische Autobiographie »Leichnam, seine Familie belauernd«. Wien: Praesens 2005. 3

[Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung]: [Urkundentext der Akademie zur Verleihung des Büchner-Preises an Josef Winkler]. Online unter: www.deutscheakademie .de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/josef-winkler/urkundentext (23.04.2015).

4

Von diesem Spannungsfeld zeugt einerseits, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, das Werk, andererseits jedoch auch hiervon deshalb kategorial nicht einfach zu trennende Äußerungen wie Interviews etc. Vgl. etwa Winkler in Matthias Prangel: Die Wiederentdeckung der Genauigkeit. Ein Gespräch mit Josef Winkler [2004]. Online unter: www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=6730 (23.04.2015); Winkler: »Mir ist wichtig, dass die Sätze singen«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.06. 2008.

Online

unter:

www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/buechner-preistraeger-

winkler-mir-ist-wichtig-dass-die-saetze-singen-1540974.html (23.04.2015); Winkler: Das Loch in der Mitte der heißen Herdplatte [Interview]. In: Die Presse vom 23.12. 2009. Online unter: diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/529811/Josef-Wink ler_Das-Loch-in-der-Mitte-der-heissen-Herdplatte (23.04.2015).

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manen allseits bekannte »Kärntner Dorf Kamering« beginnt die Dankesrede. Wenn alsbald der »Engel«, der dem Knaben ein vom Priester herbeizitierter »Schirmer und Tröster« in der von der Jury beschworenen düsteren Jugend sein soll, dem hier aufgerufenen Ich »Nacht für Nacht an der mit Efeu bewachsenen Friedhofsmauer im zweiten Gemüsegarten meiner Mutter den Kirchturm mit der Totenglocke in meine Kinderbrust drückte«, und zwar »schließlich durchs Herz, bis die Kirchturmspitze mit dem blutbeschmierten Kreuz neben meiner Wirbelsäule durch den Rücken stach, bis ich angenagelt war an die efeubewachsene Friedhofsmauer«,5 dann sind wir bereits tief in Winklers Sprachwelt eingetaucht, deren biografisches Faktenfundament unsichtbar wird gegenüber der Drastik und Bildermacht, die hier zum Zuge kommt. Eine Analyse von Winklers Schreiben muss – wie bereits dieses kleine Beispiel klarmacht – am Text und seinem autonomen Erschaffen einer Kinderund Bilderwelt ansetzen, nicht beim fruchtlosen Abgleich von schmalen Fakten und imposanter narrativer Gestaltung. Zentrales Kompositionsprinzip des in der Büchnerpreisrede gegebenen »autobiografischen« Abrisses ist eine intertextuelle Vernetzung vermeintlicher Lebensereignisse mit Lektüren. Wurzel der Persönlichkeitsentwicklung durch das Lesen ist Camus’ Die Pest, dicht gefolgt von Jeremias Gotthelfs Die schwarze Spinne – Texte der Stigmatisierung, des Außenseiterdaseins, des Teufelspakts, der einen von der rechtschaffenen Mehrheit scheidet, ganz wie es der autobiografischen Konstruktion auf Basis der Romane entspricht, die die Jury von außen an Winkler heranträgt. Das in der Rede entworfene Winkler-Ich erlebt den Selbstmord des homosexuellen Liebespaares in seinem Dorf lesend, und zwar eine Literatur zur Kenntnis nehmend, die den Zusammenhang von Homosexualität und Tod auf verschiedene Weise thematisiert – Notre-Dame-des-Fleurs und Pompes funèbres von Jean Genet, Jeden ereilt es und Die Nacht aus Blei von Hans Henny Jahnn –, und nicht zuletzt eine Bildlichkeit verwendet, die hier von Winkler aufgegriffen wird: Der rettende Engel aus Jeden ereilt es, mit dem der Protagonist von Jahnns Romanfragment eine homoerotisch grundierte Freundschaft eingeht, findet seinen neuen Ort in Winklers Schilderung seiner Erfahrungen;6 der Handelsschüler Josef ist es, der – wie Christi-

5

Josef Winkler: Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär. Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises am 1. November 2008 in Darmstadt. Online unter: www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/josef-winkler/ dankrede (23.04.2015).

6

In Muttersprache sind es – neben Kleopatra und Cäsar – »Mattheu und Anders«, die sich auf der »Stiege« des Elternhauses lieben; die Figuren aus Jahnns Nacht aus Blei (eigentlich »Mathieu« und Anders) gehen gewissermaßen in die Familie des WinklerErzählers ein. Vgl. Winkler: Das wilde Kärnten, S. 563.

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ne in Gotthelfs Novelle – vom Teufel geküsst worden ist, weshalb sich nun auf seiner Wange die »giftige Kreuzspinne« zu entwickeln scheint in einem »schwarzen, sich mehr und mehr ausdehnenden Punkt auf dem eitrigen Höcker, aus dem zwei glänzende und giftige Augen aufblitzten, von dem sich lange, hauchdünne Beine streckten, Haare hervorsprossen« – an die Stelle der vermeintlich autobiografischen Schilderung in der Bauernküche tritt die phantastische Übernahme des literarischen Motivs.7 Tagebuch schreibend liest dieser Winkler literarische Tagebücher, die er dann auszugsweise ins eigene Tagebuch übernimmt, das so zum intertextuellen Gewebe wird. Markant ist an dieser Darstellung die Gleichzeitigkeit von Erleben und Lektüre: Unentscheidbar wird so, ob die Literatur hierbei zur Deutung der eigenen Situation herangezogen wird, also gewissermaßen als Therapeutikum gelten kann und damit vor allem in ihrer Nutzung zu literaturfremden Zwecken relevant wird – ein Umgang, den Umberto Eco als »Gebrauchen«8 der Literatur im Gegensatz zum literarischen Lesen kennzeichnet –, oder ob das Verhältnis ganz anders geartet ist, ob also die Darstellung in Winklers eigenen Texten zunächst einmal intertextuell angeregt wurde und demnach die benannten Romane als Prätexte für die Darstellung einer subjektiven Gefühlswelt im Text dienen. Diese verliert hierdurch ihre Undurchschaubarkeit und wird im Rahmen eines Emplotments nach den Linien tradierter Texte für Rezipienten anschlussfähig. Als charakteristisch für Winklers Schreiben und seine Darstellung in der Büchnerpreisrede erweist sich gewissermaßen die Unlösbarkeit dieses ›Henne-Ei-Problems‹: Was zuerst da war, der Lektüreeindruck oder das beschworene lebensweltliche Erlebnis, lässt sich auf Basis der Texte nie entscheiden – es bleibt bei einer Referenzsuggestion, die vom Verdacht der intertextuellen Vorprägung der Darstellung in den Romanen durch die benannten Vorläufer infrage gestellt wird. Wo schon das Tagebuch intertextuell kontaminiert ist, ist der Rückgriff auf das diesem Tagebuch und dem daraus hervorgehenden Roman zugrunde liegende Leben eine unlösbare Aufgabe. In Winklers Roman Muttersprache wird dies anhand von Peter Weiss’ Abschied von den Eltern deutlich, einem Text, der ebenfalls in der Dankesrede aufgeführt wird: Der Erzähler imaginiert den Tod seiner »verrückt« gewordenen Schwester, die ihn und andere Verwandte nicht mehr erkennt, und zwar angeregt durch das literarische Vorbild, das so einerseits

7

Vgl. Hans Henny Jahnn: Jeden ereilt es. Fragment aus dem Nachlaß. Hg. v. Rolf Burmeister. Frankfurt a.M.: Heinrich-Heine-Verlag 1968; Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne. Stuttgart: Reclam 2001.

8

Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. Aus dem Ital. v. Heinz-Georg Held. München/Wien: Hanser 1987, S. 71.

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die Verarbeitung der eigenen Lebenssituation zu ermöglichen scheint, andererseits aber gleichermaßen die Produktion des autobiografischen Textes selbst bestimmt: In Abschied von den Eltern beschreibt Peter Weiss den Tod seiner Schwester. Sie starb durch einen Verkehrsunfall. […] Ich sah in ihrem Tod den Tod der Martha. Ich stellte mir vor, wie sie auf der Bundesstraße von einem Lastwagen getötet wird. Der Vater trägt sie über die Straße. Ihre Hände pendeln über seine Arme. […] Ich beschützte dieses Buch wie mein Leben. Überall schleppte ich es hin. Mit diesem Buch vollzog sich der Abschied von meinen eigenen Eltern. […] Die ersten Sätze dieses Buchs kannte ich auswendig: »Ich habe oft versucht, mich mit der Gestalt meiner Mutter und der Gestalt meines Vaters auseinanderzusetzen, peilend zwischen Aufruhr und Unterwerfung […].« Wenn mir ein Schulkollege eine Frage beliebiger Art stellte, gab ich die ersten Sätze dieses Buches zur Antwort.9

Wie deutlich wird, ist die literarische Vorlage dem eigenen Leben vorgängig – sie prägt das im Roman geschilderte Verhältnis zu den eigenen Eltern und tritt im dort geschilderten Leben an die Stelle einer authentischen Aussage zum zwischenmenschlichen Verhältnis. Die Aneignung von Weiss’ Schilderung, die Übertragung auf die eigene Situation und deren Imagination als literarische Szene mit großer Wirkmächtigkeit – der Vater geht »in meiner damaligen Vorstellung mit der getöteten Schwester am Heustadel vorbei. Plötzlich füllen sich die Fenster der Häuser mit Köpfen. Alle wollen sie sehen, wie der Vater seine tote Tochter über den Hügel ins Haus trägt«10 – überlagert den Bericht aus dem eigenen Leben, an dieser Stelle als explizite literarische Anregung und Übernahme, an anderen Stellen als stillschweigende Orientierung am literarischen Vorbild. Winklers Reaktion auf die in der Begründung zur Preisverleihung aufgeworfene Frage nach der autobiografischen Linie seiner Werke ist also deren Infragestellung durch den forcierten Verweis auf andere Texte, die dann im Sinne einer intertextuellen Tagebuch-Poetologie als Ursprung von Winklers Erstlingsroman Menschenkind herausgestellt werden: [I]ch schrieb, immer wieder die im Heustadel pendelnden Füße der beiden leblosen Buben vor Augen, Nacht für Nacht ein tausend Seiten langes Tagebuch. […] Ich las den Brief an den Vater von Kafka, die Briefe von Flaubert, die Tagebücher von Friedrich Hebbel und die Tagebücher von Albert Camus […]. Ich trug immer eines dieser Bücher bei mir in der ledernen Umhängetasche – Leder ist Haut – und schrieb Sätze aus diesen Büchern, die mich besonders berührten, zwischen meine Tagebuchaufzeichnungen […]. In dieser Zeit […], als in meinem

9

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 540 f. Hervorhebung im Original.

10

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 542.

248 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE tausend Seiten langen Tagebuch die ersten Sätze zu meinem ersten Romanmanuskript entstanden, die es wert waren umformuliert oder zerstört zu werden, klebte ich die aus einer Kärntner Tageszeitung herausgeschnittenen und mit einer durchsichtigen Plastikfolie überklebten Bilder […] der beiden erhängten siebzehnjährigen Buben aus meinem Heimatdorf […] auf meine Brust und schrieb […] mein erstes Romanmanuskript.11

Winkler bedient sich in seiner Dankesrede mithin eines fiktionalisierenden Verfahrens: Die »Schreibszene«,12 die hier entworfen wird, resultiert aus der Übernahme von Motiven und Bildern aus anderen fiktionalen Texten. Diese fließen ein in ein Werk, das schließlich den Eindruck einer referenziellen Wiedergabe eigener Erlebnisse vermittelt. Das Aufgreifen der literarischen Außenseiter, der bildgewaltigen Sprachschöpfer, der generationenprägenden Autoren dient dabei einerseits der Anreicherung des eigenen Schreibens und der hierfür charakteristischen Bilderwelt, andererseits markiert es die Position des Schreibenden als Exot, als beargwöhnter Außenseiter in einer Umgebung, in der Bücher nur im Schatten des Kirchturms hinter vorgehaltenem Mantel weitergegeben werden und in der man hierfür »›kein Geld‹« hat außer dem, was dem Ministranten vom Pfarrer geschenkt wird oder was er sich vom Vater – wie Jean Genet13 – zusammenstiehlt.14

11

Winkler: Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär, o.S. Hervorhebung im Original.

12

Vgl. zu diesem Begriff Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 759−772.

13

Der vorbestrafte Genet hatte eine Haftstrafe abzusitzen, weil er in einer Buchhandlung gestohlen hatte, wodurch er im Gefängnis zum Schreiben kam und seinen ersten Roman Notre-Dame-des-Fleurs zu Papier brachte (so will es zumindest die Genet-Biografik, die hier womöglich ihrerseits einem besonders passenden Emplotment aufsitzt bzw. ein solches verfolgt). Der Bücherdiebstahl ist also durch das Beispiel Genets als Impuls zur Schriftstellerwerdung vorgeprägt – ein Plot, den Winkler sich hier zu eigen macht. Vgl. zu einer populären Darstellung der Biografie Genets, die ebendiesen Plot verfolgt, eine Notiz aus dem Spiegel: Poète Maudit: Diebstahl in Versen. In: Der Spiegel 32/1950 (10.08.1950), S. 27 f. Winklers Beschäftigung mit Genet führt schließlich dazu, dass er ihm ein eigenes Buch widmet, das hinsichtlich der intertextuellen Verknüpfungen zwischen Themen des eigenen Schreibens und dem Genets aufschlussreich ist: Josef Winkler: Das Zöglingsheft des Jean Genet. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Zum »Dieb der Bücher«, vgl. ebd., S. 38–44.

14

Diese Szenen führt die Dankesrede weiter aus: Der Ministrant erhält nach der Mitternachtsmette von der Pfarrköchin zwei Karl-May-Bände zugesteckt: »An einem ver-

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6.2 B IOGRAPHEME EINES S ELBSTMORDCHRONISTEN : J OSEF W INKLERS T RILOGIE D AS WILDE K ÄRNTEN 6.2.1 Die entpersonalisierte Autobiografie als Produkt der »Wortmaschine« Nicht, dass es der fiktionalen Umschreibung der Entstehung des Romans in der Dankesrede nun wirklich bedurft hätte: Gleiches leistet Menschenkind bereits selbst. Die Antriebe des schreibenden Erzählers werden intensiv und ausführlich thematisiert, gleichzeitig lässt der Text mittels dieser Beschreibungen einerseits ein Bild desjenigen entstehen, der ihn schreibt, andererseits präsentiert er in wortgewaltigen Bildern diejenigen »Biographeme«, die für das Werden des Ichs und sein Schaffen zentral erscheinen. Wie in der theoretischen Beschäftigung mit dem Biographem-Begriff ausgeführt, sind diese prägenden Details der Lebensdarstellung nicht aufgrund einer eventuellen Verweisstruktur aus dem Text hinaus aufs ›wirkliche Leben‹ relevant, sondern sie bieten textinterne bzw. intertextuelle Anknüpfungspunkte zur Herstellung eines Autorbildes im Rahmen der Rezeption.15 Am Anfang des Romans liest man über den Schreibvorgang, der als entpersonalisierter Ursprung des vorliegenden Textes präsentiert wird, Folgendes: Die Wortmaschine mit ihrem kleinkarierten Buchstabenfeld am Labyrinth tausender Schreckenssekunden, ein schwarzes Leinentuch vor Augen, den zu Gewebe reduzierten Augen-

schneiten Heiligenabend schob mir die Pfarrerköchin nach der mitternächtlichen Christmette vor dem eisernen Friedhofstor die Bücher Im Sudan und Durch die Wüste zwischen Oberarm und Brustkorb mit den Worten: ›Stecks schnell weg!‹ Niemand im Dorf sollte sehen, dass sie mir Bücher schenkte«. Die Mutter beantwortet die Anfrage des Sohnes, ob er sich ein Buch kaufen könne, ablehnend: »›Für Bücher haben wir kein Geld!‹ war die knappe und kommentarlose Antwort von ihr, die kein einziges Buch in ihrem Leben gelesen hatte.« Zum eigenen Bücherschatz kommt der Jugendliche ausweislich der Dankesrede wie folgt: »Jahrelang konnte ich unbemerkt dem Vater Geld stehlen, weit über hundert Bücher standen schließlich auf dem selbstgebastelten Bücherregal im Zimmer, in das ich mich einquartiert hatte und aus dem die Großeltern längst herausgestorben waren, es muss wohl im Laufe dieser drei Jahre so viel Geld gewesen sein, dass sich der Vater mindestens den Stier davon hätte kaufen können« (alle Zitate: Winkler: Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär, o.S.). – Die Szenen sind ihrerseits in Winklers Kärnten-Trilogie vorgeprägt. Vgl. z.B. Winkler: Das wilde Kärnten, S. 537–539, 542 f., 589. 15

Vgl. hierzu Kap. 2.4.3 und 2.4.4.

250 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE blick eines Liebesaktes, diese Wortmaschine, die beschreibt und in der Beschreibung durch sprachliche Konsequenz die angehäuften menschlichen Bewegungen in ihrer Ekstase auflöst, wird jetzt in Betrieb genommen.16

Der als autobiografisch apostrophierte Text dient, so diese Auskunft, also nicht der Herstellung eines abgeschlossenen Bildes eines Menschen, das man vielleicht als Integration menschlicher Lebensereignisse in eine übergreifende Gesamtheit fassen könnte – wie es der Wahrheitsbegriff einer lebensphilosopisch grundierten Autobiografietheorie im Blick hat17 –, sondern er dient gewissermaßen dem Gegenteil: der ekstatischen Auflösung menschlicher Bewegungen in Sprache. Forciert wird die Entmenschlichung der geschilderten Begebenheiten dadurch, dass ihnen nicht ein zu ihnen Position beziehendes, sie womöglich verurteilendes oder sie zurückweisendes Subjekt gegenübergestellt wird, sondern eine »Wortmaschine«, ein Gerät also, das sprachliche Beschreibung ermöglicht, aber die Auseinandersetzung eines menschlichen Geistes mit den benannten Geschehnissen offenbar nicht in den Mittelpunkt stellt. Das Geschehen – der an den Anfang des Romans gestellte Selbstmord zweier homosexueller Jugendlicher18 – ist so zunächst nicht Anlass empathischer Anteilnahme, sondern Gegenstand einer Vertextung, die hier auch bildlich durch das »schwarze[ ] Leinentuch«, »den zu Gewebe reduzierten Augenblick eines Liebesaktes«, wiederaufgenommen wird. Nicht die Empathie eines schreibenden Autors wird hier in den Mittelpunkt gerückt, sondern ein zum Sprachgegenstand gewordenes »Gewebe« – ein Text. Dieses löst die menschlichen Bewegungen, die womöglich nicht nur im übertragenen Sinne als Lebensäußerungen, sondern auch im wörtlichen Sinn als die Bewegungen des Liebesakts aufgenommen werden, in sich auf und wird so zu deren Dokument. Wenn man Menschenkind infolge dieser Leseanweisung als Vertextung des zu Beginn des Romans geschilderten Doppelselbstmords liest, scheint der Blick sich zunächst ganz vom Texttypus der Autobiografie abzuwenden; schließlich handelt es sich ausweislich der zitierten Textstelle nicht um die Produktion eines Autor-Ichs, sondern um ein quasi maschinell hergestelltes Produkt, das von der Sprache selbst hervorgebracht wird, die man womöglich mit dem Begriff »Wortmaschine« synonymsetzen kann. Zu einem solchen sprachlichen Bild des Selbstmordes scheint gleichwohl zu gehören, dass Wurzeln und Auswirkungen dieses Ereignisses thematisiert werden. Der Text bleibt dabei keineswegs gleichermaßen subjektkritisch wie

16 17

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 12. Vgl. hierzu oben die Auseinandersetzung mit den Autobiografiekonzepten Diltheys, Gusdorfs und Pascals in Kap. 1.1.

18

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 7.

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die zitierte Passage, sondern liefert eine fragmentarische, mosaikartige Darstellung der Momente, die das Leben der jugendlichen Selbstmörder geprägt haben mögen, ebenso wie eine Vertextung der Reaktionen, die ein Erzähler-Ich in Auseinandersetzung mit dem Doppelsuizid entwickelt. Es bleibt also nicht beim entmenschlichten Produzieren der Wortmaschine, sondern innerhalb dieser Produktion entstehen Bilder einer menschlichen Adoleszenz, die die Selbstmörder offenbar mit dem Erzähler teilen, sowie ein Porträt desjenigen, der sich letztlich als schreibend auf den Tod von Jakob und Robert Reagierender darstellt, wie bereits auf der ersten Seite des Romans abzulesen ist.19 Die Wortmaschine produziert so nicht nur ein Bild der Selbstmörder, sie liefert gleichzeitig ein Bild desjenigen, der sich als Erzählender und Schreibender zu den Ereignissen im gemeinsamen Heimatdorf Kamering in Beziehung setzt. Damit wird der Roman zur Autobiografie in einem neuen Sinn des Wortes, also zu einem Text, der das Produktivwerden einer Autorfigur nachzeichnet. Betrachtet man nun im Folgenden diejenigen Aspekte des Textes, die diese Autorfigur erkennbar werden lassen, gilt es, die Vorstellung weiterhin mit zu berücksichtigen, diese Momente seien der entpersonalisierten Produktion einer »Wortmaschine« entsprungen: Sie erheben nicht den Anspruch, aus einer konkreten Intention eines seiner selbst gewissen Subjekts zu resultieren, sondern tragen sämtlich den Index des Unselbstständigen, Nichtintentionalen, das Resultat einer das Leben bestimmenden Sprache ist.20 6.2.2 Das Ich des Chronisten als Resultat seiner Biographeme Zentrale Momente des Textgewebes, das die Erzählinstanz mit dem Selbstmord der beiden Jugendlichen verbindet, sind Sexualität, Religiosität und Identitätsentwicklung, die in Menschenkind und den Folgeromanen Der Ackermann aus Kärnten und Muttersprache miteinander in Beziehung gesetzt werden. Anschließend an Jean-

19

Bereits im ersten Satz des Textes ist davon die Rede, dass sich das beschriebene Selbstmordgeschehen »[a]m 29. September 1976 […] in meinem Heimatort« ereignet habe. Vgl. Winkler: Das wilde Kärnten, S. 7. Hervorhebung: RWJ.

20

Insofern ist eine Verortung von Winklers Texten unter dem letztlich intentional grundierten Begriff der »Autofiktion«, was aus dem Vorhandensein »reale[r] Angaben und Lebensdaten des Autors […] in einem subjektiv verfremdeten und äußerst poetisierten Rahmen« abgeleitet wird, aus meiner Sicht nicht sinnvoll. Vgl. zu der zitierten Einschätzung Goran Lovrić: Das Spiel mit der Identität des Erzählers in der österreichischen Gegenwartsliteratur. In: Zorica Nikolovska u. Emina Avdić (Hg.): Nomen est Omen. Name und Identität in Sprache, Literatur und Kultur. Skopje: Philologische Fakultät Blaže Koneski 2011, S. 131–140, S. 132.

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Jacques Rousseau, der seine Autobiografie in den Kontext einer quasijuristischen Textform stellt – seine Bekenntnisse gehen aus von der am Beginn des ersten Buches ausdifferenzierten Fiktion, dass er mit seinem Buch in der Hand vor Gottvater als den höchsten Richter tritt und sein rückhaltloses Bekenntnis im Sinne der Beichte für sich zeugen lässt21 – spielt auch an der Wurzel des Romans Menschenkind eine juristische Fiktion eine prägende Rolle. Der Text eröffnet mit der sachlich einsetzenden, zunächst beinahe berichtsähnlichen Schilderung des Selbstmordes: Am 29. September 1976 stiegen in meinem Heimatort Kamering bei Paternion, Kärnten, der 17-jährige Mechanikerlehrling Jakob Pichler und sein gleichaltriger Freund, der Maurerlehrling Robert Ladinig, mit einem drei Meter langen Kalbstrick über eine Holzleiter des Pfarrhofstadels zu einem Trambaum hinauf. Sie schlangen das Seil um ihn und verknoteten die beiden Seilenden hinter ihren linken Ohren. Der Nerv des Stricks zuckte. Ihre Hände flochten sich zu einem Zopf ineinander, immer schneller im Kreis sich drehend wirbelten sie wieder auseinander und kamen vor ihren blutunterlaufenen Augen zum Stehen.22

Der Selbstmord findet markanterweise in einem »Pfarrhofstadel« statt und wird von einem homodiegetischen Erzähler in »meinem Heimatort« – dem auch bereits anhand der Büchnerpreisrede aufgenommenen Kamering – lokalisiert.23 Der »Kalb-

21

Vgl. zu diesem Zusammenhang die Einleitung zu diesem Buch. Zu der Verbindung Rousseau/Winkler, vgl. auch bereits Robert Walter-Jochum: Vom Bekenntnis zum Plädoyer: Religion, Sexualität und Identität bei Jean-Jacques Rousseau und Josef Winkler. In: Tim Lörke u. ders. (Hg.): Religion und Literatur im 20./21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien. Göttingen: V+R Unipress 2015, S. 365–387. Auf die Argumentation dort wird im Folgenden zurückgegriffen.

22

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 7.

23

Aus meiner Sicht ist die Frage, welche verifizierbaren referenziellen Bezüge es von den Romanen auf Winklers eigenes Leben gibt, unerheblich. Die Verortung des Erzählers im Hinblick auf die erzählte Welt, wie sie in derartigen Formulierungen deutlich wird, entfaltet ihre Relevanz im Text. Insofern scheint mir eine biografische Grundierung, wie sie etwa Brigitte Schwens-Harrant zusätzlich zu ihrem ansonsten eher textorientierten Vorgehen vornimmt, verzichtbar. Auch die nicht verifizierbare Zurückführung eines stilistischen Wandels im Gesamtwerk auf einen mit der Zeit abnehmenden »Druck« des autobiografischen Materials – wie sie Winkler selbst in Interviewäußerungen nahelegt – halte ich nicht für zielführend. Vgl. Brigitte Schwens-Harrant: Des Todes leibeigen. Josef Winklers Sprachbilder. In: Albrecht Grözinger, Andreas Mauz u. Adrian Portmann (Hg.): Religion und Gegenwartsliteratur. Spielarten einer Liaison. Würzburg: Königshausen und Neumann 2009, S. 69–82, hier S. 71–74, und Winkler in Prangel: Die Wie-

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strick« als Suizidinstrument ist dabei ein zentrales Symbol der Textwelt, auf das im Verlauf der Analyse noch zurückzukommen sein wird. Diesem Vorsatz mit dem Bericht über den Doppelsuizid – der zutreffend als »Epizentrum«24 und »Initialzündung«25 von Winklers Frühwerk bezeichnet worden ist – folgen zwei Zitate, die den Text intertextuell verankern.26 In der über weite Strecken beibehaltenen Form eines assoziativen und auf den ersten Blick inhaltlich überbordenden, formal jedoch durch den Wechsel kursiv27 und recte gedruckter Passagen geregelten Textflusses

derentdeckung der Genauigkeit, o.S. – Die Irrelevanz der Frage, ob Winklers Darstellung »lebens-›authent‹ ist oder nicht«, betont auch Friedbert Aspetsberger: »Provokationsluxus«. Literarische Homosexualität bei Josef Winkler. In: ders.: Einritzungen auf der Pyramide des Mykerinos. Zum Geschlecht [in] der Literatur. Wien: Sonderzahl 1997, S. 195–222, hier S. 204. 24

Clemens Özelt: Freitod und Alterität. Zur Poetologie der Selbstmordvermeidung bei Josef Winkler. In: Arno Herberth, Thomas Niederkrotenthaler u. Benedikt Till (Hg.): Suizidalität in den Medien. Interdisziplinäre Betrachtungen. Wien/Berlin: Lit 2008, S. 167– 182, hier S. 172. Özelt widmet sich dem »Ringen mit dem Selbstmord« (ebd., S. 176) in Winklers Texten und vor dem philosophischen Hintergrund der Todesdeutungen Heideggers, Derridas und Camus’, ohne jedoch die Umstände der katholischen Glaubensund Lebenswelt einzubeziehen, die hier im Mittelpunkt der Deutung stehen.

25

Stefan Krammer: Sterbepassagen. Die Winkler’schen Winkelzüge des Todes. In: Nicola Mitterer u. Werner Wintersteiner (Hg.): »Wir sind die Seinen lachenden Munds.« Der Tod – ein unsterblicher literarischer Topos. Innsbruck: Studienverlag 2010, S. 109–120, hier S. 114, vgl. ebd., S. 112.

26

Es handelt sich um Textstellen aus Paul Nizans Jugendaufzeichnungen Aden Arabie sowie den Tagebüchern Friedrich Hebbels, die beide thematisch auf Winklers Romantext ausgerichtet sind und über die collageartige Praxis des Aufnehmens fremder Aufzeichungen ins eigene Tagebuch, wie sie in der Büchnerpreisrede skizziert wird, ihre Bedeutung entfalten. Nizans Zitat verbindet das Spiel von Jungen am Strand mit einer homoerotischen Beschreibung und dem »zum Himmel« aufsteigenden, mit ambivalenten Konnotationen zu verbindenden »Geschrei«, das »nicht wieder herab[fällt]«; zudem lässt sich Nizans bei seiner Neuveröffentlichung im Vorfeld von 1968 skandalmachender Text gewissermaßen als Vorläufer des Winkler’schen Projekts der Selbstbestimmung im Kontrast zur gesellschaftlichen Gegenwart verstehen. – Hebbels Analyse der »[i]n den Eltern unterdrückte[n] […] Lüste«, die »der Fluch der Kinder« werden, weist voraus auf das Verhältnis des Erzähler-Ichs zu seinen Eltern und die Relevanz des Sexuellen für die Identitätsentwicklung. Vgl. Winkler: Das wilde Kärnten, S. 8.

27

Die Kursivierungen des Originaltextes werden im Folgenden in den Zitaten ohne weitere Kommentierung beibehalten.

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werden dann innere und äußere Welt einer Jugend im katholisch dominierten28 Kärntner Dorf ins Bild gesetzt. Gegen Ende dieser ersten Passage kommt ein (nun heterodiegetischer29) »Erzähler […] ins Bild«, der sich wie der Erzähler und Held in Rousseaus Bekenntnissen im Verhältnis zu Religion und Gericht situiert: »zeigt auf das Bild des Gekreuzigten und läßt seine Füße mit einem Kalbstrick spielen, der – noch blutig – zur Inspiration seines Plädoyers dienen soll«.30 Mit der hier aufgegriffenen Figur des Plädoyers, in dem der Erzähler Partei ergreift für die Selbstmörder, die ihrerseits der Gerichtssituation in der Rolle der Angeklagten ausgeliefert sind, erfolgt eine juristische Verortung auf der anderen Seite des Spektrums, als es bei Rousseau der Fall ist. Wenn der Text als Plädoyer ausgewiesen wird – also als der »muendliche vortrag, oder die rede, welche ein advocat oder sachwalter vor gerichte haelt, seines clienten sache zu vertheidigen«31 –, dient er dazu, das Handeln der Jugendlichen zu erklären und zu rechtfertigen, umfasst aber anders als Bekenntnis oder Beichte keineswegs Momente der Reue bzw. Schuldeinsicht. Im Gegenteil kann das Plädoyer juristisch gerade dazu dienen, die

28

Angesichts der in weiten Teilen geschilderten Glaubens- und Lebenspraxis im Dorf, die von Beichte, katholischer Messe, entsprechenden Geburts- und Todesriten und Prozessionen geprägt ist, kann von einer katholischen Dominanz gesprochen werden, der alle Dorfbewohner unterliegen – auch die in geringerer Zahl vertretenen Protestanten, darunter einer der Selbstmörder, der auf dem evangelischen Friedhof des Nachbarorts begraben wird (vgl. Winkler: Das wilde Kärnten, S. 444).

29

In Menschenkind wird von Abschnitt zu Abschnitt umstandslos zwischen homo- und heterodiegetischer Erzählweise gewechselt, wobei über thematische Verbindungen klar wird, dass die unterschiedlichen Erzählinstanzen auf dieselbe personale Instanz zurückverweisen. Winklers Verstöße gegen die Konventionen des Erzählens, die sich auch, wie oben thematisiert, im Verzicht auf eine durchgehende Handlung zeigen, machen eine erzähltheoretische Verhandlung von Menschenkind kompliziert, vor allem wenn eine zu voraussetzungsreiche Theoriegrundlage (die etwa eine fixe Vermittlungsinstanz als Definiens des Erzählens aufgreift) gewählt wird. Genettes eher offener Begriff der narrativen Metalepse ermöglicht es, diese gegen eine logisch kohärente, unveränderliche Erzählsituation gerichteten »Transgressionen« im Rahmen der Narratologie abzubilden, geht jedoch ganz offensichtlich nicht vom hier vorliegenden Fall eines abschnittsweisen Wechsels aus. Vgl. Genette: Die Erzählung, S. 167–169.

30

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 11 f.

31

So formuliert, Zedlers Universallexikon (Bd. 28, 1741, Sp. 614) zitierend, das Deutsche Rechtswörterbuch: Wörterbuch der älteren deutschen Rechtsprache. Hg. v. d. Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften. Weimar 1914/1932 ff. Bd. X. Bearb. v. Heino Speer. Weimar: Böhlau 2001, Sp. 1075.

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Umstände zu erläutern, die zu einer aus Sicht der Angeklagten günstigeren Beurteilung des Falls führen können. Anders als das von einer Geste der Unterwerfung unter das Gericht bzw. den Richter und dessen Normen geprägte Bekenntnis ist das Plädoyer ein Sprechakt, der die Stärkung der eigenen Position gegenüber der urteilenden Instanz bzw. der anklagenden Partei zum Ziel hat. Die doppelt als Sünder wahrgenommenen Jugendlichen – sowohl ihre Homosexualität32 als auch der Akt des Suizids33 ziehen aus Sicht der katholischen Mehrheitsgemeinschaft ihre Versto-

32

Das Lehrschreiben der Heiligen Kongregation für die Glaubenslehre Persona humana von 1975 bezieht sich explizit auf die »Lehre, nach der der Gebrauch der Geschlechtskraft nur in der rechtsgültigen Ehe seinen wahren Sinn und seine sittliche Rechtmäßigkeit«, die sogenannte »Finalität« erhält (Abs. 5). Sämtliche sexuelle Handlungen, die nicht dem Zweck der Zeugung neuen Lebens dienen, werden demnach als Sünde verworfen. Dies führt auch zur strikten Ablehnung der Homosexualität (Abs. 8): »Nach der objektiven sittlichen Ordnung sind die homosexuellen Beziehungen Handlungen, die ihrer wesentlichen und unerläßlichen Regelung beraubt sind. Sie werden in der Heiligen Schrift als schwere Verirrungen verurteilt«. (Online unter: www.vatican.va/roman_ curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_19751229_persona-humana_ ge.html [23.04.2015].) Da die Homosexualität die Funktion der Fortpflanzung nicht erfüllt, ist sie, wie der Katechismus der Katholischen Kirche (Nr. 2357) von 1997 ebenso deutlich formuliert, »in keinem Fall zu billigen«. (Online unter: www.vatican.va/ archive/DEU0035/_P8B.HTM [23.04.2015].)

33

Bis zum Zweiten Vatikanum (1962–1965) schloss die katholische Kirche Selbstmörder, die in ihren Augen gegen das Fünfte Gebot – »Du sollst nicht morden« – verstießen, von der kirchlichen Bestattung aus. Noch in der vom Konzil ausgegangenen Pastoralen Konstitution Gaudium et Spes heißt es mit Bezug auf »Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und […] Selbstmord«: »all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers.« (Online unter: www.vatican .va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gau dium-et-spes_ge.html [23.04.2015].) Im Anschluss an das Konzil wurde die Praxis der Begräbnisverweigerung jedoch mit dem (vielleicht durchaus als fragwürdig zu bezeichnenden) Argument beendet, dass der Selbstmord stets aus einer psychischen Krankheit resultiere, weshalb Selbstmörder seitdem wieder Zugang zu einem katholischen Begräbnis haben. Im 1983 neu gefassten Codex Iuris Canonici entfiel die in der vorangegangenen Fassung seit 1917 noch bestehende Regelung (Canon 2350, § 2. Online unter: www.codex-iuris-canonici.de/index_cic17_lat.htm [23.04.2015]), dass Selbstmördern das kirchliche Begräbnis zu verweigern sei (»Qui in seipsos manus intulerint, si quidem

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ßung aus dieser nach sich34 – finden so im »Erzähler« ihren Anwalt, der nach dem Tode für sie spricht. Darüber hinaus ist er dazu bereit, ihre Taten als Vermächtnis aufzunehmen, um die Gemeinschaft mit ihrem eigenen Versagen zu konfrontieren, das diesen Jugendlichen letztlich den Suizid als einzigen gangbaren Weg aus der Welt sie ausschließender Normen nahegelegt hat. Ein spezifisch religiöses Moment dieser Konfrontation ist ebenfalls in der zitierten Stelle angesprochen: Der Erzähler ergreift hier für die jugendlichen Ausgestoßenen Partei unter Verweis auf das »Bild des Gekreuzigten«, was zu suggerieren scheint, dass dieser gewissermaßen der erste Zeuge der Verteidigung ist. Im Kontext einer Verurteilung der vermeintlichen Sünder durch eine Gemeinschaft, die sich eben gerade auf ein christliches (katholisch-dogmatisches) Erbe bezieht, ist dies eine Allianz, die skandalöses Potenzial hat, erscheint doch der Gekreuzigte hier als direkter Vorläufer der jugendlichen Selbstmörder, da er selbst Opfer einer entsprechenden Verurteilung geworden ist.35 Die Beschäftigung mit dem Glauben hat hier eine doppelte Stoßrichtung: Einerseits ist es das Beispiel des Gekreuzigten, das für den im Dorf verankerten Erzähler fortdauernd Relevanz hat (der – ob homooder heterodiegetisch agierend – doch immer derselbe zu sein scheint), womit offensichtlich im Hintergrund des Textes ein persönlicher Glaubensbezug der Aufgehobenheit besteht: Der direkte Zugang des Einzelnen zu seinem Herrn bleibt stets zu erahnen. Im Vordergrund des Textes steht jedoch eine andere Relevanz des Glaubens: Er wird mit den Gesetzen, die sich auf ihn beziehen, und den aus ihm

mors secuta sit, sepultura ecclesiastica priventur«). Der Katechismus der Katholischen Kirche von 1997 spiegelt die aktuelle Position wider, wenn es unter Nr. 2282 diesbezüglich heißt: »Schwere psychische Störungen, Angst oder schwere Furcht vor einem Schicksalsschlag, vor Qual oder Folterung können die Verantwortlichkeit des Selbstmörders vermindern.« (Online unter: www.vatican.va/archive/DEU0035/_P86.HTM [23.04.2015].) 34

Im Roman heißt es: »Die Doppelzüngigkeit mehrerer Dorfbauern wollte den beiden Toten ein christliches Begräbnis verweigern.« (Winkler: Das wilde Kärnten, S. 93 f.) Auch in Muttersprache wird auf diesen Zusammenhang erneut eingegangen, wenn angesichts des Grabes von Jakob das Denken der »Dorfleute« nachvollzogen und der eigene Tod an der Seite des Selbstmörders imaginiert wird: »Gott hat ihn bestraft, würden die Dorfleute sagen, Gottes Mühlen mahlen langsam, aber unsicher, der Zufall wollte, daß ich sterbe. Mein Grab drei oder vier Meter neben Jakobs Grab.« (Ebd., S. 520.)

35

Insofern eignet dem Bezug auf den Gekreuzigten immerhin der Gedanke der rettenden christlichen Solidarität mit den Ausgegrenzten, womit der These zu widersprechen wäre, dass bei Winkler sämtliche »katholische Erlösungsvorstellungen […] zu Leerformeln werden«, wie Özelt schreibt (Özelt: Freitod und Alterität, S. 178 f.).

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hervorgehenden Ritualen zu einer in allererster Linie sozialen Macht, einem »Existentiellen«,36 das das Leben im katholischen Dorfkontext prägt und dominiert,37 indem es jeden Einzelnen nach diesen von Menschen auf Grundlage ihres Glaubens erschaffenen geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln bewertet, einordnet und letztlich richtet – eine Praxis, für die der gekreuzigte Jesus als historisches bzw. intertextuelles Beispiel dient. Diese Form sozial wirksamer Glaubenstradition treibt die sich in ihrer Homosexualität38 als Ausgestoßene wahrnehmenden Jugendlichen in den Selbstmord. Dementsprechend ist es auch diese soziale Realität des Glaubens, gegen die sich die Strategie des vorliegenden Plädoyers richtet, das die Felder benennt, hinterfragt und durch verschiedene Techniken der Konfrontation, des Skandal-Machens und des »wütende[n] Protest[s]«39 beständig herausfordert, in denen der Glaube als soziale Regulationsinstanz und damit Norm der Identitätsbildung auf die in diesem Umfeld Aufwachsenden wirkt. Das Plädoyer ist, anders als das Bekenntnis, zudem Rede eines Dritten, der für diejenigen eintritt, deren Rede nicht mehr gehört wird bzw. werden kann. Indem hier ein diesseitiges Plädoyer gehalten wird, wird deutlich, dass die Ebene des di-

36

An anderer Stelle hält Winkler fest, sein religiöses Interesse gelte dem »Existentiellen, mit dem unzählige Menschen von der katholischen Kirche wahnsinnig genervt und zerstört worden sind, mit dem Glauben, den Gebeten der Angst, die die Kirche, das Gotteshaus, der Pfarrer verbreitet haben«. Winkler in Prangel: Die Wiederentdeckung der Genauigkeit, o.S.

37

Treffend stellt Aspetsberger fest, dass die beiden jugendlichen Selbstmörder eben nicht in erster Linie »individuelle ›Fälle‹, sondern typische Opfer der Vater-Welt sind«. Aspetsberger: »Provokationsluxus«, S. 209. Hervorhebung im Original.

38

Die subjektphilosophischen Implikationen eines Erzählens der »Produktion homosexueller Erfahrung als Produktion von Nicht-Identität« reflektiert die Arbeit von Dirck Linck: Halbweib und Maskenbildner. Subjektivität und schwule Erfahrung im Werk Josef Winklers. Berlin: Verlag Rosa Winkel 1993, hier S. 38. Lincks Ansatz, die Subjektivitätskonstruktion als Textstrategie zu verfolgen, erscheint an sich unbedingt lohnend – in diesem Sinn versteht sich auch die vorliegende Arbeit –, Linck selbst gelingt jedoch keine Trennung seiner Vorgehensweise von einem referenziellen Autobiografiebegriff, sodass es immer wieder zu methodisch problematischen Kurzschlüssen zwischen den Erzählinstanzen und ihrem vermeintlich homosexuellen Autor Winkler kommt.

39

Diesen begreift Dana Pfeiferová als zentrales Agens der »meisten Romane Winklers«: Dana Pfeiferová: Auf der Suche nach den österreichischen Todesarten. Der Tod in der Prosa von Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Elfriede Jelinek, Peter Handke und Christoph Ransmayr. In: Mitterer u. Wintersteiner (Hg.): »Wir sind die Seinen lachenden Munds«, S. 121–140, hier S. 122.

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rekten Gottesbezuges in der bei Winkler im Zentrum stehenden sozialen Anordnung des Geschehens in den Hintergrund tritt: Der formale Wechsel vom Bekenntnis zum Plädoyer ist somit auch ein Wechsel von der direkten Interaktion mit Gott an der Schwelle zum Jenseits (die in Rousseaus Strukturierung des Textes der sozialen Auseinandersetzung vorgezogen wird) hin zu einer rein diesseitigen Auseinandersetzung mit der zerstörerischen Kraft einer Glaubensrealität, die den Einzelnen, an dessen Seite sich der für ihn plädierende Erzähler (unter Verweis auf das Beispiel Christi) stellt, zu vernichten imstande ist. Hinsichtlich der expliziten Darstellungen der Sexualität hat dieser Wandel gravierende Auswirkungen: Anders als im Falle Rousseaus ist das Reden von den vermeintlichen Sünden damit nicht in eine als gesichert angenommene Ökonomie aus Sünde, aufrichtiger und daher expliziter Beichte und Absolution eingebunden, auf die der Einzelne vertrauen kann, sondern es führt vor, dass sich jenseits dieser verbrieften Vorstellung von der Gnade Gottes die Ungnade der sich auf ihn beziehenden Menschen als die eigentliche Gewalt erweist, gegen die es anzutreten gilt. Insofern kann etwa die kein Blatt vor den Mund nehmende Schilderung der Sexualität nicht mehr im Sinne eines aufrichtigen, nichts auslassenden Bekenntnisses positiv funktionalisiert werden, wie es die Beichtregularien versprechen. Sie wird im Gegenteil zur sozialen Provokation, indem sie das reaktionäre Regelwerk, auf das sich die katholische Dorfgemeinschaft verständigt hat, herausfordert und durchbricht: Der Kurzschluss zwischen Sexualität und Religion erscheint als die leichteste Möglichkeit, die Intoleranz des praktizierten Katholizismus auszustellen, der hier nur zu strafende Blasphemie erkennen kann, was es dem derart als Provokateur gebrandmarkten Einzelnen von vornherein unmöglich macht, auf Vergebung im Sinn der Beichte abzuzielen. Das Skandal-Machen, das der Text in seinen Mittelpunkt stellt,40 verweist so auf die Tatsache, dass die eigentliche biblische Botschaft der Vergebung, auf die der aufrichtig Bekennende vertrauen kann, ausgehöhlt worden ist durch die soziale Glaubenspraxis, die nicht auf Vergebung, sondern auf Unterdrückung zielt: Das Vertrauen auf die Gnade des Herrn nützt im Diesseits nichts, wenn diejenigen, die sich als Ausführende seiner

40

Winkler selbst behauptet, dass dieses Skandalpotenzial für ihn als Schreibmotivation keine Rolle spielt: »Es war nicht so, daß ich mir gesagt habe, ich werde jetzt einen Skandal machen, ich werde skandalös schreiben. Das überhaupt nicht.« (In: Prangel: Die Wiederentdeckung der Genauigkeit, o.S.). – Ohne die Frage der Motivation des empirischen Autors einbeziehen zu wollen, erscheint das ›Skandal-Machen‹ als relevante Textstrategie im Rahmen des hier nachvollzogenen Plädoyers für die Selbstmörder und gegen die katholisch dominierte Mehrheitsgesellschaft.

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Regeln wahrnehmen, vor die jenseitige Vergebung die diesseitige Schande und Verdammung stellen.41 Winkler findet eindrückliche Bilder, die die Prägung des Heranwachsenden durch das katholisch dominierte Dorfleben veranschaulichen. Ein besonders markantes Beispiel hierfür bildet die Grundanlage seines zweiten Romans, Der Ackermann aus Kärnten. Sie folgt der »Anatomie unseres Dorfes«, die sich »mit einem Kruzifix vergleichen« lässt: Von der Dorfstraße, zu deren linker und rechter Hand Häuser stehen, strecken sich im oberen Teil zwei Arme, auf die die Bauernhäuser wie die Knorpel eines Rosenkranzes aufgefädelt sind. […] Den Kopf dieses Kruzifix bilden Pfarrhof und Heustadel, in dem sich die beiden siebzehnjährigen Lehrlinge umbrachten. Zu Füßen dieses Dorfkruzifix stehen Friedhof und Kirche. In der Mitte, wo sich senkrechter und lotrechter Balken treffen, ist das Herz des Kruzifix, der Knotenpunkt meines Romans, mein elterliches Bauernhaus.42

Die Struktur des Kreuzes prägt das Dorf auch darüber hinaus, denn: »Überall dort, wo die Wundmale des Gekreuzigten eingraviert sind, starb jemand eines ungewöhnlichen Todes.«43 Der Roman ist im Folgenden so gestaltet, dass er die einzelnen Häuser des Dorfes abschreitet und dabei jeweils die Geschichten der Bewohner bzw. ihrer Toten erzählt, wobei erneut die Selbstmörder und die Einbindung in religiöse Kontexte dominieren.44 Die praktischen Rituale des ländlichen Glaubens nehmen hier eine zentrale Rolle ein, wobei ihre fragmentarische, bisweilen in der Montage aufgelöste Darstellung nicht zuletzt die tiefe Verankerung im Persönlichkeitskern des heranwachsenden Dorfbewohners zu signalisieren scheint – sie sind wesentliche Biographeme im Sinne Barthes’, die Selbsterfahrung und -darstellung

41

Winklers Texte, so merkt Schwens-Harrant mithin zu Recht an, »mahnen nicht vor Höllenstrafen im Jenseits, sondern erinnern – nicht minder grausam genau wie kirchliche Höllendarstellungen – an die Hölle im Diesseits«. Schwens-Harrant: Des Todes leibeigen, S. 79.

42

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 200.

43

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 201.

44

Auch wenn Der Ackermann aus Kärnten insgesamt auf diese Weise eine deutlich stärkere inhaltliche Gliederung erkennen lässt als Menschenkind, ist die inhaltliche Füllung dieser Berichte zu den einzelnen Häusern disparater, als es die äußere Anlage vermuten lässt. In die (auch narratologisch klarer als solche zu definierenden) Erzählungen über die Familien und ihre Toten mischen sich so Passagen, die sich diesen nicht zuordnen lassen bzw. auf die größeren thematischen Zusammenhänge eingehen, die auch schon Menschenkind dominiert haben.

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des Erzähler-Ichs dominieren. Die Überblendung von kirchlichem Ritual, dessen symbolischer Aufladung und einem explizit gemachten sexuellen Subtext unterstreicht in Winklers frühen Romanen einerseits die Dominanz solcher Strukturen des praktischen Glaubens, andererseits aber auch ihre Auflösbarkeit in die ihnen zugrunde liegenden sinnlichen Momente. Die Symbolstruktur des Rituals wird dabei im Kurzschluss zwischen symbolischer und sexueller Ebene im Kind verankert: Mit seinem Glied durchstößt das in einen Ministrantenmantel, rot mit vergoldeten Schnallen, gehüllte Kind die seidenweiche Jungfernschaft einer Hostie. Das Blut Christi graviert tiefe, dicke religiöse Metaphern in seinen Schoß. Das Blut eines Hingerichteten zirkuliert in seinen Adern. Wild wütet das Kind in den modrigen Kleidern der Statue. Sein Kopf hält Totenwache am hölzernen Geschlecht Christi.45

Ministrantendienst, Totenwache und Kommunion werden hier über die sprachliche Verbindung der metaphorischen »Jungfernschaft« der Hostie bzw. der Relevanz des Leibes und Blutes Christi in Kommunion und wörtlich genommener Transsubstantiationslehre an einen körperlichen Bereich gebunden, der dann in der (homo-) sexuellen Annäherung an das »Geschlecht Christi« gipfelt. Als markante, naheliegende Strategie der Herausforderung der katholischen Dorfsitte erweist sich in diesem Beispiel die Verbindung der religiösen Praxis einer die homosexuellen Jugendlichen in den Selbstmord treibenden Kirche mit der deren Ritualen offensichtlich innewohnenden Homoerotik, die – sonst verschwiegener Subtext – von Winklers Erzähler schamlos offengelegt wird, indem er zentrale Metaphern der Glaubenslehre mit ihrem leiblich-sinnlichen Kern engführt.46 Der blasphemische Charakter der

45 46

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 88. Jean Genets Pompes funèbres präfiguriert diese Technik intertextuell: Dort ist es jedoch nicht in erster Linie der Bereich der Religion, sondern der Bereich der Politik in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, dessen (homo)erotische Subtexte offengelegt werden. In Genets Text, der wie die Romane der Trilogie Das wilde Kärnten als Totenklage angelegt ist – er geht aus von der Beerdigung eines Freundes der Erzählinstanz, der im Widerstand gegen die NS-Besatzung gefallen ist –, rührt das gesellschaftliche Skandalpotenzial aus der erotischen Hochschätzung des Feindes, die in der explizit geschilderten homosexuellen Annäherung an Adolf Hitler ihren irritierenden Höhepunkt findet. Wie die französische Gesellschaft der Nachbesatzungszeit ihre moralische Legitimation aus der Résistance bezieht, weshalb deren vermeintlicher Verunglimpfung massives Skandalpotenzial eignete, basiert die Kameringer Dorfgesellschaft auf der Treue zum sozial relevanten katholischen Dogma, das bei Winkler dementsprechend Ziel der Skandalisierung ist. Vgl. Jean Genet: Das Totenfest. Gifkendorf: Merlin 2000 (= ders.: Wer-

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Schilderung ist dabei ein zentrales Ziel, weil der Schreibende im Ankämpfen gegen die dominanten Ritualstrukturen sowohl Zugang zu einer privaten Religiosität wie auch zur eigenen Identität erlangen kann. Diese doppelte Stoßrichtung ist angesprochen, wenn es heißt: »Habe Lust, Blasphemien zu schreiben, wie der Gott meiner Kindheit sie braucht.«47 An einem zentralen Symbol der Romane lässt sich dieses geradezu ideologiekritische Vorgehen, das die verurteilte ›Sünde‹ in der von der normensetzenden Kirche autorisierten Instanz selbst erkennbar werden lässt, erneut beobachten: Gemeint ist das vielgestaltig konnotierte Bild des »Kalbstricks«. Der Kalbstrick ist zunächst das Selbstmordwerkzeug Jakobs und Roberts, er ist es also, der den in den drei Romanen allgegenwärtigen Tod von der Anfangspassage in Menschenkind an symbolisiert. Daneben erscheint er aber auch als Werkzeug der Geburt, denn mithilfe des an ihre Beine gebundenen Stricks werden die Kälber auf die Welt geholt, wobei der Bauer und Hausvater als Geburtshelfer fungiert. Schließlich verwendet dieser, drittens, den Kalbstrick zur Züchtigung seiner Kinder, mithin dazu, die durch ihn repräsentierten Normen des Dorfes in seiner Familie durchzusetzen – mit der Folge, dass der älteste Sohn und Hoferbe der Familie den Rücken kehrt und sich also von der Tradition, die die Bestrafung eigentlich durchsetzen soll, löst.48 Die Verwendung des Kalbstricks als Selbstmordinstrument rekurriert also auf einen Bedeutungskreislauf von Geburt, Strafe und Tod – so ist es zu verstehen, wenn der Erzähler feststellt: »Der Kalbstrick nahm die ihm gemäße Gestalt an, als er einem Doppelselbstmord diente.«49 Im Selbstmord mit dem Kalbstrick realisiert sich dessen Potenzial als Bedeutungsträger der sozial-kirchlichen Gewalt; als Biographem bringt er eine Mehrfachbesetzung des Symbols in die Gestaltung der Erzählerfigur ein, die deren Bindung an die Welt des Heimatdorfs in der gleichzeitigen Unterwer-

ke in Einzelbänden; 3), S. 173–199. Eine besondere Nähe zwischen beiden Strategien ergibt sich, wenn Winkler in Muttersprache zur Gleichsetzung Jesu mit Hitler greift: »Hitler bekreuzigt sich vor dem gekreuzigten Hitler in der Dorfmitte und verläßt den Ort, ohne zu grüßen. Die toten Soldaten, die Brüder meiner Mutter, strecken unter der Erde ihre Hände und rufen, Heil Hitler!« Winkler: Das wilde Kärnten, S. 573. 47

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 108. Zur schillernden Bedeutung des Begriffs »Gott meiner Kindheit«, womit auch die Figur des Vaters angesprochen ist, vgl. die folgenden Erörterungen.

48

Vgl. Winkler: Das wilde Kärnten, S. 576: »Mehrere Male hat der Vater meinen ältesten Bruder, den Gustl, mit dem Kalbstrick außer Haus gejagt, bis er auf einen anderen Hof geheiratet hat«.

49

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 93.

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fung unter deren den Lebenskreislauf prägende Gewalt und den Widerstand gegen diese zum Ausdruck bringt. In der Schilderung des Vaters, nachdem er den Sohn geschlagen hat, erfolgt nun jedoch eine erneute Bedeutungserweiterung des Symbols: »Am offenen Ende der Ader wartet der Vater, der Kalbstrick pendelt wieder an der Bauernhosennaht […]. Der Strick pendelt, schwingt hin und her wie die kastanienbraunen Hoden des laufenden Kindes.«50 Und auch umgekehrt verwendet der Erzähler das Bild, wenn sich die Gewalt in der Imagination des Erzählers gegen die Dorfgemeinschaft richtet: »Der Kalbstrick bäumte sich auf, steif wie ein blutgefülltes Geschlecht schlug er auf die Nacken der Spötter und Selbstmörderbeschimpfer.«51 Der Kalbstrick erhält so eine sexuelle Konnotation, die den Akt der sozial legitimierten körperlichen Züchtigung mit dem Sexualakt verbindet. Die körperliche Züchtigung des Kindes wird mit dessen sexuellem Erwachen verbunden – die Deutung liegt nahe, das Schlagen des Sohnes durch den Vater als homosexuellen Akt zu lesen. Die Verbindung von Gewalt und Sexualität wird darüber hinaus als den (heterosexuellen) Jugendlichen prägende Erfahrung gekennzeichnet, in dessen eigener sexueller Aktivität der Kalbstrick erneut wiederkehrt: Wie früher unter den Züchtigungen seines Vaters, wälzt sich der Körper heute in der Lust. Mit den bösen Augen der Kindheit seines Vaters betrachtet er den stöhnenden Körper unter seinem Körper. Sein Glied peitscht immer schneller ihren Schoß. Zu Tausenden schüttet er die Kalbstricke seiner Samenfäden in ihren Rhombus; auseinanderstiebende Pferde. […] Die Zuckungen, die er unter dem aufpeitschenden Kalbstrick lernte, setzt er im Rhythmus des Discosounds fort.52

Die Verbindung von Geburt und Tod mit einem religiös abgesicherten Patriarchat, das sich in der Gewalt durch den Vater äußert – der die Allianz von Machtausübung und religiösem Regelwerk als »Gott meiner Kindheit«53 am stärksten verkörpert –, das In-eins-Denken von Vaterliebe, Vatergewalt und Sexualität im Symbol des

50

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 101. Diese Verbindung von Gewalt, Sexualität und kirchlich sanktionierter Autorität ist auch im Bild des am Gürtel des Priesters baumelnden Kruzifixes enthalten: »Der Priester, dornengekrönter Häuptling des Dorfes, schreitet mit peitschenartig an seinen Hüften pendelndem Kruzifix die Reihen ab.« (Ebd., S. 91 f.)

51

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 94.

52

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 106 f.

53

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 22, 108 u. ö. Vgl. auch Schwens-Harrant: Des Todes leibeigen, S. 76–78.

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Kalbstricks macht diesen zum Dreh- und Angelpunkt der die Romane dominierenden Thematik der Kopplung von Religion, Macht, Identität und Sexualität – das Biographem wird, wie von Barthes theoretisch beobachtet, auch hier mit einer typischen, das Leben prägenden Mehrfachcodierung versehen. Die religiös sanktionierte väterliche Gewalt wird als zentrale lebensprägende Kraft – symbolisiert durch Einbindung von Geburt und Tod – ausgewiesen, wobei der Roman sein strukturell zentrales Provokationspotenzial realisiert, wenn die Züchtigung mit dem Strick sexuell überformt und als Lustgewinn dargestellt wird, indem sie motivisch mit dem erigierten Glied verbunden wird. Dies grundiert die väterliche Prügelstrafe nicht zuletzt als homosexuellen Akt und verbindet so die Homosexualität genau mit derjenigen Instanz, die im Sinne eines dieselbe verdammenden Glaubens am schärfsten gegen sie eintritt.54 Die prägende Kraft des ländlichen Katholizismus in der Dorfgemeinschaft und die Rebellion gegen diese führen zu einer Identitätsstruktur des Erzählers, die auf beide Seiten dieses Konflikts angewiesen ist. Markanterweise wird die Erkenntnis, dass dies so ist, ausgerechnet dem Vater in den Mund gelegt, der formuliert: »Du hattest immer jemanden, mit dem du im Kampf standest, das erhielt dich am Leben.«55 Der Erzähler ist von einer Art Doublebind-Struktur der Verdammung der Religion bei gleichzeitigem Nicht-von-der-Religion-Loskommen geprägt, die »Religion des Hasses und der Liebe in diesem Dorf«56 ist es, die die immer wieder dieselben Topoi aufrufende Gestalt des Textes provoziert.57 Litanei und christliche Ri-

54

Das Potenzial einer Gefährdung der im (genealogischen wie sexuellen) »Geschlecht« liegenden Macht des Patriarchen und seiner »phallokratischen Bauernwelt« durch die Homosexualität (allerdings nur die des Sohnes, nicht die des von ihr wie gezeigt symbolisch ebenfalls affizierten Vaters) beobachtet anhand von Winklers Texten auch Aspetsberger: »Provokationsluxus«, S. 198–200. Hervorhebung im Original.

55

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 389. Aspetsberger stellt fest: Der Vater »wird auf das Feld der Literatur geschleppt und dort ausgestellt, zur Schau gestellt (nicht beiseite geräumt wie in der Form des Vatermords bei Bronnen)«. Aspetsberger: »Provokationsluxus«, S. 205. Hervorhebung im Original.

56 57

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 234. Deutungen, die umstandslos die Erzählinstanz mit dem Autor gleichsetzen, versteigen sich in dieser Hinsicht zur Psychologisierung Winklers, der sich von seiner Kindheit nie habe lösen können – eine Argumentationslinie, die die hier entwickelten textuellen Mechanismen völlig außer Acht lässt. Vgl. hierzu etwa Rainer Fribolin: »Die vielen Textpassagen, die von der Erzählergegenwart handeln, sowie eingestreute Kommentare zeugen davon, wie sehr der Autor [!] in seiner eigenen Kindheit verstrickt ist. Alles, was er tut, geschieht nicht aus freien Stücken, sondern auf Grund von realen psychischen

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tuale sind hierbei Formen, die sich der Text aus dem Fundus der katholischen Liturgie58 aneignet und so verwendet, dass sie in ihrer zyklischen Wiederkehr gleichzeitig das Verhaften des Schreibenden bei einem nicht zu bewältigenden Problemkomplex markieren: »Wunden haben mich zur Sprache gebracht: die beiden toten Lehrlinge haben sie in mir erzwungen.«59 Die soziale Welt des Glaubens hat so eine identitäts- wie textbildende Funktion: Das Erzähler-Ich wird, als Anwalt der Ausgestoßenen, selbst zum Ausgegrenzten in diesem Setting, ist aber nie in der Lage, sich hiervon unabhängig zu definieren. Vielmehr basiert seine Identität auf diesem Abgrenzungspunkt, der nie vollständig verlassen, hingegen in immer wieder umkreisenden oder attackierenden Bewegungen in seiner Relevanz bestätigt wird.60 Das Schreiben bringt dabei eine von bestimmten Parametern – Biographemen – geprägte Struktur hervor, deren Bindung an das tatsächliche Leben in gewisser Hinsicht durch den Text aufgehoben werden muss. Was als Bewältigungsstrategie einer Art von therapeutischem Schreiben angenähert wird, sorgt gleichwohl nicht für die Beseitigung der vermeintlichen Kindheitswunden, sondern bestärkt diese und ihre Rahmenbedingungen in einem Immer-wieder-Umschreiben: Ich bin dabei, meine Kindheit, die sich zwischen zuckenden blutigen Hahnenköpfen, trottenden Pferden, tänzelnden Kalbstricken bewegte, zu ermorden. Ich werde das Kind, das ich war, umbringen, damit einmal, wenn auch erst auf dem Totenbett, meine Kinderseele zur Ruhe kommt. Ich habe in dieser Geschichte, diesem Kindertotengedicht, Tode mehrerer Kinder beschrieben, die mir helfen sollen, meine eigene, mit bitterer Liebe und süßem Haß vollgestopfte Kindheit zu ertragen.61

Zwängen, die ihn schon als Kind nicht frei agieren lassen.« Rainer Fribolin: Franz Innerhofer und Josef Winkler. Die moderne bäuerliche Kindheitsautobiographik vor dem Hintergrund ihrer Tradition vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Bern u.a.: Lang 1989, S. 206. Vgl. ähnlich auch Haas: Demolierung der österreichischen Seele, S. 98, und Hess-Lüttich: Stätten des Stigmas, S. 55. 58

Einen Ansatz zu dieser Technik der Aneignung bietet Brigitte Schwens-Harrant: Literatur als Litanei. In: Lörke u. Walter-Jochum (Hg.): Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert, S. 351–364.

59 60

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 216. Pfeiferovás Hinweis darauf, dass »der Erzähler als Kind fasziniert war« vom »Zeremoniell« der katholischen Kirche, greift mithin zu kurz – diese Faszination allein im Präteritum aufzunehmen, missachtet deren konstitutiven Charakter für die Textgegenwart. Vgl. Pfeiferová: Auf der Suche nach den österreichischen Todesarten, S. 132.

61

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 149.

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Der Angriff auf die prägenden Gewalten des Dorflebens ist letztlich weder in der Lage noch ist es sein reales Ziel, diese zu zerstören, sondern diesem Angriff selbst eignet ein identitätsbildendes Potenzial, das nicht zu realisieren wäre, ließe der Erzähler diese Anfänge einfach völlig hinter sich.62 In Menschenkind werden als Schreibsituation ein immer wieder durchscheinender Aufenthalt des Erzählers in Venedig sowie am Ende der Schreibort Klagenfurt eingeführt,63 und auch in Der Ackermann aus Kärnten und Muttersprache wird deutlich, dass sich der Erzähler eigentlich in der Kärntner Landeshauptstadt bewegt.64 Dennoch sucht er, anstatt der Kindheit den Rücken zu kehren, diese in rituell verdichteter Form in seinem Schreiben immer wieder auf, womit die Wirksamkeit der heimisch-dörflichen Deutungsmuster in ihrer Relevanz bestätigt wird: »Nicht befreit, neuerlich geknechtet hat mich die Beschreibung meiner Kindheit und Jugend […]. Die Bilder, die ich mit dem Material meiner bäuerlichen Kindheit und Jugend entworfen habe, fordern mich jetzt wieder zurück«,65 beschreibt der Erzähler in Muttersprache den Effekt des Umschreibens der Kindheit, der so, als unausweichliches Geschehen, den Erzählenden an die Welt der Heimat bindet und in einer vermittelten Form, als Druck, den die ästhetisch erzeugten Bilder in der Folge auf das weitere Schreiben ausüben, seine Fortsetzung findet. Die in Winklers frühen Texten vorgeführte Identitätsbildung als Widerspruch gegen die bestehende Mehrheit basiert darauf, dass diese Mehrheit in Kraft bleibt – der Erzähler kann es sich um der Identitätsbildung willen nicht leisten, sie zu ignorieren, sich von ihr abzuwenden, ihr den Rücken zu kehren. Seine Rolle findet der Erzähler in der Tätigkeit, »stets die Offenheit der Wunde, die der Doppelselbstmord der Jugendlichen aufgerissen hat, zu betonen« – es erwächst aus dieser »erfolgreich scheiternden Trauerarbeit« nicht nur »Engagement« für die

62

Diese Funktionalisierung der Kritik zur Identitätsbildung unterschlägt etwa Aspetsberger, wenn er Winkler eine Thomas Bernhard vergleichbare »totale Kritik« unterstellt: »Bauernhof, Universität, Bundesland, zunehmend auch der Staat Österreich, immer schon die internationale Kirche usw. werden nach dem Prinzip des Patriarchats erkannt und verdammt.« Aspetsberger: »Provokationsluxus«, S. 196.

63

Vgl. Winkler: Das wilde Kärnten, S. 193. – Diese Verortung findet sich auch in der Büchnerpreisrede wieder. Vgl. Winkler: Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär, o.S. – Dass ausgerechnet Venedig der hier aufgeführte Schreibort ist, hat natürlich auch einen intertextuellen Hintergrund, gilt doch Thomas Manns Meisternovelle Der Tod in Venedig als zentraler literarischer Text zum Spannungsfeld Homosexualität und gesellschaftliche Anerkennung.

64

Vgl. Winkler: Das wilde Kärnten, S. 399, 428, 480, 490.

65

Winkler: Das wilde Kärnten, S. 584.

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Selbstmörder, wie Özelt resümiert,66 sondern sie führt auch zur Bildung einer eigenständigen Identität im Aufbegehren gegen die gläubige Gemeinschaft, der der Selbstmord diese Wunde zugefügt hat, indem diese hierfür verantwortlich gemacht und angeklagt wird. Wenn es auch nicht zu einer Aufgehobenheit in der Religion kommt, wie es bei Rousseau zunächst der Fall ist, ist die Identität hier in ihren Wurzeln und frühen Prägungen, aber auch in ihrer aktuellen Ausformung als Widerstand gegen diese wesentlich von der sozialen Glaubensrealität determiniert. Wie die Sünde in der Ökonomie der Beichte geadelt wird und ihre Schilderung als Bedingung der Absolution erscheint, wird das katholische Dorfleben als Angriffspunkt der Kritik bei Winkler insofern erhöht, als es die (eben ganz diesseitige) Identitätsbildung des Erzählersubjekts ermöglicht. Winklers Erzählerfigur bedarf des Glaubens, um Kontur zu gewinnen; durch ihre Abgrenzung von der sozialen Glaubensrealität, die identitätsproduktiv aufgeladen wird, zementiert sie deren (vielleicht real über Säkularisierungstendenzen erodierende) Macht.67

6.3 B LICK ZURÜCK VON AUSSEN : R OPPONGI . R EQUIEM FÜR EINEN V ATER Winklers Roppongi. Requiem für einen Vater erschien 2007, 25 Jahre nach Muttersprache, dem dritten Roman der Trilogie Das wilde Kärnten. Eine zentrale Rolle spielt auch hier wieder der Vater, zentrale Figur des Frühwerks, in der sich die gesellschaftlichen und familiären Rahmenbedingungen kristallisierten, die Winklers Romanerzähler gleichermaßen bekämpfte wie identitätsstiftend umkreiste: Das Buch ist ihm als »Requiem« gewidmet.68

66 67

Özelt: Freitod und Alterität, S. 180 f. Das scheint mir über die etwa bei Schwens-Harrant diagnostizierte »starke Faszination und starke Abneigung« hinauszugehen, die Winklers Werk präge: Beide Ebenen sind ohne einander nicht zu haben, die ›Doublebind-Struktur‹ der Angewiesenheit auf das Abgelehnte in der Identitätskonstruktion steht diesem nicht vermeintlich uninvolviert mit wechselnden Gefühlen gegenüber, sondern die Identität der Erzählerfigur bindet sich massiv an beide Seiten. Vgl. Schwens-Harrant: Des Todes leibeigen, S. 71.

68

Wenn im Folgenden vom »Frühwerk« die Rede ist, sind hiermit vor allem die Romane der Trilogie Das wilde Kärnten gemeint. Das Verhältnis Sohn/Vater spielt darüber hinaus auch in weiteren vor und nach Roppongi publizierten Texten Winklers eine Rolle, so am Rande in dem Roman Die Verschleppung (1984), außerdem in Der Leibeigene (1987), Wenn es soweit ist (1998), Leichnam, seine Familie belauernd (2003), Ich reiß

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Dass es jedoch nicht auf das Heimatdorf Kamering zentriert bleibt, wird rasch klar: Das Buch, benannt bereits nach einem Stadtteil Tokios, beginnt mit einem literarischen Zitat über ein japanisches Totenfest,69 bevor es sich ausführlicher Indien widmet, und zwar in einer Beschreibung eines dort sich ereignenden Geiersterbens. 6.3.1 Exotischer Perspektivwechsel: Kärnten – Varanasi – Tokio Konstitutiv für den Text ist die neue örtliche Perspektive, die er auf die Heimat gewinnt. Die Erzählung vom Tod des Vaters, die gleichzeitig zum Rückblick auf dessen Leben und die Vater-Sohn-Beziehung wird, ist eingerahmt von einer doppelten exotischen Einfassung: Der Erzähler erfährt vom Tod seines Vaters während einer Lesereise in Japan, was ihn daran hindert, bei dessen Beerdigung anwesend zu sein. Und erzählerisch wird der Bericht über den väterlichen Tod eingefasst in die Schilderung mehrerer Indien-Reisen des Erzählers, der, nachdem er sich vom Heimatort zwischenzeitlich gelöst hat, die Rituale um die Leichenverbrennung im indischen Varanasi schildert. Auf diese Weise treten drei verschiedene Kulturen hinsichtlich ihres Umgangs mit dem Sterben nebeneinander: Zu den aus dem Frühwerk bekannten katholischen Sterbe- und Begräbnisritualen, die hier rückblickend in Bezug auf die eigenen Großeltern aufgerufen und auch auf den Tod des Vaters übertragen werden, treten die in den Vorsatztexten zu den einzelnen Kapiteln präsente japanische Geschichte der Erzählung Schwierigkeiten beim Verständnis der NarayamaLieder, in deren Mittelpunkt steht, dass die Alten termingerecht sterben müssen, um

mir eine Wimper aus und stech dich damit tot (2008), Mutter und der Bleistift (2013), Wortschatz der Nacht (2013) sowie Winnetou, Abel und ich (2014). 69

Winkler zitiert aus Fukazawa Shichiros Erzählung Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder von 1958, die auch zweimal (1958 und 1983) verfilmt wurde. Die Erzählung handelt von einer archaisch anmutenden dörflichen Tradition, der zufolge die Alten mit 70 Jahren zum Sterben den Berg Narayama besteigen müssen, um in den wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen des Dorflebens für Entlastung zu sorgen – in der Fokussierung auf die dörfliche Sterbetradition ergibt sich so eine Verbindung zur Thematik von Roppongi. Die einzelnen Kapitel von Winklers Buch werden eingeleitet von Episoden, die den Weg des Abschieds der alten O Rin schildern, die auf dem Rücken ihres Sohnes Tappei den Berg hinaufgetragen wird. Vgl. Fukazawa Shichiro: Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder. Aus dem Franz. übersetzt v. Klaudia Rheinhold. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987.

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die Jungen nicht über Gebühr zu belasten,70 und die hinduistische Tradition der Leichenverbrennung in der Ganges-Stadt Varanasi.71 Eine auf den ersten Blick zentrale Unterscheidung zwischen dieser letzteren und der bekannten heimatlichen Tradition benennt der Erzähler selbst: »Während in meinem Heimatdorf in Kärnten […] das Leben also vom Tod getrennt wird, vermischen sich Leben und Tod beim hinduistischen Bestattungsritual in Varanasi am Einäscherungsplatz«.72 Die Totenruhe, die sich während der Beerdigung im Kärntner Dorf einstellt und die also das Begräbnisritual vom sonstigen Dorfleben abgrenzt (und deren Durchbrechung damit eine gegen den Gestorbenen gerichtete Botschaft ist73), gibt es in Varanasi, wie die ausführlicheren Schilderungen unterstreichen, nicht: Der Begräbnisplatz ist vom Ausdruck ungefilterter Emotionen geprägt, es wird geschrien und gelitten, aber auch bald wieder gescherzt und gelacht, das nicht restlos verbrannte Holz von den Scheiterhaufen wird zum Kochen in die Küchen der »Doms« –der »Unberührbaren«, die für die Organisation der Verbrennung zuständig sind – mitgenommen, Hunde schleppen Leichenteile davon und die nicht vollständig verbrannten Körper derjenigen, die nicht genug Geld für eine zur Verbrennung ausreichende Menge Holz aufbringen können, werden frühzeitig in den Ganges geworfen. Es ist ein distanzierter Beobachterblick, mit dem der Erzähler, ausgewiesen als Tourist, dieses Treiben begutachten und niederschreiben kann – eine Teilhabe »nur mit meinem Auge«,74 die so aus den dichten, bildgewaltig überformten Beschreibungen der Kärntner Umstände, wie sie das Frühwerk bie-

70

Diese Art des Umgangs mit dem Sterben scheint der intensiven, den Alltag und die Identität der Menschen prägenden Beschäftigung mit dem Tod, den Winklers Werke vorführen, diametral entgegengesetzt. Insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass in Roppongi immer wieder betont wird, dass der Vater über acht Jahrzehnte lang auf seinem Hof gearbeitet habe und erst mit 99 Jahren stirbt, spiegelt dieser Blick aufs Alter eine Präsenz der Vätergeneration im Leben ihrer Kinder wider, die in dem japanischen Gegenbild durch den sozial geforderten fixen Sterbezeitpunkt vermieden wird.

71

Über diese Tradition hat Winkler bereits ein Jahrzehnt zuvor einen anderen Roman verfasst: Josef Winkler: Domra. Am Ufer des Ganges. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996.

72 73

Winkler: Roppongi, S. 151. Vgl. die Imagination des dem Vater feindlich gesinnten »Frommel Adam« und seines Sohnes, die »während des Begräbnisses […] in ihrem Hof an der immer wieder aufjaulenden Kreissäge der Holzschneidemaschine […] die andächtige Stille und das Geläute der Glocken« stören und schließlich – in einer für Winklers Schilderungen des jetzigen Dorflebens typischen symbolischen Überformung – »mit der Kreissäge Knochen und Schädel des Toten zerstückel[n]«. Winkler: Roppongi, S. 53–55.

74

Winkler: Roppongi, S. 143.

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tet, nicht bekannt ist: Das emotionale Engagement, das sich dort in der identitätsstiftenden Bindung an die dörflichen Gepflogenheiten und Rituale auch textlich niederschlägt – was ausweislich des Romans Grund für die Reise nach Indien ist, die ausgerechnet ein Literaturprofessor und Kenner des Winkler’schen Frühwerks dem Autor-Erzähler nahegelegt hat75 –, fehlt hier. Die Irritation lässt sich durch das Niederschreiben offenbar leicht kontrollieren, sodass das »Treiben auf dem Totenplatz […] in meinen roten, indischen Notizbüchern festgehalten« und »zwischen leere Seiten verbannt«76 werden kann, ohne den Schlaf des Erzählers zu stören. Die exotischen bzw. zumindest der Heimat fernen Schauplätze des Romans provozieren für den Erzähler eine Fremdheitserfahrung, die die Nähe zur Heimat nur in Form kunstvoll konstruierter Erinnerungen erlebbar werden lässt: In der artistischen, in japanischen Traditionen gespiegelten Schilderung des Eintreffens der Todesnachricht, die den Erzähler vor einem Empfang in der österreichischen Botschaft im Tokioter Stadtteil Roppongi erreicht, wird dies deutlich: ich war zu keinem Gespräch fähig, stellte mich abseits, durchwanderte, das Glas Cognac in der Hand, die großen, mit Biedermeiermöbeln ausgestatteten Räume, schaute auf die Bilder an den Wänden, ohne die Motive wahrzunehmen, trat ans eine, dann ans andere Fenster. Vor einer wandgroßen Glasscheibe stehend, schaute ich in den Garten hinaus, auf einen Teich, auf große, bedächtig schwimmende und ihre breiten Mäuler immer wieder öffnende, orangefarbene japanische Wakin-Fische, als ein weißer Reiher mit weit auseinandergebreiteten Flügeln am Rande des Teiches aufsetzte […]. Der tote Vater hat sich also, dachte ich in diesem Augenblick des Schreckens, der Trauer, Sentimentalität, der Zufriedenheit und des Glücks, in der Gestalt eines weißen Reihers noch einmal bei mir blicken lassen, bevor er unter die Erde geschaufelt wird […].77

Der exotische Ort mit seiner traditionellen, Teich und Garten einbeziehenden Architektur versetzt den Erzähler in die Lage, die nur knapp benannten widerstreitenden Gefühle in der Kontemplation über die ihm gegenüberstehende Natur aufzuheben. Das Fremdheitsgefühl ermöglicht so eine ungeahnte psychische Stabilität, die

75

Vgl. Winkler: Roppongi, S. 31. Es handelt sich um Wendelin Schmidt-Dengler, den Kenner der zeitgenössischen österreichischen Literatur, dem Winkler hiermit gewissermaßen ein Denkmal setzt. Schmidt-Denglers Auseinandersetzung mit Winklers Werken spiegelt sich in seiner Vorlesung Bruchlinien wider: Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg: Residenz-Verlag 21996. Zu Winkler vgl. ebd., S. 350–359 u. 433–446.

76

Winkler: Roppongi, S. 145.

77

Winkler: Roppongi, S. 65.

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der emotionalen Verstrickung, die die Anwesenheit im Dorf im Frühwerk mit sich brachte, diametral gegenübergestellt ist. Dass die Konflikte von damals keineswegs ein Ende gefunden haben, wird in Roppongi sehr deutlich: Dem Tod des Vaters ist ein dramatischer Ausdruck seines letzten Willens vorausgegangen, durch den der nun Gestorbene im Streit über die Darstellung eines Mitbürgers aus dem Dorf den Sohn vom eigenen Begräbnis ausgeschlossen hat: Ein Jahr vor seinem Tod rief mich der achtundneunzigjährige Vater eines Abends, an einem Sommertag, in Klagenfurt an und schrie ins Telefon: »Sepp! Was bist du denn für ein Schwein, ein richtiger Sauhund bist du! Was hast du denn schon wieder über den Lemmerhofer Frido geschrieben? […] Das stimmt ja alles nicht! […] Ich sage dir nur eines! Wenn ich einmal nicht mehr bin, dann möchte ich nicht, dass du zu meinem Begräbnis kommst! […]«78

Der Sohn hat noch am Todestag – bevor er vom Tod seines Vaters erfahren hat – bei einer Veranstaltung, auf der er »Geschichten vom Ackermann aus Kärnten vorgelesen und danach mit den Zuhörern besprochen« hat, die Treue zu diesem letzten Willen beschworen: »›Wenn er heute stirbt, ich fliege nicht zu seinem Begräbnis zurück!‹«79 Ohne dass also der Zwiespalt zwischen Sohn und Vater aus der Welt geräumt wäre, gelingt dem Sohn, der die bekannten »Geschichten vom Ackermann aus Kärnten«, die vom massiven Kampf mit der Vaterfigur geprägt sind, noch eben vorlesen konnte, ein von diesem Konflikt beinahe unbeeindruckter, ästhetisch überformter Blick auf den väterlichen Tod: Die fremde Kultur dient als Perspektiv, das die eigene Verstrickung für den Moment aufzuheben in der Lage ist, sie stellt die ungelösten Konflikte für einen Augenblick still – eine Möglichkeit, die in der direkten Konfrontation mit dem Sterben in der Heimat nicht denkbar ist, wie in den imaginierten Schilderungen des Begräbnisses deutlich wird. Tatsächlich erweist sich diese von einem gewissen artistischen Japonismus80 geprägte Verarbeitung des

78

Winkler: Roppongi, S. 55.

79

Winkler: Roppongi, S. 61.

80

Der Begriff des »Japonismus« bezieht sich zunächst nur auf die Aufnahme japanischer Einflüsse in der europäischen/westlichen Kunst seit Mitte des 19. Jahrhunderts, als Japan aufgrund außenpolitischen Drucks seine politische wie kulturelle Isolation aufgab. Über dieses Begriffsverständnis hinausgehend ließe sich behaupten, dass der Japonismus stets von bestimmten europäischen Wahrnehmungsstrukturen des »Fremden« grundiert ist, die in Bezug auf den Nahen Osten Edward Said mit seinem umstrittenen Begriff des »Orientalismus« erfasst hat. Vgl. zu diesem Zusammenhang Edward W. Said: Orientalismus. Aus dem Engl. v. Hans Günter Holl. Frankfurt a.M.: Fischer 2009, bezogen auf die Aneignung Japans in der bildenden Kunst die Studie von Claudia Delank:

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Sterbens so als Gegenpol zur breit geschilderten indischen Einheit von Tod und Leben im bunten Treiben am Ufer des Ganges: Während dort der Tod insofern aufgefangen wird, als das Leben ihn einfach einbindet und weiterläuft – auch vor dem Hintergrund der Gewissheit der Wiedergeburt im Hinduismus –, erfolgt in dieser japanischen Tradition eine Auflösung des Sterbens in der Kunst. Hier wie dort kommt es jedoch zu einer das Leben weiter in den Mittelpunkt stellenden Perspektive, die der vom Kärntner Katholizismus geprägten Welt des Todes, die in Winklers Frühwerk entworfen wird, entgegengesetzt ist. Die artistische Überformung des Blicks auf den Tod bleibt in Teilen auch erhalten, wenn der Erzähler dazu ansetzt, die Beerdigung des Vaters zu imaginieren. In fünf Abschnitten, die jeweils mit der Formel »Ich war froh, in Roppongi geblieben zu sein« einsetzen, erfolgt ein Zurückversetzen in die Heimat, das einerseits die Situation der Trauerfeier mit den »Heuchler[n] und Beileidsmenschen des Dorfes Kamering vorstellt, von denen nicht wenige lieber mich als den Hundertjährigen in der Grube verscharrt hätten«,81 andererseits aber die Geschichten einzelner Dorfbewohner rekapituliert, wobei eine Rückkehr zur bildbeladenen und von der identitätsstiftenden Verbindung und gleichzeitigen Verachtung der Dorfmenschen gekennzeichneten Darstellungsform erkennbar wird. 6.3.2 Ein neues Vaterbild Unter den Bedingungen des distanzierten Rückblicks wandelt sich auch das Bild, das die Erzählinstanz von ihrem Vater zeichnet. Eine erneut an die Barthes’sche Biographemtechnik anknüpfbare Beschreibungsform entsteht, die den Vater mit rituell immer wiederkehrenden Epitheta verbindet und so dessen konstantes Ich herstellt,82 für das ein größeres Maß an Verständnis und Nähe aufgebracht wird, als

Das imaginäre Japan in der Kunst. »Japanbilder« vom Jugendstil bis zum Bauhaus. München: Iudicium 1996. – Es liegt nahe, auch Winklers Verwendung des Japan- (und Indien-)Topos in Roppongi in dieser Hinsicht zu deuten; eine Perspektive, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Ansätze zu einer postkolonialen Lektüre von Winklers Indien-Roman Domra. Am Ufer des Ganges finden sich in der sonst leider stark biografistisch geprägten Arbeit von Narjes Khodaee Kalatehbali: Das Fremde in der Literatur. Postkoloniale Fremdheitskonstruktionen in Werken von Elias Canetti, Günter Grass und Josef Winkler. Münster: Lit 2005. 81

Winkler: Roppongi, S. 78.

82

Aspetsberger betont diese Verbindung der »Väter« in Winklers Gesamtwerk über das Biographemmaterial, wenn er feststellt: »Je öfter er geschrieben wird, desto besser wird er aus den Materialien, die ihn bilden, ausgewählt […]. Der ›Vater‹ ist ein hochentwi-

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dies im Frühwerk der Fall war. In der Diskussion um die Indien-Reisepläne des Sohnes kommt zunächst die dann mehrfach wiederkehrende charakterisierende Aussage zum Tragen, der Vater sei nur im Kriegseinsatz je aus dem Heimatdorf hinausgekommen: »›Wenn der Krieg nicht gewesen wäre, wäre ich nirgendwo hingekommen, nach England nicht, nach Holland nicht und auch nicht nach Frankreich, ich wäre immer am Hof geblieben!‹«83 Im gleichen Kontext steht die ebenfalls aus den väterlichen Erzählungen übernommene Formulierung, dass dieser in der Kriegsgefangenschaft »oft so einen Hunger gehabt hatte, daß er am liebsten dem Teufel die Ohren abgefressen hätte«.84 Eine zentrale Rolle für dieses Bild des Vaters spielt zudem die Umschreibung eines Fotos mit »Braunstich aus den Dreißigerjahren«, auf dem der Vater voller Stolz auf einer neu angeschafften Mähmaschine sitzt. Erkennbar fehlt ihm an der linken Hand ein Finger, »der ihm von einer Heuschneidemaschine abgetrennt wurde, als er drei Jahre alt war und bei den Arbeiten im Heustadel bereits mithalf«, woraus sich die immer wieder betonte Lebensleistung des Vaters ergibt, dass dieser über 80 Jahre lang auf dem Hof gearbeitet habe.85 Schließlich wird mehrfach die Tatsache aufgegriffen, dass der 95-Jährige sich noch einen neuen Traktor gekauft und mit diesem in kindlicher Freude im Dorf herumgefahren sei.86 An die Stelle der ausufernden, symbolisch hoch aufgeladenen Situationsbeschreibungen von Konfrontationen zwischen Vater und Sohn in der Kindheit tritt so eine konzentrierte, beinahe nüchterne Schilderung wiederkehrender Erzählelemente, die eine knappe Charakterisierung des stolzen Bauern ohne die Zuspitzung auf die Rolle als Vertreter der dörflichen Ordnung innerhalb der Familie ergibt (ohne dass diese Stellen fehlen würden, die aber gegenüber dieser stärker gegliederten Umschreibung in den Hintergrund treten87). Abwandlungen dieser Tech-

ckeltes Werk und hat wenig von der Natur«. Winklers Schreiben sei daher, wie Aspetsberger völlig zu Recht und in der ihm eigenen metaphorischen Weise feststellt, »eine eher unbiographische, stark formalisierte Kunst […]. Ein Repetierverfahren, das immer raffinierter nachlädt.« Friedbert Aspetsberger: Josef Winklers ›Roppongi‹. Entwicklungen und Ideologien seiner Prosa. Innsbruck/Wien/Bozen: Studien-Verlag 2008, S. 19. Hervorhebungen im Original. 83

Winkler: Roppongi, S. 27, vgl. ebd., S. 47 f.

84

Winkler: Roppongi, S. 27, vgl. ebd., S. 47, 110.

85

Winkler: Roppongi, S. 35, vgl. ebd., S. 37 f., 47, 53, 67.

86

Vgl. Winkler: Roppongi, S. 52, 70 f.

87

So fehlen aus dem Frühwerk bekannte Konflikte auch hier nicht, etwa wenn darauf verwiesen wird, dass der Vater seinen Sohn nie auf den Schoß genommen habe, Diskussionen um dessen Frisur ausgetragen wurden oder der Sohn dem Vater mit dem Ausruf

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nik betreffen andere Figuren, etwa den ältesten Bruder und Hoferben und seine Gattin, die hier Bruno und Raudi Miklau heißen und ebenfalls mit wiederkehrenden Epitheta belegt werden, dies aber in wesentlich kritischerer und mit dem Dorfkatholizismus verbundener Form: Beide werden überspitzt als auf die symbolische Kraft der Hostie fixiert präsentiert. Von Raudi heißt es, dass sie »sich für einen Rotkäppchenkorb voller geweihter Hostien, um sich hundertfach ihren Leib Christi mit Stoß- und Bußgebeten einverleiben zu können, in ein feuchtes und verschimmeltes Verlies werfen lassen würde«,88 während ihr Ehemann »an seinem Hals einen großen Kropf trägt, der vollgefüllt ist mit geweihten Hostien, den Leibern Christi, die er nicht verderben lassen will in Magen und Darm«.89 Die beiden erscheinen hierdurch als Prototypen der im Frühwerk präsentierten bigotten Dorfbevölkerung, die katholische Symbole vor sich herträgt, im alltäglichen Leben jedoch – von Hass, Intoleranz und Habgier90 erfüllt – die christliche Liebesbotschaft verleugnet. Die »katholische[ ] und partiarchale[ ] Autoritätsgläubigkeit«91 der Schwägerin scheint diese und ihren Mann an die Stelle zu versetzen, die im Frühwerk der Katholizismus und Patriarchat repräsentierende Vater eingenommen hat, ja mehr noch: die »Herrschaft« scheint »noch üblere Formen angenommen« zu haben »als zu des harten alten ›Vaters‹« Zeiten, wie Aspetsberger feststellt,92 und ihre Darstellung sticht in ihrer Drastik gegenüber der nun zurückhaltender verfahrenden Präsentation des Vaters umso mehr hervor. Dieser – als zum Erzählzeitpunkt bereits Gestorbener seiner Kraft offensichtlich beraubt – erscheint jetzt bisweilen sogar in einer mit dem Erzähler solidarischen Rolle, etwa wenn er diesen darauf hinweist, dass er sich vor den Anschlagsplänen des Bruders und seiner Freunde »Schöndarm Pelé«93 und Frido Lemmerhofer in Acht nehmen solle:

»›Schlag, schlag zu, ich spüre nichts mehr!‹« entgegengetreten sei, was der anhaltenden körperlichen Züchtigung ein Ende gesetzt habe. Vgl. Winkler: Roppongi, S. 63 f. 88

Winkler: Roppongi, S. 67.

89

Winkler: Roppongi, S. 89.

90

Zum bevorzugten Objekt ihres Hasses wird der Erzähler, während Habgier und Eitelkeit sich darin äußern, dass sich beide nach einem Dubai-Urlaub mit Falschgold und glitzernden Ringen schmücken oder aber den hochbetagten Vater dazu drängen wollen, selbst für die eigene Beerdigung vorzusorgen. Ein Widerspruch zwischen Reden und Handeln ergibt sich auch in der zeitlichen Koinzidenz der Unterzeichnung des Hofübergabevertrags mit dem Herziehen über Familienmitglieder, insbesondere die Schwester des Erzählers und des Hoferben, Apollonia. Vgl. Winkler: Roppongi, S. 85–90.

91

Winkler: Roppongi, S. 86.

92

Aspetsberger: Josef Winklers ›Roppongi‹, S. 15.

93

Winkler: Roppongi, S. 79.

274 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE Außerdem warnte mich der Vater – wiederum in der Küche unter dem Herrgottswinkel sitzend –, daß ich aufpassen, mich nicht erwischen, nicht alleine in den Wald oder in die Auen gehen solle […], denn das aus Kamering gebürtige Trio […] möchte[ ] mir gerne […] einen Denkzettel verpassen […] mich zusammenschlagen, einmal so richtig wampsen, durchwampsen, um die Sprache des verschwörerischen Trios zu gebrauchen: ›Es kommt nur drauf an, wie die Medien drauf reagieren werden!‹ […], so der Vater als Nacherzähler dieser gegen Leib und Leben gerichteten Drohungen.94

Im Vater-Sohn-Verhältnis entsteht so eine gewisse grundlegende Solidarität, bei aller Ambivalenz: Schließlich ist es einer der drei ›Verschwörer‹, Frido Lemmerhofer, der den Vater zu seinem »Fluch«95 gebracht hat, demzufolge er den Sohn nicht auf seiner Beerdigung haben wolle – die hierfür ursächliche Erzählung, nach der dem betrunkenen Lemmerhofer, der von seiner Frau in den Stall geworfen wurde, von seinen Schweinen die Hoden abgefressen worden seien, wird in Roppongi nochmals detailliert aufgeführt, womit dem Vermächtnis des Vaters, derartige Schreibereien künftig unterlassen zu sollen, entgegengehandelt wird.96 Während der Vater zuvor als uneingeschränkt die Ordnung des Dorfes vertretende Instanz erschien, die die identitätsstiftende Abkehr des Sohnes hervorrief, wird nun deutlich, dass er selbst sich in einem Spannungsfeld bewegt, das von der Anerkennung der Dorfbevölkerung und ihrer Sitten und Gebräuche, jedoch auch von der Solidarität mit dem diesen kritisch gegenüberstehenden Sohn geprägt ist. Der Vater erscheint durch eine solche nuancierte Darstellung, die nicht allein bestimmt ist von mit negativen Wertungen belegten Biographemen, nicht mehr ausschließlich als Typus des autoritären, gewaltsamen Patriarchen. 6.3.3 »Ihr erinnert euch …« – Die gewandelte Erzählinstanz vor dem Hintergrund ihrer literarischen Vorgeschichte Roppongi reflektiert in verschiedener Weise die literarische Vorgeschichte des Vater-Sohn-Verhältnisses in Winklers Werk und lässt somit eine Perspektive zu, die es ermöglicht, die Entwicklung dieser Beziehung über den Werkkontext hinweg zu untersuchen. In der Begründung der Indien-Reise im Gespräch mit dem dieser gegenüber kritisch eingestellten Vater wirft der Erzähler den Blick zurück:

94

Winkler: Roppongi, S. 90 f. Hervorhebung im Original.

95

Winkler: Roppongi, S. 66.

96

Vgl. Winkler: Roppongi, S. 80–83.

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Ich hatte aber immer die Hoffnung, daß ich mich von meinen katholischen, dörflichen Themen eine Zeitlang würde lösen und neues Material zum Schreiben […] würde finden können, denn der Stoff war mir vorläufig ausgegangen […], denn in der Zwischenzeit hatte ich auch, nach Jahren der Abwesenheit zum Vater zurückgekehrt, ihm auf Schritt und Tritt folgend, eine Rückkehr des verlorenen Sohnes geschrieben […], war mit ihm auf die Felder und in die Wälder gegangen, um ihn zu beobachten, auszuhorchen, mir von seiner Kindheit und Jugend und auch neuerlich seine Kriegsgeschichten erzählen zu lassen und um wieder, aus anderer Perspektive, mit meinem Filmkamerakopf die hintersten und verborgensten Winkel meiner Kindheit ausleuchten zu können.97

Der Erzähler spielt hier mit dem Verweis auf den Topos der »Rückkehr des verlorenen Sohnes« an auf das Buch Der Leibeigene, das an die Vorgeschichte der ersten drei Romane anschließt und 1987, im Abstand von fünf Jahren zum Erscheinen von Muttersprache, publiziert wurde. Die Themenwelt des katholischen Dorfes erscheint dabei als Material, von dem sich der Erzähler in seinem Schreiben weiterhin nur schwer losmachen kann, wie im Zusammenhang mit der Trilogie Das wilde Kärnten oben festgestellt wurde; wie Roppongi zeigt, wird das dort verschriftlichte Kamering seinerseits zum intertextuellen Materialsteinbruch, auf den nun zurückgegriffen werden kann. Die Reise nach Indien soll hier einen Wechsel hervorbringen, dessen Gelingen einerseits vom unterdessen erschienenen Roman Domra. Am Ufer des Ganges beglaubigt, andererseits von der Rückkehr zu den alten Themen im veränderten Gewand, die Roppongi bietet, jedoch tendenziell dementiert wird: Die Gestaltung der Erzählinstanz basiert, neben der Hinzufügung dieser Reisetätigkeit und der Darstellung als international anerkannter, gefragter Autor, für den mithilfe der österreichischen Botschaft Lesereisen nach Indien und Japan organisiert werden, weiterhin auf den tradierten Biographemen, die hier abermals aufgegriffen werden. Roppongi spielt dabei mit der Erwartungshaltung der durch das Frühwerk des Autors vorgebildeten Leser, wenn diese direkt angesprochen werden: »ihr erinnert euch, die Flut meiner Erinnerungsbilder beginnt mit meinem dritten Lebensjahr in dem Augenblick, als mich meine Tante Tresl, die gute Haut, ins Aufbahrungszimmer meiner an gebrochenem Herzen verstorbenen Großmutter führte«.98 Die Logik dieser Leseranrede ist die der Barthes’schen Biographemtechnik: Sie verlangt vom Leser die Aktualisierung der werkübergreifenden Zusammenhänge, zu denen unter anderem die – in Roppongi im Gegensatz zu den Todesszenen der Großeltern väter-

97

Winkler: Roppongi, S. 23.

98

Winkler: Roppongi, S. 143.

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licherseits99 nur knapp thematisierte – Szene gehört, in der das Kind mit dem Tod der Großmutter mütterlicherseits konfrontiert wird:100 Indem die Erinnerung des Erzählers hiermit einsetzt, wird dessen gesamte Gedankenwelt als durch den traditionellen kärntnerisch-katholischen Umgang mit dem Kreislauf von Tod und Leben geprägt dargestellt. Diese Prägung bleibt auch in Roppongi erhalten, wenngleich die im Ackermann aus Kärnten, wo die Szene erstmals auftaucht, demonstrative Solidarität mit der mütterlichen Seite der Familie in der Entgegensetzung gegen die Eltern des Vaters hier, einhergehend mit dessen milderer Bewertung, nicht mehr gleichermaßen betont wird.101 Von der Erzählung der eigenen Geburt und dem Vergraben der Nachgeburt im Misthaufen, die man in diesen habe »hineinrutschen lassen aus der weißen Emailwaschschüssel und wieder Stallmist darübergeworfen, während die aufgeplusterten Hähne an den Nabelschnurresten zerrten«102 – derselben Emailschüssel übrigens, mit deren Hilfe dem Text zufolge später die Großmutter väterlicherseits nach ihrem Tod gewaschen wird, was den Kreislauf von Geburt und Tod erneut aufnimmt103 –, über das kreuzförmig gebaute Dorf104 bis hin zu den »Stricken, mit denen sich die Dorfjugend erhängt, Kälber auf die Welt gezogen und Kinder geschlagen werden«, die nun auch noch dazu dienen, dass der Sarg eines Verstorbenen »in die Erde hineingelassen«105 werden kann, bleiben die entscheidenden biografischen Koordinaten erhalten, die die Vernetzung des eigenen Lebens

99

Beide Großeltern väterlicherseits sterben in der »Zeit der Gladiolen«; das so betitelte Kapitel ist der Darstellung dieser beiden Tode gewidmet. Vgl. Winkler: Roppongi, S. 33–43.

100 Vgl. die Schilderung in Der Ackermann aus Kärnten: »Meine Kindheitserinnerung setzt in dem Augenblick ein, wo mir die Tante die tote Mutter meiner Mutter zeigte […]. Damals war ich drei Jahre alt. Mein erster Mensch ist eine tote Frau, nicht Adam oder Eva oder ein Menschenaffe.« Winkler: Das wilde Kärnten, S. 346 f. 101 Im Ackermann aus Kärnten geht der Schilderung des Todes der Großmutter mütterlicherseits die Anklage gegen die Mutter des Vaters voran: »Großmutter, wenige Jahre nach dem Tod der Mutter meiner Mutter sagtest du, daß jetzt schon fünf Jahre her sind, seit deine Muata hin is. Warum konntest du nicht sagen, daß sie gestorben oder daß sie tot ist. Du hast Wörter verwendet, mit denen man von toten Tieren spricht. […] Immer wieder von neuem gekränkt hat es mir meine Mutter erzählt, wenn wir, als du längst tot warst, über dich sprachen.« Winkler: Das wilde Kärnten, S. 339. Hervorhebung im Original. 102 Winkler: Roppongi, S. 25. 103 Vgl. Winkler: Roppongi, S. 95. 104 Vgl. Winkler: Roppongi, S. 37. 105 Winkler: Roppongi, S. 57.

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und Denkens mit den Ritualen des Geborenwerdens und Sterbens sichern. Wenn der Vater, der früher Kälber auf die Welt gebracht und seine Kinder mit dem Kalbstrick verprügelt hat, nun, da sein Sohn »mehrere tausend Kilometer entfernt von seinem Sterbebett und von seinem Erdloch, das bereits ausgehoben war«, in dieses mit »Hanfstricken hinabgelassen« wird, schließt sich auch symbolisch der Kreis.106 Die Biographeme, die die Darstellung des Autor- und Erzählersubjekts im Frühwerk geprägt haben, bleiben also erhalten und ihre Mehrfachcodierung wird durch den Einbezug des Lesers, der ausdrücklich aufgefordert wird, sich dieser intertextuellen Perspektive zu erinnern, in den Requiemtext für den Vater übernommen. Eine Loslösung von den Zusammenhängen des »katholischen, dörflichen« Lebens, das die Jugend des Erzählers bestimmt hat, findet also nicht statt, die in den frühen Romanen als identitätsprägend gekennzeichneten Kontexte behalten ihre Wirkmächtigkeit. In der Indien-Perspektive, die etwa die Hälfte des Textes von Roppongi bestimmt, zeigt sich jedoch eine Veränderung: Es tritt eine Relativierung der eigenen Herkunft durch die Konfrontation mit dem Fremden ein. Die Ereignisse und Denkweisen der Heimat werden nur mehr vergleichend herangezogen, das Interesse am Zusammenhang von Tod und Leben wird kanalisiert und bleibt auf einer nüchterneren Ebene. Die »Wortmaschine« in Menschenkind konnte zwar die dem Erzähler nahegegangenen Ereignisse noch in einen vermeintlich unpersönlichen Text umwandeln, doch gewann dessen aggressiv-positionsbeziehende Thematik im Sinne eines Plädoyers zugunsten der von der dörflichen Ideologie Marginalisierten die Oberhand. Jetzt können hingegen Füllfeder und Notizbuch den bisweilen erlebten Schrecken bannen und eine Bezugnahme auf das heimatliche Geschehen aus der Distanz mit der genauen Beobachtung der fremden Gebräuche verbinden. Die existenziell aufgeladenen Themen des Frühwerks erscheinen so aus neuer Perspektive und im Angesicht des väterlichen Todes gemildert, transponiert in eine stärker registrierende, weniger bildgewaltige Sprache. Wenn in Varanasi Leben und Tod direkt zusammengehen, nicht voneinander getrennt sind, ist das nur eine abstrakte Perspektive des Außenstehenden: Er kann sich hier losmachen von diesem direkten Zusammenhang, der als existenzieller Kreislauf der Rituale um Geburt, Gewalt und Tod sein Kinderleben geprägt hat, in dem er, wie es nun in einem ironisierenden Rückblick auf das eigene Werk heißt, »immer der erste Tote« gewesen ist.107

106 Winkler: Roppongi, S. 66. – Der Kalbstrick erscheint erneut auch in der mehrfach wiederkehrenden Beschreibung des Todes von Raudi Miklaus Vater, der sich »im Kuhstall erhängt hatte […] mit einem noch feuchten, schleimigen Hanfstrick, mit dem er in der Nacht zuvor zwei Brust an Brust zusammengewachsene Kälber auf die Welt gezogen hatte, die er erschießen und begraben mußte« (ebd., S. 85, vgl. ebd., S. 69, 86, 88). 107 Winkler: Roppongi, S. 89.

278 | A UTOBIOGRAFIETHEORIE IN DER P OSTMODERNE

6.4 Z WISCHENFAZIT Wie sich gezeigt hat, verfährt das Werk Josef Winklers werkübergreifend mit einer Technik der Ich-Darstellung, die von der Wiederkehr immer derselben Biographeme in sich wandelnder Form geprägt ist. Winklers Werk und seine Selbstdarstellung, wie sie anhand seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des GeorgBüchner-Preises 2008 in die Analyse einbezogen wurde, rekurrieren dabei in verschiedener Weise auf die an das Werk herangetragenen Referenzannahmen, indem sie sie einerseits aufnehmen und so die existenzielle Relevanz des Geschilderten zu beglaubigen suchen, andererseits aber in der ästhetischen wie intertextuellen Überformung vermeintlicher Lebensereignisse konterkarieren: In den Vordergrund rückt so die künstlerische Gestaltung der einzelnen Biographeme mithilfe einer exaltierten Bildlichkeit, die sich zudem im Einzelnen an literarischen Vorläufern orientiert, was ihre Referenzialität grundsätzlich infrage stellt und mithilfe der über das eigene Werk hinausweisenden Textbezüge die Anschlussfähigkeit für Kenner der anderen Werke sichert. Kalbstrick, Vater-Sohn-Krieg und dörflicher katholischer Ritus sind so vor allem im Sinne der sich daraus ergebenden ästhetischen Identitätskonstruktion von Belang, die auf die emotionale Verstrickung des Erzähler-Ichs als notwendige Textstrategie zurückgreift, wodurch eine bestimmte Wirkung erzielt wird: eine Authentizitätssuggestion Rousseau’scher Prägung, der gleichzeitig ein beträchtliches Skandalpotenzial eignet. Textuelle Signale der Authentizität werden dabei als artifizielle Konstruktion auf Grundlage von Biographemen deutlich – die Frage ihres Referenzcharakters spielt für diesen Effekt letztlich keine Rolle; im Gegenteil ist die intertextuelle Grundierung der Erfahrungen der Authentizitätssuggestion gerade dienlich, weil sie es ermöglicht, Vorkenntnisse des Lesers zu aktivieren und so Anschlüsse herzustellen. In Roppongi zeigt sich, inwiefern die Rahmenbedingungen dieser Subjektkonstruktion im Werk auch nach 25 Jahren weiterhin Geltung beanspruchen können. Das Frühwerk selbst wird hier zum Intertext, auf den in der konkreten Einbindung des Lesers in die Bedeutungskonstitution des Textes und die damit einhergehende Subjektkonstruktion zurückgegriffen werden kann. Eine exotische Außenperspektive rechtfertigt einen neuen Darstellungsmodus, der, ausgehend von der Außenseiterposition des Indien-Touristen und der Fremdheitserfahrung in der Konfrontation des Erzählers mit japanischen Traditionen, als abgeklärter Blick des Erzählers auf die eigene Biografie und das Verhältnis zum Vater dargestellt wird. Auch hier wird, in anderer Form, mit der Biographemtechnik gearbeitet, wenn einzelne Bilder, Lebensepisoden oder Konfliktszenen gewissermaßen als Epitheta ornantia in immer wiederkehrender Weise die Figurenkonzeption bestimmen. In der Abgeklärtheit der Durchführung erscheint der Zugriff auf die Vaterfigur als emotional weniger belastet, auf dem Weg zu einer Versöhnung begriffen, während die mit derselben Tech-

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nik in aggressiver Weise charakterisierten Dorfbewohner hierdurch als ebenso ästhetisch bestimmbarer Gegenpol zum identitätsbildenden Vater-Sohn-Verhältnis präsentiert werden. Verzichtet man in der Lektüre von Winklers Texten auf die Annahme einer referenziellen Darstellung des eigenen Lebens, öffnet dies den Blick auf die artifizielle Herstellung dieser Subjektsuggestion und ihre intertextuelle bzw. diskursive Verankerung. Das Spiel des Autors mit der Referenzannahme in seiner Selbstdarstellung lässt sich so erst in einer deren ästhetischen Charakter offenlegenden Textanalyse durchblicken.

7.

Ganz bei sich: Paul Auster

7.1 L EBEN , S CHREIBEN , B EDEUTUNG – D IE A UTOBIOGRAFIE ALS FIKTIONALER T EXT Kunst und Leben sind, was ihre Fähigkeit angeht, Bedeutung zu transportieren, entgegengesetzte, miteinander unvereinbare Welten. So erläutert es seinen Lesern jedenfalls der Erzähler in Paul Austers The Invention of Solitude: In a work of fiction, one assumes, there is a conscious mind behind the words on the page. In the presence of happenings in the so-called real world, one assumes nothing. The made-up story consists entirely of meanings, whereas the story of fact is devoid of any significance beyond itself.1

Zugegeben, wenn hier bereits ein verschämt relativierendes »one assumes« in diese These eingebaut wird, könnte man bereits hellhörig werden. Und zwei Seiten später sieht man seine Hellhörigkeit bestätigt, wenn – im Anschluss an weitere Definitionen und nähere Beschreibungen des Unterschiedes zwischen dem Leben und dem Kunstwerk – der Fokus auf den vorliegenden Text selbst zurückgerichtet wird. Bedeutung gibt es nur in Texten, die mit dem Leben nichts zu tun haben? Texte, die das Leben beschreiben – womöglich: Autobiografien –, bilden nur die bloßen Tat-

1

Auster: The Invention of Solitude, S. 156. – Eine frühere Version der Analysen von The Invention of Solitude und Travels in the Scriptorium ist bereits erschienen als Robert Walter: »… the story of fact is devoid of any significance beyond itself.« Zur Intertextualität als Konstituente einer postmodernen Autobiografik in The Invention of Solitude und Travels in the Scriptorium. In: Christian A. Bachmann u. Simone SauerKretschmer (Hg.): Paul Auster – Werk und Poetik. Essen: Christian A. Bachmann Verlag 2012, S. 13–31.

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sachen ab, tragen keine Bedeutungen? Die Wahrnehmung, mit der dieser Abschnitt des Textes endet, legt etwas anderes nahe: His life has no meaning. The book he is writing has no meaning. […] A young man, twenty years later, winds up living in the same room where his father faced the horror of solitude. […] It means only what it is. Nothing more, nothing less. Then he writes: to enter this room is to vanish in a place where past and present meet. And then he writes: as in the phrase ›he wrote The Book of Memory in this room‹.2

Der Erzähler, der hier als der Verfasser des »Book of Memory« – also des zweiten Teils des vorliegenden Werkes – präsentiert wird, begibt sich sehenden Auges in einen performativen Selbstwiderspruch. Die Bedeutungslosigkeit der Schriftstellerei vom Leben wird zunächst behauptet – und im Aufnehmen des Schreibens wird ihr umgehend widersprochen: Jemand, der, sein Leben beschreibend, an einem Ort verschwindet, wo sich Gegenwart und Vergangenheit treffen, begibt sich gewissermaßen automatisch aus dem Raum des Lebens hinaus (schließlich verschwindet er ja) und betritt den Raum der Kunst, der Schriftstellerei, in dem Bedeutung zu Hause ist und in dem derartige Wiederholungen nicht mehr der über den Gesamttext beschworene Zufall – Chance3 – sind, sondern bedeutungstragende Elemente eines Kunstwerks werden. Indem das – bedeutungslose, zufällige – Leben aufgeschrieben wird, so lässt sich die angeführte Passage deuten, wird es immer schon »a work of fiction«, unterliegt es also dem literaturspezifischen Effekt der Produktion von Bedeutung. Die traditionelle Gattungsgrenze zwischen Autobiografie und Roman lässt sich, folgt man dieser Lesart, damit nicht aufrechterhalten, basiert sie doch, legt man beispielsweise Lejeunes Definition zugrunde, genau darauf, dass Autor und Leser der Autobiografie einen Pakt eingehen, der verbürgen soll, dass alles, was in der Autobiografie geschildert wird, dem Leben genau entspricht. Die Autobiografie und die Biografie sind Lejeune zufolge »referentielle Texte: Sie erheben genauso wie der wissenschaftliche oder der historische Diskurs den Anspruch, eine Information über eine außerhalb des Textes liegende ›Realität‹ zu bringen und sich somit der Wahrheitsprobe zu unterwerfen«.4 Autor und Leser vereinbaren dabei, so heißt es, dass »Identität zwischen dem Autor, dem Erzähler und dem Protagonisten«5 der Auto-

2

Auster: The Invention of Solitude, S. 158.

3

Vgl. Auster: The Invention of Solitude, S. 84, 92 f., 99, 143, 153.

4

Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 39. Hervorhebungen im Original.

5

Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 15. Hervorhebungen im Original.

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biografie bestehe, wobei der Autor »eine tatsächliche Person«6 ist. Der Unterschied zwischen Autobiografie und Roman ist demzufolge, dass dieser Pakt im Letzteren nicht gilt; der »Romanpakt« verlangt eine »offenkundige Praxis der NichtIdentität«7 der benannten Instanzen. Folgt man jedoch der Sicht, die in The Invention of Solitude propagiert wird, führt eine derartige Unterscheidung zu nichts: Die Grenze zwischen dem referenziellen Text – der Autobiografie – und dem fiktionalen Text – dem Roman – kann so nicht aufrechterhalten werden, denn sobald das Schreiben einsetzt, befindet sich der Autor nicht mehr im Leben, er ist verschwunden in dem Raum, wo die Regeln des an sich bedeutungslosen Lebens nicht mehr gelten. Mit anderen Worten: Da, wie jeder Text, auch die Autobiografie ein fiktionaler Text ist, laufen Unterscheidungen von Autobiografie und Fiktion, die sich am benannten Referenzkriterium orientieren, ins Leere.8 Die Konzeption von Autobiografie und fiction, die in Austers Text vorliegt, entspricht damit bis zu einem gewissen Punkt der Sichtweise, die auch bei Hayden White artikuliert wird. Wenn dort auch nicht in gleicher Weise auf die Frage der Bedeutungsgenerierung abgehoben wird, gleichen sich beide Konzepte doch darin, dass sie die Ununterscheidbarkeit von historisch-referenziellem und fiktionalem Text betonen. Ohne dass dabei eine Aussage über den Wahrheitsgehalt der historischen Bezugnahme getroffen würde, stellt White wie Austers Erzähler fest, dass allein die Tatsache, dass historische Ereignisse in einem Text aufbereitet werden, mit dem Herstellen von Sinnzusammenhängen und Bedeutung einhergeht, die den Ereignissen so selbst nicht innewohnen. Wenn man also in Bezug auf The Invention of Solitude von einem autobiografischen Text sprechen möchte, bedarf es einer anderen Gattungsdefinition. Autobiografisch kann dann nicht mehr heißen, dass ein Text auf einen ihm äußerlichen Gegenstand verweist, sondern an die bei Auster gewählten Begriffe anknüpfend könnte man autobiografische Texte als solche fiktionalen Texte kennzeichnen, deren Produktion von Bedeutung sich vor allem auf das schreibende Subjekt richtet. Fragen in Bezug auf eine in dieser Weise gefasste Gattung Autobiografie wären dementsprechend: Was bedeutet es, zu schreiben? Wie vermittelt der Schreibakt ei-

6

Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 23.

7

Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 29.

8

Vgl. hierzu die Auseinandersetzung mit Hayden White in Kap. 2.1. Noch weiter gehen Lacan und Derrida mit den Konzepten der Jouissance und der Dissémination, die in der Auster-Forschung für diese These in Anspruch genommen worden sind, mir jedoch aus textanalytischer Sicht weniger geeignet erscheinen, die postmoderne Rekonzeptualisierung des Subjekts zu verdeutlichen: vgl. Bernd Herzogenrath: An Art of Desire. Reading Paul Auster. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1999.

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nes autobiografischen Subjekts den Zusammenhang des Einzelnen mit der ihn umgebenden Welt? Und: Wie lässt sich ein Subjekt überhaupt innerhalb von Texten verorten, welche Stelle besetzt das Subjekt im Text, wenn man das »conscious mind behind the words on the page«9 als textinterne Instanz konzeptualisiert und nicht auf einen außerhalb des Textes stehenden Autor rekurriert? Innerhalb des ununterscheidbaren Feldes von Fakt und Fiktion verortet sich in autobiografischen Texten ein schreibendes Subjekt im Text. Subjektivität wird so zur (inter)textuellen Konstruktion, sie wird nicht mehr als außertextliches, historisches Faktum wahrgenommen, das eins zu eins in den Text transportiert werden könnte, sondern ist ein Konzept, das für die Textanalyse offen ist. Im Folgenden soll die These verfolgt werden, dass die subjekt- und erkenntnistheoretische Grundlage, die Auster in seinen frühen Werken schafft, letztlich als Konstituente des Gesamtwerks gelten kann, das somit als Ganzes im neu etablierten Sinn des Wortes autobiografischen Charakter hat. In einem ersten Schritt wird dazu anhand von Austers erster Prosaveröffentlichung, The Invention of Solitude, genauer gezeigt, welche Rolle das schreibende Subjekt hier einnimmt und durch welche (vor allem intertextuellen) Strategien es erkennbar gemacht wird, bevor in einem weiteren Schritt auf Austers andere als autobiografisch rezipierte Textsammlungen – beispielhaft The Red Notebook – eingegangen wird. Abschließend soll der Versuch gemacht werden, die hier erkannten Grundlagen auch auf das ›Spätwerk‹ zu beziehen und sie in dem Roman Travels in the Scriptorium nachzuweisen, der unter den herausgearbeiteten Prämissen schließlich nicht hinsichtlich der Gattung von den anderen Texten unterschieden werden muss.

7.2 D AS L EBEN IM T EXT › ER - FINDEN ‹ – T HE I NVENTION OF S OLITUDE The Invention of Solitude ist in weiten Teilen der (auch wissenschaftlichen) Rezeption als autobiografischer Text im klassischen Sinne des Wortes aufgefasst worden.10 Die »manifold interlockings of life and fiction«,11 von denen Austers Texte

9

Auster: The Invention of Solitude, S. 156.

10

The Invention of Solitude »is almost always referred to as an autobiography«, diagnostiziert etwa Herzogenrath: An Art of Desire, S. 2. Vgl. z.B. die autobiografischen Lesarten bei Derek Rubin: »The Hunger Must Be Preserved at All Cost«: A Reading of »The Invention of Solitude«. In: Dennis Barone (Hg.): Beyond the Red Notebook. Essays on Paul Auster. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1995,

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geprägt sind, sind in diesem Falle meist so aufgelöst worden, dass die biografischen Rahmendaten aus dem Leben Austers als nur leicht verfremdete Grundlage der Darstellung in The Invention of Solitude angesehen wurden. So einleuchtend der Drang nach einer solchen Lesart sein mag – das im Text thematisierte Verhältnis von Faktendarstellung und Fiktionalität bildet sie nicht hinreichend ab. Dass der Rückgriff des Textes auf biografische Daten seine Tücken hat, wird vor allem in seinem ersten Teil – »Portrait of an Invisible Man« – deutlich: Schon der Titel signalisiert ja, dass der zu beschreibende Gegenstand dieser (auf den Vater der Erzählinstanz fokussierten, demnach auf den ersten Blick eher biografischen als autobiografischen) Erzählung nicht sichtbar ist und also die Beschreibungen a priori Vergegenwärtigungen eines Abwesenden sind. Die im Text niedergelegte Schreibmotivation des Erzählers spiegelt genau diese Grundsituation wider: »I knew that I would have to write about my father. […] I thought: my father is gone. If I do not act quickly, his entire life will vanish along with him. […] my father had left no traces.«12 Die Spurlosigkeit des väterlichen Verschwindens, mithin die Tatsache, dass für den Übergang in die Literatur kein reales Vorbild mehr vorhanden ist, wird hier geradezu als die Ausgangsbedingung des Schreibens präsentiert. Wo keine Spuren sind, muss die schriftstellerische Imagination einsetzen – oder das Schweigen: »My choices are limited. I can remain silent, or else I can speak of things that cannot be verified.«13 Von Anfang an ist also klar, dass der biografische Text keine Abbildung der Wirklichkeit liefern kann, sondern in einem fiktionalisierenden Prozess zwischen überkommenen Resten14 und der dichterischen Einbildungskraft15

S. 60–70, und Aliki Varvogli: The World that is the Book. Paul Auster’s Fiction. Liverpool: Liverpool University Press 2001, S. 9–12. 11

Herzogenrath: An Art of Desire, S. 11. Vgl. auch die Feststellung von Ilana Shiloh und die daran anschließende Frage, die sich große Teile der Auster-Forschung stellen: »reality is compromised by fiction; [...] the intriguing question remains, who is the origin of whom?« Ilana Shiloh: Paul Auster and Postmodern Quest. On the Road to Nowhere. New York u.a.: Lang 2002, S. 32.

12

Auster: The Invention of Solitude, S. 6.

13

Auster: The Invention of Solitude, S. 21.

14

Diese Reste, übrig gebliebene Dinge aus dem Leben des Verstorbenen, besitzen keine Spuren mehr von diesem Menschen, sie werden zu trägen, sinnlosen Überbleibseln. Vgl. Auster: The Invention of Solitude, S. 10: »Things are inert: they have meaning only in function of the life that makes use of them.«

15

An dieser Schnittstelle setzt die Fiktionalitätstheorie Wolfgang Isers an mit den einen fiktionalen Text hervorbringenden »Akten des Fingierens«, die zwischen dem ›Realen‹ und dem ›Imaginären‹ vermitteln. Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 18–60.

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sein »Porträt eines Unsichtbaren« »erfinden« muss, wie man es in der Kombination der beiden Titel dieses Abschnitts beschreiben könnte, hat der Sohn doch auch bereits im Leben diesen »invisible man« nicht zu greifen bekommen: »If, while he was alive, I kept looking for him, kept trying to find the father who was not there, now that he is dead I still feel as though I must go on looking for him.«16 Der Text über den Vater wird so zur Suche nach dem Vater selbst – und die Chancen, dass er im Zuge des Er-findens ge-funden wird, sind genauso gut wie zu Lebzeiten: »Death has not changed anything.«17 Insbesondere gilt dies deshalb, weil die Dinge, die der Vater zu Lebzeiten selbst erzählt hat, offenbar ebenfalls erkennbar das Mittel der Fiktion bemüht haben: he hid the truth about his age, made up stories about his business dealings, talked about himself only obliquely – in the third person, as if about an acquaintance of his […]. Whenever a situation became too tight for him, whenever he felt pushed to the verge of having to reveal himself, he would wriggle out of it by telling a lie. Eventually, the lie came automatically and was indulged in for its own sake.18

Die Biografie über den Vater entsteht im permanenten Bewusstsein der Tatsache, ihn selbst nicht begreifen und ihm selbst nicht auf die Schliche kommen zu können. Der immer schon unsichtbare (und gleichermaßen undurchschaubare) Vater bleibt unsichtbar und undurchschaubar.19 Die Wege, die der biografische Text einschlägt, folgen somit weniger den Eigenschaften und Grundanlagen desjenigen, dessen Biografie geschrieben wird, sondern sie unterliegen den Auswahlprinzipien des Schreibenden. Das wird etwa deutlich, wenn eine mehrseitige Beschreibung des väterlichen Wohnhauses in der Einschätzung seines Biografen gipfelt: his life was not centered around the place where he lived. His house was just one of many stopping places in a restless, unmoored existence […]. Still, the house seems important to me […]. The house became the metaphor of my father’s life, the exact and faithful representation of his inner world.20

16

Auster: The Invention of Solitude, S. 7.

17

Auster: The Invention of Solitude, S. 7.

18

Auster: The Invention of Solitude, S. 16.

19

Die Absicht, hinter das von außen Sichtbare zu gelangen, wird mithin rasch als unerreichbares Ziel anerkannt: »To recognize, right from the start, that the essence of this project is failure.« Auster: Invention of Solitude, S. 21.

20

Auster: The Invention of Solitude, S. 9 (Hervorhebungen: RWJ). Vgl. auch ebd., S. 13 f., wenn der Erzähler »several hundred photographs« findet, die ihm in der Folge

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Obwohl der Vater, wie der Sohn feststellt, überhaupt nicht besonders an seinem Haus interessiert war, erscheint es dem Biografen wichtig – er ist es, der die Entscheidung trifft, das Bild des Vaters im Zusammenhang mit dessen Wohnhaus zu zeichnen, und er ist es auch, der einen Begriff aus dem Bereich der Literaturtheorie – den der Metapher21 – verwendet, um das Verhältnis zwischen Haus und Vater zu beschreiben. In doppelter Weise verwirklicht sich hier das fiktionalitätstheoretische Konzept von The Invention of Solitude: Es wird verdeutlicht, dass der referenzielle Rückgriff auf die Realität nicht zentraler Gegenstand der Lebensbeschreibung ist (die Beschreibung des Vaters kann, wie gesehen, sogar dessen Einstellungen gegenüber genau entgegengesetzt verlaufen); und es wird klar, dass man es nicht mit dem vorgeblichen bedeutungslosen Schreiben über das Leben zu tun hat, sondern dass die Beschreibung der Lebensumstände des Vaters direkt auf Fragen der Bedeutungsgenerierung mittels sprachlicher Bilder hinausläuft, mithin Fragen in dem Bereich, der die Fiktionalität betrifft: Nur im Text kann das Haus zur Metapher werden, dem Leben ist diese Auffassung fremd. Die Biografie wird so einerseits als fiktionaler, literarischer Text offengelegt, andererseits entwirft sie gleichzeitig ein Bild des Biografen selbst, indem sie dessen Auswahlkriterien in den Mittelpunkt des Interesses rückt und den Text als Resultat dieser subjektiven Auswahlkriterien ausweist. Als auf den Schreibenden verweisender Text, der eine textuelle Verankerung des schreibenden Subjekts möglich macht, wird die so wahrgenommene Biografie letztlich auch zum autobiografischen Text – und zwar weil die Schilderung des väterlichen Lebens in allererster Linie seine Schilderung ist und also über die Kriterien der formalen und inhaltlichen Gestaltung auf den Verfasser des Textes selbst als »conscious mind behind the words on the page« zurückweist.22

als Erzählanlass dienen, jedoch gleich beim Fund die vermutliche Irrelevanz der Bilder für den Vater feststellt: »From the way they had been stored I gathered he never looked at them, had even forgotten they were there. […] I found them irresistible, precious, the equivalent of holy relics.« (Hervorhebung: RWJ) 21

Die Metapher als »Sprungtrope« basiert, anders als etwa die Metonymie (die im Verhältnis Haus/Bewohner vielleicht zunächst einmal die näherliegende Trope wäre), auf der Herstellung einer Beziehung zwischen zwei Bildbereichen, die kein Realbezug verbindet. Insofern unterstreicht die Wahl dieses Terminus die Arbitrarität der Herstellung dieser Beziehung durch den Schreibenden.

22

Angesichts dieser Perspektiven erscheint eine Lektüre des Textes, die diesen auf das Projekt »to get as close as possible to the wound of separation from traditional Judaism« reduziert, als zu einseitig und existenzialistisch grundiert. Ausgehend von Derrida – einer insgesamt für die autobiografietheoretische Grundlegung vielversprechenden und, wie ihre Arbeit zeigt, tragfähigen Grundlage – unternimmt ein derartiges

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Der Erzähler hält das, von dem hier erzählt werden soll, als früheste Grunderfahrung seines Lebens fest: »Earliest memory: his absence«.23 Die Einsamkeit, so könnte man denken, muss also gar nicht erfunden werden, eine »invention of solitude« erscheint unnötig, wenn die reale Erfahrung des Alleinseins einen solch hohen Stellenwert zugeschrieben bekommt. Dennoch legt der Text den Fokus nicht auf die reale Existenz, sondern auf die Erfindung der Einsamkeit: Nur weil sie im Text erschaffen wird, spielt sie hier überhaupt eine Rolle. Erst indem die Biografie des abwesenden Vaters geschrieben wird und das erfindende Ich so gleichzeitig im Text mit entsteht, erhält die Einsamkeit tatsächlich eine Bedeutung. Der fiktionalisierende Grundzug im Titelbegriff der »Invention« hat dabei eine historische Nebenbedeutung, die ein besonderes Licht auf diesen Vorgang der Erfindung der Einsamkeit wirft. Der Redner bedient sich – der antiken rhetorischen Tradition folgend – beim Verfassen einer Rede zunächst dieses Schrittes der inventio, der der »Findung plausibler Argumente« und weiter von »Stoffen und Inhalten in allen Teilen der Rede« dient.24 Im traditionellen Sinne ist jedoch mit diesem Erfinden kein freies Spiel der kreativen Imagination gemeint, sondern der Rekurs auf Argumente und Ideen, die im Inventar der schon gehaltenen Reden und der vorliegenden Literatur bereits gespeichert sind: der Rückgriff auf eine Topik.25 Das Projekt der »Erfindung« ist damit von vornherein intertextuell angelegt, und zwar in dem Wissen darum, dass Erfahrungen als solche demjenigen, an den sich eine Rede richtet, zunächst einmal nichts sagen – sie lassen sich als Erfahrungen nicht textuell vermitteln. Vielmehr bedarf es bestimmter Techniken, um dem Rezipienten zu signalisieren, welche Konsequenzen mit einer bestimmten Erfahrung verbunden sind, und diese somit für ihn nachvollziehbar zu machen, obwohl er sie selbst nicht erlebt hat.26 Die topische Bezugnahme auf geteiltes Wissen ist demnach ein seit der Anti-

Projekt Kathrin Krämer: Walking in Deserts, Writing out of Wounds. Jewishness and Deconstruction in Paul Auster’s Literary Work. Heidelberg: Winter 2008, hier S. 73. 23

Auster: The Invention of Solitude, S. 21.

24

Manfred Kienpointner: Inventio. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der

25

Vgl. hierzu den instruktiven Überblick bei Georg Braungart: Topik und Phantasie. In:

Rhetorik. Bd. 4. Darmstadt: WBG 1998, Sp. 561–587, hier Sp. 561. Thomas Schirren u. Gert Ueding (Hg.): Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposion. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 307–320. 26

Das Zusammenspiel von Topik und Phantasie bzw. Imagination ist geradezu die Basis für das Denken: »Wenn das Denken direkt mit dem Material arbeiten müßte, dann ginge das ja immer nur dann, wenn gerade aktuell Sinneseindrücke vorhanden sind« – ein Faktum, das, wie Braungart zu Recht deutlich macht, fatale Konsequenzen für Denken und Kommunikation nach sich zöge (Braungart: Topik und Phantasie, S. 310).

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ke gängiger Ersatz für das Schildern wirklicher Erfahrungen – und hat selbstverständlich in der Moderne eifrige Nachahmer gefunden, etwa in Hayden Whites Begriff des Emplotments, dem die Erkenntnis zugrunde liegt, dass jeder auf außertextliches Wissen rekurrierende Text sich verschiedener narrativer Muster, die im kollektiven Gedächtnis als bekannt vorausgesetzt werden können, bedienen muss.27 Georg Braungart versteht dementsprechend mit Lothar Bornscheuer die Topik als Instrument, das »die Spielräume gesellschaftlicher Phantasie ab[steckt]«28 und damit Kommunikation erst möglich macht – ohne den Rekurs auf gesellschaftlich anerkannte Topoi, so kann man diese Beschreibung ausweiten, ist die Kommunikation über das, was in der Welt wahrgenommen werden kann, überhaupt nicht möglich, eine Verständigung über Erlebnisse kann ohne sie nicht stattfinden. Sowohl das »Portrait of an Invisible Man« als auch das »Book of Memory« operieren ganz offensichtlich mit dieser Figur: Nicht die Erinnerungen aus erster Hand stehen im Mittelpunkt und erscheinen uns als die prägenden Merkmale des zum Schriftsteller gewordenen Protagonisten, sondern wir erhalten Informationen über ihn aus vorgegebenen Plots, überlieferten Topoi oder Intertexten, die an das geschilderte Leben und Denken der Erzählinstanz angekoppelt werden. Die Entstehung eines Subjekts im Text erscheint so als intertextuelle Konstruktion, als Übernahme bestehender Topoi, sie kann beschrieben werden als Emplotment einer Lebensgeschichte im Anschluss an intertextuelle Vorläufer.29 Besonders markant ist

27

Vgl. oben Kap. 2.1; vgl. v. a. White: Tropics of Discourse, S. 92 f. u. 110 f.

28

Braungart: Topik und Phantasie, S. 307. Vgl. Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976.

29

Für das »Portrait of an Invisible Man« sei verwiesen auf die »authenticity« produzierende Erzählung des Vaters von seinen vermeintlichen Abenteuern in Südamerika, die als »tale of high adventure« vorgetragen wird und von der es heißt: »His language was flowery and convoluted, probably an echo of the books he himself had read as a boy. But it was precisely this literary style that enchanted me.« (Auster: The Invention of Solitude, S. 23). Der Vater erweist sich mithin in dieser Situation als fähiger Rhetor, der sich günstiger Topoi bedient, um den gewünschten Authentizitätseffekt bei seinem Publikum – seinem Sohn – zu erzielen, obwohl (oder: weil) er seine Präsentation nach bestimmten literarischen Vorlagen gestaltet. Damit vollzieht er ein gelungenes Emplotment seiner Persönlichkeit, das so erfolgreich ist, dass dem Sohn erst Jahre später klar wird, dass die Geschichte wohl tatsächlich nicht auf Fakten aus der Erfahrung des Vaters beruhen kann. – Auch die Recherche des Erzählers zur Kindheit des Vaters bedient sich vorher bestehender Intertexte. Er entschlüsselt anhand von Zeitungsausschnitten über die Tötung des Großvaters durch die Großmutter, was diese Ereignisse für den Vater bedeutet haben könnten. Die Quellenbasis hierfür – Beiträge aus den Kenosha

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diese Überlagerung der vermeintlichen Erfahrung durch intertextuelle Topoi im zweiten Teil von The Invention of Solitude durchgeführt, dem »Book of Memory«, das die biografische Tendenz mit ihrer Orientierung am Vater zugunsten einer nun beinahe ausschließlich autobiografischen Orientierung am schreibenden Subjekt aufgibt.30 Ein Kompositionskriterium dieses Textes ist es, Textteile, die als Erfah-

Evening News, der örtlichen Tageszeitung – ist jedoch in ihrem Referenzcharakter äußerst zweifelhaft, denn der Erzähler beteuert zwar, »these articles as history« (ebd., S. 39) zu lesen, aber er weist gleichzeitig darauf hin, dass Zeugenaussagen offenbar von Reportern erfunden worden sind (vgl. ebd., S. 40), und macht deutlich, dass diese ›Geschichtsschreibung‹ sich vorhandener Plots bedient, wenn die Rede ist vom »Auster murder mystery« (ebd., S. 41) und von »the choicest diction of Victorian melodrama« (ebd., S. 42), derer sich die Artikel bedienen. Wenn er schließlich bekennt, dass er darauf angewiesen ist, aus den spärlichen Fakten, die er über das weitere Lebens seines Vaters weiß, »to form a fairly good idea of the climate in which the family lived« (S. 51, Hervorhebung: RWJ), wird deutlich, dass dieselben Zweifel, die gegen die Kenosha Evening News gerichtet werden, genauso auch dieses »Portrait of an Invisible Man« betreffen. 30

Während die Erzählsituation im »Portrait of an Invisible Man« noch von einer homodiegetischen Erzählinstanz gekennzeichnet war (und damit der klassischen Erzählstimme der Autobiografie), ist der Erzähler des »Book of Memory« ein heterodiegetischer. Ausgehend vom ersten Teil der Erzählung legt der Text damit die Vermutung nahe, dass der Sohn sich hier die Anonymitätstechnik des Vaters zunutze macht, indem er von sich selbst »in the third person, as if about an acquaintance of his« spricht (Auster: The Invention of Solitude, S. 16). Später im Text wird hierfür eine Analogie zum biblischen Buch Jona hergestellt, das – im Gegensatz zu den dessen Kontext bildenden prophetischen Büchern der Bibel – »the only one to be written in the third person« sei (ebd., S. 132 f.). Denselben Gedanken aufnehmend, der zuvor schon im Hinblick auf den Vater geäußert wurde, heißt es zur Begründung dieser Erzählanlage: »[B]y plunging in the darkness of solitude, the ›I‹ has vanished from itself. It cannot speak about itself, therefore, except as another.« (Ebd., S. 133.) Die Vater-Erzählung erweist sich mithin als von der Jona-Erzählung intertextuell determiniert (was eine Verbindung zwischen Glavinics Die Arbeit der Nacht und Austers Text konstituiert, vgl. Kap. 5.1). Auster löst hier in sehr spezifischer Weise das in der Auseinandersetzung mit dem biblischen Text entstehende Problem der Abweichung in der Erzählsituation, indem er Jona – entgegen der Anlage des Textes – als gewissermaßen versteckten Erzähler ansieht, eine Konstruktion, die man demnach für das »Book of Memory« übernehmen kann. Die traditionelle Forschung zum biblischen Text selbst nimmt dagegen – die Abweichung inhaltlich anders auslegend – das Buch Jona nicht als »Prophetenschrift«, sondern als »Lehr-

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rungen geschildert worden sind, jeweils umgehend in intertextuellen Vorläufern zu spiegeln.31 Der in einem verlassenen, weder von der Elektrizitäts- noch von der Telefongesellschaft wahrgenommenen Geschäftsgebäude hausende Protagonist mit dem Namen »A.« wird hier in seiner prekären Einsamkeit mit anderen Einsamen konfrontiert: Life inside the whale. A gloss on Jonah […]. Parallel text: Gepetto in the belly of the shark (whale in the Disney version), and the story of how Pinocchio rescues him. […] Initial statement of these themes. Further installments to follow. […] Crusoe on his island.32

Indem die Überblendung der geschilderten vermeintlichen Erfahrung mit bekannten Topoi der Einsamkeit als Produktionsmethode des vorliegenden Textes metapoetisch offengelegt wird – »Initial statement of these themes. Further installments to follow.« –, verweist der Text automatisch auf die schreibende Instanz. Sie ist hier nicht mehr als erfahrende Instanz (wie in der klassischen Autobiografietheorie) konturiert, sondern gewissermaßen als rhetorische Instanz, die das geschilderte Leben vor allem durch die Kombination verschiedener Intertexte für Dritte greifbar macht. Der Erzähler wird durch diese Technik »from the mimetic to the fictitious or

erzählung« wahr (vgl. den einführenden Text zum Buch Jona in: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Altes und Neues Testament. Aschaffenburg 1983, S. 1039). Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch den Forschungsbericht bei Meik Gerhards: Studien zum Jonabuch. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2006, hier S. 68 f. Hier ist ebenfalls von einer »Lehrerzählung« (Hans Seidel) oder einer »Novelle mit didaktischer Intention« (Jörg Jeremias) die Rede; erwähnt wird auch die Einschätzung von Hans Robert Jauß, der die Jona-Erzählung geradezu als Prototyp der literarischen Gattung der Novelle liest, weshalb man diese Erzählung so »cum grano salis als die erste Novelle der Weltliteratur ansehen kann«. Hans Robert Jauß: Das Buch Jona – ein Paradigma der »Hermeneutik der Fremde«. In: Hans Friedrich Geißer u.a. (Hg.): Wahrheit der Schrift – Wahrheit der Auslegung. Eine Zürcher Vorlesungsreihe zu G. Ebelings 80. Geburtstag am 6. Juli 1992. Zürich: Theologischer Verlag 1993, S. 260– 283, hier S. 276. Hervorhebung im Original. 31

Gudmundsdóttir hält dies als zentrales Kompositionskriterium des »Book of Memory« fest: »Auster writes on his life by remembering other lives, other writers, other stories, other texts.« Gunnthórunn Gudmundsdóttir: Borderlines. Autobiography and Fiction in Postmodern Life Writing. Amsterdam/New York: Rodopi 2003, S. 28.

32

Auster: The Invention of Solitude, S. 83.

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poetic grounds«33 verlagert, die Erzählung als »Invention« im doppelten Wortsinn von imaginativer Erfindung, aber auch von Topoi geleiteter inventio verstehbar.34 Autobiografietheoretisch relevant wird das Konzept der inventio in Austers Texten, weil der Verweis auf das schreibende Subjekt eben diese textuelle Produktion von Subjektivität im Zusammenspiel bekannter intertextueller Topoi an die Stelle der sonst in der Autobiografie gesehenen Schilderung des Erlebten setzt. Der Schreibende ist nicht in erster Linie als Erlebender relevant – denn die Kommunizierbarkeit des Erlebten als solches ist zu keinem Zeitpunkt gegeben –, sondern er ist relevant als derjenige, der die entscheidenden Topoi zwischen »Bibel« und »Disney« verknüpft, um die Anschlussfähigkeit seiner Schilderung in der Rezeption sicherzustellen, also die Möglichkeit zu gewährleisten, auch von jenen, die dasselbe nicht erlebt haben, verstanden zu werden. An einem Beispiel sei gezeigt, wie Auster ein solches intertextuelles Netzwerk bildet, um vermeintlich reale Erfahrungen textuell wahrnehmbar zu machen. Die Konstellation Vater/Sohn, die ja das ganze Projekt der Invention of Solitude sowohl in seinem ersten als auch in seinem zweiten Teil prägt, wird im zweiten Teil, der sie vor allem in der Beziehung »A.s« zu seinem Sohn Daniel aufgreift, von einem dich-

33

So Martine Chard-Hutchinson: Framing memory or the truth in pictures in Georges Perec’s Récits d’Ellis Island and Paul Auster’s The Invention of Solitude. In: dies. (Hg.): Figures de la mémoire dans la littérature et les arts juifs américains des XXe et XXIe siècles. Paris: Institut d’Etudes anglophones de l’Université Paris 7 2004, S. 31– 48, hier S. 38.

34

Nicht umsonst wird hier Cicero als Gewährsmann genannt, wenn ohne weitere Kommentierung dessen Hinweis an den Redner aufgenommen wird: »›One must consequently employ a large number of places [lat. loci, gr. topoi] […] which must be well lighted, clearly set out in order, spaced out at moderate intervals.‹« (Auster: The Invention of Solitude, S. 86. Vgl. Marcus Tullius Cicero: De Oratore. Lateinisch/Deutsch. Hg. u. übersetzt v. Theodor Nüßlein. Düsseldorf: Artemis & Winkler 2007, Buch II, Kap. 86, Nr. 353 f.) Nicht nur der Rückgriff auf die antike Rhetorik, sondern auch auf frühneuzeitliche Methoden der Ars Memorativa spielt in The Invention of Solitude eine Rolle und ermöglicht eine erneute metapoetische Rückbindung an Prinzipien der Topik. Vgl. ebd., S. 91, wo der Thesaurus Artificiosae Memoriae des Cosmas Rossellius aufgegriffen wird. – Hanne Bewernick stellt heraus, dass Austers Referenzen auf diese Autoren vermutlich als Zitate aus zweiter Hand aus Frances Yates’ The Art of Memory in seinen Text eingehen. Darüber hinaus betont sie die Relevanz von Erinnerungskonzepten der Renaissance für Austers Gesamtwerk. Vgl. Hanne Bewernick: The Storyteller’s Memory Palace. A Method of Interpretation Based on the Function of Memory Systems in Literature. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2010, hier S. 192.

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ten Netzwerk an intertextuellen (bzw. intermedialen35) Verweisen auf dieses besondere Verhältnis eingegrenzt. In der für das »Book of Memory« typischen metapoetischen Schreibweise, die den Eindruck vermittelt, der vorliegende Text sei nur gewissermaßen eine Anleitung zum Verfassen eines ausführlicheren, bebilderten Werks mit dem gleichen Titel, wird ein intertextuelles Netzwerk aufgerufen, das zunächst durch Bilder bestimmt ist: The Book of Memory. Book Four. / Several blank pages. To be followed by profuse illustrations. Old family photographs […]. / Afterwards, several sequences of reproductions, beginning with the portraits Rembrandt painted of his son, Titus. […] ›The face seems that of a weak old man ravaged with disease […] – we know that Titus will predecease his father …‹ / To be followed by the 1602 portrait of Sir Walter Raleigh and his eight-year-old son Wat […]. To note: the uncanny similarity of their poses. […] Wat, leading a reckless military charge against the Spanish, lost his life in the jungle. Raleigh to his wife: ›I never knew what sorrow meant until now.‹ […] Mallarmé’s son, Anatole; Anne Frank […]; the children of Cambodia; the children of Atlanta. The dead children. The children who will vanish, the children who are dead. Himmler: ›I have made the decision to annihilate every Jewish child from the face of the earth.‹36

35

Angesichts der stetig im Fluss befindlichen Debatte um die Abgrenzung von Intertextualitäts- und Intermedialitätstheorie bleibe ich hier beim Intertextualitätsbegriff. Um dies zu ermöglichen, gehe ich im Folgenden von einem erweiterten Textbegriff aus, der – in Übereinstimmung mit der Präsentation in The Invention of Solitude – auch Bildmedien eine textuelle Grundstruktur zuspricht und das hier vorliegende Modell der Ekphrasis als intertextuelles Modell begreift. Zur Rechtfertigung der hierfür nötigen Erweiterung des Textbegriffs vgl. z.B. Julie Sanders: Adaptation and Appropriation, London/New York: Routledge 2006, hier S. 147–155. Zur Debatte vgl. den Überblick bei Irina O. Rajewski, die selbst eine relativ starke Kopplung des Intermedialitätskonzepts an ein (relativ enges) Konzept von Intertextualität vorschlägt: Irina O. Rajewski: Intermedialität. Tübingen/Basel: Francke 2002, insb. S. 43–58.

36

Auster: The Invention of Solitude, S. 102 f. Das Zitat zu Rembrandts Sohn, das hier aufgenommen wird, entstammt (wie auch der Anhang ausweist) Christopher Wright: Rembrandt and his Art. New York: Hamlyn 1981 (zuerst: 1975), S. 111. Mit den »Children of Atlanta« sind die Opfer einer Mordserie gemeint, bei der zwischen 1979 und 1981 vermutlich 28 Kinder ums Leben kamen. Das Himmler-Zitat stammt wohl aus Himmlers »Zweiter Posener Rede« vor einer Versammlung von Gauleitern am 06.10.1943. Darin heißt es: »Es trat an uns die Frage heran: Wie ist es mit den Frauen und Kindern? – ich habe mich entschlossen, auch hier eine ganz klare Lösung zu finden. […] Es mußte der schwere Entschluß gefaßt werden, dieses Volk von der Erde

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Würde man von diesem intertextuellen Gewebe ausgehend darauf schließen wollen, was im Folgenden geschildert wird, wäre ohne Zweifel mit dem Tod des Protagonistensohnes Daniel zu rechnen: Die Vater-Sohn-Verhältnisse, die hier aufgerufen werden, sind alle vom frühzeitigen Tod des Sohnes geprägt und betonen die Trauer, die der hinterbliebene Vater zu bewältigen hat – literarisch, künstlerisch, über das Familienfoto oder in der Entscheidung, die bei Raleigh angedeutet wird, sich dem eigenen Tod (als Enthauptung in der Heimat) auszuliefern.37 Ausgehend von Anne Frank38 erhält der Kindertod einen weiteren, topisch hochgradig einschlägigen und gesellschaftlich anschlussfähigen Kontext: Neben die benannten Einzelschicksale tritt der massenhafte, meist anonyme Tod von Kindern durch die Shoah wie auch in Kambodscha – zahllose Tode, die weder ein Bild der Gestorbenen zurück- noch die Gefühlslage der Überlebenden nachvollziehbar werden lassen, anders als die vertexteten Tode der erstgenannten Gruppe, die das Leid der Überlebenden und die Trauer über den zu frühen Tod in den Mittelpunkt stellen (wobei sie freilich das erlebte Ereignis genauso wenig einzufangen in der Lage sind, wie uns die metapoetischen Kommentare über den Text hinweg verdeutlichen). Doch Daniel stirbt gar nicht: Wir erfahren von einer Lungenentzündung des Zweijährigen, die er jedoch übersteht.39 Sie hat indes den Vater dazu gebracht, sich einschlägige Gedanken darüber zu machen, wie es wäre, würde sein Sohn tatsächlich sterben: Merely to have contemplated the possibility of the boy’s death, to have had the thought of his death thrown in his face at the doctor’s office, was enough for him [den Vater A.] to treat the boy’s recovery as a sort of resurrection, a miracle dealt to him by the cards of chance. […] He […] went to his son’s bedside.40

verschwinden zu lassen.« (Heinrich Himmler: Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen. Hg. v. Bradley F. Smith u. Agnes F. Peterson m. e. Einführung v. Joachim C. Fest. Frankfurt a.M. u.a.: Propyläen 1974, S. 169.) 37

Vgl. Auster: The Invention of Solitude, S. 103: »And so he went back to England, and

38

Anne Frank wird außerdem mit A.s Sohn verbunden, indem darauf hingewiesen wird,

allowed the King to chop off his head.« dass beide am selben Tag Geburtstag haben. Vgl. Auster: The Invention of Solitude, S. 87. – Auf den Anne-Frank-Bezug geht auch Krämer ein, die den Rückgriff auf die Shoah-Toten in eher überraschender Weise auf die Sorge A.s bezieht »of having lost his son forever when he split up from his wife«. Krämer: Walking in Deserts, Writing out of Wounds, S. 92. 39

Vgl. Auster: The Invention of Solitude, S. 113–115; 121 (»his son now out of danger«).

40

Auster: The Invention of Solitude, S. 115.

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Das Wunder der Auferstehung, als das der Vater die Gesundung des Sohnes von der ernsten, mit den intertextuell aufgerufenen Schicksalen jedoch in ihrer Drastik objektiv kaum vergleichbaren Krankheit wahrnimmt, rückt klar die Perspektive des unter der Todesdrohung gegen den Sohn leidenden Vaters ins Zentrum der Darstellung. Ohne dass die Gefühle »A.s« tatsächlich im Text wiedergegeben werden könnten, wird über das hergestellte intertextuelle Netzwerk die emotionale Involviertheit deutlich, mit der der Vater die Situation durchstehen muss. Die Dramatik seiner Gefühle wird nicht durch den (relativ nüchtern bleibenden) Text hergestellt, der seine aktuelle Situation beschreibt, sondern durch den intertextuellen Bezug auf Shoah-Opfer wie Anne Frank und die bereits in einschlägiger Weise formulierten und so zu Topoi gewordenen Leiderfahrungen anderer. Das Überleben der Lungenentzündung erscheint so als Wunder, das viele andere Väter nicht erleben durften. Die genauere Konturierung der Gefühlswelt des Protagonisten findet mithin nicht in direkter Form als Wiedergabe seiner Gefühle statt (diese bleibt entsprechend knapp), sondern in indirekter Art und Weise über das Zusammenspiel mit den intertextuellen Verweisen. Der Protagonist und sein Erleben werden so durch ein intertextuelles Zusammenspiel gezeichnet, das Subjekt wird zum Subjekt aus Texten, seine Erfahrung zur intertextuell vernetzten und damit für andere nachvollziehbaren Konstruktion. Die weitere Verarbeitung des eigenen Leidens an der Krankheit des Sohnes findet dann vollständig in der Auseinandersetzung mit einem Intertext statt: Das schmerzvolle Wechselbad zwischen Sorge und Erlösung wird gespiegelt in einem Schicksal, das ein anderer bereits als Text vorgegeben hat. Es handelt sich um die Gedichtfragmente »Mallarmé wrote at the bedside of his dying son, Anatole, in 1879«.41 Die Ausgangssituation – der Vater »at the bedside« des leidenden Sohnes – ist dieselbe, und auch die direkte biografische Kommentierung des Ereignisses durch die beiden Väter ähnelt sich in frappierender Weise. Mallarmé wird mit einem Brief zitiert, in dem es heißt: »›The real pain is that this little being might vanish. I confess that it is too much for me; I cannot bring myself to face this idea.‹«42 Der Zusammenhang zur gegebenen Situation »A.s« wird nochmals bekräftigt: »It was precisely this idea, A. realized, that moved him to return to these texts. […] It was a way for him to relive his own moment of panic in the doctor’s office that summer: it is too much for me, I cannot face it.«43 Die von »A.« angefer-

41

Auster: The Invention of Solitude, S. 116.

42

Auster: The Invention of Solitude, S. 116.

43

Auster: The Invention of Solitude, S. 116. Durch das nicht markierte wörtliche Zitat entsteht hier eine Uneindeutigkeit über die Sprecherinstanz: Mallarmé und A. werden dieselben Worte zugeschrieben, gleichzeitig übernimmt auch der (sonst heterodiegeti-

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tigten Übersetzungen der Fragmente nimmt dieser als »prayer of thanks for the life of his son«44 wahr – als Übersetzer nimmt nun er die Rolle der Sprecherinstanz in den Gedichtfragmenten ein, die der Vater eines anderen Sohnes, Anatole, ursprünglich hatte; über die intertextuelle Konstruktion, die hier durch die Übersetzung verstärkt wird, kommt es zum Kurzschluss zwischen dem vermeintlich erlebenden Ich und dem lyrischen Ich der Texte, die dort ausgedrückten Sorgen und Emotionen erhalten gewissermaßen eine zweite Sprecherinstanz, ein zweites »conscious mind behind the words on the page«, und tragen so zur textuellen Produktion eines fühlenden Subjekts bei.45 Das ausführliche Zitat aus der Mallarmé-Übersetzung endet mit zwei Fragmenten, die dann wieder metapoetisch auf den Gesamttext der Invention of Solitude beziehbar sind und deren Programm intertextuell spiegeln. Von der Perspektive des Vaters wird dabei auf die des Sohnes übergeblendet, wodurch der Doppelcharakter, den der vorliegende Text hat, auch im intertextuellen Fragment aufscheint: to find only / absence – / – in presence / of little clothes / – etc – no – I will not / give up / nothingness father – I / feel nothingness / invade me46

Das Moment der Leere, die in den Dingen aufgefunden werden kann, die jemand hinterlässt, spiegelt die oben angesprochene Erfahrung der Erzählinstanz im ersten

sche) Erzähler faktisch diese Worte, die dann darauf hindeuten, dass er doch seine eigene Geschichte erzählt. Zieht man hierzu die oben skizzierten Ideen, die im Text zum Erzählen in der dritten bzw. der ersten Person geäußert werden, in Betracht, zeigt sich hier ausgerechnet im Zitat (!) die erlebende Instanz, die aus der Einsamkeit des Schreibens ausbricht und plötzlich wieder »ich« sagen kann. 44 45

Auster: The Invention of Solitude, S. 117. Nicht ohne Berechtigung ist daher die These von Brendan Martin, dass Austers Rückgriff auf Autoren der Moderne in vielerlei Hinsicht eine höhere Relevanz hat als seine postmoderne Infragestellung von deren zentralen Kategorien. In der Überlagerung des eigenen Schreibens mit dem moderner Autoren bleiben im postmodernen Text erkennbar Residuen modernistischen Denkens erhalten, die unter postmodernem Blickwinkel bisweilen nur anders perspektiviert, dabei jedoch nicht vollständig überwunden werden. Anschlussfähig für diese Beobachtung ist etwa das Postmodernekonzept von Peter V. Zima, das auf das Reflexivwerden moderner Denkfiguren im Zeichen der Postmoderne abhebt. Vgl. Brendan Martin: Paul Auster’s Postmodernity. New York/London: Routledge 2008, hier S. 20–22, sowie Zima: Moderne/Postmoderne, S. 47 ff.

46

Auster: The Invention of Solitude, S. 120. Hervorhebungen im Original.

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Teil von The Invention of Solitude; die Vorstellung, dass solche Reste nicht näher an den verlorenen Vater heranführen, entspringt also ebenfalls intertextuell diesem Mallarmé-Fragment, das sich damit als wesentlich bedeutsamer für den Gesamttext erweist, als es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag. Nicht nur, dass das Empfinden des Überlebenden in der Textorganisation, die am eigenen Interesse und weniger am beschriebenen Vater selbst ausgerichtet ist, hergestellt wird – gleichzeitig liegt dieser Darstellung auch noch eine intertextuelle Vorprägung, ein einschlägiger Topos zugrunde, an den angeschlossen wird. Die eigentliche Empfindung, das vermeintlich reale Erleben wird vor diesem Hintergrund irrelevant, es wird nicht nur als textuelle, sondern auch noch als intertextuelle Konstruktion enttarnt. Der zweite Gedanke, der sich hier mit der Sohnesperspektive verbindet, ist die Übertragbarkeit des Todes vom Gestorbenen auf den Hinterbliebenen. Der Schreibende vollzieht bei Mallarmé wie in The Invention of Solitude das Sterben des Sterbenden nach und ergreift dabei dessen Stimme. Wer ist es, der hier ›nicht aufgeben‹ wird? Der Sohn stirbt bei Mallarmé – wer nicht aufgibt, ist der Überlebende, der nicht damit aufhört, im Text das Andenken des Gestorbenen zu verschriftlichen und dabei gleichzeitig sein eigenes Leid weiterzutragen, wie es zuvor heißt: »Oh! you understand / that if I consent / to live […] / it is to feed my pain«.47 Das abgründige Nichts, dem der Sterbende entgegengeht, wird vom Überlebenden zu einer produktiven Einsamkeit umgewandelt, die sowohl das Andenken des Gestorbenen als auch die Subjektivität des Schreibenden im Text herzustellen in der Lage ist. Die Relevanz des Autor-Ichs ist so nicht die Relevanz einer erlebenden, sondern die einer schreibenden, topisch verknüpfenden Instanz. An die Stelle des realen Erlebens tritt die sich vom Erleben unabhängig machende Textproduktion, die intertextuell an Vorläufer anknüpft und somit die Position des Schreibenden im intertextuellen Netzwerk bestimmt. Autorschaft wird zur Konstruktion von Subjektivität im Zusammenspiel der Intertexte und ist damit in der Lage, existenzielle Situationen und Erfahrungen nachvollziehbar zu machen, ohne dabei die Unmöglichkeit der direkten Übertragung von Erfahrung in den Text als Beschränkung oder Mangel offenbar werden zu lassen.

47

Auster: The Invention of Solitude, S. 119.

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7.3 T HE R ED N OTEBOOK – S AMMELWERK A UTOBIOGRAFIE

UND

7.3.1 Selektion und Kombination als »Akte des Fingierens« in autobiografietheoretischer Hinsicht The Red Notebook and other Writings ist der Gesamttitel eines 1995 bei Faber & Faber in London erschienenen Sammelwerkes, das mehrere nicht auf den ersten Blick zusammengehörige Texte Austers vereint: Neben der titelgebenden Sammlung von Erzählungen – The Red Notebook – versammelt der Band drei von Auster verfasste Vorworte, drei mit Auster geführte Interviews, ein kurzes, beziehungsreiches »Gebet« Austers für Salman Rushdie48 sowie einen Text mit dem Titel Why write?,49 der, die bekannte Schreibsituation aus The Invention of Solitude aufnehmend, nachvollzieht, wie ein namenloser Erzähler zum Schriftsteller wird. In unterschiedlichen Zusammenstellungen sind die Texte bereits früher veröffentlicht worden, unter dem Titel The Red Notebook – True Stories ist zudem 2002 eine hiervon abweichende Zusammenstellung von Texten erschienen.50 Angesichts dieses Erscheinungsbildes stellt sich, wenn man von einem klassischen Werkbegriff ausgeht, sofort die Frage, ob eine solche Textsammlung überhaupt als Werk angesehen werden kann, scheint sie doch das Prinzip einer organischen Ganzheit, das häufig mit dem Begriff des literarischen Werks verknüpft wird, nicht zu erfüllen. Hier soll jedoch die These vertreten werden, dass man der vorliegenden Textsammlung, die hier exemplarisch für die alternativen Sammlungen ins Blickfeld gerückt wird, eine

48

Zuerst erschienen als Paul Auster: Thinking of Rushdie. In: The New York Times vom 01.07.1993. Online unter: www.nytimes.com/books/99/04/18/specials/rushdie-auster. html (23.04.2015). – A Prayer for Salman Rushdie stellt den von einer Fatwa bedrohten Autor als Orientierungspunkt für den Schreibenden Auster heraus, der angibt, »for almost four and a half years« beinahe täglich das Beispiel Rushdies vor Augen zu haben, sobald er sich an den Schreibtisch setzt. Rushdies verfolgte Tat habe allein im Schreiben eines Buchs bestanden, sodass beide »to the same club« gehörten. Rushdie erscheint dabei als Kämpfer für die gemeinsame Sache der Literatur, wodurch Auster dessen Schicksal mit dem eigenen verknüpft, sodass es zur Subjektkonstruktion des Schreibenden beiträgt.

49

Zuerst erschienen als Paul Auster: Why write? In: The New Yorker vom 25.12.1995, S. 86.

50

Vgl. Paul Auster: The Red Notebook. True Stories. New York: New Directions 2002 (enthält »The Red Notebook«, »Why write?«, »Accident Report« sowie »It Don’t Mean a Thing«).

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gewisse Art von Ganzheit zuschreiben kann, wie es überhaupt naheliegt, dass eine derartige Vorstellung vom literarischen Werk zunächst nicht auf dessen eigener Gestalt, sondern in allererster Linie auf einer äußeren Zuschreibung basiert. Im Folgenden wird ein Ansatz verfolgt, der die Textsammlung The Red Notebook and other Writings unter dem Aspekt der autobiografischen Produktion eines Schriftsteller-Ichs und seiner Verortung im literarischen Diskurs bzw. Intertext als einheitliches Werk betrachtet. Dies bedingt, dass sämtliche Einzeltexte hinsichtlich dieser Herausarbeitung bzw. Positionierung einer Schriftstellerinstanz Relevanz haben. Die autobiografische Frage nach der Herausbildung des Schriftstellersubjekts (die hier, wie bereits im Fall von The Invention of Solitude beschrieben, vor allem innertextliche und intertextuelle, nicht jedoch referenzielle Relevanz beansprucht) dient so als werkkonstituierende Klammer um die auf den ersten Blick so unterschiedlich wirkenden literarischen und Gebrauchstexte. So erscheinen auch die vermeintlichen »Gebrauchsformen« des Literaturbetriebs in ihrer Kombination als Grundlage für die Erarbeitung einer autobiografischen Gesamtheit, die ein fiktionales Autorbild konstituiert. In Selektion und Rekombination von Elementen des »Realen«, von Wolfgang Iser in einem weiten Sinne verstanden als alle Gegenstände der Welt, sodass auch fiktionale Bestände anderer Texte einbezogen werden können, bildet sich ein fiktionales Werk heraus, dessen von Iser als »Imaginäres« beschriebener Index auf die auswählende Instanz verweist. Ohne hierbei außertextliche intentionale Prozesse vorauszusetzen, lässt sich die Textsammlung so mit Iser als diskursives Zeugnis begreifen, das ein Subjektbild entstehen lässt.51 In seinem Eingehen auf einzelne thematische Aspekte oder Intertexte, die auch in The Invention of Solitude bereits eine Rolle spielten, baut die Textsammlung am Gesamtnetzwerk des Auster’schen Œuvres mit und sorgt mit dafür, dass nicht nur die Ausbildung eines Einzelwerks gelingt, sondern über das Netzwerk der Texte

51

Als »Akte des Fingierens« bezeichnet Iser die Akte der Selektion, Kombination und Selbstanzeige, die zwischen den beiden Sphären des »Realen« und des »Imaginären« vermitteln. Als »Reales« wird dabei das Material gekennzeichnet, auf das die Akte des Fingierens zurückgreifen, während das »Imaginäre« ein schwer zu fassendes Konzept beschreibt, das auf die Prinzipien und Zusammenhänge hindeutet, die die in einem Text vorzufindenden »Akte des Fingierens« verbinden. Iser bezieht das »Imaginäre« explizit nicht auf ein konkretes Autorbewusstsein oder Ähnliches, sondern scheint es als abstraktes, aus dem Text herauszuarbeitendes Prinzip zu konzipieren. Insofern erscheint mir der Begriff anschlussfähig für eine ebenfalls textuell verfahrende Konstitution des Subjekts, die über dieses »Imaginäre« eingegrenzt werden kann. Wie das »Imaginäre« ließe sich auch die textuell vermittelte Subjektivität als Resultat von Akten des Fingierens fassen.

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gleichsam ein autobiografisches Gesamtwerk Austers entstehen kann. Im Folgenden sollen die einzelnen Teiltexte in The Red Notebook and other Writings in der Rolle gewürdigt werden, die sie für die Konstitution eines zusammenhängenden Autorbildes spielen. 7.3.2 The Red Notebook – Magie, Zufall und die Ununterscheidbarkeit von Fakten und Fiktion Bei The Red Notebook handelt es sich um eine Sammlung von kurzen, episodischen Erzählungen, die zusammengehalten werden von einer einheitlichen Erzählinstanz, die man als einen der für Austers Werk typischen »Schriftstellererzähler« bezeichnen kann; die Erzählinstanz wird dabei von einer der auftretenden Figuren als »Paul Auster« angesprochen, sodass sich der Text in Austers werkübergreifendem Spiel mit Autorinstanz und Subjektkonstitution verortet.52 Fortgeführt wird dieselbe Struktur in dem separat publizierten Why write?, das hier ebenfalls abgedruckt wird.53 Der Erzähler berichtet 13 einzelne Geschichten, die er erlebt hat oder die ihm erzählt wurden – eine Gemeinsamkeit der Geschichten ist, dass sie häufig auf mehrfach verschachtelten Überlieferungen basieren, weshalb der Erzähler, der sich als Sammler der Geschichten anderer begreift, die in überraschender Weise in sein Leben eingreifen, vielfach keine Garantien für deren Referenzcharakter übernehmen kann.54 Die Zufälle, die hier geschildert werden, reflektieren Austers aus The Invention of Solitude bekannte Unterscheidung zwischen der Logik der Kunst und der (nicht vorhandenen) Logik des Lebens: Sie werden verbunden durch dieses Thema des Übergreifens einer aus der Fiktion bekannten Logik auf die als erlebt präsentierten Ereignisse, das der Erzähler immer wieder voller Überraschung bemerkt, wenn er etwa feststellt: »I had thought those things happened only in

52

Vgl. Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 20.

53

Vgl. Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 161–175. Auf Why write? wird aus diesem Grund nicht genauer eingegangen, da für den Text mutatis mutandis dieselben Annahmen gelten wie für die Erzählungen in The Red Notebook.

54

Von diesem Charakter der Erzählungen, die so ohnehin nur sehr eingeschränkt vor dem Hintergrund eines referenziellen ›Zeugnisablegens‹ gelesen werden können, zeugen zahlreiche Formulierungen zur zurückhaltenden Bewertung dieses Referenzcharakters wie etwa »a friend told me the following story« (Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 9), »we asked him to tell us the story« (ebd., S. 15) oder »I wasn’t there to witness it« (ebd., S. 33), die den ebenfalls wiederkehrenden Versicherungen, es handle sich um wahre Geschichten, entgegensteht.

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books«55 oder wenn ihm ein Freund als Deutung seines allzu turbulenten Schicksals versichert: »›I feel as if I’ve become a character in one of your novels.‹«56 Literarische Plots im Sinne Whites prägen so scheinbar das Leben, glückliche Zufälle, wie sie die Literatur kennt, sorgen für Happy Endings in jeder einzelnen Story. Kulminations- bzw. Endpunkt der Sammlung ist eine Erzählung, die von der vermeintlichen Inspiration zu Austers erstem Roman, City of Glass, berichtet; der Text bildet so das Produktivwerden des Schriftstellers ab, wobei er den Roman, wenn dieser durch die Darstellung in The Red Notebook auf eine Szene aus dem Leben zurückgeführt wird, in einen autobiografischen Rahmen einbindet, als den man das Auster’sche Gesamtwerk ansehen kann. Charakteristisch ist, dass Auster auch hier wieder die Unterscheidung zwischen Lebens- und Fiktionslogik durchschaubar werden lässt: Es wird deutlich, dass ein minimales Zufallsereignis »transformed« wird »into the crucial event of the book, the mistake that sets the whole story in motion«57 – aus bedeutungslosem Leben wird bedeutungstragende Literatur. Die Rede ist von fehlgeleiteten Anrufen, die den Erzähler erreichen, aber eine Detektivagentur zum Ziel haben. Zweimal erhält der Erzähler derartige Anrufe, zweimal klärt er den Anrufer über sein Missverständnis auf und beendet das Gespräch. Im Roman schließlich erreicht den Helden Daniel Quinn ein dritter Anruf, der in der ›Realität‹ ausgeblieben sei – der Anrufer im Roman ist jedoch nicht auf der Suche nach der »Pinkerton Agency«, sondern nach einem Privatdetektiv namens »Paul Auster«: Unlike me, however, Quinn is given another chance. When the phone rings again on the third night, he plays along with the caller and takes on the case. Yes, he says, I’m Paul Auster – and at that moment the madness begins.58

»The madness begins«: Der Roman setzt ein mit seiner komplexen Handlung und das Verwirrspiel um die Namen von Autor-, Detektiv- und Erzählinstanzen, das ihn prägt, kommt in Gang – ein Spiel, das nicht zuletzt von der Übernahme einer fiktionalen Rolle im wirklichen Leben geprägt ist, mithin von einer Situation, die der der Autobiografie gegenübersteht, in der das Leben, wie deutlich wird, in einen fiktionalen Text verwoben wird und eine andere Logik erhält. Wenn Auster dies hier mit existenzialistischem Einschlag als Pflicht eines »implicating myself in the action of the story« beschreibt, ohne die »there wouldn’t have been any purpose to writing

55

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 7.

56

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 26.

57

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 37.

58

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 37.

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the book«,59 legt er eine verführerische, jedoch ganz offenbar ins Leere laufende Fährte: Wo die Grenze zwischen Fiktion und Realität und ihren vermeintlich voneinander abweichenden Logiken derart aufgelöst wird, sind diese aus einer Autorintention herrührenden Authentizitätsverpflichtungen nur mehr eine Geste, der keine Instanz mehr gegenübersteht, der sie zugeschrieben werden könnte – das Verwirrspiel um den Namen »Paul Auster« ordnet dessen Texte nicht einer stabilen außertextlichen Instanz zu, sondern belässt die mit dem Namen assoziierten Instanzen in einem Zwischenraum von Fiktion und Realität, dem nur auf Basis von Texten nachgegangen werden kann. Die Weiterentwicklung dieser metapoetisch zu lesenden Schlüsselgeschichte verdeutlicht diesen Befund: Wir sind in The Red Notebook nicht in einem Text, der als nichtliterarisches Vorfeld von City of Glass zu bezeichnen wäre, sondern bereits mitten innerhalb dieses Schwindel hervorrufenden Spiels mit der Fiktionalität: Zehn Jahre nach Erscheinen von City of Glass erhält der »Paul Auster« heißende Verfasser, wie wir im Folgenden erfahren, erneut einen fehlgeleiteten Anruf, und diesmal möchte der Anrufer einen gewissen »Mr. Quinn«, »›Q-U-I-N-N‹«,60 sprechen. Während im Roman der Autor angerufen werden soll, verlangt in dieser Darstellung der Realität jemand die Romanfigur zu sprechen; die Fiktion greift erneut auf das Leben über und ein uneinsehbarer Zufall wird dafür verantwortlich gemacht, dass die im Roman hergestellte Situation zurückschlägt und damit gleichermaßen das Verschwimmen von Real- und Fiktionslogik bestätigt, das den Reiz von City of Glass ausmacht. The Red Notebook lässt sich damit auch als Ganzes als poetologisches Gerüst für City of Glass lesen, das von den zahlreichen möglichen Zufällen, die hier zu Literatur gemacht werden, einen einzelnen herausgreift, und zwar in der Weise einer Verschachtelung von Fiktion und Realität, die letztlich fraglich werden lässt, welche der beiden Ebenen die Grundlage für die jeweils andere darstellt – eine Konstellation, die dann später in der Anlage von Travels in the Scriptorium ausführlicher ausgespielt wird.61 Fiktionalitätstheoretisch ergibt sich durch die Zusammenstellung der vermeintlich autobiografischen Erzählungen in einer Sammlung über die Selektion und Rekombination der Fundstücke eine Konstellation, die diese in den Rahmen des Fiktionalen transferiert: Der Zufall im Leben wird durch die Ansammlung von Zufällen in einer Erzählsammlung zum literarischen Prinzip erhoben, durch das der referenzielle Verweis auf die Wirklichkeit irrelevant wird. An die Stelle der Überraschung durch den Einzelfall tritt die Herstellung von Beziehungen zwischen den

59

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 37.

60

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 37 f.

61

Siehe hierzu unten, Kap. 7.4.

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Erzählungen – ein fiktionaler Rahmen entsteht. Wolfgang Isers nur sehr vage gestalteter Begriff des »Imaginären«, das sich in den Auswahlprinzipien von Selektion und Kombination niederschlägt, die in einem Text deutlich werden (ohne dass hiermit eine Theorie angesprochen ist, die von auktorialen Intentionen bestimmt wäre oder nach ihnen forschte), lässt sich in einer derartigen Zusammenstellung als der Ort beschreiben, der auf das schreibende Subjekt im Text verweist. Insofern deuten die Einzelerzählungen, aber vor allem ihre Kombination auf diejenige Instanz hin, die diese Erzählungen als Schreibender hervorgebracht hat – bei ihm laufen die Fäden zusammen, er ist derjenige, der aus ihnen ein textuelles Gewebe herstellt, was bei Austers Text durch die Offenlegung und Thematisierung der Schriftstellertätigkeit der Erzählinstanz besonders klar zu erkennen ist. Markantester Zug dieser Instanz ist ihr Interesse an guten Geschichten, das offensichtlich dazu führt, dass sie solche wie ein Magnet anzieht und zugetragen bekommt, wie es dem Erzähler in Paris geschieht, wo ihm eine Frau von den Beziehungseskapaden ihres Vaters erzählt, die am Ende dazu führen, dass sie einen Mann geheiratet hat, der gleichzeitig ihr Halbbruder ist: »›Do you want to hear a good story?‹ ›Of course‹, I said, ›I’m always interested in good stories.‹«62 Kulminationspunkt dieser Anziehungskraft, die der Erzähler offenbar auf ›good stories‹ ausübt, ist folgerichtig seine Schriftstellerwerdung: In der letzten, bereits skizzierten Geschichte wird klar, auf welchem Weg er zum Romanautor wird: Erneut hat ihn eine gute Geschichte getroffen, von der aus der Weg zum Schriftsteller, der vermeintlich nur noch diese Geschichten als Romane weiterdenken und aufschreiben muss, nicht mehr weit ist. Während er auf der einen Seite also Geschichten schreibt und ihnen die Logik der Fiktion aufprägt, scheint er selbst auch in diese Logik eingebunden, wenn er, wie es die letzte Kurzerzählung zeigt, mit seinen Romanfiguren im ›echten Leben‹ konfrontiert wird. Bereits an der produktionsästhetischen Wurzel des Textes ist also, hinsichtlich der Frage von Realität oder Fiktionalität des Erzählers/Autors, die Zugehörigkeit zu einer der beiden Welten fragwürdig. Hinzu kommt, dass dem Quellenmaterial, das diesem Autor den Stoff für seine vermeintlich referenziellen Erzählungen liefert, oft ebensowenig getraut werden kann. Der Erzähler teilt freimütig seine an Sokrates gemahnende Überzeugung, »that I know nothing, that the world I live in will go on escaping me forever«63 – eine Erkenntnis, die für einen Autobiografen klassischen Anspruchs natürlich vernichtend wäre, basiert dessen Dignität etwa Dilthey zufolge ja gerade darauf, dass es ihm besser als allen anderen gelingt, sich dem eigenen Le-

62

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 30.

63

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 22.

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ben und den dieses umgebenden Umständen verstehend zu nähern.64 Durch die (teils mehrere Stufen umfassende) Überlieferung der Texte lässt sich nie klären, wie groß deren referenzieller Anteil letztlich ist; die Möglichkeit, dass auch die Quellen bzw. Informanten bereits einer Logik der Fiktionalität unterliegen, indem sie ein Emplotment ihrer Geschichten betreiben (oder sie einfach fingieren), ist stets gegeben. Besonders deutlich wird dies an der Geschichte von »C.«, dessen Kindheit diesem selbst in zwei gegensätzlichen Versionen von seiner Mutter und seinem Vater erzählt worden ist (insbesondere was die Gründe für deren Trennung angeht), die aber ohne die Möglichkeit der Privilegierung einer der Lesarten unverbunden nebeneinanderstehen: »Version A and Version B, and both of them were his story […], two truths that cancelled each other out«.65 Dabei wird auf die existenzielle Relevanz der autobiografischen Erzählung hingewiesen, die es ermöglicht, das eigene Leben nachzuvollziehen und zu verstehen sowie dem eigentlich Sinnlosen Sinn zu verleihen (ein Sinn, der von der Wahrheit der Fakten, wie das Beispiel plastisch macht, völlig unabhängig ist): »He had lived them both in equal measure«66 – beide Leben sind von ihm ›gelebt‹ worden und spielen nun, da er durch die Erzählungen mit ihnen bekannt geworden ist, für den sich seiner eigenen Biografie Nähernden eine existenzielle Rolle. Existenzielle Relevanz schreibt Austers Erzählung markanterweise nicht – wie die in der Erzählung auftretende Psychoanalytikerin – der korrekten Kenntnis zentraler Kindheitsereignisse zu, sondern der Tatsache, dass die Erzählungen darüber, deren Faktualität durch ihre Gegensätzlichkeit vollständig infrage steht, als alternative Plots in eine Erzählung des eigenen Selbst eingebunden werden können. Eine Erkenntnis über das eigene Leben ergibt sich nicht aus einer Korrektur der eigenen Geschichte (diese ist angesichts der Tatsache, dass Vater und Mutter für »C.« gleich glaubwürdig sind, nicht möglich), sondern aus der Bezugnahme der eigenen Lebensdarstellung auf die beiden verschiedenen Plots: Das Emplotment der eigenen Lebensgeschichte, ein Akt ästhetischer Schöpfung, hat an Komplexität und Tiefe gewonnen; die Sinnstifung desjenigen, der mit seiner eigenen Geschichte aus verschiedenen Perspektiven konfrontiert wird, ist der Prozess, in dem sich Austers Text zufolge Subjektivität bildet – eine Vorgehensweise, die Austers Erzählungen nicht nur inhaltlich spiegeln, sondern auch hinsichtlich ihres Verweises auf die in ihnen präsente schreibende Instanz nahelegen.67

64

Vgl. zu dieser und daraus resultierenden Auffassungen oben Kap. 1.1.

65

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 27.

66

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 27.

67

In ähnlicher Weise verhandelt die Geschichte von der Rettung des Lebens eines Mädchens, dem gar nicht bewusst gewesen ist, dass sie sich in Gefahr befunden hat, die Relevanz von Geschichten fürs eigene Lebens-Emplotment: »She hadn’t even known that

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7.3.3 Jenseits der Gebrauchsformen: Emplotment des Subjekts in Vorworten und Interviews The Red Notebook and other Writings enthält neben der skizzierten Erzählsammlung, die das Projekt einer Autobiografisierung des Auster’schen Gesamtwerks und dessen fiktions- und autobiografietheoretische Position spiegelt, zunächst drei Vorworte aus den Jahren 1981/1982, die in unterschiedlichen Zusammenhängen entstanden sind, jedoch, wie beim genaueren Blick darauf deutlich wird, in denselben Kontext eines fiktionalen Emplotments der Schreibersubjektivität eingeordnet werden können. Sowohl Austers Einleitung zu einer Anthologie französischer Lyrik im 20. Jahrhundert, sein Vorwort zu seinen eigenen Übersetzungen der MallarméFragmente, die auch in The Invention of Solitude eine zentrale Rolle spielen, als auch seine Einleitung in Philippe Petits von Auster übersetztes Buch On the High Wire, das vom in die Pariser Zeit Austers zurückreichenden Kontakt mit dem durch seinen Drahtseilakt zwischen den Türmen des World Trade Centers 1974 zu Berühmtheit gelangten Hochseilkünstlers berichtet, stärken die Grundlinien der Subjektdarstellung, die Auster in seinen anderen Werken zieht. Die Einleitung zur Anthologie The Random House Book of Twentieth-Century French Poetry,68 einer zweisprachigen Sammlung, die Auster im Auftrag des Verlages 1981 edierte, widmet sich ausführlicher der Frage der Relevanz der französischen Lyrik für US-amerikanische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, die nach Paris kommen – eine Situation, die in verschiedenen Versionen auch in anderen Texten Austers eine zentrale Rolle spielt: In The Invention of Solitude, in den Erzählungen von The Red Notebook und vor allem in der als Jugendautobiografie angelegten »Chronik« Hand to Mouth,69 die den Weg des Erzähler-Ichs von der

she was in danger. […] none of it had left the slightest mark on her. For me, on the other hand, those seconds had been a defining experience, a singular event in my internal history.« (Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 35.) Nicht das Ereignis als solches – das ja geradezu ein Nichtereignis ist – trägt hier Bedeutung, sondern seine Einbindung in die »internal history« des Zeugen, in der es im Sinne eines autobiografischen Emplotments mit Sinn versehen und in einen sich ästhetisch ergebenden Kontext eingebunden wird. 68

Paul Auster (Hg.): The Random House Book of Twentieth-Century French Poetry. With Translations by British and American Poets. New York: Random House 1982.

69

Paul Auster: Hand to Mouth. A Chronicle of Early Failure. New York: Picador 1997. – Auf Hand to Mouth kann hier nicht ausführlicher eingegangen werden, obwohl das Buch in seiner Verwendung von das Gesamtwerk durchziehenden Themen und Motiven durchaus Relevanz für die hier diskutierte Fragestellung hat. Auf den textnahen Beleg

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Schulzeit in der amerikanischen Provinz über das Studium an der Columbia University in New York, eine Reise auf einem Öltanker und schließlich eine mehrjährige Zeit in Paris bis zur Rückkehr nach New York und dem Verfassen eines Detektivromans als Erstlingswerk beschreibt, wird der Aufenthalt ihrer Erzählinstanzen in Paris geschildert. Das Vorwort bietet angesichts der Verankerung des Autorbildes in dieser Paris-Erfahrung intertextuelle Anschlussräume, die hier in großer Vielfalt benannt werden und gewissermaßen als Ahnenreihe grundlegend für die Konstruktion der Autor-Persona »Paul Auster« werden, aber gleichzeitig ihre mythologische, für ein fiktionalisierendes Emplotment zugängliche Gestalt offenlegen: Beginning with Gertrude Stein, […] the story of American writers in Paris during the twenties and thirties is almost identical to the story of American writing itself. […] The experience of those years has so throughly saturated American consciousness that the image of the starving young writer serving his apprenticeship in Paris has become one of our enduring literary myths.70

Weniger die realen Erfahrungen der Autoren – Auster nennt an dieser Stelle die stattliche Zahl von 26 Namen zwischen Ernest Hemingway und Anaïs Nin – werden hier gewürdigt oder in ihrer Relevanz vorgestellt, herausgestellt wird deren Bedeutung für den amerikanischen Mythos des werdenden, hungernden Schriftstellers, der unter miserablen Lebensbedingungen in der gleichwohl inspirierenden Umgebung von Paris den Durchbruch zum eigenen Schreiben erfährt. Das Vorwort dient also nicht nur dem Zweck einer Einleitung in die Anthologie (für die der hier beschriebene Aspekt nur insofern eine Rolle spielt, als neben den französischsprachigen Originalen Übersetzungen von britischen oder amerikanischen Dichtern abgedruckt werden, von denen einige aus dieser Gruppe der 26 stammen), sondern es aktualisiert einen Mythos, einen Standard-Plot, auf den Auster in seinen anderen

dieser These muss jedoch an dieser Stelle leider verzichtet werden. – Die Einordnung des Bandes als »Chronik« (und damit in einem Bereich, den Hayden White im Vorfeld des Literarischen ansiedelt) täuscht darüber hinweg, dass der Text letztlich noch deutlicher als The Invention of Solitude und im Vorgriff auf neuere Texte, etwa die jüngst erschienenen Bände Winter Journal (2012) und Report from the Interior (2013), ein klassisches autobiografisches Formenrepertoire bedient, ohne dabei jedoch die in anderen Werken aufgeworfenen erkenntnis- und erinnerungstheoretischen Fragestellungen aus dem Blick zu verlieren. Die hier vorliegende Untersuchung bedürfte in dieser Hinsicht einer Ausweitung auf die später erschienenen Texte, um genauer zu verfolgen, wie die herausgearbeiteten Themen dort weiter verhandelt werden. 70

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 45.

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Werken ausführlich zurückgreift. So gelesen erscheinen die Aktualisierungen des Stoffes in einer intertextuellen Reihe, was ihre referenzielle Relevanz reduziert und sie im Lichte dieses Mythos der Schriftstellerwerdung interpretierbar macht.71 Dieses Verfahren war oben bereits ja in Bezug auf The Invention of Solitude und die darin wiederkehrende Technik beobachtet worden, eigene Erfahrung nicht durch den Rekurs auf ›authentische‹ Schilderungen, sondern auf eine intertextuelle Topik bekannter Versionen desselben Motivs zu formulieren. An eine der zentralen Quellen, Mallarmés Gedichtfragmente, die dieser anlässlich des Todes seines Sohns Anatole verfasste, wird auch hier angeknüpft, wenn Austers Vorwort zu seinen Übersetzungen dieser Gedichte abgedruckt wird.72 Der Rückgriff auf die MallarméFragmente erfolgt hier ebenso im Zeichen der Herstellung von Subjektivität im Text, die in den Fragmenten selbst der Person Anatoles gilt: He would transmute Anatole into words and thereby prolong his life. He would, literally, resurrect him, since the work of building a tomb – a tomb of poetry – would obliterate the presence of death.73

Das Vorwort leistet auf andere Weise das, was die Fragmente selbst bereits tun: In seiner anekdotischen Darstellung der Vater-Sohn-Beziehung sorgt es für ein Weiterleben des gestorbenen Sohnes im Text und wiederholt so die Geste, die die Fragmente selbst bestimmt. Auf anderer Ebene trägt das Vorwort darüber hinaus dazu bei, dass der Schriftsteller Auster selbst Gestalt gewinnt: Die Vater-SohnProblematik, die Austers Schaffen von seinem Erstlingswerk an dominiert, wird auch hier auf diesen intertextuellen Vorläufer, der in Paris den Weg des Herausgeber-Erzählers kreuzt, erneut aufgenommen. Das dritte Vorwort schließlich beginnt ebenfalls in dieser Pariser Zeit: Die Bekanntschaft Austers mit dem Artisten Philippe Petit wird zurückverfolgt bis zu des-

71

Ein weiterer interessanter Aspekt des Vorworts ist die Begründung der Auswahl von Gedichten, die im vierten Abschnitt des Textes erfolgt: Immer wieder verbindet der Herausgeber Auster seine Entscheidungen mit seiner Person, sodass das Vorwort dem Leser nicht nur die präsentierten Werke der Anthologie nahelegt, sondern auch eine Perspektive, die in dieser Auswahl das »Imaginäre« des Herausgebers Auster wiederfinden kann. Auswahl und Kombination der Texte verweisen so auf den Auswählenden, die »Akte des Fingierens« der Selektion und Kombination öffnen damit auch die Anthologie selbst für eine autobiografische Lektüre auf Wolfgang Isers Spuren.

72

Vgl. Stéphane Mallarmé: A Tomb for Anatole. Translated and with an Introduction by Paul Auster. San Francisco: North Point Press 1983.

73

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 85 f. Hervorhebung im Original.

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sen Tätigkeit als Jongleur auf dem Boulevard Montparnasse, wo ihn, so hält es dieses Vorwort fest, in einer für Auster typischerweise schicksalhaften Zufallsbegegnung auch der Vorwort-Erzähler und Passant Auster beobachtet, für den diese »part of my inner mythology«74 wird und damit dieselbe existenzielle Relevanz zugeschrieben bekommt wie die Zusammenhänge in den anderen Vorworten. Wenig später erkennt der Erzähler Petit auf der Titelseite der International Herald Tribune wieder, der bei einem illegalen Drahtseilakt zwischen den Türmen der Kathedrale Notre-Dame abgebildet wird.75 Ein weiterer Zufall führt beide in New York wieder zusammen, den Auster dieses Mal als Omen nimmt: »it made me feel that I had chosen the right moment to come home«.76 Einen Monat nach seiner Rückkehr erlebt er Petits »World-Trade-Center-Walk«, sechs Jahre später lernt er den Artisten ›zufällig‹ bei einer Party kennen, wo dieser ihm die Aufgabe anvertraut, sein von zahlreichen Verlegern abgelehntes Buchmanuskript zur Publikation zu bringen (deren Ausweis der Band ist, den die Leser des Vorwortes an seinem Originalerscheinungsort in den Händen halten77). Wie rasch deutlich wird, folgt diese Erzählung der biografischen Verknüpfung über vermeintliche Zufälle, wie sie auch The Invention of Solitude oder die Erzählungen in The Red Notebook prägen – die Logik der Fiktion wird auch hier auf die Darstellung übertragen, sodass das Doppelporträt Auster/Petit zu einem fiktionalen Kunstwerk wird, das in derselben Weise vom Autor-Erzähler Auster geprägt ist, wie dieser es dem Buch, zu dem es den Paratext bildet, in Bezug auf Petit zuschreibt: Through it all, one feels the presence of Philippe himself: it is his wire, his art, his personality that inform the entire discourse. […] This is perhaps the most important lesson to be learned from the treatise: the high-wire is an art of solitude, a way of coming to grips with one’s life in the darkest, most secret corner of the self.78

Wie sich zeigt, macht Auster Petits Kunst des Seiltanzes genauso wie die Kunst der in Paris gewesenen amerikanischen Autoren oder diejenige Mallarmés zu einer autobiografischen Kunstform: Alle Kunst wird unter dieser Perspektive autobiografisch, sie befasst sich stets damit, wie man das Leben ›in den Griff bekommt‹ – und zwar in Austers Fall ganz praktisch im Hinblick auf die textuellen Mittel, mit denen

74

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 92.

75

Vgl. Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 89.

76

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 94.

77

Philippe Petit: On the High Wire. Translated by Paul Auster. With a Foreword by Marcel Marceau. New York: Random House 1985.

78

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 95.

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das geschieht. Auch das Petit-Vorwort lässt sich damit in den Kontext einbeziehen, der von Auster als autobiografischer Rahmen aufgebaut wird; auch dieser Text fügt das Seine zur textuellen Subjektivitätskonstruktion im Namen Paul Austers hinzu, nicht zuletzt durch den Verweis auf das für dessen Schaffen immer wieder als konstitutiv hervorgehobene Bild der »solitude«. Während die Vorworte das im Text hervorgebrachte Subjekt Auster also mit anderen bekannten Figuren und ihren Texten verbinden und so profilieren, sind zwei der drei abgedruckten Interviews in erster Linie auf sein eigenes Werk ausgerichtet.79 Im Vorgriff auf eine Strategie, die dann in Travels in the Scriptorium ihren Höhepunkt erreicht, schaffen sie ein Autorbild, das die einzelnen Texte unter demselben Namen in Verbindung bringt und schließen damit an eine klassische autobiografische Schreibform an, wie sie etwa auch Goethe in kritischer Aneignung am Beginn von Dichtung und Wahrheit aufnimmt.80 Während im Gespräch mit Joseph Mallia von 198781 zunächst der Lyriker und Autobiograf Auster Profil gewinnt, widmet sich das Interview mit Larry McCaffery und Sinda Gregory dem Romancier Auster;82 bereits im ersten Gespräch legt der Interviewer dem Autor nahe, den Zusammenhang zwischen Autobiografik und den ersten Romanen in der Frage der »identity«83 zu sehen, der beide nachgingen – eine

79

Das erste der Interviews, das Auster mit Stephen Rodefer zum Thema »Translation« führt (zuerst erschienen 1985 in The Archive Newsletter, UC San Diego), verfolgt tendenziell noch die erste der skizzierten Strategien, indem es Auster als Übersetzer von »Baudelaire, Rimbaud, Verlaine«, Joubert, Mallarmé und Petit herausstellt und damit sein Schriftsubjekt mit diesen Vorläufern in Beziehung setzt. Vgl. Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 101 u. 103.

80 81

Vgl. zu dieser Vorgeschichte des Verfahrens die Darstellung oben in Kap. 3.1 Das Gespräch erschien zuerst im BOMB Magazine 23 (1988), S. 24–27. – Bevor Mallia auf The Art of Hunger, Austers Gedichte und The Invention of Solitude zu sprechen kommt, befragt auch er Auster nach literarischen Vorbildern, sodass dessen intertextuelles Profil als Theoretiker durch den Namen Beckett, als Lyriker durch die Benennung von Celan, Hölderlin und Leopardi und als Essayist durch die Nennung Montaignes gestärkt wird. Mit Cervantes wird darüber hinaus ein Autor genannt, der eine Lektüre der New York Trilogy im Zeichen des Pikaresken nahezulegen scheint. Vgl. Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 105.

82

Dieses Gespräch erschien erstmals in Austers Textsammlung The Art of Hunger (1993), die man als Keimzelle von The Red Notebook ansehen kann. Es steht nicht zuletzt deshalb in direktem inhaltlichem wie kommunikativem Zusammenhang mit den Texten der Sammlung.

83

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 109.

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Erkenntnis, die sich auch im Blick auf das weitere Werk Austers (vielleicht in anderer Weise als vom Interviewer angedacht) bestätigen lässt. Das zweite genannte Gespräch – im Entstehungskontext der Erzählungen aus dem Red Notebook geführt – widmet sich einerseits der von Auster immer wieder aufgegriffenen Frage einer Logik des Lebens und des Zufalls (die hier in dem ästhetischen Programm auf den Punkt gebracht wird, dass es ihm darum gehe, »to write fiction as strange as the world I live in«84), andererseits verbindet es auf eine angesichts der Thematisierung eines logischen Emplotments der eigenen Biografie erwartbar doppelbödige Weise das Leben des Autors mit der Entstehung seiner Werke The Music of Chance, New York Trilogy, Moon Palace und In the Country of Last Things. Interessanterweise greift Auster auch Bachtins Begriff der Dialogizität auf, der ihm als »the most brilliant […] theor[y] of the novel« erscheint, »the one that comes closest to understanding the complexity and the magic of the form«.85 Im Interview versteckt ist damit eine verschlüsselte Leseanweisung für das Werk Austers, geht Bachtin doch – wie oben im Zusammenhang mit Julia Kristevas Anschließen an ihn diskutiert – von einer komplexen Überlagerung der Autorstimme mit den Stimmen der Figuren aus, die Kristeva zur Begründung des Intertextualitätsbegriffs und damit einer neuen textgeleiteten Subjektkonzeption diente: Wenn Auster hierauf in dem poetologischen Gespräch Bezug nimmt, verortet er sich inmitten dieses Projektes, wie es hier auf Grundlage seiner anderen Texte herausgearbeitet worden ist.86 Das Interview mit McCaffery und Gregory ist so einerseits Teil dieser textuellen Subjektprägung, andererseits reflektiert es diese unter Verweis auf die entsprechenden theoretischen Texte – ein Merkmal des Auster’schen Subjekt-Emplotments, das dieses vielleicht von den anderen in dieser Studie diskutierten Werken abhebt. 7.3.4 Ein »imaginärer« Paul Auster Ausgehend von Wolfgang Isers Fiktionalitätskonzeption in Das Reale und das Imaginäre wurde im Kapitel 7.3 die Textsammlung The Red Notebook and other Writings als eigenständiges Werk analysiert, das teilhat an der Herstellung einer das Gesamtwerk übergreifenden Autorsubjektivität, die mit dem Namen Paul Auster verbunden wird. Mit Iser lässt sich als Kriterium für die Werkganzheit das sogenannte Imaginäre ansetzen, das als kohärenzstiftender Oberbegriff für die Akte des Fingierens – Selektion, Kombination und metapoetische Selbstanzeige – wahrgenommen werden kann. Das Imaginäre der Texte in The Red Notebook and other

84

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 117.

85

Auster: The Red Notebook and other Writings, S. 134.

86

Zu Bachtin und Kristeva vgl. oben Kap. 2.3.

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Writings ließe sich den darin verhandelten Themen und den Rückkopplungen zufolge, die dieser Band mit Austers Gesamtwerk hat, als textuelles Bild einer Autorsubjektivität wahrnehmen, das erst in den Texten und ihrer Kombination entsteht und nicht referenziell auf eine dem vorgängige Instanz verweist. Zu diesem Zweck wurde herausgestellt, inwiefern das Spiel zwischen textinternen Figuren- und Erzählinstanzen und paratextuellen Autorzuschreibungen, wie es bereits anhand von The Invention of Solitude zu beobachten war, auch in der hier untersuchten Textsammlung stattfindet. Damit nimmt diese wesentliche Momente des Frühwerks auf, die, wie anschließend zu zeigen sein wird, auch für das Spätwerk Geltung beanspruchen können, und trägt sie weiter. Bereits in The Red Notebook and other Writings ist zu erkennen, dass hier eine Vermischung der intertextuell und fiktionstheoretisch verfahrenden Subjektkonstruktion mit intertextuellen Verweisen auf das eigene Werk beginnt. Diese Linie der Konstruktion von Subjektivität nimmt der im Folgenden abschließend zu untersuchende Text Travels in the Scriptorium in radikalerer Form auf.

7.4 B EWARE OF YOUR OPERATIVES ! – T RAVELS IN THE S CRIPTORIUM 7.4.1 Ein postmodernes Satyrspiel zur Autobiografie Nicht zu Unrecht ist in der Forschung festgestellt worden: Austers »autobiographical work […] may be read as the map to his entire fictional work«.87 Für kein anderes seiner Bücher gilt das wohl im gleichen Maße wie für Travels in the Scriptorium. Dieses Werk Austers, so soll im Folgenden gezeigt werden, basiert auf denselben fiktionalitäts- und subjekttheoretischen Prämissen, die oben für The Invention of Solitude und andere als autobiografisch gewertete Textsammlungen aufgeführt wurden, treibt diese aber in gewisser Weise auf die Spitze, indem es den Text noch viel radikaler als das Frühwerk auf seine Textualität beschränkt und ihm gewissermaßen die Erfahrung vollends austreibt. Das intertextuelle Netzwerk, das in diesem Fall zum Einsatz kommt, um den Protagonisten des Textes näher bestimmbar zu machen, eine in Bezug auf das Moment der Erfahrung als Leerstelle gestaltete Figur, die vom Erzähler folgerichtig den Namen »Mr. Blank«88 verliehen bekommt, hat hier eine durchaus eigenartige Gestalt. Die Topik, auf die zurückgegriffen wird, speist sich nicht aus der Weltlite-

87

Shiloh: Paul Auster and Postmodern Quest, S. 17.

88

Vgl. Auster: Travels in the Scriptorium, S. 3.

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ratur, wie es in The Invention of Solitude (und bereits in geringerem Maße in The Red Notebook and other Writings) noch der Fall war, vielmehr bezieht sich der größte Teil der intertextuellen Verweise auf Texte Paul Austers.89 Die intertextuelle Subjektkonstruktion erhält so eine intrikate Stellung: Denn wenn die Intertexte, die den Helden namens »Mr. Blank« bestimmen, so stets auch auf den Autor Paul Auster verweisen, dann bilden »Blank« und »Auster« gewissermaßen die beiden Brennpunkte einer intertextuellen Ellipse; die intertextuellen Verweise sind so angelegt, dass alles, was im Text auf Blank verweist, gleichzeitig auf Auster gerichtet ist, womit der Text nahelegt, diese beiden Instanzen in eins zu setzen. Travels in the Scriptorium ruft damit die theoretische Grundlage der Autobiografie auf den Plan und kommentiert sie gleichzeitig in bestimmter Weise: Der Inhalt des autobiografischen Pakts, dass Autor und Held in einer Instanz zusammenfallen, scheint hier in gewisser Weise erfüllt – jedoch mit den beiden Fußnoten, dass – erstens – »Paul Auster« hier nur als Schöpfer von Texten in den Blick kommt (über ein mögliches außertextliches Leben dieser Instanz erfahren wir hier schließlich nichts) und – zweitens – die Benennung des Protagonisten (in Lejeunes Theorieaufbau ein zentraler Punkt) hier als Akt reiner Willkür ausgestellt wird. Er kann »old man« heißen, wie auf den ersten Seiten des Textes, aber er kann auch in »Mr. Blank« umbenannt werden und ist dann bereit, diesen Namen anzunehmen – nicht ohne zu betonen: »I’m not sure of anything. If you want to call me Mr. Blank, I’m happy to answer to that name.«90 Warum, so scheint der Text zu suggerieren, sollten wir ihn nicht »Paul Auster« nennen dürfen, also ihm den Namen geben, den uns das Titelblatt des Buches, das wir in der Hand halten, zur Verfügung stellt? Für Letzteres spricht immerhin, dass Blank als derjenige gekennzeichnet wird, der das Leben zahlreicher »operatives«91 bestimmt hat, die er auf Missionen entsandt hat und die ihm jetzt wieder begegnen – und diese Figuren sind intertextuell informierten Lesern gleichzeitig als Figuren bekannt, die aus dem textuellen Universum des Werks von Paul Auster stammen, der also aus produktionsästhetischer Sicht genauso als derjenige anzusehen wäre, der die Existenz und die Lebenswege

89

Einen – wie die vorliegende Darstellung – keine Vollständigkeit beanspruchenden, aber dennoch viele der z.T. stark verschachtelten Beziehungen aufgreifenden Überblick über dieses Netzwerk bieten Martin Butler u. Jens Martin Gurr: The Poetics and Politics of Metafiction: Reading Paul Auster’s »Travels in the Scriptorium«. In: English Studies 89 (2008), H. 2, S. 195–209, hier S. 200–203.

90

Auster: Travels in the Scriptorium, S. 5.

91

Auster: Travels in the Scriptorium, S. 46.

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dieser Figuren »bestimmt«, ja sogar: erschaffen hat.92 Dass (›auch‹) Blank ihr Schöpfer (oder Autor) ist, deuten mehrere der Figuren in dementsprechend interpretierbaren Äußerungen an. So bekräftigt Anna Blume: »[W]ithout you, I wouldn’t be anyone«,93 eine Aussage, die, wenn man sie nicht metaphorisch liest, auf die Funktion eines Schöpfer-Autors hindeutet, ebenso wie das Gespräch mit Anna, in dem Blank möglicherweise ein schwieriger Schreibprozess in Erinnerung gerufen wird: »You didn’t know what to do with me […]. It took you a long time to figure it out. / And then I sent you on your … your mission.«94 Blank erinnert sich an die meisten Dinge aus seinem Vorleben nicht mehr, was, wie der Text suggeriert, in der von einer einschlägigen Medikation begleiteten Behandlung begründet liegt, der ihn seine Figuren unterziehen.95 Erst langsam wird ihm klar, dass er offenbar ein Schriftsteller ist: Sein ›Arzt‹, Samuel Farr, weist ihn an, ein in seinem Zimmer aufgefundenes, jedoch unvollständiges Manuskript zu Ende zu denken.96 Anders als beinahe alle anderen Tätigkeiten, bei deren mühsamer Verrichtung der ›alte Mann‹ geschildert

92

Jonathan Boulter gelangt auf Grundlage einer dementsprechend produktionsorientierten Sichtweise zu der These, dass Auster in Travels in the Scriptorium »the subject itself into an archive« transformiere. Im Zuge seiner Analyse kommt er zu der problematisch intentionalistischen Einschätzung, der Roman sei »a deeply, and intentionally, narcissistic novel«. Jonathan Boulter: Melancholy and the Archive. Trauma, History and Memory in the Contemporary Novel. London/New York: Continuum 2011, S. 23 u. 50.

93

Auster: Travels in the Scriptorium, S. 20. Vgl. auch die analog hierzu interpretierbare

94

Auster: Travels in the Scriptorium, S. 22. – Die Reden der verschiedenen Figuren und

Aussage von Flood: »Without that dream, I’m nothing, literally nothing.« (Ebd., S. 48.) der Erzählinstanz folgen in Travels in the Scriptorium ohne Anführungszeichen aufeinander. Sprecherwechsel indizierende Zeilenumbrüche werden deshalb in den Zitaten durch Virgeln wiedergegeben. 95

Vgl. Auster: Travels in the Scriptorium, S. 13 f. u. 93.

96

Das Manuskript ist ein intertextuelles Fundstück: Es handelt sich, ausweislich des hier wie dort wiedergegebenen Inhalts, um ein Manuskript, das der Schriftsteller John Trause in Oracle Night in den 50er-Jahren geschrieben, jedoch nie veröffentlicht hat und das den Titel »The Empire of Bones« trägt (vgl. Auster: Travels in the Scriptorium, S. 72; Paul Auster: Oracle Night. New York: Picador 2003, S. 149–151). Eine Übereinstimmung zwischen Blank und Auster (als dem Schöpfer des Textes, in dem das fiktive Manuskript vorkommt) wird dadurch nahegelegt, dass Blanks Vervollständigung der Geschichte genau dem folgt, was in Oracle Night als Inhalt des Textes angegeben wird. Die Figur »Trause« ist nicht zuletzt durch die Tatsache, dass ihr Nachname ein Anagramm von »Auster« ist, in die hier präsenten Verschiebungen zwischen Autor- und Erzählinstanzen sowie Figuren eingebunden.

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wird, geht ihm dieses Weiterdenken der Handlungslinie äußerst leicht von der Hand, was Farr zu dem Kommentar bewegt: »Old habits die hard«.97 Und als Blank dann wieder allein gelassen an die Decke blickt, wird ihm klar, was offenbar seine übliche Tätigkeit gewesen sein muss: As Mr. Blank continues to study the ceiling, its whiteness gradually conjures up an image to him, and instead of looking at a ceiling he fancies that he is staring at a sheet of paper. […] something stirs inside him, some distant memory he cannot fix in his mind […] he can dimly make out the contours of a man who is undoubtedly himself, sitting at a desk and rolling a sheet of paper into an old manual typewriter. […] and then Mr. Blank wonders how many times he must have repeated this gesture, […] thousands upon thousands of times, more sheets of paper than a man could possibly count in a day or a week or a month.98

Blank stellt sich als Schriftsteller heraus, der von seinen eigenen Figuren heimgesucht wird, ohne dass er dies zunächst zu erkennen in der Lage ist. So muss jede Figur, die sein Zimmer betritt, sich bei ihm wieder in Erinnerung bringen, und die Informationen, die wir über diese Figuren erhalten, verweisen jeweils auf deren ›Einsatzort‹ in Kontexten, die Blank für sie erschaffen hat – bzw. auf andere Romane Austers. Im Einzelnen begegnet Blank: Anna Blume, die jetzt seine Pflegerin zu sein scheint und ihm einen Lebenslauf nahezubringen sucht, den sie als Protagonistin von In the Country of Last Things durchlebt hat;99 James P. Flood, der hier als »ex-policeman« firmiert und dessen textuelle Existenz sich auf eine kurze Erwähnung eines Traums von ihm in Austers The Locked Room beschränkt, in dem er wiederum als Held eines verschollenen Romans aus der Feder eines gewissen

97

Auster: Travels in the Scriptorium, S. 76. – Die von Blank ersonnene Fortsetzung des Manuskripts führt einen Stamm von »Primitives« ein, die den Namen »The Djiin« erhalten: »Sounds a little like Injun, but with other connotations mixed in as well« (ebd., S. 99). Die ›Djiin‹ sind damit konnotativ bestens geeignet, wie die anderen Figuren aus Blanks Œuvre später gewissermaßen als unbeherrschbar gewordene Flaschengeister (oder ›Djinns‹) zurückzukehren und ihren Erschaffer heimzusuchen.

98

Auster: Travels in the Scriptorium, S. 97 f.

99

Auster: Travels in the Scriptorium, S. 12–24. – Die Rede ist in diesem Kontext auch von David Zimmer (vgl. ebd., S. 20 f.), einer Figur, die in Moon Palace der Freund der auch hier wieder auftauchenden Anna Blume ist. David Zimmer ist gleichzeitig der Name des Erzählers in Austers Roman The Book of Illusions. Anna berichtet daneben von Peter Stillman (ebd., S. 23), der offenbar mit der Figur gleichen Namens in Austers Roman City of Glass gleichzusetzen ist.

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Fanshawe gekennzeichnet wird;100 Samuel Farr, der jetzt Blanks Arzt ist und auf ein Leben zurückblickt, das dem des (vorgespiegelten) Arztes in In the Country of Last Things entspricht;101 Sophie, die hier eine weitere Pflegerin ist, Namen und Schicksal jedoch mit der Ehefrau des namenlosen Erzählers in The Locked Room teilt, die zuvor mit Fanshawe verheiratet war;102 und schließlich Daniel Quinn, der nun Blanks Anwalt ist, von sich selbst jedoch sagen kann, dass Blank »sent me out on more missions than anyone else«,103 hinter denen sich die Handlungswelten von City of Glass, The Locked Room, In the Country of Last Things sowie Mr. Vertigo verbergen.104 Während diese in Blanks Zimmer auftretenden Figuren im Großen und Ganzen in der Lage sind, ihm zu erklären, was ihre Vergangenheit ist, schafft Blank selbst es nicht, anhand einer Reihe von Fotos andere seiner »operatives« zu erkennen.105 Blank als Schriftsteller tritt seinen eigenen Figuren gegenüber, der Text ist mithin als intertextuelle Metalepse angelegt, bei der Figuren, die als Instanzen einer fiktionalen Welt angesehen werden können, in die Welt ihres Autors und Schöpfers eindringen.106 Wie in The Invention of Solitude oder The Red Notebook wird eine Schriftstellerinstanz vorgeführt, die vor allem durch ihre intertextuelle Prägung ein Profil gewinnt. Die Begegnung zwischen Schriftstellersubjekt und Intertext ist jedoch hier eine andere: Die konventionell-logische Trennung zwischen vermeintlich realer und fiktionaler Welt, die in The Invention of Solitude doch zumindest schon mit einem Fragezeichen versehen worden war und die in The Red Notebook durch die mehrfache Überlieferung der Erzählungen infrage stand, wird hier durch die Figur der intertextuellen bzw. der narrativen Metalepse vollständig aufgehoben. Diese Trennung der Welten fällt nicht nur, wie bereits in Austers Prosaerstling, im Zuge

100 Auster: Travels in the Scriptorium, S. 44–49. Vgl. Paul Auster: New York Trilogy. London: Faber & Faber 2004 (zuerst: 1985–1987), S. 276. 101 Auster: Travels in the Scriptorium, S. 69–81. 102 Auster: Travels in the Scriptorium, S. 80–92. 103 Auster: Travels in the Scriptorium, S. 109. 104 Auster: Travels in the Scriptorium, S. 106–113. 105 Vgl. Auster: Travels in the Scriptorium, S. 36 f. – Die Fotos bilden, wie an intertextuellen Überschneidungen der Figurenbeschreibungen deutlich wird, offenbar folgende Figuren aus Romanen Austers ab: Julian Barber alias Thomas Effing in Moon Palace; Mrs. Witherspoon in Mr. Vertigo; Flower in The Music of Chance; Kitty Wu in Moon Palace; Master Yehudi in Mr. Vertigo; Marco Stanley Fogg in Moon Palace; John Trause in Oracle Night; Willy G. Christmas in Timbuktu; Edward M. Johnson alias Ed Victory in Oracle Night; Pozzi in The Music of Chance. 106 Zur narrativen Metalepse vgl. Genette: Die Erzählung, S. 167–169.

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der Verschriftlichung eines Lebens, die keinen direkten Zugriff zur Erfahrung hat und demnach auf Fiktionalisierung und intertextuelle Rückgriffe angewiesen ist; diese Trennung wird grundsätzlich infrage gestellt, indem das logische Apriori, dass Figuren und ihr Autor in unterschiedlichen, nicht zu verbindenden Welten leben, durch die metaleptische Struktur des Textes aufgehoben wird. Blank trifft nicht nur seine Figuren in der Erinnerung und im wirklichen Leben an, am Ende wird er in eine Mise-en-abyme-Struktur verwickelt, die ihn selbst zur Figur in einer Erzählung werden lässt, die von einer seiner Figuren – Fanshawe107 – geschrieben worden ist. Fanshawe ist, so lesen wir, der Verfasser von Travels in the Scriptorium,108 und Blank, derjenige, der Fanshawe offenbar erschaffen hat, ist eine Figur dieser Erzählung. Gleichzeitig weist uns der Paratext des Buches, das wir als Leser in der Hand halten, darauf hin, dass Paul Auster der Verfasser von Travels in the Scriptorium sei; die Metalepse wird damit nicht nur auf der textinternen Ebene vorgeführt, sondern sie greift gewissermaßen über den Rand der Erzählung hinaus und bezieht auch deren Autor ein. Nicht nur Blank ist damit in zweierlei Hinsicht von seinen Figuren bestimmt (nämlich intertextuell und indem er metaleptisch zur Figur einer Erzählung einer Figur wird), sondern auch »Paul Auster« wird in diesen Kreis hineingezogen. Wenn uns der Roman schon von Anfang an nahelegte, »Auster« und »Blank« als austauschbare Namen zu betrachten, scheint uns der metaleptische Charakter des Textes am Ende mitzuteilen, dass sogar »Auster«, »Blank« und »Fanshawe« austauschbar sind – Auster bestimmt Blank, der Fanshawe bestimmt, und umgekehrt bestimmt Fanshawe Blank und Auster. Was in The Invention of Solitude als postmoderne Subjekttheorie erkennbar war, die das erfahrende Subjekt im (Inter-)Text auflöst, wird hier noch erweitert, indem darüber hinaus die Frage gestellt wird, ob eigentlich die Annahme begründbar ist, dass die von uns als außertextliche Welt wahrgenommene Ebene grundlegend und real ist, oder ob nicht genauso viel dafür spricht, den Text als Ursache der Welt, in der wir leben, anzuse-

107 Auch Fanshawe ist einer der »operatives« von Blank, vgl. Auster: Travels in the Scriptorium, S. 46. – Fanshawe ist auch der Titel eines frühen Romans von Nathaniel Hawthorne (und von dessen Protagonisten), der in Auster-Texten immer wieder als Intertext präsent ist. Hier wird mehrfach auf die Fanshawe-Figur in The Locked Room angespielt, einem Roman, der vom Nachleben der Manuskripte eines Autors namens Fanshawe in den Händen eines namenlosen Schriftstellers berichtet, der seinerseits angibt, die Texte City of Glass und Ghosts geschrieben zu haben, mithin ebenfalls eine interessante Nähe zum auf dem Titelblatt dieser Romane stehenden Paul Auster hat. »Fanshawe« und »Auster« bilden hier wie dort zwei Seiten derselben Medaille. 108 Auster: Travels in the Scriptorium, S. 115.

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hen.109 Travels in the Scriptorium radikalisiert so die subjekt- und fiktionalitätstheoretische Grundlage, die in The Invention of Solitude geschaffen wurde. 7.4.2 Ewiges Leben: Der Autobiograf als fiktionale Figur Die »figments of another mind«,110 das ist zumindest der Standpunkt, den der Erzähler Fanshawe auf den letzten beiden Seiten des Romans bezieht und performativ rechtfertigt, haben letztlich immer ›das letzte Wort‹. Anders als Personen der realen Welt, die leben und sterben, sterben sie nie, »[they] continue to exist forever, and [their] stories go on being told even after [they] are dead«.111 Indem der Autor zur Figur wird, so könnte man diese These umgekehrt lesen, sichert er sich erst sein eigenes Nachleben, Blank/Auster wie der namenlose Erzähler in The Invention of Solitude werden zum Textphänomen, das ebendieses unendliche Leben als Text erreicht hat. Das mag zunächst, vor allem in Travels in the Scriptorium, nicht nach mehr aussehen als nach einer postmodernen Spielerei; auf den zweiten Blick gewinnt es, wie man an Blanks Schicksal erkennen kann, jedoch eine geradezu existenzielle Relevanz. Auf postmoderner Grundlage nimmt Travels in the Scriptorium so Stellung zur Rolle des Schriftstellers: Denn das Schreiben macht das schreibende

109 Eine Folge, auf die für die Metalepse im Allgemeinen bereits Genette hinweist, der Borges zitiert: »Von daher die Unruhe, die Borges so richtig benannt hat: ›Solche Spiegelungen legen die Vermutung nahe, daß, sofern die Figuren einer Fiktion auch Leser und Zuschauer sein können, wir, ihre Leser und Zuschauer, fiktiv sein können.‹ Das Verwirrendste an der Metalepse liegt sicherlich in dieser inakzeptablen und doch so schwer abweisbaren Hypothese, wonach das Extradiegetische vielleicht immer schon diegetisch ist und der Erzähler und seine narrativen Adressaten, d.h. Sie und ich, vielleicht auch noch zu irgendeiner Erzählung gehören.« Genette: Die Erzählung, S. 169. 110 Auster: Travels in the Scriptorium, S. 118. 111 Auster: Travels in the Scriptorium, S. 118. – Das Leben Blanks wird nicht nur durch seine ›Figurwerdung‹ verewigt, auch seine Missionen gehen – mit neuen »operatives« und gnadenloser denn je – weiter: In Austers Man in the Dark kehrt er wieder als ein Verdächtiger (oder heißt er doch »Blake«, »Black«, »Bloch« oder – worauf sich die wichtigsten Ermittler schließlich einigen – »Brill«?), dem der Garaus gemacht werden soll, weil er für den Krieg verantwortlich zu sein scheint, unter dem die Protagonisten (in einer fiktionalen Welt dritten Grades) zu leiden haben – »More than thirteen million dead already« –: »He invented it, and everything that happens or is about to happen is in his head. Eliminate the head, and the war stops. It’s that simple. […] whatever he writes comes true.« Paul Auster: Man in the Dark. London: Faber & Faber 2008, S. 10. Zu den Namen vgl. ebd., S. 9 u. 70.

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Subjekt grundlegend einsam – und ist dennoch das Einzige, zu dem es wirklich in der Lage ist. Der schwache Blank hat keine andere Chance, als der unmoralisch anmutenden Tätigkeit nachzugehen, die ihm vonseiten seiner Figuren im Nachhinein vorgehalten wird, denn »if you want to tell a good story, you can’t show any pity«.112 So jenseits aller moralischen Bindungen an andere stehend, die Verantwortung für alles, was im fiktionalen Rahmen passiert, leugnend – »I’ve never done any of those things. / That’s a debatable point. It all depends on how you look at it.«113 –, ist der Schriftsteller in einem Universum von Texten vollkommen auf sich allein gestellt. Ohne Verantwortung gegenüber anderen, in einem fiktionalen Raum existierend, der solche Macht entfaltet, dass er sogar der Realität des Schreibenden den Boden unter den Füßen wegzuziehen in der Lage ist, reproduziert er stets nur eine Situation, die, wie wir seit Austers Frühwerk wissen, nur für das Schreiben selbst bestens geeignet ist: »he is feeling particularly alone just now, fairly crushed by the weight of his enforced solitude«.114

7.5 Z WISCHENFAZIT Paul Austers Schaffen ist hier anhand von drei Stationen analysiert worden, von denen aus immer wieder auch Seitenblicke auf andere Werke zu werfen waren. So lässt sich vor allem für die näher analysierten Texte, aber auch, so die hier nicht letztgültig nachvollziehbar zu machende Hypothese, für Austers Gesamtwerk ein Zirkulieren um immer wiederkehrende Fragen der erkenntnistheoretischen Unterscheidung zwischen Leben und Literatur sowie der intertextuellen Verankerung eines Subjektbildes als zentrales Charakteristikum ausmachen. The Invention of Solitude, der 1982 erschienene Prosaerstling Paul Austers, vollzieht hierbei ein Emplotment von Subjektivität vor dem Hintergrund der textuellen Annäherung an den Vater und an das Verhältnis zum eigenen Sohn. Hierbei wirft Auster erstmals die in der Folge immerzu variierten Fragen nach Zufall und Schicksal bzw. Logik auf und kommt schließlich zu einer Position, die die Unbeantwortbarkeit der Frage nach der Referenzialität von Texten in den Mittelpunkt stellt. Sie ist für Auster jedoch nicht das Ende des autobiografischen Projekts (wie man das im Hinblick auf tradierte Theorieentwürfe annehmen könnte), sondern erst der Anfang: Über die Anverwandlung intertextueller Bezugnahmen kommt es zu der für die Autobiografie als zentral angesehenen anschlussfähigen Kommunizier-

112 Auster: Travels in the Scriptorium, S. 101. 113 Auster: Travels in the Scriptorium, S. 110; Blank spricht mit seinem Anwalt Quinn. 114 Auster: Travels in the Scriptorium, S. 98. Hervorhebung: RWJ.

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barkeit der eigenen Person, die so nicht in erster Linie in ihrer textuell uneinholbaren Individualität, sondern vielmehr im Rückgriff auf breiter bekannte loci einer weltliterarischen Topik erreicht wird. Dass auch im Falle Austers eine starre Abgrenzung zwischen Werk und anderen Texten nicht trägt, wurde am Beispiel von The Red Notebook and other Writings, einer Sammlung von vermeintlich autobiografischen Kurzerzählungen, Vorworten, Interviews und Essays, verdeutlicht. Unter Rückgriff auf die auf den »Akten des Fingierens« beruhende Fiktionalitätstheorie Wolfgang Isers ließ sich der Sammlung ein Werkstatus zuschreiben, der nicht von produktionsästhetischen Leitlinien geprägt ist, sondern von der bei Iser rezeptionsästhetisch herstellbaren Ganzheit im Hinblick auf ein in der Fiktionalisierung des Realen wirksames Imaginäres. Die thematische und strukturelle Verwobenheit der Einzelbestandteile, die abermals intertextuelle und fiktionalitätstheoretische bzw. metafiktionale Strategien deutlich werden lässt, macht eine Lektüre der Textsammlung im Hinblick auf die Herstellung einer Autorsubjektivität im Text möglich und fruchtbar. In Teilen ist bereits in The Red Notebook and other Writings eine Fortentwicklung dieser intertextuellen Anlage zu beobachten, die ihre bislang konsequenteste Form in dem Roman Travels in the Scriptorium gefunden hat. Der von der Figur der narrativen Metalepse dominierte Text konstruiert eine Autor-/Erzähler-/Figureninstanz, die im Wesentlichen von ihren Verbindungen zu Figuren aus dem Auster’schen Erzählwerk geprägt ist. Die hier erkennbare ›Autointertextualität‹ führt Autorschaft letztlich auf die Kommunikation mit und mithilfe von Figuren aus den eigenen Texten zurück – sie sind es, die das Fortleben des Autors sichern, ohne dass dessen Erfahrung hierfür eine Rolle spielen würde. An die Stelle des in früheren Werken immer wieder aufscheinenden Existenzialismus tritt in Travels in the Scriptorium die Verheißung einer diesseitigen Unsterblichkeit als Apotheose des Autors im Text – vielleicht die am weitesten gehende Interpretation des Autobiografischen im Zeichen der Postmoderne, die in dieser Studie diskutiert wurde.

Fazit

Diese Arbeit ging von der überraschenden Erkenntnis aus, dass weite Teile der Autobiografietheorie bis heute vor dem Hintergrund einer Erkenntnistheorie argumentieren, die keine Konsequenzen aus den als postmodern bezeichneten Herausforderungen an die zentralen Kategorien des Subjekts und der Referenz gezogen hat. In einer Hypostasierung spezifischer Elemente, die in der Einleitung auf Rousseaus Bekenntnisse zurückgeführt wurden, hat sich eine Gattungstheorie entwickelt, die von der Vorstellung geprägt ist, ein seiner selbst gewisses Autorsubjekt widme sich in der Autobiografie in authentischem Ausdruck seiner referenziell abgebildeten Lebensgeschichte – eine Diagnose, die im Hinblick auf die Entwicklung der Gattungstheorie seit Dilthey und bis hin zu ihren neuesten Äußerungsformen einer Theorie der Inszenierung sowie der Autofiktion erhärtet werden konnte. Zwei zentrale Probleme bringt diese Art der gattungstheoretischen Verortung mit sich: Sie geht erstens davon aus, dass Ereignisse des Lebens umstandslos in Text umgesetzt werden und dass – umgekehrt – Texte dementsprechend direkt auf die Realität verweisen können. Zweitens basiert sie auf der Vorstellung, autobiografische Texte spiegelten die Intentionen ihrer Verfasser – konkret identifizierbarer Subjekte – direkt wider, von den Texten selbst könne also auf diese und ihre Absichten sowie ihre authentische Gefühlswelt zurückgeschlossen werden. Der ersten Annahme begegnet im Rahmen der Referenzkritik die Theoriebildung von Hayden White, der verdeutlicht hat, dass der Übergang historischer Ereignisse in Erzählungen, wie er auch der Autobiografie zugrunde liegt, nie ohne den Rückgriff auf kulturell vorgeprägte Narrationsformen auskommt. Jede Verwandlung einer Kette von Ereignissen in einen narrativen Plot führt so dazu, dass die Ereignisse in bestimmter Form wahrgenommen werden, was den Rückschluss vom Text auf dessen reine Faktengrundlage als aussichtsloses Unterfangen erscheinen lässt. Die Vorstellung, vom autobiografischen Text, dem ein bestimmtes Emplotment zugrunde liegt, ließe sich auf die referenzierten Ereignisse zurückschließen, ist damit nicht aufrechtzuerhalten; auf Referenzannahmen, wie sie etwa der einflussreiche »autobiographische Pakt« Philippe Lejeunes voraussetzt, muss eine postmo-

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dern informierte Autobiografietheorie deshalb verzichten. Jeder autobiografische Text muss damit als fiktionaler Text behandelt werden; die Vorstellung einer Gattungsdefinition, die die Autobiografie als faktual aus dem Bereich der Fiktionalität ausgrenzt, ist im Hinblick auf die entsprechende Theoriebildung (Whites, aber auch etwa Wolfgang Isers) nicht zu halten. Die zweite Annahme ist vonseiten der Intertextualitätstheorie (Kristeva, Barthes) sowie der Diskursanalyse (Foucault) infrage gestellt worden. Die für die Vorstellung der Intentionalität und des authentischen Ich-Ausdrucks im Text grundlegende Instanz des Subjekts, das souverän über seine Wahrnehmungen und seinen Ausdruck verfüge, haben sie einer Kritik unterzogen, die wesentliche Aspekte dieses Konzepts infrage gestellt hat. Ein zentraler Zweifel, den beide Theorierichtungen gemein haben, betrifft dabei die Frage der Geschlossenheit einer solchen Instanz: Die Intertextualitätstheorie verweist auf die stets dem einzelnen Subjekt vorgängige Welt der Texte, zu der sich jeder neue Text in Beziehung setzt, wobei ein »Subjekt der Schreibweise« erkennbar wird, das jedoch, wie Barthes anschließend an Kristeva darstellt, Resultat der Textrezeption ist (und damit nicht dem Text vorgängig und an dessen Ursprung stehend); die Diskursanalyse verdeutlicht, dass nicht das einzelne (subjektive) Bewusstsein die bestimmende Ordnungsinstanz der Organisation von Wissen sein kann, sondern dass die Bezugnahme auf vorhandene Diskurse und ihre Rekombination eine individuelle Position andeuten können, die ohne den problematischen Rückgriff auf ein vermeintlich autonomes Bewusstsein auskommt. Für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit sogenannten autobiografischen Texten erscheinen beide Theorierichtungen hingegen geradezu als Glücksfall, ermöglichen sie es doch, ausgehend von den Texten selbst und ihrem Bezug zu anderen Texten bzw. Diskursen eine individuelle Position des in ihnen präsentierten »Menschen« (Foucault) bzw. »Subjekts der Schreibweise« (Barthes/ Kristeva) herauszuarbeiten, das als Knotenpunkt im Netz der Diskurse oder als Schnittpunkt der Intertexte angesehen werden kann. Gegenstand einer postmodernen autobiografietheoretischen Beschäftigung wäre es damit, die Art und Weise, auf die im Text ein Subjekt erst hergestellt wird, zu analysieren und die Textstrategien zu verfolgen, die dabei zum Einsatz kommen. Ohne dass es hierdurch tatsächlich zu einer »klassischen« gattungstheoretischen Grundlegung des Autobiografischen kommen würde (was aufgrund des tendenziell deduktiven Charakters entsprechender Definitionen auch nicht wünschenswert erscheint), ließe sich als spezifisch autobiografischer Anteil an den untersuchten Texten herausstellen, inwiefern und mit welchen Mitteln sie die Entstehung und das Produktivwerden eines schreibenden Subjekts im Text verhandeln, auf welche Diskurse und Intertexte sie dabei verweisen, mit welchen Mitteln das geschieht und auf welche Weise sie so ein Bild historischer Realität mit fiktionalen Strategien im Text herstellen.

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Die Analysen in Teil B widmen sich diesen Fragen; sie untersuchen also, wie in den Texten das Bild eines schreibenden Subjekts hervorgebracht wird. Darüber hinaus verdeutlichen sie, inwiefern sich die Texte selbst kritisch mit den Referenzannahmen der klassischen autobiografietheoretischen Entwürfe auseinandersetzen, diese hinterfragen oder alternative Lösungen finden. In einem ersten Schritt wurde hierbei anhand von Goethes Dichtung und Wahrheit gezeigt, dass bereits dieser Text – im Rahmen der deutschsprachigen Autobiografietheorie bisweilen geradezu als Kronzeuge für die gegenteilige Einschätzung aufgerufen – Authentizitäts- und Referenzannahmen deutlich sichtbar unterläuft. Nicht zuletzt die intertextuelle Verankerung der als erlebt präsentierten, hier exemplarisch untersuchten Sesenheim-Episode sowie ihre metatextuelle Reflexion im Märchen Die neue Melusine unterstreichen – flankiert von entsprechenden rezeptionsleitenden Kommentaren des Erzählers und verschiedener Figuren –, dass eine einfache referenzielle Lesart der Episode nicht aufgeht. Vielmehr reflektiert Goethe Fragen der Identitätsbildung, die als unabgeschlossener, von verschiedenen Masken geprägter Prozess dargestellt wird, und nutzt die intertextuelle Verankerung im Zusammenspiel mit der genretypischen Schilderung deutschen Landlebens dazu, ein neues Dichtungsideal zu begründen, als dessen entscheidende Trägerinstanz der aus dem Text hervorgehende junge Dichter fungiert. Im Kontext eines den Einzeltext und seine Erlebnisschilderungen weit überragenden ästhetischen Diskurses entsteht somit ein Subjektbild, dessen potenzieller referenzieller Gehalt gegenüber dieser Positionierung im literarischen Feld und in Bezug auf verschiedene intertextuelle Vorläufer zu vernachlässigen ist. Dichtung und Wahrheit kann daher in dem Sinn als ›postmoderner‹ Text aufgefasst werden, als er zentrale Annahmen der modernen Erkenntnistheorie reflektiert und ästhetisch überwindet. Die Autobiografik Thomas Bernhards präsentiert den Weg des autobiografischen Helden zum Schriftsteller als existenzialistischen Konflikt mit der einengenden Außenwelt. Die Figur der »Wende«, der vom Einzelnen verantworteten Umkehr in seinem Leben, ist dabei ein zentrales Motiv, das in diskursanalytischer Weise die Positionierung des Einzelnen jenseits festgelegter diskursiver Zusammenhänge prägt – sie verweist intertextuell auf ein existenzialistisch grundiertes Textkorpus, nicht referenziell auf die Gefühlswelt der Autorinstanz, was durch die Markierung der intertextuellen Bezugnahmen auf das Wende-Pathos des Existenzialismus und dessen bisweilen erkennbare Verzerrung ins Groteske deutlich wird. Ausgehend von Foucaults Konzepten des Disziplinardispositivs und der Heterotopie ließ sich zeigen, dass das Durchdringen zum eigenen Künstlertum, wie es hier dargestellt wird, vor allem davon geprägt ist, dass es dem Protagonisten gelingt, aus der teils von ihm selbst gewählten, teils ihm aufgedrängten Außenseiterposition einen ›anderen Ort‹ zu machen, der eine Ausrichtung der Existenz nach Gesichtspunkten möglich macht, die die Mehrheitsgesellschaft ansonsten unterdrückt. Charakteristisch für Bernhards Autobiografie ist dabei die (narratologisch herauszuar-

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beitende) besondere Stellung, die sie dem erzählenden Ich zuweist, das als in jeder Hinsicht dem erlebenden Ich überlegen gekennzeichnet wird: Das letzte Wort behält stets der Erzähler, der, wie vor allem in Ein Kind deutlich wird, die Macht über die Plots in der Hand hält, die den textuellen Eindruck prägen, den sein Leben auf seine Rezipienten macht. Die Literatur erscheint in Bernhards autobiografischer Subjektkonstruktion in zweierlei Hinsicht als Rettung aus prekären Umständen: Einerseits sichert sie das tatsächliche Überleben des Helden, der durch sie aus der Todesumgebung der Lungenheilstätte hinausgeführt wird, andererseits rettet sie durch die erzählerische Darstellung das womöglich triste Erleben, indem sie es als existenzialistische Heldengeschichte erzählbar macht – als Heldengeschichte freilich, deren intertextuell an Vorläufern ausgerichtete Gestaltung permanent transparent gehalten wird und der so allenfalls eine Suggestion von Authentizität eigen ist, die durchgehend unterlaufen bzw. als literarische Konstruktion erkennbar wird. Elemente einer postmodernen Subjektkonstruktion in der Angewiesenheit auf andere Menschen und Diskurse durchziehen das Werk von Thomas Glavinic. Ex negativo, als Ausfallen von Möglichkeiten der Selbstdefinition im Kontakt mit anderen, zeigt der Roman Die Arbeit der Nacht deren (später im autobiografischen Werk zum Tragen kommende) Relevanz – dem Protagonisten bleibt angesichts des Fehlens solcher Möglichkeiten der Selbstfindung und der daraus resultierenden Spaltung seiner Persönlichkeit letztlich nur der Selbstmord als Ausweg. Die Arbeit der Nacht wird dann der vor diesem Hintergrund besonders einschlägige Gegenstand von Glavinics Roman Das bin doch ich, in dem verdeutlicht wird, in welcher Hinsicht sich ein Autor-Ich einerseits schreibend, andererseits aber noch mehr in den Zeiten finden kann, die nicht vom Schreiben geprägt sind. Mechanismen des literarischen Feldes – eine Verortung gegenüber anderen Autoren bzw. Texten und in den Zusammenhängen des Literaturmarktes – werden dabei zu wesentlichen Ankerpunkten der Schriftstellersubjektivität. Die Zurückgeworfenheit auf sich selbst erscheint dabei als autobiografietheoretisches Problem, ist sie es doch, die dem Autor-Erzähler klarmacht, welch geringen Stellenwert seine tatsächlichen lebensweltlichen Zusammenhänge haben. Das Autor-/Erzähler-Ich lässt sich in Das bin doch ich letztlich relational von der Bezugnahme auf gut eingeführte, transparent werdende Diskurse beschreiben, bei denen es ›dabei ist‹. Hierdurch entsteht eine Art der Subjektkonstruktion, die unabhängig ist von referenziellen Bezugnahmen und keine Geschlossenheit aufweist, sondern durch andere Bezüge, wie sie dann etwa die Poetikvorlesung Glavinics bietet, erweitert werden kann – der Blick auf die diskursive Umwelt ist nötig, um das autobiografische Subjekt zu erkennen. Die autobiografische Textsorte der Poetikvorlesung lässt sich dabei als Feld abstecken, das erneut Anlass zur Reflexion von Lesererwartungen und Referenzillusionen bietet, die in Glavinics Vorlesungen einerseits in Rollenspielen, andererseits in einem Emplotment des eigenen Schriftstellerdaseins münden, das als spezifische Erfolgsgeschichtsschreibung in Bezug auf den neuesten Roman des Autors zu durchschauen

F AZIT

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ist. Dass der Kernbestand der Gattung »Poetikvorlesung«, die Offenlegung des eigenen Schreibprozesses, dabei im Hinblick auf Versatzstücke der Methoden anderer Schreibender transparent wird, unterstreicht das Spiel des Textes mit den Erwartungen, die ein auf reale Blicke in die Werkstatt des Autors abzielendes Publikum haben mag. In ihrer bildlichen Drastik und narrativen Experimentier- und Formulierungskunst anders geartet sind die Romane Josef Winklers, die gleichwohl ebenfalls die Schnittstelle von autobiografischer Referenzerwartung und literarischer Subjektkonstruktion umkreisen. Herausgestellt wurde hier, inwiefern die Bezugnahme auf spezifische »Biographeme« des katholischen Kärntner Dorflebens das Material dazu bereitstellt, eine Subjektkonstruktion auf dieser Basis zu ermöglichen. Das schreibende Subjekt erschafft sich im Frühwerk Winklers in der Anverwandlung spezifischer Motive des Dorflebens, die in Form eines Plädoyers zugunsten der von katholisch-dörflicher Engstirnigkeit in den Selbstmord getriebenen homosexuellen Jugendlichen textproduktiv wird. Ästhetisch-motivische Überformung und intertextuelle Bezugnahmen verdeutlichen, dass die Relevanz dieser Subjektkonstruktion ebenfalls nicht in der Referenzierung der schmalen Faktenbasis, sondern in deren Übersteigerung ins Ästhetische zu suchen ist – es entsteht eine Art Topik des Autobiografischen, die ein das Gesamtwerk übergreifendes Motivgeflecht als Grundlage der Erzählersubjektivität herstellt. Über diese Topik wird zugleich Anschlussfähigkeit für die Rezipienten geschaffen, die die einzelnen Topoi im Gesamtwerk wiedererkennen sowie an Intertexte rückbinden können. Der Blick auf Roppongi, das 2007 im Abstand von 25 Jahren zum Frühwerk erschienene »Requiem«, ermöglicht es, die Wiederkehr derselben Biographeme in einem neuen Kontext zu analysieren, der durch eine exotistische Außenperspektive geprägt ist. Die Artifizialität der Subjektkonstruktion, die weit über die mögliche Referenz hinausreicht, wird durch diesen Vergleich (ebenso wie im Hinblick auf die rasante Übersteigerung der Biographeme in der ästhetischen Anverwandlung der Büchnerpreis-Dankesrede von 2008) noch einmal besonders deutlich. Im letzten Analysekapitel ist schließlich in komparatistischer Ergänzung des Textkorpus auf das Werk Paul Austers eingegangen worden. Austers Schreiben wurde dabei als im Ganzen auf einer spezifischen subjektkonstituierenden Strategie beruhendes Werk ausgewiesen, das sich einerseits mit Fragen von Authentizität und Literarizität und andererseits mit einer forciert intertextuellen Subjektkonstruktion auseinandersetzt. Austers früher Text The Invention of Solitude legt dabei den Grundstein für eine Theorie des autobiografischen Schreibens, die von der Erkenntnis ausgeht, dass nicht referenzielle Einlassungen die Wiedererkennbarkeit eines Subjekts sichern, sondern das In-Bezug-Setzen des eigenen Lebens zu vorgängigen Topoi, die dem Rezipienten allererst eine Einordnung ermöglichen, was die opaken Ereignisse einer Lebensgeschichte so nicht können. Auster etabliert zu diesem Zweck eine intertextuelle Topik, die die Verortung seiner eigenen Text-Persona

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ermöglicht, und verweist auf die Unmöglichkeit und grundsätzliche Unverstehbarkeit einer ›authentischen‹ Darstellung einerseits sowie Ununterscheidbarkeit von Fiktion und faktualer Erzählung andererseits. Von diesen Gedankengängen ausgehend wurde eine Textsammlung Austers, The Red Notebook and other Writings, als nach demselben Prinzip aufgebaute, auf das schreibende Subjekt verweisende Topik interpretiert; Erzählungen wie literarische Gebrauchsformen dienen hierin dazu, ein komplexes Bild des Autors im Diskurs und seinen intertextuellen Beziehungen hervorzubringen. Austers Roman Travels in the Scriptorium treibt diese Technik schließlich ins Extrem: Der Text erscheint als Summe des Autobiografischen im Auster’schen Sinne, als er sich in der Gestaltung der Autorsubjektivität nicht mehr fremder Intertexte bedient, sondern den Autor als Funktion seines eigenen Gesamtwerks und der darin vorkommenden Figuren umschreibt. Travels in the Scriptorium könnte damit als Text gelesen werden, der radikaler als alle anderen hier untersuchten Texte die Konsequenzen aus der postmodernen Subjekt- und Referenzkritik zieht: Der Autor erscheint darin nur mehr als Leerstelle, die von seinen Texten gefüllt wird – ohne jeden Anspruch auf die Geschlossenheit eines erlebenden Subjekts oder den Rückgriff auf dessen Lebenswelt. Als Ziel dieser Studie war zu Anfang formuliert worden, einen Umgang mit als autobiografisch rezipierten Texten zu finden, der den Herausforderungen der postmodernen Theoriebildung an die Wurzeln der Autobiografietheorie Rechnung trägt. Die Analysen haben gezeigt, dass eine zentrale Thematik des Autobiografischen, die Darstellung bzw. Konstruktion des zum Schreiben kommenden Ichs, sich auch ohne Rückgriff auf klassische Annahmen über Subjekt und Referenz an den Texten herausarbeiten lässt. Autobiografische Texte in diesem abgewandelten Sinn präsentieren damit Wege, auf denen Subjektivität im Text hervorgebracht werden kann, und bedienen sich hierzu diverser Strategien, die vor allem im Hinblick auf spezifische Erzählweisen, Bezugnahmen auf Intertexte und Verortungen des Einzelnen in übergreifenden Diskursen ihre Relevanz entfalten – ein Kernbestand der Autobiografik, den eine Theorie autobiografischer Architextualität (anstelle einer klassischen Gattungstheorie) auf Grundlage des hier untersuchten Textkorpus identifizieren kann. Das Erkennen von Subjektivität im Text ist dabei ein Akt der Rezeption, der im Rahmen der verknüpfenden Text-, Intertext- und Diskursanalyse geleistet werden kann, die so in einem veränderten Sinn Subjektivität stärken und weitertragen, obwohl man ihnen das Trachten nach dem ›Tod des Autors‹ bzw. dem ›Verschwinden des Subjekts‹ unterstellt hat. Dem ist im Hinblick auf die Analysen und die Möglichkeiten, die die postmoderne Theorie für sie schafft, zu widersprechen: In ihrer Öffnung des Subjektbegriffs für eine textbasierte Analyse schaffen diese Theorien Raum für einen neuen Umgang mit dem Subjektbegriff, von dem auch die Autobiografietheorie profitieren kann, wenn sie daraus die nötigen textanalytischen Konsequenzen zieht.

Dank

Mein besonderer Dank gilt den beiden Gutachtern im Promotionsverfahren, Prof. Dr. Ursula Kocher, Bergische Universität Wuppertal, und Prof. Dr. Peter Sprengel, Freie Universität Berlin, die mich ermutigt haben, diese Arbeit anzugehen, und mir in den verschiedenen Phasen des Projekts mit Rat und Tat unterstützend zur Seite gestanden haben, ohne mir dabei die Freiheit zu nehmen, dieses Buch so zu schreiben, wie ich es für gut hielt. Ihnen danke ich ebenfalls für die Ermöglichung einer materiellen Förderung im Rahmen einer Stelle am Institut für deutsche und niederländische Philologie der FU Berlin sowie durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, der für die Anschubfinanzierung dieser Arbeit ausdrücklich gedankt sei. Für den wissenschaftlichen Austausch zu Fragen der Narratologie, der poststrukturalistischen Theoriebildung, der Autobiografik und der Fiktionalitätstheorie sowie zu einzelnen Autoren sei an dieser Stelle Dr. Tim Lörke, Dr. Stefan Manns, Frank Jasper Noll, Maria Hinzmann, Julia Nantke, Dr. Ariane Port und Daniel Schweiker gedankt; frühe Unterstützung und Ermutigung in der Konzeption des Projekts wurde mir außerdem durch Prof. Dr. Stefan Keppler-Tasaki, Tokio/Berlin, zuteil. Für Rückmeldungen zum Manuskript in der letzten Arbeitsphase danke ich Dr. Maite Kallweit und Dr. Bärbel Müller. Ohne ein unterstützendes, verständnis- und liebevolles Umfeld hätte sich die Fertigstellung dieses Buches wesentlich schwieriger gestaltet. Ich danke insbesondere meiner Frau, Esther Jochum, und meinen Kindern Barbaros, Edda und Nike. Meine Eltern, Christiane Walter-Gogarten, Norbert Walter (†) und Hans Hondorf, haben die Grundlagen gelegt und mich durchgehend in Studium und Promotionszeit unterstützt. Ihnen widme ich diese Arbeit.

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Lettre Thorsten Carstensen, Marcel Schmid (Hg.) Die Literatur der Lebensreform Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900 Mai 2016, ca. 230 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3334-4

Anne Bertheau »Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung Rezeption – Reflexion – Produktion Mai 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3268-2

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie April 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Jenny Bauer Geschlechterdiskurse um 1900 Literarische Identitätsentwürfe im Kontext deutsch-skandinavischer Raumproduktion April 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3208-8

Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 Dezember 2015, 406 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3078-7

Tanja Pröbstl Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen August 2015, 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3179-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Svenja Frank, Julia Ilgner (Hg.) Ehrliche Erfindungen Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne März 2016, ca. 440 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3319-1

Alexandra Millner, Katalin Teller (Hg.) Transdifferenz und Transkulturalität Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns März 2016, ca. 500 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3248-4

Andrea Horváth, Karl Katschthaler (Hg.) Konstruktion – Verkörperung – Performativität Genderkritische Perspektiven auf Grenzgänger_innen in Literatur und Musik Dezember 2015, 240 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3367-2

Reinhard Babel Translationsfiktionen Zur Hermeneutik, Poetik und Ethik des Übersetzens Oktober 2015, 422 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3220-0

Johanna Richter Literatur in Serie Transformationen des Romans im Zeitalter der Presse, 1836-1881

Erik Schilling Dialog der Dichter Poetische Beziehungen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts

März 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3166-1

September 2015, 160 Seiten, kart., 23,99 €, ISBN 978-3-8376-3246-0

Jennifer Clare Protexte Interaktionen von literarischen Schreibprozessen und politischer Opposition um 1968

Sophie Witt Henry James’ andere Szene Zum Dramatismus des modernen Romans

Februar 2016, 308 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3283-5

September 2015, 402 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2931-6

Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing

Sebastian Schmitt Poetik des chinesischen Logogramms Ostasiatische Schrift in der deutschsprachigen Literatur um 1900

Januar 2016, 252 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6

September 2015, 300 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3247-7

Elisabeth K. Paefgen Film und Literatur der 1970er Jahre Eine Studie zu Annäherung und Wandel zweier Künste

Anna Katharina Knaup Der Männerroman Ein neues Genre der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Dezember 2015, 348 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3039-8

September 2015, 378 Seiten, kart., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-3309-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5. Jahrgang, 2014, Heft 2

Dezember 2014, 208 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2871-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-2871-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die ZiG kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € (international 28,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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