Ausonius an Paulinus von Nola: Textgeschichte und literarische Form der Briefgedichte 21 und 22 des Decimus Magnus Ausonius 3525252978, 9783525252970, 9783647252971

Zum Phänomen christlicher Askese. Handelt es sich bei den Briefgedichten um Persönliches oder um Literatur?Zwischen den

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Ausonius an Paulinus von Nola: Textgeschichte und literarische Form der Briefgedichte 21 und 22 des Decimus Magnus Ausonius
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Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Ewen Bowie, Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Günther Patzig, Karla Pollmann, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 190

Vandenhoeck & Ruprecht

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Nils Rücker

Ausonius an Paulinus von Nola Textgeschichte und literarische Form der Briefgedichte 21 und 22 des Decimus Magnus Ausonius

Vandenhoeck & Ruprecht

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Verantwortlicher Herausgeber: Siegmar Döpp

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar ISBN 978-3-525-25297-0 ISBN 978-3-647-25297-1 (E-Book)

Gedruck mit Unterstützung der Geschwister Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Umschlagabbildung: Rekonstruiertes Teilstück der Ausoniusstraße, der wichtigen römischen Straßenverbindung zwischen Mainz und Trier. Hunsrück, bei Dill (westlich von Kirchberg, Rheinland-Pfalz. Bildnachweis: akg / Bildarchiv Steffens.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Gesamtherstellung: L Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Ausonius und die Klassische Literatur . . . . . . . . . . 2.1 Das literarische Selbstverständnis der Spätantike . . . 2.2 Ausonius und die klassische Welt . . . . . . . . . . 2.3 Ausonius – ein epigonaler Dichter? . . . . . . . . . 2.4 Die literarische Technik des Ausonius . . . . . . . . 2.4.1 Der Cento Nuptialis . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Die Briefgedichte – Reminiszenzen als Mittel der Argumentation

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus 1.2 Der Briefwechsel in der Forschung . . . . . . . . . 1.3 Eigene Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3. Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22 . . . . . . . . . . 3.1 Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Briefsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Auson. 27,21 – Interpretation . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Auson. 27,22 – Interpretation . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Poetisches Klagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Ausonius und die briefliche Tradition . . . . . . 3.5.2 Symmachus an Ausonius: Briefliches Klagen im Gewand der Komödie und der Liebesdichtung . . 3.5.3 Poetisches Klagen: Die Heroidenbriefe und die Exildichtung des Ovid . . . . . . . . . . . . 3.5.3.1 Fiktion und Realität in der Briefdichtung des Ovid 3.5.3.2 Klagebriefe in der ovidischen Exildichtung . . . . 3.6 Ausonius und die Exildichtung des Ovid . . . . . . . . .

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4. Die handschriftliche Überlieferung der Briefgedichte . . . . . . . . 148 4.1 Vorbemerkung: Briefreihenfolge und Textüberlieferung . . . . 148

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Inhalt

4.2 Die Textgeschichte des Ausonius . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Brief-Tituli und der erymanthische Eber . . . . . . . . . 4.3.1 Die Brieftituli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Der erymanthische Eber – ein gemeinsamer Fehler? . 4.4 Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften . . 4.4.1 Dindymische Gesänge – Auson. 27,21,16 . . . . . . 4.4.2 Bukolische Landschaft – Auson. 27,21,12–13 . . . . 4.4.3 Schreiber, Redaktor oder Autor? . . . . . . . . . . . 4.5 Die Paulinus-Handschriften – Interpolation oder Autorenvariante? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Sonderüberlieferungen im Parisinus 7558 (N/Puteaneus) . . 4.7 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Die Briefreihenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Sammlung der frühen Briefgedichte in der Handschriftengruppe Z . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Reihenfolge der Briefgedichte im Vossianus . . . . . . . . 5.3 Die Chronologie des Briefwechsels mit Paulinus . . . . . . . . 5.3.1 Die Geschichte einer Kontroverse . . . . . . . . . . . 5.3.2 Die Briefe 21 und 22 als Teil eines Gedichtzyklus? . . .

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6. Die Inszenierung der Briefdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Chronologische Rekonstruktion und literarische Deutung . . 6.2 Die felix charta und der salutifer libellus . . . . . . . . . . . 6.3 Die trina epistula . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Die numerosa pagina und das triplex carmen . . . . . . . . 6.5 Die Inszenierung: Das Wechselspiel von Brief und Dichtung.

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7. Strukturen der Dichtung – Ausonius, Ovid und Vergil . . . . . 7.1 Ausonius und Ovid – Metamorphosen einer Freundschaft 7.2 Ausonius und Vergil – Der Fluch und der Heimweg . . . . 7.3 Die literarische Struktur der Briefgedichte – Eine Ringkomposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Der Katalog – Macht und Ohnmacht der Sprache 8.1 Struktur und Komposition des Katalogs . . . 8.2 Reminiszenzen und Prätexte – Ein Überblick 8.2.1 Phaedra und der getische poeta – Ovid 8.2.2 Arruns, Orpheus, Actaeon und Echo – Vergil, Cicero und Ovid . . . . . . .

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Inhalt

Attis und Paulinus – Der Priester der Cybele und der Asket . . . . . Phaedra – Liebe und Sprachlosigkeit . . . . . . . . . . Sprachlosigkeit und Exil – Der Tod des Dichters und der Tod des Arruns . . . . . 8.4.1 Der Tod des Dichters . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Der Tod des Arruns . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2.1 Der Antiheld . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2.2 Strukturelle Funktionen der Arruns-Figur . . . Orpheus und Eurydice . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.1 Vocalis imago . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Orpheus und Eurydice . . . . . . . . . . . . . 8.5.2.1 Die Reminiszenzen . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2.2 Der ciceronische Orpheus – die Macht der Sprache und der Bildung . . . . 8.5.2.3 Orpheus und Aristaeus – Formen der Trauer . Actaeon – Flucht in die Wälder . . . . . . . . . . . . Narcissus und Echo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Attis und Cybele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Macht und Ohnmacht der Sprache 8.2.3

8.3 8.4

8.5

8.6 8.7 8.8 8.9

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9. Lehrdichtung auf ovidischer Folie – Das Lehrgedicht in Auson. 27,22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Das Lehrgedicht – Struktur und Komposition . . . . . . . . . 9.2 Philomela und Tereus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Die Dummheit des Midas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Das Rätsel – Acontius und Cydippe . . . . . . . . . . . . . . 9.4.1 Acontius und Cydippe – Mythos in veränderter Form? . 9.4.2 Tacituro conscia pomo – eine Catull-Reminiszenz? . . . 9.4.3 Die Briefschreiberin und die Rollen des Ausonius . . .

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10. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Textausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Namen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

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Vorwort

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um meine Dissertation, die im August 2010 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommen wurde. Mein Dank gilt an erster Stelle meinen Betreuern und Gutachtern, meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Meinolf Vielberg und meinem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Widu-Wolfgang Ehlers: Sie haben meine Arbeit in jeder Phase ihres Entstehens engagiert und kritisch gefördert. Herrn Prof. Dr. Siegmar Döpp danke ich dafür, dass er die Mühe des Drittgutachtens auf sich genommen und die Arbeit für die Hypomnemata empfohlen hat. Die DFG hat mir für einen Zeitraum von über zwei Jahren ein großzügiges Graduierten-Stipendium zur Verfügung gestellt. Ihr sei ebenso gedankt wie den Herausgebern der Hypomnemata. Herr Prof. Dr. Tilo Brandis hat das Manuskript vollständig gelesen und korrigiert und zu jeder Zeit Anteil an meiner Arbeit genommen. Eine wichtige Gesprächspartnerin war und ist mir Frau Prof. Dr. Sigrid Mratschek. Frau Prof. Dr. Dorothea Weber hat meine textkritischen Überlegungen nachvollzogen und die entsprechenden Kapitel gelesen. Herr Dr. Clemens Weidmann hat sich die Zeit genommen, mit mir über die Überlieferungsgeschichte des Ausonius zu diskutieren. Ihnen allen gilt mein tiefer Dank dafür, dass sie mich an ihrem Wissen und ihrer Erfahrung teilhaben ließen. Danken möchte ich schließlich den Mitgliedern des Graduiertenkollegs ›Leitbilder der Spätantike‹ der Friedrich-Schiller-Universität Jena, besonders aber Herrn Dr. Marcus Heckenkamp, der durch genaues Hinsehen einen Fehler aufgedeckt hat, der seit 1580 von einem Gelehrten an den nächsten weitergegeben wurde. Frau Dr. Veronika Rücker danke ich für ihre Unterstützung. Dank gilt auch meinen Kindern, Flora und Leander. Sie haben mich gelehrt und lehren mich fortwährend, dass es Wichtigeres gibt als die Wissenschaft. Meine Eltern, Christine und Jörn Rücker, haben nicht nur das Manuskript gelesen und korrigiert, sondern mich in meinen Wünschen und Zielen und auf meinem Weg immer unterstützt. Ich kann ihnen dafür nicht genug danken. Schließlich habe ich Ulrike und vor allem Sebastian Matz für so vieles zu danken. Sebastian ist die Arbeit gewidmet. Berlin, im Januar 2012 Nils Rücker

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1. Einleitung

1.1 Der Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus Am Ende seines Lebens, im Zeitraum zwischen den Jahren 389 und 395 n. Chr., schrieb der etwa achtzig Jahre alte Decimus Magnus Ausonius, der berühmte Rhetor, Dichter, Prinzenerzieher und ehemalige praefectus praetorio des Gratian mehrere poetische Briefe an seinen 40 Jahre jüngeren Schüler und Freund, den reichen Senator Meropius Pontius Paulinus, den späteren Bischof von Nola. Im Zentrum dieser Briefgedichte steht die bittere Klage über das lange Schweigen des Freundes, über seinen Rückzug in die Hispania Tarraconensis und seine Entscheidung, sein altes Leben als Dichter und Landbesitzer in Südgallien zu Gunsten eines Lebens als Asket aufzugeben.1 Was war geschehen? Wie kam es zu dem Zerwürfnis zwischen den Freunden? Ausonius wurde im Jahr 311 als Sohn des freigelassenen Arztes Iulius Ausonius und der aus altem, aber verarmten gallischem Adel stammenden Aemilia Aeonia in Bordeaux geboren. Unter der Anleitung seines Onkels, des Rhetors Aemilius Magnus Aborius, erhielt er eine Ausbildung an den Rhetorenschulen von Toulouse und in seiner Heimatstadt.2 Um das Jahr 338 1 Vgl. Auson. 27,21;22;(23);24. Zugrunde gelegt wird die Edition von Green (1999), der die Briefe des Ausonius unter der Werknummer 27 subsumiert. Umstritten ist, ob Auson. 27,23 (ein Werk, das in weiten Teilen mit Auson. 27,24 übereinstimmt) als eigenständiger Brief oder als (teilweise interpolierter) Teil von Auson. 27,24 zu werten ist. Vgl. zu dieser seit Leo (1960/11896)) geführten Debatte den kurzen Überblick bei Amherdt (2004) 21–23. Für das Werk des Paulinus sind die CSEL-Ausgaben 29 (Briefe) und 30 (Carmina) maßgeblich, die 1896 durch Wilhelm von Hartel herausgegeben wurden und nun in einer durch Margit Kamptner überarbeiteten Fassung vorliegen (Hartel 1999 I/II). Die Übersetzungen der Texte sind, so nicht anders angegeben, von mir angefertigt. Sie erheben keinen literarischen Anspruch, sondern sollen als Arbeits- und Hilfsmittel fachfremden Lesern den Einstieg in die Texte erleichtern. Eine Randbemerkung zum Praenomen des Ausonius: Es ist umstritten, ob das Praenomen des Ausonius Decimus oder Decimius lautet. Für Decimius argumentierte zuletzt Coşkun (2002) 182–185, der einen kurzen Überblick über die Forschungslage bietet. Da kaum mit Sicherheit zu entscheiden ist, welche Schreibweise die originale ist, verbleibe ich bei dem geläufigeren Decimus. 2 Wie bei so vielen spätantiken Autoren sind wir für die Rekonstruktion seines Lebensweges vollständig auf die Werke des Ausonius selbst angewiesen. Die Angabe der biographischen Daten richten sich im folgenden nach Coşkun (2002) 31–94; einen kürzeren Überblick bieten Liebermann/Schmidt (1989) 277–280.

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Einleitung

wurde er zum grammaticus an den Rhetorenschulen von Bordeaux ernannt. Etwa zu derselben Zeit heiratete er Attusia Lucana Sabina, eine Frau aus einer reichen und angesehenen Familie. Vermutlich im Jahr 360 erhielt Ausonius schließlich einen Rhetoriklehrstuhl in Bordeaux. Damit hatte er innerhalb der aquitanischen Gesellschaft eine respektable Stellung erreicht. Eine zweite, erstaunliche Karriere jedoch begann, als Valentinian I. ihn im Jahr 368 zum Erzieher und Sprachlehrer des jugendlichen Gratian nach Trier berief und ihm so den Weg zu politischem Einfluss ebnete. Im Jahr 369 wurde Ausonius zum comes, im Jahr 375 zum quaestor sacri palatii ernannt, d. h. er wirkte an der Gesetzgebung mit und fungierte als Redenschreiber und Sprecher Gratians. Drei Jahre später bekleidete er die höchstmögliche zivile Position innerhalb der kaiserlichen Zentrale, das Amt des praefectus praetorio für die gallischen und italischen Provinzen. Gekrönt wurde seine Karriere durch den ordentlichen Konsulat im Jahr 379. Zwischen 375 und 379 gestaltete Ausonius die Politik des weströmischen Reiches also maßgeblich mit.3 Aufgrund der Usurpation des Magnus Maximus und der Ermordung Gratians im Jahr 383 zog sich Ausonius im Alter von 72 Jahren aus der Politik zurück.4 Mit dem Ende seiner politischen Laufbahn enden auch die Möglichkeiten biographischer Rekonstruktion. Jedoch vermitteln die bis zu seinem Tod im Jahr 395 oder 396 entstandenen Briefgedichte den Eindruck, dass Ausonius seinen Lebensabend vornehmlich in Bordeaux und auf seinen Landgütern in der Aquitania Secunda verbrachte. Die ihm noch verbleibenden Jahre scheinen vom Umgang mit Freunden und literarischer Tätigkeit geprägt worden zu sein.5 Ausonius war auch in dieser letzten Lebensphase äußerst produktiv. Literarische Berühmtheit hatte er bereits zuvor in Trier mit den Versus paschales anlässlich eines Osterfestes, dem Cupido cruciatur, der Beschreibung eines vermutlich fiktiven Wandgemäldes in Trier, dem Cento nuptialis, einem aus vergilischen Halbversen zusammengesetzten Hochzeitsgedicht inklusive der Hochzeitsnacht, mit den Parentalia zu Ehren 3 Eine Liste der Gesetze, an denen Ausonius als Quaestor sicher beteiligt war, bietet Coşkun (2002) 62. Den Einfluss des Ausonius verdeutlicht auch seine Ämterpolitik: So konnte Ausonius seinem Vater und seinem Sohn zu den wichtigsten Staatsämtern verhelfen, vgl. dazu Coşkun (2002) 10, der sich um ein ausgewogenes Urteil über den oft kritisierten Nepotismus des Politikers Ausonius bemüht. 4 Auffällig ist, dass Ausonius offenbar gerade zu dem Zeitpunkt an politischem Gewicht verliert, als Gratian sich nach Mailand und damit in den Einflussbereich des Ambrosius, der den Princeps für eine deutliche Profilschärfung in religionspolitischen Fragen zu gewinnen sucht, begibt. Vgl. dazu Liebermann/Schmidt (1989) 380. 5 Liest man die Briefgedichte biographisch, d. h. als persönliche Dokumente, liegt eine solche Deutung tatsächlich nahe. Allerdings konnte Luca Mondin (1995) XXXVIII–XLV zeigen, dass die frühen Briefe des Ausonius ein Gedichtbuch bilden, das in Form und Aufbau deutlich an das erste Buch der Briefe des Horaz erinnert. Hier wäre also zu fragen, ob die Briefgedichte stärker als Dichtung oder als Briefe zu verstehen sind, vgl. dazu auch Kap. 5.1 und 5.3.1.

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Der Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus

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verstorbener Verwandter und vor allem mit der Mosella erlangt, über deren durchschlagenden Erfolg sich bereits Symmachus lobend, aber auch mit leisem Spott äußert.6 Hinzu kamen nun in der letzten Lebensphase die Commemoratio professorum Burdigalensium, Gedichte auf verstorbene rhetores und grammatici aus Bordeaux, die Epitaphia heroum, Gedichte über die Helden der Vorzeit, und der Ordo urbium nobilium, eine Beschreibung der berühmten Städte des Altertums, die durch Rom am Anfang und Bordeaux am Ende gerahmt wird.7 Einen – zumindest literarischen – Einblick in sein tägliches Leben bietet Ausonius dem Leser mit der Ephemeris und den Briefgedichten. In der Ephemeris beschreibt Ausonius in acht Einzelgedichten den Tagesablauf auf seinem Landgut. In den Briefgedichten an verschiedene Freunde, vor allem Rhetoren und Grammatiker, aber auch Landbesitzer aus der Aquitania Secunda, präsentiert sich Ausonius als Mitglied eines Netzwerkes von Freunden, das von regelmäßigen gegenseitigen Besuchen, von brieflicher Kommunikation, von wechselseitigen kostbaren Geschenkgaben und vom Austausch über literarische Fragen lebt.8 Ausonius lebte und wirkte in einer Zeit, die historisch betrachtet vom Vordringen des Christentums und vom Nebeneinander von Christentum und Heidentum als zwei heterogenen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Größen, die gegeneinander standen, sich aber auch gegenseitig befruchteten, gekennzeichnet war.9 In die Jahre seiner Kindheit fielen das 6 Aufgezählt sind hier nur die berühmtesten Werke dieser Schaffensperiode. Die Versus paschales, Auson. 4 werden datiert auf die Jahre zwischen 367 und 375 (dazu Coşkun, 2002, 225 mit Anm. 121). Die Datierung des Cupido cruciatur ist unsicher, auf jeden Fall gehört er in die Trierer Zeit. Das Gedicht war bis in die jüngste Zeit vor allem beliebt, weil es die Rekonstruktion eines verlorenen Trierer Wandgemäldes zu ermöglichen schien (Dräger, 2002, 121– 139), vgl. jetzt jedoch Gindhart (2006) 214–236, die überzeugend nachweist, dass es sich um die Beschreibung eines fiktiven Wandgemäldes handelt. Zum Cento nuptialis (Auson. 18) vgl. Kap. 2.4. Die Mosella, Auson. 16, ist vermutlich frühestens 370/71 entstanden (vgl. die Diskussion verschiedener Datierungsvorschläge bei Liebermann/Schmidt, 1989, 300). Zur Reaktion des Symmachus vgl. Symm. epist. 1,14. 7 Die Commemoratio (Auson. 11), die Epitaphia (Auson. 12), und der Ordo (Auson. 24) werden aufgrund eindeutiger Angaben in den Praefationes in die Zeit nach 383 datiert. 8 Zu der Briefsammlung (Auson. 27) vgl. allgemein Green (1991) 353–376. Sowohl für die Ephemeris als auch für die Briefgedichte gilt, dass es sich um Dichtung, also um einen literarischen Spiegel handelt, der die Realität kaum eins zu eins wiedergibt. Vgl. zu dieser Problematik generell Kap. 1.2 und 1.3. 9 Vgl. zur Entwicklung des Christentums und zum Verhältnis von Christentum und Heidentum Gemeinhardt (2007) 131–164, bes. 132: »Das Christentum bzw. die christliche Kirche war selbst eine plurale Größe, in der es nicht nur über Dogmen, sondern auch über Lebensformen (Askese), Autorität (Donatismus) und Ethik (Pelagianismus) zu heftigen Konflikten kam. Auf der Grundlage des gesicherten rechtlichen Status kehrte ein altes Problem in verschärfter Form wieder: War schon zu Zeiten prinzipiell drohender Verfolgungen die Selbstdefinition des Christentums als Gegenbild zur römischen Gesellschaft nicht konsensfähig gewesen, so stellte

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Einleitung

sogenannte Toleranzedikt des Galerius (311) und das Mailänder Abkommen zwischen Konstantin und Licinius (313), in dem sie die allgemeine Religionsfreiheit und darüber hinaus die wirtschaftliche Restituierung und Restabilisierung zuvor enteigneter christlicher Gemeinden verabredeten.10 In sein letztes Lebensjahrzehnt fiel die Religionsgesetzgebung des Theodosius, durch die das Christentum erstmals rechtsverbindlich über die anderen Religionen gestellt wurde.11 Innerhalb dieser Zeitspanne von etwa 70 Jahren entwickelte sich das Christentum zu einem Faktor, der die spätantike Gesellschaft in allen Bereichen prägte.12 Immer mehr Funktionsträger der gesellschaftlichen Elite wandten sich der neuen Religion zu, so dass sich der Senat in Rom und auch die Kurialen gegen Ende des 4. Jhs. zunehmend aus Christen zusammensetzte. Christliche Intellektuelle wie Ambrosius und Augustinus machten ihren Einfluss auch politisch geltend und nahmen in ihren Schriften und Briefen den Streit mit so einflussreichen Persönlichkeiten wie Symmachus oder Nicomachus Flavianus auf, die versuchten, den Staatskult als Grundlage der überkommenenen sozialen und politischen Ordnung und ihrer eigenen Privilegien zu bewahren.13 Gleichzeitig war das Christentum gegen Ende des sich jetzt umso dringlicher die Frage, was ›Christ sein‹ im konkreten Fall bedeuten sollte. Die Christianisierung des römischen Reiches wurde daher von einem beständigen Prozess der Neudefinition christlicher Identität begleitet.« Dass das ›Heidentum‹ verstanden als relgiöse oder religionsphilosophische Bewegung, die dem Christentum wie ein Bollwerk gegenübersteht, im Grunde ein Konstrukt moderner Forschung ist, zeigt Gemeinhardt (2007) 156–160. 10 Vgl. zur Mailänder Vereinbarung Lact. pros. pers. 48,2–12. Allgemein zur »Konstantinischen Wende« und ihrer Bedeutung vgl. Girardet (2006) passim, bes. 41–56. 11 Vgl. CTh. 16,1,2. 12 Zur Entwicklung des Christentums nach der ›Konstantinischen Wende‹ vgl. die Zusammenfassung bei Gemeinhardt (2007) 131–164. 13 Die (politische) Kontroverse zwischen heidnischen und christlichen Intellektuellen verdeutlicht besonders der Streit, den Symmachus und Ambrosius um den Altar der Victoria im römischen Senat über mehrere Jahre führten, vgl. dazu z. B. Klein (1972) passim und vor allem Gemeinhardt (2007) 152–160, der zu Recht betont, dass es hier weniger um einen religionsphilosophischen Streit zwischen dem Heidentum und dem Christentum als vielmehr um einen (macht)politischen Streit ging, 158–159: »Was mit dem Victoria-Altar und den Kultprivilegien auf dem Spiel stand, war daher in erster Linie die Ausübung solcher Ämter [sc. Priesterämter] als Teil der sozialen Positionierung innerhalb der römischen Oberschicht (…). Dass der Kaiser nur im Verein mit diesen Repräsentanten der Traditionen Roms erfolgreich regieren könne, weil nur durch deren Beachtung die concordia gewahrt werde (…) – das ist die Voraussetzung, die bei Symmachus deutlich artikuliert wird. Dazu zählt für ihn aber eben auch die Wahrung geltenden Rechts, hier der Steuerprivilegien und Besitztümer der Tempelkulte und ihrer Priester, (…) die restituiert werden sollen, nicht um dem Christentum dadurch zu schaden, sondern um den Kulten ihre angestammte Funktion sozialer Distinktion zu belassen. Immerhin trat Symmachus nicht als Repräsentant des ›heidnischen‹ Priesterkollegiums auf, sondern als praefectus urbis [sic] und im Namen des Senats: Er war nicht deshalb Wortführer der Delegation, weil er eine religiöse Autorität war, sondern weil er als moderat galt und zu Heiden und Christen gute Beziehungen pflegte.«

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Der Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus

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4. Jahrhunderts jedoch von Konflikten über Fragen z. B. der richtigen Lebensweise geprägt: Die einen wandten sich der neuen Religion zu, weil sie sich einen Karrieresprung und gesellschaftliche Vorteile erhofften, und änderten ihre Lebensweise kaum.14 Andere verlegten sich dagegen mit Vehemenz auf eine radikale Form christlicher Askese wie der Senator Pammachius, der im Mönchsgewand eine Senatssitzung besuchte und damit offenbar einen Eklat auslöste.15 Der quaestor sacri palatii und praefectus praetorio Ausonius muss mit den Fragen und Konflikten, welche die neue Religion mit sich gebracht hatte, vertraut gewesen sein: Gegen Ende seiner Amtszeit legte sein ehemaliger Zögling Gratian den Titel und das Amt des pontifex maximus ab, und kurz vor der Ermordung Gratians kam es zu einer ersten Debatte im Comitat des Prinzeps um den Altar der Victoria. Der Dichter Ausonius aber bezieht nie explizit Stellung zu den alten Kulten und der neuen Religion, auch wenn er zwei christliche Gedichte, die Oratio matutina im Rahmen der Ephemeris (Auson. 2,3) und die Versus paschales (Auson. 4) anlässlich eines Osterfestes verfasst hat, in denen er eingehende Kenntnis christlicher Theologie zeigt, und auch sonst in einigen Passagen über Gott und Christus spricht.16 Entsprechend wenig wissen wir über seinen persönlichen Glauben und seine persönliche Religiösität.17 Die meisten Gelehrten bezeichnen Ausonius mit dem (negativ konnotierten) Begriff des ›Halbchristen‹ oder ›Namenschristen‹, der sich von seinen paganen Wurzeln nicht zu lösen gewusst und daher das alte Heidnische unverbunden neben das neue Christliche gestellt habe. Grundsätzlich sei jedoch an einem oberflächlich christlichen Bekenntnis des Ausonius nicht zu zweifeln.18 Hagith Sivan hält Ausonius in Analogie zum 14 Vgl. Gemeinhardt (2007) 135–136 und 139–140 mit Beispielen. 15 Vgl. Hier. epist. 66,6 (ad Pammachium): Quis hoc crederet ut consulum pronepos et Furiani germinis decus, inter purpuras senatorum furua tunica pullulatus incederet, ut non erubesceret oculos sodalium, ut deridentes se ipse rideret? est confusio quae ducit ad mortem, et est confusio quae ducit ad uitam. prima uirtus est monachi contemnere hominum iudicia et semper Apostoli recordari dicentis: »si adhuc hominibus placere uellem, Christi seruus non essem [Gal 1,10].« (…) non est parum uirum nobilem, uirum disertum, uirumque locupletem potentium in plateis uitare comitatum, miscere se turbis, adhaerere pauperibus, rusticis copulari, de principe uulgum fieri. sed quanto humilior tanto sublimior est. 16 Vgl. zu den christlichen Gedichten Langlois (1991/11969) passim und Skeb (2000) passim. 17 Vgl. die ernüchterte Feststellung von Sivan (1993) 110: »The nature of Ausonius’s Christianity is too often debated with too little profit.« 18 Zum Begriff des Halbchristen vgl. Daut (1971) 173: »Diese Halbchristen sind (vorwiegend) Gebildete, die ihre heidnischen und christlichen Anschauungen nicht harmonisiert, sondern unverbunden nebeneinander gestellt haben. Es ist darum auch nicht leicht zu entscheiden, ob man sie den Christen oder den Heiden zurechnen soll. Damit sind die halben Christen schon in etwa charakterisiert. Sie schließen sich entweder aus reinem Nützlichkeitsdenken

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Namenschristen für einen ›Namensheiden‹ (»nominal pagan«); seine christlichen Werke seien als Gelegenheitsgedichte zu verstehen, die er zu bestimmten Anlässen, z. B. zur Zelebrierung christlicher Riten am Hof geschrieben habe.19 Dagegen will Matthias Skeb in einem bedenkenswerten Versuch, über Allgemeinplätze hinauszukommen, zeigen, dass Ausonius weder Heide noch Christ war, sondern eine ›dritte Konfession‹ hatte: »eine innerliche Religiosität der Erfahrung der praesentia numinis, der gegenüber geschichtlich-verbindliche Bezüge verblassen und deren Objektivationen von der Indifferenz her zu deuten sind, die der Regress in die Innerlichkeit und – damit korrespondierend – die Ubiquität Gottes eröffnet.« Die Weise, in der Ausonius seine Religiosität gelebt habe, sei die verinnerlichte Frömmigkeit eines Intellektuellen gewesen, für den sich die Alternative Heide oder Christ nicht gestellt habe.20 Skeb ist insofern recht zu geben, als Ausonius das Geschehen und das religiöse Erleben gerade in der Oratio matutina, einem Teil der Ephemeris, in die mens, also in das Innere verlagert.21 Davon aber dem Christentum an, oder sie sind (vor allem) Gebildete, die noch kein inneres Verhältnis zum Christentum gewonnen haben.« Dazu kritisch Gemeinhardt (2007) 143–145. Zu Ausonius vgl. z. B. die moderaten Äußerungen bei Langlois (1991/11969) 79: »Ausonius nun legt einerseits ebenfalls ausreichend Zeugnis für seinen christlichen Glauben ab, so dass kein Zweifel an seiner Aufrichtigkeit möglich ist. Zum andern aber bleibt er immer ein Kind seiner Zeit, und seine Moral ist die eines Staatsbürgers, eine weltliche Moral. Er empfand eine lebhafte Abneigung gegenüber der asketischen Richtung. Dagegen war er ein Bewunderer des literarischen Erbes des heidnischen Altertums, nicht weil er selbst Heide gewesen wäre, (…) sondern weil er es als schön empfand. Er hat sich mit ihm im übrigen nur soweit identifiziert, wie er es mit dem christlichen Glauben für vereinbar hielt.« Ähnlich auch Liebermann/Schmidt (1989) 304–305 und Klein (1991) 372. Wesentlich harscher dagegen Daut (1971) 186: »Es ist bezeichnend, wie er [sc. Ausonius] als Blinder sein Jahrhundert der drohenden Gefahr durch die Barbaren, der Auseinandersetzung zwischen Heidentum und Christentum, des Kampfes gegen die Häresien, der Auflösung der kaiserlichen Macht erlebt. Diese großen geistigen Auseinandersetzungen finden keine Resonanz in seinem Werk. (…) Ausonius war sehr wahrscheinlich Christ. Für eine Kenntnis des Christentums sprechen sechs Stellen in seinem Werk. Aber davon abgesehen verrät er keine Spur eines christlichen Geistes. Plautus, Terenz, Horaz, Ovid und vor allem Vergil sind seine geistigen Väter. Diese unbekümmerte Verbindung unverträglicher Vorstellungen ist bezeichnend für den Eklektizismus gebildeter Halbchristen jener Epoche.« 19 Vgl. Sivan (1993) 110: »Perhaps Ausonius is best understood as a nominal pagan, just as Claudian has been described as a nominal Christian. The term is not frivolous. It indicates a belief in a certain code of behaviour and in a literary culture that was deeply rooted in classical paganism. Ausonius’ Easter Verses, like Claudian’s On the saviour, were most likely occasional poetry written for an imperial celebration of an important Christian rite.« 20 Vgl. Skeb (2000) 351–352; ähnlich schon Skeb (1997) 31–60. 21 Vgl. z. B. Auson. 2,1–3: Omnipotens, solo mentis mihi cognite cultu,/ ignorate malis et nulli ignote piorum. Der cultus dei, das verdeutlicht der erste Vers, besteht nicht mehr in einer äußerlich sichtbaren Handlung, sondern in einem cultus mentis, der innerlich stattfindet und durch den Gott dem Menschen offenbar wird. Vgl. dazu auch Skeb (1997) 40–47 mit weiterführenden Bemerkungen.

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Der Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus

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auf den persönlichen Glauben, die persönliche Religiosität des Ausonius zu schließen, scheint mir gewagt, denn immerhin ist die Oratio matutina als Teil der Ephemeris Literatur, die einen idealen Tag im Leben eines Großgrundbesitzers und Intellektuellen, nicht unbedingt aber die Realität des Dichters beschreibt.22 Festzuhalten bleibt, dass Ausonius sich in christlich-theologischen Themen und Fragestellungen auskennt, dass er christliche Gedichte schreibt, und dass er, wie der Gang der vorliegenden Untersuchung zeigen wird, die extremen Positionen der asketischen Bewegung, besonders aber ihre (vorgebliche) Literaturfeindlichkeit und ihre rigorose Haltung gegenüber der Tradition ablehnt. Über seine persönliche Religiosität, über seinen persönlichen Glauben lassen sich dagegen m. E. kaum Aussagen treffen.23 Der vierzig Jahre jüngere Meropius Pontius Paulinus war einer der Freunde, mit denen Ausonius regelmäßig korrespondierte. Er wurde im Jahr 353 oder 354 in Bordeaux geboren. Im Umfeld der Rhetorenschulen verbrachte Paulinus, einer von zwei Söhnen der senatorischen gens Pontia, seine Kindheit und Jugend. Bereits seine Eltern und Großeltern waren vermögend. Grundlage des Reichtums waren die landwirtschaftlichen Besitzungen, die in erster Linie über das südwestliche Gallien verteilt waren. Hinzu kamen Landgüter in Italien bei Fundi, Nola und Formiae sowie in der Hispania Tarraconensis.24 Vielleicht um das Jahr 360 nahm ihn Ausonius, der zu diesem Zeitpunkt gerade zum Rhetor ernannt worden war, in seine schulische Obhut. Vereinbart hatten dieses Arrangement, so wir dem emphatischen Ausonius des letzten Briefgedichtes glauben schenken können, bereits ihre

22 Zum Charakter der Ephemeris und der oratio matutina vgl. Green (1991) 245–267, bes. 250–259. Die Problematik wird besonders deutlich, wenn Skeb (1997) 32 schreibt: »Die Frage, ob und in welcher Weise Ausonius als Lehrer des Paulinus auch dessen Christusbild im Rahmen seiner geistlichen Biographie beeinflusst hat, lässt sich nicht behandeln, wenn man Ausonius religiöse Mentalität nur in Allgemeinplätzen bestimmt hat. Was dazu nötig ist, ist eine präzise Berücksichtigung der Quellenbelege und eine möglichst genaue Deutung im Hinblick auf die ›Persönlichkeitsstruktur‹ des Ausonius, (…).« Zur auch in spätantiker Literatur üblichen Trennung von Dichter und Werk vgl. grundsätzlich Kap. 1.3. 23 Etwas weiter geht Gemeinhardt (2007) 145 mit Blick auf eine Erwähnung von Christus und Gott im Briefgedicht Auson. 27,24,104–105 (Ausonius geht an dieser Stelle sicher davon aus, dass Gott und Christus, so ihnen das nötige Vertrauen entgegengebracht wird, die Rückkehr des Paulinus ermöglichen werden.) und mit Blick auf Paul. Nol. carm. 11,50–68. Dort beschreibt Paulinus den Lehrer im Grunde als Christen. Allerdings ist auch hier zu bedenken, dass zumindest die Versicherung des Ausonius einen argumentativen Zweck im Gedankengang des Briefgedichts erfüllt: Paulinus soll von der Rückkehr überzeugt werden: Das an Gott und Christus gerichtete Gebet ist das letzte und (unter Berücksichtigung des Adressaten) vielleicht stärkste Argument. 24 Ausonius bezeichnet die Landgüter in 27,24,115–118 als regna Paulini; zu den Vermögenswerten der Pontii vgl. z. B. die Aufzählung der Landgüter bei Mratschek (2002) 82–83.

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Väter.25 Wie der junge Paulinus seine Schulzeit nach 368 verbrachte, nachdem Ausonius dem Ruf Valentinians I. nach Trier gefolgt war, bleibt unklar. Anzunehmen ist aber, dass er seine Ausbildung an den Rhetorikschulen seiner Heimatstadt abschloss.26 Möglich scheint eine Karriere als Anwalt, die ihm als Sprungbrett für seine kurze, aber erfolgreiche politische Laufbahn gedient haben könnte.27 Bereits im Jahr 378 verlieh Gratian dem 24 Jahre alten Senator Paulinus, der sich zu diesem Zeitpunkt in Rom aufhielt, den Titel eines consul suffectus,28 wenige Jahre später, vermutlich 380, ernannte er ihn zum uir consularis Campaniae. Paulinus hatte nun eine der ökonomisch und politisch wichtigen Provinzen innerhalb Italiens zu verwalten. Während seiner Amtszeit kam er, der schon in seiner Kindheit in Nola am Grab des Märtyrers Felix gestanden hatte, zum zweiten Mal mit dem FelixKult in Berührung. Am 14. Januar des Jahres 381, am Todestag des Märtyrers, vollzog er am Grab die depositio barbae und stellte sich so unter den Schutz des Heiligen.29 Wie Ausonius beendete auch Paulinus seine Laufbahn in der Politik abrupt: Als Magnus Maximus im Jahr 383 die Macht an sich riss, kehrte Paulinus nach Aquitanien zurück.30 Die politische Karriere des

25 Auson. 27,24,1; 8–9: Discutimus, Pauline, iugum, (…) tam placidum, tam mite iugum, quod utrique parentes/ ad senium nostri traxere ab origine uitae/ impositumque piis heredibus usque manere/ optarunt (…). Ausonius bezeichnet sich selbst 27,22,33–35 als primus praeceptor, altor ingenii, magister und wird auch von Paulinus so genannt, Paul. Nol. carm. 10,89–96. 26 Mratschek (2002) 51 geht davon aus, dass Paulinus aufgrund der kurzen Zeitspanne zwischen 360 und 367 allenfalls die Klassikerlektüre im Grammatikunterricht bei Ausonius begonnen haben kann. Ausonius selbst äußert, er sei der erste gewesen, der Paulinus mit Dichtung vertraut gemacht habe, vgl. Auson. 27,22,35 primus in Aonidum qui te collegia duxi. Über dieses primus hinaus ist keine Datierung möglich. Green (1980) 197 schlägt vor, dass Ausonius den Unterricht zumindest teilweise per Briefwechsel fortgesetzt haben könnte. 27 Vgl. dazu Mratschek (2002) 52 mit weiteren Hinweisen. 28 Paulinus erwähnt seinen Suffektkonsulat im Gegensatz zu seinem Amt als uir consularis Campaniae nicht in den autobiographischen Passagen seiner Werke, wie z. B. Paul. Nol. carm. 21,374–394. Daraus schließt Mratschek (2002) 53, dass der Suffektkonsulat nicht mehr erwähnenswert und nicht prestigeträchtig gewesen sei. 29 Beide Ereignisse schildert Paulinus in Paul. Nol. carm. 21,367–373: Nam puer occiduis Gallorum aduectus ab oris,/ ut primum tetigi trepido tua limina gressu,/ admirandas uidens operum …; und 377–378 über den ursprünglich heidnischen Brauch: Tunc etiam primae . . . libamina barbae/ ante tuum solium quasi te carpente totondi; zu der Lücke im Text vgl. Trout (1999) 283. Ob Ausonius auch Einfluss auf die Vergabe der Provinz Campanien nahm, ist aus den Texten nicht zu ersehen. 30 Paul. Nol. carm. 21,397–398: Te reuocante soli quondam genitalis ad oram/ sollicitae matris sum redditus. Die Sorgen der Mutter werden zumeist mit der politischen Lage in Gallien in Verbindung gebracht, vgl. Mratschek (2002) 55. Die politische Stimmung unter Maximus beschreibt auch der Titulus zu Auson. 7, Pater ad Filium: Pater ad filium, cum temporibus tyrannicis ipse Treueris remansisset et filius ad patriam profectus esset. Anders als Mratschek

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Der Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus

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Paulinus ging zeitlich also mit der seines wesentlich älteren Mentors einher, und es liegt – angesichts des für seinen Nepotismus bekannten Ausonius – nahe, hier einen Zusammenhang zu sehen. Zumindest dürfte Paulinus die Freundschaft mit dem praefectus praetorio und consul Ausonius nicht hinderlich gewesen sein.31 Die Ereignisse, die das Leben des Paulinus in den Jahren zwischen 383 und 389 prägten, sind nur bruchstückhaft überliefert. Nach seiner Rückkehr reiste er jedenfalls nach Spanien und heiratete dort die reiche Aristokratin Therasia.32 Die nächsten Jahre verbrachte das Paar in Aquitanien auf verschiedenen Landgütern und mit kürzeren Reisen innerhalb Galliens.33 Auch wie sich die Freundschaft zwischen Ausonius und Paulinus in diesem Zeitraum entwickelte, bleibt im Unklaren und ist lediglich aus den vor 389 verfassten Briefgedichten des Ausonius zu rekonstruieren. Beschrieben wird dort ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, das vor allem durch den Austausch von Literatur und die Diskussion über diese Literatur bestimmt wird: Immer erscheint Paulinus als hochbegabter Schüler, dessen Talent das seines Lehrers bei weitem übersteigt. Demgegenüber zeigt sich Ausonius in der Rolle sieht Lienhardt (1977) 26 keinen Zusammenhang zwischen der politischen Lage und dem Ende der Karrieren des Paulinus und Ausonius. 31 Grundsätzlich zum Nepotismus des Ausonius Coşkun (2002) 9–11. Die Frage, inwieweit Ausonius die politischen Ambitionen seines ehemaligen Schülers förderte, ist umstritten. Mratschek (2002) 51–58 sieht hier eine deutliche Abhängigkeit von Ausonius. Dies suggerieren auch die entsprechenden Textstellen: Ausonius bezeichnet sich Paulinus gegenüber als (Auson. 27,22,34) primus largitor honorum, die Ämter selbst als patrios honores (Auson. 27,21,60–61). Es ist jedoch unklar, ob sich der Begriff honores auf die Ehrenämter oder den literarischen Erfolg des Paulinus bezieht vgl. z. B. die Übersetzung von Auson. 27,22,34 (praeceptor primus, primus largitor honorum) durch Kurfess (1952): » … welcher als erster dir das Vermächtnis der Alten schenkte.« Allerdings liest Kurfess mit dem Vossianus 111 ueterum primus largitor honorum. Allgemein bleibt auch Paulinus selbst, der seine dignitas und das decus togae et famae auf Ausonius zurückführt, vgl. Paul. Nol. carm. 10,93–96. Skeptischer als Mratschek äußert sich daher Filosini (2008) 28: »Meno agevole risulta invece stabilire se Ausonio abbia inciso in parte sulla carriera politica del futuro vescovo di Nola, come lascebbero supporre versi conclusivi della lettera 21: (…) Nell’impossibilità di giungere a conclusioni definitive, ci limitano ad osservare che la carriera politica di funzionario imperiale, gli onori nella vita pubblica erano comunque aperti a Paolino dalla sua appartenza sociale, senza la necessità di amicizie o relazioni influenti.« Auch Trout (1999) 33–35 geht davon aus, dass Paulinus aufgrund seiner sozialen Stellung über kurz oder lang auch ohne den Einfluß des Ausonius zu ähnlichen Ehren gekommen wäre. 32 Vgl. Paul. Nol. carm. 21,398–401: (…) redditus sum (sc. in Aquitaniam). inde propinquos/ trans iuga Pyrenes adii peregrinus Hiberos./ illic me thalamis humana lege iugari/ passus es (…). 33 Vgl. Paul. Nol., carm. 21, 404–407 (nach der Schilderung der Heirat in Spanien): ex illo quamuis alio mihi tramite uita/ curreret atque alio colerem procul absitus orbe,/ qua maris Oceani circumsona tunditur aestu/ Gallia (…).

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des wohlwollenden Lehrers und Kritikers, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die poetische Begabung des Schützlings zur Entfaltung zu bringen.34 Paulinus war etwa 35 Jahre alt, als ihm im Jahr 389 der gewaltsame Tod seines Bruders die eigene Schwäche, Sterblichkeit und Sündhaftigkeit und die Nichtigkeit und Bedeutungslosigkeit äußeren Reichtums verdeutlichte.35 Er, der Senator, der eine schnelle politische Karriere durchlaufen hatte und zu den wohlhabendsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der duae Galliarum prouinciae gehörte, beschloss, sein Leben radikal zu ändern. Zusammen mit Therasia zog er sich in den Nordosten Spaniens zurück und begann dort ein Leben zu führen, das er im Rückblick als otium ruris und eine Vorstufe der christlichen Askese bezeichnete.36 Im Frühjahr des Jahres 395 vollzogen sie den letzten Schritt der conversio zu ihrem neuen Leben als christliche Asketen: Sie veräußerten ihre Ländereien und ließen sich in Nola in Campanien am Grab des Märtyrers Felix nieder. Die folgenden fünfzehn Jahre seines Wirkens in Nola (Therasia starb früh) waren geprägt von dem Ausbau der Kultstätte des Märtyrers zu einem Wallfahrts- und Pilgerzentrum mit prachtvoll ausgestatteten Kirchenbauten, von der Abfassung der Natalicia, Dichtungen zum dies natalis Felicis, dem Todestag und himmlischen Geburtstag des Felix, und von einem umfangreichen Briefwechsel mit den christlichen Intellektuellen seiner Zeit: Augustinus, Alypius, Hieronymus, Rufinus, Sulpicius Severus und anderen heute weniger bekannten christlichen Asketen.37 Bis in das Jahr 415, als Paulinus vermutlich die Bischofsweihe empfing, hatte sich Nola zu einem der wichtigsten christlichen Wallfahrtszentren im Westen des römischen Reiches entwickelt. Paulinus hatte keine Mühen gescheut und das aus dem Verkauf der Ländereien gewonnene finanzielle Vermögen dazu genutzt, aus der bescheidenen Grabstätte des Felix einen komplexen Kultort zu erschaffen, zu dem zwei reich ausgestattete Basiliken, mehrere Pilgerhospize und umfangreiche Gartenanlagen gehörten. Die Wirkung blieb nicht aus: Das Wallfahrtszentrum, vielleicht auch sein berühmter Erbauer zog besonders am Todestag des Felix die Massen an und beherbergte illustre Gäste: Melania die Ältere und ihre Tochter Melania die Jüngere, die ebenfalls durch einen spektakulären Vermögensverzicht auf sich aufmerksam gemacht hatten, besuchten Nola ebenso wie der dakische Bischof Nicetas von Remesiana. Den berühmten Besuchern und den Feierlichkeiten zu Ehren des Heiligen setzte Paulinus in den Natali34 Vgl. die Briefe Auson. 27,17–19 und zur Inszenierung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses Kap. 7.1 und Kap. 9.1. 35 Vgl. Paul. Nol. ep. 35; 36 und dazu Kap. 3.2. 36 Vgl. Paul. Nol. ep. 5,4. Für eine ausführliche Besprechung der Passage vgl. Kap. 3.2. 37 Zur Bautätigkeit des Paulinus vgl. den kurzen Überblick in Mratschek (2002) 250–256, ausführlich dazu Lehmann (2004) passim. Eine vollständige Liste der Briefpartner bietet Mratschek (2002) 625–637.

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Der Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus

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cia auch literarische Denkmäler, die einen Eindruck von der Pracht und der Bedeutung Nolas vermitteln sollten.38 Paulinus erregte mit seiner conversio, einer »geste spectaculaire«,39 Aufsehen und wurde von christlicher Seite gefeiert: Augustinus und Sulpicius bezeichneten ihn als herausragendes Beispiel der imitatio Christi,40 Ambrosius nahm die Reaktion der Senatoren, der proceres uiri des Staatswesens vorweg: Was würden die hochwohlgebornen Leute dazu sagen, dass ein Mann aus einer der besten Familien, gebildet, kultiviert, beredsam und reich, die ihm übertragene Verantwortung ablehne und sich das Gewand des Einsied-

38 Zur Zahl der Festbesucher vgl. Paul. Nol. carm. 14,44–115; weiterhin Paul. Nol. carm. 21, das in Anwesenheit von Melania der Älteren und ihrer Familie verlesen wurde, sowie carm. 27, das den Besuch des Nicetas behandelt. Mratschek (2002) 547–591 widmet den ineinander greifenden Konzepten amicitia und hospitium mehrere Kapitel. Zu den Besuchen der Melania und des Nicetas sowie anderer Asketen aus dem Senatorenstand vgl. 562–573. Die literarische Form der Felixnatalicia besprechen Kamptner (2005) 11–13 und ausführlicher Surmann (2005) 18–33. Grundsätzlich zu klären bleibt, welche Leser- und/oder Hörerschaft Paulinus mit den Natalicia erreichen wollte, die sich in Form und Inhalt deutlich voneinander unterscheiden: Manche Natalicia enthalten vordergründig einfache Wunderbeschreibungen, andere komplexe Baubeschreibungen. Die einen wie Green (1973) passim und Fontaine (1981) 172 glauben mit Blick auf die unklassische Diktion der Natalicia, dass diese sich vornehmlich an die Landbevölkerung in der Umgebung Nolas richteten und ihrer Erbauung dienten. Andere wie z. B. Kamptner (2005) 15–16 und Scijano (2008) 25–30 schließen dagegen aus der zum Teil schwierigen Syntax, den komplexen Bau- und Bildbeschreibungen und der Möglichkeit, ganze Passagen allegorisch zu deuten, dass Paulinus ein hochgebildetes Publikum erreichen wollte. Einen breiteren Ansatz verfolgt schließlich Trout (1995) passim, (1996) passim, (1999) 160– 197. Er vermutet, dass Paulinus einerseits auf die Gebildeten zielte und sie für seine Sache zu gewinnen suchte, dass er andererseits aber auch die ungebildete Landbevölkerung mit der Hilfe der Natalicia und der in ihnen erzählten Geschichten stärker an den Kult des Heiligen und damit an seine Form des Christentums binden wollte (ähnlich auch Kirsch, 2005, 131–141). Tatsächlich scheint eine solche Interpretation der Natalica als Gedichte, die auf mehreren Ebenen wirken, denkbar. Vgl. dazu Rücker (2013 forthcoming). Zum Natalicium als Mittel der Selbstinszenierung vgl. auch Mratschek (2002) 264–265 und Gnilka (1990) passim. 39 Den Begriff prägte Fontaine (1972) 580. 40 Aug. epist. 26,5 (CSEL 34,1, 88): Vade in Campaniam, disce Paulinum, egregium et sanctum dei seruum, quam grandem fastum saeculi huius tanto generosiore quanto humiliore ceruice incunctanter excusserit, ut eam subderet Christi iugo, sicut subdidit; et nunc illo moderatore itineris sui quietus et modestus exultat. Sulp. Sev. Mart. 25,3–5: Sermo autem illius non alius apud nos fuit, quam mundi inlecebras et saeculi onera relinquenda, ut Dominum Iesum liberi expeditique sequeremur: praestantissimumque nobis praesentium temporum inlustris uiri Paulini, cuius supra fecimus mentionem, exemplum ingerebat, qui summus opibus abiectis Christum secutus solus paene his temporibus euangelica praecepta conplesset: illum nobis sequendum, illum clamabat imitandum: beatumque esse praesens saeculum tantae fidei uirtutisque documento, cum secundum sententiam Domini diues et possidens multa uendendo omnia et dando pauperibus, quod erat factu inpossibile, possibile fecisset exemplo.

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lers überstreife? Das könnten sie sicher nur schwer ertragen.41 Er sollte in gewisser Weise Recht behalten: Siricius, der Bischof von Rom, weigerte sich, Paulinus in Rom zu empfangen. Er stand offensichtlich senatorischen Kreisen und Vertretern einer gemäßigten Form christlichen Glaubens näher als den Asketen und beäugte die conversio des Senators misstrauisch.42 Für die christlich-asketische Bewegung aber war die conversio des Paulinus ein Glücksfall: In seiner Person verbanden sich Intellekt und politischer Einfluss mit ungeheurem Reichtum. Kein anderer schien so geeignet, das an den reichen und dennoch armen jungen Mann gerichtete Herrenwort – uade uende quae habes et da pauperibus – zu verwirklichen und das Armutsgebot Christi zu erfüllen.43 Augustinus und Ambrosius nutzten die Gunst der Stunde und machten aus Paulinus einen heiligen Mann, einen Vorkämpfer christlicher Askese. Er selbst war sich der Wirkung seines Handelns und der Möglichkeiten, die ihm sein materielles und geistiges Vermögen boten, bewusst44 und tat sein möglichstes, um dieser Rolle gerecht zu werden. Gerade in seinen frühen Briefen präsentierte er sich und Therasia stets als demütige Nachfolger Christi, als bescheidene Schüler ihrer geistigen und geistlichen Lehrer und Vorbilder: Der Tauflehrer Amandus und Aper und der Briefpartner Alypius und Augustinus. Paulinus wurde noch zu Lebzeiten zu einem exemplum praestantissimum des christlichen Glaubens. Im Gegensatz zu Augustinus und Ambrosius konnte sich Ausonius für den Lebenswandel seines Schülers und Freundes, der mit seiner Hilfe eine erfolgreiche politische Karriere durchlaufen hatte, in seiner Heimatstadt Bordeaux und in den politischen Zentren der römischen Welt hoch angesehen war, über ungeheuren Reichtum verfügte und literarisch begabt war, nicht 41 Ambr. epist. 27 (58), 3: Haec ubi audierint proceres uiri quae loquentur? ex illa familia, illa prosapia, illa indole, tanta praeditum eloquentia migrasse a senatu, interceptam familiae nobilis successionem: ferri hoc non posse. 42 Vgl. Paul. Nol. ep. 5,14 und dazu Trout (1999) 113–115. 43 Mt 19,20: Ait illi (sc. adulescenti) Iesus: si uis perfectus esse uade uende quae habes et da pauperibus et habebis thesaurum in caelo et ueni sequere me. Tatsächlich war Paulinus eine unter mehreren berühmten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die eine conversio zu einem Leben in christlicher Askese vollzogen: Augustinus hatte eine Karriere als Redner aufgegeben, Ambrosius war Statthalter von Mailand, bevor er in die Kirchenpolitik wechselte und das Amt des Bischofs übernahm, Sulpicius Severus verzichtete ebenso wie Paulinus auf Privatbesitz und finanzierte so den Ausbau der Klosteranlage von Primuliacum zu einem Zentrum des Martinkults. Bei keinem von ihnen wurde der Bruch mit dem früheren Leben von Zeitgenossen wie Nachgeborenen so stark empfunden wie bei Paulinus, vgl. dazu Trout (1997) 462– 467 und Trout ( 1999) 2–15. 44 Vgl. dazu treffend das Fazit von Trout (1999) 161: »Moreover, Paulinus’s authority, soon heavily underscored by his well-publicized relationship with Felix, also empowered him to effect the further christianization of the region and to exercise an influence on secular affairs that defies any simple definition of religious leadership.«

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Der Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus

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begeistern und setzte sich mit der conversio und ihren weitreichenden Konsequenzen in brieflicher und poetischer Form auseinander: Spätestens im Sommer des Jahres 393 erhielt Paulinus auf einem seiner Landgüter, soweit sich der Gang der Ereignisse aus den Briefgedichten rekonstruieren lässt,45 einen libellus mit mindestens zwei poetischen Briefen seines ehemaligen Lehrers (Auson. 27,21–22). Die Briefe waren angefüllt mit Vorwürfen über seine Flucht nach Spanien und sein langes Schweigen, das eklatant gegen die Regeln einer auf pietas gegründeten Freundschaft verstoße und so die Freundschaft selbst gefährde. Religiöse Fragen behandelte Ausonius dagegen kaum, nur mit leisem Spott deutete er an, dass Paulinus sich verhalte wie der Priester eines obskuren ägyptischen Geheimkultes oder ein eingeweihter Mystes. Inständig aber bat er seinen Schüler darum, nach Aquitanien, in die Welt der Dichtung und der Musen zurückzukehren. Paulinus antwortete auf die Vorwürfe und Bitten in einem dreiteiligen, in elegischen Distichen, Iamben und Hexametern abgefassten Briefgedicht. Hier wies er die Vorwürfe der Reihe nach zurück und begründete seinen Rückzug nach Spanien in erster Linie theologisch: Ein vollständig gottgeweihtes Leben nehme die Stelle seines früheren Lebens ein. Sei er früher wie Ausonius ein den Musen geweihter Dichter gewesen, so sei er nun Christus als Inspirationsquelle verpflichtet, habe er früher Dichtung um der Kunst willen geschaffen, so müsse die Dichtung nun dem Heilsplan Gottes dienen. Habe er früher hinfällige, weltliche Reichtümer angehäuft, so habe er sich durch seinen Vermögensverzicht ewigen Reichtum bei Gott erworben. Denn dies sei seine Furcht, sein Mühen, dass er nicht am Tag des Gerichts angetroffen werde bei eitlem und nutzlosem Tun. (Paul. Nol. carm. 10).46 Ausonius antwortete mit einem weiteren hexametrischen Brief und appellierte an die pietas des Freundes (Auson. 27,24): Paulinus habe den Bruch ihrer langen Freundschaft herbeigeführt und ein sanftes Joch abgeworfen, dass ihnen von ihren Vätern auferlegt worden sei. Trotz ihres Altersunterschiedes seien sie gleich gewesen in ihrem Streben und in ihrer Gesinnung, ein Wunder für alle. Erkenne Paulinus seine Schuld? Er selbst nämlich sei weiterhin treu und verehre jenen alten Paulinus.47 Schließlich erbittet Ausonius im sicheren Vertrauen auf den einen Gott und seinen Sohn Christus erneut die Rückkehr seines Freundes, die er sich in einer kunstvollen Schlusspassage nach Art eines ovidischen reditus amantis vor seinem inneren Auge ausmalt.48 45 Zur Datierung und Chronologie des Briefwechsels vgl. Kap. 5.3. Einen kurzen Überblick bietet z. B. Amherdt (2004) 19–24, der einige kontroverse Datierungsansätze kurz bespricht. 46 Vgl. besonders die iambische Passage Paul. Nol. carm. 10,19–102 und die Zusammenfassung Paul. Nol. carm. 10,289–331. Zum Gedanken der vollständigen Hingabe an Christus vgl. vor allem Skeb (1997) 60–84, 110–127. 47 Auson. 27,24,1–26, 38–39, 95–101. 48 Auson. 27,24,103–124.

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Wieder wies Paulinus in einem polymetrischen, aus einem hexametrischen und einem iambischen Teil bestehenden Brief die Schuld von sich und das Ansinnen des Ausonius zurück (Paul. Nol. carm. 11): Er solle aufhören, ihn, den Freund, mit Vorwürfen zu überziehen, denn er selbst und mit ihm seine Familie seien Ausonius immer durch pietas und Freundschaft verpflichtet gewesen. Keiner Schuld sei er sich bewusst, sei immer aufrichtig gewesen, und seine pietas ertrage den unverdienten Vorwurf nicht. Auch habe er, der vielleicht im Streben, niemals aber an Begabung und Talent seinem Lehrer gleichgekommen sei, ihr gemeinsames Freundschaftsjoch nicht abgeworfen: Keine Macht der Welt könne ihn von Ausonius trennen.49 Diesen Gedanken ewiger Freundschaft führte Paulinus im emphatischen, in Iamben abgefassten Schlussteil des Gedichtes aus: Ganz gleich, wo er sich aufhalten werde, werde er Ausonius in seinem Innersten eingeschlossen bewahren. Und auch wenn Gott ihn zu sich rufe, werde er ihn nicht vergessen. Denn der Geist, der den hinfälligen Körper überlebe, bewahre auch die Gefühle und Empfindungen. Wie der Geist nicht sterben könne, so könne er, der immer lebendige und erinnernde, auch nicht vergessen.50 Eine Rückkehr nach Aquitanien und zu Ausonius stand für Paulinus also nicht zur Debatte, ja er spricht das Thema Rückkehr nicht einmal an. Gleichzeitig aber versichert er, dass seine Freundschaft zu Ausonius ungebrochen sei und über das Diesseits hinaus währen werde. Das Briefgedicht des Paulinus schließt die Korrespondenz. Entweder hatte Ausonius die Aussichtslosigkeit seines Ansinnens erkannt und daraufhin den Briefwechsel abgebrochen oder der mittlerweile vierundachtzigjährige Rhetor war verstorben.51

1.2 Der Briefwechsel in der Forschung Der Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus zog seit der frühen Neuzeit die Aufmerksamkeit von Theologie, Geschichtswissenschaft und Klassischer Philologie auf sich. Denn erstens scheint in keinem anderen Dokument der Spätantike – mit Ausnahme vielleicht der dritten Relatio des Symmachus und den entsprechenden Briefen des Ambrosius – der »conflict of ideologies«, die Auseinandersetzung zwischen einem traditionell römischen und einem christlichen Kulturverständnis so deutlich hervorzutreten wie in den Briefge-

49 Vgl. besonders Paul. Nol. carm 11,1–9, 17–29, 30–34, 44–48. 50 Paul. Nol. carm. 11,49–68. 51 Die Möglichkeit, dass die Korrespondenz fortgesetzt wurde, die Fortsetzung aber nicht überliefert wurde, wurde m. W. noch nicht in Betracht gezogen.

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Der Briefwechsel in der Forschung

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dichten des Ausonius und Paulinus.52 Noch dazu berichtet Paulinus in keinem anderen Brief und auch nicht in den autobiographischen Passagen der Natalicia so detailliert über die persönlichen und theologischen Hintergründe seines Handelns wie in den Briefgedichten an seinen Freund und Lehrer. So sahen sich die Gelehrten mit Hilfe der in den Briefgedichten sichtbar werdenden Gestalt des Paulinus in der Lage, das Phänomen christlicher Askese anhand eines besonders signifikanten Fallbeispiels zu untersuchen und zu erklären.53 Zweitens scheinen nirgendwo sonst zwei Intellektuelle so unmittelbar und auf so hohem literarischen Niveau über ihr persönliches Verhältnis, die richtige Form zu leben, ihre Freundschaft und Literatur zu diskutieren. Man war fasziniert von der Unmittelbarkeit, den existenziellen Aspekten und der emotionalen Dynamik des brieflichen Austausches: Der Briefwechsel wirkte wie ein intimer Akt der Kommunikation, der die Krise einer Freundschaft dokumentiert und Aufschluss über das sich wandelnde persönliche Verhältnis der Autoren gibt.54 Wie prominent der poetische Briefwechsel auch heute in der Ausoniusund Paulinus-Forschung ist, zeigen die einschlägigen Publikationen der letzten Jahre. Zu nennen sind an erster Stelle die Editionen und Kommentare, die den Briefwechsel sprachlich, grammatikalisch und realienkundlich erschließen: Dazu zählen der Kommentar zu den Briefen des Ausonius von Luca Mondin, der Erhebliches für die Einordnung der Briefgedichte in die spätantike Geistesgeschichte und die Aufarbeitung ihrer Überlieferungsgeschichte leistet, und der in Anspruch und Qualität vergleichbare Kommentar zu den carmina 10 und 11 des Paulinus von Stefania Filosini.55 Aufgrund seiner Konzeption im einzelnen weniger ausführlich ist der Kommentar zu 52 »Paulinus of Nola and the conflict of ideologies« ist der von Walsh (1970) gewählte programmatische Titel für einen Aufsatz über die Bedeutung der conversio des Paulinus. 53 Exemplarisch Trout (1999) 68. Einschlägige historische und patristische Arbeiten zur conversio des Paulinus sind: Frend (1974) passim, dessen Beitrag den programmatischen Titel »The Two Worlds of Paulinus of Nola« trägt. Lienhard (1977), auch Jenal (1995) I,98–110; II, 609–630. Gemeinsam ist den drei Untersuchungen, dass der scharfe Bruch im Leben des Paulinus in den Vordergrund gestellt wird. Dieser werde im Akt der conversio fass- und fühlbar. 54 Grundsätzlich und programmatisch Dräger (2002) 295–296: »Die Briefe haben von jeher ein starkes literarisches, historisches und menschliches Interesse erregt (…): Sind sie doch ein unschätzbares Dokument, nicht nur für die Auseinandersetzung zwischen der national-römischen und der christlichen Kultur und den Kampf zweier Persönlichkeiten, sondern wohl auch das Persönlichste, was wir von Ausonius besitzen. Dieser (…) kann die mönchischasketische Selbstisolation seines Schülers nicht begreifen. Dabei geht es nicht etwa um theologische Fragen; im Vordergrund steht auch nicht die religiöse Problematik (…). Vielmehr sieht Ausonius in der langen und schweigenden Abwesenheit seines Schülers ein Abwerfen des Freundschaftsjoches und ein Vergessen des alten Lehrers, d. h. den Abbruch der Kommunikation und damit die Preisgabe traditionell römischer sozialer Bindungen.« 55 Mondin (1995) und Filosini (2008).

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den opera omnia des Ausonius von Roger Green, der jedoch wichtige Hinweise zur Chronologie des Briefwechsels und bedenkenswerte, bisher aber zu wenig beachtete textkritische Überlegungen enthält.56 Hinzu tritt die Leseausgabe von David Amherdt, die den vollständigen Briefwechsel des Ausonius und Paulinus, d. h. auch die Briefgedichte, die Ausonius vor der conversio seines Schülers an diesen geschrieben hatte, in chronologischer Reihenfolge und kurze Erläuterungen in Form von Fußnoten bietet. Der Vorteil dieser Ausgabe liegt sicher in ihrer Kompaktheit und einfachen Handhabung, die einen schnellen Zugang zu den sprachlich teilweise schwierigen Texten ermöglicht. Allerdings kommt Amherdt, was die Briefgedichte des Ausonius betrifft, selten über die von Luca Mondin erzielten Ergebnisse hinaus.57 Zu nennen ist außerdem die von Paul Dräger edierte TusculumAusgabe. Dräger druckt den Briefwechsel vollständig mit Übersetzung und einem Kommentar in Form von Endnoten ab. Jedoch wirkt seine Übersetzung häufig unpräzise, auch ist der Kommentar bisweilen eher verwirrend als hilfreich. Dies mag auch daran liegen, dass Dräger die Kommentare von Roger Green und Luca Mondin oft ignoriert oder ihre Ergebnisse verwirft.58 Daneben ist der Briefwechsel Gegenstand historischer, philologischer und patristischer Einzelstudien, die verschiedene Wege der Interpretation gehen. Dennis E. Trout will mit seiner Biographie »Paulinus of Nola. Life, Letters and Poems« die vielen verschiedenen Seiten des Dichters, Kirchenpolitikers, Asketen und Adeligen Paulinus zeigen und so das rezeptionsgeschichtlich und wissenschaftlich festgefügte Bild des »Heiligen Paulinus« aufbrechen.59 Zu diesem Zweck untersucht er den Briefwechsel mit Ausonius in Hinblick auf das Leben und Denken des Paulinus und wendet sich vor allem seinen carmina 10 und 11 zu. Denn diese seien die ersten von Paulinus selbst verfassten Texte, die eine detaillierte biographische und historische Rekonstruktion seiner frühen asketischen Zeit in der Hispania Tarraconensis zuließen. Entsprechend dienen ihm die Briefgedichte des Ausonius eher als Folie, auf der sich die Aquitania Secunda, verstanden als geographischer und kultureller Lebensraum des Paulinus abbildet.60 Dagegen nutzt Sigrid Mratschek in 56 Green (1991) 637–663, zu seinen Konjekturen vgl. Kap. 4.4.1–4.4.3. 57 Bisweilen fasst Amherdt (2004) Mondin (1995) lediglich zusammen. Ebensowenig kann Amherdt, was die Briefgedichte des Paulinus betrifft, einem Vergleich mit Filosini (2008) standhalten. Sie kommentiert der Konzeption ihrer Arbeit entsprechend ausführlicher und gelangt so zu ausgewogeneren Urteilen. 58 Auf die Schwächen der Ausgabe wird häufiger einzugehen sein, vgl. jedoch die grundsätzliche Kritik Grubers (2005 [www.plekos.uni-muenchen.de/2005/fausonius2.html]). 59 Trout (1999) 22. 60 Trout (1999) 68: »But these ploys and charges of Ausonius (…) may tell us rather more about a rhetor and poet born in the shadow of Constantine than they do about the life and thought of Paulinus in these years. For those, I turn in the next chapter to Paulinus’s own compositions of these periods (…) But these poems also provide the first significant ›conversation‹

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Der Briefwechsel in der Forschung

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ihrer großen sozialgeschichtlichen Studie »Der Briefwechsel des Paulinus von Nola. Kommunikation und soziale Kontakte zwischen christlichen Intellektuellen« die geographischen und chronologischen Angaben der einzelnen Briefgedichte, um die Wege, die Paulinus zwischen den Jahren 383 und 395 zurücklegte, nachzuvollzuziehen und um einzelne Stationen, wie das Landgut Ebromagus, zu lokalisieren und so Licht in das Dunkel der »obskuren Dekade« nach der Statthalterschaft und vor der conversio des Paulinus zu bringen.61 Ein ähnliches Ziel verfolgt auch Altay Coşkun in der prosopographisch-biographischen Studie »Die gens Ausoniana an der Macht. Untersuchungen zu Decimius Magnus Ausonius und seiner Familie«, in der sich verschiedene detaillierte Einzeluntersuchungen locker zu einer Art Biographie der gens Ausoniana verbinden, die das kulturelle, gesellschaftliche und politische Umfeld des Rhetors in den Blick nimmt.62 Den Briefwechsel mit Paulinus untersucht Coşkun, um einerseits dessen, wie er meint, oft missverstandene Feinchronologie zu erarbeiten, andererseits die letzten Lebensjahre des Ausonius genauer zu erfassen und dem Leser einen Eindruck von der Gefühlslage des greisen Rhetors zu vermitteln.63 Trout, Mratschek und auch Coşkun zielen also unter Anwendung verschiedener Methoden auf eine möglichst genaue Rekonstruktion der historischen Gegebenheiten und der Biographie des Paulinus bzw. des Ausonius.64 Einen anderen, nicht immer unproblematischen Ansatz verfolgt Catherine Conybeare in ihrem Buch »Paulinus Noster. Self and Symbols in the Letters preserved in the modern corpus of Paulinus’s works. For the first time we encounter lengthy contemporary texts that permit definitive biographical and historical reconstruction. The change is doubly welcome, for these poems were composed during the critical stage of Paulinus’s conversion that immediatly preceded his formal adoption of the monastic propositum.« 61 Mratschek (2002) 190–208. 62 Coşkun (2002). Er führt in mehrfacher Hinsicht die prosopographische Studie von Sivan (1993) weiter, vgl. dazu seine Bemerkungen X. 63 Coşkun (2002) 99–111, bes. 99: »Es überrascht deswegen keineswegs, dass sich Generationen von Forschern um das Verständnis dieser bewegenden Korrespondenz bemüht haben. Mittlerweile liegen vielfältige Erklärungen von Sachproblemen und Versuche umfassender Bewertungen vor. Keine der bisherigen Darstellungen gründet jedoch auf einer befriedigenden Chronologie, welche nicht nur die Bedeutung der einzelnen Schriftstücke erhellen, sondern zudem Aufschluss über Ausonius’ letzte Lebensjahre vermitteln kann.« Zu der von ihm entworfenen chronologischen Rekonstruktion s. Kap. 5.3.1. 64 In Abgrenzung von den in Anm. 53 erwähnten älteren Interpretationsansätzen betonen Trout und Mratschek die Kontinuitäten im Leben des Paulinus und leiten so einen Paradigmenwechsel ein. Vgl. z. B. Trout (1999) 269: »Paulinus transformed himself from a Roman senator into a monk, cleric, and manager of a basilica complex (…). Paulinus’s turn away from traditional forms of social and political behavior, however, was complemented by his engagement in the new and evolving forms of aristocratic action that would provide one basis for order and continuity in the decades and centuries ahead.« Ähnlich auch Mratschek (2002) 598.

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of Paulinus of Nola«. Sie stellt die philosophische Konzeption eines christlichen ›inner self‹, eines homo interior christianus in das Zentrum ihrer Untersuchung und versucht anhand der Briefe des Paulinus nachzuweisen, dass sich erstens das christlich-asketische Selbstverständnis des Asketen grundlegend von seinem früheren Selbstverständnis unterscheidet; dass Paulinus zweitens mit seiner Konzeption des homo interior das Denken des Augustinus und so grundlegende abendländische Vorstellungen vom menschlichen Selbst geprägt habe.65 Mit Blick auf die an Ausonius gerichteten Carmina 10 und 11 des Paulinus postuliert sie, dass Paulinus bereits zu diesem Zeitpunkt sein christliches Selbst von seinem früheren Selbst unterscheidet und seiner Freundschaft zu Ausonius aus diesem Grund die Basis fehlt: Paulinus könne dem Freund keine Vorstellung von seinem neuen, durch die conversio erzeugten Selbst vermitteln.66 65 Im Kern geht Conybeare (2000) 131–160 davon aus, dass Paulinus die Vorstellung eines christlichen Selbst entwickelt, das sich nach außen im homo exterior, nach innen im homo interior zeigt. Während der homo exterior im Körper sichtbar wird, sterblich ist und engen Grenzen unterliegt, ist der homo interior, das geistige Prinzip, in gewisser Weise frei und teilbar, vgl. 144: »The aspects of the self create the individual boundaries; but it is far more important that selves may be truly interpermeable in their spiritual communion.« Im homo interior äußere sich in gewisser Weise ein göttliches Prinzip, das die Grenzen des Körpers zu überwinden und so Gemeinschaft zwischen Gott und Christen und Gemeinschaft zwischen Christen herzustellen vermöge. Dies sei die Grundlage für Augustinus’ Vorstellung vom Selbst und Individuum in der christlichen Gesellschaft, 145: »If Paulinus did indeed inspire Augustine with his vision of the unanimity of Christians in Christ – and there is no reason to suppose that he did not – then his influence, through Augustine, on spiritual life and thought at the end of the fourth century (and for some time beyond) is immense.« Der Ansatz ist insofern innovativ, als Conybeare (vielleicht auch mit dem Gedanken an eine Ehrenrettung) den oft wenig geschätzten theologischen Denker Paulinus in den Vordergrund ihrer Untersuchung stellt (vgl. z. B. Lienhard, 1977, 20, für den Paulinus interessant ist, weil er mit den führenden Intellektuellen seiner Zeit, Augustinus, Ambrosius, Hieronymus und Sulpicius Severus kommunizierte: »What makes Paulinus particularly interesting is that each of these men influenced him.«). Problematisch scheint mir allerdings zu sein, dass Conybeare ihre These mit zu wenigen und oft ungenügend kontextualisierten Belegstellen untermauert, vgl. z. B. 134, wo ein Zitat aus einem Brief an Augustinus (epist. 6,2) mit der schlagenden Formulierung teque uicissim in spiritu per interiorem hominem quasi recognoscimus als Beweis für eine spezifisch christliche, spirituelle Kommunikation der Asketen herangezogen wird. Conybeare übersieht dabei, dass die Vorstellung spiritueller Kommunikation grundlegender Bestandteil antiker Brieftopik ist, vgl. z. B. Thraede (1970), dessen Werk zur antiken und spätantiken Brieftopik Conybeare nicht einbezieht. 66 Conybeare (2000) 156: »In the end, however, we see that Paulinus could not have sustained further communication with Ausonius. The two men’s goals in life are now incommensurable: Paulinus cannot express the sense of self generated by his conversion in terms which Ausonius can accept.«; ähnlich 157: »Paulinus’ ultimate rejection of Ausonius has tended to baffle and sadden commentators; as it did Ausonius himself; but, given that Paulinus had come to believe that his Christian self was constituted in and moulded by association with his spiri-

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Ähnlich wie Conybeare verfährt der Kirchengeschichtler Matthias Skeb in seiner Arbeit »Christo vivere. Studien zum literarischen Christusbild des Paulinus von Nola.« Er will das Christusbild des Paulinus, wie es in den Briefen und in den Gedichten, in der conversio und im asketisch-monastischen Leben in Nola sichtbar wird, erfassen und analysieren.67 Da Paulinus ein rhetorisch gebildeter Schriftsteller sei, lohne es sich zu untersuchen, wie sich das Christusbild in den literarischen Maßstäben des Paulinus niederschlage und wie Paulinus selbst zu der literarischen Tätigkeit eines Christen stehe. Skeb widmet dieser Frage ein Kapitel, in dem er auch ausführlich auf den Briefwechsel mit Ausonius eingeht. Im Mittelpunkt seines Interesses steht carmen 10, das erste Antwortschreiben des Paulinus. In einer Analyse des berühmten zweiten, in Iamben abgefassten Gedichtteils (Paul. Nol. carm. 10,19–102) gelangt Skeb zu dem Ergebnis, dass sich die Haltung des Paulinus mit der conversio geändert habe: Jede Literatur – auch die Dichtung – müsse zum Heil durch Christus beitragen, Gegenstand der Literatur müsse daher Christus selbst sein. Dieser eschatologische und christologische Aspekt präge das neue Literaturverständnis des Dichters.68 Die hier angeführten Studien weisen drei Gemeinsamkeiten auf: Erstens nutzen sie den Briefwechsel vor allem als Quelle, wenn auch in verschiedener Hinsicht und mit unterschiedlichen Zielen. Trout und Mratschek werten die Briefgedichte aus historischer Perspektive für die Rekonstruktion der Biographie aus, Conybeare und Skeb zielen auf die geistige und seelische Verfasstheit, auf das Innenleben der Autoren. Coşkun versucht in gewisser Weise eine Synthese dieser Zielsetzungen zu erreichen. Zweitens konzentrieren sie sich in den meisten Fällen auf die Briefgedichte des Paulinus. Drittens denken die Gelehrten, gleich ob sie Historiker, Patristiker oder Philologen sind, selten über die literarische Form der Korrespondenz, über die Briefe als Gedichte nach. Einen ersten und grundlegenden Schritt in diese Richtung unternahm Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts Charles Witke.69 Ausgehend von der Beobachtung, dass die spätantike und besonders die christlitual confrères and with his Christ, he could not have sustained further communication with Ausonius.« 67 Skeb (1997) 2. 68 Skeb (1997) 86–147 grenzt sich so deutlich von Kohlwes’ älterer Position (1979) z. B. 67–68, 78, 81 ab, der Paulinus ein undifferenziertes Verhältnis zur heidnischen Literatur unterstellt. Gleichzeitig kann Skeb wahrscheinlich machen, dass Paulinus sich nicht – wie häufig postuliert wurde – an einer Trennung von Inhalt und Form, sondern allgemein am Nutzen der Dichtung orientiert: Hat die Dichtung einen soteriologischen Nutzen, sind pagane Formen durchaus erlaubt. Kritisch zu bewerten ist allerdings, dass Skeb in seiner Analyse die zahlreichen Textprobleme in den Iamben vollständig ignoriert und die Konjekturen auswählt, die seiner Argumentation zugute kommen. 69 Witke (1971).

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che Dichtung in Literaturwissenschaft und Philologie wenig Beachtung fand, forderte Witke nichts weniger als eine Neuausrichtung der Klassischen Philologie. Spätantike Dichtung sollte nicht mehr nur als Quelle, die über die Biographie ihrer Autoren und die kulturellen Strukturen der Epoche Auskunft gibt, wahrgenommen werden, sondern mit Hilfe moderner literaturwissenschaftlicher Methoden als Literatur gewürdigt werden.70 Vor diesem Hintergrund untersuchte Witke eine Reihe spätantiker Dichter – darunter Ausonius, Paulinus und Prudentius – besonders in Hinblick auf ihr Verhältnis zur klassischen Literatur: Wie gelingt es z. B. einem christlichen Dichter, traditionelle Stoffe klassischer Dichtung zu verarbeiten, wie wird er den literarischen Konventionen seiner Zeit gerecht und wie kann er eine öffentlich wirksame persona aufbauen? Christliche Literatur sei, so schließt Witke, eine eigene Größe, die letztlich einen eigenen Stil hervorbringe. Die Genese dieser Literatur und dieses Stils gelte es nachzuvollziehen.71 Den ersten Teil der Untersuchung widmet Witke dem poetischen Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus, denn letzterer sei nicht weniger als sein Lehrer tief in der klassischen Literatur verwurzelt und erschaffe mit seinen Briefgedichten eine christliche Dichtung, die über den Adressaten hinaus andere Rezipienten desselben Bildungssystems anspreche und so die Geschichte seiner conversio einem breiteren Publikum vermitteln könne: Nur auf der Basis der lateinischen Sprache und Kultur sei es Paulinus möglich gewesen, der Gefühlslage, die zur conversio führte, adäquat und überzeugend Audruck zu verleihen.72 70 Witke (1971) 1: »An ideal study of this period should use the techniques of modern literary analysis, but should not forego a most important question, one of greatest relevance for understanding the changes which the classical tradition undergoes during these centuries. The question basically is, how does the poet concieve of himself, his role, and his poetry? This hypothetical study should further explore this question of use or disuse of the poetic persona amply known from the classical practice of poetry without fear of critics’ ire because of its ›intentional‹ aspects. In order to make a widely based judgement about the nature of poetry in this period, its worth and its relationship to the classical tradition, the critic must make an effort systematically to explore both the poet’s self-image and the text. Such an endeavour is not biographical criticism but rather a study of cultural identity (…).« 71 Witke (1971) 1–2: »Rather, the attempt is made to see how each stands in relation to the practice of Latin poetry in the classical age. Specifically, these pages seek the degree to which each poet apprehends and solves the problem of being a Christian who uses the conventions of classical poetic compositions, such as Apollo, the Muses, inspiration, and a public detachable persona called into play by the assumption of a generically conventional stance. In short, this study assesses the implications of Christian Latin poetry as literary entity separate from the practice of poetry in Latin by men who happened to be Christians, and tries to shed some light on what is necessary in this period to create a Christian style.« 72 Witke (1971) 63–64: »However, it should be kept in mind that Paulinus is writing out of his education for a reader (potentially others) of identical background. Paulinus’ culture is Latin, and at this period this means classical in a late phase. (…) Paulinus himself, by writing

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Der Briefwechsel in der Forschung

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Witke war seiner Zeit in gewisser Weise voraus: Die These, dass auch dieser Briefwechsel vielleicht über den explizit genannten Adressaten hinaus auf weitere Rezipienten zielt, greifen z. B. erst Sigrid Mratschek und David Amherdt auf;73 auch die Einsicht, dass die in den Briefen (scheinbar) sichtbar werdenden Emotionen nur vor ihrem klassischen Hintergrund, d. h. auf der Basis der klassischen lateinischen Literatur zu verstehen seien, dass die Emotionen selbst also literarisch seien, ist zu diesem Zeitpunkt neu. Vielleicht aus diesem Grund kann Witke seinem hohen Anspruch nicht immer vollständig gerecht werden. Zwar verdeutlicht er in seiner Analyse, wie Ausonius und Paulinus den Gang der Argumentation literarisch gestalten, indem sie ihre eigenen Gedanken mit Hilfe klassischer Prätexte unterlegen und sie so anderen Rezipienten, die an demselben kulturellen Gedächtnis partizipieren, zugänglich machen.74 Jedoch bleibt er entgegen seinem in der Einleitung formulierten Anspruch, die Rolle des Dichters und der Dichtung zu analysieren und über das biographische Deuten hinauszugehen, gerade diesem verhaftet: Auch er kann sich der emotionalen Dynamik und dem Pathos der Briefe, der Trauer des Ausonius und der Grausamkeit des Paulinus nicht entziehen.75 Eine Synthese biographischer und literarischer Analyse versucht schließlich Meike Keul-Deutscher. In ihrem Aufsatz »Die Rettung einer gefährdeten Freundschaft.« will sie zeigen, dass das letzte Briefgedicht des Paulinus kein bewusst gesetzter Schlusspunkt des Briefwechsels sein sollte, sondern im

this letter and other poems, was helping form the first phase of an ecclesiastical culture, but he himself is as firmly rooted in Romanitas as Ausonius. (…) To be a Christian poet of the nonnational strain does not mean explicitly to reject the muses and profess a Christian subjectmatter. It is more a matter of creatively liberating the classical Latin conventions to tell the Christian story and vision of the world in ways recognizable to an educated audience. The story need not to be gospel or hagiography. It may be the encounter between two men, as the letters which have occupied this chapter. Latin provided the rudimentary elements for the communication, the words themselves, but, in its larger role as vehicle of culture, Latin provided the poet with the emotions themselves and the audience with the apparatus for apprehending a theme and the will to understand them.« 73 Amherdt (2004a) 73: »Ecrire un lettre est d’abord un acte social. Ausone n’écrit pas à titre purement personell. Il veut transmettre des valeurs, et ces valeurs sont inséparablement liées au destin de l’aristocratie gallo-romaine. Ausone s’exprime au nom des aristocrates, il est le porte-parole du cercle auquel il appartient. La líttérature épistolaire est essentiellement une littérature collective. Dans l’Antiquité tardive, les lettres, même si elles étaient adressées à un personnage déterminé, étaient très souvent destínées à un public beaucoup plus large.« Für die Prosa-Briefe des Paulinus stellt ähnliches Mratschek (2002) 408–414 fest. 74 Zum kulturellen Gedächtnis als Sammelbegriff für den der Antike eigenen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten vgl. zusammenfassend Vielberg (2006b) 206– 207. 75 Witke (1971) 3–5 und dazu das Folgende.

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Gegenteil auf weitere Kommunikation zielte.76 Denn Paulinus gebe seinem Freund durch Rückgriffe auf entsprechende Lukrez-Stellen deutlich zu verstehen, dass er Ausonius als Freund und Lehrer immer liebe, zugleich aber in seinem Herzen Christ bleibe. Keineswegs dürfe carmen 11 als radikaler Bruch der Freundschaft zu Ausonius verstanden werden. Vielmehr spiegele es als Exemplum tiefer, ernst genommener Humanität das äußerste Maß an Entgegenkommen wider, das Paulinus zeigen könne.77 Wie Witke geht also auch Keul-Deutscher davon aus, dass Paulinus den Gehalt seiner Briefgedichte durch den Rückgriff auf die klassische Dichtung vertieft. Poetische Form und literarische Gestaltung selbst werden so zu einer Botschaft, die das persönliche Element des Briefwechsels zu unterstreichen scheint. In jüngster Zeit haben David Amherdt und Gillian Knight neue Zugänge zum Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus gesucht. Amherdt widmet sich in seinem Aufsatz »La fonction de la poésie et le rôle du poète chez Ausone et Paulin de Nole« vor allem der Frage, in welcher Rolle die Dichter Ausonius und Paulinus welche Rezipienten ansprechen.78 Er stellt überzeugend dar, dass Ausonius und Paulinus jeweils nicht nur an den anderen schreiben, sondern als Dichter jeweils die sie prägende geistige Strömung vertreten und so zu einem Sprachrohr ihrer Gesellschaft werden: So schreibe auf der einen Seite Ausonius nicht nur als persönlich betroffener Freund, sondern als Vertreter der Aristokratie, für die der Vermögensverzicht des Paulinus und seine Hinwendung zur Askese eine ideelle Katastrophe darstelle.79 Auf der anderen Seite nutze Paulinus das Medium der Briefdichtung, um vor einem erweiterten Adressatenkreis, ebenfalls der gallischen Aristokratie, die persönlichen und theologischen Grundlagen seiner conversio zu erläutern und sich zu verteidigen. Die Briefdichtung sei das Medium, das einerseits die Botschaft transportiere, andererseits selbst Botschaft sei: Auch der christliche Dichter ist kultiviert, gebildet und in der Lage, anspruchsvolle 76 Keul-Deutscher (1998). Methodisch ähnlich, wenn auch mit einer jeweils anderen Zielsetzung verfahren Roberts (1985) und Walsh (1989), deren Studien hier nicht im einzelnen besprochen werden. 77 Keul-Deutscher (1998) 369. 78 Amherdt (2004a). 79 Amherdt (2004a) 72–78, bes. 77–78: »Ainsi, dans les lettres d’Ausone à Paulin, il est question de bien plus que d’une amitié perdue. Il est question du départ de l’un des aristocrates les plus riches et les plus influents, qui a transgressé les règles du groupe … qui a trahi Rome. Lorsque le vieux maître écrit à son élève, il défend une vision de la réalité, il se fait le porteparole des aristocrates gallo-romains. C’est là le rôle du poète: se mettre au service du groupe, au service d’une vision du monde. Il convient en outre de répéter que nous nous trouvons dans une société essentiellement littéraire. L’amitié est une amitié épistolaire. Elle est peut-être personelle – on ne doute pas de la sincérité des sentiments d’Ausone –, mais elle est avant tout collective. L’ami est surtout le poète. Or, le poète a pour mission de diffuser un modèle de société, et il se sert pour cela de son art, de sa force de persuasion.«

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Dichtung zu erschaffen – im Dienste der Religion.80 Amherdt bewertet die Briefgedichte des Ausonius und Paulinus also als persönliche Briefe, die mit Blick auf eine bestimmte Gruppe geschrieben sind und diese Gruppe aufgrund ihrer kulturellen und literarischen Tradition in der einen oder anderen Weise prägen. Mit diesem Konzept eines ›sowohl-als-auch‹ weist Amherdt den poetischen Briefen des Ausonius eine Funktion zu, die Mratschek für die Prosa-Briefe des Paulinus und Bruggisser für die Briefsammlung des Symmachus nachweisen konnten: Antike und spätantike Briefe sind oft mit Blick auf eine mitlesende Öffentlichkeit geschrieben.81 Der sehr persönliche Tonfall in den Briefen des Ausonius ist, folgert Amherdt, zwar auch, aber nicht nur der Gefühlslage des Ausonius geschuldet. Er sei darüber hinaus Teil der literarischen Strategie, mit der Ausonius die Aristokratie insgesamt anspreche. Das Gefühl, die Trauer und die Verärgerung des Autors werden also auf diese Weise, wenn wir den Gedanken Amherdts weiterführen, zu einem Allgemeingut der »Interpretationsgemeinschaft« Aristokratie.82 Einen Schritt weiter als Amherdt geht Gillian Knight. In ihrer Studie »Friendship and Erotics in the Late Antique Verse-Epistle. Ausonius to Paulinus revisited« wendet sie sich gegen eine biographische Deutung des Briefwechsels. Der biographische Ansatz, der traditionell auf das persönliche Verhältnis der Freunde Ausonius und Paulinus ziele, habe den Blick für das offensichtliche Spiel der Autoren mit Sprache, vor allem mit erotischer Spra-

80 Vgl. Amherdt (2004a) 78–81, bes. 80: »L’extraordinaire influence de Paulin sur la société de son temps s’explique par la conjonction de deux facteurs. Le premier facteur est le message ascétique, ou religieux, de Paulin; le second facteur est le véhicule de ce message, la lettre ou la poésie. La poésie, la rhétorique, est véritablement un instrument de civilisation … au service de la religion. Tout comme pour Ausone, pour Paulin la lettre est un instrument de relation, diffuseur de valeurs. La littérature est action, elle est même l’une des armes principales de l’activité missionaire.« 81 Vgl. den locus classicus Paul. Nol. ep. 24,1: Habeo tibi adhuc aliquid dicere, quamquam tu inopertis litterarum promptuariis accipias et super tecta, quantum in te est, ut ipse profiteris, studeas praedicare. sed si hanc, (…) querimoniam, inter cetera loquacitatis nostrae inepta deprompseris, tuam simul temeritatem diuulgabis, (…); dazu grundlegend Mratschek (2002) 408–414 mit weiterführender Literatur. Amherdt (2004a) rezipiert damit aber nicht nur Mratschek (auf die er S. 74 explizit verweist), sondern auch Witke (1971) 63–64. Zur Rolle des öffentlichen Privatbriefes bei Symmachus vgl. die knappe Zusammenfassung von Bruggisser (1993) 3 und die weiteren Ausführungen 4–16. 82 Aus den Ausführungen Amherdts wird nicht ersichtlich, inwiefern er sich dem readerresponse-criticism amerikanischer Schule verpflichtet fühlt. Seine Ansicht, dass nicht nur Paulinus, sondern ein elitärer aristokratischer Zirkel die Briefe als öffentliche Dokumente zu lesen und – aufgrund eines allen verständlichen literarischen code – zu deuten vermag, passt sich jedenfalls in das von Stanley Fish (1980) entworfene Modell der Interpretationsgemeinschaft (interpretative community) ein.

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che verstellt.83 Demgegenüber will Knight nachweisen, dass besonders Ausonius – wie es in antiker Briefliteratur üblich sei – in seinen Briefen jeweils ein fiktionales Verhältnis zwischen Briefschreiber und Adressaten konstruiere, und zwar vor allem mit Hilfe erotischer und elegischer Sprache. Tatsächlich kann Knight (wenn auch nicht in allen Fällen überzeugend) zeigen, dass Ausonius das Thema Freundschaft in den Briefgedichten mit Hilfe intertextueller Technik in verschiedene Facetten aufbricht und dem Rezipienten so neue Wege des Lesens eröffnet.84 Diese Wege zu finden hänge nun zu einem großen Teil von der Fähigkeit des Lesers ab, das unter dem Offensichtlichen Verborgene zu entdecken: »In the epistles, context is all important for developing and building up hidden themes and sub-texts. Author intentionality, as mentioned earlier, is intimately linked to reader receptivity. (…) In a sense, the responsibility for interpretation is thrown back on the ›reader‹, who can choose what to take from it and what to ignore. Indeed, it can be argued that the writer fall back on the caveat that ›the reader‹ is wholy responsible for what he/she finds, in this case, that if Paulinus finds material which is offensive, he himself has the responsibility for having imported an interpretation which was not there.«85

Aus diesen Sätzen zu schließen, Knight postuliere, überspitzt formuliert, den Tod des Autors Ausonius und die Befreiung des Lesers, wäre ein Missverständnis. Vielmehr will Knight zeigen, dass Ausonius seinen Lesern mit Hilfe verschiedener literarischer Techniken, wie z. B. der Reminiszenz und der Anspielung, verschiedene Wege der Lektüre und Interpretation eröffnet. Sie verlagert den Fokus der Betrachtung also nicht vollständig vom Autor auf den Leser, sondern – im Sinne des reader-response-criticism – auf das Zusammenspiel von Text und Rezipient: Die durch den Autor geschaffenen 83 Knight (2005) 361–362: »Not surprisingly, therefore, this epistolary exchange (…) has been viewed traditionally as charting the demise of a friendship, a view which appears to persist up to the present. Apart from the rhetorical gambits found within these epistles, however, there is no such close personal relationship. Indeed, it may be noted that the surviving epistles previously addressed by Ausonius to Paulinus make more play with a teacher/pupil, quasi paternal, relationship than with that of friendship. More importanly, it may be argued that it is precisely this type of (auto)biographical approach to the epistles which has tended to lead scholars to play down the strong presence of erotic language and motifs in the Ausonian side of the correspondence. (…) The aim of this article is to offer a more radical reappraisal of these Ausonian verse-epistles, based on their internal dynamics and drawing on the alternative critical approach of epistolarity.« 84 Knight untersucht in ihrem Beitrag eine Vielzahl von Reminiszenzen und Anspielungen auf die Frage, wie der evozierte Prätext die Aussage des Briefgedichts verändert. Gegen das Verfahren als solches ist nichts einzuwenden. Allerdings dringt sie aufgrund der Fülle der ausgewählten Reminiszenzen an vielen Stellen nicht bis zum Kern des Prätexts vor und fällt bisweilen ein vorschnelles und anzuzweifelndes Urteil. Vgl. dazu Kap. 9.2. 85 Knight (2005) 402.

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Möglichkeiten des Textes entfalten sich erst in der Lektüre. In gewisser Weise bilden also Autor und Leser hier die Interpretationsgemeinschaft, die erst den Zugriff auf die Bedeutung eines Textes ermöglicht.86 Knight versucht nun mit Blick auf diese Interpretationsgemeinschaft zu erklären, wie sich die poetischen und kommunikativen Aspekte, wie sich Dichtung und Briefform zu einer Einheit verbinden: Die Briefform kann, so Knight, als Brücke oder auch als Barriere dienen. Der Adressat, Paulinus, müsse entscheiden, ob er auf das Spiel des Autors eingehe oder ob er es ablehne. Gerade aus diesem Grund wirke das Verfahren des Ausonius, Fakten mit literarischen Fiktionen zu bereichern und so verschiedene Möglichkeiten des Verständnisses zu erzeugen, wie eine Einladung, die Beziehung auf einer Ebene, die in einer geteilten kulturellen und literarischen Tradition wurzele, wieder herzustellen: Freundschaft und Erotik seien z. B. Prismen, durch die der Briefwechsel gelesen werden könne. Die Briefgedichte des Ausonius seien, so schließt Knight ihre Studie, ein literarisches Kunstwerk, in dessen brieflichen und erotisch-poetischen Dimensionen sich mit Hilfe intertextueller Technik ein literarisches Spiel entfalte und weniger eine einzelne Geschichte als viele mögliche einzelne, teils widersprüchliche Geschichten erzählt würden. Als Versuch, die Freundschaft mit Paulinus zu retten, seien die Briefe gescheitert, als Literatur seien sie ein Höhepunkt spätantiken Schreibens.87 Das Ergebnis ist mit Blick auf den gesamten Aufsatz merkwürdig: Denn Knight verbindet implizit zwei Methoden der modernen Literaturwissenschaft, den reader-response-criticism und die intertextuelle Analyse, mit dem anfangs von ihr abgelehnten biographischen Ansatz. Nach ihrem Verständnis wird die Botschaft der Briefgedichte, wird das Gefühl, nicht durch das persönliche, sondern lediglich durch das literarische Element vermittelt: Das Gedicht und die literarische Gestaltung sind, wie bereits Witke, Keul-Deutscher und Amherdt feststellten, nicht nur Teil der Botschaft, sondern selbst Botschaft. Die vorgestellen Untersuchungen wollen – mit Ausnahme von Amherdt und Knight – in gewisser Weise immer auch Aufschluss über die psychische 86 Knight (2005) 402: »If Ausonius’ profession as rhetor can be assumed to have equipped him with a wide range of classical literature, on which to draw, Paulinus’ position as former pupil can equally be assumend to have given him the resources with which to decode the result.« Vgl. Fish (1980) und dazu die Zusammenfassung von Schmitz (2002) 142–145. 87 Knight (2005) 402: »In conclusion, then, these verse-epistles emerge as complex and highly ›artificial‹ constructs, in the most literal sense of word. Their dual affiliation, to prose epistolarity on the one hand and to erotic verse on the other, manifests itself through an elaborate notion of ›play‹, which systematically exploits semantic ambiguity and inter-textual allusion. Rather than creating a single consistent narrative they can be seen to offer a multiplicity of contradictory fictions. (…) In terms of re-establishing the relationship with Paulinus, they seem to represent a failure. Indeed, they may only have served to harden his attitude. As a literary achievement, however, they mark a high point in late antique writing.«

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Verfasstheit der Briefpartner geben. Es wird jedoch deutlich, dass die Ergebnisse dieser Untersuchungen bemerkenswert unterschiedlich ausfallen.88 Die einen bewerten z. B. den Briefwechsel als Zeugnis eines scharfen und endgültigen Bruchs zwischen Ausonius und Paulinus, die anderen sehen besonders im zweiten Teil des Briefwechsels eine deutliche Annäherung der beiden Freunde. Bereits Friedrich Leo äußerte im Jahr 1896 über das letzte Briefgedicht des Ausonius (Auson. 27,24), dass dieses »mehr warmes Gefühl als vielleicht die übrigen Verse des Ausonius zusammengenommen« habe. Die leidenschaftliche Zuneigung zu Paulinus und das gekränkte Herz des Ausonius fänden hier einen starken Ausdruck und weckten ein starkes Mitgefühl.89 In Anlehnung an Leo urteilte gut hundert Jahre später Paul Dräger, dass die Briefe an Paulinus »das Persönlichste (sind), was wir von Ausonius besitzen.«90 Und auch Coşkun sieht hier ein deutliches Nebeneinander von Resignation, Vorwurf, Beschwörung und Hoffnung.91 Kontroverser diskutiert werden dagegen die Briefgedichte des Paulinus: Während z. B. Witke meinte, dass den Antwortschreiben des Paulinus insgesamt eine gewisse Kälte, ja sogar Grausamkeit gegenüber seinem alten Freund nicht fehlten,92 sah Keul-Deutscher gerade im letzten Brief des Paulinus die Intention, »die persönliche Bindung zwischen Lehrer und zu Belehrendem in den Vordergrund zu rücken und die Tiefe seiner eigenen Gefühle (…) spürbar werden zu lassen.«93 Ähnlich beurteilte Coşkun carmen 11 als Beweis, »dass auch Paulinus den Kontakt zu seinem geliebten Lehrer trotz aller Differenzen nicht abbrechen lassen wollte.«94 Im Spannungsfeld dieser einander widersprechenden Urteile nahmen wieder andere eine vorsichtigere Mittelposition ein, nach der in den Briefen des Paulinus zwar Respekt, Ehrerbietung und Anerkennung für den Lehrer und Freund, gleichzeitig aber auch die unumstößliche Entscheidung für die Askese deutlich werde.95 Gemeinsam ist den 88 Vgl. für das Folgende auch die Zusammenfassung in Rücker (2009) 84–88 89 Leo (1960/11896)) 328. 90 Dräger (2002) 295. 91 Coşkun (2002) 236. 92 Witke (1971) 6: »The Letters demonstrate Paulinus’ intractability, and his calm and strong dedication to a new style of thought and letters. This was not without an element of coldness, even cruelty, to his past friends.« Von der Gefühlskälte des Paulinus spricht auch Fabre (1949) 156–166. Ähnlich auch Helm (1949) 2337, für den die Briefe des Paulinus »einen Strich unter das bis dahin bestehende Freundschaftsverhältnis setzen (…)«, ebenso Coster (1959) 192. In jüngerer Zeit wieder Jenal (1995) I, 98 und Skeb (1997) 84. 93 Keul-Deutscher (1998) 347–48, auch 355. Ähnlich urteilt Dräger (2002) 299, der für Paul. Nol. carm. 11 von der überfließenden Herzlichkeit und Großzügigkeit spricht, mit der Paulinus seine Liebe und Dankbarkeit gegenüber dem früheren Lehrer betone. 94 Coşkun (2002) 236. 95 Kohlwes (1979) 33: »Paulinus hat bekanntlich bei aller ergreifenden Bezeugung seiner aufrichtigen Verehrung und freundschaftlichen Zuneigung eindeutig abgelehnt (sc. den alten

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Gelehrten ein distanzierter Respekt gegenüber der Entscheidung des Paulinus und Sympathie für die bittende Haltung des Ausonius. Dass man die Persönlichkeit der Autoren derart in den Vordergrund der Interpretation stellte, hat m. E. zwei Gründe. Erstens werden die poetischen Briefe des Ausonius und Paulinus seit jeher als private Briefe, d. h. als echte, persönliche und intime Akte der Kommunikation begriffen. Hermann Peter, der die bisher einzige umfassende deutschsprachige Geschichte der römischen Briefliteratur schrieb, hielt Briefe allgemein für einen starken Ausdruck des Persönlichen. Auch die gesamte antike Briefdichtung, die Epistulae des Horaz, die Tristia und Epistulae ex Ponto des Ovid, die poetischen Briefe des Ausonius und Paulinus sowie die des Claudian ordnete er persönlichen Privatbriefen gleich: Ihre poetischen Briefe galten ihm als »Ausdruck des Persönlichen in Versen«,96 die gedichtete Form war für ihn eine Konzession an die literarisch gebildeten Adressaten.97 So verstanden sind Briefe ein Spiegel des Realen. Die Emotionen des Ich-Sprechers – Angst und Sorge um die Freundschaft oder Ärger über das Verhalten des Freundes – werden mit den Emotionen des Autors gleichgesetzt: Man schließt von der Dichtung auf die Persönlichkeit des Dichters, die Briefe selbst treten als persönlicher Akt der Kommunikation, als ›echte‹ Briefe, in das Blickfeld der Leser. Zwar erkannte bereits Peter an, dass Briefe nicht nur für den Adressaten, sondern auch für einen weiteren Leserkreis bestimmt sein und so zu Literatur werden konnten, maß diesem Aspekt aber keine größere Bedeutung bei. Komplizierter wurde es, als Adolf Deissmann und Ernst Sykutris Modelle von Briefliteratur entwickelten, die streng zwischen den Kategorien des Persönlichen und Privaten auf der einen und des Literarischen und Öffentlichen auf der anderen Lebensstil wiederaufzunehmen).«; Mratschek (2002) 296 bekräftigt die Position Keul-Deutschers (1979), spricht aber von einem »vielleicht nicht bewusst herbeigeführt(en)« Bruch der Freundschaft und bleibt damit vorsichtiger. 96 Vgl. Peter (1901) 178–197, hier 178. 97 Tendenziell neigt Peter dazu, die dichterische Form von Briefen als Schmuck zu betrachten, der notwendig ist, um sich als Gebildeter in einer gebildeten Welt zu etablieren. Zu Horaz vgl. Peter (1901) 180–182: »(…) jetzt geht er zum Halbdialog, dem Brief über (…). So hoffte er wenigstens auf Einzelne in seiner Umgebung Einfluss ausüben zu können, und hat deshalb, klug und taktvoll zugleich, seine Lebenserfahrungen an junge Männer adressiert … und sie mit rein persönlichen Briefen, die zum Teil sogar als Antworten aufzufassen sind, zu einem Ganzen verbunden. (…) Eine andere, von der Epistel verlangte Änderung war die der Sprache, die zwar den Ton des Umgangs festhielt, aber, da sie ausdrücklich an Gebildete sich wandte, die Derbheit aufgab und sich verfeinerte;«; zu Ovid 186–188; zu Ausonius 195: »(…) er (…) ist, wie Symmachus, von den einfachen und naheliegenden Zwecken eines wirklichen Briefes ausgegangen, hat aber dann die Einladungen, Dank-und Begleitworte für Geschenke (…), Anerkennungen und andere Liebenswürdigkeiten, Empfehlung (…) sogar die Erziehungslehre für den Enkel rhetorisch aufgebauscht und zum Teil durch Verskünsteleien ›verzierlicht‹«; zu Paulinus und Claudian 196–198.

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Seite unterschieden, und damit eine Kontroverse in der Forschung auslösten.98 In diese Modelle ließen sich poetische Briefe aufgrund des Wechselspiels zwischen Persönlichem und Literarischem noch weniger als Briefe in Prosa einordnen: Waren sie Privatbriefe, die mit Blick auf den Empfänger in Verse gefasst wurden, also ›echte‹ Briefe? Waren sie literarische Briefe, also Dichtung, die an eine breitere Öffentlichkeit gerichtet war oder waren sie eine Mischung aus beidem?99 In der Folge der Deissmann-Kontroverse wurden für die Briefdichtung des Horaz und Ovid längst Interpretationsansätze vorgeschlagen, die über eine biographisch-persönliche Auslegung hinausgehen und den oben formulierten Fragen durch formgeschichtlich und poetologisch orientierte Untersuchungen Rechnung tragen.100 Das ist für die weniger prominente spätantike Briefdichtung des Ausonius und Paulinus abgesehen von wenigen Ausnahmen kaum geschehen, wie der Überblick über die Forschung gezeigt hat. Auch heute noch knüpft man an Peter und die Verdienste anderer Gelehrter seiner Zeit wie Friedrich Leo an und sieht in den Briefgedichten in erster Linie das Persönliche, das sich aus Gründen der literarischen Konvention in poetischer Form zeigt.101 Insofern war es einerseits die briefliche Gestalt der Auseinandersetzung zwischen Ausonius 98 Vgl. Deissmann (1923) 195 und Sykutris (1931) 187. Ausführlich beschrieben wird die »Deissmann-Kontoverse« von Conring (2001) 17–30. 99 Die einschlägigen Handbuchartikel widmen poetischen Briefen wenige Zeilen und problematisieren die aufgeworfenen Fragen meistenteils nicht. Görgemanns, Herwig/Zelzer, Michaela: Art. Epistel, DNP 3, 1161–1166 , Görgemanns, Herwig: Art. Epistolographie, DNP 3, 1166–1169, Schmidt, Peter Lebrecht: Art. Brief, DNP 2, 771–773 und Schneider, Johannes: Art. Brief, RAC 2, 572. Zelzer (1997) 336 belässt es bei kurzen Hinweisen auf poetische Briefe. Vgl. aber die Bemerkungen bei Sykutris (1931) 207, die auf ein Problembewusstsein’ schließen lassen: »In der Literatur ist der poetische Brief sehr schwer zu fassen, wenn er nicht direkt als Brief bezeichnet wird. Denn die antiken Dichtungen sind immer persönlich adressiert und die formalen Merkmale des Praeskripts und des Schlußgrußes fehlen meistens. Es bleiben nur faktische Indizien und inhaltliche Merkmale übrig und die sind unsicher.« Das Dilemma verdeutlicht auch Görgemanns, Herwig: Art. Epistolographie, DNP 3, 1168, der poetische Briefe als Dichtungsgattung bezeichnet, in welcher der Dichter persönlich spricht. Damit kommt er freilich über Peter nicht hinaus. 100 Als besonders wirkmächtig haben sich in diesem Zusammenhang der Aufsatz über die elegische Epistel des Ovid von Helmut Rahn (1958) und der von Widu-Wolfgang Ehlers (1988) über die Exildichtung Ovids erwiesen. 101 Deutlich an die Ausführungen Peters (vgl. Anm. 97) erinnert es, wenn Green (1991) 606 über die Briefe des Ausonius urteilt: »Ausonius’ letters serve every day purposes – preserving and acknowledging gifts, making invitations, maintaining contact, answering requests, solving problems – but these functions are performed with great verve and imagination, and all the letters (…) demonstrate his many-sided learning, lively humor and great metrical versatility: in a word, his poeticus character. The writer’s personality is also prominent. With the rhetor Axius Paulus (…) he seems very friendly and spontaneous; to Theon he seems rather condescending.« Vgl. auch Dräger (2002) 296.

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und Paulinus, andererseits die moderne Auffassung vom Brief im allgemeinen, die einen biographisch-persönlichen Interpretationsansatz begründen konnte. Zweitens wohnt der Auseinandersetzung des Ausonius und Paulinus ein existenzieller und überzeitlicher Aspekt inne, der über die Jahrhunderte kaum etwas von seiner Wirksamkeit verloren hat. Deutlich wird dieser Aspekt z. B., wenn Nora K. Chadwick über den Briefwechsel urteilt: »This correspondence in which the old professor (…) expresses in classical imagery his yearning for a visit or letters from his brilliant and beloved pupil (…) forms one of the most poignant passages in the literature of the period. We feel in the beauty and dignity of these two men, so different in outlook, so incompatible in ideals, the eternal gulf which separates each generation from its predecessor and which no affection or education can bridge.«102

Tatsächlich wirkt die Auseinandersetzung zwischen einem alten Mann von 80 Jahren, der die Welt nicht mehr zu verstehen scheint, und seinem mehr als 40 Jahre jüngeren Schüler, der sich zu lösen versucht, auch auf moderne Leser anrührend und tragisch.103 Das liegt nicht nur daran, dass Ausonius und Paulinus einen sehr persönlichen Sprachstil und Tonfall pflegen. Vielmehr sind die Krise von Freundschaften und die Auseinandersetzungen zwischen zwei Generationen Teil allgemeiner menschlicher Lebenserfahrung. Coşkun geht in diesem Zusammenhang so weit, dem Leser emotionales Verständnis für die Klagen des altgewordenen Ausonius abzufordern, und unterstellt, dieser habe die Realität vielleicht nicht mehr in Gänze sehen können oder sehen wollen.104 Die Identifikation mit den dramatis personae, Ausonius und Paulinus, fällt dem Leser leicht. Gerade diese kann aber unter Umständen ein unvoreingenommenes Urteil über das persönliche Verhältnis der beiden Autoren erschweren. Urteilt Witke zu Recht, dass Paulinus grau102 Chadwick (1955) 65. Vgl. dazu die Bemerkung von Witke (1971) 4: »Scholars have seen in this confrontation a pathos which is surely there in some degree, and a destillation of what the old generation and the new found defective in each other’s literary activity.« 103 Die dem Briefwechsel inhärente Tragik wird auch in der jüngeren Forschung durchgehend erwähnt und reflektiert, vgl. z. B. Trout (1999) 68; Dräger (2002) 295 und Coşkun (2002) 99. 104 Coşkun (2002) 235 über den Vorwurf, Ausonius gehe nicht auf die theologischen Argumente des Paulinus ein, weil er diese als Halbchrist nicht habe begreifen können: »Solche pauschalen Verdikte sind aber unsensibel und verweigern einem Achtzigjährigen, der unter dem Verlust eines lieben Menschen leidet, die gebührenden mildernden Umstände. In jedem Fall muss aber einem tragfähigen Urteil der Versuch vorangehen, sich in die damalige Situation einzufühlen.« Vgl. dazu auch Coşkun (2002) Anm. 157: »Da es um eine sehr emotionale Angelegenheit geht, wäre es Ausdruck eines törichten Wissenschaftsverständnisses, die subjektive Dimension auszublenden. Auch wäre es nicht verwunderlich, wenn der Greis nur Teile der Realität hätte wahrnehmen können oder wollen. Doch bescheinigen ihm subtile Anspielungen in den Briefen weiterhin einen wachen Geist.«

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sam gegen seinen Lehrer ist, oder trifft die Einschätzung Keul-Deutschers zu, dass Paulinus tiefes Gefühl für den alten Lehrer zeigt? Es sind vor allem die Gegensätzlichkeit und noch mehr die Beliebigkeit der Urteile, die daran zweifeln lassen, dass die Briefgedichte Aufschluss über die Persönlichkeit ihrer Verfasser und deren Verhältnis geben können.105 Witke, Amherdt und vor allem Knight erkannten dieses Problem und versuchten, es auf unterschiedliche Weise zu lösen: Für Witke ist die Welt, in der Ausonius lebt, eine Welt der Worte: Er erschafft und definiert durch Worte in gewissser Weise seine Realität, und Paulinus war zumindest vor der conversio Teil dieser Realität. Aus diesem Grund können die Briefgedichte des Ausonius nach Ansicht Witkes auf den Adressaten einwirken und ihn tatsächlich zur lateinischen Dichtung, in die Welt des Ausonius zurückrufen.106 Amherdt erweitert diesen Ansatz, indem er Ausonius und Paulinus jeweils eine Funktion als Sprecher ihrer Welten zukommen lässt: Die Briefgedichte wirken nicht nur auf den in der Anrede genannten Adressaten, sondern auch auf diejenigen, die ihre kulturelle Identität teilen. Knight schließlich versucht die Kommunikation vollständig von der persönlichen auf die literarische Ebene zu verlagern: Nicht Ausonius und sein abtrünniger Freund Paulinus, sondern der Dichter und der Leser sollten im Vordergrund der Interpretation stehen. Knight sieht den Leser also in einer Rolle, die nicht weniger wichtig ist als die des Dichters: Erst der Leser kann den Text durch seine Interpretation zum Leben erwecken. Die Botschaft, die durch die Briefgedichte übermittelt werden soll, wird für Witke unter anderem, für Amherdt vor allem, für Knight nur durch das literarische Element transportiert, nicht mehr durch das persönliche. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die drei Klassischen Philologen den Briefwechsel jeweils als gescheitert betrachten: Ausonius gelinge es weder über den Weg 105 Dass eine Identifikation mit dem Forschungsgegenstand grundsätzlich positiv ist, soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Für Chadwick (1955) 8 ist die Identifikation mit ihrem Gegenstand – gerade vor dem Hintergrund der Kriegserfahrungen und der Nachkriegszeiten des 20. Jhs. – essentiell: »I must conclude with a confession. My book on the intellectual life of Gaul in the Period of the Barbarian invasions was, indeed, originally planned as prolegomena to a study of early British history; but the truth is that while reading what was written in Gaul at the momentous period I have fallen in love with my subject. The personal records of the great Gaulish officials and bishops (…) have drawn me insensibly into their lives (…). Men brought up like ourselves in the classical tradition, they faced the political and military crisis with a reserve of strength, an ungrudging public spirit, a balanced judgement and an appreciation of literary and spiritual values, which are congenial to the modern mind. To me personally the people of Gaul in the fifth century seem more like ourselves in their mental outlook than any other at any other period of history.« Dieses ›Bekenntnis‹ tut der Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit, die m. W. den Anfangspunkt der modernen anglo-amerikanischen Forschung zur spätantiken Briefliteratur darstellt, keinerlei Abbruch, sondern bereichert sie im Gegenteil. 106 Vgl. besonders die Beschreibung von Auson. 27,18 bei Witke (1971) 11.

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Eigene Ansätze

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des Persönlichen noch über den des Literarischen Paulinus zurückzugewinnen, so das jeweilige Fazit. Aber ist Ausonius tatsächlich gescheitert?

1.3 Eigene Ansätze An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit an. Denn wie verhält es sich, wenn wir noch einen Schritt weiter als Witke, Knight und Amherdt gehen? Wie verhält es sich, wenn der Briefwechsel nicht ein in Verse gekleideter persönlicher Akt der Kommunikation ist, sondern umgekehrt Dichtung, die in die Form persönlicher Briefe gegossen wird? Vermag der Briefwechsel dann überhaupt Antworten auf Fragen nach der inneren Verfasstheit und dem persönlichen Verhältnis der Briefpartner zu geben? Ich möchte vorschlagen, die poetischen Briefe des Ausonius und Paulinus als Dichtung zu verstehen, die sich zwar in der Gestalt persönlicher, für einen Adressaten geschriebener Briefe präsentiert, tatsächlich aber wie z. B. die Briefsammlungen des Ovid und des Horaz auf die literarische Kommunikation mit einem grösseren Publikum angelegt ist, zu dem auch der Adressat – Paulinus – gehört. Wenn man die Briefgedichte des Ausonius in dieser Weise als Kunstform und als Literatur betrachtet, stellt sich die Frage, ob in ihr nicht (wie in jeder anderen antiken und spätantiken Poesie auch) ein durch den Dichter in Szene gesetzter brieflicher Ich-Sprecher, ein poetisches Ich, agiert, das im Verlauf des Briefwechsels jeweils verschiedene Rollen einnimmt. Denn zumindest Ausonius zeigt im cento nuptialis, einem aus vergilischen Versen und Halbversen zusammengesetzten Epithalamium,107 ein deutliches Bewusstsein für eine Trennung von Autor und Werk, von Dichter und sprechendem Ich. Mit Blick auf den teilweise pornographischen Inhalt schreibt er, Auson. 18 (e) 1–11: Sed cum legeris, adesto mihi aduersum eos, qui, ut Iuuenalis ait, ›Curios simulant et Bacchanalia uiuunt,‹ ne fortasse mores meos spectent de carmine. ›lasciua est nobis pagina, uita proba‹, ut Martialis dicit. meminerint autem, quippe eruditi, probissimo uiro Plinio in poematiis lasciuiam, in moribus constitisse censuram, prurire opusculum Sulpiciae, frontem caperarre, esse Apuleium in uita philosophum, in epigrammatis amatorem, in praeceptis Ciceronis exstare seueritatem, in epistulis ad Caerelliam subesse petulantiam, Platonis Symposion composita in ephebos epyllia continere. Wenn du das jetzt gelesen hast, stehe mir gegen diejenigen bei, die wie Iuvenal sagt, ›vorgeben, ein Curius zu sein, aber Bacchanalien leben‹, dass sie nicht von meinem Gedicht auf meinen Charakter schließen. ›Mein Gedicht ist zügellos, mein Leben rechtschaffen‹, wie Martial sagt. Sie mögen sich aber daran erinnern, diese sicherlich 107 Zum Cento nuptialis vgl. ausführlich Kap. 2.4.1.

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Einleitung Gebildeten, dass die Gedichte des rechtschaffensten Mannes überhaupt, Plinius, sich durch Zügellosigkeit, sein Leben jedoch sich durch Maßhaltung auszeichnete, dass das kleine Werk der Sulpicia wolllüstig ist, dass ihre Stirn sich jedoch vor Strenge runzelt, dass Apuleius im Leben ein Philosoph, in den Epigrammen ein Liebhaber ist, dass die Philosophica Ciceros Strenge atmen, die Briefe an Caerellia unterschwelligen Übermut, dass Platons Symposion Gedichte für junge Männer enthält.

Die moralische Integrität des Dichters Ausonius wird nicht durch sein freizügiges literarisches Schaffen definiert. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass sich die Persönlichkeit des Dichters nicht vollständig in seinem literarischen Schaffen abbildet, sondern sich ›nur‹ bis zu einem gewissen Grad und auf verschiedene Weise spiegelt. Dennoch sind Ausonius und Paulinus, auch wenn sie nicht selbst sprechen, diejenigen, die handeln und sprechen lassen, die inszenieren und literarisch gestalten. Sie können je nach Adressaten ihrer Dichtung auch in verschiedene Masken schlüpfen und so einen bestimmten Teil ihrer Persönlichkeit offenlegen oder auch verschleiern.108 Es ist daher kaum zu ermitteln, wann der ›echte‹ Ausonius oder der ›echte‹ Paulinus sprechen. Die Briefgedichte in diesem Sinne verstanden repräsentieren, wie ich an anderer Stelle in einer kurzen Untersuchung einzelner Motive des Briefwechsels zeigen konnte, nicht die Realität der historisch fassbaren Personen Ausonius und Paulinus, sondern die Realität ihrer Dichtung, in die – je nach Willen des Autors – Reales und Fiktionales einfließen.109 Die Frage 108 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen von Ellen Oliensis (1998) zur Präsentation des Ichs in den Werken des Horaz. Unter Einbeziehung sozialpsychologischer Ansätze (vor allem Goffman, 1959, 1967) versucht Oliensis die Trennung von Dichter und persona bzw. poetischem Ich zu überbrücken, 2: »Horace is present in his personae, that is not because these personae are authentic and accurate impressions of his true self, but because they effectively construct that self (…). The theatrical metaphor (sc. of the persona) is misleading insofar as it obscures Horace’s interest in the doing of his faces – obscures, that is, the extent to which Horace is in fact doing things with his faces, wether they bear the name ›Alfius‹ or the name of the author. It may not always be Horace speaking, but it is always Horace acting.« 109 Vgl. Rücker (2009). Ähnliche Fragestellungen hat in jüngerer Zeit Matthias Ludolph für die Briefe des Plinius verfolgt. Unter Berücksichtigung der Bemerkungen des Plinius zu Catull und zur Trennung von ›ich‹-sagendem Sprecher einerseits und der historischen Person Catull andererseits kann Ludolph wahrscheinlich machen, dass Plinius in seinen Literaturbriefen einen ›ich‹-sagenden Briefschreiber präsentiert, der nur bedingt Rückschlüsse auf die Persönlichkeit ihres Verfassers zulässt, vgl. Ludolph (1997) 11–40, bes. 37–38 mit Blick auf das Verhältnis von Neoterikern und Plinius: »Aus zunächst privat gerichteten Texten wird Literatur, und mit dieser qualitativen Verwandlung des pragmatischen Zusammenhangs geht der Schritt vom persönlichen zum lyrischen Ich einher. (…) Es ist offenkundig, dass dem Vorgang der Literarisierung, wie er hier verstanden ist, derselbe Literaturbegriff zugrunde liegt, den ich oben für literarische Briefe als angemessen erachtet habe: An die Stelle des Freundeskreises und des aktuellen Bezuges treten die Öffentlichkeit als Publikum und die Erwartung zeitlich unbegrenzter Fortwirkung. Obgleich sich dabei die äußere Gestalt der Texte durchaus nicht

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nach der Echtheit der Briefe erübrigt sich damit, denn die Distanz, die zwischen den Autoren und ihren jeweiligen personae, zwischen der historischen Realität und der Realität der Dichtung liegt, ist nicht zu überbrücken. Gleichzeitig aber öffnen Ausonius und Paulinus mit Hilfe ihrer personae ihre scheinbar persönlichen Briefgedichte nach Außen, hin zu einem größeren Rezipientenkreis. Diese Öffnung gelingt z. B. über das Zusammenspiel von literarischer Gestaltung und Gedankenführung: Wir können zwar nicht sagen, ob Ausonius tatsächlich von Kränkung und Verärgerung getrieben wurde, als er die Briefgedichte an Paulinus konzipierte. Wir können aber feststellen, dass die emotionalen Kategorien ›Kränkung‹ und ›Verärgerung‹ bei der Gestaltung der Briefgedichte eine entscheidende Rolle spielen: Das Klagen und flehentliche Bitten gehören zum Charakter seines Ich-Sprechers, der darin deutlich an die Gestalt des poeta exul in der ovidischen Exildichtung erinnert. Ausonius nutzt also emotionale Faktoren wie Kränkung und Verärgerung und die daraus erwachsende Klage literarisch, um seinen IchSprecher in einer bestimmten Rolle zu inszenieren, ihn in eine bestimmte literarische Tradition, nämlich die der Exildichtung zu stellen, und um den Leser auf diese Weise interpretatorisch in bestimmte Bahnen zu lenken. Ein anderer Weg der Öffnung führt über die Prinzipien der imitatio und aemulatio oder, um einen modernen Begriff zu wählen, der Intertextualität: Ausonius und Paulinus betten die Auseinandersetzung um die Möglichkeiten und Grenzen von Freundschaft und die richtige Form zu leben in ein Geflecht aus intertextuellen Bezügen ein und treten so in einen Dialog mit ihren großen literarischen Vorbildern, z. B. mit Vergil, Ovid und Horaz. Oft entsteht durch diese Bezüge eine Spannung oder Interferenz zwischen dem zugrunde liegenden Prätext, z. B. Vergil, und den Briefgedichten. Sie ermöglicht es den Adressaten, Ausonius und Paulinus, wie auch den außenstehenden Lesern gleichsam unter der Textoberfläche eine zweite Aussage zu entdecken. Sie kann die ursprüngliche Aussage verstärken, aber auch mit viel Witz oder satirischem Ernst konterkarieren.110 Lesen wir die Dichtung des Ausonius und Paulinus in dieser Weise, treten die historischen Gestalten zurück, die Dichter und ihre Möglichkeiten literarischer Gestaltung in den Vordergrund. Was wir auf diese Weise also erfassen können, ist nicht die ändert und der Eindruck scheinbarer Privatheit bestehenbleibt, bedeutet die Literarisierung einen qualitativen Sprung, der sich als ›tendentielle Fiktionalität‹ fassen lässt: Man muss, wenn es auch im Einzelfall nicht erweisbar ist, damit rechnen, dass das private Ambiente nur noch fingiert ist und Persönlichkeit des Verfassers und lyrisches Ich divergieren. Denselben qualitativen Sprung, den für Catull die Publikation seiner carmina bedeutet, vollzieht Plinius mit der Publikation seiner Briefe: eine Verwandlung des pragmatischen Bezuges in Richtung auf die Öffentlichkeit als Leserschaft, mit der die ›tendentielle Fiktionalität‹, die mögliche Trennung des ›brieflichen‹ Ich vom historischen Ich des Verfassers einhergeht.« 110 Vgl. dazu ausführlich Kap. 2.2–2.4.2.

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historische Realität und emotionale Authentizität der Persönlichkeiten Ausonius und Paulinus, sondern die Authentizität der Dichter und die Qualität ihrer Dichtung – und hier liegt das grundlegende Ziel dieser Arbeit: Wie gestalten Ausonius und Paulinus ihre Briefgedichte literarisch, wie sind die Briefgedichte als Literatur zu verstehen, wie sind sie als Literatur eingebettet in die literarischen, philosophischen und theologischen Diskurse ihrer Zeit? Um die Briefgedichte in dieser Weise zu lesen, scheint ein zweifacher Interpretationsansatz sinnvoll, der einerseits sowohl die jüngere Forschung zur antiken und spätantiken Briefliteratur als auch Überlegungen moderner und postmoderner Literaturtheorie aufgreift, andererseits gleichermaßen die traditionelle Arbeit des Philologen – Textkritik und Textwiederherstellung und textimmanente Interpretation im Sinne eines close reading – einbindet. Beide Aspekte der Intepretation sollen sich in etwa die Waage halten und sich ergänzen: Denn auch wenn Ausonius und Paulinus zur literarischen Gestaltung immer wieder auf Texte anderer Autoren zurückgreifen, sind ihre Briefgedichte jeweils literarisch und inhaltlich geschlossene Einheiten, die zunächst für sich verstanden werden müssen: Welcher grammatikalischen, stilistischen und sonstigen gestalterischen Mittel bedienen sich die Autoren, in welcher literarischen Tradition sehen sie sich, welche Stellung nimmt ihr Einzelwerk in der Literatur ihrer Zeit ein? Mit anderen Worten: Mit der Untersuchung intertextueller Strategien muss, soll sie erfolgreich sein, die inhaltliche, stilistische und literarhistorische Analyse des vorliegenden Briefgedichtes einhergehen, das verstanden als in sich geschlossener Einzeltext in ein bestimmtes historisches, gesellschaftliches und literarisches Umfeld eingebettet ist.111 In der Summe bedeutet das: Die Briefgedichte werden durch verschiedene Diskurse beeinflusst und wirken in verschiedene Diskurse hinein. Diskurs in diesem Sinn ist zu verstehen als »die Summe der unzähligen heterogenen Faktoren, die teils fassbar, teils verborgen, auf einen zeitlich und lokal begrenzten, aber nicht in sich abgeschlossenen Bereich auf mannigfaltige und oft nicht durchschaubare Weise und eine bestimmte politische, geistesgeschichtliche und kulturelle Atmosphäre erzeugen, die in typischen Kulturmanifestationen aller Art ihren konkreten Ausdruck findet.«112 111 Vgl. dazu die Überlegungen, die Schauer (2007) 34–35 zum Verhältnis von werkimmanenter, intertextueller und historischer Analyse der Aeneis anstellt. 112 Schauer (2007) 36–37. Die von Schauer vorgestellte Definition des Diskurses trifft sich in wichtigen Punkten mit der Interdiskurstheorie, vgl. z. B. Gerhard/Link/Parr (2004) 34–35: »Für die Textwissenschaften von bes. Interesse ist hier das gesamte Ensemble diskursübergreifender elementar-literarischer Elemente. Dazu gehören die verschiedenen Modelle von Analogien, Metaphern, Symbolen, Mythen, insbes. auch von Kollektivsymbolen. Sie bilden den allg. interdiskursiven Rahmen eines Diskurssystems. Der Literatur insgesamt kommt aus dieser interdiskurstheoretischen Sicht ein quasi paradoxer Status zu: Einerseits ist sie Spezialdiskurs mit eigenen Formationsregeln; andererseits greift sie in bes. hohem Maße auf diskursübergreifende Elemente zurück, und zwar in zweierlei Hinsicht: extensiv durch enzyklopädische Akku-

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Z. B. wirken die literarischen Diskurse der augusteischen Zeit über die Vermittler Vergil, Horaz und Ovid ebenso in die Briefgedichte des Ausonius und Paulinus hinein wie die des vierten Jahrhunderts nach Christus, gleichermaßen treten neuplatonische mit christlichen Diskursen in den Briefgedichten in Wechselwirkung. Gleichzeitig beeinflusst der Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus sehr schnell selbst die literarischen und religiösen Diskurse seiner Zeit: Z. B. nehmen Prudentius und Claudian als Dichter von unterschiedlicher Provenienz und unterschiedlicher Zielsetzung Bezug auf ihn. Innerhalb dieser Diskurse aber stellen die Briefgedichte literarische Kunstwerke dar, die auch als solche, d. h. als geschlossene literarische Einheiten aufgefasst werden können.

1.4 Vorgehensweise Mit Blick auf die oben formulierten Fragestellungen und Beobachtungen wäre es grundsätzlich wünschenswert, den vollständigen Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus zu untersuchen. Indes zeigen der Umfang und die literarische Qualität der Briefgedichte, dass ein solches Unternehmen die Arbeit über Gebühr dehnen würde. Bereits die Briefgedichte des Ausonius, die in der Edition von Roger Green 285 Verse umfassen, bieten zahlreiche Ansatzpunkte für eine ausführliche Interpretation: Struktur und Aufbau der einzelnen poetischen Briefe, aber auch ihr Verhältnis zueinander sind z. B. kaum untersucht, ebensowenig die Funktion einzelner mythischer und historischer Exempla, deren umfassende Interpretation für das Verständnis der Gedankenführung und so für das Verständnis der Briefgedichte insgesamt unumgänglich ist. Darüber hinaus sind wichtige textgeschichtliche und textkritische Fragen ungelöst, die sich auf das Ergebnis der Interpretation ausmulation von Wissen, intensiv dadurch, dass polyisotopes (mehrstimmiges) Diskursmaterial so verwendet wird, dass die Ambivalenzen und semantischen Anschlussmöglichkeiten noch gesteigert werden und im Extremfall die gesamte Struktur der Spezial- und Interdiskurse einer Kultur ins Spiel gebracht wird. (…) Literatur ist daher (…) als ein auf interdiskursive Integration hin angelegter Spezialdiskurs zu beschreiben, der sich aus je schon spontan gebildetem interdiskursivem Material ›nährt‹. Sie kann dabei die kollektiv parat gehaltenen diskursiven Positionen sowohl verstärken wie ambivalent auflösen oder kulturrevolutionär subvertieren. Dabei bildet die gewohnte Institutionalisierung einen Spiel-Rahmen nicht nur für Experimente, sondern gerade auch für ›unerhörte‹ Positionen. Die Interdiskurstheorie gibt damit nicht nur eine Antwort auf die Frage nach dem Funktionszusammenhang von Literatur, Kultur und Spezialdiskursen und erlaubt es, den literaturwissenschaftlichen Blick stets schon auf das gesamte Feld der Kultur hin auszudehnen, sondern macht auch die Schnittstelle zu den Intertextualitätstheorien deutlich, insofern Intertextualität dann Interdiskursivität immer schon zur Voraussetzung hätte.«

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wirken. Ähnliches gilt sogar in höherem Maße für die beiden Antwortschreiben des Paulinus. Zwar eröffnete Stefania Filosini erst in jüngster Zeit neue Zugänge zu den sprachlich, grammatikalisch und stilistisch teilweise schwierigen Briefgedichten an Ausonius.113 Ihr im besten Sinne philologischer Kommentar zeigt aber sehr deutlich, dass auch für die Briefgedichte des Paulinus weiterführende Untersuchungen zu Struktur und Aufbau, zur Funktion der einzelnen Versmaße, zu ihrer Sprache und zum Umgang eines überzeugten Asketen mit klassischen, also nicht-christlichen Autoren notwendig sind. Diese Arbeit kann hier für beide Autoren nicht geleistet werden, und so ist es m. E. angebracht, die Untersuchung zu Gunsten einer genauen Interpretation auf die Briefgedichte 21 und 22 des Ausonius (ed. Green 1991/99) und entsprechende Passagen aus dem Antwortschreiben des Paulinus, carmen 10 (ed. Hartel 1999 II) zu beschränken. Ein zentrales Thema der Arbeit ist, wie Ausonius mit seinen literarischen Vorgängern, wie er mit Vergil, Ovid, Horaz und den anderen großen Autoren der Kaiserzeit umgeht, wie er sie nutzt, um die Aussage seiner Briefgedichte zu bereichern. Aus diesem Grund scheint es sinnvoll, im zweiten Kapitel »Ausonius und die Klassische Literatur« einen Einblick in das literarische Selbstverständnis der Autoren des späten 4. Jahrhunderts zu geben. In das so entstehende Bild einer Epoche wird schließlich Ausonius einzuordnen sein. Hier möchte ich besonders herausstellen, wie Ausonius sich selbst und seine Rolle als Dichter, wie er sein Verhältnis zu seinen literarischen Vorbildern beschreibt, und schließlich, wie er mit diesen umgeht. Zu diesem Zweck werden zunächst autobiographisch geprägte Passagen vorgestellt, in denen Ausonius sich über den Wert und den Zweck von Bildung äußert. Schließlich wird anhand des Cento nuptialis und des letzten Briefgedichtes an Paulinus (Auson. 27,24) gezeigt, wie Ausonius die Literatur der ausgehenden res publica und der Kaiserzeit nicht nur rezipiert, sondern wie er sie in veränderter Form für seine eigene Dichtung nutzbar macht. Das dritte Kapitel bietet den Text der Briefgedichte 27,21 und 22, eine Übersetzung und eine inhaltliche Einführung. Vorgestellt werden zunächst die historische und die biographische Situation, aus der heraus die Briefgedichte des Ausonius und die Antwortschreiben des Paulinus entstanden sind. Daran schließen sich eine kurze Paraphrase sowie eine inhaltliche, grammatikalische und stilistische Analyse der Briefgedichte 21 und 22 des Ausonius an. Ziel dieses Teils ist es, dem Leser einen Einblick in Gedankenführung und Stilistik der poetischen Briefe zu ermöglichen. Schließlich folgt eine Einordnung der Briefe in die literarische, d. h. epistolare und poetische Tradition. Der letzte Teil dieses Kapitels widmet sich einem Aspekt, der für das Verständnis des Briefwechsels insgesamt wichtig ist: Der Frage, wie sich die Briefgedichte des Ausonius zu denen des Ovid verhalten. 113 Filosini (2008).

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Das vierte Kapitel befasst sich ausschließlich mit der Textgeschichte der Briefgedichte. Die Geschichte des gesamten Ausonius-Textes gilt als verworren. Besonders kontrovers wurde in der Forschung diskutiert, ob die mittelalterlichen Ausonius-Handschriften, die in Teilen sehr deutlich voneinander abweichen, auf zwei verschiedene spätantike Ausonius-Editionen zurückzuführen sind: Eine, die von ihm selbst besorgt und herausgegeben wurde, und eine die von ihm geplant, aber erst kurz nach seinem Tod herausgegeben wurde. Für diese Zwei-Editionen-Theorie sprachen sich die Gelehrten aus, die in den verschiedenen Text-Abweichungen Autorenvarianten sahen. Andere namhafte Gelehrte sahen in den Abweichungen dagegen frühmittelalterliche Interpolationen und glaubten, dass alle Handschriften auf einen Archetypus zurückzuführen seien. Der poetische Briefwechsel mit Paulinus spiegelt diese Kontroverse im Kleinen. Auch seine Überlieferungsgeschichte ist verwickelt. Die Briefgedichte des Ausonius werden sowohl in Ausonius- als auch in PaulinusHandschriften überliefert, umgekehrt die des Paulinus auch in den Ausonius-Handschriften. In manchen Handschriften sind sie jeweils einzeln nach Autoren, in manchen (sehr frühen) Handschriften nach Art eines Briefwechsels geordnet. Schließlich zeigen die Handschriften für einige Passagen der Ausonius-Briefe eine deutlich voneinander abweichende Textgestalt, so dass sich auch hier die Frage stellt, ob die Abweichungen auf die Hand des Autors oder auf die eines späteren Redaktors zurückgehen. Diese Fragen zu klären ist für die vorliegende Arbeit aus zwei Gründen wichtig: Erstens ist es an einigen Stellen möglich, den Text des Archetypus durch Konjektur und Umstellungen gegen die handschriftliche Überlieferung herzustellen. Zweitens stützen Hinweise auf eine redaktionelle Überarbeitung die These, dass der Briefwechsel in der vorliegenden Form vielleicht die Neufassung einer früheren Version des Briefwechsels ist. Das Kapitel bietet zunächst eine Einführung in die Überlieferungsgeschichte des AusoniusTextes im allgemeinen und des Briefwechsels im besonderen. Daran schließt eine kurze Untersuchung der Brief-Tituli an, da diese Rückschlüsse auf die Entstehung und die Entstehungsbedingungen der Briefgedichte zulassen. Im dritten, umfangreichsten Teil des Kapitels werden verschiedene Bindefehler auf ihre Tragfähigkeit untersucht, sowie eine Umstellung vorgenommen. Schließlich werde ich im letzten Teil des Kapitels Varianten vorstellen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die Hand des Ausonius selbst zurückgeführt werden können. Das fünfte Kapitel befasst sich mit der Briefreihenfolge. Die Forschung hat immer wieder versucht, aus den chronologischen Angaben, die Ausonius und Paulinus in ihren Briefgedichten machen, eine feste Chronologie des Briefwechsels zu entwerfen und aus dieser einen klar konturierten Ablauf der Ereignisse abzuleiten. In Abgrenzung von diesem Ansatz möchte ich zeigen, dass es ebenso lohnend ist, über das literarische Verhältnis und die lite-

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rarische Reihenfolge der Briefgedichte, d. h. über die Briefgedichte als Gedichtzyklus, nachzudenken. Auf diesen Überlegungen fußt das sechste Kapitel, in dessen Zentrum die Frage steht, wie Ausonius und Paulinus ihre Briefe als Dichtung inszenieren. Anders als häufig angenommen sind z. B. die Begriffe, mit denen die Autoren ihre Briefe beschreiben und bezeichnen, epistula, pagina, carmen, charta und libellus, nicht einfache Synonyme für den Brief. Vielmehr sollen sie dem Leser jeweils einen bestimmten Eindruck von der Art des Briefes vermitteln. Das siebte Kapitel über die Strukturen der Dichtung führt den Gedanken weiter, dass die Briefgedichte des Ausonius einen Gedichtzyklus darstellen. Mit Hilfe der Aeneis des Vergil und der Exildichtung des Ovid zeigt Ausonius einen Weg, die Briefgedichte 21 und 22 des Ausonius als zusammenhängendes Gesamtkunstwerk zu deuten. Das achte Kapitel befasst sich vor allem mit den Möglichkeiten und Grenzen von Sprache und Kommunikation, wie sie Ausonius in den Briefgedichten an Paulinus aufzeigt. Zu beschreiben sein wird, wie Ausonius in Brief 21 den Text mit Hilfe intertextueller Technik um verschiedene Aussagen bereichert und die Rolle des IchSprechers und des Adressaten mit Hilfe mythischer Gestalten in verschiedener Weise inszeniert. So verweist er, um ein besonders eindrucksvolles Beispiel zu nennen, in der ersten Vershälfte von Auson. 27,21,9 auf eine Passage aus Ciceros Rede Pro Archia poeta, in welcher der Redner das Bild des Dichters Orpheus beschwört, der mit seiner Kunst Macht über alle Lebewesen ausübt. Gleichzeitig verweist er aber in der zweiten Vershälfte auf die Geschichte von Orpheus und Eurydice im vierten Buch der Georgika des Vergil – auf den Orpheus also, dem es, weil er zu sehr liebt, nicht gelingt, Eurydice aus der Unterwelt zu befreien. Beide Texte erfüllen im Kontext des Briefwechsels eine jeweils andere Funktion. Das neunte Kapitel beschreibt, wie Ausonius den Ich-Sprecher in Briefgedicht 22 als Lehrdichter inszeniert und Paulinus und den Leser in die Rolle von Schülern zurückversetzt. Der Mittelteil des Gedichtes trägt deutliche Züge eines Lehrgedichtes, dessen Gegenstand die Kunst des Verbergens ist. Sollte Paulinus fürchten, dass ihre Freundschaft verraten werde, so solle er sich seines Verstandes bedienen und Wege finden, eine geheime Botschaft zu versenden. Diese Aufforderung illustriert der Lehrdichter durch mythologische und praktische Beispiele, die in einem kurzen Katalog zusammengefasst sind. Die Beispiele aus dem Mythos wirken jedoch merkwürdig: In zwei Fällen scheinen sie das Anliegen des Lehrdichters zu konterkarieren, in einem anderen wirkt der Mythos falsch wiedergegeben. Tatsächlich jedoch stellt Ausonius, der hier selbst die Rolle des Lehrdichters übernimmt, den Leser vor ein literarisches Rätsel, das dieser mit Hilfe seines Intellekts und mit Hilfe der lateinischen Literatur lösen kann. Das zehnte Kapitel dient der Zusammenfassung der Ergebnisse und einem Ausblick.

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2. Ausonius und die Klassische Literatur

2.1 Das literarische Selbstverständnis der Spätantike Die lateinischen Autoren der römischen Republik, der frühen und der hohen Kaiserzeit waren in der literarischen Welt der Spätantike allgegenwärtig. Die christlichen Dichter Iuvencus und Sedulius, Prudentius und Paulinus orientierten sich mit Blick auf Gattung und Stil ebenso wie die vordergründig heidnischen Autoren Claudian und Ausonius an der republikanischen, augusteischen und flavischen Dichtung. Immer wieder nahmen sie Bezug auf ihre Vorgänger, vor allem auf Vergil, und kennzeichneten die einzelnen Bezüge mit Hilfe von Reminiszenzen, indem sie einzelne Worte, Halbverse, bisweilen auch ganze Verse oder literarische Motive wie z. B. den vergilischen Seesturm aus dem ursprünglichen Text entnahmen und sie zumeist in veränderter Form in den eigenen Text verpflanzten. Ein grundlegender Bestandteil spätantiker Dichtkunst war also die imitatio, der verändernde und gestaltende Umgang mit den literarischen Vorbildern.114 Was allgemein unter imitatio zu verstehen ist, was auch die spätantiken Autoren darunter verstanden haben dürften, bringt Horaz, der bereits in seinem Brief an Augustus auf die Abhängigkeit der römischen von der griechischen Literatur hingewiesen hatte,115 in der epistula ad Pisones, der ars poetica, zum Ausdruck, Hor. a. p. 125–135: 125 Si quid inexpertum scaenae committis et audes personam formare nouam, seruetur ad imum qualis ab incepto processerit, et sibi constet. difficile est proprie communia dicere; tuque rectius Iliacum carmen deducis in actus, 130 quam si proferres ignota indictaque primus. publica materies priuati iuris erit, si non circa uilem patulumque moraberis orbem, 114 Vgl. zu imitatio und aemulatio allgemein De Rentiis, D./Kaminski, N.: Art. imitatio, Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4, 235–303, zum Verhältnis von christlicher und antiker Literatur vgl. den aufschlussreichen Überblick bei Thraede, Klaus. Art. Epos, RAC 5, 997– 1042. 115 Hor. epist. 2,1,156–160: Graecia capta ferum uictorem cepit et artis/ intulit agresti Latio. sic horridus ille/ defluxit numerus Saturnius et graue uirus/ munditiae pepulere: sed in longum tamen aeuum/ manserunt hodieque manent uestigia ruris.

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Ausonius und die Klassische Literatur

nec uerbo uerbum curabis reddere fidus interpres, nec desilies imitator in artum, 135 unde pedem proferre pudor uetet aut operis lex: Wenn du etwas Unversuchtes der Bühne anvertraust und du es wagst, einen neuen Charakter zu formen, sollst du ihn bis zum Schluss so bewahren, wie er von Beginn an aufgetreten ist, er soll immer er selbst bleiben. Schwierig ist es allen Bekanntes in eigenen Worten zu sagen; und du tust besser daran, ein Lied aus dem troischen Sagenkreis in ein Bühnenstück umzuarbeiten als Unbekanntes und Unversuchtes als erster vorzutragen. Ein allgemein bekannter Stoff wird dein Eigen, wenn du dich nicht um den wertlosen und allen offenen Formen- und Themenkreis herum bewegen wirst und du dich nicht darum sorgst als treuer Übersetzer das Wort mit dem Wort wiederzugeben, wenn du nicht als Nachahmer in die Falle hineintappen wirst, aus der den Fuß hinauszusetzen die Scham verbietet oder das Gesetz des Werkes.

Am Beispiel des troischen Sagenstoffes zeigt Horaz, worin die ars imitandi besteht und was sie leisten kann. Zunächst ist es für den römischen Dichter schwierig, allgemein menschliches Fühlen und Handeln, das in griechischer Sprache bereits formuliert worden ist, in individueller, eigener Form zum Ausdruck zu bringen. Aus diesem Grund soll der Dichter lieber einen bekannten Stoff umformen, indem er ihn – wie es die frühen römischen Tragiker, an die Horaz hier offensichtlich denkt, mit dem Stoff der Ilias getan haben – z. B. in eine neue Gattung überführt.116 Zu etwas Eigenem werde der Stoff dann, wenn der Dichter sich nicht an die allen bekannten Formen und Versatzstücke halte, wenn er nicht sklavisch wie ein Übersetzer oder wie ein bloßer Nachahmer am ursprünglichen Text festhalte. Im folgenden warnt Horaz schließlich vor allzu leichtfertigen Übernahmen: Der Dichter solle Maß halten und nicht zu Großes ankündigen, denn das Ergebnis sei lächerlich.117 Die imitatio ist für Horaz eine eigene Kunstform. Zugrunde liegt ihr zunächst das Bedürfnis, die eigenen Texte mit Hilfe der Autoritäten zu perfektionieren und zu verbessern; daher fordert Horaz von den Lesern der Ars Poetica, sich inhaltlich und formal mit den Dichtungen der Griechen vertraut zu machen und sich gleichzeitig zurückhaltend gegenüber den literarischen Leistungen der Vorfahren zu zeigen: Zwar bemerke nicht jeder Kritiker unrhythmische Gedichte, und auch sei den römischen Dichtern eine ihrer unwürdige Freiheit eingeräumt worden. Solle man deshalb aber einfach nachlässig zu schreiben beginnen oder sich überzeugt zeigen, dass die Leser die eigenen Fehler nicht bemerkten, oder nur das Nötigste tun und auf Nachsicht hoffen? Selbst wenn man auf diese Weise Tadel vermeide, habe man noch kein Lob verdient. Bei Tag und bei Nacht solle man also die Meis116 Vgl. dazu die Interpretation bei Kiessling/Heinze (1914) 312–314. 117 Hor. a. p. 135–139: (…) nec sic incipies ut scriptor cyclicus olim:/ fortunam Priami cantabo et nobile bellum/ quid dignum tanto feret hic promissor hiatu?/ parturient montes, nascetur ridiculus mus.

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Das literarische Selbstverständnis der Spätantike

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terwerke der Griechen zur Hand nehmen. Sicher hätten die Urgroßväter die Rhythmen und Witze des Plautus in zu geduldiger, um nicht zu sagen in dummer Weise bewundert. Hauptsache sie und er selbst wüssten einen derben Scherz von einem feinsinnigen zu unterscheiden und verstünden einen guten, gesetzmäßigen Klang mit Finger und Ohr abzumessen.118 Nachzuahmen, um die eigene literarische Technik zu perfektionieren, deckt aber nur einen Bereich der imitatio ab. Hinzu tritt eine weitere Funktion: Die imitatio dient auch dazu, bewusst auf seine literarischen Vorbilder hinzuweisen, sich gegebenenfalls kontrastierend von diesen abzusetzen und so die eigene Überlegenheit zu erweisen. Imitatio wird so erstens zu einer Form der Psychagogie des Lesers, denn er steht vor der doppelten Aufgabe, sowohl die Reminiszenz und den zugrunde liegenden Text als auch die Funktion der Reminiszenz zu erkennen: Will der Dichter nur auf einen anderen Text hinweisen, oder verändert sich sein Text durch den zugrunde liegenden Prätext, und will er sich in irgendeiner Weise absetzen? Zweitens überschreitet der Dichter in diesen Fällen die Grenze zur aemulatio: Es geht ihm nicht ausschließlich um die Verortung seines Textes innerhalb einer bestimmten Argumentation, sondern auch darum, das proprium seiner Dichtung herauszuheben und sich von den Vorgängern abzuheben. Imitatio und aemulatio sind also nicht Ausdruck epigonalen Schreibens, sondern Ausdruck eines umfassenden Bewusstseins für die literarischen Leistungen der auctores ueteres.119 Die Leistung des Dichters besteht deshalb vor allem darin, bereits Bekanntes in neue Formen zu gießen und das Bekannte so zu übertreffen. Literarischer Fortschritt und literarische Originalität sind in der augusteischen Zeit nicht ohne Bezug auf die griechische Literatur denkbar. Ähnliches gilt, wie am Beispiel des Ausonius zu zeigen sein wird, auch für die Dichtung der Spätantike. Lediglich der Gegenstand der imitatio und aemulatio verändert sich: An die Stelle der griechischen Autoren treten in der Spätantike vornehmlich lateinische Autoren – Terenz, Catull, Vergil, Horaz, Tibull, Properz, Ovid, Lucan und auch Statius und Silius Italicus. Sie alle, besonders aber Vergil prägten das kulturelle Selbstverständnis des vierten und fünften Jahrhunderts nach Christus.120

118 Hor. a. p. 263–274: Non quiuis uidet immodulata poemata iudex,/ et data Romanis uenia est indigna poetis./ idcircone uager scribamque licenter? an omnis/ uisuros peccata putem mea, tutus et intra/ spem ueniae cautus? uitaui denique culpam,/ non laudem merui. uos exemplaria Graeca/ nocturna uersate manu, uersate diurna./ at uestri proaui Plautinos et numeros et/ laudauere sales, nimium patienter utrumque,/ ne dicam stulte, mirati, si modo ego et uos/ scimus inurbanum lepido seponere dicto/ legitimumque sonum digitis callemus et aure. 119 Vgl. dazu z. B. Thraede, Klaus. Art. Epos, RAC 5, 997–1042. 120 Im Vordergrund wird im folgenden die Rezeption lateinischer Literatur stehen. Zur imitatio griechischer Literatur durch spätantike lateinische Autoren vgl. grundlegend Döpp (2001) passim.

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Ausonius und die Klassische Literatur

Greifbar wird dieses Selbstverständnis in verschiedenen Formen. Einerseits, wie bereits angedeutet wurde, in der spätantiken Dichtung selbst, andererseits in literarischen Debatten und Dialogen spätantiker Gelehrter über ihre literarischen Vorbilder. In den vermutlich zwischen 402 und 430 nach Christus entstandenen Saturnaliorum libri lässt der praefectus Praetorio Italiae des Jahres 430, der gelehrte Grammatiker Ambrosius Macrobius Theodosius, die intellektuellen und politischen Größen der vorausgehenden Generation in einem conuiuium anlässlich der Saturnalien wiederauferstehen.121 Vettius Agorius Praetextatus, Nicomachus Flavianus, Quintus Aurelius Symmachus und der Vergilkommentator Servius diskutieren als Vertreter des gebildeten stadtrömischen Adels und als Anhänger des römischen Staatskultes über verschiedene philosophische Fragestellungen, immer mit Blick auf Vergil, den Kenner aller Wissensgebiete, und seine Werke, die Grundlage jeder menschlichen Bildung.122 Im ersten Buch kommt es zu einer Debatte über die unter Gebildeten zu pflegende Sprache. Einer der sonst eher am Rande agierenden Dialogpartner, Avienus, erregt sich über den unerhört neuen Sprachgebrauch des Vorredners Caecina, über die uerborum nouitas. Dieser habe das geläufige nocte futura durch die Wendung noctu futura ersetzt und an Stelle der Junktur die crastino die Worte die crastini gewählt.123 Caecina schweigt auf diesen Einwurf milde lächelnd, und Symmachus fragt den Grammatiker Servius, was er von der Sache halte. Servius antwortet, er werde sich zunächst über die Saturnalien äußern, dann 121 Die Saturnalia wurden von Cameron (1966) 25–38, der Macrobius mit dem CTh 12,6,33 erwähnten PPo Italiae et Africae des Jahres 430 identifiziert, auf etwa diesen Zeitraum datiert. Döpp (1978) schlägt dagegen mit Blick auf die fehlende Erwähnung des spätestens 410 von Servius publizierten Aeneis-Kommentars einen Entstehungszeitraum zwischen 402 und 410 vor, dazu aber kritisch Tornau (2008) 308 mit Anm. 33. 122 Vgl. zum Charakter der Saturnalien grundsätzlich Döpp (1978) 620: »In den Gesprächen, die Macrobius (…) gehalten sein lässt, spielen Kunst und Bildung des bewunderten, für unfehlbar gehaltenen Vergil die zentrale Rolle: Nachdem der Dichter schon bei den anfänglichen Erörterungen über religiöse und antiquarische Fragen herausgehoben worden war, beschäftigen sich die Bücher III bis VII ganz mit ihm. Wie allein die Charakterisierung des Praetextatus erkennen lässt, trägt das Werk heidnisches Gepräge. Heidnische Propaganda stellt es freilich nicht dar. Denn um solche zu sein, müsste es die alte Religion gegenüber dem Christentum verteidigen oder gar der Überlegenheit aufzuweisen suchen. Macrobius tut indessen, als ob es das Christentum nicht gäbe. Wenigstens zur Zeit der Abfassung der ›Saturnalia‹ muss Macrobius Heide gewesen sein.« 123 Macrob. Sat. 1,4,2–3: Tum ille: moueor quidem auctoritate Caecinae, nec ignoro errorem in tantam non cadere doctrinam; aures tamen meas ista uerborum nouitas perculit, cum noctu futura et die crastini magis quam futura nocte et die crastino dicere, ut regulis placuit , maluit. nam noctu non appellatio, sed aduerbium est. porro futura, quod nomen est, non potest cum aduerbio conuenire, nec dubium est hoc inter se esse noctu et nocte quod diu et die. et rursus die et crastini non de eodem casu sunt, et nisi casus idem nomina in eius modi elocutione non iungit. saturnaliorum deinde cur malimus quam Saturnalium dicere opto dinoscere.

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über die übrigen Dinge sprechen und beweisen, dass die Sprache des Caecina nicht von nouitas, sondern im Gegenteil von uetustas zeuge.124 In einer sprachwissenschaftlichen Erörterung zeigt der Servius des Macrobius, dass Caecina sich anders, als von Avienus gedacht, in seinem Sprachgebrauch auf die ueterum auctoritas stützt.125 Avienus gibt sich schließlich überzeugt, lobt Servius überschwänglich, bittet jedoch darum im weiteren einen allen geläufigen Sprachgebrauch zu pflegen, Macrob. Sat. 1,5,2: uiuamus ergo moribus praeteritis, praesentibus uerbis loquamur. Daraufhin greift der Gastbegeber Praetextatus ein und kritisiert Avienus scharf: Er bitte um gewählte Ausdrücke, es sei nicht angebracht die ehrende Haltung des Servius und des Caecina gegenüber der antiquitas anzugreifen, und auch Avienus selbst gebrauche die Sprache der Alten.126 Der Streit zwischen Avienus, Servius und Praetextatus dreht sich also nicht allein um Fragen der grammatikalisch und morphologisch korrekten Wortbildung, sondern grundsätzlich um den Stellenwert der Alten, um die ueterum auctoritas und die antiquitas uerborum. Während sich Avienus zuletzt als Anhänger eines modernen Sprachgebrauchs zu erkennen gibt, der einem Ennius allenfalls noch antiquarischen Wert beimisst und keinen Zusammenhang zwischen Sprache und Lebensführung sieht, bewertet Praetextatus dies ganz anders: Die Existenz seiner Welt ist ohne die ueteres und ihre sprachlichen Leistungen nicht möglich. In ähnlicher Weise wie Macrobius, wenn auch aus einer bereits christlichen Perspektive, inszeniert Augustinus in den Frühdialogen die Diskussion über den Umgang mit Philosophie und Literatur. Nach seinem Bekehrungserlebnis im Mailänder Garten hatte sich Augustinus noch im Jahr 386 mit seiner Mutter Monnica, seinem Bruder, seinem Sohn Adeodatus, den Schülern Licentius und Trygetius, seinen Cousins Lartidianus und Rusticus und seinem Freund Alypius in die ländliche Ruhe von Cassiciacum zurückgezogen, um sich dort auf den Empfang der Taufe vorzubereiten. Die verschiedenen Gespräche über den Umgang mit der Philosophie, über Literatur und den Glauben verarbeitete Augustinus schließlich in den Dialogen De ordine,

124 Macrob. Sat. 1,4,4: Et Seruius a Symmacho rogatus esset quidnam de his existimaret: ›licet‹, inquit, ›in hoc coetu non minus doctrina quam nobilitate reuerendo magis mihi discendum sit quam docendum, famulabor tamen arbitrio iubentis, et insinuabo primum de Saturnalibus, post de ceteris, unde sit sic eloquendi non nouitas sed uetustas.‹ 125 Dass die von Macrobius geschaffene literarische Figur ›Servius‹ nicht unbedingt die Ansichten des historischen Servius vertritt, zeigt Kaster (1988) 169–197. 126 Macrob. 1,5,4–10: ›Bona uerba quaes’‹, Praetextatus morali ut adsolet grauitate subiecit, ›nec insolenter parentis artium antiquitatis reuerentiam uerberemus, cuius amorem tu quoque dum dissimulas magis prodis. cum enim dici, ›mille uerborum est‹, quid aliud sermo tuus nisi ipsam redolet uetustatem? (…) et heus tu hisne tam doctis uiris, quorum M. Cicero et Varro imitatores se gloriantur, adimere uis in uerborum comitiis ius suffragandi, et tamquam sexagenarios maiores de ponte deicis?‹

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Ausonius und die Klassische Literatur

Contra Academicos und De vita beata.127 In den Dialog De ordine bettet Augustinus ein Gespräch mit seinem Schüler und Freund, dem ambitionierten Dichter Licentius ein, der, so der Vorwurf des Lehrers, immer noch der Dichtkunst und nicht der christlichen Philosophie anhänge. Licentius bekennt seinen Fehler und erklärt, dass sich seine Verwandlung von einem Dichter in einen Philosophen erst allmählich vollziehe. Bemerkenswert ist, dass er sich mit Worten des Terenz entschuldigt.128 Augustinus zeigt sich trotz des Dichterzitates angetan und verleiht seiner Hoffnung, dass Licentius auf dem Weg der Philosophie weitergehen werde, unter anderem mit Hilfe eines Vergilzitates Ausdruck, das er dem Anlass und dem Kontext entsprechend verändert.129 Augustinus und Licentius diskutieren also nicht nur über bestimmte Dichter und die – nützliche oder schädliche – Funktion ihrer Dichtung, sondern sie lassen Dichtung zu einem Teil ihrer Argumentation werden.130

127 Zum Setting der Frühdialoge vgl. Krämer (2007) 70–76. 128 Aug. ord. 1,3,9: Quod cum seueriore quam putabat uoce dixissem, subticuit aliquantum. et ego iam reliqueram coepta et ad me redieram, ne frustra occupare praeoccupatum atque inepte uellem. tum ille: ›egomet meo indicio miser quasi sorex‹ (Ter. Eun. 1024), inquit, non dictum est commodius apud Terentium quam nunc dici a me de me potest. sed sane illud ultimum fortasse in contrarium uertetur: quod enim ait ille, ›hodie perii,‹ ego hodie forte inueniar. nam si non contemnitis quod superstitiosi solent etiam de muribus augurari, si ego illum murem uel soricem, qui me tibi uigilantem detulit, strepitu meo commonui, si quid sapit redire in cubile suum secumque conquiescere, cur non ego ipse isto strepitu uocis tuae commonear philosophari potius quam cantare? nam illa est, ut tibi quotidie probanti iam coepi credere, uera et inconcussa nostra habitatio. 129 Aug. ord. 4,10: Hic ego multo uberius cernens abundare laetitias meas quam uel optare aliquando ausus sum, uersum istum gestiens effudi: ›sic Pater ille deum faciat, sic altus Apollo‹ (Verg. Aen. 10,875) perducet enim ipse, si sequimur, quo nos ire iubet atque ubi ponere sedem, qui dat modo augurium nostrisque illabitur animis. nec enim altus Apollo est, qui in speluncis, in montibus, in nemoribus, nidore thuris pecudumque calamitate concitatus implet insanos, sed alius profecto est, alius ille altus ueridicus, atque ipsa (quid enim uerbis ambiam?) ueritas: cuius uates sunt quicumque possunt esse sapientes. ergo aggrediemur, Licenti, freti pietate cultores, uestigiis nostris ignem perniciosum fumosarum cupiditatum opprimamus. Vgl. zu Aug. ord. 3,9 und 4,10 insgesamt Krämer (2007) 76–78. 130 Das durch Aug. De ordine 3,8–3,9 publizierte Gespräch zwischen Augustinus und Licentius nimmt letzterer später in einem Briefgedicht wieder auf, in dem er Augustinus um Anleitung auf dem schwer zu gehenden Weg des Varro, d. h. auf dem Weg der Philosophie und der artes liberales bittet (Aug. epist. 26, CSEL 34,1 89–95). Tornau (2007) 44–46 hat herausgestellt, dass das Briefgedicht eine Antwort auf die Bekehrungsschilderung in De ordine ist. Augustinus reagierte auf das Briefgedicht mit einem Brief (Aug. epist. 26), in dem er dazu mahnt, allein Christus zu folgen und sich an das Beispiel des Paulinus zu halten; außerdem bittet er Paulinus selbst, in seinem Sinne auf Licentius einzuwirken. Dieser rät dem Schüler des Augustinus daraufhin in Prosa und Dichtung, von einer Karriere als römischer Spitzenbeamter abzusehen und sein Leben Gott zu weihen (Paul. Nol. ep. 8).

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Das literarische Selbstverständnis der Spätantike

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Die Saturnalien des Macrobius und die Cassiciacum-Dialoge des Augustinus zeigen deutlich, wie prägend die Geisteswelt der römischen Republik und des frühen Prinzipats, die sich für die Gelehrten des vierten Jahrhunderts vor allem in den sprachlichen Hinterlassenschaften manifestiert, für das kulturelle Selbstverständnis der gesellschaftlichen und politischen Elite war: Die großen literarischen Werke, die im Zeitraum zwischen etwa 150 vor und 100 nach Christus entstanden waren, vermochten den Blick zu öffnen für die politischen, militärischen und kulturellen Leistungen und das trotz aller Wandlungen beständige Wertesystem der Vorfahren und so ein Gefühl von Kontinuität zu erzeugen, die von der Republik bis in die eigene Zeit anzudauern schien: Man war Teil einer Elite, die dasselbe politische und kulturelle Wertesystem teilte.131 Voraussetzung für das starke Bewusstsein um das eigene kulturelle und literarische Erbe war der allen gemeinsame Bildungsweg, der eine Karriere als Rhetor oder Politiker erst ermöglichte: Symmachus und Praetextatus, Augustinus und Licentius hatten sicherlich im Alter von sechs oder sieben Jahren im Rahmen des Elementarunterrichtes (vermutlich bei privaten magistri ludi)die Grundregeln des Lesens, Schreibens und Rechnens erlernt, hatten sich beim Grammaticus mit den Regeln des Schreibens und Sprechens und vor allem mit den klassischen Dichtern und ihren sprachlichen Fehlern, aus denen es zu lernen galt, vertraut gemacht und schließlich beim Rhetor die Kunst des bene dicendi erlernt.132 Die kulturelle Identität der Schüler prägten vor allem die grammatici, denn sie unterrichteten die lateinische Sprache mit Blick auf die auctores ueteres. Maßgeblich für den Unterricht und damit auch das literarische Schaffen war nicht der zeitgenössische Stand der Sprache, maßgeblich waren in erster Linie Terenz, Sallust, Cicero und Vergil, nachgeordnet Horaz, Lucan, Ovid und Statius.133 131 Vgl. dazu treffend Tornau (2008) 311: »Bildung ist jedoch für Macrobius, wie für alle Gebildeten der Spätantike, nicht nur Sachwissen und nicht nur Literatur. Vielmehr scheint er seinem Wissensspeicher darum die literarische Form des Dialogs gegeben zu haben, weil er auf diese Weise die von ihm als ideal angesehene Bildung nicht nur inhaltlich darstellen, sondern sie auch gleichsam in Aktion zeigen und ihre Auswirkungen auf den Status und die Gesittung von Menschen vorführen kann, die sie besitzen. Praetextatus, Symmachus und die übrigen von Macrobius als Sprecher eingeführten Persönlichkeiten sind perfekt gebildetete Menschen. Die Bildung, über die sie selbst souverän verfügen und die sie bei der Mehrzahl der anderen Dialogpartner voraussetzen dürfen, verleiht ihnen das Bewusstsein einer sozialen Elite anzugehören; sie funktioniert als integrierendes Moment eines elitären Kreises. Diese Wirkung vermag die Bildung zu entfalten, weil sie ein von allen geteiltes, auch über Differenzen hinweg tragfähiges Wertesystem repräsentiert.« 132 Zur Geschichte des Schulunterrichts in Antike und Spätantike ist zu verweisen auf Gemeinhardt (2007). Einen konzisen Überblick bietet Krämer (2007) 48–53 wieder mit Hinweisen auf neuere Literatur. 133 Zur Rolle und Bedeutung des grammaticus vgl. Krämer (2007) 48 und vor allem Kaster (1988) 15–31.

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2.2 Ausonius und die klassische Welt Auch Ausonius spricht in einigen seiner Werke über die Bedeutung der großen griechischen und lateinischen Autoren und ordnet seine Freunde, Briefpartner, Schüler und nicht zuletzt sich selbst in die oben skizzierte Tradition gelebter literarischer Bildung ein. Deutlich wird dies, wenn er Symmachus mit den wichtigsten Vertretern griechischer und römischer Redekunst vergleicht, Auson. 27,12,19–26: Quis ita ad Aesopi uenustatem, quis sophisticas Isocratis conclusiones, quis ita ad enthymemata Demosthenis aut opulentiam Tullianam aut proprietatem Maronis accedat? quis ita affectet singula ut tu imples omnia? quid enim aliud es quam ex omni bonarum artium ingenio collecta perfectio? haec, domine mi fili Symmache, non uereor ne in te blandius dicta uideantur esse quam uerius. et expertus es fidem meam mentis atque dictorum (…) Wer erreicht in dieser Weise die Süße des Aesop, wer die sophistischen Syllogismen des Isocrates, wer die Schlussfolgerungen des Demosthenes oder den ciceronischen Reichtum oder die Eigentümlichkeit des Maro? Wer schafft so einzelnes, wie du alles ausfüllst? Was nämlich verkörperst du anderes als die aus jedem großen Geist der artes liberales ausgelesene Essenz? Ich fürchte nicht, Symmachus, mein Herr und mein Sohn, dass dieses den Eindruck erweckt, eher schmeichelhaft in Bezug auf dich als wahr gesagt zu sein. Du hast ja auch schon meine Treue in Sinn und Wort erfahren.

Zwar ist dieses Lob in seiner Emphase sicher nicht vollständig ernst gemeint, denn Ausonius entzieht sich mit dem Verweis auf die überragenden literarischen Fähigkeiten des Symmachus der Verpflichtung, ihn mit Hilfe eines nicht näher bestimmten didascalium aliquod opusculum oder eines sermo protrepticus zu unterweisen.134 Aber das Lob zeigt deutlich den Bezugsrahmen, in dem sich Ausonius bewegt: Die Geisteswelt und die Literatur des auch für Ausonius klassischen Griechenlands, der ausgehenden römischen res publica und der augusteischen Zeit. Zumindest die augusteische Geisteswelt wird in diesem Rahmen nicht als vergangen betrachtet. Sie ist immer gegenwärtiges Vorbild. Vor diesem Hintergrund kann Theodosius den Dichter Ausonius auffordern, ein Gedicht für ihn zu verfassen. Auf diese Weise eifere der Dichter dem Beispiel der besten Autoren nach: Als der Prinzeps Augustus regiert habe, hätten die Dichter ihm ihre Werke wetteifernd übersandt. Keine Grenze hätten sie gekannt und vieles zu seiner Ehre verfasst. Augustus habe diese Autoren sicher so hoch geschätzt wie Theodosius Ausonius, kaum aber so geliebt.135 134 Auson. 27,12,35–39: Sed abeamus ab his, nec istaec commemoratio ad illam Sosiae formidinem uideatur accedere. illud, quod paene praeterii, qua affectatione addidisti, ut ad te didascalium aliquod opusculum aut sermonem protrepticum mitterem? 135 Auson. I (ed. Schenkl. 1883): Amor meus qui in te est et admiratio ingenii atque erudi-

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Tieferen Einblick in die literarischen Traditionen, denen sich Ausonius verpflichtet fühlt, gewährt der Protrepticus liber ad nepotem. Mit dem protrepticus will Ausonius seinen Enkel in spielerischer Weise auf den spätantiken Schulbetrieb vorbereiten und ihn zu eifriger Lektüre, die Grundlage jeder guten Ausbildung und Karriere ist, anleiten.136 Nachdem Ausonius zunächst eine furchterregende, aber vermutlich überzeichnete Lehrerfigur in Szene gesetzt hat, rät er seinem Enkel dazu, sich gewissenhaft der harten Ausbildung in den Grammatik- und Rhetorenschulen zu unterziehen, die ardua praemia Musarum zu erwerben und so den Grundstein für eine spätere Karriere im Staatsdienst zu ebnen.137 Dazu solle er lesen, was auch immer der Erinnerung wert sei. Die Ilias des Homer und die Dichtungen des Menander soll der Enkel entrollen, modulierend und gefühlvoll die Werke des Plautus lesen und dabei die Interpunktion und die Pausen beachten.138 Wann werde er, der Greis, belohnt werden? Wann werde ihm der Enkel die zahlreichen Gedichte, die er längst vergessen habe, die zahlreichen Wege in die Geschichte, die Komödien und Tragödien, die lyrischen Dichtungen zu Gehör bringen und die benebelten Sinne des Alten jung werden lassen? Mit der Hilfe des Enkels will Ausonius noch einmal die komplizierten Rhythmen des Horaz und den hohen Klang des Vergil lernen. Auch Terenz solle ihn, der er im Alter vergesslich sei, mit Bühnendialogen von Neuem fesseln. Schließlich sieht Ausonius sich vor seinem inneren Auge selbst bei der Lektüre des Catilina und der Historien des Sallust zu.139 Im zweiten Teil des tionis tuae, quae multo maxima sunt, fecit, parens iucundissime, ut morem principibus aliis solitum sequestrarem familiaremque sermonem autographum ad te transmitterem, postulans pro iure non equidem regio, sed illius priuatae inter nos caritatis, ne fraudari me scriptorum tuorum patiaris. quae olim mihi cognita et iam per tempus oblita rursum desidero, non solum ut quae sunt nota recolantur, sed etiam ut ea, quae fama celebri adiecta memorantur, accipiam. quae tu de promptuario scriniorum tuorum, qui me amas, libens inperties, secutus exempla auctorum optimorum, quibus par esse meruisti. qui Octauiano Augusto rerum potienti certatim opera sua tradebant, nullo fine in eius honorem multa condentes. qui illos haut sciam an aequaliter atque ego te admiratus sit: certe non amplius diligebat. uale parens. 136 Datiert wird der Protrepticus gemeinhin auf das Jahr 379, vgl. Coşkun (2002) 148–149. Welchen Enkel Ausonius hier meint, bleibt unklar. Vgl. dazu Coşkun (2002) 149–150 und abweichend Green (1991) 288. 137 Auson. 8 (b) 38–44: Nunc ego te puerum mox in iuuenalibus annis,/ iamque uirum cernam, si fors ita iusserit; aut si/ inuidia est, sperabo tamen, nec uota fatiscent,/ ut patris utque mei non immemor ardua semper/ praemia Musarum cupias facundus et olim/ hac gradiare uia, qua nos praecessimus et cui/ proconsul genitor, praefectus auunculus instant. 138 Auson. 8 (b) 45–50: Perlege, quodcumque est memorabile; prima monebo./ conditor Iliados et amabilis orsa Menandri/ euoluenda tibi; tu flexu et acumine uocis/ innumeros numeros doctis accentibus effer/ affectusque impone legens; distinctio sensum/ auget et ignauis dant interualla uigorem. 139 Auson. 8 (b) 51–65. Vgl. dazu unten; zu den Anspielungen auf die Historien des Sallust in den Versen 61–65 Green (1991) 294–295.

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Ausonius und die Klassische Literatur

Gedichtes schließt Ausonius eine Beschreibung seiner eigenen Karriere vom Grammaticus bis in den Staatsdienst an, die er auch für seinen Enkel voraussieht: So lange hat er Jungen ihren Müttern entrissen und sie nach allen Regeln der Kunst in die Welt der Rhetorik und Dichtung eingeführt, bis er zu den pia munera, der Erziehung des Augustus berufen und mit zahlreichen Ehren und Ämtern überhäuft wurde. Der jugendliche Augustus habe die Ehre des Lehrers höher als die eigene geschätzt, und ihn schließlich zum quaestor, praefectus praetorio und consul ernannt.140 Am Ende steht schließlich die Aufforderung an den Enkel, sich nicht auf den schon bestehenden Ruhm der Familie zu verlassen, sondern seinen Teil dazu zu tun und aus eigener Kraft die höchsten Ämter zu erreichen.141 Ausonius beschreibt sozialen Aufstieg und eine Karriere als gleichsam politischer Beamter im Protrepticus als unmittelbar abhängig von einem hohen Bildungsstand. Die genaue Kenntnis der griechischen und lateinischen Autoren, der schlafwandlerische Umgang mit ihnen, sind Voraussetzung der ardua praemia Musarum, d. h. Voraussetzung einer politischen Karriere; zumindest dann, wenn einem diese Karriere, anders als im Fall des Meropius Pontius Paulinus, nicht aufgrund des familiären Hintergrundes offensteht.142 Ausonius verdankt seinen Aufstieg von der curialen Führungsschicht in die gesellschaftliche Elite des westlichen Reiches seinem beruflichen Können als Rhetor und Dichter. Die von Ausonius genannten Autoren geben darüber hinaus einen kleinen Einblick in das Spektrum, das zu beherrschen ist: Homer, Menander, Plautus, Terenz, Horaz, Vergil, Cicero und Sallust sind diejenigen, die Ausonius explizit und implizit seinem Enkel ans Herz legt.143 Ihre bleibenden literarischen Leistungen ermöglichen es den Nachgeborenen, das Wissen um die eigene kulturelle Tradition nicht nur zu erlernen, sondern diese Tradition zu leben. Das wird besonders deutlich, wenn Ausonius den Dichter Terenz und den Historiker Sallust anspricht, Auson. 8 (b) 58–65:

140 Auson. 8 (b) 66–95. 141 Auson. 8 (b) 93–100, bes. 98–100: Hunc tu/ efficie, ne sit onus, per te ut conixus in altum/ conscendas speresque tuos te consule fasces. 142 Dass die praemia tatsächlich die politische Karriere des Ausonius bezeichnen, verdeutlichen unter anderem die Verse Auson. 8 (b) 89–93: Quos mox sublimi maturus protulit auctu/ quaestor ut Augustis patri natoque crearer,/ ut praefecturam duplicem sellamque curulem,/ ut trabeam pictamque togam, mea praemia, consul/ induerem fastisque meis praelatus haberer. Vgl. auch Green (1991) 292. 143 Plautus und Cicero werden nicht explizit benannt. Die Wendung innumeros numeros (Auson. 8 [b] 48) ist jedoch dem bei Gell. 1,24,3 beschriebenen Plautus-Epitaph entnommen, die Verse Auson. 8 (b) 58–59 basieren auf zwei Cicero-Zitaten bei Suet. Vit. Terentii 5, vgl. dazu auch Green (1991) 293–294.

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Ausonius und die klassische Welt

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Tu quoque, qui Latium lecto sermone, Terenti, comis et astricto percurris pulpita socco, 60 ad noua uix memorem diuerbia coge senectam. iam facinus, Catilina, tuum, Lepidique tumultum, ab Lepido et Catulo iam res et tempora Romae orsus bis senos seriem conecto per annos; iam lego ciuili mixtum Mauorte duellum, 65 mouit quod socio Sertorius exul Hibero. Du auch, Terenz, der du mit erlesenem Gespräch Latium und seine Sprache glättest und mit geschnürtem Stiefel des Komoeden über die Bühne läufst, belebe mein vergessliches Greisenalter zu neuen Dialogen. Bald erzähle ich von deinem Verbrechen, Catilina, vom Aufruhr des Lepidus, bald, vom Konsulat des Lepidus und Catulus an, die Geschichte und die Zustände Roms und verbinde sie über einen Zeitraum von zweimal sechs Jahren zu einer Reihe. Bald lese ich den Krieg, durchzogen von Bruderkampf, den der Verbannte Sertorius mit spanischem Gefährten anstiftete.

Ausonius liest diese Werke nicht nur, sondern er sieht und hört Terenz gleichsam über die Bühne laufen. Ebenso nimmt er gleichsam an den Verbrechen des Catilina Teil und bringt durch das Lesen die von Sallust beschriebene römische Geschichte erst in einen Zusammenhang. Ausonius beschreibt sich selbst also als aktiven, als teilnehmenden und gestaltenden Leser, durch dessen Tun die Werke der Dichter und Geschichtsschreiber erst zum Leben erweckt werden. Gleichzeitig aber erweist er als dichtender Leser seine eigene Kunstfertigkeit, indem er zitatartige Reminiszenzen in seine Verse hineinwebt, die an die genannten Autoren oder aber an Kritiken ihrer Werke erinnern. In v. 58 evoziert Ausonius deutlich das Lob des Terenz in Ciceros Limon, das mit folgenden Versen beginnt, Cic. frag. II (ed. Morel p. 66): tu quoque, qui solus lecto sermone, Terenti,/ conuersum expressumque Latina uoce Menandrum/ in medium nobis sedatis moribus effers. Mit dem folgenden v. 59 übernimmt Ausonius fast wörtlich die Plautus-Kritik des Horaz und verwandelt sie durch die Auslassung der Negation in ein weiteres Lob auf Terenz, Hor. epist. 2,1,170 und 174: adspice Plautus/ (…)/ quam non astricto percurrat pulpita socco. In v. 61 geht Ausonius von der Dichtung über zur Geschichtsschreibung des Sallust. Der Vers deutet mit Hilfe der Anrede an Catilina offensichtlich auf die coniuratio Catilinae. Die Wendung ab Lepido et Catulo res et tempora Romae orsus in v. 62 weist auf den Beginn der Historiarum libri, die mit dem Satz res populi Romani M. Lepido, Quinto Catulo Consulibus ac deinde militiae et domi gestas composui beginnen (Sallust. Fragm. 1,1 ed. Reynolds). In den vv. 64 und 65 schließlich bleibt Ausonius beim Thema Bürgerkrieg, schlägt stilisitisch jedoch einen Bogen zum Epos, denn die Junktur mouit … Sertorius exul Hibero, welche die gesamte Passage schließt, erinnert an die Rede des Pompeius im zweiten Buch der Pharsalia. Dort sagt Pompeius seinem Gegenspieler Caesar ein ähnliches Schicksal wie den Verschwörern Catilina, Lepidus und Sertorius voraus, Lucan. 2,544–549:

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Ausonius und die Klassische Literatur

(…) cum fata Camillis 545 te, Caesar, magnisque uelint miscere Metellis, ad Cinnas Mariosque uenis. sternere profecto, ut Catulo iacuit Lepidus, nostrasque securis passus, Sicanio tegitur qui Carbo sepulchro, quique feros mouit Sertorius exul Hiberos. Zwar hatte das Schicksal dich, Caesar, in eine Reihe mit den Camilli und den Metelli stellen wollen, du aber kommst zu den Anhängern des Cinna und Marius. Unterliegen wirst du sicherlich, wie dem Catulus Lepidus unterlag, wie ein Carbo unsere Klingen erduldet hat, der von sizilischem Grabhügel bedeckt wird, wie ein Sertorius unsere Klingen erduldet hat, der als Verbannter die wilden Iberer aufwiegelte.

Mit der fast wörtlichen Übernahme von v. 549 zeigt Ausonius, auf wie unterschiedliche Weise die Römische Geschichte präsentiert werden kann. Denn der Pompeius der Pharsalia schreibt einerseits durch sein Handeln selbst Geschichte. Andererseits rekurriert er in seiner Rede an die Soldaten auf positiv und negativ besetzte Exempla der römischen Geschichte, zu denen auch Catulus und Lepidus gehören. Im Kontext des Protrepticus ad nepotem wirkt die Lucan-Passage deshalb erstens wie eine Zusammenfassung der von Sallust beschriebenen Ereignisse, zweitens wie ein Hinweis auf die vielfältigen Möglichkeiten, römische Geschichte zu erzählen. Ausonius führt den Enkel im Protrepticus also nicht nur in den Kanon der Klassischen Literatur, sondern mit Hilfe der zahlreichen Reminiszenzen auch in die Kunst der imitatio und der aemulatio ein und zeigt ihm so einen Weg, sich selbst in die Tradition der literarischen Vorbilder zu einzuordnen.

2.3 Ausonius – ein epigonaler Dichter? Wie seine Zeitgenossen Praetextatus, Symmachus, Claudian und Prudentius lebte Ausonius in einer Welt, die ohne die auctores ueteres, ohne Vergil und Horaz, ohne Cicero und Terenz nicht vorstellbar war. Gerade deshalb kritisierten viele klassische Philologen des 19. und 20. Jahrhundert besonders die mangelnde Originalität und Genialität des Ausonius. »As poetry, in any high or imaginative sense of the word, the great mass of his verses is negligible; but the fact that in the later fourth century men of letters and of affairs thought otherwise, establishes it as an example and criterion of the literary culture of his age.«144

144 Eveleyn White (1919) VII.

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Hugh G. Evelyn White, der Herausgeber der Loebausgabe, urteilt hier nicht nur das poetische Werk des Ausonius, sondern auch die Urteilsfähigkeit und den literarischen Geschmack der spätantiken Geisteswelt ab. In ähnlicher Weise kritisierten die deutschen Gelehrten Eduard Norden und Martin Schanz den scheinbaren Widerspruch zwischen überbordender Verskunst auf der einen und Gedankenarmut, geistiger Öde und Leere auf der anderen Seite.145 Noch Manfred Lossau schätzt Ausonius als klassizistischen Hofpoeten ein, der nicht in einer Zeit des Aufbruchs, sondern in einer des Endes und der Zeitenwende gelebt habe. Sein Verdienst sei es, eine Gedichtsammlung hinterlassen zu haben, in der sich Dichtung aus der Zeit vom griechischen Hellenismus bis zur lateinischen Nachklassik schillernd reflektiere. Als Blütensammler und Auswerter des musterhaft Gültigen und durch die Tradition Gesicherten sei Ausonius ein getreuer Zeuge für Literatur und Lebensart des vierten Jahrhunderts, für die geschichtsverhaftete Dichtung jener Zeit der wahre Repräsentant. Wie Theodosius sicher kein Augustus, so sei Ausonius sicher weder Horaz noch Vergil.146 Zugrunde liegen der Verurteilung des Ausonius zwei Ursachen, die eng miteinander verwoben sind. Erstens betrachtete man die Antike, wie besonders die Einschätzung Lossaus zeigt, immer von ihrem Ende her: Sowohl politisch als auch kulturell gesehen schienen die Jahrhunderte zwischen Augustus und Theodosius von einem stetigen, durch kurzlebige Blüten unterbrochenen Abstieg geprägt, an dessen Ende als Tiefpunkt die Auflösung des römischen Reiches stand. Die Poesie der Spätantike schien daher naturgemäß nicht einen Höhepunkt, sondern einen epigonalen, allenfalls klassizistisch zu nennenden Tiefpunkt antiker Dichtung zu markieren.147 Zweitens waren die Gelehrten des 19. und 145 Besonders vernichtend das Urteil bei Schanz (1914) 40–41: »Abgesehen von diesen Erzeugnissen [sc. den Briefen an Paulinus] gähnt nur zu oft aus der Poesie des Ausonius eine entsetzliche Oede, und nicht einmal in der metrischen Form finden wir Ersatz für den mangelnden Gedankeninhalt, da auch sie von Laune und Willkür beherrscht ist. (…) Da ist der Cento nuptialis, der aus lauter Versteilen Vergils zusammengestoppelt ist. (…) Eine nichtsnutzige Tändelei ist das Technopaegnion (…). Die innere Hohlheit des Mannes lässt ihn auch da nicht das rechte Wort finden, wo der Stoff einer poetischen Gestaltung fähig war. Er feiert das Andenken seiner Verwandten und seiner Lehrer; welche Welt von zarten Empfindungen hätte er entfalten können, wenn der Fond, aus dem er schöpfte, ein reicherer gewesen wäre. (…) Die tiefbewegte Zeit, in der Ausonius lebte, bleibt von seiner tändelnden Poesie fast unberührt.« Weiterhin Norden (71998/11910) 163. Eine kurze Übersicht über verschiedene abfällige Urteile in der deutschsprachigen Forschung bietet Gindhart (2006) 214–215, für die englischsprachige Forschung Nugent (1990) 236–237. 146 Lossau (1991) 6–7. 147 Diese Tendenz der Forschung erkennt auch Vielberg (1999) 117–121 und sieht scheinbar objektive Wissenschaft und subjektive Zeitdeutung in einem engen Zusammenhang, wenn er formuliert, 117–118: »Niedergangs- und Untergangsvisionen als Zeitdiagnosen vermehren und verdichten sich, öffentlich und öfter noch in kleinem Kreis geäußert, und schwellen an zu

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20. Jahrhunderts einem romantischen Dichtungsideal verpflichtet, in dessen Mittelpunkt der Genius des Dichters und die Originalität und Unmittelbarkeit der von ihm erschaffenen Werke standen.148 Gemessen an diesem Ideal konnte Ausonius mit seinen Gedichten nur scheitern,149 da die Gelehrten, geprägt von der skizzierten Geschichtsvorstellung und dem romantischen Dichterideal, übersahen, dass Ausonius und seine Zeitgenossen sich nicht am Ende einer politischen und kulturellen Entwicklung wähnten, sondern einem allgemeinen Abgesang auf die westliche Zivilisation. ›Das Abendland ist ausgebrannt‹, spenglert es aus dem Radio. Der Münsterländer Transzendentalbelletrist Ulrich Horstmann prophezeit uns die atomare Apokalypse als finales anthropologisches Desaster. Spätantike – Spätmoderne – Postmoderne: das dekliniert sich gut, das könnte stimmen. Und haben sie nicht recht, die Bannerträger der Postmoderne, wenn sie die Spätantike mit unserer eigenen Malaise vergleichen? Erinnern die als Verharzungen beschriebenen Alterungserscheinungen westlicher Demokratien nicht an die sklerotischen Verwachsungen des spätantiken Zwangsstaates, der wie ein riesiger Krake mit seinen saugnapfbesetzten, sich gräßlich ringelnden Tentakeln den einzelnen ergreift und an sich reisst und jegliches Leben ringsum im Keim erstickt? (…) Die Parallelen beschränken sich nicht auf staatliche Belange. Die von Eric Robertson Dodds [Pagan and Christian in an Age of Anxiety, Cambridge 1965] als ›age of anxiety‹ bezeichnete Spätantike war wesentlich ein ›new age‹. Mit dem Verfall der mittelmeerischen Poliskultur gingen Aufstieg und unaufhaltsame Ausbreitung religiöser und pseudoreligiöser Bewegungen einher. Das Christentum war, nach lange herrschender Forschungsmeinung, nur die vitalste unter den Mysterienreligionen, (…). Der Hunger nach Transzendenz schuf einen expandierenden, doch hart umkämpften Markt.« 148 Dass der modernen Philologie in vielerlei Hinsicht eine romantische Vorstellung von Dichtung zugrunde liegt, zeigt Gall (1999) 12–22, z. B. mit Blick auf Goethes Schrift ›Von deutscher Baukunst‹ 13–14 mit Anm. 3: »Der Künstler – ein Halbgott, ein Prometheus von eigenen Gnaden – erschafft aus seinem empfindenden Ich eine Welt, deren Maßstab nicht das im landläufig-tradierten Sinne Schöne und Harmonische ist, sondern das Charakteristische; je freier das Charakteristische sich entwickeln kann, je ungebundener von Traditionen und Kunstregeln, die ihm von außen auferlegt werden, desto leichter wird es zur Übereinstimmung mit den wahren Kriterien der Schönheit gelangen, die in den Dingen selbst liegen und allenfalls in groben Linien dem analytischen Verstand zugänglich sind, während ihre arcana sich nur der fühlenden Seele erschließen. (…) Mit ihrem Ideal des genialisch-schöpfenden Künstlers hat die Epoche des ›Sturm und Drang‹ in Deutschland der Originalität als Maßstab der Kritik einen besonderen Rang gesichert. Wenngleich die Rezeption künstlerischer Vorbilder zur Entwicklung des eigenen Künstlertums nicht wirklich außer Kraft gesetzt werden konnte, prägt ein gewisser Kult des Genialischen auch die moderne Literaturkritik.« 149 Als symptomatisch kann es gelten, wenn Schanz (1914) 40–41 allein den Werken des Ausonius poetischen Wert beimisst, die ihm originell in Ausdruck und Gefühl zu sein scheinen: »Wenn nur derjenige den Namen des Dichters verdient, der uns in einer schönen Form eine innere Welt erschließen kann, so hat Ausonius das Recht sich nur einmal erworben, den Dichternamen zu führen. Es war dies, als unser Poet sah, dass sein geliebtester und talentvollster Schüler Paulinus (…) sich ganz anderen Idealen zugewandt hatte als er. (…) er ließ nichts unversucht, den Schüler wieder auf die alte Bahn zu ziehen. In den Briefen, die er zu diesem Zweck schrieb, bricht eine wahre Herzensempfindung durch und findet den angemessenen, poetischen Ausdruck.«

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sich als Bewahrer und Erneuerer der Tradition betrachteten. Gleichermaßen ignorierten sie auf diese Weise das Literaturverständnis und die ästhetischen Ideale des vierten Jahrhunderts nach Christus oder sprachen – wie Hugh G. Evelyn White – den Zeitgenossen des Ausonius die Fähigkeit ab, sich angemessen über Literatur zu verständigen und zu äußern. Ausgehend von dieser Situation bemühten sich besonders Michael Roberts und Georgia Nugent Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts darum, Klassische Philologen für ein neues, angemessenes Verständnis des Ausonius zu sensibilisieren. Roberts nennt als ein Ziel seiner Monographie »The Jeweled Style. Poetry and Poetics in Late Antiquity«, die Aufmerksamkeit auf die ästhetischen Ideale der Spätantike selbst zu richten und spätantike Literatur auf diese Weise neu zu lesen. Denn die Spätantike habe genug unter dem ständigen wissenschaftlichen Vergleich mit der klassischen Literatur gelitten. Wer die spätantike Literatur richtig einschätzen wolle, müsse sie aus ihrem eigenen Blickwinkel, nicht aus der Perspektive klassischer Ästhetik betrachten.150 Wie Roberts kritisiert auch Nugent in ihrer Studie »Ausonius's ›LateAntique‹ Poetics and ›Post-Modern‹ Literary Theory«, dass die modernen Untersuchungen zu Ausonius dem Vorhaben nicht gerecht würden, und fordert, den spätantiken Dichter auf eine neue Art und Weise zu lesen. Denn gerade unsere Zeit habe ein geeignetes Interpretations-Instrumentarium zur Hand – die postmoderne Literatur-Theorie.151 Nugent gelingt es, ein Muster in den Ausonius-Interpretationen des 19. und 20. Jahrhunderts zu erkennen. Die Gelehrten schätzten die Werke des Ausonius als wertvoll ein, die ihren Ursprung in der realen Welt haben oder die reale Welt abzubilden scheinen: die Mosella, die Parentalia, die commemoratio professorum Burdigalensium, die Ephemeris, die Bissula, den Cupido cruciatus und die Briefe. Demgegenüber bewertete man die Werke als ungenügend, die nicht in der realen Welt, sondern in der Welt des Wortes ihren Ursprung nahmen: vor allem den Griphus ternarii numeri, die Eclogae, die obszönen Epigrammata und den Cento nuptialis. Diese zweite Gruppe von Werken, die vor allem einen spielerischen 150 Roberts (1989) 3: »Taste has changed. To appreciate late antique poetry properly, it is necessary to view it on its own terms rather than from a perspective, conscious or not, of classical aesthetics.« 5: »Only in literary studies does an unexamined classicism still often provide the criteria of evaluation for the products of late antique culture. My project is to propose a new focus of attention, a different manner of reading (…); and to scrutinize the texts themselves for their immanent poetics; and to formulate this poetics in such a way that the poetry stands a chance of receiving the same kind of sympathetic appreciation that has long been accorded late antique art.« 151 Nugent (1990) 236–237: »In the course of this essay, I shall (…) indicate why the standards which gave rise to these modern evaluations are probably inapplicable or irrelevant to the poet’s own project. Finally, I hope to convince that the time is ripe for a reevaluation of Ausonius’s poetry as well as other work like it and to suggest that our time may be peculiarly well-suited to understand the poetics of Ausonius’s age.«

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Umgang mit Worten und mit Literatur verdeutlichten, sei nicht leicht in die Konzepte romantisch geprägter Literaturtheorie einzupassen, und daher habe man sie bisher entweder irgnoriert oder aber ihre Existenz bedauert.152 Nugent versucht nun das enge Gewand romantischer Literaturtheorie abzustreifen und verschreibt sich im Gegenzug einer deskriptiven Ausonius-Kritik, deren Ziel es nicht ist festzulegen, was der Dichter tun sollte, sondern – mit Hilfe des reader-response-criticism und der Intertextualitätstheorie – zu beschreiben, was der Dichter tut. Was man auf diese Weise in Ausonius entdecken könne, sei nicht Verständnis, tiefes Gefühl oder Leidenschaft, sondern die Ideen und das freie Spiel des Intellekts einer radikal textlichen Welt.153 In einem ersten Untersuchungsschritt zeigt Nugent mit Blick auf die Überlegungen Roland Barthes’ zum Verhältnis von literarischer Darstellung und Realität, dass gerade die Werke des Ausonius, denen man aufgrund der vermeintlichen realistischen Beschreibung geographischer und historischer Zustände besonderen Wert zuerkannte wie z. B. der Mosella, den Parentalia oder dem Cupido cruciatus, nicht die Realität abbilden, sondern durch die Sprache eine eigene textliche Realität erschaffen, die von den wirklichen Gegebenheiten deutlich abweicht.154 Wichtiger für unseren Zusammenhang 152 Nugent (1990) 237–238: »(…) it will be helpful (…) to indicate the shape of his oeuvre as a whole. (…) we may divide it roughly into two types of poems. The first type draws (…) upon personal observation, description, reminiscence, and fits fairly easily into our received notions of poetic decorum. (…) Whatever positive reputation Ausonius retains today rests entirely upon these works. (…) The rest of Ausonius’s poetic output, however, belongs to a quite different mode. The origin of these works is less in the world than in the word, their point of departure often literary and learned play or even simple gamesmanship. Ausonius writes on unlikely topics in unlikely ways – according to modern poetic standards. These are the works apt to strike the reader as distinctly less than poetic. (…) The works in this second group cannot easily be accommodated by Romantic or Modern concepts of poetry; consequently, the critical response has been either to ignore or to lament their existence.« 153 Nugent (1990) 238: »In an attempt to set aside prescriptive criticism (which assumes what Ausonius ought to be doing) and to approach instead a descriptive criticism (which seeks to clarify what the poet is doing), this paper will examine three basic aspects of Ausonian poetics, with the help of several recent theoretical approaches. My focus will be the fundamental relations Ausonius’ texts establish to the (…) world, to other texts, and to the reader. (…). I suggest, however, that Ausonius’ construction of these textual relations may be more aptly characterized by the more recent critical vocabulary of representation, intertextuality, and reader-response, insofar as these terms are less value-laden, aiming to describe rather than judge the phenomena in question.« 240: »Insight, broad human sympathy, passion are indeed qualities we seek in vain in Ausonius’ poetry. But ideas – these are the stuff of which it is made. Not the deeply moving convictions of sentimental poetry, but the free play of intellect over the surfaces of a radically textual world. If we enter into that world, even as tourists, we need new guidebooks – and in my view Nabokov will prove a more useful vade mecum than Matthew Arnold.« 154 Vgl. Nugent (1990) 240–247 und ihre Verweise auf Barthes (1964) und Barthes (1984). Besonders lehrreich sind ihre Überlegungen zum Verhältnis von Darstellung und Realität im

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sind jedoch der zweite und der dritte Untersuchungsteil: Hier verdeutlicht Nugent vor allem anhand des Cento nuptialis, eines aus vergilischen Versen und Halbversen zusammengesetzten Epithalamiums,155 dass Ausonius die klassischen Texte, besonders aber Vergil nicht als abgeschlossenen und unverletztichen Raum versteht, sondern als »an open text, an open field, still generative and even liable to bawdy, jocular trespass,«156 als einen Text also, auf den er jederzeit zugreifen kann, um seine eigenen Gedichte zu bereichern. Zweitens zeigt sie, dass Ausonius das Epithalamium so konzipiert, dass der Leser gemeinsam mit dem Autor den Sinn des Gedichtes generiert: »All the charm, novelty, humor of the nuptial cento lies in the reading of it – specifically, in the response of the reader who will bring to the poem the requisite intertextual expertise to recognize the provenance of its Vergilian fragments and savor of the incongruity of their displacement. (…) With such a reader, the text becomes an ingenious and rather delightful production. If evanescent, nevertheless it glimmers as an iridescent text which is in some sense written neither by Virgil nor by Ausonius, but is only fully realized and brought into being by the reader’s playing of it (…). We arrive back at the etymological truth that allusion involves the reader playing at the relationship between or among texts. Such an understanding of intertextual relations brings the role of the reader closer to that of the author, making the reader’s reception a substantial determinative of the text.«

Nugent verbindet also zwei Konzepte moderner Literaturtheorie, die Intertextualitätstheorie und den Reader-Response-Criticism, um einen neuen Cupido cruciatus, einer Bildbeschreibung, die so detailreich ist, dass man lange überlegte wie das von Ausonius erwähnte zugrunde liegende Trierer Fresko tatsächlich ausgesehen haben könnte (vgl. z. B. Dräger, 2002b, 134–138). Nugent (1990) 240–243 zeigt dagegen, dass es sich eher um eine fiktionale, imaginative Ekphrasis als um eine realistische Beschreibung handelt. Denn immer wieder überschreitet Ausonius in seinen Beschreibungen die Grenze des visuell Möglichen, vgl. 242: »The first instance is the appearance of Amor in the underworld. (…) Ausonius concludes the picture with a weird and virtually untranslateable image: cum pigros ageret dens sub nocte volatus [Auson. 19 (b) 53] (…). The impression is that Cupid is experiencing difficulty in plying his wings, because of the thickness of the night. But what sense, precisely, does this make? While we intuitively grasp its meaning, the image is not actually visual; rather, it seems to draw upon a kind of synaesthetic response – the weight of night and darkness is something that we may sense, but cannot (strictly speaking) see.« Vgl. auch das Schlusswort zu dieser Passage, 247: »The one quality of Ausonian poetry singled out for praise, its realism, has appeared to modern critics (…) a somewhat naive, faithful mirroring of personal observation and experience. More appropriately, Ausonius ›realism‹ should be understood as a complex poetic effect achieved by a rhetor and grammarian (…).« Bestätigt wurden Nugents Ergebnisse für den Cupido cruciatus durch die kurze Studie von Gindhart (2006), die unabhängig von Nugent entstand. 155 Zum Cento nuptialis vgl. Kap. 2.4.1. 156 Nugent (1990) 248.

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Zugang zum Werk des Ausonius zu eröffnen.157 Darin liegt ihr Verdienst, denn das von ihr aufgezeigte Instrumentarium ist dazu geeignet, den inhaltlichen und formalen Kern der Dichtung des Ausonius zu erfassen. Methodisch problematisch ist jedoch meines Erachtens, dass Nugent die literarische Technik des Ausonius nur in wenigen Fällen am Text untersucht. So läuft sie Gefahr, Ausonius ohne breite textliche Grundlage zu einem frühen Vertreter der von Roland Barthes, Julia Kristeva und Stanley Fish konstruierten Systeme zu erheben.158 Im folgenden soll daher anhand des Cento nuptialis und anderer ausgewählter Beispiele gezeigt werden, auf welche Weise Ausonius die Texte vor allem der augusteischen und flavischen Dichtung verarbeitet und welche Wirkung die übernommenen Texte in den von ihm verfassten Gedichten entfalten.

2.4 Die literarische Technik des Ausonius 2.4.1 Der Cento Nuptialis

Im Cento nuptialis erzählt Ausonius nach Art eines Epithalamiums von den einzelnen Stationen der Hochzeit des Gratian und der Constantia: Vom Hochzeitsmahl bis hin zur Defloration der Braut beleuchtet er jede Szenze detailliert und schildert auch die sexuellen Handlungen explizit.159 Berühmt 157 Nugent orientiert sich besonders an Kristevas grundlegendem Werk zur Intertextualität »Semiotike: Recherches pour une semanalyse« (1969), Fish (1967) und Fish (1972). 158 Vgl. z. B. Nugent (1990) 249 mit Blick auf Kristeva (1969): »Intertextuality thus radically textualizes the world and sees the individual work as taking its place in an environment of texts, taking part in a conversation among texts. Such a view seems particularly applicable to works such as those of Ausonius (…). The type of textual play embodied in the Ausonian cento could hardly be more aptly described than by Kristeva’s own characterization of intertextuality. (…) With his cento Ausonius neither ratifies nor rejects the tradition; rather, in Kristeva’s terms, his intertextuality advances a playful suggestion that the text (whether his or Vergil’s) can always be read as ›double‹. The form this doubleness may take is clarified by Kristeva’s further formulation (…).« Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob Nugent nicht das radikale Element im Intertextualitätskonzept Kristevas ignoriert: In diesem interagieren nur noch die Texte im freien Spiel der Kräfte miteinander, nicht mehr Autor und Leser. Dieses Konzept widerspricht jedoch deutlich Nugents Überlegungen zum Verhältnis von Reader-Response und Intertextualität (vgl. zu diesem Problem die kurze Zusammenfassung von Bendlin, Andreas: Art. Intertextualität, DNP 5, 1044–1045 und Aczel, 2004, 110–113). Dass es möglich ist, die Dichtung des Ausonius auch ohne expliziten Verweis auf moderne Literaturtheorie zu lesen und ähnliche Ergebnisse wie Nugent zu erzielen, zeigt Gindhart (2006) passim. 159 Der Cento nuptialis wird von drei Texten in Prosa erläutert, die mit (a), (c) und (d) gekennzeichnet werden, der poetische Teil wird entsprechend der über (c) hinweggehenden Verszählung bei Green (1999) mit (b) bezeichnet: so ergibt sich das Schema (a), (b), (c), (b),

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und berüchtigt ist der Cento jedoch nicht nur wegen seiner Obszönität, sondern auch aufgrund seiner Kompositionsform: Er setzt sich vollständig aus vergilischen Versen und Versteilen zusammen und verkörpert so eine extreme Form der imitatio und aemulatio. Daher zog der Cento in der Klassischen Philologie harte Kritik auf sich. Man wusste nicht, was schlimmer wog: Die Schilderung des Geschlechtsverkehrs, der Umstand, dass Ausonius Vergil überhaupt auseinanderbrach und wieder »zusammenstoppelte« oder die Kombination aus beidem, dass Ausonius also die Würde des vergilischen Textes sowohl literarisch als auch inhaltlich befleckte.160 Wieder übersah man hier, dass die literarische Technik, aus den Worten Vergils eine eigene Geschichte, einen neuen narrativen Komplex zu erschaffen, letztlich nicht nur Vorläufer in der griechischen Homerinterpretation und -imitation hatte, sondern auch in den Ethopoeiae der Rhetorenschulen wurzelte.161 Ähnlich verhält es sich mit der Verwandlung des vergilischen Vorbildes in einen sprachlich und inhaltlich obszönen Text: Bereits Petron nutzt Vergil in dieser Weise, um die mentula languida des Encolp zu verspotten. Vergil selbst hatte in den Augen mancher antiker Gelehrter seinen Text für sexuelle Uminterpretationen geöffnet, indem er zu unvorsichtig mit doppeldeutigen Begriffen umging und cacemphata nicht aus seiner Dichtung verbannte.162 Ausonius greift im Cento nuptialis also literarische Techniken aus der rhetorischen und der satirisch-epigrammatischen Tradition auf. (d). Dass Ausonius tatsächlich die Hochzeit des Gratian beschreibt, zeigt die poetische Praefatio Auson. 18 (b) 1–11, in der Ausonius den Cento Valentinian I. und seinem Sohn zueignet und den Sohn mea maxima cura (8) nennt, ein Ausdruck, der sich vermutlich auf das LehrerSchüler-Verhältnis bezieht, das zwischen Ausonius und Gratian bestand. Die Abfassungszeit des Cento wäre dann mit Ammianus, der 21,15,6 und 29,6,7 die Hochzeit erwähnt, etwa auf das Jahr 374 zu datieren. Vgl auch McGill (2005) 92–93. Die sexuell explizite Sprache zeigt sich besonders bei Auson. 18 (c) 113–119 (vgl. zu dieser Stelle die Interpretation unten) Bisweilen nahm man an, dass Ausonius mit der expliziten Darstellung den Geschmack Valentinians getroffen habe (vgl. z. B. Green, 1991, 519: » (…) it is one of the most detailed descriptions of sexual intercourse in Latin literature, and also one of the most violent. The frankness is found in some of the epigrams; the violence, which is not, could have been a concession to Valentinian’s tastes.«). 160 Vgl. z. B. das Urteil bei Schanz (1914) 41: »Da ist der Cento nuptialis, der aus lauter Versen und Versteilen Vergils zusammengestoppelt ist. Müssen wir einerseits den Dichter bewundern, das er den ganzen Vergil ins Gedächtnis aufgenommen hat und über ihn mit souveräner Herrschaft verfügt, so überkommt uns andererseits doch ein gelindes Grauen, wenn wir sehen, dass er seine Vergilkenntnis benutzt, um ein schmutziges Stück zusammenzuleimen.« 161 Vgl. McGill (2005) xvi–xxv, der mehrere Beispiele für vergilische Ethopoeiae anführt, unter anderem Aug. conf. 1,17. 162 Petron. 132,11–12: Illa solo fixos oculos auersa tenebat,/ nec magis incepto uultum sermone mouetur/ quam lentae salices lassoue papauera collo [Verg. Aen. 6,469 und ecl. 3,83] nec minus ego tam foeda obiurgatione finita paenitentiam agere sermonis mei coepi secretoque

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Dennoch sah auch Ausonius Kritik voraus und entschärfte sie in einem Widmungsbrief an den Rhetor und Freund Axius Paulus. Hier spricht er über den Charakter des Gedichtes, informiert über die literarische Technik, auf der jeder Cento basiert, und gibt so implizit Auskunft über sein Verhältnis zu Vergil und seinen übrigen literarischen Vorbildern. Der Brief gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Abschnitt verteidigt Ausonius sein Gedicht gegen mögliche Kritik und charakterisiert kurz das Wesen des Cento im allgemeinen. Im zweiten Abschnitt erläutert er detailliert, wie der Dichter vorzugehen hat, wie die einzelnen Vergilverse aufzubrechen und wieder zusammenzusetzen sind.163 Gleich zu Beginn nimmt Ausonius möglichen Kritikern den Wind aus den Segeln, indem er das Gedicht im Rahmen der captatio beneuolentiae ein friuolum et nullius pretii opusculum nennt: Ohne Mühe habe er es verfertigt, auch habe er es nicht sorgfältig gearbeitet, es fehlten dem Stück der mit Begabung einhergehende Scharfsinn und die zur Reifung notwendige Spanne des Liegenlassens.164 Einen Cento zu verfassen sei allein ein – eher zu belächelndes als zu lobendes – Geschäft der memoria: Es gelte verstreute Glieder aufzusammeln und das Zerrissene zusammenzufügen. Freilich beschäme es ihn, die Würde der vergilischen Dichtung mit einem so banalen Stoff entehrt zu haben.165 Was aber hätte er tun sollen? Valentinian, der ja selbst ein Epithalamium aptis uersibus et compositione festiua geschrieben hätte, habe ihn zu einem Wettstreit aufgefordert. Dem gerecht zu werden, sei schwierig gewesen, denn er habe dem Prinzeps weder rubore perfundi, quod oblitus uerecundiae meae cum ea parte corporis uerba contulerim, quam ne ad cognitionem quidem admittere seuerioris notae homines solerent. Weitere Beispiele bei Adams (1981) 199–201. Gell. 9,10 über verschiedene Weisen, die Affäre der Venus und des Vulcan in der Darstellung Vergils (Aen. 404–406) zu bewerten, 9,10,1: Annianus poeta et plerique cum eo eiusdem Musae uiri summis adsiduisque laudibus hos Vergilii uersus ferebant, quibus Volcanum et Venerem iunctos mixtosque iure coniugii, rem lege naturae operiendam, uerecunda quadam translatione uerborum, cum ostenderet demonstraretque, protexit. 4–6: (…) tot uero et tam euidentibus ac tamen non praetextatis, sed puris honestisque uerbis uenerandum illud concubii pudici secretum neminem quemquam alium dixisse. sed Annaeus Cornutus, homo sane pleraque alia non indoctus neque inprudens, in secundo tamen librorum, quos ›de figuris sententiarum‹ conposuit, egregiam totius istius uerecundiae laudem insula nimis et odiosa scrutatione uiolauit. nam cum genus hoc figurae probasset et satis circumspecte factos esse uersus dixisset: ›»membra« tamen’ inqui‹ ›paulo incautius nominauit.‹ Vgl. auch McGill (2005) 104, 110. 163 Eine ausführliche und lehrreiche Interpretation des Widmungsbriefes bietet McGill (2005) 1–23. 164 Auson. 18 (a) 1–3: Perlege hoc etiam, si operae est, friuolum et nullius pretii opusculum, quod nec labor excudit nec cura limauit, sine ingenii acumine et morae maturitate. 165 Auson. 18 (a) 4–9: Solae memoriae negotium sparsa colligere et integrare lacerata, quod ridere magis quam laudare possis. pro quo, si per Sigillaria in auctione ueniret, neque Afranius naucum daret neque ciccum suum Plautus offeret. piget equidem Vergiliani carminis dignitatem tam ioculari dehonestasse materia.

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allzu offensichtlich unterliegen noch ihn allzu deutlich übertreffen wollen. Letztlich sei das Unterfangen gut ausgegangen: Er habe es mit einem gewissen Widerstand in Angriff genommen, durch seinen Gehorsam habe er die Gunst des Prinzeps errungen und als Sieger niemanden beleidigt.166 Ausonius erinnert mit dieser Einleitung an die Stilideale der augusteischen Zeit, denen sein Cento gerade nicht entspricht: Er hat es nach der Fertigstellung nicht, wie es Horaz die Pisonen gelehrt hatte, lange Zeit in seinem Schreibpult reifen lassen167 und gleichzeitig setzt er sich einer Gefahr aus, vor der Horaz eindrücklich warnt, der Gefahr nämlich, wie ein schlechter Maler verschiedene, nicht zusammengehörige Glieder von allen möglichen Orten heranzutragen, sie beliebig zusammenzusetzen und so eine hässliche Schimäre zu erschaffen.168 Dem Cento mangelt es also – zumindest vordergründig – an den Qualitäten, die nach alexandrinischem Maßstab ernsthaftes Dichten auszeichnen. Daher bezeichnet Ausonius ihn als literarisches Spiel, das nicht allzu streng bewertet werden darf.169 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, wie Ausonius das Ergebnis, das aus einem auseinandergerissenen Vergil zusammengesetzte Gedicht, in Hinblick auf die literarische Technik des sparsa colligere et integrare lacerata bewertet, Auson. 18 (a) 24– 28: Accipe igitur opusculum de inconexis continuum, de diuersis unum, de seriis ludicrum, de alieno nostrum, ne in sacris et fabulis aut Thyonianum mireris aut Virbium, illum de Dionyso, hunc de Hippolyto reformatum.

166 Auson. 18 (a) 12–21: Imperator Valentinianus, uir meo iudicio eruditus, nuptias quondam eiusmodi ludo descripserat, aptis equidem uersibus et compositione festiua. experiri deinde uolens quantum nostra contentione praecelleret, simile nos de eodem concinnare praecepit. quam scrupulosum hoc mihi fuerit intellege. neque anteferri uolebam neque posthaberi, cum aliorum quoque iudicio detegenda esset adulatio inepta, si cederem, insolentia, si ut aemulus eminerem. suscepi igitur similis recusanti feliciterque et obnoxius gratiam tenui nec uictor offendi. 167 Hor. a. p. 385–390: Tu nihil inuita dices faciesue Minerua:/ id tibi iudicium est, ea mens. si quid tamen olim/ scripseris, in Maeci descendat iudicis auris/ et patris et nostras, nonumque prematur in annum,/ membranis intus positis: delere licebit/ quod non edideris; nescit uox missa reuerti. 168 Hor. a. p. 1–9: Humano capiti ceruicem pictor equinam/ iungere si uelit, et uarias inducere plumas/ undique collatis membris, ut turpiter atrum/ desinat in piscem mulier formosa superne,/ spectatum admissi risum teneatis, amici?/ credite, Pisones, isti tabulae fore librum/ persimilem cuius, uelut aegri somnia, uanae/ fingentur species, ut nec pes nec caput uni/ reddatur formae. 169 Vgl. Auson. 18 (a) 4–5: Centonem uocant qui primi hac concinnatione luserunt. 12: imperator Valentinianus, uir meo iudicio eruditus, nuptias quondam eiusmodi ludo descripserat (…). 25–26: accipe igitur opusculum (…) de seriis ludicrum (…). Zu den poetologischen Termini ludere und ludicrus vgl. die Interpretation von McGill (2005) 5–7.

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Ausonius und die Klassische Literatur Nimm also dieses kleine Werk – obschon aus Unverbundenem gearbeitet, fortlaufend, obschon aus Einzelteilen gearbeitet, ein Ganzes, obschon aus einem ernsten Gegenstand gearbeitet, eine Tändelei, obschon von einem anderen gearbeitet, doch meins. Wundere dich also nicht darüber, dass in Priestererzählungen und in Märchen sowohl Thyonianus als auch Virbius, der eine von Dionysos, der andere von Hippolytos wieder zusammengesetzt wurde.

Ausonius beschreibt seinen Cento als ein Werk, das sowohl Vergil gehört als auch ihm selbst: de alieno nostrum. Inwiefern es das Gedicht des Vergil und inwiefern es sein Gedicht ist, erläutert er im zweiten Teil des Briefes. Nachdem er zunächst verdeutlicht, dass der vergilische Hexameter an jeder Stelle, an der eine Caesur vorliegt, geteilt und das so entstehende Teilstück mit passenden Teilen aus anderen Versen kombiniert werden könne, vergleicht er den Cento mit dem durch Archimedes berühmt gewordenen Stomachion, einem Puzzlespiel, das aus 14 einzelnen Drei-, Vier- und Fünfecken besteht, die zunächst ein Quadrat bilden. Ziel des Spiels in der von Ausonius beschriebenen Form ist, aus den geometrischen Formen möglichst interessante Figuren zu legen: Gewaltige Elefanten, brutale Eber, fliegende Gänse, waffenstarrende Gladiatoren – unzählige Formen sind möglich. Wieviele Formen gelegt werden, hängt letztlich von der Fähigkeit des Spielers ab: Ist er erfahren und gebildet, wirkt das Ergebnis wie ein Wunder, ist er unerfahren, wirkt es lächerlich.170 So verhält es sich in den Augen des Ausonius auch mit dem Cento, Auson. 18 (a) 52–57: Hoc ergo centonis opusculum ut ille ludus tractatur, pari modo sensus diuersi ut congruant, adoptiua quae sunt ut cognata uideantur, aliena ne interluceant, arcessita ne uim redarguant, densa ne supra modum protuberent, hiulca ne pateant. Das kleine Werk, der Cento, wird also wie jenes Spiel gehandhabt, so dass gleichermaßen verschiedene Sinneinheiten zusammentreffen, so dass als zusammengehörig erscheint, was nur zusammengefügt ist, so dass nicht das Fremde sich offenbart, nicht das Herbeigeholte die ihm angetane Gewalt zeigt, nicht das Dichtgedrängte aufbricht, nicht Lücken klaffen.171

170 Auson. 18 (a) 39–51. 171 Ausonius ersetzt an dieser Stelle die Konjunktion ut non, die klassisch den verneinten Konsekutivsatz einleitet, durch ne; für Parallelstellen vgl. Hofmann/Szantyr (1972) 641–642. Eine m. E. zu glatte Übersetzung dieser zum Teil schwer zu fassenden Textstelle bietet Evelyn White (1919) 375: »And so this little work, the Cento, is handled in the same way as the game described, so as to harmonize different meanings, to make pieces arbitrarily connected seem naturaly related, to let foreign elements show no chink of light between, to prevent the far-fetched from proclaiming the force which united them, the closely packed from bulging unduly, the loosely knit from gaping.« Problematisch scheint vor allem die Übersetzung »to let foreign elements show no chink of light between« für aliena ne interluceant. Hier ist eher gemeint, dass nichts Fremdes in dem neu entstandenen Text aufblitzt.

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Die Kunst, einen Cento zu weben, besteht also darin, die unzähligen Kombinationsmöglichkeiten zu nutzen und die lacerata et sparsa membra der vergilischen Gedichte so zusammenzufügen, dass ein neues Textcorpus mit einer eigenen, neuen Erzählstruktur entsteht. Der cento nuptialis ist tatsächlich ein opusculum de Vergilio Ausonianum, das sich letztlich doch an augusteischer Aesthetik orientiert.172 Denn der ambitionierte Dichter beherzigt die Warnungen des Horaz und erschafft aus den Einzelteilen keine Schimäre, sondern verbindet sie so zu einer harmonischen und wohlproportionierten narrativen Einheit, dass der nicht mit Vergil vertraute Leser das Fremde nicht mehr als Fremdes zu erkennen vermag.173 Die spätantiken Rezipienten des Ausonius allerdings waren mit Vergil vertraut. Für sie schrieb Ausonius und mit ihnen eröffnete er ein literarisches Spiel. Sie lasen den Cento auf der Folie Vergils, beurteilten das Gedicht vermutlich anhand der von Ausonius angeführten Kriterien und konnten aufgrund ihres Wissens über den zugrunde liegenden Text die Aussage der beiden Texte vergleichen und zueinander in Beziehung setzen. Dass ein solcher Vergleich lohnt, zeigt z. B. die Imminutio betitelte Beschreibung des Geschlechtsverkehrs während der Hochzeitsnacht, Auson. 18 (b) 110–119: 110 Est in secessu, tenuis quo semita ducit, ignea rima micans; exhalat opaca mephitim. nulli fas casto sceleratum insistere limen. hic specus horrendum: talis sese halitus atris faucibus effundens nares contingit odore. 115 huc iuuenis nota fertur regione uiarum et super incumbens nodis et cortice crudo intorquet summis adnixus uiribus hastam. haesit uirgineumque alte bibit acta cruorem. insonuere cauae gemitumque dedere cauernae. 172 Vgl. dazu auch McGill (2005) 20 (mit Verweis auf Roberts, 1989, 2–3): »Ausonius applies the ›classical aesthetic of the unity of the whole, the proportion of the parts, and the careful articulation of an apparently seamless construction‹ to a literary technique that, as Ausonius himself makes clear, is unclassical, or perhaps better, paraclassical.« 173 Die Selbstironie des Ausonius in der Praefatio des Cento nuptialis lässt also nicht auf das Wesen des Gedichtes schließen. Sie gehorcht vielmehr »den Regeln der Rhetorik zur proömialen Dämpfung.« Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen bei Vielberg (2011) zur Praefatio des Cupido cruciatus: »Auch wenn Ausonius den Leser im Begleitbrief warnt, sein Epyllion sei eine Verirrung, ein error, an dem ihm nicht die Ausführung, sondern nur der Stoff, das lemma, gefalle, handelt es sich weder um die virtuose Probe eines antiquarischen Eskapismus noch um ein nur literarisches Spiel, wie es in hellenistischen Technopaignia begegnet. Derartige Deutungen greifen ebenso zu kurz wie Interpretationen, welche Ausonius deswegen eine ernsthafte dichterische Absicht absprechen wollen, weil er sich einer feinen Selbstironie bedient, wie sie nach den Regeln der Rhetorik zur proömialen Dämpfung gefordert und in dichterischen Texten und Paratexten seit der augusteischen Klassik verwendet wird.«

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Ausonius und die Klassische Literatur Es gibt in einer Bucht eine feurige, glühende Spalte, zu der ein schmaler Weg führt. Dunkel haucht sie schädlichen Duft aus. Keinem Unschuldigen ist es erlaubt, die verderbliche Schwelle zu betreten. Hier gibt es eine schaurige Höhle: solche Dämpfe stößt sie aus schwarzen Schlünden aus und ergreift die Nasen mit Duft. Hierhin eilt der junge Mann – er kennt ja die Wege der Gegend – , legt sich drauf und bohrt die Lanze – knotig und rau ist die Rinde – mit höchster Anstrengung hinein. Fest saß sie und tief hineingetrieben trank sie das Blut der Jungfrau. Da hallten wider und seufzten die gewölbten Grotten.

Ausonius schildert die Vagina und die Defloration der Braut mit Hilfe Vergils in so plastischer Weise, dass man zunächst zögern mag, die Verse einer genaueren Untersuchung zu unterziehen.174 Vordergründig besteht die Kunst des Ausonius darin, von Vergil verwendete, mehrdeutige Begriffe in Beziehung zu den weiblichen und männlichen Geschlechtsorganen zu setzen: rima, specus, limen und fauces finden sich in der Literatur vor allem des Prinzipats als Synonym für cunnus ebenso häufig wie hasta für mentula oder intorquere für die Penetration.175 Es scheint also naheliegend, solche Vergilverse zu verwenden, in denen sich Synonyme für cunnus oder mentula finden. Gerade an dieser Stelle zeigt Ausonius jedoch, dass er die Vergilverse nicht nur in den Dienst pornographischer Darstellung stellt, sondern dass er die zugrundeliegenden Textpassagen nutzt, um den Sinn des neu entstehenden Textes zu konstituieren. Die erste Vershälfte von Auson. 18 (b) 113 (hic specus horrendum) entnimmt Ausonius einer Passage im siebten Buch der Aeneis, Verg. Aen. 7,563–571: Est locus Italiae medio sub montibus altis, nobilis et fama multis memoratus in oris, 565 Ampsancti ualles; densis hunc frondibus atrum 174 Welchen Anstoß die Verse erregt haben, zeigt z. B. die Präsentation in der Edition von Evelyn White (1919) 386–381. Der lateinische Text wird nicht in die Zielsprache gebracht, sondern auch auf der rechten Buchseite in der Originalsprache wiedergegeben. Green (1991) 519 sperrt sich gegen eine ausführliche Kommentierung der entsprechenden Stellen und verweist mit der Bemerkung »the meaning is clear enough« auf den Kommentar von Adams (1981) 199–215, der in erster Linie die sexuelle Konnotation einzelner Begriffe bei Autoren vor Ausonius wie z. B. Martial untersucht, der Imminutio (Auson. 18 (b) 101–131) jedoch insgesamt einigen Unterhaltungswert zuschreibt, 201: »Lines 101 ff. have sometimes been found unsavoury, but they are based on a profund knowledge of the sexual language of earlier literature, and of popular humour. Ausonius rarely forces Virgilian lines to bear impossible or unlikely meanings. I illustrate in what follows his allusiveness and familiarity with the Latin sexual language.« Bereits Ausonius sah im übrigen die Notwendigkeit, sich vor Axius Paulus zu rechtfertigen. Allerdings entschuldigt er sich weniger für die explizite Darstellung als vielmehr dafür, Vergil unkeusch werden zu lassen, Auson. 18 (c): Verum quoniam et fescenninos amat celebritas nuptialis uerborumque petulantiam notus uetere instituto ludus admittit, cetera quoque cubiculi et lectuli operta prodentur, ab eodem auctore collecta, ut bis erubescamus qui et Vergilium faciamus impudentem. 175 Vgl. Adams (1981) 206–211.

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urget utrimque latus nemoris, medioque fragosus dat sonitum saxis et torto uertice torrens. hic specus horrendum et saeui spiracula Ditis monstrantur, ruptoque ingens Acheronte uorago 570 pestiferas aperit fauces, quis condita Erinys, inuisum numen, terras caelumque leuabat. Inmitten Italiens findet sich umgeben von hohen Bergen ein Ort, berühmt und an vielen Küsten durch Erzählungen bekannt, das Tal des Ampsanctus; mit dichtwucherndem Laubdach bedrängt es der düstere Rand eines Haines von allen Seiten, und in der Mitte braust ein steiniger Wildbach mit Blöcken von Stein und wirbelndem Strudel. Hier zeigen sich die schreckliche Grotte und die Dunsthöhlen des wütenden Pluto; beim Ausbruch des Acheron öffnet der ungeheure Abgrund die pesthauchenden Schlünde, in denen sich die Erinye verbirgt, das verhasste Wesen, und so Erde und Himmel erleichtert.

Der Ort, der hier beschrieben wird, ist die Behausung der Erinye Allecto, die im Auftrag der Iuno Zwietracht unter die Trojaner und Latiner sät und so die folgenden Kampfhandlungen auslöst. Die Ortsbeschreibung signalisiert die Nähe der Allecto zur Unterwelt. Bei der von Vergil beschriebenen Grotte, der Dunsthöhle des Pluto, handelt es sich offensichtlich um einen Zugang zur Unterwelt: Giftige Dämpfe entweichen durch den Schlund, aus dem auch der Acheron hervorbricht, an die Oberfläche, und der Schwefelsee Ampsanctus, an dessen Ufer sich die Grotte anscheinend befindet, ist von einem dichten, schwarzen Hain umgeben.176 Der entsprechende Vers im Cento nuptialis des Ausonius entfaltet eine zusätzliche Wirkung, wenn wir den vergilischen Prätext in die Beschreibung der Vagina und der Defloration einbeziehen: Der junge Bräutigam Gratian tritt mit seinem Vorhaben offensichtlich an die Schwelle zur Unterwelt. Er läuft Gefahr, seiner Frau in Gestalt von Allecto zu begegnen und schlüpft darüber hinaus in die Rolle eines besonderen Helden. Denn die zweite Hälfte von v. 113 und die erste Hälfte von v. 114 (talis sese halitus atris/ faucibus effundens) entnimmt Ausonius der Szene des sechsten Buches der Aeneis, in der Aeneas zusammen mit der Sibylle in die Unterwelt aufbricht. Ausonius führt also die Braut Constantia einerseits als rasende Allecto, andererseits als wegweisende Sibylle, den Bräutigam Gratian als zweiten Aeneas vor das innere Auge des Lesers, der sich durch sein Handeln den Gefahren der Unterwelt aussetzt. Es liegt nahe, bei dieser Verskombination an die mahnenden Worte der Sibylle zu denken: »Leicht ist der Abstieg zur Unterwelt, Tag und Nacht steht das Tor des dunklen Pluto offen, aber zurückzulenken den Schritt zum blauen 176 Die Attribute, mit denen Vergil den Ampsanctus und die Grotte der Allecto ausstattet, erinnern deutlich an die Beschreibung des lacus Auernus im sechsten Buch der Aeneis, Verg. Aen. 6,237–240: Spelunca alta fuit uastoque immanis hiatu,/ scrupea, tuta lacu nigro nemorumque tenebris,/ quam super haud ullae poterant impune uolantes/ tendere iter pennis: talis sese halitus atris/ faucibus effundens super ad conuexa ferebat.

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Himmel – das ist die eigentliche Anstrengung, das ist die Aufgabe.«177 Ausonius versteht den vergilischen Prätext offenbar nicht als einen bloßen Steinbruch, der mit der Erschaffung des neuen Textes seine Wirkung verliert. Der Prätext ist vielmehr sinnstiftend, weil er innerhalb des neuen Textes eine inhaltliche Wirkung entfaltet. Hier entsteht über das Spiel mit der erotischen Sprache hinaus ein inhaltlicher Witz, wenn der Leser die Protagonisten der Aeneis und die Protagonisten des Cento nuptialis zueinander in Beziehung setzt. Ähnlich verhält es sich mit den Versen 116 bis 118 des Cento. Vers 118 ist dem elften Buch der Aeneis entnommen, Verg. Aen. 11,799–804: Ergo ut missa manu sonitum dedit hasta per auras, 800 conuertere animos acris oculosque tulere cuncti ad reginam Volsci. nihil ipsa nec aurae nec sonitus memor aut uenientis ab aethere teli, hasta sub exsertam donec perlata papillam haesit uirgineumque alte bibit acta cruorem. Als also von seiner [sc. des Arruns] Hand geschickt die Lanze klingend durch die Luft zischte, wandten alle Volsker den aufmerksamen Sinn und richteten den Blick auf ihre Königin [sc. Camilla]. Aber sie selbst beachtete nicht das Singen der Luft und nicht das vom Himmel heranfliegende Geschoss, bis in die entblößte Brust einschlug die Lanze, festsaß und, tief hineingetrieben, das Blut der Jungfrau trank.

Vergil beschreibt hier, wie der Etrusker Arruns auf dem Höhepunkt der Schlacht zwischen Volskern und Trojanern mit einem einzigen Speerwurf die Volskerkönigin Camilla tötet und so die Schlacht entscheidet.178 Mit Bedacht wählt Ausonius diese Passage als Vorlage für den Cento-Vers, denn Camilla ist eine uirgo: Sie ist der Diana geweiht, der Göttin treu ergeben, mehr als alles andere wahrt sie die Liebe zu Waffen und Jungfräulichkeit.179 Es liegt nahe, die jungfräuliche Königin Camilla und die Braut des Prinzeps, Constantia, zu vergleichen: Arruns tötet die integre Jungfrau Camilla, der Bräutigam Gratian in gewisser Weise die Jungfräulichkeit der Constantia. Dieser Vergleich erzeugt Komik, denn trotz verschiedener Parallelen – die Protagonistinnen der Szene sind jeweils Königinnen und Jungfrauen – sind Camilla und Constantia eigentlich unvergleichlich: Constantia ist keineswegs 177 Verg. Aen. 6,125–128: (…) facilis descensus Auerno:/ noctes atque dies patet atri ianua Ditis;/ sed reuocare gradum superasque euadere ad auras,/ hoc opus, hic labor est. 178 Vgl. zu Arruns, der auch im Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus eine Rolle spielt, die ausführliche Interpretation Kap. 8.4.2. 179 Vgl. die Rede des Metabus Verg. Aen. 11,557–560: ›Alma, tibi hanc, nemorum cultrix, Latonia uirgo,/ ipse pater famulam uoueo; tua prima per auras/ tela tenens supplex hostem fugit. accipe, testor,/ diua tuam, quae nunc dubiis committitur auris.‹; und dazu Diana über Camilla, Verg. Aen. 11,581–584: Multae illam frustra Tyrrhena per oppida matres/ optauere nurum; sola contenta Diana/ aeternum telorum et uirginitatis amorem/ intemerata colit.

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eine zweite Camilla, die darauf aus ist, ihre Jungfräulichkeit zu wahren. Sie nimmt vielmehr, wie vor allem die vorhergehende Szene, der Ingressus in cubiculum zeigt, aktiv und gerne am Geschehen teil.180 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die beiden vorausgehenden vv. 116 und 117. Die zweite Hälfte von v. 116 und den gesamten v. 117 hat Ausonius dem neunten Buch der Aeneis entnommen, Verg. Aen. 9,740–746: 740 Olli surridens sedato pectore Turnus: ›incipe, si qua animo uirtus, et consere dextram, hic etiam inuentum Priamo narrabis Achillem.‹ dixerat. ille rudem nodis et cortice crudo intorquet summis adnixus uiribus hastam; 745 excepere aurae, uulnus Saturnia Iuno detorsit ueniens, portaeque infigitur hasta. Lächelnd entgegnete jenem [sc. Pandarus] mit ruhigem Sinne Turnus: »Beginne, wenn du den Mut aufbringst, und rühre die Rechte. Dass du hier einen Achilles gefunden hast, wirst du Priamus berichten.« Gesagt hatte er es. Jener warf die von Knoten und Rinde raue Lanze mit höchster Kraft; nur die Lüfte empfingen sie, die kommende Verwundung lenkte Saturnia Juno ab, in das Tor bohrt sich die Lanze.

Erzählt wird hier die Geschichte von Pandarus, der gegen Turnus antritt, den Kampf verliert und von der Hand des Gegners stirbt. Pandarus versagt als Krieger: Wenn auch nicht durch eigene Schuld, so trifft die Lanze doch nicht das Ziel. Mit Blick auf diesen Prätext stellt sich m. E. die Frage, ob auch Gratian als Krieger im Ehebett versagen wird. Erst der folgende v. 118, der an den Tod der Camilla erinnert, löst den Zweifel auf: Gratian versagt nicht. Komisch und spielerisch wirken in den beschriebenen Fällen einerseits der obszöne Text des ›pornographischen‹ Epos, der wie eine Parodie auf das Helden-Epos des Vergil wirkt, andererseits das Zusammenspiel von Neuem und Altem: Der literarische Kern, die Aussage des Cento wird vollständig erst auf der Folie des zugrundeliegenden Prätextes und durch die inhaltliche Interferenz zwischen Prätext und neuem Text spürbar.181 180 Vgl. Auson. 18 (b) 94–100: 181 Das Zusammenspiel von Altem und Neuem bewirkt dabei nicht immer Komik, es kann auch erhebend sein und Pathos erzeugen oder verstärken. Vgl. z. B. den Beginn der Descriptio egredientis sponsi, Auson. 18 (b) 46–50: At parte ex alia foribus sese intulit altis/ ora puer prima signans intonsa iuuenta,/ pictus acu chlamydem auratam, quam plurima circum/ purpura maeandro duplici Meliboea cucurrit,/ et tunicam, molli mater quam neuerat auro: Die erste Hälfte von v. 46 ist Verg. Aen. 10,362 entnommen und erinnert an Pallas, der mahnt tapfer zu kämpfen und eher den Tod in der Schlacht zu suchen als nachzugeben; die zweite Hälfte geht zurück auf Verg. Aen. 11,36 und evoziert die Leichenrede, die Aeneas auf Pallas hält (Verg. Aen. 11,36–58). Vers 47 erinnert an die Geschichte von Nisus und Euryalus im neunten Buch der Aeneis (Verg. Aen. 9,176–185, bes. 181). Die erste Hälfte von v. 48 evoziert die Beschreibung des Mezentius in voller Rüstung in Verg. Aen. 9,581–589, bes. 582; die zweite Hälfte von v. 48 und der gesamte v. 49 sind Verg. Aen. 5,244–265 (bes. 250) entnommen; dort

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Ausonius und die Klassische Literatur

Ausonius trennt die Werke Vergils also in einzelne Textbausteine auf und entwickelt, indem er sie neu kombiniert, eine neue Geschichte. Gleichzeitig bleibt der Vergiltext auf einer tieferen Ebene als narrative Einheit erhalten, die in den neu entstandenen Text hineinwirkt. Es entsteht tatsächlich ein opusculum de alieno nostrum, ein offener Text, der dem augusteisch gebildeten Leser eine Vielzahl an Interpretationen ermöglicht. Die umgearbeiteten und neu zusammengesetzten Vergilverse übernehmen innerhalb des Cento die Funktion von Reminiszenzen, die den Leser auf eine bestimmte Passage im Vergiltext hinweisen. Das Verhältnis zwischen Cento nuptialis und Vergil lässt sich nun auch abstrakt in rhetorischen Termini umschreiben, die Gian Biagio Conte für den Umgang Vergils mit den griechischen Autoren geprägt und Maria Lühken für die spätantike Dichtung des Prudentius fruchtbar gemacht hat. Denn nach Conte und Lühken lässt sich das Verhältnis von Reminiszenz und Prätext nach Art einer pars-pro-toto-Relation beschreiben. Eine Reminiszenz präsentiere in ihrer neuen Umgebung jeweils die Passage, der sie entnommen sei: Je spezifischer der intertextuelle Bezug, desto ausgeprägter der Charakter der Synekdoche. Gleichzeitig könne man eine Reminiszenz ihrer Funktion nach aber auch als Metapher beschreiben. Denn ähnlich der Metapher sei eine Reminiszenz eine uneigentliche Sprechweise: Ein Ausdruck, der eigentlich auf einen anderen Sachverhalt zu beziehen sei, werde auf einen neuen Sachverhalt übertragen. Die Diskrepanz zwischen Originalkontext und neuem Kontext erzeuge so ein Spannungsfeld, in dem beide Realitäten gleichzeitig wirkten und zu einer neuen, komplexeren Realität würden.182 Ähnliche Prozesse laufen, wie wir gesehen haben, bei der tritt Aeneas als Richter im Wettstreit auf. Vers 50 geht zurück auf Verg. Aen. 10,818. Evoziert wird die Geschichte von Lausus und Aeneas, die mit dem bedauernswerten Tod des Lausus endet (762–832). Die Passage kann einerseits mit Bezug auf Lausus als Warnung vor Selbstüberschätzung, andererseits mit Blick auf das vorbildliche Verhalten des Aeneas als Mahnung zur Zurückhaltung, Milde und Mitleid gelesen werden. Ausonius verwendet für diese Passage des Cento also ausschließlich Verse, die in der Aeneis zu Kampfszenen gehören, das Aussehen und die Charaktereigenschaften von Helden oder die verschiedenen Rollen des Aeneas beschreiben. Es liegt nahe, dass diese Verse mit Blick auf die in der Praefatio des Cento angesprochenen Valentinian und Gratian gewählt sind und – ähnlich wie in panegyrischer Dichtung – einerseits Lob andererseits Mahnung enthalten und so zu dem in der Aeneis beschriebenen Verhalten verpflichten. 182 Vgl. Lühken (2002) 27 allgemein zur Funktionsweise von literarischen Reminiszenzen. Ähnlich Conte (1986) 53–54: »In fact, allusion, a procedure inconceivable without a specific poetic discourse to orient it unambiguously toward given texts, appears to be functionally similar to a figure in rhetoric insofar as such a figure is defineable as a formal procedure that allows language to be transformed into a literary system meaningful in and for itself. We may now go further and say that metaphor is in function most closely analogous to allusion. These two forms of poetic discourse rank equally as ›cultural products‹, and both require the dynamic functioning of memory, but a still more specific equivalence between the two derives from the fact that both are ›improper‹ forms of expression. Both exist by virtue of their semantic ›dupli-

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Komposition und bei der Lektüre des Cento nuptialis ab. Ausonius eröffnet den Lesern mindestens zwei Wege der Lektüre und der Interpretation: Die Leser, denen es insofern an literarischer Kompetenz mangelt, als sie Vergil nicht kennen, können den Cento als Hochzeitsgedicht lesen und verstehen und sich über die drastischen pornographischen Darstellungen amüsieren oder ereifern. Literarisch kompetente Leser können den Cento in der beschriebenen Weise entschlüsseln und die zugrundeliegenden Vergiltexte in ihre Interpretation einbeziehen. Die Lektüre wird so ungleich komplexer und distanzierter.183

2.4.2 Die Briefgedichte – Reminiszenzen als Mittel der Argumentation

Die im Cento nuptialis wirksame literarische Technik wendet Ausonius in ähnlicher Weise auch in den Briefgedichten an Paulinus an. Anders als im Cento setzt er die Verse jedoch nur selten vollständig aus fremden Textsegmenten zusammen, sondern kombiniert häufig verschiedene Reminiszenen miteinander, erreicht so einen höheren Grad an Eigenständigkeit gegenüber den literarischen Vorbildern und fordert den Rezipienten deutlich mehr Gedächtnis- und Interpretationsleistung ab. Grundsätzlich wirken jedoch dieselben Mechanismen wie im Cento, da der evozierte Prätext zu einem Teil des neuen Textes wird und ihn um eine inhaltliche Realität bereichert. Im letzten Briefgedicht an Paulinus klagt der Ich-Sprecher einleitend den Freund an, er habe das leicht zu tragende Joch ihrer Freundschaft, das ihnen ihre Väter auferlegt und das sie über so lange Jahre freiwillig getragen hätten, abgeschüttelt. So sanft sei dieses Joch, dass selbst die Pferde des Mars, selbst die Pferde des Diomedes und die des Phaethon es geduldig trügen.184 Die Passage endet mit folgenden Versen, Auson. 27,24,19–26 city‹, and their literary value lies in their capacity to enclose in tension with themselves the gap that extends between their lexical value and the image they obliquely evoke. (…) The synthesis of the two original semantic processes into a single sign welds the two facts together. A single image emerges from the superimposition of the present on the absent sign; it produces a poetic denial of normal linguistic convention. The outcome of this superimposition is the ›suppression‹ of the ›proper‹ (expected) word. The concret presence of the ›usurping‹ word coupled with the ›invisible‹ presence of the usurped word creates a new meaning.« 183 Dass wahrscheinlich jeder poetische Text durch verschiedene Lektürevorgänge entschlüsselt werden kann, hat Riffaterre (1978) 1–7 gezeigt. Den einfachen Lektürevorgang, der auf das rein sprachliche und sachliche Verständnis des Textes zielt, bezeichnet er als heuristische Lektüre, den komplexeren Lektürevorgang, der auf das Verständnis der dialogischen Kommunikation mit einem oder mehreren Texten zielt, als hermeneutische oder retroaktive Lektüre; die der heuristischen Lektüre zugrunde liegende Textebene als ›meaning‹, die andere Textebene als ›significance‹. 184 Auson. 27,24,1–18.

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Discutitur [sc. iugum], Pauline, tamen, nec culpa duorum 20 ista, sed unius tantum tua; namque ego semper contenta ceruice feram. consorte laborum destituor, nec tam promptum gestata duobus unum deficiente pari perferre sodalem; non animus uiresque labant, sed iniqua ferendo 25 condicio est oneri, cum munus utrumque relicto ingruit acceduntque alienae pondera librae. Abgeschüttelt wird das Joch dennoch, Paulinus, nicht durch die Schuld zweier, sondern nur durch die Schuld des einen: durch deine. Denn mit angespanntem Nacken werde ich es immer tragen. Vom Teilhaber der Last werde ich verlassen. Nicht kann das, was so leicht von zweien getragen wird, ein Gefährte, verlassen vom gleichstarken Partner, aushalten. Weder Geist noch Kräfte schwanken, aber ungerecht ist die Bedingung beim Tragen der Last, wenn die Pflicht beider über den Zurückgelassenen hereinbricht und die Gewichte einer fremden Waage hinzukommen.

Die Aussage der Passage ist eindeutig. Der Ich-Sprecher wird von seinem Gefährten im Stich gelassen. Es kommt zu einem Ungleichgewicht: Er muss die vorher zu gleichen Teilen auf Paulinus und ihn verteilte Last jetzt allein tragen. Trotz dieser Ungerechtigkeit hält er ihm die Treue und trägt auch den Teil der Last, die Paulinus zu tragen hätte. Seine Kräfte schwinden nicht. Vor ein kleines Rätsel stellt Ausonius den Leser allerdings in v. 21 mit der Formulierung contenta ceruice. Verwendet Ausonius hier die Partizipialform von continere, trägt er das Joch der Freundschaft also zufrieden und glücklich? Oder meint er das Partizip von contendere? Trägt er das Joch angestrengt auf seinem Nacken? Beide Deutungen sind mit Blick einerseits auf den vorausgehenden Abschnitt, in dem Ausonius das Joch als mite iugum bezeichnet, andererseits auf den folgenden Abschnitt, in dem er über die neu hinzugekommene Mühe spricht, vertreten worden.185 Gegen contentus in der Bedeutung ›zufrieden‹ oder ›glücklich‹ sprechen jedoch zwei Gesichtspunkte: Erstens verwenden auch die spätantiken Autoren contentus in dieser Bedeutung in den meisten Fällen nicht als bloßes Adjektiv, sondern erweitern es um eine adverbiale Bestimmung im Ablativ oder durch einen Infinitiv; die Konstruktion contenta ceruice wäre an dieser Stelle aufgrund der fehlenden Erweiterung zumindest ungewöhnlich.186 Vor allem verdeutlicht Ausonius sehr genau, was er meint, indem er die Junktur contenta ceruice 185 Vgl. die abweichenden Übersetzungen: Evelyn White (1919) 101: »For my neck will ever bear it gladly.«; ähnlich Corpet (1887), zitiert nach Mondin (1995) 272 a. l.: »car pour moi se sera toujours un bonheur d’y corber ma tête.« Dagegen Dräger (2002) 125: »Denn ich werde es immer mit angespanntem Nacken tragen.«; auch Amherdt (2004): »car pour moi je tendrai toujours le cou pour le porter.« 186 Vgl. z. B. Lucan. 8,446: Terra contenta suis (…) oder Auson. 13,2,7–8: Nec contenta ictos letaliter ire per artus/ coniungit mortes una sagitta duas.

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der Beschreibung der Norischen Viehseuche im dritten Buch der Georgica entnimmt, Verg. Georg. 3,534–536: Ergo aegre rastris terram rimantur [sc. agricolae], et ipsis unguibus infodiunt fruges montisque per altos contenta ceruice trahunt stridentia plaustra. Also reißen sie [sc. die Bauern] mühsam mit Hacken die Erde auf, mit bloßen Fingern graben sie die Früchte ein, über das hochragende Gebirge ziehen sie mit gespannten Nackenmuskeln knarrende Wagen.

Der Lehrdichter schildert hier die schwierige Situation der Bauern, die nach dem Tod ihrer Tiere die Bestellung des Ackers und das Ziehen des Karrens selbst in Angriff nehmen müssen. Ausonius stellt seinen Ich-Sprecher mit Hilfe der Reminiszenz den schwer getroffenen norischen Bauern Vergils an die Seite. Die Flucht des Freundes hat ähnliche Folgen für ihn, er muss nun selbst die Last tragen. Das tut er keineswegs glücklich oder zufrieden, sondern mit Anstrengung und angespanntem Nacken.187 In der zweiten Hälfte von v. 21 leitet Ausonius nun zu der eigentlichen Klage über: Der Ich-Sprecher wird von demjenigen, der seine Last mitträgt, verlassen, Auson. 27,24,21–22: consorte laborum/ destituor. Mit Hilfe der Wendung consorte laborum verweist Ausonius erneut auf einen Prätext, nun jedoch nicht auf Vergil, sondern auf die Thebais des Statius, Stat. Theb. 9,82–85: Ducitur [sc. Polynices] amisso qualis consorte laborum deserit inceptum media inter iugera sulcum taurus iners colloque iugum deforme remisso 85 parte trahit, partem lacrimans sustentat arator. Er (sc. Polyneikes) wird weggeführt – wie der Stier, der, nachdem er den Gefährten seiner Mühen verloren hat, verzweifelt die Furche, die mitten auf dem Feld begonnene, verlässt und auf seinem herabhängenden Nacken den einen Teil des hässlichen Joches trägt, den anderen stützt weinend der Pflüger.

Inhaltlich weist die Junktur consorte laborum wie zuvor contenta ceruice auf eine landwirtschaftliche Szene. Sie führt dem Leser eine Situation vor Augen, die der des Ich-Sprechers ähnelt: Ein Stier hat seinen Arbeitsgefährten verlo187 Vgl. ähnlich auch Mondin (1995) 272: »(…) l’evidente ripresa virgiliana, georg. 3,536 (boues) contenta ceruice trahunt stridentia plaustra, esclude che la iunctura, assunta con letterale aderenza e in un contesta semanticamente affine, possa aver altro significato che quello dell’ipoteso (›tendendo i muscoli dell collo‹), peraltro dai versi sgg. che esprimono in termini fisici il disagio di dover regger da solo il peso prima equamente diviso con l’amico.« Ähnlich auch Amherdt (2004) 173. Beide übersehen allerdings (vermutlich aufgrund der landwirtschaftlichen Joch-Metapher), dass im Vergil-Text nicht die Rinder Subjekt sind, von denen zuvor in Verg. georg. 3,332–333 die Rede ist, sondern die Bauern Subjekt sein müssen (vgl. Mynors, 1990, 256).

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ren und trottet nun gesenkten Hauptes vom Feld. Die Reminiszenz weist also auf eine Szene, die, wie bereits Amherdt richtig festgestellt hat, gut zur Joch-Metapher und zur Lage des Ausonius passt: Auch Ausonius hat seinen Gefährten verloren.188 Die Reminiszenz leistet aber noch mehr, da die StierSzene der Thebais dazu dient, die Lage des Helden Polyneikes zu veranschaulichen. Er weint in den vorausgehenden Versen bitterlich um den verlorenen Freund Tydeus. Jetzt sei er ein exsul, für immer verbannt. Sein zweiter Bruder, und zwar der bessere, sei ihm genommen.189 Auf diese Worte zieht Polyneikes sein Schwert und will Hand an sich legen. Die Gefährten aber drängen ihn, die Waffe niederzulegen. Schließlich wird er – wie der Stier – kraftlos und des Gefährten beraubt vom Feld geführt.190 Ausonius zielt mit Hilfe der Stierszene auf das Freundespaar Polyneikes und Tydeus und öffnet den Text des Briefgedichtes so für eine neue Interpretation durch den Leser: Offenbar trauert der Ich-Sprecher um Paulinus wie Polyneikes um Tydeus. Dieser Vergleich lässt sich weiterführen. Ähnlich dem Paulinus und Ausonius der frühen Briefgedichte treten Polyneikes und Tydeus in der Thebais zunächst als ideales Freundespaar auf. Aber wie Paulinus wird auch Tydeus schuldig, wenn auch in anderer Weise. Von Menalippos schwer verwundet will er den Kampf nicht aufgeben, gibt sich Wahnsinn und Selbsthass hin, lässt sich den Kopf des Gegners bringen und hält den Kopf triumphierend in die Höhe, so dass Blut und Hirnmasse ihn besudeln. In dieser Situation erblickt ihn Venus, die ihm die Unsterblickeit schenken will. Angewidert wendet sie sich beim Anblick des gefallenen Helden ab und überlässt ihn dem Tod.191 Aus welchem Grund wählt Ausonius eine so düstere Vorlage für die entsprechende Passage des Briefgedichtes? Verfällt auch Paulinus dem Wahnsinn und verlässt aus diesem Grund den Freund? Tatsächlich lässt Ausonius das Motiv des Wahnsinns in den Briefgedichten immer wieder anklingen, indem er Paulinus implizit z. B. mit Orpheus, Bellerophontes, Actaeon und Attis vergleicht – mythischen Gestalten also, deren Charakter sich jeweils durch ein ›zuviel‹ an bestimmten Eigenschaften und Gefühlen auszeichnet: Orpheus und Bellerophontes werden wahnsinnig, weil sie zu sehr trauern. Actaeon frevelt, indem er Diana im Bade betrachtet. Attis verfällt erst der Raserei für Cybele und schließlich dem Wahnsinn, als er die Konsequenz 188 Amherdt (2004) 173: »(…) on remarquera la similitude des situations: le taureau qui a perdu son compagnon de peine abandonne le sillon; Ausone, de même, est désemparé suite au départ de Paulin.« 189 Stat. Theb. 9,32–74, bes. 49–53: ›Hasne tibi, armorum spes o suprema meorum,/ Oenide, gratis, haec praemia digna rependi,/ nudus ut inuisa Cadmi tellure iaceres/ sospite me? nunc exsul ego aeternumque fugatus,/ quando alius misero ac melior mihi frater ademptus.‹ 190 Stat. Theb. 9,75–85. 191 Stat. Theb. 8,716–766.

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seines Handelns, ewig an die Göttin gebunden zu sein, erkennt. Häufig verbirgt Ausonius diese impliziten Vergleiche in Reminiszenzen und häufig kritisiert er mit ihrer Hilfe den Rückzug des Paulinus in die Einsamkeit.192 Es liegt nahe, auch an dieser Stelle einen Zusammenhang zwischen dem Wahnsinn des Tydeus und der Entscheidung des Paulinus zu sehen. Zum Beispiel verbindet Tydeus und Paulinus die Erkenntnis der eigenen körperlichen Schwäche. Tydeus rast trotz seiner Verwundung vor Kampfeslust und Wut und erkennt doch, dass sein Körper den abverlangten Dienst nicht mehr leisten kann. Darauf spricht er seine Gefährten an, Stat. Theb. 8,735– 739: 735

›miserescite‹ clamat, ›Inachidae: non ossa precor referantur ut Argos Aetolumue larem; nec enim mihi cura supremi funeris: odi artus fragilemque hunc corporis usum, desertorem animi.‹

›Erbarmt euch, ihr Inachiden‹, ruft er: ›Ich bitte nicht darum, dass meine Gebeine nach Argos oder in die aetolische Heimat gebracht werden noch sorge ich mich um meine letzte Ruhestätte: ich hasse meine Glieder, das zerbrechliche Wesen meines Körpers, der den Geist im Stich lässt.‹

Auf diese Rede hin lässt Tydeus sich den Kopf des Menalippos bringen und verfällt dem Wahnsinn.193 Raserei, Hass und Selbsthass bringen Tydeus letztlich den Tod. Paulinus begründet sein Handeln, den Rückzug in die Einsamkeit Spaniens und seine Hinwendung zu einer radikalen christlichen Askese, auch mit dem Hinweis auf die Vergänglichkeit des eigenen Körpers. Was auch immer der Mensch sei, er lebe in einem kranken Körper eine kurze Zeitspanne, ohne Christus sei er nur Staub und Schatten. Zugrunde gehe er, begleitet von seinem nutzlosen und nichtigen Denken.194 Hier wird deutlich, welche Wirkung die Reminiszenz und der ihr zugrunde liegende Text im Briefgedicht entfalten: Wie Tydeus in der Thebais droht in den Augen des Ich-Sprechers auch Paulinus an der Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit zu scheitern, dem Wahnsinn zu verfallen und den Freund für immer zu verlassen. Auch die dritte Reminiszenz iniqua ferendo verweist den Leser auf das landwirtschaftliche Bild des jochtragenden Stiers, Prop. 2,3,45–50: 192 Vgl. zu den einzelnen Mythen und ihrer Funktion für das Briefgedicht Kap. 8–9. 193 Stat. Theb. 8,751–756: Erigitur Tydeus uultuque occurit et amens/ laetitiaque iraque, ut singultantia uidit/ ora trahique oculos seseque agnouit in illo,/ imperat abscisum porgi, laeuaque receptum/ spectat atrox hostile caput, gliscitque tepentis/ lumina torua uidens et adhuc dubitantia figi. 194 Paul. Nol. carm. 10,286–292: Breue, quicquid homo est, est corporis aegri,/ temporis occidui et sine Christo puluis et umbra;/ quod probat aut damnat, tanti est quanti arbiter ipse./ ipse obit, atque illi suus est comitabilis error,/ cumque suo moriens sententia iudice transit.

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45 His saltem ut tenear iam finibus! ah mihi si quis, acrius ut moriar, uenerit alter amor! ac ueluti primo taurus detractat aratra, post uenit assueto mollis ad arua iugo, sic primo iuuenes trepidant in amore feroces, 50 dehinc domiti post haec aequa et iniqua ferunt. Dass ich doch wenigstens in diesen Grenzen weiter mich aufhalten werde! Ach, wenn mir eine andere Liebe begegnet, dass ich dann schneller stürbe! Und wie der Stier zuerst den Pflug abschüttelt, wie er hernach, gewöhnt an das Joch, auf den Acker kommt, so zittern stürmische junge Männer zuerst in der Liebe, später tragen sie gezähmt Rechtes und Unrechtes.

Ausonius verweist hier auf eine Szene, in der das elegische Ich des Properz zwei verschiedene Arten zu lieben beschreibt: Der junge und unerfahrene Liebhaber erzittert noch im Wechselbad der stürmischen Liebe und kann Zurückweisung nicht hinnehmen. Der alte und erfahrene Liebhaber erträgt dagegen gleichmütig Recht und Unrecht. Darin ähnelt der Liebhaber dem Stier, der sich zunächst störrisch weigert, den Pflug zu ziehen, dann aber, nachdem er sich an das Joch gewöhnt hat, bereitwillig den Acker bestellt. Wie das elegische Ich muss auch der Ich-Sprecher des Briefgedichtes Unrecht tragen und vollzieht diese Aufgabe mit Gleichmut. Erneut verstärkt das fremde Textsegment durch den Hinweis auf den Originalkontext die Aussage des Briefgedichts – und erneut leistet die Reminiszenz noch mehr. Der verliebte poeta klagt nämlich zu Beginn der Elegie in einem Selbstgespräch über die eigene Inkonsequenz: Er habe gesagt, dass ihm keine Frau mehr schaden könne, jetzt stecke er wieder fest. Seine Kraft sei geschwunden. Kaum einen Monat habe er auszuhalten vermocht, schon gebe es ein neues beschämendes Buch. Ganz gleich, was er tue, die Liebe werde verdrängt, aber niemals getilgt.195 Die Elegie des Properz wirkt an dieser Stelle wie ein Kommentar zur Situation des Briefgedichtes an Paulinus. Der IchSprecher, so die Botschaft des Prätextes, will sich lösen, vermag es aber nicht. Seine Liebe ist zu groß. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, aus welchem Grund das elegische Ich des Properz die Geliebte nicht verlassen kann. Sie ist nicht nur schön, sondern begabt. Sie tanzt wie eine zweite Ariadne, sie spielt die Leier so gekonnt wie die Musen vom Helikon, vor allem aber ist sie eine Dichterin, die gute Dichtung verfasst.196 Das elegische Ich schließt die Passage, indem es auf die notwendige göttliche Herkunft der 195 Prop. 2,3,1–8: ›Qui nullam tibi dicebas iam posse nocere,/ haesisti: cecidit spiritus ille tuus./ uix unum potes, infelix, requiescere mensem,/ et turpis de te iam liber alter erit.‹/ quaerebam, sicca si posset piscis harena/ nec solitus ponto uiuere toruus aper/ aut ego si posssem studiis uigilare seueris: differtur, numquam tollitur ullus amor. 196 Prop. 2,3,17–24, bes. 21–22: Et sua cum antiquae committit scripta Corinnae:/ carmina quae quiuis, non putat aequa suis.

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Geliebten verweist: Solche Gaben seien ein Geschenk der Götter, sie könnten nicht menschlicher Herkunft sein. Die Geliebte allein sei den römischen puellae zum Ruhm geboren, als erste der römischen Frauen werde sie an Juppiters Seite ruhen.197 Der Leser des Briefwechsels kann nun die Beschreibung der Geliebten bei Properz auf den Adressaten Paulinus beziehen. Denn Paulinus wird besonders in den frühen Briefgedichten des Ausonius häufig als junger und begabter Dichter dargestellt, der alle anderen Talente seiner Zeit und sogar den Lehrer Ausonius bei weitem übrtrifft.198 Ausonius eröffnet also mit Hilfe der Properz-Reminiszenz ein literarisches Spiel, das es dem Leser ermöglicht, den Ich-Sprecher in der Maske des elegischen Liebhabers und den Adressaten in der Maske der puella zu sehen. Auch dieses Motiv greift Ausonius noch an anderen Stellen auf.199 Die letzte Reminiszenz der Passage alienae pondera librae führt den Leser zu zwei Texten, zu Lucans Pharsalia und Senecas Thyestes, Lucan. 4,56–61: Sed postquam uernus calidum Titana recepit sidera respiciens delapsae portitor Helles, atque iterum aequatis ad iustae pondera librae temporibus uicere dies, tunc sole relicto 60 Cynthia, quo primum cornu dubitanda refulsit, exclusit borean flammasque accepit in euro. Aber nachdem der frühlingshafte Träger der gestürzten Helle die warme Sonne empfangen hatte und auf die Sterne zurückblickte, und nachdem der Tag gesiegt hatte (Tageszeit und Nachtzeit waren in den Schalen der gerechten Waage einander gleichgekommen), da ließ der Mond, die Sonne hatte sich von ihm zurückgezogen, sobald er kaum sichtbar in der ersten Sichel leuchtete, den Nordwind los und nahm eine rötliche Farbe vom Ostwind an.

Ausonius kennzeichnet die Übernahme, indem er den Hexameterschluss pondera librae wörtlich aus dem Prätext übernimmt und iustae in alienae verwandelt. In der zugrunde liegenden Passage der Pharsalia beschreibt der Erzähler die geographischen und klimatischen Bedingungen in der Umgebung von Hilerda, einer nordspanischen Stadt, die Schauplatz einer Schlacht zwischen den Truppen des Pompeius und des Caesar war. In diesem Kampf 197 Prop. 2,3,25–30: Haec tibi contulerunt caelestia munera diui,/ haec tibi ne matrem forte dedisse putes./ non, non humani partus sunt talia dona:/ ista decem menses non peperere bona./ gloria Romanis una es tu nata puellis: Romana accumbes prima puella Ioui. 198 Vgl. z. B. Auson. 27,17,29–38: Haec tu quam perite et concinne, quam modulate et dulciter, ita iuxtam naturam Romanorum accentuum enuntiasti ut tamen ueris et primigeniis uocibus sua fastigia non perirent! iam quid de eloquentia dicam? liquido adiurare possum nullum tibi ad poeticam facundiam Romanae iuuentutis aequari: certe ita mihi uideri. si erro, pater sum, fer me et noli exigere iudicium obstante pietate. uerum ego cum pie diligam, sincere ac seuere iudicio. affice me oro, tali munere frequenter, quo et oblector et honoror. Ähnlich Auson. 27,18 und 19,14–24. 199 Vgl. Kap. 9.1.

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bringt nicht militärisches Geschick den Sieg, sondern das unberechenbare Wetter. Das Land ist noch von Frost überzogen, als im Frühjahr warme Luftmassen aus dem Osten mit kalten Luftmassen aus dem Norden zusammentreffen und bei Hilerda starke Regenfälle auslösen, die den Fluss Sicoris über die Ufer treten lassen. Die Gegend verwandelt sich in einen Sumpf, Caesars Soldaten drohen zu ertrinken und zu verhungern.200 Doch das Wetter schlägt um. Es hört auf zu regnen, die Sonne beginnt zu brennen. In dieser Situation gelingt es Caesar, die Feinde im hochgelegenen Hilerda einzukesseln und von den hochwasserführenden Flüssen und Bächen abzuschneiden. Die Soldaten des Pompeius verdursten umgeben von Wasser und kapitulieren schließlich.201 Das unberechenbare Klima Nordspaniens hat Tod und Zerstörung gebracht und die Schlacht entschieden.202 Aus welchem Grund Ausonius auf diese Wetterbeschreibung verweist, verdeutlicht ein Rückblick auf den vorausgehenden Brief, Auson. 27,21,56–59: Ergo meum patriaeque decus columenque senati [sc. Paulinum] Birbilis aut haerens scopulis Calagurris habebit aut quae deiectis iuga per scruposaruinis arida torrentem Sicorim despectat Ilerda? Meinen Freund [sc. Paulinus] also, die Zierde des Vaterlandes und die Spitze des Senates, wird Birbilis oder das an Klippen klebende Calagorris festhalten oder das verdorrte Hilerda, das von seinen Ruinen, die auf schroffen Bergrücken darniederliegen, auf den tosenden Sicoris hinabschaut.

Die Verse sind Teil einer Invektive gegen die neue Heimat des Paulinus, gegen die Hispania Tarraconensis, die das Verhalten des Freundes mitzuverantworten hat: Die Punier im allgemeinen, Hannibal im besonderen und schließlich der Verschwörer Sertorius sollen sie erneut heimsuchen.203 Wird Paulinus tatsächlich dort – in Birbilis, Calagurris oder im zerstörten Ilerda – leben wollen? Ausonius wählt diese drei Städte mit Bedacht: Birbilis ist der Geburtsort Quintilians, Calagurris der des Martial.204 Paulinus lebt also an Orten, deren Geistesgrößen den umgekehrten Weg von Spanien nach Rom, aus der Wildnis in die Zivilisation gingen. Die Beschreibung des zerstörten Hilerda schließt sich an die Darstellung der Stadt bei Lucan an, Lucan 4,11–16: 200 Lucan. 4,48–109. 201 Lucan. 4,110–166; 254–343. 202 Vgl. auch das gleichsam proleptische Statement bei Lucan. 4,48–49: Hactenus armorum discrimina; cetera bello/ fata dedit uariis incertus motibus aer. 203 Auson. 27,21,51–55: Vasconei saltus et ninguida Pyrenaei/ hospitia et nostri facit hoc obliuio caeli./ imprecer ex merito quid non tibi, Hiberia tellus?/ te populent Poeni, te perfidus Hannibal urat,/ te belli sedem repetat Sertorius exul. 204 Vgl. Martial 10,103; zu Quintilian Green (1991) 651. Green folgert, Ausonius habe diese kleinen, aber aufgrund ihrer berühmten Bürger bekannteren Städte gewählt, weil er sonst überhaupt keine Städte in Spanien gekannt habe.

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Colle tumet modico lenique excreuit in altum pingue solum tumulo; super hunc fundata uetusta surgit Ilerda manu; placidis praelabitur undis Hesperios inter Sicoris non ultimus amnis, 15 saxeus ingenti quem pons amplectitur arcu hibernas passurus aquas. In maßvoller Steigung wirft der fette Boden sich auf und steigt zu einem sanften Hügel an: Über diesem erhebt sich, von alter Hand gegründet, Hilerda. Mit gefälligen Wellen umspült es der Sicoris, nicht der Geringste unter den spanischen Flüssen, den eine steinerne Brücke mit gewaltigem Bogen überspannt, die Wasser der Schneeschmelze lässt sie passieren.

Die Beschreibung des Ausonius unterscheidet sich signifikant von der des Lucan: Bei Lucan blüht Hilerda. Die Hügel steigen sanft an, die Böden sind fett, die Stadt erhebt sich über dem Hügel, der Sicoris umspült die Stadt mit sanften Wellen. Bei Ausonius liegt Hilerda in Trümmern: Es verdorrt und liegt in Ruinen auf einem felsigen Bergrücken, der Sicoris ist zu einem reißenden Fluss geworden; dennoch greift Ausonius hier die Gegebenheiten der Pharsalia auf. Er beschreibt Hilerda so, wie es während und nach der Schlachtschilderung in der Pharsalia aussieht. Starker Regen lässt den Sicoris zu einem reißenden Fluss werden und ihn über die Ufer treten, verheerende Hitze verbrennt das Umland. Die Botschaft der Lucan-Reminiszenz ist klar: Paulinus wählt eine unwirtliche Gegend als Wohnort, die von häufigen Wetterumschwüngen und vom Krieg heimgesucht ist, die außerdem kaum von der Zivilisation durchdrungen zu sein scheint.205 In seinem Antwortgedicht, carm. 10, setzt sich Paulinus vehement gegen diese Vorwürfe zur Wehr und führt dem Leser die schönen Seiten des nördlichen Spaniens vor Augen.206 Und tatsächlich vermeidet Ausonius in carm. 24 eine explizite Kritik an der neuen Heimat des Paulinus und greift stattdessen auf die Lucan-Reminiszenz zurück. Sie deutet nicht nur auf die Wetterbeschreibung im vierten Buch der Pharsalia, sondern weist auch auf die Verfluchung Spaniens und die Lucan-Reminiszenz in Brief 21 hin. Zweitens lenkt die Wendung alienae pondera librae den Blick des Lesers auf Senecas Tragödie Thyestes, Sen. Thyest. 855–859:

205 Vgl. für die Beschreibung des von Wasser und Hitze heimgesuchten Hilerda z. B. Lucan. 4,85–89: Tum, quae solitis e fontibus exit,/ non habet unda uias: tam largas alueus omnis/ a ripis accepit aquas. iam naufraga campo/ Caesaris arma natant, impulsaque gurgite multo/ castra labant; alto restagnant flumina uallo; 4,299–302: Non tamen aut tectis sonuerunt cursibus amnes,/ aut micuere noui percusso pumice fontes,/ antra neque exiguo stillant sudantia rore,/ aut impulsa leui turbatur glarea uena. 206 Paul. Nol. carm. 10,221–238.

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Ausonius und die Klassische Literatur

855 Leo flammiferis aestibus ardens iterum e caelo cadet Herculeus, cadet in terras Virgo relictas iustaeque cadent pondera Librae secumque trahent Scorpion acrem. Der Löwe des Hercules, glühend von heißer Sommerhitze, wird erneut vom Himmel stürzen, auf die verlassene Erde wird die Jungfrau stürzen, stürzen werden die Gewichte der gerechten Waage und mit sich ziehen den stachelbewehrten Skorpion.

Die Passage ist Teil des Chorgesangs, der unmittelbar nach der unmenschlichen Tat des Thystes einsetzt und die drohende Folge der Tat beschreibt: Eine verkehrte Welt. Die Tage scheinen rückwärts zu verlaufen, der Lauf der Jahreszeiten wird unterbrochen, auch die Tierkreiszeichen fallen: Der Widder stürzt, ebenso Zwilling, Krebs und Stier, der Löwe, die Jungfrau, die Waage, der Skorpion und der Steinbock. Die Urne des Wassermanns zerbricht, und auch die Fische fallen vom Himmel. Wird so das Weltall aus den Angeln gehoben und zerstört werden?207 Wieder wählt Ausonius eine Vorlage, die eine düstere Botschaft in das Briefgedicht überträgt: Das Handeln des Paulinus droht wie der Frevel des Thyest einen Weltuntergang nach sich zu ziehen. Ausonius stellt sich mit den Reminiszenzen also nicht allein in eine bestimmte literarische Tradition, die von Vergil bis in die flavische Zeit reicht. Vielmehr bereichert er das Briefgedicht mit Hilfe der evozierten Prätexte inhaltlich. Sie werden zu einem Bestandteil der Argumentation und schaffen eine neue und komplexere – literarische – Realität; in diesem Fall, indem sie die tatsächlichen Gegebenheiten zumeist ins Groteske übersteigern: Der historische Paulinus ist kein Tydeus und kein Thyest, er ist ebensowenig eine elegische puella wie Ausonius ein elegischer Liebhaber. Die Wirkung der Reminiszenzen entfaltet sich also nicht nur durch die Interferenz, die durch das Aufeinandertreffen von originalem und neuem Text entsteht, sondern auch durch die Interferenz, die durch die Kollision von historischer Realität und literarischer Realität entsteht. Ausonius eröffnet so ein Spiel, dessen Reiz darin liegt, einerseits die Wirkweise der Reminiszenz, die ironisch, satirisch, witzig, aber auch ernst sein kann, zu erfassen und andererseits die Grenzen der Wirkung auszuloten: Bis zu welchem Punkt lassen sich Texte, Inhalte und Personen tatsächlich in Beziehung setzen? Leser und Interpret haben jeweils mindestens zwei Texte – mindestens einen Prätext und einen neuen Text – zu vergleichen. Soll dieser Vergleich ergiebig sein, muss zunächst der Prätext selbst interpretiert werden. Wie aber hat Ausonius den Prätext interpretiert? Wie will er ihn verstanden wissen?208 Wie 207 Sen. Thyest. 789–881, bes. 821–877. 208 Das Problem verschärft sich, wenn Ausonius auf Texte zurückgreift, die bereits im

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Die literarische Technik des Ausonius

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sieht er das Verhältnis von Prätext und neuem Text? Bis zu einem gewissen Grad löst sich dieses Problem auf, da Ausonius mit Hilfe der Reminiszenzen einen offenen Text konstruiert und so mit der Vielfalt möglicher Interpretationen spielt.209 Dennoch gilt es immer zu fragen, welche Intention Ausonius mit einer Reminiszenz verfolgt. Will er mit Hilfe der Reminiszenz tatsächlich eine Aussage treffen? Will er sich in eine literarische Tradition einordnen? Wählt er ein Textsegment vielleicht ›nur‹ aus ästhetischen Gründen, aufgrund seiner klanglichen oder metrischen Beschaffenheit? Auch sollte nie ausgeschlossen werden, dass eine Reminiszenz zufällig zu einem Teil des neuen Textes wird.210 Wie wir gesehen haben, tragen die Reminiszenzen in Brief 24 bestimmte Botschaften in den Text hinein. Die Statius-Reminiszenz enthält eine Warnung, die Properz-Reminiszenz wirkt ironisch, die Lucan-Reminiszenz birgt eine Kritik an der Hispania-Tarraconensis. Mit anderen Worten: Die Reminiszenzen verändern die Argumentation des Briefgedichtes, und zwar auf verschiedenen Beziehungs- und Kommunikationsebenen.211 Denn einerseits entfalten sie ihre Botschaft auf der brieflichen Ebene zwischen dem Ich-Sprecher und dem Adressaten; diese Botschaften gelten gleichzeitig auch dem historischen, dem realen Paulinus, der gleichermaßen Repräsentant der römischen Aristokratie und der asketischen Bewegung ist. Andererseits wirken die Reminiszenzen aber auch auf den erweiterten Rezipientenkreis: Der außenstehende Leser kann sich auf das von Ausonius angebotene intellekvierten Jahrhundert Gegenstand kontroverser Diskussion waren und es heute noch sind wie z. B. das Aristaeus-Epyllion im vierten Buch der Georgica. Vgl. dazu Kap. 8.5. 209 Ausonius äußert sich teilweise selbst über die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten; z. B. in den Versen Auson. 27,22,28–29, die sich nicht nur an Paulinus, sondern auch an den außenstehenden Leser richten: innumeras possum celandi ostendere formas/ et clandestinas ueterum [sc. poetarum] reserare loquellas. Für eine genaue Interpretation der Stelle vgl. Kap. 9.4.3. 210 Vgl. zu den verschiedenen Funktionen von Reminiszenzen grundsätzlich Lühken (2002) 23–32. Sie unterscheidet zwischen formalen (z. B. lexikalischen und metrischen) und inhaltlichen Reminiszenzen. Mit Blick auf letztere kann der neue Text z. B. auch ein Urteil über den Prätext enthalten, wenn die inhaltliche Aussage des Prätextes übernommen und die Aussage des neuen Textes verstärkt wird (vertiefende Reminiszenz). Die Aussage des Prätextes kann aber auch durch den neuen Text in ihr Gegenteil verkehrt werden und so Komik oder Kritik erzeugen (kritische oder polemische Reminiszenzen), vgl. dazu mit Blick auf besonders einschlägige christliche Texte Lühken (2002) 28–29. 211 Diskutiert worden ist bisweilen, wo die eigentliche Aussage des Textes liegt: an der – für jeden sichbaren – Textoberfläche oder auf der Metaebene. Für Riffaterre (1978) 149 ist dies mit Blick auf ein Gedicht des französischen Dichters Jule Laforgue eindeutig: »(…) the correct, that is, the complete interpretation of the poem is made possible for the reader only by the intertext. This neatly frees us of any temptation to believe that in such a poem there can be referentiality to a nonverbal universe: the poem carries meaning only by referring from text to text.« Für eine andere, offenere Sichtweise vgl. Hinds (1998) 13.

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Ausonius und die Klassische Literatur

tuelle Spiel einlassen und seine Lektüre der Briefgedichte mit Hilfe der Reminiszenzen vertiefen. Tatsächlich hängt die Wirkung von Reminiszenzen zu einem großen Teil von der literarischen Kompetenz des Lesers ab. Er muss die Reminiszenzen, die in der Regel nicht durch äußere Zeichen als solche gekennzeichnet sind, erkennen, den Prätext identifizieren, interpretieren und schließlich in ein Verhältnis zu dem neu entstandenen Text setzen.212 Der Anspruch an die spätantiken Rezipienten, die sich allein auf ihr Gedächtnis verlassen müssen, ist ungleich höher als der an die modernen Leser, die für das Auffinden der Reminiszenzen und die Identifizierung der Prätexte Konkordanzen und Datenbanken zur Hilfe nehmen können. Allerdings rechnen die antiken und spätantiken Leser, die mit den Prinzipien von imitatio und aemulatio vertraut sind, mit Reminiszenzen.213 Vor allem verwendet Ausonius bestimmte Techniken und Signale, mit denen er auf die Reminiszenzen hinweist und sie implizit markiert.214 Betrachten wir noch einmal, wie Ausonius die oben besprochenen Reminiszenzen in den Text einfügt, Auson. 27,24,20–26: 20

Namque ego semper contenta ceruice feram. consorte laborum destituor, nec tam promptum gestata duobus unum deficiente pari perferre sodalem;

212 Nach Helbig (1996) 87–91 liegt hier jeweils die Nullstufe der Markierung vor. Zu den verschiedenen Formen der Markierung ausführlich Helbig (1996) 87–111, zusammenfassend Freund (2000) 24–26, Lühken (2002) 25–32 und Vielberg (2006) 28–30. Bisweilen markiert Ausonius allerdings vollständige Zitate explizit, indem er ait o. ä. hinzufügt, wie z. B. Auson. 1,4,1–3: ›Cui dono lepidum nouum libellum?‹ Veronensis ait poeta quondam/ inuentoque dedit statim Nepoti. Auson. 11,6,50–54: quam fatiloquo/ dicta profatu/ uersus Horati:/ nihil est ab omni/ parte beatum. Anders dagegen der Schlussvers Auson. 27,24,124 (credimus, an qui amant ipsi sibi somnia fingunt.), der aus Verg. ecl. 8,108 übernommen ist, ohne als Zitat gekennzeichnet zu sein. 213 Vgl. z. B. Sen. suas. 3,7: Hoc autem dicebat Gallio Nasoni suo ualde placuisse; itaque fecisse illum quod in multis aliis uersibus Vergilii fecerat, non subripiendi causa, sed palam mutuandi, hoc animo ut uellet agnosci. Zur Kompetenz und Verantwortung des Lesers vgl. vor allem die in der deutschsprachigen Forschung zu Unrecht wenig beachtete Arbeit von Pucci (1998), die den sprechenden Titel »The Full-Knowing Reader« trägt, vgl. bes. 28: »I will argue that (I) the allusion exploits the constructed, arbitrary quality of literary reading, drawing specifically on the power of the reader to configure meaning in relation to his desires, as (2) the power of the author to intend meaning and the power of language to mean in a set, stable, referential field evanesces. My work emphasizes the necessity of the subjective, contingent qualities of allusive meaning, and the ways in which the allusions exploits as it fosters these qualities in its function. Needless to say, the importance I attach to reading means that the reader is the crucial component in the best function of allusion. My claim is that the allusion demands, and in demanding creates, a powerful reader – whom I call, for reasons outlined below, the FullKnowing Reader.« 214 Zur impliziten Markierung vgl. Helbig (1996) 91–111.

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non animus uiresque labant, sed iniqua ferendo 25 condicio est oneri, cum munus utrumque relicto ingruit acceduntque alienae pondera librae

Ausonius übernimmt in v. 21 die Wendungen contenta ceruice und consorte laborum jeweils wörtlich aus den zugrunde liegenden Prätexten Verg. georg. 3,536 und Stat. Theb. 9,82 und setzt sie an derselben Stelle im Vers, an der ersten und letzten Versposition in seinen Text ein. Ähnlich verfährt er mit Properz: Wieder setzt er die Junktur iniqua ferunt an derselben Versposition wie im Original ein und verändert den Wortlaut lediglich so, dass die Wendung sich syntaktisch in seinen Text einpasst. Komplexer angelegt ist die Doppelreminiszenz in v. 26: alienae pondera librae. Sie verweist auf zwei mögliche Prätexte, Sen. Thyest. 858: iustaeque cadent pondera librae

und Lucan. 4,58 atque iterum aequatis ad iustae pondera librae

Die Lucan-Reminiszenz ist unter formalen Gesichtspunkten leicht zu erkennen, da Ausonius lediglich ad iustae in alienae verändert. Der Versschluss bleibt klanglich und metrisch nahezu erhalten. Etwas undeutlicher ist der Verweis auf den Thyestes: Während Seneca das Attribut iustae durch die Partikel -que und das Verb cadent von seinem Beziehungswort ponderae sperrt, rückt Ausonius vermutlich aus metrischen Gründen das Attribut alienae näher an das Beziehungswort. Aber auch an dieser Stelle signalisiert Ausonius die Beziehung der Texte klanglich, in dem er cadent durch das klanglich gleichsam verdrehte accedunt ersetzt. Darüber hinaus wählt Ausonius an dieser Stelle mit Vergil, Statius und Properz Prätexte, die eine wichtige Gemeinsamkeit aufweisen: Beschrieben werden jeweils landwirtschaftliche Szenen, in denen Stiere und das Tragen des Joches eine entscheidende Rolle spielen. Tatsächlich verweisen die Stier-Szenen bei Statius und Properz selbst wieder auf Vergil zurück, der wie ein ursprünglicher Prätext wirkt, von dem alle anderen Texte ausgehen. Diese Querverbindung der Prätexte ist eine Rückversicherung an den Leser, durch die dieser sich in seiner intertextuellen Interpretation bestätigt sieht.215 215 Ein ähnliche Polyvalenz von Prätexten und vor allem ein Bewusstsein der Rezipienten für diese Polyvalenz stellt Vielberg (2006) 28–29 für den Martinellus fest: »Das wichtigste Kriterium liegt in der Frage, worin der Bezug auf den Prätext besteht und wie deutlich er wird. Das ist die Grundfrage, insofern alle anderen Kriterien davon abhängen, und diese Grundfrage beantwortet sich in einem hagiographischen Dossier wie dem ›Martinellus‹ tatsächlich anders als in gewöhnlichen Texten. Gewiss begegnen auch hier die üblichen Klassikerzitate aus Dichtung und Prosa. Wesentlicher ist jedoch, dass wir es hier mit systematisch angelegten, durchgehenden Prä- und Folgetexten sowie Folge-Folgetexten zu tun haben und dass diese nicht nur

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Ausonius und die Klassische Literatur

Die wörtliche Übernahme einzelner Textsegmente ist aber nur ein Mittel unter vielen, mit deren Hilfe Ausonius Beziehungen zu anderen Texten signalisiert. Fast ebenso häufig verweist Ausonius auf einen Prätext, in dem er mehrere Worte verändert in den eigenen Text überträgt und sie auf mehrere aufeinander folgende Verse verteilt.216 Solche eher assoziativen Reminiszenzen geben bisweilen den Anschein der Zufälligkeit und Beliebigkeit, verweisen jedoch oft auf Prätexte, die für das Verständnis des Briefgedichtes von großer Bedeutung sind.217 Darüber hinaus arbeitet Ausonius an Stellen, an denen sich Reminiszenzen häufen, häufig mit bestimmten Signalwörtern wie echo, imago, reminiscor usw., um den Leser auf die hohe literarische Reflexivität hinzuweisen.218

durch ihre Bezogenheit stärker intertextuell verwoben sind, sondern diese Verwobenheit von den Autoren nicht nur angestrebt und bewusst gemacht, sondern den Rezipienten auch bewusst war. Diese Bewusstheit wurde noch durch die Zusammenführung in einem hagiographischen Dossier gesteigert, wobei als zusätzliche Hypotexte nicht nur in der Touraine entstandene Inschriften in Frage kommen, sondern auch die politischen, kirchengeschichtlichen, geographischen und baulichen Gegebenheiten in dieser Sakrallandschaft selbst, so dass dergestalt ein Grenzfall von Intertextualität vorliegt, dass auf Seiten des Rezipienten oder jedenfalls bestimmter Rezipientengruppen ein immenses Vorwissen vorausgesetzt werden muss.« 216 Vgl. z. B. Auson. 27,21,1–6 und Ov. trist. 4,7,1–18. Die Stellen werden ausführlich diskutiert Kap. 3.5.4 und Kap. 7.1; dazu auch Rücker (2009). 217 Vgl. dazu grundsätzlich den wegweisenden Aufsatz von Görler (1991/11969) 146–175, der ohne die Begrifflichkeiten moderner Literaturtheorie für Ausonius dennoch ähnliche Ergebnisse wie Conte (1986) für Vergil und Lühken (2002) für Prudentius erzielt. 218 Ein gutes Beispiel ist Auson. 27,21,10: sermo redit, redit nemorum uocalis imago. Die Wendung uocalis imago ist selbst eine Ovid-Reminiszenz, dient jedoch zunächst dazu, den Leser auf die Häufung von Reminiszenzen aufmerksam zu machen. Die Rede und der tonreiche Widerhall, der aus den Wäldern zurückkehrt, stehen nicht nur für das physikalische Phänomen, sondern auch für das literarische Echo. Ausführlich interpretiert wird die Stelle Kap. 8.5. 1. Vgl. grundsätzlich Hinds (1998) 1–5. Ein ähnliches Signal gibt Ovid in am. 2,6,1–2: Psittacus Eois, imitatrix ales ab Indis,/ occidit exequias ite frequenter, aues. Die Verse stellen einen Bezug zu Catull. 3,1–4: Lugete, o Veneres Cupidinesque,/ et quantum est hominum uenustiorum./ passer mortuus est meae puellae,/ passer, deliciae meae puellae. Das Adjektiv imitatrix zeigt hier die Reminiszenz an.

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3. Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

3.1 Text und Übersetzung 219

219 Der Text richtet sich überwiegend nach Green (1999). Abweichungen sind gekennzeichnet und werden in Kap. 4 erläutert. Der kritische Apparat ist nicht vollständig. Aufgeführt werden hier lediglich die Varianten, die sich auf den Inhalt auswirken. Abweichende Lesarten, die m. E. nicht unbedingt als Interpolationen, sondern vielleicht als Autorenvarianten zu werten sind, sind im Apparat verzeichnet und darüber hinaus rechts neben dem entsprechenden Vers in den Fließtext eingefügt. Die Handschriften: V – Vossianus Latinus F 111; P – Parisinus Latinus 8500; H – Harleianus 2613; B – Bruxellensis 10203/5; O – Parisinus Latinus 2122; N – Parisinus Latinus 7558. Sie werden Kap. 4.1 ausführlicher beschrieben.

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

Auson. 27,21 Quarta tibi haec notos detexit epistula questus, Pauline, et blando residem sermone lacessit; officium sed nulla pium mihi pagina reddit, fausta salutigeris ascribens orsa libellis. 5 unde istam meruit non felix charta repulsam, spernit tam longo cessatio quam tua fastu? hostis ab hoste tamen per barbara uerba salutem accipit et ›salue‹ mediis interuenit armis. respondent et saxa homini, et percussus ab antris 10 sermo redit, redit et nemorum uocalis imago. litorei clamant scopuli, dant murmura riui, 13 est et harundineis modulatio musica ripis. 12 Hyblaeis apibus saepes depasta susurrat

15 17 18 19 16 20

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somniferumque canit saepes depasta susurrum BON cumque suis loquitur tremulum coma pinea uentis, atque arguta suis loquitur coma pinea uentis BON incubuit foliis quotiens leuis eurus acutis. nil mutum natura dedit. non aeris ales quadrupedesue silent, habet et sua sibila serpens et pecus aequoreum tenui uice uocis anhelat. Dindyma Gargarico respondent cantica luco; Dindymaque Idaeo respondent cantica luco BON; cymbala dant flictu sonitum, dant pulpita saltu icta pedum, tentis reboant caua tympana tergis; Isiacos agitant Mareotica sistra tumultus; nec Dodonaei cessat tinnitus aeni, in numerum quotiens radiis ferientibus ictae respondent dociles moderato uerbere pelues. tu, uelut Oebaliis habites taciturnus Amyclis aut tua Sigalion Aegyptius oscula signet, obnixum, Pauline, taces. agnosco pudorem, quod uitium fouet ipsa suum cessatio iugis, dumque pudet tacuisse diu, placet officiorum non seruare uices, et amant longa otia culpam. quis prohibet ›salue‹ atque ›uale‹ breuitate parata scribere felicesque notas mandare libellis? non ego longinquos ut texat pagina uersus

12 post uersum 13 transposuit Rücker Hyblaeis apibus saepes depasta susurrat VP somniferumque canit saepes depasta susurrum BON 14 cumque suis loquitur tremulum coma pinea uentis VP atque arguta suis loquitur coma pinea uentis BON 16 post 19 transposuit Green Dindyma Gargarico VP Dindymaque Idaeo BON

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Text und Übersetzung

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Dieser vierte Brief webt dir bekannte Klagen, Paulinus, und reizt den Säumigen mit schmeichelnder Rede; aber keine Seite vergilt mir die Freundschaftspflicht und setzt erfreuliche Gedichte den grußtragenden Büchlein hinzu. [5] Warum hat mein unglücklicher Brief diese Zurückweisung verdient, den dein langes Schweigen [sic!, vgl. Anm. 241] mit solchem Ekel verachtet? Der Feind empfängt doch vom Feind durch harte Worte einen Gruß, und ein ›sei gegrüßt‹ tritt mitten zwischen die Waffen. Auch die Felsen antworten dem Menschen, [10] an Höhlen gebrochen kehrt ihm das Wort zurück, zurück kehrt ihm auch das tönende Echo der Wälder. Die Klippen am Strand rufen, Bäche geben ein Murmeln, [13] auch schilfbestandenen Ufern ist ein musikalischer Rhythmus zu eigen. [12] Von Hyblaeischen Bienen abgeweidet summt die Hecke und mit ihren Winden spricht zitternd das Haar der Fichte, [15] sooft sich ein leichter Südostwind auf ihr spitzes Laub legt. [17] Nichts hat die Natur stumm geschaffen. Nicht schweigen die Vögel des Himmels [18] oder die Vierfüßer, auch die Schlange hat ihr Zischen [19] und das Getier des Meeres seufzt im zarten Wechsel der Stimme. [16] Dindymische Gesänge antworten dem Hain des Berges Ida; [20] Schallbecken geben zusammengeschlagen einen Ton, einen Ton geben die Bühnenbretter, geschlagen vom Sprung der Füße. Gewölbte Handpauken schallen mit gespannten Häuten zurück, ägyptische Sistren treiben den Isis geweihten Lärm seinem Höhepunkt zu. Auch das Schellen des Erzes Dodoniens verklingt nicht, [25] sooft gelehrige Becken, im Rhythmus von schlagenden Stöcken getroffen, mit rhythmischem Schlag die Antwort geben. Du, als ob du schweigsam unter spartanischen Amyclern wohntest oder der ägyptische Sigalion deine Lippen verschlösse, du, Paulinus schweigst beharrlich. Ich erkenne die Scham darüber, dass das beständige Zögern selbst seinen eigenen Fehler noch wärmt. [30] Und während man sich schämt, lange geschwiegen zu haben, gefällt es, den Wechsel der Freundschaftspflichten nicht zu bewahren, auch liebt langer Müßiggang die Schuld. Wer hindert dich daran ›Sei gegrüßt‹ und ›Lebewohl‹ in angemessener Kürze zu schreiben und freudebringende Zeichen den Büchern anzuvertrauen?

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

35 postulo multiplicique oneret sermone tabellas. una fuit tantum, qua respondere Lacones, littera, et irato regi placuere negantes. est etenim comis breuitas. sic fama renatum Pythagoram docuisse refert: cum multa loquaces 40 ambiguis sererent uerbis, contra omnia solum ›est‹ respondebat uel ›non‹. o certa loquendi regula! nam breuius nihil est et plenius istis, quae firmata probant aut infirmata relidunt. nemo silens placuit, multi breuitate loquendi. 45 uerum ego quo stulte dudum spatiosa locutus prouehor? ut diuersa sibi uicinaque culpa est! multa loquens et cuncta silens non ambo placemus; nec possum reticere, iugum quod libera numquam fert pietas nec amat blandis postponere uerum. 50 uertisti, Pauline, tuos, dulcissime, mores: Vasconei saltus et ninguida Pyrenaei hospitia et nostri facit hoc obliuio caeli. imprecer ex merito quid non tibi, Hiberia tellus? te populent Poeni, te perfidus Hannibal urat, 55 te belli sedem repetat Sertorius exul. ergo meum patriaeque decus columenque senati Birbilis aut haerens scopulis Calagurris habebit aut quae deiectis iuga per scruposa ruinis arida torrentem Sicorim despectat Ilerda? 60 hic trabeam, Pauline, tuam Latiamque curulem constituis patriosque istic sepelibis honores? quis tamen iste tibi tam longa silentia suasit? impius ut nullos hic uocem uertat in usus; gaudia non illum uegetent, non dulcia uatum 65 carmina, non blandae modulatio flexa querellae; non fera, non illum pecudes, non mulceat ales, non quae pastorum nemoralibus abdita lucis solatur nostras echo resecuta loquellas; tristis, egens, deserta colat tacitusque pererret 70 Alpini conuexa iugi, ceu dicitur olim mentis inops coetus hominum et uestigia uitans auia perlustrasse uagus loca Bellerophontes. haec precor, hanc uocem, Boeotia numina, Musae, accipite et Latiis uatem reuocate Camenis.

51 Vasconei saltus N Vasconis hoc saltus VBO Vascones hoc saltus P 68 solatur nostras echo (etho P) resecuta loquellasV solatur nostram secore secuta loquellas B solatur nostras et ore secuta loquelles O solatur tacitas defixo in pectore curas

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Text und Übersetzung

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Ich fordere nicht, dass das Gedicht lange Verse webt [35] und die Spalten mit abwechslungsreicher Rede füllt. Ein Wort war es nur, mit dem die Spartaner antworteten, und sie gefielen dem zornigen König, obgleich sie ihm eine Abfuhr erteilten. Denn höflich ist Kürze. Die Sage berichtet, dass auch der wiedergeborene Pythagoras so gelehrt habe: Wenn Schwatzhafte [40] vieles mit unentschiedenen Worten aneinanderreihten, antwortete er gegen all das nur: ›Es ist so.‹ oder ›Es ist nicht so.‹. Welch’ goldene Regel des Sprechens! Denn kürzer ist nichts und aussagekräftiger auch nichts als das, was Bestätigtes billigt oder nicht Bestätigtes zurückweist. Schweigend gefiel keiner, viele aber durch die Kürze der Reden. [45] Aber wohin lasse ich mich dumm und weitschweifig daherschwatzend mitreißen? Wie verschieden und doch sich ähnlich unsere Schuld ist! Viel redend und alles verschweigend gefallen wir beide nicht. Ich kann nicht schweigen, weil freimütige pietas kein Joch erträgt und nicht liebt, die Wahrheit schmeichelnden Worten hintanzustellen. [50] Du hast, Paulinus, mein lieber Freund, deinen Charakter verändert. Baskische Schluchten und schneebedeckte Behausungen in den Pyrenäen und das Vergessen unserer Heimat bewirken das. Was soll ich dir nicht verdientermaßen wünschen, spanische Erde? Dich mögen die Punier verheeren, dich der vertragsbrüchige Hannibal brennen, [55] dich als Kriegsschauplatz wieder heimsuchen der verbannte Sertorius. Die Zierde der Heimat, meinen Paulinus, die Spitze des Senates, sollen also Birbilis oder das an Klippen hängende Calagurris festhalten oder das verdorrte Hilerda, das von seinen Ruinen, die auf schroffen Bergrücken darniederliegen, auf den tosenden Sicoris hinabschaut. [60] Hier willst du, Paulinus, deinen Senatorenmantel tragen, deinen Kurulenstuhl aufstellen, dort willst du deine väterlichen Ehrenämter begraben? Wer ist aber derjenige, der dir zu so langem Schweigen geraten hat? Der Frevler, er soll seine Stimme nicht mehr gebrauchen können. Scherze sollen jenen nicht ermuntern, [65] nicht die süßen Lieder der Dichter, nicht der geformte Rhythmus schöner Liebesklage; nicht die wilden Tiere, nicht das Vieh, nicht die Vögel sollen ihn besänftigen, nicht das Echo, das verborgen in den schattigen Hainen der Hirten unsere Gesänge zurückwirft, ihn trösten. Traurig und bedürftig soll er vereinsamte Gegenden bewohnen und [70] an Berghängen entlangirren, so wie einst der wahnsinnige Bellerophontes die Versammlungen und Spuren der Menschen meidend umherirrend die Einöden durchstreift haben soll. Darum bitte ich, dieses Gebet, Musen, ihr Gottheiten Boeotiens, vernehmt und ruft den Dichter zu den Camenen Latiums zurück.

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

Auson. 27,22 Proxima quae nostrae fuerat querimonia chartae credideram quod te, Pauline, inflectere posset eliceretque tuam blanda obiurgatio uocem.

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sed tu, iuratis uelut alta silentia sacris deuotus teneas, perstas in lege tacendi. non licet? anne pudet, si quis tibi iure paterno uiuat amicus adhuc, maneasque obnoxius heres? ignauos agitet talis timor; at tibi nullus sit metus et morem missae acceptaeque salutis audacter retine. uel si tibi proditor instat aut quaesitoris grauior censura timetur, occurre ingenio, quo saepe occulta teguntur. Threicii quondam quam saeua licentia regis fecerat elinguem, per licia texta querellas edidit et tacitis mandauit crimina telis. et pudibunda suos malo commisit amores uirgo nec erubuit tacituro conscia pomo. depressis scrobibus uitium regale minister credidit idque diu texit fidissima tellus; inspirata dehinc uento cantauit harundo. lacte incide notas: arescens charta tenebit semper inaspicuas, prodentur scripta fauillis. uel Lacedaemoniam scytalen imitare, libelli segmina Pergamei tereti circumdata ligno perpetuo inscribens uersu, qui deinde solutus non respondentes sparso dabit ordine formas donec consimilis ligni replicetur in orbem. innumeras possum celandi ostendere formas et clandestinas ueterum reserare loquellas, si prodi, Pauline, times nostraeque uereris crimen amicitiae. Tanaquil tua nesciat istud; tu contemne alios nec dedignare parentem affari uerbis. ego sum tuus altor et ille praeceptor primus, primus largitor honorum,

eliceretque tuas blanda obiurgatio musas BON

ego sum tuus auctor et ille BON praeceptor, primus ueterum largitor honorum V

35 primus in Aonidum qui te collegia duxi.

3 eliceretque tuam blanda obiurgatio uocem VPH eliceretque tuas blanda obiurgatio musas BON 8 at N ac VPHBO 17 tacituro VHNpcO tacitura PHac taciturno B 33 altor VBO auctor NPH 34 primus primus BON primus ueterum V primus P primusque tibi H

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Text und Übersetzung

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Ich hatte geglaubt, dass die Klage meines letzten Briefes dich, Paulinus, hätte umstimmen können und dass schön verpackter Tadel eine Antwort aus dir herauslocken würde. Du aber, als ob du beim gelobten Opfer demütig an erhabener Stille festhältst, [5] verharrst im Gesetz des Schweigens. Ist es nicht erlaubt oder beschämt es dich etwa, wenn für dich ein bestimmer Freund mit väterlichem Status lebt und du ein verpflichteter Erbe bleibst? Feiglinge treibt solche Furcht an, dir aber sei solche Angst fern, und die Gewohnheit, einen Gruß zu schicken und zu empfangen, [10] behalte kühn bei. Wenn dir entweder ein Verräter droht oder der scharfe Tadel eines Untersuchungsrichters zu fürchten ist, dann begegne dem mit Scharfsinn, durch den Geheimes oft verborgen wird. Die Frau, welche die rasende Zügellosigkeit des thrakischen Königs hatte verstummen lassen, klagte mit Hilfe gewobener Fäden [15] und vertraute das Verbrechen verschwiegenem Gewebe an. Und die schamhafte Jungfrau vertraute ihre Liebesgeheimnisse einem Apfel an und wissend um die Verschwiegenheit der Frucht errötete sie nicht. Der Diener vertraute den königlichen Makel tiefen Erdgruben an, und ihn hält lange die treueste Erde bedeckt: [20] Schließlich sang, behaucht vom Wind, das Gras. Mit Milch ritze die Zeichen ein. Das trockene Papier wird sie immer unsichtbar enthalten, aufgedeckt wird das Geschriebene mit Hilfe von Asche. Oder ahme die spartanische Skytale nach, indem du auf Stücke pergamaeischen Bastes schreibst, die um das Rundholz gewickelt sind, [25] mit fortlaufendem Vers, der schließlich gelöst, nachdem seine Ordnung aufgehoben ist, solange keine antwortenden Formen geben wird, bis er auf ein Rund ähnlichen Holzes gewickelt wird. Unzählige Formen des Verbergens kann ich dir zeigen und die Reden der Alten dir entschlüsseln, [30] wenn du, Paulinus, fürchtest verraten zu werden und das Verbrechen unserer Freundschaft scheust. Deine Tanaquil soll nichts davon wissen. Du verachte andere und weigere dich nicht, deinen ›Vater‹ mit Worten anzusprechen. Ich bin dein Nährer und jener erste Lehrer, der erste, der dir Ämter verschafft hat, [35] der erste, der dich in die Gemeinschaft der Aoniden eingeführt hat.

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3.2 Die Briefsituation Den Briefwechsel in seiner heute vorliegenden Gestalt eröffnen zwei Briefe des Ausonius an seinen Freund und Schüler Paulinus, die Briefe 21 und 22.220 In ihnen beklagt sich der Ich-Sprecher über das lange Schweigen und den – offenbar religiös motivierten – Rückzug des Freundes in die Hispania Tarraconensis. Die Gründe für das Schweigen und den Rückzug des Paulinus liegen im Dunkeln. Eine entscheidende Rolle scheinen der gewaltsame Tod eines seiner Brüder und der plötzliche Tod seines Sohnes Celsus gespielt zu haben. Im autobiographischen Exkurs des 13. Nataliciums (carm. 21), verfasst für den 14. Januar des Jahres 407, beschreibt Paulinus etwa 20 Jahre nach den Ereignissen, wie er den Tod des Bruders erlebt hat. Er habe schwer unter der caedes seines Bruders gelitten, die folgende Gerichtsverhandlung (causa fraterna) habe auch ihn in Gefahr gebracht: Der Gerichtsvollzieher sei bereits zur Schätzung der Vermögenswerte in seinem Haus gewesen. Nur seinem Patronus, dem Märtyrer Felix, sei es zu verdanken, dass er seinen Hals aus der Schlinge habe ziehen und sein Erbe vor dem Fiskus habe retten können.221 Zieht man das historisch Fassbare aus diesen Versen, die auf das Erleben und Leiden des Paulinus genauso zugeschnitten sind wie auf die Hilfe des Felix, bleibt wenig:222 Paulinus wurde nach der Tötung seines Bruders offenbar in einen Prozess hineingezogen, der beinahe die Konfiskation seiner Güter und seine Hinrichtung nach sich gezogen hätte. Ob sein Bruder ermordet und er selbst des Mordes angeklagt wurde, ob sein Bruder selbst eines Kapitalverbrechens überführt und er in den Prozess verwickelt wurde oder ob sein Bruder im Rahmen der Priscillianer-Verfolgungen umkam, bleibt unklar.223 Wie sehr diese Ereignisse Paulinus trafen, zeigen mehrere 220 Auson. 27,21–22 (ed. Green 1991/1999). 221 Paul. Nol. carm. 21,365–399. 222 Der Wert der Passage für historische Fragestellungen wird generell in Frage gestellt von Trout (1999) 65: »In short the dramatic account of that poem resists historical location, and its true effect.« 223 Datiert wird die causa fraterna in der Regel auf die späten 380er Jahre, so von Sivan (1996) 172–175. Weniger überzeugend die Spätdatierung auf die Jahre zwischen 390 und 392 bei Coşkun (2002) 101–103. Über die Todesumstände ist viel spekuliert worden. Referiert werden die einzelnen Thesen (bis 1996) von Sivan (1996) 170–179. In der Regel wird angenommen, dass der Bruder ermordet wurde und der Mord Paulinus untergeschoben werden sollte. Einen neueren Ansatz bietet Mratschek (2002) 85–86. Sie vermutet, dass es sich um einen Auftragsmord aus dem Umfeld des Usurpators Magnus Maximus und um einen inszenierten Prozess gehandelt haben könnte, in dessen Folge die Vermögenswerte der chronisch unterfinanzierten Staatskasse des Maximus zugeteilt werden sollten. Dagegen schließt Coşkun (2002) 103 aus der Wendung causa … fraterna, dass der Bruder wegen eines Kapitalverbrechens hingerichtet worden sei, in das Paulinus auf irgendeine Art und Weise verstrickt worden sei. Für

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seiner Briefe. In zwei im Jahr 390 in der Hispania Tarraconensis verfassten Briefen an seine Tauflehrer Delphinus und Amandus bedankt Paulinus sich für die Anteilnahme am Tod des Bruders und äußert gleichzeitig Selbstzweifel bezüglich der eigenen Lebensführung. Er sei erschüttert – nicht so sehr über den körperlichen Tod seines Bruders, sondern vor allem über dessen Ignoranz in geistlichen Dingen. Aus diesem Grund sei sein Bruder auf überflüssige Sorgen fixiert gewesen, hätte nicht an die zu bedenkenden Heilmittel gedacht und so letztlich die falschen Dinge an die erste Stelle gesetzt.224 Ähnlich beginnt der Brief an Amandus: Er wisse zwar, dass sein Bruder ihm nur auf Zeit genommen sei und dass er ihm in absehbarer Zeit folgen werde. Trotzdem trauere er um ihn, denn sein Ende habe ihm gezeigt, dass sein Bruder nicht entsprechend der Gebete, die er selbst für ihn gesprochen habe, sondern entsprechend seiner Sünden gehandelt habe.225 Paulinus scheint besonders darüber entsetzt gewesen zu sein, dass sein Bruder zwar mit ihm zusammen von Delphinus getauft worden war, aus der Taufe aber keine Konsequenzen gezogen hatte.226 Noch weniger wissen wir über den Tod seines Sohnes. Celsus starb vermutlich im Jahr 392 oder 393 nur acht Tage nach seiner Geburt in Nordspanien. Dass sein Tod Paulinus traf und den Gedanken an eine vollständige conversio verstärkte, ist anzunehmen, lässt sich jedoch nur indirekt aus briefCoşkun mag sprechen, dass Paulinus in ep. 36 die Lebensführung seines Bruders kritisiert, wobei diese Kritik aber allgemein bleibt und kaum auf ein Kapitalverbrechen schließen lässt, vgl. Paul. Nol. ep. 36,2 wie unten Anm. 225. Gegen Coşkun spricht aber, dass das von Paulinus im 13. Natalicium verwendete Wort caedes kein juristischer Terminus für Hinrichtung ist, Paulinus aber gerade in der oben zitierten Passage juristische Termini korrekt gebraucht, vgl. Sivan (1996) 170–171. 224 Paul. Nol. ep. 35,1: Contristatos autem nos uehementer fatemur non tam de obitu corporali fratris nostri quam de neglegentia eius spiritali, qua relinquendarum istic potius curarum quam prouidendorum illic remediorum memor posthabenda praeposuit et praeponenda posthabuit. 225 Paul. Nol. ep. 36,2: (…) Hoc tantum respondentes, quod praecipue (…) curae nobis erat ex recenti dolore fratris diuulsionis, quem etiamsi temporaliter ab hoc saeculo sciamus absumptum, in illo nobis cito consequendum, tamen ea uerius causa obisse lugemus, quia ex his, quae gesta ab ipso in finem eius uel ordinata sunt, peccatis magis nostris quam uotis congrua egisse perspeximus, ut mallet ad dominum debitor transire quam liber. 226 Darauf dass der Bruder des Paulinus ebenfalls Taufkatechet des Delphinus war, lässt die Wendung spiritalis filius in ep. 35,1 schließen. Terminus post quem und ante quem (t. p. q./ t. a. q.) der Taufe des Paulinus lassen sich anhand zweier Briefe annähernd bestimmen, zum t. p. q. Paul. Nol. ep. 3,4 (an Alypius): Nam ego, etsi a Delphino Burdigalae baptizatus …; Delphinus war von 380 bis etwa 400 Bischof von Bordeaux (vgl. Mratschek, 2002, 627, Anm. 9). Da Paulinus erst 383 nach Bordeaux zurückkehrte, kann dieses Datum als t. p. q. der Taufe gelten. Der t. a. q. wird durch den Tod des Bruders bestimmt. Die Taufe muss also, anders als Witke (1971) 6 meint, vor 389 stattgefunden haben; so auch Mratschek (2002) 85, die den t. p. q. aber nicht benennt.

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lichen Äußerungen späterer Zeit und aus einer Trostschrift an Pneumatius und Fidelis schließen, deren Sohn, gleichfalls ein Celsus, im Alter von acht Jahren gestorben war.227 Tatsächlich jedoch bestätigen die Briefgedichte des Ausonius diese Annahme, wie gesondert zu zeigen sein wird. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Brief an Sulpicius Severus aus dem Jahr 396, in dem Paulinus den Freund beglückwünscht, ein asketisches Leben gewählt zu haben, und ihn ermahnt, den einmal eingeschlagenen Weg weiterzugehen.228 Im Verlauf des Briefes schreibt Paulinus über die Beweggründe, die ihn selbst veranlassten, ein Leben fernab der Gesellschaft zu führen. Sein früheres Dasein sei geprägt gewesen von Mühsal und Sorgen. Dieses Leben, die Furcht vor dem Ungewissen und die zuletzt gebliebene Hoffnung hätten seine Gottesfurcht vermehrt. Später dann, nachdem er Ruhe vor ungerechtfertigten Anklagen gefunden und seine Reisen beendet habe, habe er, frei von politischer Verantwortung und gesellschaftlichen Verpflichtungen, das otium ruris genossen und mit seinem Haushalt den Gottesdienst versehen.229 Es liegt nahe, die von Paulinus in diesem Zusammenhang erwähnten calumniae, die ungerechtfertigten Anklagen, mit der causa fraterna in Verbindung zu bringen, denn tatsächlich brachen Paulinus und Therasia kurz nach dem Tod des Bruders in die Hispania Tarraconensis auf.230 Sie führten dort ein Leben, das Paulinus gegenüber Sulpicius als Vorstufe der Askese bezeichnete: Nachdem seine Seele sich von den Stürmen der Welt losgesagt und sich den Geboten Gottes angenähert habe, habe auch er selbst bereitwillig um die Lossagung von der Welt und die Nachfolge Christi gekämpft (ad contemptum mundi comitatumque Christi), und zwar

227 Vgl. dazu auch Trout (1999) 84: »Perhaps even more devastating and determinant for Paulinus and Therasia had been the death of their eight-day-old son, Celsus, so long desired but so soon laid to rest in a saints shrine at Complutum.« Trout gründet seine Bemerkung auf Paul. Nol. carm. 31,602,607–610, eine Passage, die vielleicht weniger hergibt, als Trout ihr entnimmt: accitus tempore quo datus est./ (…) quem Complutensi mandauimus urbe propinquis/ coniunctum tumuli foedere martyribus,/ ut de uicino sanctorum sanguine ducat,/ quo nostras illo spargat in igne animas. 228 Paul. Nol. ep. 5. 229 Vgl. Paul. Nol. ep. 5,4 (an Sulpicius Severus): (…) ad hoc uita ipsa mortalis in laboribus et aerumnis frequenter excercita odium rerum inquietantium parere et de spei necessitate ac dubiorum metu cultum religionis augere, postea denique ut a calumniis et peregrinationibus requiem capere uisus sum, nec rebus publicis occupatus et a fori strepitu remotus ruris otium et ecclesiae cultum placita in secretis domesticis tranquilitate celebraui, (…). 230 Diese Rekonstruktion der Ereignisse ist Konsens seit Moricca (1926) 85–90. Allerdings weist Trout (1999) 65 darauf hin, dass dies nur eine mögliche Rekonstruktion sei, da die von Paulinus genannten calumniae nicht zwangsläufig diesen einen Prozess bezeichnen müssten: »Even so, this passage of ep. 5, which could refer to any moment in the 380s or early 390s, resolves neither the chronological or contextual uncertainties of the episode presented in the natalicium of 407.«

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von einem Weg aus, der diesem Vorsatz benachbart sei (finitima huic proposito uia).231 Die uia finitima ist offenbar das von Paulinus beschriebene otium ruris, das sich durch die Abwesenheit der res inquietantes und der fori strepitus auszeichnet. Es ist die Grundvoraussetzung aller Erkenntnis: »Die Wahrheit, die sich selbst in zahlreichen göttlichen Zeichen geoffenbart hat, kann nur erkannt werden, wenn man die Freiheit des otium erlangt hat, (…) derjenige aber, der ständig beschäftigt ist und von einer Wolke weltlicher Sorgen umgeben ist, sieht nicht, dass Gott in Christus und Christus in Gott ist«, schrieb Paulinus in einem anderen Brief an Sulpicius Severus.232 Auch andere christliche Intellektuelle des vierten nachchristlichen Jahrhunderts beurteilten den Rückzug in das otium als positiven Schritt hin zu Gott. Augustinus beendete im Jahr 386 nach seinem Bekehrungserlebnis in Mailand seine weltliche Karriere als Rhetor und zog sich mit Freunden und Schülern zunächst in das Voralpenland, nach Cassiciacum zurück, um dort philosophische und theologische Problemstellungen mit Hilfe christlicher und neuplatonischer Ansätze zu überdenken.233 Rückblickend beschrieb Augustinus die Zeit auf dem Landgut seines Freundes Verecundus als christianae uitae otium, das es ihm ermöglicht habe, vom Gewühl der Welt Abstand zu nehmen und in Gott zur Ruhe zu finden.234 Das christianae uitae otium des Augustinus war nicht weit entfernt von der gängigen zeitgenössischen Vorstellung des aristokratischen secessus in uillam, der es den Spitzen der Gesellschaft ermöglichte, sich in den Ferien, in Ruhephasen ihrer Karriere, vor allem aber nach dem Ende ihrer Karriere auf das Land in das otium liberale oder otium litteratum zurückzuziehen. Möglichst ließ man sich im otium weniger durch Vergnügungen aller Art zerstreuen, sondern befasste sich aktiv mit der Lektüre der Klassiker, der Abfassung eigener Texte und dem Studium philosophischer Schriften oder begab sich in Kon231 Paul. Nol. ep. 5,4: (…) cultum ecclesiae (…) celebraui, ut paulatim subducto a saecularibus turbis animo praeceptisque caelestibus accomodato procliuius ad contemptum mundi comitatumque Christi iam quasi de finitima huic proposito uia dimicauerim. 232 Paul. Nol. ep. 24,19: (…) se ipsa quae in multis saepe diuinitatis insignibus manifestauit ueritas, non nisi uacatione procurata perspici posse testatur (…) sed deum in Christo et Christum in deo esse non uidet occupatus et curarum terrestrium nube circumdatus. Vgl. auch Paul. Nol. ep. 38,10 an Aper (a. 399/400): Ideo rarus, ut scribis, urbium frequentator, familiare secretum taciti ruris adamasti, (…) iam pene forensibus turbis aemulos ecclesiarum tumultus et concilia inquieta declinans. arbitror autem id ipsum maioribus ecclesiae utilitatibus praeparari. 233 Zu spätantiken Vorstellungen vom otium vgl. grundsätzlich Fontaine (1972) 571–595, zu Augustinus in Cassiciacum vor allem Trout (1988) passim. 234 Vgl. z. B. Aug. conf. 9,3,15 (über den Tod des Verecundus): Gratias tibi, deus noster! Tui sumus. indicant hortationes et consolationes tuae: fidelis promissor reddis Verecundo pro rure illo eius Cassiciaco, ubi ab aestu saeculi requieuimus in te, amoenitatem sempiterne uirentis paradisi tui, quoniam dimisisti ei peccata super terram in monte incaseato, monte tuo, monte uberi.

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templation.235 Das Idealbild dieses otium hat Seneca in De otio gezeichnet. Dort empfiehlt er, vom politischen und gesellschaftlichen Leben Abstand zu nehmen. Es sei nämlich nützlich, zu sich selbst zu finden. Allein werde man zu einem besseren Menschen. Nur das otium erlaube es, sich zu hervorragenden Männern, d. h. zu Schriftstellern, zurückzuziehen und ein Beispiel zu wählen, nach dem man das Leben zukünftig ausrichten könne. Im otium könne man innehalten, da keiner ein noch auf schwachen Beinen stehendes Urteil abzulenken versuche, im otium könne das Leben, das man sonst durch verschiedene Vorsätze zersplittere, in gleichmäßigem und einheitlichem Verlauf voranschreiten.236 Insgesamt gesehen war der Rückzug des Paulinus in das otium der Hispania Tarraconensis, – sieht man vom Auslöser des Rückzugs, dem Tod des Bruders, ab – nicht außergewöhnlich. Die Aquitania Secunda und die Hispania Tarraconensis waren traditionell eng miteinander verbunden. Eheliche Verbindungen zwischen aristokratischen Familien der beiden Regionen waren die Regel.237 Ohnehin besaß Paulinus dort mehrere Landgüter, so dass ein Wohnortwechsel und das Umherreisen von Gut zu Gut Gewohnheit gewesen sein dürfte. Paulinus schrieb weiterhin Briefe an die Außenwelt und er dichtete, auch dürfte er weiterhin mit Verwaltungsaufgaben befasst gewesen sein. Neu waren in diesem Leben ›nur‹ der cultus religionis und der cultus ecclesiae, der bereits in den Briefen an Delphinus und Amandus und in frühen christlichen Dichtungen, Psalm- und Evangelienparaphrasen, die vermutlich in dieser Zeit entstanden, einen schriftlichen Ausdruck fand.238 Vor 235 Vgl. z. B. Plin. epist. 1,9. 236 Vgl. Senec. De otio 1: (…) Proderit tamen per se ipsum secedere: meliores erimus singuli. quid quod secedere ad optimos uiros et aliquod exemplum eligere, ad quod uitam derigamus, licet? quod sine otio non fit: tunc potest obtineri quod semel placuit, ubi nemo interuenit qui iudicium adhuc imbecillum, populo adiutore, detorqueat; tunc potest uita aequali et uno tenore procedere quam propositis diuersissimis scindimus. Die optimi uiri bezeichnen die Philosophen und ihre Schriften. Diesen Gedanken führt Seneca aus in De breuitate uitae 14,1–2. Seneca hebt hier noch einmal den Wert des otium für die Seele hervor: Soli omnium otiosi sunt qui sapientiae uacant, soli uiuunt. (…) ad res pulcherrimas ex tenebris ad lucem erutas alieno labore deducimur; nullo nobis saeculo interdictum est, in omnia admittimur et, si magnitudine animi egredi humanae imbecillitatis angustias libet, multum per quod spatiemur temporis est. disputare cum Socrate licet, dubitare cum Carneade, cum Epicuro quiescere, hominis naturam cum Stoicis uincere, cum Cynicis excedere. Vgl. dazu Williams (2003) 64. 237 Vgl. Mratschek (2002) 209–211. 238 Vgl. Paul. Nol. ep. 10 an Delphinus und ep. 25 an Amandus, die carm. 6 (laus Sancti Johannis), carm. 7, 8, 9 (Psalmenparaphrasen). Zur Datierung vgl. Kirsch (2004) 54–73. Die Autorschaft der genannten Carmina wird allerdings in Frage gestellt und neu diskutiert von Turcan-Verkerk (2003) passim. Der Weg zur Askese vollzog sich für Paulinus und Therasia offenbar schrittweise über die uia finitima des otium ruris, die mit der Abreise nach Spanien im Jahr 389 begann und mit dem Aufbruch nach Nola im Jahr 394/95 einen vorläufigen Abschluss fand.

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Auson. 27,21 – Interpretation

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allem aber entsprach der Rückzug in das otium dem aristokratischen secessus in uillam, den auch Ausonius in seinen poetischen Briefe idealisiert vor Augen führt.239 Zusammengefasst stellt sich die Situation wie folgt dar: Paulinus hat sich nach dem Tod seines Bruders in die Einsamkeit Spaniens zurückgezogen und pflegt dort ein otium, das zunächst aristokratischen Vorstellungen entspricht und sich erst langsam zu einer christlichen Form der Askese entwickelt. In dieser Situation schreibt Ausonius nun mehrere poetische Briefe, auf die Paulinus, so die Annahme des Ausonius, bewusst nicht reagiert und auf diese Weise die Gesetze der amicitia und der pietas verletzt. An diesem Punkt setzten die Briefgedichte 21 und 22 an.

3.3 Auson. 27,21 – Interpretation Das Briefgedicht beginnt mit einer Klage über das lange Schweigen des Freundes (Auson. 27,21,1–6). Verschiedene Signalwörter verdeutlichen den klagenden Charakter des Briefes und konnotieren das Verhalten des Freundes negativ, das des dichterischen Ich dagegen positiv: Während das dichterische Ich dem officium pium der Brieffreundschaft durch mehrere Briefe nachgekommen ist, bleibt der Freund, Paulinus, säumig (reses), antwortet (reddere) nicht einmal mit einem Brief (nulla pagina),240 das dem grußbringenden Päckchen (salutiger libellus) verheißungsvolle Gedichtanfänge (fausta orsa) hinzusetzt. Die Klage mündet in die zentrale Frage, womit der eigene unglückliche Brief (non felix charta), den der Freund mit langem Zögern (longo cessatio)241 angewidert verachtet (fastus/ spernere), diese Zurückweisung (repulsa) verdient hat. Darüber hinaus variiert die Passage ein zentrales Element antiker Epistolographie: Die epistolare Klage über das Ausbleiben eines Briefes kennen Cicero, Ovid, Plinius und Symmachus. Aber auch christliche Autoren wie Hieronymus und Ambrosius beklagen sich über die Säumigkeit ihrer Briefpartner.242 Zugrunde liegt jeweils die Auffas239 Vgl. z. B. Auson. 27,4,29–34: Haec et quae possunt placidos offendere mores/ cogunt relinqui moenia,/ dulcia secreti repetantur ut otia ruris,/ nugis amoena seriis,/ tempora disponas ubi tu tua iusque tuum sit/ ut nil agas vel quod voles. 240 Pagina bezeichnet entweder den Brief (Mondin, 1995, 250 mit Verweis auf Prop. 2,21,1: Ah quantum de me Panthi tibi pagina finxit,/ tantum illi, Pantho, ne sit amica Venus.) oder das Gedicht. Vgl. zu den einzelen Begriffen die genaue Analyse Kap. 6. 241 Longo gehört grammatikalisch zu fastu, inhaltlich aber zu cessatio, dazu Mondin (1995) 251 und Amherdt (2004) 104. 242 Vgl. z. B. Cic. fam. 15,16,1; 16,26. Plin. epist. 1,11,1; 2,2; 3,17. Ov. trist. 4,7; 5,13. Ausführlich zur briefpoetischen Klage des Ausonius Kap. 3.5.

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sung, dass Briefe die Hälfte eines Dialogs zwischen Freunden sind. Vollständig werden sie nur durch das Antwortschreiben. Vor diesem Hintergrund bezeichnet das von Ausonius angeführte officium pium die Pflicht, auf die Briefe eines Freundes zu antworten. Das reziproke Prinzip, in dem sich das officium erfüllt, deutet sich in reddere an.243 Auf die einleitenden Verse folgt ein Katalog, in dessen Zentrum die Aussage steht: nil mutum natura dedit (V. 17) – Die Natur hat nichts stumm geschaffen.244 Gerahmt wird diese Aussage von zweimal neun Versen, die angefüllt sind mit Beispielen: In der ersten Hälfte, den Versen 7–15, führt der Ich-Sprecher Beispiele aus der belebten und unbelebten Natur an: Selbst Feinde rufen sich im Gefecht Grußworte zu, das Echo antwortet dem Menschen aus Höhlen und aus Wäldern, das Wasser rauscht oder murmelt, die Hecke summt von Bienen, die Nadeln der Pinien sprechen mit dem Wind, der in sie hineinfährt.245 In der zweiten Hälfte des Katalogs, den Versen 17– 25, fügt Ausonius der natürlichen Geräuschkulisse Töne und Klänge hinzu, die durch menschliche Kunst in der Welt des Kultes erzeugt werden: Der Gesang am Berg der Cybele, dem Dindymus, gibt dem Gesang am Ida Antwort, Zimbeln lassen getroffen vom Schlag, Bühnenbretter, getroffen von Füßen Töne erklingen, ägyptische Klappern treiben den Lärm des Isis-Kultes auf den Höhepunkt.246 Jeder kommunikative Akt ruft, gleich ob ihn die Natur oder menschliche Kunst erzeugt, eine Antwort, hervor. Der Katalog beschreibt aber nicht nur Kommunikation, er ist in gewisser Weise selbst ein kommunikativer Akt. Ausonius webt ihn aus zahlreichen Reminiszenzen, die ein düsteres Gegenbild zu der offensichtlichen bukolischen Szenerie entwerfen: Es geht in den Prätexten und im Katalog auch um Einsamkeit, Trauer und Wahnsinn.247 Die auf die Priamel folgenden Verse schlagen einen Bogen zurück zum Anfang des Briefes und runden die Einleitung und den Katalog mit Hilfe einer Pointe ab (Auson. 27,21,26–31). Diese wird durch das betonte tu am Anfang des Satzes antithetisch eingeleitet und bringt den Adressaten in einen starken Gegensatz einerseits zu den Naturgesetzen, andererseits auch zum Ich-Sprecher, der – im Einklang mit den Naturgesetzen – dem officium 243 Z. B. Symm. epist. 7,129: Officium pium breui pagina … persoluere. Zum Gebrauch der Begriffen officium pium, officium pietatis, officium amicitiae etc. in der Briefliteratur vgl. den Überblick bei Amherdt (2004) 28–29 und ausführlich Brugisser (1993) 135–270. 244 Der Text der Priamel wird entsprechend den Ergebnissen der Untersuchung in Kap. 4.4–4.5 wiedergegeben, d. h. mit Berücksichtigung der von Green (1991) 650 vorgeschlagenen Verschiebung von v. 16 zwischen die vv. 19 und 20 und der durch den Verfasser vorgenommenen Umstellung von v. 12 und 13. 245 Vgl. Ausonius 27,21,7–15. 246 Vgl. Auson. 27,21,17–25. 247 Vgl. dazu Kap. 8, bes. 8.5.

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pietatis gehorcht. Paulinus verstößt durch sein beharrliches Schweigen gegen diese Gesetze. Er verhält sich wie ein Einwohner der Stadt Amyklai248 und wie – hier tritt erstmals im Briefwechsel das Motiv religiösen Schweigens deutlich hervor – der zum Schweigen verpflichtete Anhänger eines ägyptischen Geheimkultes.249 Der Ich-Sprecher erkennt im Schweigen des Paulinus Scham und beschreibt in einem komplexen Gedankengang die psychologische Dimension brieflichen Schweigens (28–31): Das andauernde Versäumnis, nicht geschrieben zu haben, verstärkt das Gefühl der Scham und hindert daran, zu schreiben und die Pflichten der Brieffreundschaft zu erfüllen.250 Ein langes otium macht die Schuld vordergründig annehmbar. Ausonius greift damit einen Gedanken auf, der sprichwörtlich gewesen sein mag: Begabung und Eifer für eine Sache kann man leichter unterdrücken als wiedergewinnen. Faulheit wird angenehm, zunächst verhasste Untätigkeit lieb gewonnen.251 Diesen ersten Teil des Briefgedichtes strukturiert Ausonius als Ringkomposition. Im Mittelpunkt steht der Katalog, der den Lautreichtum der Natur und das reziproke Prinzip von Frage und Antwort verdeutlichen soll. Gerahmt wird er von Klagen über das Schweigen des Freundes. Sie erstrecken sich über je sechs Verse (1–6/26–31) und signalisieren ihre Zusammengehörigkeit auch mit Hilfe ähnlicher Begriffe: cessatio iugis in v. 29 greift z. B. longo cessatio in v. 6, uices … officiorum in den vv. 30 und 31 officium … pium … reddit in v. 3 auf. Die Achse der gesamten Komposition bildet die Sentenz nil mutum natura dedit in v. 17. Um diesen Vers gruppieren sich zwei mal neun Verse mit Beispielen. Gleichzeitig weist der Katalog aber auch Merkmale einer Priamel auf, denn dem Lautreichtum der Natur stellt der Dichter das Schweigen des Paulinus in einer Pointe antithetisch gegenüber. 248 Die Amyklaier waren per Gesetzeserlaß zum Schweigen verpflichtet, weil verunsichernde Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg mit den Spartanern unterbunden werden sollten. Als sich die verbotenen Gerüchte bewahrheiteten und der Feind tatsächlich vor den Toren stand, ging die unvorbereitete Stadt zugrunde. Vgl. Green (1991) 650 und Otto, A.: Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890 (ND Hildeheim 1962), 24. 249 Sigalion, vermutlich eine von Ausonius erfundene Götterbezeichnung, (vgl. Green, 1991, 650) lässt an σιγαω denken und bezeichnet wahrscheinlich den ägyptischen Gott Harpokrates (=Horus), der in den meisten Fällen als Kindgottheit und Sohn der Isis mit dem Finger auf den Lippen abgebildet oder beschrieben wird, vgl. z. B. Ov. met. 1,299 und 9,692. 250 Für einen ähnlichen Gedankengang vgl. Cic. fam. 15,16,1: Puto te iam suppudere quem haec tertia iam epistula ante oppressit quam tu scidam aut litteram. Auch Claud. carm. min. 41,5 (ad Probinum): transfluxere dies et, dum scripsisse priorem/ paenitet, aeternas itur in usque moras. 251 Vgl. den locus classicus Tac. Agr. 3,1–2: (… ) sic ingenia studiaque oppresseris facilius quam reuocaueris: subit quippe etiam ipsius inertiae dulcedo et inuisa primo desidia postremo amatur.

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

Der zweite Abschnitt des Briefgedichtes gliedert sich wiederum in drei Teile: Zwei Abschnitte, die jeweils mit einer Frage beginnen und jeweils 13 Verse umfassen (32–44/62–74) umrahmen die zentrale Passage, in der der Ich-Sprecher den grundlegenden Vorwurf äußert, Paulinus habe seinen Charakter verändert (45–61). Die vv. 32 bis 35 dienen dabei der Verbindung des ersten und zweiten Gedichtteils. Die felices notae, die dem libellus nicht anvertraut werden, erinnern den Leser deutlich an die fausta orsa und den salutiger libellus, auf die der Ich-Sprecher am Beginn des Briefes vergeblich wartet.252 Wer sich hinter dem Fragepronomen quis verbirgt, wer es also verbietet, einen Brief zu schreiben, eröffnet der Ich-Sprecher erst im folgenden Briefgedicht. Mit v. 34 wechselt der Sprecher die Perspektive und spricht nun in der ersten Person Singular. Er entfaltet den zuvor in breuitate parata bereits angedeuteten Gedanken, dass Kürze dem Briefgedicht angemesssen sei. Gefordert sind nicht lange Gedichte und ausgefeilte Rede. Diesen epistolographischen Grundsatz illustriert der Ich-Sprecher nun mit Hilfe zweier Beispiele: Die Spartaner hätten Philipp von Makedonien das Gastrecht mit einem Buchstaben verweigert und den irritierten König so besänftigt: Kürze sei nämlich höflich. Auch der wiedergeborene Pythagoras habe auf wortreiche Fragen mit ›Ja.‹ oder ›Nein.‹ geantwortet. Das sei eine verlässliche Gesprächsregel, denn nichts sei kürzer und gleichermaßen aussagekräftiger als diese beiden Worte, mit denen man Begründetes bekräftige und Unbegründetes zurückweise.253 Schließlich fasst der Ich-Sprecher die angeführten Mahnungen in einer Sentenz, einer goldenen Regel zusammen, Auson. 27,21,44: Nemo silens placuit, multi breuitate loquendi. – Keiner gefällt durch Schweigen, viele durch die Kürze der Rede. Im Zentrum dieser 13 Verse steht die Aufforderung, endlich zu schreiben – und sei es nur ein kurzes ›salue‹ oder ›uale‹. Kürze gilt den antiken Epistolographen als ein wesentliches Element des Briefes. Eingefordert wird sie zumeist nur dann, wenn der Briefpartner eine Antwort schuldig bleibt. Die Mahnung zur Kürze wird so zu einem höflichen Zugeständnis an den Brief-

252 Vgl. Auson. 27,21,4: fausta salutigeris ascribens orsa libellis. Ausführlicher kommentiert werden die Verse 27,21,32–35 Kap. 6.2. 253 Auson. 27,21,36–43. Nach Plutarch (De Garrul. 21 = Mor. 513A) wurde Philipp von Makedonien die Aufnahme in Sparta durch ein einfaches ›Nein‹ verweigert. Ausonius nennt als Abkürzung für das Griechische ὀυ den Buchstaben ›o‹, vgl. Auson. 25,14,5: Hoc tereti argutoque sono negat Attica gens: O. Dazu auch Suid. 4,730,1. Renatus ist bereits Hor. epod. 15,21 Attribut des Pythagoras, der seit Heraclid. Pont. frg. 89 als Reinkarnation des trojanischen Helden Euphorbos gilt. Vgl. auch die Selbstbeschreibung des Pythagoras bei Ov. met. 15,160–164: Ipse ego (nam memini) Troiani tempore belli/ Panthoides Euphorbus eram, cui pectore quondam/ haesit in aduerso grauis hasta minoris Atridae;/ cognoui clipeum, laeuae gestamina nostrae,/ nuper Abanteis templo Iunonis in Argis.

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Auson. 27,21 – Interpretation

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partner: ›Schreibe lieber kurz als gar nicht.‹254 Ausonius führt auf diese Weise einen Gedanken aus, den er zuvor mit den Begriffen officium pium und uices officiorum anklingen ließ: Denn die Epistolographen vebinden mit der Mahnung zur Kürze häufig den Hinweis auf den dialogischen Charakter des Briefes, der das tatsächliche Gespräch ersetzt und so den Dialog zwischen abwesenden Freunden ermöglicht.255 Auf diesen Gesprächscharakter spielt Ausonius durch die Wortwahl an: Während der Ich-Sprecher in den vv. 36–38 mahnt, beim Schreiben Kürze zu wahren, wandelt sich seine Wortwahl in den vv. 38–42: Die breuitas scribendi wird zur breuitas loquendi, das dialogische Element rückt in den Vordergrund. Zusätzlich entwirft Ausonius mit Hilfe der Spartaner und der Pythagoreer ein Gegenbild zu den Amyklaiern und der ägyptischen Gottheit Sigalion: Die Amyklaier gehen im Krieg gegen die Spartaner aufgrund ihres Schweigens unter, die Spartaner dagegen vermeiden durch bündige Aussagen eine Auseinandersetzung mit Philipp. Sigalion ist ein obskurer ägyptischer Gott, Pythagoras dagegen ein Weiser. Mit seiner Hilfe lenkt Ausonius den Blick des Lesers erneut auf die philosophisch-religiöse Dimension des Briefwechsels, denn pythagoreische Lehre beeinflusste neuplatonische und christliche Denker gleichermaßen. Die Neuplatoniker bemühten sich, die authentische pythagoreische Lehre der krotoniatischen Schule zu ergründen. Gleichzeitig entwickelte sich in der zweiten Sophistik ein populärphilosophischer Pythagoreismus, der in Konkurrenz z. B. zur Stoa ethische Belehrung mit dem Ziel persönlichen Glücks anbot.256 Beide pythagoreischen Strömungen beeinflussten seit dem zweiten Jahrhundert auch die Entwicklung christlicher Lehre: Die Lebensregeln pythagoreischer Gemeinschaften wirkten auf die entstehenden frühmonastischen Gemeinschaften, die wissenschaftliche pythagoreische Lehre prägte über den Neuplatonismus die christliche Bil254 Vgl. z. B. Plin. epist. 1,11: Olim mihi nullas epistulas mittis. nihil est, inquis, quod scribam. ad hoc ipsum scribe, nihil esse quod scribas, uel solum illud unde scribere priores solebant: ›si uales bene est; ego ualeo.‹ Plin. ep. 9,100: Teque oro, ut .. saltem litteraria salutatione respondeas. Symm. 4,28: opto has ipsas (sc. epistulas meas), quas tu breues quereris, salutationum uices, dum absumus, inter nos longum manere, und noch eindeutiger der sehr kurze Brief 5,29: Amicum meum ad Brittios reuertentem litteris credidi prosequendum, ut et tibi salutationis munus exsoluerem et illi commendationis aliquid exhiberem. 255 Vgl. z. B. Cic. Att. 9,10,1: Nihil habebam, quod scriberem, neque enim noui quicquam audieram et ad tuas omnes rescripseram pridie, sed cum me aegritudo non solum somno priuaret, uerum ne uigilare quidem sine summo dolore pateretur, tecum ut quasi loquerer, in quo uno aquiesco, hoc nescio quid nullo argumento proposito scribere institui. Noch eindrücklicher Cic. Att. 12,53: Ego etsi nihil habeo, quod ad te scribam, scribo tamen, quia tecum loqui uideor. Der Brief dient hier nicht mehr der Information, sondern der Aufrechterhaltung der Freundschaft. Er wird gewissermaßen zum Selbstzweck. 256 Vgl. dazu Staab (2002) 23–25. Staab unterscheidet in diesem Zusammenhang wissenschaftlichem und populärem Pythagoreismus.

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

dungselite.257 Ausonius wählt mit Pythagoras also eine Gestalt, dessen philosophische Lehre in ihrer spätantiken Form nicht weit entfernt ist von der christlichen Lehre. Hinzu kommt, dass pythagoreische Lehre in einem besonderen Verhältnis zu Rom und Italien und den dort entstehenden Philosophenschulen steht: Pythagoras gründete seine Schule in Unteritalien, und die Pythagoras-Renaissance nahm durch das Wirken des Cicero-Freundes Nigidius Figulus von Rom aus ihren Anfang.258 Als ›römischer‹ oder zumindest heimischer Philosoph wird Pythagoras im Rahmen des Briefgedichtes so zu einer vernünftigen Alternative zu Sigalion, der hier als schweigende Kind-Gottheit für den Schweigen gebietenden Christus stehen mag. Mit den vv. 45 bis 49 leitet Ausonius die zentrale Passage (45–61) des Briefes ein. Nachdem der Ich-Sprecher sich selbst der Geschwätzigkeit bezichtigt hat (immerhin verwendet er auf sein Lob der Kürze 13 Verse), beschreibt er in den vv. 48 und 49 die Maxime seines Handelns: nec possum reticere, iugum quod libera numquam/ fert pietas nec amat blandis postponere uerum. Diesem Gedanken liegt eine Passage aus Ciceros Laelius zugrunde. Laelius erläutert, wie hoch die Anforderungen wahrer Freundschaft sind, Cic. Lael. 91–92: Ut igitur monere et moneri proprium est uerae amicitiae et alterum libere facere, non aspere, alterum patienter accipere, non repugnanter, sic habendum est nullam in amicitiis pestem esse maiorem quam adulationem, blanditiam, adsentationem; (…) delet enim (sc. rerum simulatio) ueritatem, sine qua nomen amicitiae ualere non potest. Wie also zu ermahnen und ermahnt zu werden und das eine freimütig, nicht unhöflich zu tun, das andere geduldig, nicht widerspenstig anzunehmen der wahren Freundschaft eigentümlich ist, so ist auch zu bedenken, daß es in Freundschaftsdingen kein größeres Unheil gibt als Speichelleckerei, Schmeichelei, Gefallsucht; (…) denn das Vorspiegeln falscher Tatsachen zerstört die Wahrheit, ohne die der Begriff der Freundschaft keine Substanz haben kann.

Diese Mahnung ist in der spätantiken Briefliteratur Allgemeingut.259 Dennoch scheint es so zu sein, dass Ausonius den Leser an genau diesen Abschnitt des Dialogs erinnern will. Er führt die im Laelius genannten zentralen Aspekte an: monere wird in non possum reticere aufgegriffen, adulatio, blanditio und adsentatio in blandis; libere facere findet eine Entsprechung in libera pietas, schließlich ueritas in uerum. Allerdings ersetzt Ausonius die uera amicitia durch die libera pietas. So hebt er die Beziehung zwischen Ich257 Vgl. Staab (2002) 25–27 mit weiterführender Literatur. 258 Vgl. Staab (2002) 19–21 mit Verweis auf Cic. Tim. 1 und Ov. met. 15,60 ff. 259 Vgl. z. B. Auson. 27,12,25–26: Haec, domine mi fili Symmache, non uereor ne in te blandius dicta uideantur esse quam uerius; Auch Symm. epist. 1,37,2 (an Ausonius): Quid tam liberum quam amicitia? (…) ita uerum est, quod hodie tibi gratias ago, ut illud non potuerim dissimulare, quod dolui. cassa fide sunt, qui iugiter blandiuntur.

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Auson. 27,21 – Interpretation

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Sprecher und Paulinus von einer freiwilligen freundschaftlichen auf eine durch die Gesetze der pietas normierte Ebene. Das Verhältnis der Briefpartner beruht nicht nur auf Freiwilligkeit, sondern auf gegenseitiger Verpflichtung.260 Seine Verpflichtung, freimütig die Wahrheit zu sagen, erfüllt der Ich-Sprecher im folgenden Abschnitt, der mit der zentralen Aussage des Gedichtes beginnt, Auson. 27,21,50: uertisti, Pauline, tuos, dulcissime, mores. Für diese charakterliche Veränderung des Freundes sind die Schluchten des Baskenlandes und die schneebedeckten Gipfel der Pyrenäen, also die neue spanische Heimat des Paulinus, verantwortlich. Er selbst hat seine alte Heimat offenbar vergessen. Die neue, nordspanische Heimat wird nun mit Spott und Häme überzogen: Wolle Paulinus, das wichtige Mitglied der aquitanischen Aristokratie und des Senates, tatsächlich an den ödesten, von Hannibal, Sertorius und den Bürgerkriegen verheerten Orten Spaniens leben? Wolle er tatsächlich in Birbilis, im zerklüfteten Calagurris oder in der Wüstung Hilerda seine Karriere beenden?261 Ausonius wählt, wie an anderer Stelle gezeigt wurde, die angeführten Städte mit Bedacht: Birbilis war der Geburtsort Martials, Calagurris der Geburtsort Quintilians. Beide verließen Spanien und wurden in Rom berühmt, gingen also den umgekehrten Weg wie Paulinus.262 Die Darstellung Hilerdas lehnt Ausonius an eine Szene in den Pharsalia des Lucan an: Die Stadt ist dort Schauplatz einer blutigen Schlacht, die den Anfang der Kampfhandlungen in Spanien markiert und durch die unberechenbaren spanischen Wetterverhältnisse entschieden wird.263 Paulinus hat sich mit der Hispania Tarraconensis in den Augen des Ich-Sprechers einen denkbar ungünstigen, verödeten, von Kriegen heimgesuchten Wohnort gesucht, der von seinen berühmtesten Bewohnern verlassen worden ist. Spanien wirkt wie ein Ort der Verbannung, wie ein Gegenentwurf zur Aquitania Secunda, die in den Briefgedichten als bukolische Landschaft, als ein zweites Arkadien beschrieben wird.264 An die exsecratio Hispaniae schließt sich der zweite, erneut 13 Verse umfassende Rahmenteil an: Der erste Vers der Passage schlägt den gedanklichen Bogen zurück zum Beginn des zweiten Teils, Auson. 27,21,62: Quis tamen iste tibi tam longa silentia suasit? Die Frage erinnert deutlich an die Verse 32 bis 33 und die dort formulierte Klage: Quis prohibet salue atque uale (…) scribere. Wie zuvor legt der Ich-Sprecher auch an dieser Stelle nicht offen, wer sich hinter dem Fragepronomen quis verbirgt. Anders als zuvor 260 Ausonius hebt diese Verpflichtung am Ende des zweiten Briefgedichtes (Auson. 27,22,32–35) noch einmal hervor, vgl. dazu Kap. 3.4. 261 Auson. 27,21,51–59. 262 Vgl. Mart. 10,103; zu Quintilian Auson. 11,1,7 und dazu Kap. 2.4.2. 263 Lucan, 4,11–16. Für eine genaue Interpretation der Stelle vgl. Kap. 2.4.3. 264 Vgl. für eine ähnliche Passage auch Auson. 27,24,59–94.

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

belegt er den schlechten Ratgeber nun jedoch mit einem starken Fluch, Auson. 27,21,63–68: Impius ut nullos hic uocem uertat in usus; gaudia non illum uegetent, non dulcia uatum 65 carmina, non blandae modulatio flexa querellae; non fera, non illum pecudes, non mulceat ales, non quae pastorum nemoralibus abdita lucis solatur nostras echo resecuta loquellas. Der Frevler, er soll seine Stimme nicht mehr gebrauchen können. Scherze sollen jenen nicht ermuntern, nicht die süßen Lieder der Dichter, nicht der geformte Rhythmus schöner Liebesklage; nicht die wilden Tiere, nicht das Vieh, nicht die Vögel sollen ihn besänftigen, nicht das Echo, das verborgen in den schattigen Hainen der Hirten unsere Gesänge zurückwirft, ihn trösten.265

Wie schon im Katalog des ersten Teils gestaltet Ausonius hier eine bukolische Szenerie, eine ideale Welt, voll von Freuden und Liedern der Dichter, von rhythmischer, schmeichelnder Liebesklage, von Vieh, wilden Tieren und Vögeln, welche die Bewohner dieser Welt liebkosen, vom tröstenden Echo des Gesanges – eine Welt, aus der Paulinus und sein Ratgeber ausgeschlossen bleiben sollen. Sie erinnert an das Paradies, das Meliboeus für Tityrus in der ersten Ekloge entwirft: Der vom Glück und seinem jungen Gott begünstigte fortunatus senex, Tityrus, muss seine Heimat nicht verlassen. Er lebt in der schattigen Kühle ihm vertrauter Flüsse, Bienen summen in der Hecke und laden zum Schlaf ein, der Laubscherer singt, Tauben und Turteltauben rufen.266 Die Parallelität der Gedanken könnte Zufall sein, wenn nicht zum 265 Aufgrund seiner komplexen Syntax wird der Text hier noch einmal gegeben. Kommentatoren und Übersetzer verstehen die Verse Auson. 27,21,67–68 anders und ziehen das Subjekt echo vor den Relativsatz und werten solatur als Prädikat des Relativsatzes, vgl. Dräger (2002) 89: »mögen keine Freuden ihn begeistern, keine süßen Lieder der Dichter, keine wechselnde Weise der schmeichelnden Klage, kein Wild, kein Herdenvieh, kein Vogel ergötzen, kein Echo, das, verborgen in waldigen Hainen der Hirten zurückkehrend unsere Reden tröstet.« Ähnlich übersetzen Evelyn White (1919) 119 und Amherdt (2004) 115. Zwei Gesichtspunkte sprechen jedoch m. E. dafür, echo nicht zu mulceat zu ziehen, sondern solatur als Prädikat in den Hauptsatz zu ziehen und eum als Akkusativobjekt zu ergänzen: Erstens beziehen sich alle vorausgehenden Prädikate – uertat, uegetent und mulceat – jeweils auf den impius; warum sollte es sich im Fall von solatur, das inhaltlich in dieselbe Reihe gehört, anders verhalten? Warum soll hier das Echo die Gesänge des Ich-Sprechers trösten? Kann man Gesänge überhaupt trösten? Zudem ergibt sich, wenn wir solatur in den Hauptsatz ziehen, folgendes Schema: uertat wird mit einem Subjekt konstruiert, uegetent mit drei Subjekten, mulceat mit drei Subjekten, solatur mit einem, also 1+1,1+3,1+3,1+1. Diese Symmetrie wird gestört, wenn echo auf mulceat bezogen wird. Zur Frage der Überlieferung des Verses vgl. Kap. 4.5.2. 266 Verg. ecl. 1,46–58: Fortunate senex, ergo tua rura manebunt./ et tibi magna satis, quamuis lapis omnia nudus/ limosoque palus obducat pascua iunco:/ non insueta grauis tempta-

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Auson. 27,21 – Interpretation

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einen die erste Ekloge Vergils eine besondere Rolle für den Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus spielte: Immer wieder greifen sie Motive der ersten Ekloge, unter anderem das des fortunatus senex auf.267 Zum anderen stellt Ausonius den Idealen der lebendigen und lautreichen bukolischen Welt in den folgenden vv. 69–72 gleichsam als Gegenentwurf die Grausamkeit eines Exilortes gegenüber: An die Stelle von gaudia tritt tristis, egens kontrastiert mit dem gesamten Reichtum, tacitus mit dem Lautreichtum der bukolischen Welt, deserta steht den wilden Tieren, dem Vieh, den Vögeln und zuletzt den Hirten in ihren Hainen gegenüber. Der schlechte Ratgeber soll alles verlieren, was die Welt und das Leben des Dichters wertvoll werden lässt. Dichterische Welt und Welt ohne Dichtung stehen sich hier antithetisch gegenüber.268 Illustriert wird diese Szene durch das Beispiel des Bellerophontes, der wahnsinnig geworden die Einsamkeit der aleischen Felder aufsuchte. Das Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich für den Gang der Argumentation, denn es birgt eine direkte Kritik am Verhalten des Paulinus und spielt zudem auf die historische Situation des frühchristlichen Mönchtums an. Der Mythos von Bellerophontes lebte von Homer bis in die Spätantike in verschiedenen Versionen fort, die alle auf ein ähnliches Ende hinauslaufen. Homer beschreibt ihn im sechsten Buch der Ilias als Heros, der die Chimäre und das Volk der Salymer besiegt, zuletzt aber den Göttern verhasst und wahnsinnig geworden über die aleischen Felder irrt: Ares erschlägt seinen Sohn Isandros, Artemis tötet seine Tochter Laodamia.269 In der 13. Ode des Pindar gewinnt Bellerophontes seine Kämpfe mit Hilfe des Pegasus und verfällt letztlich dem Wahnsinn, weil er sich über die Götter erhebt.270 Euripides schließlich stellt ihn in der bruchstückhaft überlieferten Tragödie ›Bellerophontes‹ als Naturforscher dar, der sich bemüht, mit Hilfe des Pegasus den Olymp zu erreichen und die Wohnungen der Götter zu schauen. Zeus straft seine mangelnde Ehrfurcht: Eine Bremse sticht den Pegasus, Bellerophontes bunt pabula fetas,/ nec mala uicini pecoris contagia laedent./ fortunate senex, hic inter flumina nota/ et fontis sacros frigus captabis opacum./ hinc tibi quae semper uicino ab limite saepes/ Hyblaeis apibus florem depasta salicti/ saepe leui somnum suadebit inire susurro:/ hinc alta sub rupe canet frondator ad auras;/ nec tamen interea raucae, tua cura, palumbes,/ nec gemere aeria cessabit turtur ab ulmo. Dass zwischen Auson. 27,21 und Verg. ecl. 1 eine enge Beziehung besteht wird bereits im Katalog deutlich, vgl. Auson. 27,21,12 (Hyblaeis apibus saepes depasta susurrat) und Verg. ecl. 1,54–55(Hyblaeis apibus florem depasta salicti/ saepe leui somnum suadebit inire susurro). Zur Beziehung der Stellen vgl. Kap. 4.4.2. Zur Bedeutung der ersten Ekloge für den Briefwechsel vgl. grundsätzlich Roberts (1985) passim. 267 Vgl. Roberts (1985) passim. 268 Für eine ausführliche Interpretation dieser Stelle vgl. Rücker (forthcoming 2012/13). 269 Vgl. Hom. Il. 6,155–205. Der Wahnsinn des Bellerophontes und der Tod der Kinder 200–205. 270 Vgl. Pind. O. 13.

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

stürzt vom Flügelpferd und irrt mit Wahnsinn geschlagen und erblindet über die aleischen Felder.271 Auf welche Version des Mythos Ausonius an dieser Stelle zielt, gibt er in der zweiten Hälfte von v. 71 mit der Formulierung hominum et uestigia uitans zu erkennen. Sie erinnert den Leser an eine Passage aus den Tusculanen, Cic. Tusc. 3,63: Ex hoc euenit, ut in animi doloribus alii solitudines captent, ut ait Homerus de Bellerophonte ›Qui miser in campis maerens errabat Aleis/ Ipse suum cor edens, hominum uestigia uitans;‹ et Nioba fingitur lapidea propter aeternum, credo, in luctu silentium, … sunt autem alii, quos in luctu cum ipsa solitudine loqui saepe delectat. So geschieht es, dass die einen in ihrem seelischen Schmerz die Einsamkeit suchen, wie es Homer über Bellerophontes sagt: ›Der elend und trauernd auf den Aleischen Feldern umherirrte, er selbst sein Herz verzehrend, die Spuren der Menschen meidend.‹272 Auch Niobe wird, glaube ich, in Stein verwandelt aufgrund des ewigen Schweigens in der Trauer. (…) es gibt aber auch andere, die es oft erfreut, in ihrer Trauer mit der Einsamkeit selbst zu sprechen.

Im dritten Buch der Tusculanen diskutiert Cicero in der Rolle des Hauptredners verschiedene Möglichkeiten, mit schweren Schicksalsschlägen, besonders mit dem plötzlichen Verlust von Kindern umzugehen. Er unterscheidet zunächst gute und schlechte Formen der Trauer: Vernünftig ist ein maßvoller Umgang mit Schmerz, unvernünftig dagegen die Hingabe an die Trauer, die dann nur noch mit Hilfe anderer überwunden werden kann.273 In diesem Kontext deutet Cicero die Iliasverse über Bellerophontes neu. Aufgrund des Verlustes zweier Kinder, der Laodamia und des Isandros, geht Bellerophontes den falschen Weg. Er flieht in die Einsamkeit und verzehrt sich selbst in 271 Vgl. Eur. B. TGF fr. 285–315 und dazu die ausführliche Darstellung von Rapp, A.: Art. Bellerophon, Roscher Bd. 1, 757–774. 272 Vgl. Hom. Il. 6,196–205. 273 Vgl. die Passage Cic. Tusc. 3,58–64, hier nur die für den Kontext des Briefgedichtes grundlegenden Gedanken: 58 Similiter commemorandis exemplis orbitates quoque liberum praedicantur, eorumque qui grauius ferunt luctus aliorum exemplis leniuntur; sic perpessio ceterorum facit, ut ea, quae acciderint multo minora quam quanta sint existimata uideantur. (…) 60–62: et enumeratio exemplorum, non ut animum maliuolorum oblectet, adfertur, sed ut ille, qui maeret ferundum sibi id censeat, quod uideat multos moderate et tranquille tulisse. omnibus enim modis fulciendi sunt qui ruunt nec cohaerere possunt propter magnitudinem aegritudinis. (…) sed ad hanc opinionem magni mali cum illa etiam opinio accessit, oportere, rectum esse, ad officium pertinere ferre illud aegre quod acciderit, tum denique efficitur illa grauis aegritudinis perturbatio. ex hac opinione sunt illa uaria et detestabilia genera lugendi, (…). Es folgen verschiedene Beispiele, u. a. Bellerophontes.

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Auson. 27,21 – Interpretation

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Trauer.274 Ausonius nimmt diese Deutung auf, indem er mit der Wendung hominum et uestigia uitans einen Teil der Ilias-Übersetzung Ciceros fast wörtlich übernimmt. Der Inhalt des Prätextes – die deutliche Kritik an einem falschen Umgang mit Tod und Trauer – wirkt so in das Briefgedicht hinein: Wie der mythische Bellerophontes nimmt Paulinus nach dem Tod des Bruders und Sohnes den falschen Weg, indem er sich zurückzieht und in der Einsamkeit trauert: Wahnsinn könnte die Folge sein. Hier zeigt sich, dass zumindest Ausonius im Tod des Celsus einen Grund für das Verhalten seines Schülers Paulinus sieht.275 Gleichzeitig erinnert Ausonius durch die Wortwahl an Lebensgewohnheiten der frühen Mönche, die sich als Einsiedler in die Wüste oder andere verlassene Gegenden (deserta loca) und in die Einsamkeit (solitudines) zurückzogen.276 Begründet wurde dieser Rückzug vor allem mit theologischen Argumenten: Mönche sollten sich, wie es z. B. in der Vita Antonii formuliert wird, ohne Ablenkung der Kontemplation und ihrem Glauben widmen.277 Dass nicht jedem diese Lebensform lag, beobachtete Hieronymus. Er berichtet in einem Brief über maßlose Enthaltsamkeit und die dadurch bedingte Entwicklung depressiver Züge bei einigen Mönchen, Hier. epist. 125,16: Sunt qui humore cellarum immoderatisque ieiuniis, taedio solitudinis ac nimia lectione … uertuntur in μελαγχολίαμ et Hippocratis magis fomentis quam nostris monitis indigent. Es gibt aber auch Mönche, die aufgrund der Feuchtigkeit ihrer Kammer und wegen maßlosen Fastens, aufgrund ihres Ekels vor der Einsamkeit und zuviel Gelehrsamkeit depressiv werden und eher den Linderungsmitteln eines Arztes als unserer Unterweisung bedürfen.

Scharfe Kritik an der Lebensgewohnheit der Mönche äußerte schließlich Rutilius Namatianus in seinem Reisegedicht De reditu suo: Auf Capraria lebten lichtscheue Gestalten, die sich selbst den griechischen Beinamen ›Mönche‹ gegeben hätten, weil sie allein leben wollten: Glück verabscheuten sie, während sie das Unglück verehrten. Welcher Wahnsinn eines verdrehten Geistes denke sich so etwas Dummes aus, das Gute nicht dulden zu können, so lange man das Schlechte fürchte! Gleich, ob die Mönche wie Sträflinge die 274 Neu ist die Deutung Ciceros insofern, als aus Il. 6,200–205 hervorzugehen scheint, dass Bellerophontes wahnsinnig wurde, bevor die Kinder starben. Vgl. die sehr kurze Bemerkung bei Dougan/Henry (1934) 777; zu der Umdeutung durch Cicero auch Doblhofer (1970) 8–9. 275 Paulinus antwortet in carm. 10,156–182 auf diese Kritik m. E. mit einer Mythenkorrektur, indem er dem wahnsinnigen Bellerophon der Ilias, den forschenden Bellerophon der euripideischen Tragödie entgegenstellt. 276 Vgl. für das folgende grundlegend Mondin (1995) 264–265 mit weiterführender Literatur. 277 Vgl. z. B. Vita Antonii 49,2: Vox autem ad illum dixit: ›Si autem uere secedere uis, et in silentio esse, uade nunc in desertum interiorem.‹

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

Strafen ihrer Taten wiederholten, gleich, ob sie ihr trauriges Seelenleben mit schwarzer Bitterkeit aufbliesen – schon Homer habe zu großen Wahn der von Bellerophontes gewählten Einsamkeit zugeschrieben: Denn diesem jungen Mann scheine, verletzt von den Spitzen eines wütenden Schmerzes, das Menschengeschlecht missfallen zu haben.278 Dass diese Kritik nicht nur auf antichristliche oder antiasketische Propaganda, sondern auch auf tatsächliche Schwierigkeiten im Umgang mit den Mönchen zurückzuführen ist, zeigt ein Erlass des Theodosius und seines (heidnischen) Prätors Tatian aus dem Jahr 390, CTh 16,3,1: Quicumque sub professione monachi repperiuntur, deserta loca et uastas solitudines sequi atque habitare iubeantur. Jeder, der als Mönch bekannt war, sollte sich in verlassenen und öden Gegenden aufhalten. Theodosius und seine Verwaltung reagierten mit diesem Erlass erstens darauf, dass in lockeren Verbünden organisierte Mönchshorden heidnische Tempelanlagen brandschatzten und plünderten. Zweitens versuchte man so vielleicht zu verhindern, dass Bettelmönche in die Städte einfielen und beispielsweise die Erbschaften reicher konvertierter Witwen an sich brachten.279 Ausonius arbeitet also auf zwei Ebenen: Auf der einen Ebene nutzt er den Mythos von Bellerophontes, um die Lebensgewohnheit der Mönche als unzivilisiert zu kennzeichen. Auf der anderen Ebene verwendet er die Tusculanen, um die Lebensweise des Paulinus deutlich zu kritisieren. Das düstere Ende des Briefgedichtes wird schließlich in den vv. 73–74 durch eine inuocatio Musarum aufgehellt, die das eigentliche Ziel des Schreibens zum Ausdruck bringt. Zwar sollen die Musen Griechenlands, die Gottheiten Boeotiens sein Gebet, d. h. den Fluch erhören, und den Ratgeber 278 Rut. Nam. 1,439–452: Processu pelagi iam se Capraria tollit;/ squalet lucifugis insula plena uiris./ ipsi se monachos Graio cognomine dicunt,/ quod soli nullo uiuere teste uolunt./ munera Fortunae metuunt, dum damna uerentur:/ quisquam sponte miser, ne miser esse queat?/ quaenam peruersi rabies tam stulta cerebri,/ dum mala formides, nec bona posse pati?/ siue suas repetunt factorum ergastula poenas,/ tristia seu nigro uiscera felle tument,/ sic nimiae bilis morbum assignauit Homerus/ Bellerophonteis sollicitudinibus:/ nam iuueni offenso saeui post tela doloris/ dicitur humanum displicuisse genus. Für eine ausführliche Interpretation der Stelle vgl. Doblhofer (1970) passim und zusammenfassend Jenal (1995) I, 429–431. 279 Zu den verschiedenen Gründen, die hinter CTh 16,3,1 stehen, vgl. Caner (2002) 199– 200. Den schlechten Ruf der Bettelmönche und Bettler sub habitu monachorum, der auf die ›echten‹ Mönche abfärbt, reflektiert auch Aug. op. monach. 28,36: O serui dei, milites Christi, itane dissimulatis calidissimi hostis insidias, qui bonam famam uestram (…) omni modo cupientes obscurare putoribus suis, tam multos hypocritas sub habitu monachorum usquequaque dispersit, circumeuntes prouincias, nusquam missos, nusquam fixos, nusquam stantes, nusquam sedentes. (…) et omnes petunt, omnes exigunt aut sumptus lucrosae egestatis aut simulatae pretium sanctitatis (…) sub generali nomine monachorum uestrum propositum blasphematur, tam bonum, tam sanctum, quod in Christi nomine cupimus, sicut per alias terras, sic per totam Africam pullulare.

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Auson. 27,22 – Interpretation

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verbannen, gleichzeitig sollen sie aber den Dichter Paulinus zu den Musen Latiums, das heißt in die Welt der Dichtung, die innerhalb des Briefwechsels durch bukolische Ideale gekennzeichnet ist, zurückrufen. Der Brief erhält auf diese Weise anders, als es der vorausgehende Fluch auf den Ratgeber erahnen lässt, ein offenes Ende, das verschiedene Möglichkeiten der Fortsetzung zulässt.280

3.4 Auson. 27,22 – Interpretation Dem zweiten Brief des Ausonius an Paulinus ist in der Forschung weniger Aufmerksamkeit geschenkt worden als dem ersten. Die 35 Verse wirkten auf die Kommentatoren entweder wie ein heiteres und auf die Überzeugungskraft der Dichtung vertrauendes Vorspiel oder, gerade umgekehrt, wie ein kurzer, verärgerter Nachsatz zu Brief 21.281 Der Briefanfang (vv. 1–7), eine erneute Klage über das Schweigen des Freundes, weist in Struktur und Inhalt Ähnlichkeiten, aber auch kleine Unterschiede zu Brief 21 auf: An die Stelle des einleitenden quarta im ersten Brief tritt hier proxima, detexit (Auson. 27,21,1) wird durch fuerat ersetzt, das jedoch eine andere syntaktische Funktion übernimmt. Querimonia schließlich tritt an die Stelle von epistula (21,1). Der parallele Versaufbau wird gebrochen durch die Satzkonstruktion: Anders als in Auson. 27,21,1–2 wird der Satz hier durch ein Prädikat in der ersten Person Singular regiert, das an erster, also betonter Position steht: credideram. Der Tonfall des Briefes wird so persönlicher und m. E. auch schärfer. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Ersetzungen in den folgenden Versen: Während an die Stelle von lacessere (Auson. 27,21,2) zwei gleichsam neutrale Wörter – inflectere und elicere – treten, wird blando sermone durch das schärfere blanda obiurgatio ersetzt.282 Der folgende Gedanke – du aber schweigst weiterhin – wird wie schon in Brief 21 eingeleitet durch sed. In ihm wird das ebenfalls bereits bekannte Motiv des religiösen Schweigens 280 Wie offen dieses Ende ist, zeigen unter anderem die Vergil-Reminiszenzen haec precor hanc uocem und accipite, die den Leser jeweils auf den Fluch verweisen, den Dido Verg. Aen. 4,607–621 gegen Aeneas ausspricht. Hier soll jedoch nicht zuviel vorweggenommen werden, vgl. dazu Kap. 7.2. 281 Vgl. z. B. Amherdt (2004) 90: »Et de fait, comparé aux deux autres lettres postérieures à la conversion de Paulin qui ont été conservées (epist. 21 et 24), notre texte se distingue par la modération du ton adopté par Ausone. Certes, la lettre a réellement pour but de faire sortir Paulin de son mutisme; mais Ausone semble être serein et confian.« Anders dagegen Green (1991) 653. Zur Reihenfolge der Briefe vgl. Kap. 5.3. 282 Obiurgatio und das gewissermaßen antithetische blanda in diesem Zusammenhang sonst nur bei Symm. epist. 5,44: Dissimulati officii obiurgatione morderis in epistula blandiore, qua tibi refero sermonis accepti.

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

wieder aufgegriffen und wie in Auson. 27,21,26 in einem Vergleich zum Ausdruck gebracht: Paulinus verhält sich wie jemand, der sich durch einen Opferschwur zum Schweigen verpflichtet hat. Auch wenn hier nicht explizit von der conversio des Paulinus gesprochen wird, weiß Ausonius offenbar von der neuen Bedeutung des Religiösen im Leben des Freundes.283 Abgeschlossen wird die einleitende Passage mit einer Frage: Darf Paulinus nicht antworten oder schämt er sich seines alten Freundes? Beide Motive sind bereits aus Brief 21 bekannt: non licet greift v. 32 – quis prohibet ›salue‹ atque, ›uale‹ breuitate parata – auf, anne pudet den Schluss von v. 28 – agnosco pudorem. Das Motiv der Scham wird jedoch in einen neuen Kontext gestellt: In Brief 21 konstatiert der Ich-Sprecher, dass Paulinus sich seines Verhaltens und seines Schweigens schämt und aus diesem Grund nicht schreibt. Hier rückt dagegen die Frage in den Mittelpunkt, ob Paulinus sich seines Freundes schämt. Dieser neue Gedanke wird am Ende des Briefes noch einmal aufgenommen und ausgestaltet werden. Das Mittelstück des Briefes (vv. 8–31) ist mit 24 Versen der bei weitem umfangreichste Teil des Gedichtes. Es beginnt in den Versen 8–12 mit einer Aufforderung an Paulinus, den Briefwechsel beizubehalten. Auch in dieser Passage stellt Ausonius eine Beziehung zu dem vorausgehenden Brief her. Bitten um Antwortschreiben kennt der Leser bereits aus Brief 21. Während die entsprechenden Bitten dort allerdings immer indirekt formuliert und mit Beispielen aus Geschichte und Mythologie unterlegt werden, spricht das poetische Ich seinen Wunsch jetzt erstmals direkt und schnörkellos aus, vv. 8– 10: at tibi nullus/ sit metus et morem missae acceptaeque salutis/ audacter retine. Die Aufforderung, den Briefwechsel beizubehalten, entspricht nicht nur spätantiker Brieftopik, sie ist in ganz ähnlichen Formulierungen mehrfach bekannt aus dem Briefcorpus des Symmachus.284 Gleichzeitig entwickelt Ausonius mit Hilfe der Motive ›Furcht‹, ›Verrat‹ und ›Kühnheit‹ einen neuen Argumentationsstrang, der den Leser auf eine Veränderung im Sujet der Gattung vorbereitet. Während das poetische Ich in Brief 21 als Ursache und Ergebnis des Schweigens gleichermaßen Scham erkennt, tritt die Scham 283 Viel diskutiert worden ist, ob die Stelle auf eine Verwicklung des Paulinus in die Priscillianer-Prozesse hindeutet, die Mitte der 380er Jahre in Bordeaux stattfanden und mit der Hinrichtung ihrer wichtigsten Hauptleute endete, vgl. z. B. Mondin (1995) 243 und Amherdt (2004) 92. Green (1971) 15 führt verschiedene Argumente für eine Affinität zu den Priscillianern an und schließt seine Überlegungen mit den Worten: »There remains a strong possibility that Paulinus was attracted by the sect, which is not refuted by the silence of Paulinus’ summary biography or his distaste for speculative theology.« Auch die hier besprochene Stelle führt Green an: Die Formulierung perstas in lege tacendi weise auf den Hang der Priscillianer zur strengen Geheimnisbewahrung hin. Mondin (1995) 243 verweist allerdings zu Recht darauf, dass eine Zugehörigkeit oder Affinität des Paulinus zu den Priscillianern bisher nicht schlüssig nachgewiesen werden konnte. 284 Vgl. z. B. Symm. epist. 6,49, für weitere Beispiele vgl. Mondin (1995) 244 zur Stelle.

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Auson. 27,22 – Interpretation

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hier hinter die Furcht vor dem proditor und dem quaesitor zurück. Sie treten als vermutete Auslöser des Schweigens an die Stelle des unbekannten schlechten Ratgebers aus Brief 21. Wer sich hinter ihnen verbirgt, bleibt weiter offen. Für den Fall, dass Paulinus tatsächlich eine Überprüfung durch diese beiden Schreckgespenster fürchtet, fordert der Ich-Sprecher den Freund schließlich auf, sein ingenium zu nutzen, um sowohl das Geheimnis ihrer Brieffreundschaft zu wahren als auch den Briefwechsel fortzusetzen. Die Aufforderung occurre ingenio wird illustriert durch einen Katalog, der im ersten Teil drei Beispiele aus der Mythologie, im zweiten Teil zwei Beispiele aus der ›Praxis‹ antiker Geheimsprachen bietet und Paulinus in gewisser Weise Hilfestellung bei der Abfassung des Briefes bieten soll. Unter gattungsspezifischen, strukturellen und auch inhaltlichen Gesichtspunkten ähnelt dieser Teil einem kleinen Lehrgedicht. Gegenstand ist die ars celandi. Um seinem Schüler die Kunst, einen Brief in Geheimschrift zu verfassen, zu vermitteln, begibt sich der Ich-Sprecher in die Rolle des Lehrers und postuliert in einem ersten Schritt durchaus spöttisch ein bestimmtes Problem, das es mit Hilfe des Verstandes zu überwinden gilt: die Furcht vor dem proditor und dem quaesitor. Mit Hilfe des kurzen Katalogs führt der Lehrer schließlich vor Augen, dass die Abfassung eines Briefes auch unter widrigen Umständen möglich ist.285 Ausonius schließt den Mittelteil durch ein Resümee in den vv. 28–31, das in Verbindung mit der einleitenden Aufforderung, den Briefwechsel beizubehalten, den Rahmen des Katalogs bildet. Dazu führt er den aus der Einleitung des Katalogs bekannten Argumentationsstrang fort: Furcht vor Verrat und dem crimen amicitiae stehen weiterhin im Mittelpunkt. Allerdings löst das poetische Ich jetzt in einem kurzen Nachsatz auf, wer sich hinter dem proditor, dem quaesitor und dem schlechten Ratgeber aus dem vorausgehenden Brief verbirgt. Es ist die Tanaquil des Paulinus, die in der Argumentation des poetischen Ichs dessen Ehefrau Therasia symbolisiert. Tanaquil, die mythische Ehefrau des Tarquinius Priscus, verkörpert bereits bei Livius eine karrierebewusste Frau. Als standesbewusste Frau von höchster Herkunft kann sie es nicht dulden, dass die Karrierre ihres Mannes, der Sohn korinthischer Auswanderer ist, an der Arroganz der etruskischen Gesellschaft scheitert. Sie überzeugt – die Liebe zur Heimat vergessend – ihren Mann davon, nach Rom auszuwandern und sieht ihre Hoffnung auf eine glänzende Zukunft durch ein Vogelprodigium bestätigt. Tatsächlich wird Tarquinius, nachdem er die Söhne des Ancus Marcius durch eine List von der Königswahl ferngehalten hat, selbst zum König gewählt.286 Nach 38 Jahren guter Herrschaft lassen die Söhne des Ancus schließlich ein Attentat

285 Der Katalog und die einzelnen Beispiele werden ausführlich besprochen in Kap. 9. 286 Liv. 1,34,4–35,6.

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

auf ihn verüben, durch das er tödlich verwundet wird. Darauf greift Tanaquil erneut in das Geschehen ein. Es gelingt ihr, das Schicksal durch eine List zu ihren Gunsten zu drehen. Sie täuscht eine nur leichte Verwundung des bereits verstorbenen Königs vor und läßt ihren Schwiegersohn, Servius Tullius, dessen Aufstieg zur Macht sie bereits vorausgesehen hatte, mit der Billigung des Volkes die Amtsgeschäfte bis zur angeblich baldigen Genesung des Tarquinius führen. Als dessen Tod verkündet wird, bestätigen die Senatoren Servius Tullius im Amt. Das Volk muss sich mit dem Status quo abfinden.287 Charakteristisch für die Darstellung der Tanaquil bei Livius ist einerseits die tugendhafte Unterstützung der politischen Karrieren von Mann und Schwiegersohn, andererseits aber auch ihr Ehrgeiz, der die Grenze zum Egoismus überschreitet: Oft scheint es ihr in erster Linie eher um den Zuwachs und die Erhaltung der eigenen Macht zu gehen, zu deren Sicherung sie in kritischen Phasen ihren Einfluss geltend macht.288 Ausonius evoziert mit der Formulierung Tanaquil tua nesciat istud vermutlich sowohl die historiographische Schilderung des Livius als auch die Parodie der Tanaquil durch Iuvenal als Prätexte: Der Tanaquil des Livius bedeutet die Liebe zu ihrem Vaterland nichts. Nur um ihren Mann geehrt zu sehen, beschließt sie auszuwandern. Aus diesem Grund gelingt es ihr, den nicht weniger ehrgeizigen Tarquinius von ihrem Vorhaben zu überzeugen.289 Die Episode ist als Folie geschickt gewählt, erliegt doch Paulinus – das soll offenbar in den Kontext des Briefwechsels übertragen werden – wie Tarquinius den Einflüsterungen seiner Frau, der schlechten Ratgeberin, und vergisst daraufhin selbst sein Vaterland. Verschärft wird der Tonfall durch eine deutlicher zu erkennende Bezugnahme auf die sechste Satire des Iuvenal. Das poetische Ich warnt in der sechsten Satire zunächst ganz allgemein vor einer Heirat, da mit der festen Bindung an eine Frau das Unglück über den Mann hereinbreche. Diese allgemeine Warnung wird schließlich in mehr als 600 Versen mit Hilfe drastischer Beispiele verdeutlicht. In einer Passage gegen Ende der Satire warnt das Ich davor, sich auf eine Frau einzulassen, die sich mit Astrologie befasst. Der größte Wunsch dieser Tanaquil sei es, mit Hilfe der Astrologen den Todeszeitpunkt ihres Ehemannes und

287 Liv. 1,40,1–41,7. 288 Die ältere Forschung neigt dazu, bereits in der von Livius beschriebenen Tanaquil den Inbegriff weiblicher römischer Tugend zu sehen, so z. B. F. Schachermeyr, Art. Tanaquil, RE 2. Reihe, Bd. 4, 2 (1932) 2172–2173. Vgl. dazu aber die Formulierungen bei Livius. 289 Vgl. Liv. 1,34: Spernentibus Etruscis Lucumonem (sc. Tarquinium) exsule aduena ortum, ferre indignitatem non potuit [sc. Tanaquil], oblitaque ingenitae erga patriam caritatis, dummodo uirum honoratum uideret, consilium migrandi ab Tarquiniis cepit. Roma est ad id aptissima uisa. in nouo populo, ubi omnis repentina atque es uirtute nobilitas sit, futurum locum forti ac strenuo viro; (…) facile persuadet ut cupido honorum et cui Tarquinii materna tantum patria esset. Sublatis itaque rebus amigrant Romam.

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Auson. 27,22 – Interpretation

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ihrer übrigen Verwandten zu erfahren.290 Verfüge sie selbst über, wenn auch rudimentäre Erfahrung in der Astrologie, entscheide sie in wichtigen und unwichtigen Dingen nur nach Befragung der Sterne und zwinge ihrem Mann ihre Entschlüsse auf.291 Das bei Livius bereits angelegte Bild der ehrgeizigen und männerlenkenden Tanaquil findet sich hier in voll ausgebildeter Form. Tanaquil steht als femme fatale gleichsam symbolisch für eine skrupellose Ehefrau. Die Gemeinsamkeit der von Livius und Juvenal beschriebenen Frauen besteht in ihrem Hang zur Mantik und in ihrem Willen, Einfluss auf die Männer zu nehmen. Beide Charaktereigenschaften werden in der Satire allerdings ins Groteske verzerrt: Die femme fatale des Juvenal wirkt wie eine boshafte Parodie der von Livius beschriebenen Frau. Der Briefschluss in den vv. 32 bis 35 leistet unter dem Aspekt der Gedankenführung dreierlei. Pathos und Emphase prägen die gesamte Passage. Die einleitende Aufforderung, andere zu verachten und den Vater anzusprechen, ist syntaktisch einfach gehalten, der Vers aber sorgfältig komponiert: Dem in v. 32 in der betonten Anfangsposition stehenden tu wird gleichsam als Pendant parentem in der noch stärker betonten Endposition gegenübergestellt. Sie bilden den Rahmen des Verses, in den die Imperative contemne und dedignare eingebettet werden. Die folgenden Verse, die Begründung der Aufforderung, greifen die in tu und parens angelegte Spannung wieder auf: Der Ich-Sprecher ist, wie ein Vater, Nährer, Lehrer und Förderer, das Gegenüber, der Brieffreund, ein zu Dank verpflichteter Empfänger. Das bereits in den v. 32 und 33 erzeugte Pathos wird hier noch verstärkt durch das das Enjambement ille praeceptor, den lautlich von Alliteration und Reim geprägten v. 34 (praeceptor primus, primus largitor), schließlich durch die deutliche Inversion des Relativpronomens qui, durch die der letzte Vers einen feierlichen Abschluss des Gedichtes bietet. Inhaltlich wird die gesamte Schlusspartie so erstens zu einer naheliegenden Schlussfolgerung des vorher Gesagten: Paulinus soll sich nicht auf die schlechte Ratgeberin Therasia, welche die Eigenschaften eines proditor, eines quaesitor und einer Tanaquil in sich vereint, verlassen, sondern auf denjenigen, der tatsächlich etwas für ihn getan hat. Zweitens wirkt die Schlusspartie wie eine folgerichtige Fortsetzung des Briefanfangs: Entsprechend der dort formulierten Klage über das lange Schweigen des Freundes und entsprechend seiner Vermutung, hinter dem Schweigen stünden Scham und Furcht, fordert der Ich-Sprecher hier wie zu Beginn des Mittelteils, das Verhalten zu ändern. Diese Forderung ist hier aber nicht mehr allein auf das briefliche Schweigen bezogen, sondern auf die grundsätz-

290 Vgl. Iuv. 6,565–568: Consulit ictericae lento de funere matris,/ ante tamen de te Tanaquil tua, quando sororem/ efferat et patruos, an sit uicturus adulter/ post ipsam; quid enim maius dare numina possunt? 291 Vgl. Iuv. 6,569–584.

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

liche Haltung, die im Schweigen sichtbar wird.292 Auffällig ist, dass die Brieftopik in diesem zweiten Brief grundsätzlich nicht so ausgeprägt ist wie in dem vorausgehenden Brief. Topisch sind zwar die anfängliche Klage über das Schweigen, die Vorstellung vom Brief als Gespräch zwischen Abwesenden (22,3: uocem elicere; 22,33: affari uerbis), darüber hinaus weist der Brief aber stärkere Züge eines Lehrgedichtes auf: Die kurze Einleitung und der ebenso kurze Schlussteil rahmen also drittens das kleine Lehrgedicht, dessen Gegenstand die ars celandi et scribendi ist, und verleihen diesem so das Gepräge eines Briefes.

3.5 Poetisches Klagen 3.5.1 Ausonius und die briefliche Tradition

Charakteristisch für die Briefe 21 und 22 des Ausonius ist die beständige Klage über die Pflichtvergessenheit des Freundes, der auf mehrere Briefe nicht geantwortet hat. Begriffe wie questus in Brief 21,1 und querimonia in Brief 22,1 signalisieren gleich am Anfang des jeweiligen Briefes diesen klagenden Charakter und dienen Ausonius zur Steuerung der Rezeption des Textes durch den Leser. Dieser baut eine Erwartungshaltung hinsichtlich des weiteren Verlaufs des Briefes auf, die durch immer neue Signalwörter bestätigt wird: reses, lacessere, repulsa und cessatio in Brief 21, inflectere, obiurgatio, perstare und silentium in Brief 22. Diese Form der Lesersteuerung basiert aber nicht nur auf der Setzung bestimmter Begriffe, sondern auch auf der Lektüreerfahrung des Lesers, der die für sich stehend zwar nicht bedeutungslosen, aber weniger bedeutungsschweren Begriffe vor dem Hintergrund seines Bildungs- und Lektürehorizonts in einer bestimmten literarischen Tradition verorten kann, in diesem Fall in der Tradition epistolarer Klage. Die Klage über das Schweigen des Brieffreundes ist ein in der antiken Briefliteratur beliebtes Motiv. Bereits Cicero schrieb an Tiro, dessen Entschuldigungen für das Ausbleiben seiner Briefe seien sicher berechtigt. Trotzdem wolle er ihn darum bitten, dies nicht zu oft zu tun: Zwar erhalte er auch ohne ihn Informationen über das politische Tagesgeschehen, seine Briefe seien ihm aber immer besonders lieb gewesen. Weil er also gerade seine Briefe ersehne, solle er der Pflicht zu schreiben nicht durch häufige schriftliche Entschuldigungen, sondern durch eine dichte Folge von Briefen 292 Diese Korrelation wird auch deutlich in den Entsprechungen iure paterno (22,6) und parentem (22,32), obnoxius heres (22, 7) soll Paulinus auch in der gesamten Schlusspassage sein.

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Poetisches Klagen

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genügen.293 Ähnliche Bitten, den Briefwechsel aufrecht zu erhalten, finden sich auch bei Plinius und schließlich gehäuft in den Briefen des Symmachus.294 Ausonius schreibt seine brieflichen Klagen demnach vor dem Hintergrund einer literarischen Tradition mit der auch der spätantike Leser des Briefwechsels vertraut war: Verfasser und Leser kennen und erkennen die verschiedenen Elemente, die einem Brief Struktur verleihen und ihn überhaupt erst zu einem Brief werden lassen. Mit anderen Worten sind Briefe und briefliche Klage bis zu einem gewissen Grad immer topisch, d. h. der Leser hat zu entscheiden, welche Aussage hinter dem Topos der Klage steht und welche Funktion die Klage als literarisches Mittel im Brief übernimmt. Spiegelt sie die Realität des Schreibenden wider oder ist sie als fiktional aufzufassen? Dass das Bewusstsein für ein Zusammenspiel von Fiktion oder Topos auf der einen und Realität auf der anderen Seite für die Interpretation eines Briefes ausschlaggebend sein kann, soll im folgenden an zwei Beispielen gezeigt werden, die Ausonius direkt betreffen. Erstens ist eine an Ausonius gerichtete, in Prosa verfasste Klage des Symmachus über das Ausbleiben von Briefen auf reale und fiktionale Elemente zu untersuchen. Zweitens werden diejenigen Klagebriefe der Tristia und Epistulae ex Ponto in den Blick genommen, die offensichtlich an einen Freund gerichtet sind und die, wie in einem weiteren Schritt zu zeigen sein wird, für die Interpretation der Briefe des Ausonius an Paulinus von Bedeutung sind.

3.5.2 Symmachus an Ausonius: Briefliches Klagen im Gewand der Komödie und der Liebesdichtung

Quintus Aurelius Symmachus ist heute vor allem als »eine tragische Gestalt des ausgehenden Heidentums« bekannt,295 als prafectus urbi, der sich im Streit mit Ambrosius um die Entfernung des Altars der Victoria aus der römischen Kurie in der dritten Relatio ein literarisches, politisches und programmatisches Denkmal setzte.296 Weniger bekannt als die dritte Relatio sind die über 900 Briefe, die ähnlich der Briefsammlung des Plinius in neun 293 Vgl. Cic. fam. 16,25 (Shackleton Bailey): Etsi iusta et idonea usus es excusatione intermissionis litterarum tuarum, tamen, id ne saepius facias, rogo. nam etsi de re publica rumoribus et nuntiis certior fio et de sua in me uoluntate semper ad me perscribit pater, tamen de quauis minima re scripta a te ad me epistula semper fuit gratissima. qua re cum in primis tuas desiderem litteras, noli committere ut excusatione potius expleas officium scribendi quam adsiduitate epistularum. 294 Vgl. z. B. Plin. epist. 1,11; 3,17. Zu Symmachus siehe den weiteren Verlauf dieses Kapitels. 295 Vgl. z. B. den Titel der einflussreichen Monographie von Klein (1986) »Symmachus. Eine tragische Gestalt des ausgehenden Heidentums«. 296 Zur Bedeutung der dritten Relatio vgl. Klein (1972) passim.

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Büchern an Freunde und einem Buch mit Amtsschreiben postum durch seinen Sohn Memmius herausgegeben wurden. An der Planung dieser Edition war Symmachus vermutlich noch beteiligt. Das erste Buch der Sammlung enthält vor allem Briefe an seinen Vater und an Ausonius, den er anlässlich einer Reise als Senatsgesandter an den Hof Valentinians I. in Trier im Jahr 369 kennenlernte.297 Von den insgesamt etwa 30 Briefen an Ausonius soll hier ein Klagebrief herausgegriffen werden. Vermutlich kurz nach 369 schrieb Symmachus an Ausonius, Symm. epist. 1,34 (ed. Seeck 1883): Plenum laboris negotium gero, qui conpellare totiens tacitum perseuero. contra nisi instigare pergo atque exculpere a te aliquid litterarum, gliscet obliuio. siue igitur hoc officium meum sedulum iudices seu molestum, stat sententia honorem tuum celebrem praestare colloquiis; adeo mihi ueteris in te amoris nulla discessio est. et merito, nam amicitiae operam nusquam locaui aeque bene. propterea silentium tuum conqueror. facit enim tenerior adfectio, ut sit querella procliuior. mollis est animus diligentis et ad omnem sensum doloris argutus. si neglegentius tractes, cito marcet ut rosa; si durius teras, liuet ut lilia. legisse me memini, ultus saepe laedi pietatem: quid ille tam serius arbiter super continuo silentio ac dissimulato scribendi munere censuisset? tecum haec pensius aestimabis, sed mihi religio fuit tegere, quae dolebant. nam ut in te animi usque pendeo, ita opere maximo usuram tuae unanimitatis expeto. uale Ich habe volles Maß an Arbeit, der ich standhaft darin bleibe, den oft Schweigenden anzutreiben. Dagegen, wenn ich nicht darin fortfahre, dich anzustacheln und irgendetwas an Buchstaben aus dir herauszupressen, wächst das Vergessen. Folglich magst du diese meine Pflichterfüllung als fleißig oder lästig beurteilen. Klar ist, dass dein gefeiertes Ehrenamt wichtiger ist als unser Gespräch; insoweit tut das meiner alten Freundschaft zu dir keinen Abbruch, und zwar verdientermaßen, denn nirgendwo habe ich so gleichermaßen ebenbürtig Mühe für eine Freundschaft aufgewendet. Deswegen beklage ich dein Schweigen. Denn die sehr zarte Zuneigung bewirkt es, dass die Klage sehr direkt ist. Der Geist des Liebenden ist weich und bei jedem Verspüren von Schmerz lässt er sich ausführlich aus. Wenn du ihn sehr gleichgültig behandelst, verwelkt er schnell wie eine Rose. Wenn du ihn zu hart verletzt, wird er bläulich wie die Lilie. Ich erinnere mich, gelesen zu haben, dass häufig durch eine strenge Miene die pietas verletzt wird (Cic. pro Rosc. Am. 13,37). Was hätte jener so strenge Richter über fortwährendes Schweigen und die vernachlässigte Pflicht zu schreiben gedacht? Mit dir wirst du dies eingehend bedenken, mir aber war es eine Pflicht zu verteidigen, was Schmerz bereitete. Denn wie ich, was dich anbelangt, ständig im Geiste schwanke, so erwarte ich aufgrund meiner großen Mühe die Zinsen deiner Einmütigkeit. Lebe wohl.

Hinter dieser Klage steht die Vorstellung, dass der Briefwechsel ein Dialog ist, der das Gespräch zwischen abwesenden Freunden ersetzt. Konstituiert wird dieser Dialog durch die reziproke Erfüllung der uices officiorum, d. h. durch den wechselseitigen Austausch von Briefen. Kurze Formulare wie das berühmte si uales, bene est; ego ualeo des Plinius reichen aus, um dem offi297 Zum Verhältnis von Symmachus und Ausonius vgl. die kurze Abhandlung bei Coşkun (2002) 49–50; ausführlicher Bruggisser (1993) 135–143.

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cium Genüge zu tun.298 Halten sich die Briefpartner nicht an diese Vorgabe, wird das officium nur zur Hälfte erfüllt. Der Dialog bleibt unvollständig, die Freundschaft ist gefährdet. Sehr häufig geht daher mit der Klage über ausbleibende Briefe die Äußerung von Sorge über den Zustand der Freundschaft einher. Gerade in diesen Fällen entfaltet das Spiel von Realität und Fiktionalität seine Wirkung, wie das Beispiel des Symmachus-Briefes zeigt. Bereits der Anfang des Briefes wirkt komisch und ironisch. Die ersten Worte plenum laboris negotium gero, qui conpellare totiens lassen den Leser eine wichtige Tätigkeit als Ursache seiner Mühe erwarten. Diese Erwartung wird mit dem vorletzten Wort des ersten Satzes – tacitum – enttäuscht. Schlagartig erhellt es, dass das Schweigen des Briefpartners Thema des Briefes ist. Dieses Element des Komischen bleibt auch in den folgenden Sätzen erhalten. Der Briefschreiber bittet nicht nur um Antwort, er muss standhaft bleiben, sein Gegenüber anstacheln und die Buchstaben förmlich aus ihm herauspressen, damit sein Vergessen nicht noch weiter zunimmt. Die Verben instigare und exculpere erinnern, so nebeneinander gestellt, deutlich an den Sprachgebrauch der Komödie und der Satire: Z. B. verwendet Plautus exculpere in den Cistellaria, wenn der Sklave Lampadio mit allen Mitteln versucht, der ruchlosen Kupplerin ein Geständnis abzupressen.299 Vorbereitet wird der Rückgriff auf den Sprachgebrauch der Komödie durch den vorausgehenden Brief, der das Schweigen des Freundes in kürzerer Form beklagt und mit einer Anspielung auf Plautus beginnt, Symm. ep. 33 (ad Auson.): Aiunt cocleas, cum sitiunt umoris atque illis de caelo nihil liquitur, suco proprio uictitare. ea res mihi usu uenit, qui desertus pastu eloquii tui meo adhuc rore sustentor. Schnecken sollen sich, wenn sie nach Feuchtigkeit dürsten und es nicht regnet, von ihrem eigenen Schleim ernähren. Das kam mir in den Sinn, der ich der Speise deiner Schriften entbehre und mich mit meinem eigenen Saft zufriedengebe.

Das Bild der Schnecken, die sich von ihrem Saft ernähren, verwendet bei Plautus der Parasit Ergasilus, um seine dürftige Lebensweise in den Ferien, wenn potentielle Ernährer auf dem Land sind, zu beschreiben: Er muss sich dann von seinem eigenen Saft ernähren und magert ab.300 Mit Hilfe der 298 Vgl. Plin. epist. 1,11: Olim mihi nullas epistulas mittis. nihil est, inquis, quod scribam. at hoc ipsum scribe, nihil esse quod scribas, uel solum illud unde incipere priores solebant: ›si uales, bene est; ego ualeo.‹ hoc mihi sufficit; est enim maximum. ludere me putas? serio peto. fac sciam quid agas, quod sine sollicitudine summa nescire non possum. uale. 299 Vgl. Plaut. Cist. 536–542: Anum sectatus sum clamore per uias,/ miserrumam habui. ut illaec hodie quot modis/ moderatrixfuit atque inmemorabilis!/ quot illi blanditias, quid illi promisi boni,/ quot admoeniui fabricas, quot fallacias/ in quaestione! uix exsculpsi ut diceret,/ quia ei promisi dolium uini dare. 300 Vgl. Plaut. Capt. 80–87: Quasi, quom caletur, cocleae in occulto latent,/ suo sibi suco uiuunt, ros si non cadit./ item parasiti rebus prolatis latent/ in occulto miseri, uictitant suco

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Plautus-Reminiszenz stilisiert Symmachus sich demnach nicht als Schnecke, sondern als gleichsam literarischen Parasiten, der sich, da die Antworten des Freundes ausbleiben, von seinem eigenen Schreiben ernähren muss. Die Anlehnung an den Sprachgebrauch der Komödie bleibt auch im weiteren Verlauf des Briefes durch die Verwendung archaischer Formen wie facito für fac und praeuortat für praeuertat hörbar. Der Leser ist also vorbereitet, wenn er zum nächsten, schärfer formulierten Klagebrief fortschreitet, und kann Formen wie instigare und exculpere in den Kontext einordnen, der durch den vorausgehenden Brief angelegt ist. Dem wachsenden Vergessen des Freundes stellt der Schreiber im nächsten Schritt sein eigenes Handeln gegenüber: Er erfüllt sein officium trotz der Anstrengung, gleich ob der Freund dies lästig oder fleißig findet. Warum er das negotium laboris und das officium überhaupt noch auf sich nimmt, erklärt der Briefschreiber schließlich mit einem Verweis auf das Ehrenamt des Freundes, das wichtiger sei als ihr Briefwechsel. Hier ist ein spöttischer Unterton deutlich herauszuhören. Denn Ausonius war erst um den Abfassungszeitpunkt dieses Briefes in den Rang eines comes erhoben worden, d. h. er tat im Alter von etwa 56 Jahren die ersten Schritte auf der politischen Karriereleiter, zu einem Zeitpunkt, als der fast 25 Jahre jüngere Symmachus bereits das Amt des pontifex maximus ausgeübt, die italische Provinz Lucania und Brutti verwaltet hatte und als Senatsgesandter nach Trier gereist war, um Valentinian I. Glückwünsche anlässlich seiner Quinquennalien zu überbringen. Noch in Trier wurde Symmachus aufgrund seiner Verdienste etwa zum selben Zeitpunkt wie Ausonius in den Rang eines comes erhoben.301 So wirkt auch die folgende Feststellung, das Schweigen des Freundes tue seiner Liebe zu Ausonius insoweit keinen Abbruch, als es aus seinem Ehrenamt hervorgehe, aus dem Munde des jüngeren, aber politisch einflußreicheren Briefschreibers ironisch. Er ist von dem Ehrenamt des Freundes keineswegs beeindruckt. Im zweiten Teil des Briefes beschreibt Symmachus schließlich das Wesen ihrer Freundschaft genauer: Seine sehr zarte Zuneigung (tenerior adfectio) zu Ausonius bewirke die sehr direkte Klage (procliuior querella), entschuldigt er sich. Das Adjektiv tener und das Substantiv querella deuten hier bereits die Terminologie an, in der Symmachus fortfahren wird: Der Geist eines Liebenden sei empfindlich (mollis est animus diligentis), auf die Empfindung von Schmerz hin schütte er seine Gefühle aus. Wenn er von Ausonius weiterhin suo,/ dum ruri rurant homines quos ligurriant./ prolatis rebus parasiti uenatici/ [canes] sumus, quando res redierunt, Molossici/ odiossicique et multum incommodestici. 301 Dazu Coşkun (2002) 49: »Symmachus hatte cum grano salis das Alter eines Rekruten, als er an den Hof kam, und wurde bereits nach einem Jahr mit einer comitiva verabschiedet. Während Ausonius seinen Hofdienst nur wenige Monate vor diesem mit ca. 56/58 Jahren aufgenommen hatte; im Veteranenalter versah er gewissermaßen noch Rekrutendienste.«

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so gleichgültig behandelt werde, verwelke er wie eine Rose. Wenn er weiter getreten werde, werde er schwarz wie eine Lilie. Diese Sprechweise des Briefschreibers erinnert an den Sprachgebrauch der römischen Liebeselegie. So fordert der artifex Amoris im zweiten Buch der Ars Amatoria, dass Streit und bittere Worte in einer Liebschaft fernbleiben sollten, durch zärtliche Worte sei die empfindliche Liebe zu nähren, Ov. ars 2,153–154: Este procul, lites et amarae proelia linguae; dulcibus est uerbis mollis alendus amor. Bleibt fern, Streitigkeiten und Schlachten in harter Sprache, mit zärtlichen Worten ist die empfindliche Liebe zu nähren.

Die Verse aus der Ars Amatoria sind als Prätext leicht zu identifizieren: Den ovidischen mollis amor ersetzt der Briefschreiber durch mollis animus diligentis. Auch die Funktion der Reminiszenz tritt vor dem Hintergrund der ovidischen Folie klar hervor. Der Briefschreiber nutzt sie als idealisiertes Gegenbild, durch das das Verhalten des Briefpartners konterkariert wird. Das empfindliche Wesen einer Freundschaft oder Liebesbeziehung verträgt keinen Streit und keine harten Worten (lites et amarae proelia linguae), es muss vielmehr durch zarte Worte gehegt werden. Die Reminiszenz birgt also die Rechtfertigung des eigenen Schreibens und eine versteckte Aufforderung an den Briefpartner Ausonius. Mit dem Kolon et ad omnem sensum doloris argutus erinnert Symmachus in diesem Zusammenhang an die Worte des beleidigten und verletzten elegischen Ichs in den Amores, nachdem es die Geliebte bei einem heftigen Flirt mit einem Rivalen beobachtet hat, Ov. am. 2,5,29–34: 30

›Quid facis?‹ exclamo ›quo nunc mea gaudia defers? iniciam dominas in mea iura manus. haec tibi sunt mecum, mihi sunt communia tecum: in bona cur quisquam tertius ista uenit?‹ haec ego, quaeque dolor linguae dictauit; at illi conscia purpureus uenit in ora pudor.

»Was tust du?« schreie ich »wohin verschleuderst du meine Freuden? Ich werde als Herr meine Hände auf mein Eigentum legen. Das teilst du mit mir, uns beiden gehört es gemeinsam. Warum kommt irgendein dritter zu diesem Gut mit dazu?« Das sprach ich, und was der Schmerz der Zunge diktierte; aber ihr legte sich purpurne Scham auf die schuldbewussten Wangen.

Die Reminiszenz ist hier in einem höheren Maße verschlüsselt als in dem vorhergehenden Kolon: Die Wendung sensum doloris ersetzt dolor, argutus steht an Stelle von dictauit. Sie wird dem bereits auf die Liebeselegie eingestimmten Leser allerdings durch den weiteren Verlauf der Handlung in den Amores bestätigt. Denn auf die Rede des verschmähten Liebhabers folgt ein Vergleich der schamesroten Geliebten mit Rosen und Veilchen, Ov. am. 2,5,35–37:

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35 quale coloratum Tithoni coniuge caelum subrubet, aut sponso uisa puella nouo; quale rosae fulgent inter sua lilia mixtae So rötet sich der von Tithonus’ Gattin gefärbte Himmel, oder das Mädchen, wenn es ihren neuen Verlobten sieht. So glänzen Rosen unter den zu ihnen gehörigen Lilien.

Gleichzeitig stellt Symmachus mit Hilfe der Blumenmetapher Bezüge zu einem weiteren klassischen Texten her. Die welkenden Rosen und schwarz werdenden Lilien verweisen erneut auf das zweite Buch der Ars Amatoria, Ov. ars 2,113–116: 115

Forma bonum fragile est, quantumque accedit ad annos, fit minor et spatio carpitur ipsa suo. nec uiolae semper nec hiantialilia florent, et riget amissa spina relicta rosa;

Schönheit ist ein zerbrechliches Gut, wie die Jahre fortschreiten, schwindet sie und wird durch ihre eigene Dauer verzehrt. Weder Veilchen noch geöffnete Lilien blühen immer, und zurückgelassen starrt der Dorn, hat er die Rosenblüte verlorn.

Der artifex warnt seine Schüler hier vor der Vergänglichkeit physischer Schönheit. Die Metapher verblühender Rosen, Lilien und Veilchen warnt schon in der hellenistischen Literatur junge Männer, die in homoerotischen Beziehungen die passive Rolle übernehmen, vor der Zeitlichkeit aller Schönheit.302 Dieser Vergänglichkeit stellt Ovid bleibende geistige Werte gegenüber. Als Beispiel dient ihm der zwar nicht schöne, aber intelligente und listige Odysseus, der mit Hilfe seiner Sprachfertigkeit die Nymphe Kalypso zu fesseln vermag, Ov. ars 2,119–128: Iam molire animum, qui duret, et astrue formae: solus ad extremos permanet ille rogos. nec leuis ingenuas pectus coluisse per artes cura sit et linguas edidicisse duas: non formosus erat, sed erat facundus Ulixes, et tamen aequoreas torsit amore deas. 125 o quotiens illum doluit properare Calypso remigioque aptas esse negauit aquas! haec Troiae casus iterumque iterumque rogabat; ille referre aliter saepe solebat idem. 120

Festige deinen Geist, dass er ausdauernd bleibt, und füge ihn deiner Schönheit hinzu: Er allein bleibt bis zum letzten Scheiterhaufen. Nimm es nicht auf die leichte Schulter, dein Inneres zu bilden in den freien Künsten und die zwei Sprachen zu lernen: Nicht war schön, sondern redegewandt Odysseus, und dennoch plagte er die Meeresgöttinnen. Oh wie oft litt Kalypso darunter, dass jener geschwind aufbrechen wollte, und 302 Vgl. z. B. Theokrit. Id. 23,29–33. Zur Blumenmetapher in der Ars Amatoria und den hellenistischen Vorbildern vgl. die ausführliche Darstellung in Sharrock (1994) 39–47.

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verneinte, die Wellen seien dem Ruder passend. Wieder und wieder bat sie, den Untergang Trojas zu schildern: Jener pflegte oft dann in anderer Weise dasselbe zu erzählen.

Auf die Bitte der traurigen Kalypso, noch einmal den Kampf um Troja zu schildern, malt Odysseus mit einem Zweig ein Bild des Geschehens in den Sand und erläutert ihr anhand dieses Bildes das Geschehen. Schließlich läuft eine Welle auf den Strand auf und verwischt die Linien des Bildes. Darauf spricht Kalypso, Ov. ars 2,139–144: 140

Pluraque pingebat, subitus cum Pergama fluctus abstulit et Rhesi cum duce castra suo; tum dea ›quas‹ inquit ›fidas tibi credis ituro, perdiderint undae nomina quanta, uides?‹

Mehr noch wollte er zeichnen, als plötzlich eine Welle Pergamon wegwischte, dazu das Lager des Rhesus mit seinem Feldherrn. Da sprach die Göttin: ›Du glaubst, dass diese Wellen dir, wenn du gehst, treu sind? Siehst Du, welch große Namen sie zerstört haben?‹

Die kurze Rede der Kalypso, in der sie auf die Vergänglichkeit auch großer Männer und ihrer Taten hinweist, kann, wird sie auf den Kontext des Briefes übertragen, durchaus als Warnung an den Briefpartner gelesen werden, sich nicht zuviel auf vergängliche Äußerlichkeiten wie Rang und Ansehen einzubilden. Darüber hinaus erzeugt der Prätext, in den Brief hineingelesen, erneut Komik: Die indirekte, durch den Prätext vermittelte Aufforderung des artifex Amoris, auch den Geist zu bilden und sich im Griechischen wie im Lateinischen zu Hause zu fühlen, wirkt, versteht man sie als Mahnung an den hochgebildeten Rhetor und Dichter Ausonius, witzig und kaum ernstgemeint. Wie ist der Brief insgesamt zu bewerten? Ist die Klage an den Freund Ausonius gerichtet, also als persönlicher Akt der Kommunikation zu verstehen? Verleiht Symmachus durch ihn seiner Enttäuschung über das Schweigen des Briefpartners in höflicher Form Ausdruck, oder handelt es sich um eine Klage, die als Subgattung die weite literarische Gattung ›Brief‹ variiert?303 Tatsächlich ist davon auszugehen, dass Symmachus zumindest die Edition der in den ersten sieben Büchern gesammelten Briefe selbst geplant hat. Die Briefe an Ausonius wurden also von ihm selbst redaktionell überarbeitet, und zwar vermutlich mit Blick auf einen Kreis literarisch gebildeter Rezipienten aus derselben sozialen Schicht, d. h. aus der Schicht des senatori303 Vgl. z. B. Bruggisser (1993) 155–158, bes. 157: »Metaphore et prétérition, applications de la norme de bienveillance concourent donc à adoucir la réprobation d’un ami envers son correspondant. Le message, censé relancer l’amitié par une culpabilisation discrète du correspondant négligent, ne peut se montrer uniquement accusateur. Pour mobiliser le correspondant, pour le décider à écrire, il doit encore se montrer engageant.«

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

schen Adels und der Verwaltungs- und Funktionselite des ausgehenden vierten und beginnenden fünften Jahrhunderts nach Christus: Der Brief ist also auch, aber nicht nur an Ausonius gerichtet. Dass Symmachus tatsächlich für einen weiteren Leserkreis schreibt, zeigen die Anspielungen auf die Komödie und die Liebeselegie. Während er im ersten Teil des Briefes auf Elemente der Komödiensprache zurückgreift, zeichnet er im zweiten Teil mit Hilfe elegischer Sprache ein bestimmtes Bild von Freundschaft, dessen Nähe zur elegischen Liebe unverkennbar ist. Freundschaft darf wie eine Liebesbeziehung nicht durch gleichgültige oder harte Worte erschüttert werden, sie muss im Gegenteil, das wird durch die Prätexte ersichtlich, durch zärtliche Worte gepflegt werden. Nur so wird sie Bestand haben. Das bedeutet nicht, dass Symmachus seiner Freundschaft mit Ausonius eine erotische Konnotation verleiht. Vielmehr verankert er die zentralen Themen seines Briefes, Klage und Freundschaft, in einer bestimmten literarischen Tradition und entfaltet so ein literarisches Spiel mit den Gattungen, das von den Lesern zu entschlüsseln ist. Spannung wird nun gerade dort erzeugt, wo sich die Elemente des Realen mit denen des Fiktionalen überlagern, wo das Reale fiktionalisiert wird. Die spöttischen Anspielungen auf den Rang und die Bedeutung des Briefpartners fußen auf der realen Welt der Autors, das Verhältnis, das er von seinem Briefschreiber und dem Adressaten zeichnet, dagegen in der literarischen Welt der römischen Liebeselegie. Letztlich stellt sich damit die Frage, ob nicht auch in diesem Prosabrief zu trennen ist zwischen dem Autor und dem von diesem literarisch inszenierten Ich.

3.5.3 Poetisches Klagen: Die Heroidenbriefe und die Exildichtung des Ovid

3.5.3.1 Fiktion und Realität in der Briefdichtung des Ovid Die am Beispiel des Symmachus-Briefes beschriebene Fiktionalisierung oder Literarisierung des Realen wirkt auch und in noch stärkerem Maße in der Briefdichtung. Ovid verwandelt die Klage über das Ausbleiben von Briefen, indem er sie in den Epistulae Heroidum, in den Tristia und den Epistulae ex Ponto mit der Erfahrung des Verlassenwerdens und der Einsamkeit verknüpft. Anders als in den Amores kämpft in den Epistulae Heroidum nicht der amator um die Geliebte, sondern die heroische Frau des Mythos um den Geliebten. Sie bedient sich jedoch eines ganz ähnlichen Mittels, und zwar der Überredung, die mit Hilfe der Sprache auf die Veränderung ihrer Wirklichkeit abzielt.304 An diesem Punkt entfaltet sich das Zusammenspiel von Fiktion und Realität in einer neuen Konstellation. Auf der einen Seite erschafft Ovid als Autor die Gestalt der Heldin und lässt sie in einem literari304 Vgl. Kenney, E.: Art. Ovidius Naso, DNP 9, 110–119, hier: 111–112.

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schen und mythologischen Rahmen agieren: Die Heroides sind Gedichte Ovids, die er für ein bestimmtes Publikum gestaltet. Auf der anderen Seite ist aber die Heldin die Verfasserin ihres eigenen, an den Geliebten gerichteten Briefes: Sie ist die Briefschreiberin. Als diese erschafft sie innerhalb des durch den Autor gewählten mythologischen und literarischen Rahmens ihren eigenen realen Kosmos des Leidens und hält durch den Brief einen bestimmten Moment fest, in den sie den außenstehenden Leser hineinnimmt.305 Ihm bleibt es nun überlassen, die Perspektive seiner Lektüre zu wählen. Er kann z. B. die Perspektive der Phaedra wählen, für die ihre brennende, aber verbotene Liebe zu Hippolytos alles andere als Fiktion ist (Ov. epist. 4). Er kann sich in ihre Situation und Gefühlslage versetzen, sie beim Schreiben beobachten, sich mit ihr oder auch ihrem Adressaten, Hippolytos, identifizieren. Wie mag seine Reaktion auf den Brief, wie sein Antwortschreiben ausgesehen haben? Gleichzeitig kann der Leser jedoch den Brief der Heldin von einer übergeordneten Position aus, vor dem Hintergrund des bereits bekannten Endes der Geschichte betrachten und beurteilen. Wird der Brief der Schreiberin in dieser Weise auf der literarischen Vorlage gelesen, erscheint ihr Anliegen als ein aussichtsloser und tragischer, bisweilen auch komischer Kampf gegen die eigene Bestimmung.306 Das Wissen des Lesers um das Ende der Geschichte und sein Verständnis des jeweiligen Heroidenbriefes basieren also auf seiner Lektüreerfahrung. Beides ermöglicht es ihm, sich in die Perspektive des Autors der Heroides zu versetzen: Wie hat Ovid als übergeordneter Autor die Heroides gestaltet? Wie unterscheidet sich seine Version des Phaedra-Mythos von der Version, die Euripides im Hippolytos schildert, wie unterscheidet sich seine Penelope von der Homers? Die Heroinen zeigen so ihr zweites Gesicht, sie werden von handelnden Personen zu literarischen Gestalten, deren Handlungen in einem literarischen Kontext zu verorten sind. Deutlich wird dies z. B., wenn die zweifelnde Helena an Paris schreibt, dass ihre gemeinsame Flucht einen Krieg heraufbeschwören wird, Ov. Epist. 17,245–246: 305 Die in den Heroides angelegten zwei Autoren ›Ovid‹ und ›Briefschreiberin‹ und die sich aus dieser Scheidung ergebenden Implikationen werden analysiert von Kennedy (1984) 413–422 und (2002) 217–232, bes. 220–222. Vgl auch die kurze Zusammenfassung seiner Thesen von 1984 bei Reeson (2001) 1–2. 306 Vgl. Kennedy (2002) 225: »The epistolary form freezes them at a moment within the story forseeing or desiring a particular ›end‹ to their stories, which may or may not approximate to the ›end‹, the outcome or consequences, with which the external reader is familiar. The writers experience, we may say, the circumstances of their stories at the moment when they write as open and contingent, whereas the external reader, in a priviliged position beyond the end, sees them as working out a sequence of events already determined, and so as facilitating or struggling against their destiny (…). When the end anticipated by the writer does not correspond to the end assumed by the external reader, the end is a sense of irony, tragic or humorous as the case may be.«

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

Nec dubito quin, te si prosequar, arma parentur. ibit per gladios, ei mihi, noster amor. Nicht zweifel ich daran, dass, falls ich dir folge, Waffen zum Kampf bereitet werden. Durch Schwerter wird, ach ich arme, unsere Liebe vergehen.

Die von Helena erwähnten arma spielen als Schlüsselwort einerseits auf den Trojanischen Krieg, andererseits aber auch auf die weiteren Folgen dieses Krieges, die Irrfahrten und Kämpfe des Aeneas und ihre literarische Verarbeitung in der Aeneis an, die mit dem Wort arma beginnt.307 Durch die vom Autor gesetzten Worte der literarischen Helena, die als handelnde Person die tatsächlichen Folgen ihres Ehebruchs letztlich erahnt, werden ihre Handlungen sowohl in einen historischen als auch literarischen Kontext gestellt, der vom außenstehenden Leser als solcher zu erkennen ist.308 Ovid inszeniert in den Epistulae Heroides demnach zwei Ebenen des Textverständnisses: Auf der internen Textebene kommuniziert die Briefschreiberin mit ihrem Briefpartner. Auf dieser Ebene werden die verschiedenen Stränge der Argumentation durchgeführt und miteinander verbunden, auf dieser Ebene entwickelt sich emotionale Dynamik, finden Gefühle wie Verzweiflung, Trauer und Wut ihren Ausdruck. Auf der textexternen Ebene kommuniziert der Dichter Ovid mit seinem Leser und ermöglicht es ihm, mit Hilfe seiner literarischen Vorbilder gewissermaßen von außen an die Briefe der Heldinnen heranzutreten. Der Leser wird durch Ovid in die Lage versetzt, die Briefgedichte aus der Perspektive der schreibenden Heroine und aus der Perspektive des Dichters zu betrachten. Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Exildichtung Ovids: Die zwischen 9 und 13 n. Chr. veröffentlichten fünf Bücher der Tristia und die vier Bücher der Epistulae ex Ponto zeigen ähnliche Motive wie die Heroides, allerdings in einer realen oder zumindest scheinbar realen Situation. Es tritt der verbannte Dichter, der poeta exul, auf, der mit Hilfe von Gedichten und poetischen Briefen um die Rückkehr an einen Ort kämpft, der Rom näherliegt als Tomi. Der Gedanke eines Nutzens von Dichtung spielt also auch hier eine Rolle. Die in den Tristia und Epistulae ex Ponto erzählte Geschichte des Verbannten wirkt teilweise wie eine Autobiographie des späten Ovid. Sie kennt, wie Christian Tornau prägnant formuliert, nur ein Thema: »Ovid selbst, sein Leiden an der Exilsituation und den (…) Niedergang seines poetischen Talents.«309 Lange hat man aus diesem Grund die Exildichtung tatsächlich als autobiographische Texte gelesen, die monotone Klage um die Situation des Verbannten und die Bitten um Begnadigung wörtlich genommen. »Das Jammern in den Briefen, (…) die Servilität gegen das Kaiserhaus und die 307 Verg. Aen. 1,1. 308 Vgl. zur Interpretation der Vergil-Reminiszenz Kennedy (2002) 225. 309 Tornau (2007a) 257.

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Schmeichelei gegen die Adressaten« – verstanden als Charakterschwäche des Dichters – schienen Auskunft zu geben über die Qualität seiner Dichtung, die als langweilig und stumpfsinnig empfunden wurde.310 Man schloss von den Inhalten der Dichtung auf die Persönlichkeit des Dichters. Diesem harten Urteil gegenüber konnte sich die Exildichtung in den letzten Jahren rehabilitieren. Man ist sich über die hohe literarische Qualität der Exildichtung einig. Bedingt ist ihre literarhistorische Neubewertung durch die Erkenntnis, dass Ovid und seine persona, der poeta exul, voneinander zu trennende Instanzen sind und die ständige Klage über die eigene Situation nicht für den Dichter, sondern für den poeta exul charakteristisch ist. Die literarische Klage wird als Mittel betrachtet, das der Dichter Ovid zur Charakterisierung der persona und der Dichtung nutzt, sie hat »mit dem wahren literarischen Wert der Exilgedichte wenig zu tun, ja [bildet] sogar einen beabsichtigten Kontrast zu diesem (…).«311 Die Trennung von persona und Autor zog neue Fragen nach sich, die an den Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus erinnern: Können die Tristia und Epistulae ex Ponto überhaupt Auskunft geben über die Situation des Dichters, über seine Realität? Sind die Exilelegien in ihrer literarischen Konzeption überhaupt durch die Realität des Exils beeinflusst? Anlass zu diesen Fragen gaben neben der Trennung von persona und Dichter auch die Elemente des Fiktiven in der Beschreibung der tatsächlich gegebenen Verhältnisse: Denn anders als von Ovid beschrieben war z. B. das Schwarze Meer im Winter nicht zugefroren, vielmehr zeichnete sich die westliche Schwarzmeerregion durch ein mediterranes Klima aus. Auch war Tomi keine kleine Provinzstadt, sondern ein von griechischer Kultur geprägtes wirtschaftliches Zentrum der Region.312 Die Antwort auf die oben formulierten Fragen fielen unterschiedlich aus. Während z. B. Ulrich Schmitzer meint, dass die Exilelegien weniger über das Leiden des Autors aussagten als über seine Fähigkeit, dieses Leiden in Worte zu 310 Schanz/Hosius (1935) 249: »(… ) schlimm ist, dass er das stete Jammern in den Briefen noch überboten hat durch seine beispiellose Servilität gegen das Herrscherhaus und seine alles Maß übersteigende Schmeichelei gegen die Adressaten, von denen er Hilfe erhoffte. So ruft die Lektüre der letzten Werke Ovids nicht Erhebung und kaum Mitleid wach, sondern Langeweile und Mißmut über seine Charakterschwäche hervor.« Diese moralisch-ethische Beurteilung der monotonen Klage des alten Ovid findet sich in der einschlägigen Literatur immer wieder. Eine Zusammenschau der verschiedenen Positionen bietet Chwalek (1996) 14–15. Rahn (1958) 105–120 forderte schließlich einen Neuansatz, in dem die biographische Herangehensweise kritisch geprüft werden und der dichterischen Einheit des poetischen Lebenswerkes Ovids stärker Rechnung getragen werden sollte. 311 Tornau (2007a) 258. 312 Ähnlich fiktiv sind die Äußerungen über das schwindende Talent oder die Schilderung des Seesturms in Ov. trist. 1,2. Vgl. zu den verschiedenen Fiktivierungsmerkmalen die Übersicht bei Chwalek (1996) 34–64, zur Fiktivierung geographischer Gegebenheiten besonders 41–42.

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fassen, und so einem eher biographischen Ansatz verhaftet ist,313 geht Heinz Hofmann von der völligen Fiktionalität des Exils aus: Ovid sei nie in Tomi gewesen, sondern habe die Exildichtung in Rom zur literarischen Unterhaltung seiner Leser geschrieben.314 Eine andere Position nehmen Niklas Holzberg und Sabine Lütkemeyer ein: Sie gehen zwar von der Realität des Exils aus, meinen aber, dass die literarische Konzeption der Dichtung unabhängig von der Erfahrung des Exils und des Leidens ist. Das Exil ist real, die Dichtung aber fiktionalisiert. Der Aspekt des eigenen Erlebens wird für die Dichtung bedeutungslos.315 Einen Mittelweg schlägt Christian Tornau ein. Er vertritt die These, dass der reale Augustus den realen Ovid verurteilt habe, dass mit anderen Worten die Spannung zwischen der dem Leser bekannten außerliterarischen Realität und der literarischen Fiktion für das Leseerlebnis entscheidend sei.316 Die in den verschiedenen Ansätzen aufgeworfenen Fragen können in diesem Rahmen nicht beantwortet werden, sie zeigen jedoch nicht nur, welche Rolle Fiktionalisierungsthesen für die Interpretation der Exildichtung selbst spielen, sondern auch, welche Dynamik sie in der jüngeren Ovid-Forschung entwickelt haben. Was haben nun die Briefgedichte des Ovid über die Frage der Fiktionalisierung hinaus mit denen des Ausonius zu tun? 3.5.3.2 Klagebriefe in der ovidischen Exildichtung Anders als die Epistulae ex Ponto sind die Tristia keine reine Briefsammlung, enthalten aber eine große Anzahl poetischer Briefe des poeta exul, die zum Teil an die Ehefrau, an namentlich nicht genannte Freunde oder an eine Schülerin wie die Dichterin Perilla gerichtet sind. Briefliches und poetisches Klagen spielt eine besondere Rolle in den Briefen an die Freunde. Ihr Gegenstand ist entweder das Lob besonderer Treue gegenüber dem Verbannten in einer für alle Beteiligten, den Verbannten und seine Freunde, schwierigen, bisweilen auch gefährlichen Lebenslage oder aber – im Gegenteil – die Klage 313 Schmitzer (2001) 180–183 geht davon aus, dass »die Ergebnisse seines poetischen Schaffens, die er nach Rom sandte, (…), weniger über das Leiden ihres Autors Aufschluss geben als über seine Fähigkeit, dieses Leiden an der Entfernung von Rom in Verse zu fassen. (…) Dieser Stand der Forschung, der es erlaubt, die poetische Kunst Ovids als Medium seiner Aussageabsicht zu verstehen, öffnet den Weg zu einer adäquaten Einschätzung des letzten Jahrzehnts seiner dichterischen und biographischen Existenz.« 314 Vgl. Hofmann (1987) 23 und Fitton Brown (1985) 18–22. Der Fiktionsthese ist entgegengehalten worden, dass die Beschreibung des erfundenen Exils über neun Bücher das Interesse des Lesers ohne einen realen Hintergrund kaum hätte wach halten können. Vor allem aber stellte sich die Frage, wie die Beschreibung der Verbannungssituation ohne die Erfahrung des Exils hätte möglich sein können, vgl. dazu Chwalek (1996) 28–30. 315 Vgl. Holzberg (1997) 181–202 und Lütkemeyer (2005), passim, bes. 11–17. 316 Vgl. Tornau (2007) 257–282.

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über das Ausbleiben von Briefen, das als Anzeichen für die nachlassende Treue eines Freundes und als schlechtes Omen für die Dauer und Qualität der Freundschaft gewertet wird. Lob und Klage sind die verbindenden Motive dieser Briefe. Sie sind wie folgt über die Exildichtung verteilt: Bis zum Ende der ersten Hälfte des vierten Tristien-Buches (trist. 4,5) stehen sechs lobende Freundschaftsbriefe einem Klage- oder Fluchbrief (trist 1,8) gegenüber. Ab trist. 4,7 verhält es sich genau umgekehrt: Einem lobenden Brief (trist. 5,9) stehen sechs Klagebriefe gegenüber.317 Lob- und Klagebriefe sind bisher gleichermaßen wenig untersucht. Im Vordergrund sollen hier mit Blick auf den Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus die Klagebriefe stehen. Sie weisen als durchgehendes Motiv die Furcht des poeta exul auf, dass der angesprochene Freund sich charakterlich verändert habe und ihn aufgrund dieser Veränderung jetzt verlassen könnte. Besonders deutlich herausgestellt wird dieses Motiv in vier Briefgedichten: Erstens in Ov. trist. 4,7, dem Brief, der in gewisser Weise die Achse der Freundschaftsbriefe darstellt und die vielfältigen Klagen über die amicitia neglecta einleitet; zweitens in Ov. trist. 5,6, drittens in Ov. trist. 5,13, dem Brief, der die Reihe der Briefe an Freunde in den Tristia abschließt. Schließlich wird das Motiv im vierten Buch der Epistulae ex Ponto wieder aufgenommen (Ov. Pont. 4,3). Die genannten Briefe sind durch selbstreferentielle Reminiszenzen so eng miteinander verknüpft, dass der Eindruck entsteht, sie seien an eine Person, d. h. an einen Freund und nicht an zwei oder mehrere zu unterscheidende Freunde adressiert. Motivisch besonders eng zusammen gehören die Briefgedichte Ov. trist. 4,7 und 5,13. In beiden Briefen klagt der poeta über die Vernachlässigung von Freundschaftspflichten, die z. B. im Schreiben eines Briefes bestehen können. Thematisches Bindeglied ist also die amicitia neglecta.318 Nach unterschiedlich gestalteten Einleitungen fragt der poeta exul in beiden Briefen, aus welchem Grund der Freund entgegen seiner alten Gewohnheit die Pflichten der pietas vernachlässigt und seit langem keine Briefe mehr geschrieben habe. Hinter dieser Klage steht die Sorge um den Zustand der Freundschaft.319 Da die Antwort auf die Frage ›Warum schreibst du nicht 317 Es ergibt sich folgendes Muster: Ov. trist. 1,5 (Lob); 1,8 (Klage); 3,4 (Lob); 3,5 (Lob); 3,6 (Lob); 3,11 (an einen Feind); 4,4 (Lob), 4,5 (Lob), 4,7 (Klage); 4,9 (Klage); 5,3 (Klage); 5,6 (Klage); 5,9 (Lob); 5,13 (Lob/Klage); Ov. Pont. 4,3 (Klage). 318 Vgl. zum Motiv der amicitia neglecta Grebe (1999) 737–754, bes. 744,746–752. 319 Ov. trist. 4,7,2–8: Tempore tam longo cur non tua dextera uersus/ quamlibet in paucos officiosa fuit?/cur tua cessauit pietas, scribentibus illis,/ exiguus nobis cum quibus usus erat?/ cur, quotiens alicui chartae sua uincula dempsi,/ illam speraui nomen habere tuum? Vgl. dazu Ov.trist. 5,13,9–12: Quid, mihi cum dederis ingentia pignora,/ cumque per numeros omnes hoc tueare caput,/ quod tua me raro solatur epistula, peccas,/ remque piam praestas, sed mihi uerba negas?

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mehr?‹ bis zu einem Antwortschreiben des Freundes offen bleiben muss, hegt der poeta die Hoffnung, dass der erste Eindruck täuscht und der Freund die Briefe zwar geschrieben habe, diese aber auf dem Weg zu ihrem Empfänger verloren gegangen seien. Ausgedrückt wird diese Hoffnung jeweils in einer Bitte an die Götter, Ov. trist. 4,7,9–12: 10

Di faciant ut saepe tua sit epistula dextra scripta, sed e multis reddita nulla mihi. quod precor, esse liquet:(…)

Mögen die Götter es geben, dass oft ein Brief von deiner Rechten geschrieben wurde, dass mir von den vielen jedoch keiner gebracht wurde. Was ich mir wünsche, ist klar: (…)

Ähnlich formuliert ist dieser Einschub in Ov. trist. 5,13,17–19: Di faciant, ut sit temeraria nostra querela, teque putem falso non meminisse mei. quod precor, esse liquet: (…) Mögen die Götter es geben, dass meine Klage voreilig ist und ich grundlos glaube, dass du meiner nicht gedenkst. Was ich mir wünsche, ist klar: (…)

Über diesen intertextuellen Bezug hinaus wird die Verbindung zwischen den Elegien durch den weiteren Verlauf der Handlung deutlich. In trist. 4,7 folgt auf das quod precor, esse liquet ein Adynata-Katalog, der Beispiele aus dem Bereich der Mythologie enthält. Eher will das Ich daran glauben, dass auf dem Haupt der Gorgo tatsächlich Schlangen wuchsen, dass Hunde an Skyllas Bauch saßen, die Chimaere, ein Zwitterwesen aus Schlange, Ziege und Löwin, existierte, dass Zentauren, dreiköpfige Männer und Hunde, die Sphinx, die Harpyien, die drachenfüßigen, der hundertarmige Gyges oder der Minotaurus existierten,320 als die Möglichkeit einzuräumen, dass der Freund sich verändert hat und sich nicht mehr um ihn kümmert, Ov. trist. 4,7,19–20: 20

Haec ego cuncta prius, quam te, carissime, credam mutatum curam deposuisse mei.

Dies alles will ich glauben, bevor ich glaube, dass du dich, mein Liebster, verändert hast und dich nicht mehr um mich sorgst.

Ähnliche Adynatareihen verwendet Ovid auch in der Liebeselegie. Während aber das elegische Ich der Amores den Corinna geltenden Liebesschwur durch eine Reihe von Adynata bekräftigt und ihr so seine immerwährende 320 Vgl. Ov. trist. 4,7,11–18: Quod precor, esse liquet. credam prius ora Medusae/ Gorgonis anguinis cincta fuisse comis,/ esse canes utero sub uirginis, esse Chimaeram,/ a truce quae flammis separet angue leam,/ quadrupedesque hominis cum pectore pectora iunctos,/ tergeminumque uirum tergeminumque canem,/ sphingaque et Harpyias serpentipedesque Gigantas,/ centimanumque Gyan semibouemque uirum.

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Liebe zusichert und der magister amoris in der Ars Amatoria seinen Schülern mit Hilfe eines Adynata-Katalogs Zuversicht für die kommende Liebeswerbung einflößt, nutzt der poeta exul die Adynata zu einem Appell an den Freund, der in erster Linie der eigenen Selbstversicherung und nur scheinbar der Überzeugung des Freundes dient.321 Auch in Ov. trist. 5,13 setzt der poeta exul eine Reihe von Adynata ein, um an den Freund zu appellieren und sich selbst im Gefühl der Sicherheit zu wiegen. Die angeführten Beispiele, die in diesem Fall der belebten Natur entnommen sind, werden durch zwei zentrale Aussagen des Textes gerahmt, Ov. trist. 5,13,19–24: 20

Quod precor, esse liquet: neque enim mutabile robur credere me fas est pectoris esse tui. cana prius gelido desint absinthia Ponto, et careat dulci Trinacris Hybla thymo, immemorem quam te quisquam conuincat amici. non ita sunt fati stamina nigra mei.

Was ich mir wünsche, ist klar: Denn ich habe kein Recht zu glauben, dass die Kraft deines Innern schwankend ist. Eher möge dem eisigen Pontus der bereifte Wermut fehlen und eher möge der sizilische Berg Hybla des süßen Thymians entbehren, als dass irgendwer nachweise, dass du nicht mehr des Freundes gedenkst. So schwarz sind die Fäden meines Schicksals nicht.

Der Gedanke nämlich, dass der Freund sich nicht verändert haben kann oder darf, wird hier gleich zweimal geäußert: Einmal zu Anfang und einmal als Bekräftigung am Ende des Adynatons. In beiden Fällen lassen sich Bezüge zu Ov. trist. 4,7 herstellen: das Partizip mutatum (4,7,20) wird im Adjektiv mutabile (5,13,19) aufgenommen, die Formulierung curam deposuisse mei in dem Ausdruck immemorem (esse) amici (5,13,23). Der Infinitiv credere und die Wendung quam te werden jeweils unverändert übernommen. Gemeinsamkeiten in Gestaltung und Komposition weisen auch die Briefschlüsse auf: Ov. trist. 4,7 endet mit einer kurz gehaltenen Bitte, die tausend Gründe, die sich einem Brief auf dem Weg zu seinem Empfänger in den Weg stellen können, zu überwinden. Es folgt im letzten Vers eine versteckte 321 Vgl. Ov. am. 2,17,29–33: Noui aliquam, quae se circumferat esse Corinnam;/ ut fiat, quid non illa dedisse uelit?/ sed neque diuersi ripa labuntur eadem/ frigidus Eurotas populiferque Padus,/ nec nisi tu nostris cantabitur ulla libellis:/ ingenio causas tu dabis una meo. Ov. ars. 1,271–274: Prima tuae menti ueniat fiducia, cunctas/ posse capi: capies, tu modo tende plagas./ uere prius uolucres taceant, aestate cicadae,/ Maenalius lepori det sua terga canis,/ femina quam iuueni blande temptata repugnet;/ haec quoque, quam poteris credere nolle, uolet. Vgl. zu den verschiedenen Adynata-Katalogen bei Ovid Bernhardt (1986) 145–147; zur Stelle auch Schubert (1992) 346–347, der die Verwendung einzelner Mythen einerseits auf den Bereich des Fantastischen und Märchenhaften zurückführt, andererseits aber auch auf die antike Ethnographie als Quelle von Berichten über durchaus als real empfundene Ungeheuer verweist.

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Drohung, die in erster Linie das Dilemma des Verbannten aufdeckt: Sein Gegenüber solle schreiben, damit er ihn nicht ständig vor sich selbst entschuldigen müsse.322 Die Schlusspassage in Ov. trist. 5,13 ist aufwendiger gestaltet. Der Freund solle sich davor hüten, als das zu erscheinen, was er nicht sei, und so den Verdacht einer Schuld ausräumen. Wie sie selbst sich früher den ganzen Tag unterhalten hätten, sei es nun die Aufgabe des Briefes, stumme Worte hin und zurück zu tragen. Das Blatt und die Hand sollten die Zunge ersetzen.323 Anders als im Briefgedicht 4,7 folgt auf diese Bitte eine epistolare Schlussformel, die mit dem zentralen Anliegen des Gedichtes verschränkt ist und die (auch im brieflichen Kontext) aussichtslose Lage des poeta exul sichtbar werden lässt, Ov. trist. 5,13,31–34: Quod fore ne nimium uidear diffidere (sitque uersibus hoc paucis admonuisse satis), accipe quo semper finitur epistula uerbo, atque meis distent ut tua fata, ›uale‹. Damit es nicht aussieht, als bezweifle ich zu sehr, dass dieses geschehen wird (auch mag es genug gewesen sein, in wenigen Worten daran erinnert zu haben), empfange das Wort, mit dem jeder Brief endet, und zwar damit dein Schicksal anders sei als meins: ›Lebwohl.‹

Der poeta exul zweifelt hier stärker als in Ov. trist. 4,7 am Erfolg seines Briefes: Die Formulierungen ne nimium uidear diffidere und admonuisse satis offenbaren, dass er seinen eigenen Worten misstraut, und es offensichtlich notwendig ist, den Freund zu ermahnen. Damit wird einer Möglichkeit Raum gegeben, die zuvor scheinbar durch das Adynaton ausgeschlossen wurde. Der letzte Vers schließlich ist resignativ: Um dem Freund das eigene Schicksal, nämlich als Verbannter keinen brieflichen Gruß zu erhalten, zu ersparen, fügt der poeta exul dem Brief gleichsam als Schlussstrich ein endgültiges Vale hinzu. In dieses Muster passt sich nun auch Ov. trist. 5,6 ein, das als eine Art Mittelstück die Briefgedichte 4,7 und 5,13 verbindet. Ähnlich dem Briefanfang in Ov. trist. 4,7 beginnt der poeta exul mit einer Klage, die in diesem Fall jedoch direkt auf die Unzuverlässigkeit des Freundes zielt: Der Freund sei es, auf den er einst immer vertraut habe, er sei ihm Zufluchtsort und Hafen gewesen. Der lasse jetzt die Sorge um ihn fahren? Der lege jetzt die 322 Vgl. Ov. trist. 4,7,21–26: Innumeri montes inter me teque uiaeque/ fluminaque et campi nec freta pauca iacent:/ mille potest causis, a te quae littera saepe/ missa sit, in nostras rara uenire manus;/ mille tamen causas scribendo uince frequenter,/ excusem ne te semper, amice, mihi. 323 Vgl. Ov. trist. 5,13,25–30 Tu tamen, ut possis falsae quoque pellere culpae/ crimina, quod non es, ne uideare, caue./ utque solebamus consumere longa loquendo/ tempora, sermoni deficiente die,/ sic ferat ac referat tacitas nunc littera uoces,/ et peragant linguae charta manusque uices.

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heilige Bürde des officium so schnell ab? Er selbst sei, gesteht der poeta, eine Last, die der Freund aber nicht hätte auf sich nehmen dürfen, wenn er sie in einer solchen Lage abzuwerfen gewillt sei.324 Auf dieses Exordium folgt wie in trist. 4,7 und 5,13 ein Katalog, den der poeta nun allerdings mit einer Ansprache an sein Gegenüber beginnt, trist. 5,6,7–8: Fluctibus in mediis nauem, Palinure, relinquis? ne fuge neue tua sit minor arte fides. Inmitten der Fluten, verlässt Du, Palinurus, das Schiff? Fliehe nicht, nicht sei deine Treue kleiner als deine Kunst.

Mit gutem Grund wird der treulose Freund hier mit dem legendären Steuermann des Aeneas, Palinurus, verglichen, der sich in der Aeneis immer wieder durch seine unerschütterliche Ruhe auch in schweren Unwettern und durch seine Treue auszeichnet.325 Denn das so evozierte Bild der Seefahrt erinnert an die Briefe, in denen der poeta dem jeweiligen Freund für seine Treue auch in stürmischer See dankt. Die in dem Vergleich mit Palinurus angelegte Kritik am Freund wird im folgenden durch die im Katalog angeführten Beispiele noch verstärkt: Habe etwa der treue Wagenlenker des Achilles, Automedon, sein Gespann im Kampfgetümmel im Stich gelassen? Nie habe Podalirius, der berühmte Arzt, einem Kranken Hilfe verwehrt, schimpflicher sei es, einen Gast hinauszuwerfen als ihn abzuweisen, ein Altar, der ihn einmal aufgenommen habe, sei ihm immer eine sichere Zuflucht.326 Im Anschluss an den Katalog folgt eine der zentralen Aussagen des Briefes, die an Ov. trist. 4,7 erinnert und auf Ov. trist. 5,13 vorausweist, Ov. trist. 5,6,15–18: 15 Nil nisi me solum primo tutatus es; at nunc me pariter serua iudiciumque tuum, si modo non aliqua est in me noua culpa, tuamque mutarunt subito crimina nostra fidem. Nichts außer mir allein hast du am Anfang geschützt; aber nun bewahre gleichermaßen mich und dein Urteil, wenn nur nicht neue Schuld an mir haftet und unsere Vergehen plötzlich deine Treue verwandelt haben.

324 Ov. trist. 5,6,1–6: Tu quoque, nostrarum quondam fiducia rerum,/ qui mihi confugium, qui mihi portus eras,/ tu quoque suscepti curam dimittis amici,/ officiique pium tam cito ponis onus?/ sarcina sum, fateor, quam si non tempore nostro depositurus eras, non subeunda fuit. 325 Vgl. Verg. Aen. 3,192–202; 513–520; 561–565 und Aen. 5,12–25. 326 Ov. trist. 5,6,9–14: Numquid Achilleos inter fera proelia fidi/ deseruit leuitas Automedontis equos?/ quem semel excepit, numquam Podalirius aegro/ promissam medicae non tulit artis opem./ turpius eicitur, quam non admittitur hospes:/ quae patuit, dextrae firma sit ara meae.

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Bereits im zweiten Distichon der Elegie knüpft der poeta mit der Wendung curam dimittis amici an den zentralen Gedanken in Ov. trist. 4,7,19–20 (sc. non) credam … te … mutatum curam deposuisse mei an.327 In v. 18 wird die Verbindung der Elegien nun noch einmal durch mutarunt signalisiert, das an derselben Versposition die Stelle von mutatum (Ov. trist. 4,7,20) einnimmt. Gleichzeitig weisen mutarunt, noua culpa und crimina nostra auf Ov. trist. 5,13 voraus: Mutarunt wird in der Formulierung neque enim mutabile robur aufgenommen, culpa und crimina finden Eingang in die Aufforderung, der Freund solle sich hüten, als das zu erscheinen, was er nicht sei, um den Verdacht, Schuld auf sich geladen zu haben, auszuräumen, Ov. trist. 5,13,25–26: 25 Tu tamen, ut possis falsae quoque pellere culpae crimina, quod non es, ne uideare, caue. Du aber, um den Verdacht falscher Schuld zu vertreiben, hüte dich, als das zu erscheinen, was du nicht bist.

So deutlich die Verklammerung der Elegien durch intertextuelle Signale zu erkennen ist, so sehr unterscheidet sich die Elegie 5,6 in der Aussage von den rahmenden Briefen 4,7 und 5,13. Während der poeta exul sich dort jeweils der gegenwärtigen und bleibenden Freundschaft seines Gegenübers zu versichern sucht und ihn auffordert, seinen Glauben an ihn durch die Erfüllung der brieflichen officia, d. h. durch Antworten, zu bestätigen, vergleicht er in Ov. trist. 5,6 glückliche Vergangenheit, traurige Gegenwart und noch unbestimmte Zukunft: In der Vergangenheit war der Freund für ihn Zuversicht (fiducia), Zuflucht (confugium) und Hafen (portus), in der Gegenwart sorgt er sich nicht mehr um ihn (curam dimittis) und hat die ihm auferlegte heilige Bürde (pium onus) abgelegt. Das pium onus steht in diesem Kontext anders als in Ov. trist. 4,7 und 5,13 nicht mehr allein für das officium pium der Brieffreundschaft, sondern in erster Linie für das officium der Freundschaft selbst. Der Fokus der Betrachtung verschiebt sich von der Brieffreundschaft auf die eigentliche Freundschaft. In dieses Gefüge aus Klagebriefen passt sich nun auch die Elegie Ov. Pont. 4,3 ein, in der die skizzierte Entwicklung zum Abschluss gebracht und die Klage über das Schweigen mit der Klage über den Zustand der Freundschaft verbunden wird, Ov. Pont. 4,3,1–2: Conquerar an taceam? ponam sine nomine crimen, an notum qui sis omnibus esse uelim? 327 Ov. trist. 5,6,1–4: Tu quoque, nostrarum quondam fiducia rerum,/ qui mihi confugium, qui mihi portus eras,/ tu modo suscepti curam dimittis amici,/ officiique pium tam cito ponis onus.

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Soll ich klagen oder soll ich schweigen? Soll ich das Verbrechen vorwerfen, ohne den Namen zu nennen, oder sollte ich lieber wollen, dass allen bekannt ist, wer du bist?

Auf diese einleitenden Verse und die Entscheidung, den Namen des Freundes nicht offen zu nennen, folgt eine schon bekannte Klage: Früher, als sein Schiff noch über eine stabile Kiellage verfügte, habe der Freund als erster mit ihm segeln wollen. Nun da sich die Verhältnisse geändert hätten, verleugne er ihn und frage, wer denn dieser Naso sei.328 Wie auch in den oben besprochenen Elegien fügt der poeta exul einen Katalog in die Klage ein, der nun aber nicht mehr Beispiele aus der Mythologie oder der Natur anführt, sondern in der Realität des eigenen Lebens verankert ist. Der poeta hebt seine Verdienste für ihre Freundschaft hervor329 und stellt diesen schließlich das Verhalten des Freundes gegenüber, Ov. Pont. 4,3,17–24: Ille ego sum, qui nunc an uiuam, perfide, nescis, cura tibi de quo quaerere nulla fuit. siue fui numquam carus, simulasse fateris: 20 seu non fingebas, inueniere leuis. aut age, dic aliquam, quae te mutauerit, iram: nam nisi iusta tua est, iusta querela mea est. quod te nunc crimen similem uetat esse priori? an crimen, coepi quod miser esse, uocas? Ich bin derjenige, von dem du jetzt, Treuloser, nicht weißt, ob ich noch lebe, nach dem zu fragen dir kein Anliegen ist. Sei es, dass ich dir niemals etwas wert war, dann gestehst du, geheuchelt zu haben, sei es, dass du nicht vorgetäuscht hast, dann wirst für schwankend du befunden. Oder nenne mir doch irgendeinen Groll, der dich verändert hat. Denn wenn deine nicht gerecht ist, dann ist meine Klage gerecht. Welches Verbrechen ist es jetzt, das es dir verbietet, dich wie früher zu geben, oder nennst du es ein Verbrechen, dass ich unglücklich zu werden begann?

Der erste Teil der Anklage ruft dem Leser deutlich die zentralen Aussagen in Ov. trist. 4,7 und trist. 5,13 in Erinnerung: Der Vokativ perfide stellt die Verbindung zu Ov. trist. 4,7,19 (carissime). Mit Hilfe von cura nulla und mutauerit erinnert der poeta an trist. 4,7,20 (curam deposuisse mei/ mutatum) trist. 5,13,19 (mutabile robur) und trist. 5,6,18 (mutarunt). Das nun folgende wiederholte crimen in den vv. 23 und 24 greift erneut trist. 5,6,18 auf (crimina nostra). Allerdings verändert sich die Aussage gegenüber den Elegien in den Tristien noch einmal. Während in den Tristien trotz der zunehmenden Resignation zumindest scheinbar Hoffnung auf Unterstützung und auf Antwort bleibt, ist das Ergebnis in Ov. Pont. 4,3 eindeutig und endgültig: Zorn hat den Freund verändert. Es geht sogar das Gerücht um, 328 Vgl. Ov. Pont. 4,3,5–10: Dum mea puppis erat ualida fundata carina,/ qui mecum uelles currere, primus eras./ nunc, quia contraxit uultum Fortuna, recedis,/ auxilio postquam scis opus esse tuo./ dissimulas etiam, nec me uis nosse uideri,/ quisque sit, audito nomine, Naso, rogas. 329 Vgl. Ov. Pont. 4,3,11–16.

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dass er den am Boden Liegenden verhöhne und ohne Erbarmen von ihm spreche.330 Entsprechend steht am Ende der Elegie die unverhohlene Warnung, er möge sich vorsehen, dass nicht auch ihn irgendwann ein ähnliches Unglück treffe.331 Die ovidischen Klagebriefe an Freunde scheinen also zumindest in den hier besprochenen Teilen einen Zyklus oder eine Serie zu bilden, in der die Entwicklung einer freundschaftlichen Beziehung vom Anfang über das Entstehen der Krise bis hin zu ihrem Ende beschrieben wird. Während in der ersten Hälfte dieser Serie, d. h. in den Tristienbüchern eins und drei das Lob auf den Freund überwiegt, kippt die Stimmung schließlich mit Ov. trist. 4,7: Das vormalige Lob verändert sich in Klagen. Bestätigt wird diese Entwicklung erstens durch die zahlreichen selbstreferentiellen Signale, mit deren Hilfe der Autor die Klagebriefe verbindet; zweitens durch die in die Sammlung der Epistulae ex Ponto ausgelagerte Elegie Ov. Pont. 4,3. Sie ergänzt unter formalen und inhatlichen Gesichtspunkten den Zyklus der Klagebriefe in den Tristien; denn sie beschreibt nicht nur das Ende der Freundschaft, sondern verschweigt auch den Namen des Adressaten und erinnert darin deutlich an die Praxis des poeta in den Tristien.332 Die Briefe des Symmachus und die poetischen Briefe der Tristia und Epistulae ex Ponto des Ovid weisen neben den Merkmalen der Literarisierung und Fiktionalisierung des Gedankenganges und neben der Trennung von Briefschreiber und Autor eine weitere Gemeinsamkeit auf: Sie sind nicht nur für den im Briefkopf angesprochenen Adressaten, sondern für eine breite Öffentlichkeit geschrieben, zu der auch der Adressat gehören kann. Anders als Symmachus, der sich in Thematik und Komposition seiner umfangreichen Briefsammlung deutlich an Plinius anlehnt und damit selbst Teil einer 330 Vgl. Ov. Pont. 4,3,27–30: Vix equidem credo, sed et insultare iacenti/ te mihi nec uerbis parcere fama refert./ quid facis, a! demens? cur, si Fortuna recedat,/ naufragio lacrimas eripis ipse tuo? 331 Vgl. Ov. Pont. 4,3,57–58 Tu quoque fac timeas, et quae tibi laeta uidentur/ dum loqueris, fieri tristia posse puta. 332 Die Frage, ob die Tristien und die Epistulae ex Ponto nicht als einzelne Sammlungen, sondern als kompositorische und inhaltliche Einheit konzipiert waren, liegt nahe. Hier nur einige Hinweise, die allerdings der Vertiefung bedürfen: Davisson (1990) passim konnte in einer kurzen Untersuchung zu Ov. trist. 5 zeigen, dass das Buch tatsächlich einen Übergang zwischen den eher narrativen Formen der Tristien und der epistolographischen Form der Epistulae ex Ponto darstellt. Ovid kennzeichne seine Elegien im fünften Buch der Tristien wesentlich häufiger als zuvor mit Hilfe brieftopischer Elemente als Briefe und verweise so auf das kommende Werke, die Epistulae ex Ponto (vgl. dazu auch Chwalek, 1996, 65–69). Holzberg (1997) 181–202 postuliert (in Ahnlehnung an Davisson und eigene Überlegungen zum griechischen Briefroman), dass zumindest die Tristien wie ein Briefroman zu lesen seien. Ov. trist. 1,3 und 4 erzählten die Geschichte eines Verbannten, der sich vom umherirrenden Odysseus zum Angehörigen eines Barbarenvolkes entwickele. Jedoch lässt Holzberg die Frage offen, wie sich die Tristien dann zu den Epistulae ex Ponto verhalten.

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Ausonius und die Exildichtung des Ovid

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langen Tradition ist, scheint Ovid – zumindest für die lateinische Literatur – mit seinen literarisierten poetischen Klagebriefen in den Tristien und Epistulae ex Ponto die Gattung Brief noch einmal neu zu erfinden. Er begründet damit eine Tradition, in die sich Ausonius explizit einordnet.

3.6 Ausonius und die Exildichtung des Ovid Die Briefe 21 und 22 des Ausonius sind angefüllt mit Klagen und enden jeweils mit einer Aufforderung an den säumigen Freund. Anders verhält es sich in Brief 24. Auch hier klagt der Ich-Sprecher über Paulinus, der ihn im Stich gelassen habe, von dem er nun durch die unüberwindlichen Pyrenäen getrennt sei. Jedoch besinnt er sich am Ende eines Besseren, Auson. 27,24,102–114: Sed cur tam maesto sero tristia carmina uersu et non in meliora animus se uota propinquat? sit procul iste metus: certa est fiducia nobis, 105 si genitor natusque dei pia uerba uolentum accipiat, nostro reddi te posse precatu, ne sparsam raptamque domum lacerataque centum per dominos ueteris Paulini regna fleamus teque uagum toto, quam longa Hispania, tractu 110 immemorem ueterum peregrinis fidere amicis. accurre, o nostrum decus, o mea maxima cura, uotis ominibusque bonis precibusque uocatus; appropera, dum tu iuuenis, dum nostra senectus seruat inexhaustum tibi gratificata uigorem. Aber warum reihe ich in so schwermütigem Vers Lieder der Trauer aneinander und warum richtet sich mein Sinn nicht auf bessere Wünsche? Fern sei diese Furcht: Ich bin mir sicher, wenn der Schöpfer und der Gottessohn die gottesfürchtigen Worte derjenigen, die etwas von ihnen wollen, annehmen, dann kann es durch unser Gebet gelingen, daß du uns zurückgegeben wirst, damit wir nicht beweinen müssen, dass dein Zuhause auseinandergerissen und geraubt wird, die königlichen Ländereien des alten Paulinus auf hundert Herren verteilt werden; damit wir nicht beweinen müssen, dass du umherirrst auf einer Wanderung, die so weit reicht, wie sich Spanien erstreckt, und – die alten vergessend – fremden Freunden vertraust. Komm zu uns, oh meine Zierde, meine größte Sorge, durch Gelübde und Vorzeichen, durch gute Gebete herbeigerufen. Eile herbei, solange du jung bist, solange mein Greisenalter dir willfährig seine unerschöpfte Kraft bewahrt.

Darauf folgt ein Traum: Der Ich-Sprecher sieht vor seinem inneren Auge die Rückkehr des Freundes und beschreibt sie in Versen, die sich inhaltlich deutlich anlehnen an den klassischen reditus amantis: Der Ich-Sprecher hört den Boten rufen, dass Paulinus schon da sei. Schon habe er die schneebedeckten

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

Städte der Iberer hinter sich gelassen, schon sei er im südlichen Gallien, in Ebromagus, auf dem Gut seines Bruders. Auf der Garonne segle er schon mit günstiger Strömung. In Sichtweite sei er bereits. Seine Ankunft an den Stadttoren werde von einem Volksauflauf gefeiert, doch das alles hinter sich lassend klopfe er bereits an die Tür des Ausonius. Erst der letzte Vers des Gedichtes – Credimus, an qui amant ipsi sibi somnia fingunt –, ein Zitat aus Vergils achter Ekloge also, zeigt, dass sich der Ich-Sprecher die Rückkehr des Freundes nur ausmalt.333 Doch, auch wenn das Ende des Briefgedichtes in gewisser Weise offen bleibt, weiß der spätantike Rezipient, dass die Gebete und Zauber in der achten Ekloge erfolgreich sind und Daphnis schließlich aus der Stadt auf das Land kommt.334 Hoffnung tritt also im letzten Briefgedicht an die Stelle von Verzweiflung, Klage und Ermahnung. Aufschlussreich für unseren Zusammenhang ist, dass Ausonius seine Briefgedichte an Paulinus mit der Formulierung sero tristia carmina nicht nur als Lieder der Trauer ausweist, sondern sie explizit in eine ovidische Tradition stellt, indem er zum einen auf den Titel der Tristia anspielt. Zum anderen verweist Ausonius auf eine Passage im zweiten Buch der Tristia, in welcher der poeta exul beschreibt, wie er überhaupt dazu kam, einen leichten Stoff zu wählen und eine dem princeps missfallende Liebeskunst zu schreiben. Die einen hätte die Kunst des Würfelspiels gelehrt, andere die des Schwimmens, wieder andere die des Schminkens oder der fachgerechten Bewirtung.335 Dadurch sei er zu dem leichten Stoff verleitet worden, Ov. trist. 2,493–496: His ego deceptus non tristia carmina feci, sed tristis nostros poena secuta iocos. denique nec uideo tot de scribentibus unum, quem sua perdiderit Musa, repertus ego. Dadurch getäuscht habe ich keine Trauerlieder verfertigt, aber traurige Strafe folgte meinen Späßen. Schließlich sehe ich nicht einen unter so vielen Schreibern, den seine Muse zerstört hätte; nur mich findet man da.

Ausonius signalisiert Verbindung der Texte also, indem er die Junktur tristia carmina aus dem ovidischen Zusammenhang entnimmt und an derselben Versposition in das Briefgedicht einfügt. Aber nicht nur die äußere Gestalt, auch der Kontext der Elegie wirkt in den Brief hinein. Ovid entschuldigt sich dafür, aus Versehen non tristia carmina und iocos gefertigt zu haben. Doch selbst wenn er, fährt der poeta fort, obszöne Theaterstücke für ein Publikum aus Damen und aufrechten Männern und für den Senat geschrieben hätte, 333 Vgl. Auson. 27,24,124; Verg. ecl. 8,108. 334 Verg. ecl. 8,109: Parcite, ab urbe uenit, iam parcite carmina, Daphnis. 335 Ov. trist. 2,469–492.

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Ausonius und die Exildichtung des Ovid

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dann hätte Augustus, vermutlich beide Augen zugedrückt.336 Dann schlussfolgert er, Ov. trist. 2,515–516: Scribere si fas est imitantes turpia mimos, materiae minor est debita poena meae. Wenn es erlaubt ist, Bühnenspiele zu schreiben, die schamloses Treiben nachahmen, dann hat mein Stoff eine geringere Strafe verdient.

Der poeta exul entschuldigt sich für ein im Grunde lässliches Vergehen und fordert als Gegenleistung Strafmilderung. Eine ähnliche Situation zeigt sich im Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus. In carm. 10 lässt Paulinus das poetische Ich klagen, die Briefe des Ausonius seien dem Ernst der Lage nicht angemessen. Zu scherzen und mit Erdichtetem zu spielen, möge noch angehen. Die Mittel der Satire zu nutzen und hinter schmeichelnden Worten ätzende Botschaften zu verbergen, sei jedoch die Sache von Dichtern, nicht die von Vätern und Lehrern.337 Bezieht man diese Klage in das Briefgedicht des Ausonius ein, so entfaltet der durch tristia carmina evozierte Prätext die Wirkung einer Entschuldigung: Auch der Ich-Sprecher und Ausonius entschuldigen sich für ein geringes Vergehen, nämlich satirische Mittel für ihre Argumentation genutzt zu haben. Nun fordern sie Strafmilderung oder gar eine Aufhebung der Strafe, die in der Abwesenheit des Freundes besteht. Das Verhältnis ist also genau umgekehrt: Nicht der zu Strafende lebt im Exil, sondern das freiwillige Exil des Freundes wird zur Strafe. Dass die Exildichtung des Ovid für das Verständnis der Briefgedichte an Paulinus eine wichtige Rolle spielt, zeigt sich auch in den anderen Briefgedichten, und zwar an jeweils prominenter Stelle. Den Beginn seines ersten Briefgedichtes an Paulinus formuliert Ausonius auf ovidischer Folie.338 Die inhaltlichen Übereinstimmungen sind unverkennbar: In beiden Fällen leidet 336 Ov. trist. 2,497–514. 337 Vgl. Paul. Nol. carm. 10,260–268: Multa iocis pateant; liceat quoque ludere fictis./ sed lingua mulcente grauem interlidere dentem,/ ludere blanditiis urentibus et male dulces/ fermentare iocos satyrae mordacis aceto/ saepe poetarum, numquam decet esse parentum./ namque fides pietasque petunt, ut quod mala nectens/ insinuat castis fama auribus hoc bona uoti/ mens patris affigi fixumque haerescere cordi/ non sinat. Zu pater verstanden als Synonym für den Lehrer vgl. Kap. 7.1. und Ebbeler (2007) 303–315. 338 Man vgl. Auson. 27,21,1–6 und Ov. trist. 4,7,1–10. Die Texte werden hier der Übersichtlichkeit halber noch einmal gegeben, Auson: Quarta tibi haec notos detexit epistula questus,/ Pauline, et blando residem sermone lacessit;/ officium sed nulla pium mihi pagina reddit,/ fausta salutigeris ascribens orsa libellis./ unde istam meruit non felix charta repulsam,/ spernit tam longo cessatio quam tua fastu? Ov.: Bis me sol adiit gelidae post frigora brumae,/ bisque suum tacto Pisce peregit iter./ tempore tam longo cur non tua dextera uersus/ quamlibet in paucos officiosa fuit?/ cur tua cessauit pietas, scribentibus illis,/ exiguus nobis cum quibus usus erat?/ cur, quotiens alicui chartae sua uincula dempsi,/ illam speraui nomen habere tuum?/ di faciant ut saepe tua sit epistula dextra/ scripta, sed ex multis reddita nulla mihi.

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

das Ich darunter, keine Briefe erhalten zu haben und verleiht seinem Leid durch jeweils ähnlich gehaltene Klagen Ausdruck. Wie sich der poeta exul in Ov. trist. 4,7 über einen Freund beklagt, der gegen ihre alte Gewohnheit auf mehrere Briefe aus dem Exil an der Schwarzmeerküste nicht geantwortet hat, klagt auch der Briefschreiber des Ausonius über die lang währende Säumigkeit des Freundes. Formal markiert Ausonius die Beziehung zwischen den Texten mit Hilfe verschiedener kleinerer, aus ihren Segmenten gelösten Reminiszenzen: Das ovidische officiosa wird in officium geändert (Ov. trist. 4,7,4/ Auson 27,21,3), pietas spiegelt sich in pium (Ov. trist. 4,7,5/ Auson. 27,21,3), cessauit in cessatio (Ov. trist. 4,7,5/ Auson. 27,21,6), reddita in reddit (Ov. trist. 4,7,10/ Auson. 27,21,3), nulla (Ov. trist. 4,7,10/ Auson. 27,21,3) und epistula (Ov. trist. 4,7,9/ Auson. 27,21,1) werden ohne Veränderung in den neuen Kontext übernommen. Die Übereinstimmungen könnten zufällig sein, denn die genannten Begriffe gehören zum Fundus antiker Brieftopoi.339 Doch ähneln sich die Texte auch strukturell und kompositorisch: In Ov. trist. 4,7 folgt auf die einleitende Passage der Adynata-Katalog, der Beispiele aus dem Bereich der Mythologie enthält und in die zentrale Aussage der Elegie mündet, dass der poeta exul eher an die genannten Figuren des Mythos glauben will als daran, dass der Freund sich verändert hat und sich nicht mehr um ihn kümmert.340 Im Briefgedicht des Ausonius folgt ebenfalls ein Katalog, der, wie an anderer Stelle beschrieben, nach Art einer Priamel gestaltet ist und den Leser in eine bukolische Szenerie versetzt. Eingebettet in diese Szenerie ist der zentrale Satz, Auson. 27,21,16 (Green): nil mutum natura dedit – nichts Stummes hat die Natur geschaffen.341 Auf den ersten Blick wird deutlich, wie unterschiedlich die Kataloge gestaltet sind. Ovid verbindet den zentralen Gedanken seines Katalogs haec prius credam mit einem Reigen negativ konnotierter Schreckbildnisse wie der Medusa und der Sphinx. Ausonius dagegen bettet seine zentrale Aussage in eine ideale bukolische Szenerie ein. Dementprechend unterscheidet sich auch die Aussage der Kataloge. Während die Adynata der ovidischen Exilelegie dazu dienen, die Unmöglichkeit der Untreue des Briefreundes zu unterstreichen, geht Ausonius einen Schritt weiter. Mit der antithetischen Pointe tu … obnixum, Pauline, taces (Auson. 27,21,26–28) am Schluss des Katalogs postuliert der Briefschreiber, dass es dem Freund durch sein Schweigen gelungen ist, das Unmögliche möglich zu machen: Wider die Naturgesetze schweigt Paulinus. Der poeta exul der Exilelegie nennt im weiteren Verlauf der Elegie vor allem geographische und physische Gründe, die den Freund am Schreiben hindern könnten, und bittet ihn darum, diese Hindernisse

339 Vgl. für eine ähnliche Häufung entsprechender Begriffe z. B. Symm. ep. 1,34. 340 Vgl. Ov. trist. 4,7,11–18. Vgl. auch Kap. 7.1 und Rücker (2009) passim. 341 Vgl. Auson. 27,21,9–16. Der Katalog wird ausführlich besprochen in Kap. 8.

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durch die Masse der Briefe zu bezwingen.342 Dagegen sucht der Briefschreiber die Gründe des Schweigens nicht in der Außen-, sondern in der Innenwelt des Freundes: Scham hindert Paulinus am Schreiben.343 In einem wortreichen Exkurs weist der Schreiber schließlich einen Weg, den Naturgesetzen zu gehorchen, nämlich durch ein kurzes, aber prägnantes Grußwort.344 Auf dieses Zwischenspiel folgt die zentrale Aussage des Briefes, die gedanklich an die Pointe der Priamel anschließt. Der Briefschreiber schließt aus dem Schweigen des Freundes, das dieser seinen Charakter verändert habe, Auson. 27,21,50: Vertisti, Pauline, tuos, dulcissime, mores: Du hast, mein lieber Paulinus, deinen Charakter verändert:

Ausonius weist dem Leser hier den Weg zurück in die Welt der ovidischen Liebeselegie, indem er eine Verbindung zur zentralen Aussage der Elegie Ov. trist. 4,7 herstellt. Dort versucht der poeta exul seine Unsicherheit zu kaschieren, indem er sich versichert, eher wolle er an die figmenta des Mythos als an eine Veränderung des Freundes glauben, Ov. trist. 4,7,19–20: Haec ego cuncta prius, quam te, carissime, credam/ mutatum curam deposuisse mei. Ausonius markiert den intertextuellen Bezug durch den Infinitiv uertere und den Vokativ dulcissime, die er als Synonyme an die Stelle von mutatum und carissime setzt.345 Auch an dieser Stelle verändert sich aber die Aussage gegenüber trist. 4,7. Dort verleiht der poeta exul mit Hilfe der Adynata und des emphatischen haec prius credam quam seiner Hoffnung Ausdruck, dass der Freund sich nicht verändert hat. Hier bleibt dem Briefschreiber aufgrund des in der Priamel deutlich gewordenen Befundes nur die Feststellung, dass sich der Freund bereits verändert hat. Tatsächlich wirksam werden die verschiedenen von Ausonius genutzten Reminiszenzen also erst im Zusammenspiel mit der Struktur und dem Inhalt des Textes. Inhalt und Struktur sind selbst intertextuelle Signale. Der Leser ist nach diesem ovidischen Beginn vorbereitet auf weitere Anklänge an die Exilelegie; und tatsächlich bestätigt Ausonius diese Positionsbestimmung immer wieder, indem er entweder Motive der Exilelegie in die Briefgedichte einarbeitet346 oder auf zentrale Passagen einzelner Liebesele342 Vgl. Ov. trist. 4,7,21–26: Innumeri montes inter me teque uiaeque/ fluminaque et campi nec freta pauca iacent./ mille potest causis a te quae littera saepe/ missa sit in nostras rara uenire manus;/ mille tamen causas scribendo uince frequenter,/ excusem ne te semper, amice, mihi. 343 Vgl. Auson. 27,21,28–31. 344 Vgl. Auson. 27,21,32–35 und zum Kontext dieser Stelle Kap. 6.2. 345 Vgl. dazu Ov. trist. 4,7 und dazu Kap. 7.1. 346 Vgl. z. B. die Beschreibung verödeter Landschaften (Auson. 27,21,56–59; 24,59–94), mit derern Hilfe Ausonius die Tarraconensis jeweils in die Nähe eines spätantiken Tomis rückt.

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Die Briefgedichte Auson. 27,21 und 27,22

gien verweist: So formuliert er z. B. die Schlusspassage von Brief 22 auf der Folie von Ov. trist. 3,7,15–20 und Pont. 4,3,11–22, zwei Passagen, die, wie wir an anderer Stelle sehen werden, ausschlaggebend sind für das Verständnis der Briefgedichte insgesamt.347 Die an Paulinus gerichteten Briefgedichte sollten also, will man sie angemessen interpretieren, vor dem Hintergrund lateinischer Klagebriefe und besonders vor dem Hintergrund der ovidischen Exilelegien gelesen werden. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass zwei zeitlich weit auseinanderliegende, auch inhaltlich und stilistisch ganz unterschiedliche Autoren, Ovid und Symmachus, gleichermaßen reale und fiktionale Elemente miteinander verbinden: Ovid beschreibt in den hier besprochenen augusteischen Briefen aus dem Exil in gewisser Weise die Geschichte einer endenden Freundschaft. Und es gelingt ihm, innerhalb dieser Geschichte einen Spannungsbogen zu erzeugen. Symmachus entwickelt in einem scheinbar persönlichen Klagebrief ein Spiel mit verschiedenen Gattungen, indem er Elemente der Komödie und der Liebeselegie in die Argumentation einarbeitet, und fiktionalisiert so die reale Grundlage des Briefes. Zwar lässt sich nicht ohne weiteres von Ovid und Symmachus auf Ausonius schließen. Jedoch sollten wir vor dem Hintergrund der deutlichen Verweise auf die Tradition des Klagebriefes im allgemeinen und auf die Exilelegien im besonderen auch bei ihm auf die Verbindung von Fiktion und Realität achten. Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass Ausonius zwar auf Ovid rekurriert, jedoch, zumindest was das intertextuelle Spiel betrifft, Horaz, den protos heuretes des Versepistelbuches, beiseite lässt.348 In einem anderen wichtigen Punkt jedoch folgt Ausonius Horaz, und zwar im Metrum: Während Ausonius für die frühen Briefgedichte an Paulinus auch elegische Distichen und prosimetrische Formen verwendet, fasst er die späten Briefgedichte ausschließlich in Hexametern ab.349 Damit begibt er sich m. E. wie vor ihm Horaz in die Rolle des von Philosophie und Literatur durchdrungenen Lehrers und Freundes, der mit Hilfe des Mediums ›Brief‹ in didaktischer Manier vor allem Mahnungen und Aufforderungen an den jüngeren Schüler weitergibt. Ausonius inszeniert seine Briefgedichte mit Hilfe des Metrums also als private, nicht-öffentliche Korrespondenz, die vorder347 Vgl. Kap. 7.1 und Rücker (2009) passim. 348 Zumindest finden sich, soweit wir das an dieser Stelle beurteilen können, in den Briefgedichten 21 und 22 an Paulinus keine Bezüge zu Horaz. Dass Ausonius Horaz kannte, zeigt das Zitat aus Hor. carm. 2,16,27–28 in Auson. 11,6,50–54: Quam fatiloquo/ dicta profatu/ uersus Horati:/ ›nihil est ab omni/ parte beatum.‹ Außerdem der deutliche Bezug auf Hor. carm. 3,1,1 (odi profanum uulgus et arceo) in der Praefatio zur Bissula, Auson. 17 (a) 1–6: Peruincis tandem et operta musarum mearum, quae initiorum uelabat obscuritas, quamquam non profanus irrumpis, Paule carissime. quamuis enim te non eius uulgi existimem quod Horatius arcet ingressu, tamen sua cuique sacra, neque idem Cereri quod Libero, etiam sub isdem cultoribus. 349 Vgl. z. B. Auson. 27,17 (Prosimetrum: Prosa und Hexameter), 18 (elegische Distichen), 19 (Prosimetrum: Prosa, Hexameter und Iamben), 20 (Prosimetrum: Prosa und Iamben).

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Ausonius und die Exildichtung des Ovid

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gründig weniger Dichtung, sondern ein persönlicher Brief zu sein scheint. In dieser Konstellation übernimmt der Leser die Rolle des außenstehenden Beobachters, der die Klagen und Ermahnungen der persona Ausonius (und später die Antworten der persona Paulinus) aus einer distanzierten Position verfolgt.350 Auch die äußere, metrische Form der Briefgedichte stellt also einen intertextuellen Bezug dar, eine formale Reminiszenz, mit deren Hilfe Ausonius den Leser wieder auf die literarische Tradition verweist, diesmal auf die des Horaz.351 Ausonius vereint so formal im Metrum und inhaltlich in intertextuellen Bezügen die beiden großen Linien römischer Briefdichtung: den belehrenden hexametrischen Brief des Horaz und den elegischen Klagebrief des Ovid.

350 Treffend zu den Briefgedichten des Horaz Ferri (2007) 123–124: »In this way, the very choice of communicative medium relates to the poet’s newly chosen stance, and of his persona. Horace expresses himself in a distant and indirect form, looking away from the readers of the book, facing only his private adressees, as if he wished to situate himself at some remove from Roman society. Future readers are – the last poem will drive the point home – eavesdroppers, unforseen listeners overhearing a muffled sound of confessions, complaints, exhortations.« Diese Beschreibung der Horaz-Briefe trifft im Grunde auch auf die Briefgedichte des Ausonius zu. 351 Zu solchen formalen Reminiszenzen, die auf makrostruktureller Ebene wirksam werden, vgl. Lühken (2002) 25–26.

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4. Die handschriftliche Überlieferung der Briefgedichte

4.1 Vorbemerkung: Briefreihenfolge und Textüberlieferung Die Chronologie des Briefwechsels, die Reihenfolge der einzelnen Briefe ist seit den im Jahr 1574 veröffentlichten ›Ausonianarum quaestionum libri duo‹ des Joseph Justus Scaliger Gegenstand philologischer Forschung und gelehrten Streits.352 Die Briefpartner selbst äußern sich zur Anzahl der von ihnen geschriebenen und empfangenen Briefe an jeweils einer Stelle. Am Beginn von ep. 27,21 (Green) spricht Ausonius davon, dass dies der vierte Brief sei, der dem Freund wohlbekannte Klagen webe, Auson. ep. 27,21,1–2: Quarta tibi haec notos detexit epistula questus, Pauline, et blando residem sermone lacessit.

Paulinus spricht in carm. 10, einem der beiden Antwortschreiben, davon, dass er einen libellus mit einer trina epistula erhalten habe, Paul. Nol. carm. 10,1–8:

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Quarta redit duris haec iam messoribus aestas et totiens cano bruma gelu riguit, ex quo nulla tuo mihi littera uenit ab ore, nulla tua uidi scripta notata manu, ante salutifero felix quam charta libello dona negata diu multiplicata daret. trina etenim uario florebat epistola textu, sed numerosa triplex pagina carmen erat.

Dies ist der vierte Sommer, der abgehärteten Schnittern zurückgekehrt ist, und ebenso oft erstarrte der Winter in weißem Frost. Seitdem gelangte kein Wort aus deinem Mund zu mir, kein Schriftstück, das von deiner Hand gezeichnet war, sah ich, bevor mir nun ein Brief, glücklich und glückbringend aufgrund des grußtragenden Gedichtbuches, lange verwehrte Geschenke vielfältig brachte. Denn ein dreifacher Brief zeichnete sich aus durch stilistische Vielfalt, und zwar war das rhythmenreiche Gedicht ein dreifaches Lied.

So wir den Autoren Glauben schenken können, hatte Ausonius also mindestens vier Briefe geschrieben, von denen Paulinus zum Zeitpunkt der Abfassung von carm. 10 drei erhalten hatte. Schwierig wird die Frage der Chrono352 Vgl. Scaliger (1580). Für diese Arbeit konnte nur die Ausgabe von 1580 eingesehen werden, die jedoch mit der Erstausgabe von 1574 weitgehend identisch ist.

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Vorbemerkung: Briefreihenfolge und Textüberlieferung

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logie zum einen aufgrund der komplizierten Überlieferungslage, zum anderen aber auch aufgrund des Strebens der Gelehrten, die reale Chronologie, d. h. den realen Verlauf des Briefwechsels mit Hilfe der Überlieferung zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt der textgeschichtlichen und chronologischen Überlegungen stand immer schon die Frage, wie die in den Handschriften aufgefundenen Texte des Briefwechsels und die sporadischen, aber zum Teil detaillierten Angaben ihrer Kopisten in Übereinstimmung mit den oben zitierten Äußerungen des Ausonius und Paulinus gebracht werden können. So hat man beispielsweise versucht, von den Brieftituli, die größtenteils nachträglich als erläuternde Paratexte beigefügt worden sein dürften, auf die richtige Reihenfolge der Briefe zu schließen. Weiterhin finden sich in den Briefgedichten des Ausonius Varianten, die sprachlich und stilistisch von hoher Qualität sind und entweder auf Interpolationen eines literarisch gebildeten Redaktors oder auf Autorenvarianten des Ausonius selbst deuten. Sollte es sich in diesen Fällen tatsächlich um Autorenvarianten handeln, stellt sich die Frage, ob der Briefwechsel in der vorliegenden Gestalt dem ursprünglichen Briefwechsel entspricht oder ob es sich um eine überarbeitete Version handelt. Die folgenden Kapitel setzen sich daher eingehend mit den Fragen der Textüberlieferung und der Briefreihenfolge (Kap. 4 und 5) und dem literarischen Charakter der Briefgedichte (Kap. 6 und 7) auseinander. Zunächst werde ich in Kapitel 4.2 einen kurzen Überblick über die Textgeschichte des Ausonius und die mit ihr verbundenen wissenschaftlichen Kontroversen geben. Die Kapitel 4.3.1 und 4.3.2 widmen sich der Frage, ob und inwiefern die Tituli der Briefe und anderer Werke sowie ein oft bemühter Bindefehler Aufschluss geben über eine grundsätzliche Verwandschaft der beiden großen Familien der Ausonius-Handschriften. In den Kapiteln 4.4.1 bis 4.4.3 sowie in Kap. 4.5 wird zu zeigen sein, dass zumindest die Ausonius- und Paulinus-Handschriften, die den Briefwechsel überliefern, eine gemeinsame Vorlage haben und dass sich in in ihnen Spuren einer sehr frühen Überarbeitung finden, die vielleicht auf Ausonius selbst zurückgeht. Kapitel 4.6 wird sich mit dem Codex Parisinus 7558 befassen, einer Handschrift, deren überlieferungsgeschichtlicher Wert m. E. zu Unrecht in Zweifel gezogen wird. Auf Grundlage der im 4. Kapitel erzielten Ergebnisse wird in den Folgekapiteln 5, 6 und 7 über die Briefreihenfolge und den literarischen Charakter der Briefgedichte des Ausonius, die m. E. einen Zyklus darstellen, zu sprechen sein.

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Die handschriftliche Überlieferung der Briefgedichte

4.2 Die Textgeschichte des Ausonius353 Die Werke des Ausonius sind in drei Handschriftengruppen überliefert, die jeweils verschiedene Teile des Gesamtwerkes enthalten. Die erste Gruppe wird hauptsächlich durch den Vossianus Latinus Lat. F. 111 Leidensis repräsentiert (V). Der Vossianus ist eine in visigotischer Minuskel geschriebene Miscellanhandschrift, in der neben einem Teil der Werke des Ausonius unter anderem Gedichte des Paulinus von Nola, des Sedulius, des Dracontius und des Venantius Fortunatus sowie die metrischen Bibelparaphrasen des Theodulf von Orléans stehen. Seine Entstehungszeit dürfte um den Tod des Theodulf im Jahre 821 oder wenig später, d. h. in das zweite Viertel des 9. Jahrhunderts zu datieren sein. Aufgefunden wurde er etwa um das Jahr 1500 durch den neapolitanischen Gelehrten und Dichter Jacopo Sannazaro im Benediktinerkloster der Île de Barbe bei Lyon. Zwar lässt sich die Vermutung Francesco Della Cortes, der Codex sei in Lyon von der Hand des Theodulf selbst geschrieben und stelle eine Sammlung seiner Lieblingsdichtungen dar, kaum belegen. Dennoch weisen die im Vossianus überlieferten Autoren, die visigotische Minuskel und der Auffindungsort auf einen südfranzösischen, vielleicht auch nordspanischen Entstehungsort hin.354 In Verbindung mit dem Vossianus stehen zwei Veroneser Handschriften: Der Codex Parisinus Latinus 8500 (P), der für Francesco Petrarca geschrieben wurde und auf einen um 1300 in der Kapitelbibliothek von Verona aufgefundenen codex deperditus in langobardischer Schrift zurückgeht, und der Lond. Brit. Lib. Harleianus 2613 (H), der anhand von Wasserzeichen auf das Jahr 1491 datiert werden kann. Beide Handschriften teilen Fehler, sind aber nicht direkt voneinander abhängig, sondern gehen auf eine gemeinsame Vorlage zurück. Der Harleianus weist, so die Rekonstruktion durch Green und Sesto 353 Einen Überblick über die Textüberlieferung des Ausonius und die klassisch-philologische Forschung zu dieser bieten Reeve (1983) 26–28 und Green (1991) praef. xli–xlix und Liebermann/Schmidt (1989) 270–277; gut handzuhaben ist außerdem die tabellarische Auflistung der wichtigsten Ausonius-Handschriften durch Elsa-Maria Tschäpe (2007) 96–100, die außerdem die wichtigsten Kontroversen der Ausonius-Forschung kurz anreisst. Unter formalen Gesichtspunkten ist vor allem problematisch, dass die Herausgeber der unterschiedlichen Ausgaben jeweils eigene Siglen zur Kennzeichnung der Handschriften verwenden oder auch Handschriften unter einem anderen Namen führen. Ähnliches gilt auch für die Anordnung der Werke im allgemeinen und die Zählung der Briefgedichte im besonderen; hier weichen die Gelehrten deutlich von einander ab. Um Verwirrung vorzubeugen, orientiere ich mich grundsätzlich an der gut zugänglichen OCT-Edition von Green (1999) oder, wo dies aus sachlichen und inhaltlichen Gründen notwendig erscheint, an der kommentierten Edition von Mondin (1995). In letzterem Falle wird die Zählung von Green in Klammern hinzugesetzt. 354 Vgl. zum Vossianus die geraffte Darstellung bei Reeve (1983) 26–27 und die Beschreibung von Della Corte (1991) 100–101.

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Die Textgeschichte des Ausonius

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Prete, viele Gemeinsamkeiten, besonders Lücken, mit dem Vossianus auf.355 Der Vossianus, der Parisinus und der Harleianus scheinen also auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen. Die zweite Gruppe, die mit der Sigle Z gekennzeichnet wird, setzt sich aus mehr als 20 italienischen Handschriften und der 1472 in Venedig durch Bartholomaeus Girardinus herausgegebenen editio princeps zusammen. Aus dieser Gruppe ragen der kurz nach 1385 für Coluccio Salutati geschriebene Florentinus Bibl. Naz. Conv. Soppr. J. VI (M),356 der Londiniensis Brit. Lib. King’s 31, der durch Wasserzeichen in das Jahr 1475 datiert werden kann (K),357 der Patavinus Capit. C 64 (C), und schließlich der Leidensis Vossianus Lat. Q 107 (T),358 die jeweils in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts zu datieren sind, heraus. Die Handschriften repräsentieren eine wesentlich ältere Überlieferungstradition, deren Spuren sich vereinzelt nachweisen lassen.359 Die dritte Gruppe sei hier der Vollständigkeit halber genannt. Sie überliefert als einzige die Mosella. Ihre Hauptvertreter sind der Codex Sangallensis 899 (G) aus dem ausgehenden 9. Jahrhundert und der Bruxellensis 5369–73 (B) aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Die Textüberlieferung des Ausonius wurde von Günther Jachmann als die verwickeltste aller antiken Autoren bezeichnet.360 Denn keine der großen Handschriftenfamilien überliefert alle Werke des Ausonius: Lediglich die Monosticha de aerumnis Herculis, die zu den Eclogen gehören, 65 Verse der Caesares und eines der Epigramme finden sich in jeder der drei Sammlungen. Einige Werke werden nur in jeweils einer der drei Gruppen überliefert: Die Commemoratio professorum Burdigalensium, die Parentalia und der Ordo urbium nobilium stehen nur im Vossianus und den zu seiner Tradition gehörenden Handschriften, die Gratiarum actio und der Cento nuptialis nur in der Gruppe Z, die Mosella, wie erwähnt, nur in der Familie des Sangallensis und des Bruxellensis. Darüber hinaus weichen die Texte an den Stellen, an denen sich die Handschriften überschneiden, zum Teil deutlich von einander ab.361 Mit Beginn der modernen Ausonius-Philologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zwei einander widersprechende Modelle entwickelt, die den komplizierten Befund erklären sollten. Rudolf Peiper formulierte in 355 Vgl. vor allem Prete (1987) 509–514, bes. 512: »Da queste osservazioni è facile concludere che h non segue P (…).« 356 Mondin (1995) XXXIX bezeichnet diese Handschrift abweichend als Magl. Conv. Sopp. J. VI. 29. 357 Mondin (1995) XXXIX bezeichnet den Codex abweichend als Mus. Brit. King’s 31. 358 Mondin (1995) XXXIX bezeichnet den Codex abweichend als Leid. Voss. Lat. Q 33. 359 Vgl. z. B. Reeve (1983) 27 und Green (1991) praef. xlviii und Green (1999) praef. xv. 360 Vgl. Jachmann (1941) 526. 361 Vgl. Reeve (1983) 26.

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den im Jahr 1880 publizierten Vorüberlegungen zu der wenig später erschienenen Teubneriana (1886) die These, dass die Werke des Ausonius wahrscheinlich kurz nach dessen Tod in einem Exemplar publiziert worden seien, das einerseits die von Ausonius selbst geplanten und durch den Vossianus repräsentierten Editionen, andererseits aber auch den durch Z repräsentierten Nachlass des Ausonius enthalten habe.362 Von diesem einen Exemplar seien bereits sehr früh, an der Grenze vom 4. zum 5. Jahrhundert nach Christus, zwei Abschriften entstanden, aus denen die verschiedenen Handschriftenfamilien hervorgegangen seien. Die signifikanten Varianten in den Handschriften seien auf Interpolationen durch gelehrte, spätantike oder frühmittelalterliche Schreiber zurückzuführen.363 Dem wurde wenig später von Wilhelm Brandes und Otto Seeck entgegengehalten, dass die Varianten keine Interpolationen, sondern Autorenvarianten seien. Der überlieferte Ausonius-Text gehe nämlich auf zwei verschiedene Editionen zurück: Die eine sei durch den Autor selbst vorgenommen, die andere, als deren Hauptvertreter der Vossianus gelten müsse, sei zum Teil von ihm geplant, jedoch postum durch einen nahen Freund oder Verwandten aus Nachlass- und Konzeptbüchern herausgegeben worden.364 Die eine Redaktion zeige sich in der Handschriftengruppe Z, die andere im Vossianus. Z sei eine um das Jahr 370 angelegte, allmählich vervollständigte, spätestens im Jahr 383 abgeschlossene Sammlung. Der Vossianus präsentiere dagegen die Nachlese, die mit der letzten vom Dichter beabsichtigten Ausgabe verbunden gewesen sei. Diese Nachlese habe aus Einzelschriften, Konzepten, Fragmenten und Briefen an Freunde bestanden. Zusammengefasst worden sei sie nach dem Tod des Dichters durch dessen Sohn Hesperius. Beide Sammlungen hätten keinerlei Verbindung zu einander gehabt, Z sei früh nach Italien gekommen, der Vossianus dagegen in Frankreich verblieben.365 Die von Brandes und Seeck vorgebrachte These hat die Gelehrten immer wieder fasziniert. Denn Ausonius schien der erste lateinische Autor zu sein, für den man eine zweite Edition seiner Werke nicht mehr nur annahm. Man glaubte vielmehr, für diesen speziellen Fall mit Hilfe der Textgeschichte und der handschriftlichen Befunde eine doppelte Edition beweisen zu können.366 362 Vgl. Peiper (1880) 282–283. 363 Vgl. Peiper (1880) 317. 364 Vgl. Brandes (1881) 59–79 und Seeck (1887) 497–520. 365 Vgl. Brandes (1881) 76. 366 Vgl. z. B. das Urteil bei Emonds (1941) 82–83: »Auch bei ihm (sc. Ausonius) stoßen wir auf Beispiele mehrfacher Bearbeitung von literarischen Werken, ja seine Gedichte sind in einer doppelten Sammlung auf uns gekommen, von denen eine jede einen eigenen Überlieferungszweig darstellt und die mehrfache Bearbeitung einzelner Gedichte noch zu erkennen gibt. Für die Gesamtheit der zweiten Auflage in der Antike erschließt sich also mit Ausonius zum ersten Male die nationalrömische Literatur, die an sich nur äußerst wenige diplomatisch greifbare Spuren antiker Autorenrezension hinterlassen hat.«

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Vermutlich auch aus diesem Grund fand die These von den zwei Editionen Eingang in die großen Handbuch-Projekte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts: Martin Schanz und Carl Hosius übernahmen die Ergebnisse von Brandes und Seeck in ihrer Literaturgeschichte ebenso wie Helm in dem Ausonius-Artikel der RE.367 Allerdings ist die Annahme von einer noch zu Lebzeiten des Autors und einer postum publizierten Edition aus mehreren Gründen problematisch. Denn auf der einen Seite überliefert der Vossianus verschiedene Werke, die auch in Z zu finden sind: so jeweils einen Brief an Axius Paulus und einen an Theon, eine ganze Reihe der Epigramme und ein Stück der Eclogen.368 Auf der anderen Seite sind in Z Werke nicht überliefert, die man, so die Kritiker der Zwei-RedaktionenThese, in einer mit dem Jahr 383 abgeschlossenen Sammlung in jedem Fall erwarten würde, zum Beispiel die Gedichte, die das Konsulat des Ausonius betreffen.369 Günther Jachmann und Sesto Prete wandten sich aus diesen Gründen vehement gegen die Annahmen Brandes’ und Seecks, die, so die Kritik Pretes, eher auf philologischer Intention als auf Kenntnis der Texte und der Überlieferung beruhten.370 Im Gegenzug versuchten sie mit Hilfe breit angelegter Interpretationen zu zeigen, das Z aus dem Vossianus hervorgegangen sein müsse, also interpoliert sei und insofern keinen oder nur geringen eigenständigen Überlieferungswert habe.371 Wenig später sprachen sich Agostino Pa367 Vgl. Schanz/ Hosius (1935) 24–28 und Helm (1949) 2562 ff. 368 Vgl. zu den doppelt überlieferten Werken die Übersicht bei Green (1991) praef. xxiii. 369 Diese Probleme sahen auch Seeck, Brandes und Pasquali (1934) und versuchten sie auf verschiedenen Wegen zu lösen: Seeck erklärte die Doppelfassungen in V zu überarbeiteten Fassungen, manche der Gedichte seien vielleicht auch zufällig in die zweite Edition geraten. Pasquali dagegen glaubte, dass die zweite Edition V ursprünglich neben den neuen Gedichten auch den gesamten Inhalt von Z enthalten sollte, mit Ausnahme der Erotica. Die Auslassungen in Z schob Brandes auf die Zustände in Gallien nach der Usurpation des Magnus Maximus: Die Edition habe aufgrund der gefährlichen Zeiten sehr schnell erstellt werden müssen. Die einzelnen Lösungsvorschläge stellt Green (1991) praef. xliv–xlix ausführlich vor. 370 Vgl. Jachmann (1941) und vor allem die harte Kritik bei Prete (1959) 192–193: »The philologists who studied Ausonius after Schenkl and Peiper did not examine the problem of the history of the text deeply and completely. Present-day scholars of these subject limit themselves to referring the reader to the results obtained in the studies of Brandes and Seeck; however, the research of these philologists may and perhaps must be considered peripheral, because Brandes as well as Seeck (but especially the latter) had studied Ausonius only occasionally, without penetrating deeply into the text. If their examination had been more profound, their results would very probably have been different. (…) The scholars whose prestige was enhanced by such studies are precisely those who did not attempt lengthy and intense research on the production of the poet, but had merely read (sometimes only in part) works of other scholars and with astonishing boldness have proposed hypotheses and theories which have been accepted without any hesitation.« 371 Vgl. Jachmann (1941) 47–104, bes. 50–53 und Prete (1959) 191–229.

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storino und Francesco Della Corte noch einmal für die von Brandes und Seeck postulierten zwei Editionen aus.372 Die Frage, ob es sich bei den abweichenden Lesarten der großen Handschriftenfamilien um Autorenvarianten oder Interpolationen handelt und der erhaltene Ausonius-Text auf eine große, später getrennte und in Teilen interpolierte oder auf zwei Editionen mit Autorenvarianten zurückgeht, prägte auf diese Weise die Ausonius-Philologie für mehr als 100 Jahre. Erst 1978 schlug Michael D. Reeve eine neue Herangehensweise vor. Er forderte, den Vossianus und Z nicht nur auf divergierende Lesarten, sondern auch auf gemeinsame Fehler zu untersuchen und auf diese Weise ihre Herkunft aus einem Archetypus entweder zu beweisen oder zu widerlegen.373 Soweit der Abriss der verschiedenen Positionen zur Textgeschichte des Ausonius.

4.3 Die Brief-Tituli und der erymanthische Eber374 4.3.1 Die Brieftituli

Welche Gesichtspunkte sprechen nun im einzelnen für die Überlieferung des Ausonius in zwei, überlieferungsgeschichtlich voneinander unabhängigen Editionen, die sich heute in Z und im Vossianus zeigen, welche für die Herkunft von Z und dem Vossianus aus einem Archetypus? Dass Ausonius seine Werke nicht in einer Edition, sondern in mehreren Stufen und Redaktionen publizierte, gilt grundsätzlich als sicher. Ausonius selbst äußert sich in entsprechender Weise über seine eigene Editionspraxis. In der an den Leser gerichteten Vorrede des Epicedion in patrem schreibt Ausonius, dass die folgenden elegischen Distichen sowohl als Subskription unter die imago des Vaters geschrieben als auch in die Reihe seiner Werke aufgenommen worden seien.375 Ähnliche Angaben macht Ausonius in verschiedenen Praefationes an den Leser und Freunde und auch in Widmungsbriefen.376 Diese Angaben lassen jedoch, wie Green zu Recht bemerkt, keinen Rückschluss auf 372 Pastorino (1971)145–163 und Della Corte (1991) 102. 373 Reeve (1978) 350–366. 374 Besonderer Dank gilt an dieser Stelle Dorothea Weber (Wien), die mich in zahlreichen Gesprächen über die Irrungen und Wirrungen der Ausonius-Philologie und durch kritische Fragen vor manchem vorschnellen Urteil bewahrt hat. 375 Vgl. Auson. 5, Praefatio 12 (ed. Green 1999): Imagini ipsius hi uersus subscripti sunt neque minus in opusculorum meorum seriem relati. 376 Vgl. z. B. die verschiedenen Vorreden zum Gesamtwerk: Auson. 1,1; 2; 3; 4; 5 (ed. Green 1999), die Vorrede und Widmung der Bissula an Axius Paulus: Auson. XVII (ed. Green 1999) oder den Begleitbrief zum Technopaegnion an den Proconsul Pacatus: Auson. XXV (ed. Green 1999).

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den Entstehungszeitraum einzelner Editionen oder die Reihenfolge der Publikation zu.377 Fraglich ist vor allem, in welchem Zeitraum die Z und dem Vossianus zugrunde liegenden Editionen entstanden sein sollen. Erstens war man für die angeblich von Ausonius geplante, durch Z repräsentierte Sammlung auf die Festlegung eines terminus ante quem und daher auf die absolute Datierung einzelner Werke angewiesen. Brandes und Seeck postulierten in diesem Zusammenhang, dass kein Werk in Z sicher auf die Jahre nach 383 datiert werden könne, das Jahr 383 also den Zeitpunkt der ersten Publikation darstelle. Wie unsicher diese Datierung letztlich ist, zeigt der Widerspruch Jachmanns, der einige der in Z enthaltenen Briefe an Paulinus auf die Jahre nach 383 datiert.378 Zweitens untermauerten Brandes und Seeck die Hypothese, dass die Vossianus-Version kurz nach dem Tod des Dichters von der Hand eines Verwandten oder Freundes aus dem Nachlass und Konzeptbüchern zusammengestellt worden sei, mit dem Hinweis auf Zusätze und Tituli, die, so die Annahme, nicht von Ausonius selbst stammen konnten, sondern von einem späteren Redaktor in den Text eingefügt worden waren. So wird das Gedicht De Herediolo (Auson. VI ed. Green 1999, 21–22) durch einen Titulus ergänzt, der von Ausonius in der dritten Person spricht und den Leser mit zusätzlichem Hintergrundwissen versorgt, Auson. 6: Cum de palatio post multos annos honoratissimus, quippe iam consul, redisset ad patriam, uillulam quam pater liquerat introgressus his uersibus lusit Luciliano stilo. Nachdem er vom Hof nach vielen Jahren als sehr geehrter Mann, er war ja schon Konsul, in das Vaterland zurückgekehrt war, und er das Landgut, das sein Vater hinterlassen hatte, betreten hatte, dichtete er in solchen Versen im Stil des Lucilius.

Handelt es sich hier um einen von Ausonius selbst geschriebenen titulus oder, wie Brandes und Seeck mit Blick auf die dritte Person Singular meinen, um das Werk eines gebildeten Redaktors, der nicht nur den historischen Hintergrund erläutert, sondern das Gedicht auch stilistisch als satirisch einordnet? Einerseits hat Ausonius seine Gedichte teilweise selbst mit Tituli versehen. Andererseits stammen manche Tituli offenbar vonder Hand eines Redaktors oder sie sind von einem Readaktor bearbeitet worden.379 Einen 377 Green (1991) praef. xliii–xliv 378 Jachmann (1941) 85. 379 Vgl. dazu grundsätzlich Schröder (1999) 200–202: »Eng verbunden mit der Frage nach dem Urheber der zu Ausonius’ Werken überlieferten Überschriften ist die Frage nach dem jeweils für die Ausgabe Verantwortlichen; bei allen offenen Problemen hinsichtlich der Ausgabe(n) ist aber immerhin deutlich, dass Ausonius manches (z. T. mehrfach) herausgegeben und einige Stücke selbst überarbeitet hat; andererseits sind manche Elemente eindeutig von späterer Hand eingefügt worden.« Besonders deutlich zeigen dies die Epitaphia heroum: Den später eingeschobenen Stücken, die nicht die Helden des trojanischen Sagenkreises behandeln, sind wesentlich längere Tituli vorangestellt als den übrigen Epigrammen; teilweise bieten diese

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solchen Redaktor lässt das vermutlich unvollständige Gedicht pater ad filium erkennen, in dem das poetische Ich seiner Trauer über die Abreise des Sohnes aus Trier Ausdruck verleiht. Stil und Inhalt des Gedichtes erinnern deutlich an typisch elegische Situationen z. B. der ovidischen Heroinen, des exclusus amator oder auch des poeta exul: Das Ich steht allein am Ufer der Mosel und blickt dem Schiff hinterher, das den Sohn fortbringt. Der Tag der Abreise währt eine Ewigkeit, das Ich selbst quält sich am verlassenen und einsamen Ufer mit Gedanken an den Sohn.380 Das als Teil der Briefe überlieferte Gedicht wird mit folgender Notiz eingeleitet wird, Auson. 7 (ep. 20 ed. Mondin 1995): Pater ad filium, cum temporibus tyrannicis ipse Treveris remansisset et filius ad patriam profectus esset. ad patrem V ad patriam coni. Deizemeres a patre coni. Scaliger Der Vater an den Sohn, als er selbst zur Zeit der Tyrannenherrschaft in Trier geblieben war und der Sohn in die Heimat aufgebrochen war.

Anders als in der Einleitung zu De herediolo wird nun in einem kurzen Nachsatz auf die Provenienz des Gedichtes verwiesen, das der Schreiber aus den liturarii, den Konzeptbüchern des Ausonius abgeschrieben zu haben scheint, Auson. 7 (ep. 20 ed. Mondin 1995): Hoc incohatum neque impletum sic de liturariis scriptum. litterariis V liturariis coni. Scaliger Das begonnene und unvollendete Werk ist so [sc. von mir] aus den Konzeptbüchern abgeschrieben worden.

Brandes und Giorgio Pasquali sehen hier eine zweite Hand, nämlich die des Sohnes Hesperius. Denn wer sonst, so Pasquali, hätte Zugang zu den liturarii, den Konzeptbüchern des Ausonius, haben können, wenn nicht der Sohn Hesperius?381 Ähnlich argumentiert Della Corte, der jedoch den Enkel des Ausonius, Paulinus von Pella, als Schreiber und Herausgeber der postumen Werksammlung identifiziert.382 Die Gelehrten untermauern ihre Argumenlangen Tituli auch falsche Informationen, so dass sie vermutlich nicht von Ausonius selbst stammen, vgl. auch Schröder (1999) 200. 380 Vgl. bes. Auson. 7 (ep. 20 ed. Mondin 1995) 4–13: Iam super egelidae stagnantia terga Mosellae/ protulerat te, nate, ratis maestique parentis/ oscula et amplexus discreuerat inuidus amnis./ solus ego et quamuis coetu celebratus amico/ solus eram profugaeque dabam pia uota carinae/ solus adhuc te, nate, uidens, celerisque remulci/ culpabam properos aduerso flumine cursus./ quis fuit ille dies? non annus longior ille est,/ Attica quem docti collegit cura Metonis./ desertus uacuis solisque exerceor oris. 381 Pasquali (1934) 413. 382 Della Corte (1991) 102. Anders als Pasquali und della Corte sieht Mondin mit Verweis auf ähnliche Überschriften in der Sammlung Z nur in dem Zusatz Hocincohatum … scriptum

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tation also mit Hilfe der den Gedichten hinzugefügten Tituli. Das ist in der Tat verlockend, denn so fänden sich Spuren einer zweiten Hand und einer sehr frühen Überarbeitung. Allerdings basiert die These Brandes’ und Pasqualis in diesem Fall auf der Formulierung sic de liturariis scriptum, das heißt auf einer Konjektur Scaligers.383 Dagegen bietet der Vossianus sic de literariis scriptum. Die Konjektur Scaligers scheint auf den ersten Blick kongenial, fügen sich doch die liturarii, die Konzeptbücher, an dieser Stelle passgenau in den Zusammenhang ein: Der Redaktor findet in den Konzeptbüchern des Ausonius ein unvollständiges Stück und schreibt es aus diesen ab.384 Was soll demgegenüber litterariis bedeuten? Dichter, Literarisches, die Literatur Betreffendes? Auch ist eine spätere Verschreibung von dem seltenen und schwierigen liturariis hin zu dem einfachen litterariis leicht denkbar.385 Dennoch sprechen zwei Dinge gegen die Konjektur: Erstens ist die Formulierung scribere de in der Bedeutung ›abschreiben aus‹ oder ›abschreiben von‹ nicht belegt, dagegen findet sich scribere de aliqua re, also ›schreiben über eine Sache‹ häufig.386 Die Wendung scribere de liturariis scheint also im Vergleich mit der Junktur scribere de literariis weniger idiomatisch. Zweitens stellt sich die Frage, ob litterariis nicht doch einen Sinn ergibt, der uns aber weitgehend verschlossen bleibt: Vielleicht konnte der Schreiber des Titulus noch mehr Text einsehen als wir heute. Vielleicht bezieht er das die Hand des späteren Redaktors, in dem vorausgehenden Satz dagegen die von Ausonius selbst gewählte Überschrift. Mondin (1995) ist hier nicht eindeutig: Einerseits athetiert er Hoc incohatum … scriptum (Mondin, 1995, 47), d. h. er wertet die Überschrift als Teil des Textes, die Angabe der Provenienz des Gedichtes dagegen als Zusatz einer späteren Hand. Andererseits spricht er im Kommentar (vgl. Mondin, 1995, 230–232) von einem Editor, der die Überschrift vollständig in den Text eingefügt habe. 383 Dies geht zumindest aus den einschlägigen Editionen hervor. Die verschiedenen Ausonius-Editionen von der Hand Scaligers konnten leider nicht eingesehen werden. 384 Noch dazu verwendet Ausonius selbst den Begiff an anderer Stelle in ähnlicher Weise, Auson. 18 (a) 21–24 über die Entstehung des Cento Nuptialis: Hoc cum die uno et addita lucubratione properatum modo inter liturarios meos cum reperissem, tanta mihi candoris tui et amoris fiducia est ut seueritati tuae nec ridenda subtraherem. Vermutlich konjiziert Scaliger mit Blick auf diese Stelle. 385 Der Begriff liturarius findet sich überhaupt nur bei Ausonius (Auson. 18 (a) 21) und bezeichnet ein Werk voll von Lücken, vgl. Plepelits, Karl: Art. liturarius, ThLL 7,2,2, col. 1535, ll. 59–62. 386 Vgl. zu scribere de aliqua re Art. scribo, OLD 1710. Möglich wäre höchstens, dass das Simplex scribere an dieser Stelle für das Kompositium describere in der Bedeutung ›abschreiben von‹ eintritt; describere wird in diesen Fällen klassisch mit ex oder ab, spätantik jedoch auch mit de konstruiert, vgl. Vetter, A.: Art. describo, ThLL 5,1, col. 659, ll. 34–39. Die Wendung scribere de in der Bedeutung ›abschreiben von‹ wäre dann vermutlich als Hyperurbanismus zu werten, vgl. Hofmann/Szantyr (1972) 299: »Mit Valerius Maximus (…) wird der z. T. sicher als Hyperurbanismus zu deutende Gebrauch sehr frei, bes. im Spätlatein bei Dichtern wie Ausonius [mit Verweis auf lirare statt delirare]«.

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Adjektiv litterariis auf die von Ausonius am Gedichtanfang erwähnte historia, die hier vermutlich eine Geschichte oder Erzählung bezeichnet und den fehlenden Teil des Gedichtes darstellt.387 Die erwähnte historia handelte dann de litterariis rebus.388 Grundsätzlich scheint es methodisch fragwürdig, ein Argument mit einer Konjektur zu einem offenbar unvollständigen Text zu begründen: Wir wissen nicht, ob tatsächlich de liturariis im Text stand und können daher nicht auf die Person des Redaktors schließen. Zwar mag der Titulus später hinzugefügt worden sein. Wer ihn hinzugefügt hat, ob es ein Redaktor des 6. oder 7. Jahrhunderts, gar der Sohn oder Enkelsohn des Ausonius, oder ein Schreiber späterer Zeit war, lässt sich nicht nachvollziehen. Dennoch legen auch andere Stellen die Vermutung nahe, dass nicht alle Tituli des Vossianus von Ausonius selbst, sondern von einem späteren Redaktor oder Schreiber stammen. Denn einem Schreiber unterläuft bei der Beurteilung eines an Paulinus gerichteten Briefes ein Fehler, der Folgen für die Rekonstruktion der Briefchronologie haben sollte. Das erste Briefgedicht des Ausonius beginnt mit dem Vers Auson. 27,21,1: Quarta tibi haec notos detexit epistula questus. Als Titulus bietet der Vossianus folgenden Satz: Cum Pontius Paulinus iunior quartis iam litteris non respondisset, sic ad eum scriptum est. Nachdem Pontius Paulinus der Jüngere schon auf vier Briefe nicht geantwortet hatte, ist so an ihn geschrieben worden.

Der Redaktor fasst das Verbum detexit offenbar als Perfektform zu detegere auf und folgert daraus, dass der vorhergehende Brief an Paulinus der vierte Brief der Sammlung war, dieser also der fünfte ist. Die nächsten im Vossianus folgenden Briefe 27,24 und 27,22 sind mit ähnlichen Zusätzen versehen. Dem ersten Teil von Auson. 27,24 (1–94) ist eine kurze Einleitung vorgeschaltet:

387 Auson. 7 (ep. 20 ed. Mondin 1995) 1–3: Debeo et hanc nostris, fili dulcissime, curis/ historiam, quamquam titulo non digna sereno/ anxia maestarum fuerit querimonia rerum. Vgl. zur Bedeutung des Begriffes historia in diesem Zusammenhang Coşkun (2002) 210 mit Anm. 20, der allerdings im Gegensatz zu allen Herausgebern für die Vollständigkeit des Gedichtes argumentiert. Dies überzeugt m. E. nicht, denn wie erklärt sich das Perfekt in Auson. 7 (ep. 20 ed. Mondin, 1995) 2, wenn es nicht auf etwas zuvor Geschildertes zu beziehen ist, sondern auf die folgenden Verse? 388 Möglich wäre aber auch ein epistolographisches Thema, denn die spätantiken Briefsteller verwendeten das Adjektiv litterarius häufiger in epistolographischen Zusammenhängen. Vgl. z. B. Symm. epist. 4,54,1: litterariae cessationis utrique ueniae sit. Hier. epist. 8,2: Chromatius (…) litterario me prouocauit officio. Für weitere Stellenangaben vgl. Balzert, Monica: Art. litterarius, ThLL 7,2,2 col. 1529, l.37-col. 1530, l. 2; bes. col. 1529, ll. 73–84.

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Alia ad eundem cum ille magis ad alia responderet neque se uenturum polliceretur. Ein anderer (sc. Brief) an denselben, weil jener mehr auf das andere antwortete und nicht versprach, dass er kommen werde.

Der zweite Teil des Briefes (27,24,95–124) wird durch den kurzen Einschub Ausonius Paulino vom ersten Teil getrennt. Schließlich folgt das Briefgedicht Auson. 27,22, das folgenden Titulus hat: Incipit ad eundem Pontium Paulinum epistola subinde scripta. Es beginnt ein Brief an denselben Pontius Paulinus, er wurde bald nachher geschrieben.

Wenn wir den chronologischen Angaben des Redaktors folgten, dann müsste Ausonius 27,24 der sechste, Ausonius 27,22 der siebte Brief der Korrespondenz sein.389 Tatsächlich aber verwendet Ausonius im ersten Vers in Brief 21 korrelierend zu dem Präsens lacessit im zweiten Vers und passend zu der deiktischen Funktion des Demonstrativpronomones haec nicht die Perfektform von detegere, sondern die Präsensform des Wortes detexere, das als Kompositum von texere in den Bedeutungen ›durch Schrift darlegen‹ oder ›Verse weben‹ in antiker und spätantiker lateinischer Literatur geläufig ist.390 Ausonius 27,21 müsste in der Reihenfolge des Redaktors also nicht der fünfte, sondern der vierte Brief sein. Entsprechend verschöbe sich, wenn wir die Reihenfolge des Vossianus beibehielten, die Zählung für die folgenden Briefe. Die im Vossianus überlieferten Briefüberschriften stammen von einem Redaktor, der versucht hat, die Briefe in ihre ursprüngliche Reihenfolge zu bringen. Bei diesem Versuch scheint ihm ein Interpretationsfehler unterlaufen zu sein. Auch diese Rekonstruktion gilt aber nur dann, wenn die Brief-Tituli selbst in der richtigen Reihenfolge erscheinen und sie nicht, etwa aufgrund eines Fehlers in der Überlieferung, verschoben sind. In diesem Fall läge der Fehler nicht beim Verfasser des Titulus, der dann auch Ausonius selbst sein könnte, sondern in späterer Zeit.391 389 Die von dem Redaktor vertretene Anordnung der Briefe gilt heute als überholt, vgl. dazu z. B. Kap. 5.3.1. 390 Vgl. Wulff, C.: Art. detexo, ThLL 5, col. 811, ll. 54–55, s. v., der unter der Rubrik i. q. verbis, scripto, versu exponere, pertractare auch Auson. 27,21,1 anführt. Vgl. auch die Parallelstelle bei Auson. 16,414–415: (…) at modo coeptum/ detexatur opus. Zu lacessiuisse, lacessiui, lacessiuisti und lacessiuit sind zwar die kontrahierten Formen lacessisse, lacessii, lacessisti und lacessiit bekannt, lacessit ist dagegen als kontrahierte Form für das Perfekt lacessiuit im ThLL nicht belegt, vgl. Pecere, O.: Art. lacesso, ThLL 7,2, col. 831, ll. 6,40–44. Vgl. zu dieser Problematik auch unten Kap. 5.3.1. 391 In diesem Zusammenhang fällt z. B. auf, dass der Titulus von Auson. 27,24 zum Ausdruck bringt, Paulinus habe sich geweigert, zurückzukehren. Die entsprechenden Briefgedichte des Paulinus, carm.10 und carm. 11, erscheinen jedoch nicht an ihrem chronologisch ›richti-

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Die handschriftliche Überlieferung der Briefgedichte

Brief-Tituli finden sich nun auch in anderen Handschriften. Der mit dem Vossianus verwandte Harleianus 2613, der zu den Codices Veronenses gehört und mit Hilfe von Wasserzeichen auf das Jahr 1491 zu datieren ist,392 bietet den längsten und genauesten Titulus zu den Briefgedichten des Paulinus:393 Epistolae sancti paulini ad uirum illustrem ausonium cum adhuc intra hispanias religioni deditus assiduis ab ipso literis prouocaretur ut reuersus ad patriam redderet se contuberniis amicorum. Die Briefe des Heiligen Paulinus an den ›vir illustris‹ Ausonius als er, noch in Spanien der Religion geweiht, von ihm selbst mit beharrlichen Briefen aufgefordert wird, dass er in die Heimat zurückkehre und sich in die Gemeinschaft der Freunde einreiht.

Interessant ist dieser Titulus vor allem, weil er ähnlich denen des Vossianus eine kurze Zusammenfassung der Briefgedichte bietet. Der Verfasser des Titulus weist explizit darauf hin, dass Paulinus sich noch in Spanien aufhält und sein Leben dort der Religion geweiht hat, dass er außerdem durch ständige Briefe des Ausonius gedrängt wird, in die Heimat zurückzukehren. Wie detailliert die Angaben des Schreibers sind, zeigt auch der Titulus zu Auson. 27,22: Epistula eiusdem (sc. Ausonii) metrica ad Paulinum presbyterum nondum episcopum. Ein metrischer Brief desselben Ausonius an den Presbyter Paulinus, der zu dieser Zeit noch nicht Bischof war.

Der Schreiber bezeichnet Paulinus hier als presbyter nondum episcopus. Einerseits ist diese Information falsch. Paulinus hatte zu diesem Zeitpunkt noch kein kirchliches Amt inne, sondern wurde erst am Weihnachtstag des Jahres 394 durch Lampius, den Bischof von Barcelona, zum Presbyter geweiht.394 Andererseits ist es erstaunlich genug, dass der Schreiber überhaupt von der Ordination des Paulinus in Spanien weiß. Denn lediglich Paugen‹ Platz, sondern erst am Ende der Reihe, und zwar ohne erläuternde Tituli. Es findet sich lediglich jeweils die kurze Bemerkung: Ausonio Paulinus. Das mag ein vager Hinweis darauf sein, dass die carmina 10 und 11 in der Version des Vossianus ursprünglich auf eine andere Handschrift zurückgehen als die Briefe Auson. 27,21,22 und 24. Vielleicht fügt der Schreiber aber auch, ähnlich wie die Herausgeber der meisten modernen Ausonius-Ausgaben, die Briefgedichte des Paulinus lediglich der Vollständigkeit halber als Anhang hinzu und hält eine einführende Erläuterung für unnötig. 392 Vgl. Green (1999) praef. xi. Prete (1987) passim weist mit Blick auf die seit Schenkl (1883) praef. xl bestehende communis opinio, dass der Harleianus von dem älteren Parisinus Latinus 8500 abhänge und oft verdorben sei, nach, dass es sich anders verhält. Der Harleianus ist keine Abschrift des Parisinus, vielmehr hängen beide von einer gemeinsamen Quelle ab. Gegenüber dem Parisinus bietet der Harleianus oft die überzeugenderen Lesarten. 393 Vgl. für das folgende Zitat Hartel (1999 II) praef. xi–xii. 394 Zum Zeitpunkt der Weihe vgl. Trout (1999) 94–95.

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Die Brief-Tituli und der erymanthische Eber

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linus selbst erwähnt die Weihe zum Presbyter in Barcelona in einem Brief an Sulpicius Severus und einem weiteren an Alypius.395 Die spätantiken und mittelalterlichen Viten enthalten uns diese Information vor.396 Entweder zeigt sich in den Tituli des 1491 geschriebenen Harleianus also die Hand eines gebildeten Humanisten, der auch Zugang zu den Prosabriefen des Paulinus hatte, oder es zeigt sich die Hand eines gut informierten früheren Schreibers und Redaktors. Sicher aber gehen die Tituli des Harleianus in dieser Form nicht auf Ausonius selbst zurück. Es ist kaum vorstellbar, dass Ausonius Paulinus zu einem so frühen Zeitpunkt als Presbyter bezeichnet; noch weniger vorstellbar aber ist, dass Ausonius die Ordination des Paulinus zum Bischof von Nola, die frühestens im Jahr 408, spätestens im Jahr 415 stattgefunden hat, in einer eigenen Werkausgabe erwähnt: Er wäre 408 mindestens 97, 415 entsprechend 104 Jahre alt gewesen.397 Insgesamt spricht also vieles dafür, dass mindestens einige Brief-Tituli im Vossianus Latinus 111 und im Harleianus 2613 nicht von Ausonius selbst, sondern von einem späteren Redaktor oder Schreiber verfasst wurden. Wie verhält es sich mit den BriefTituli der anderen großen Handschriftenfamilie Z? Auch in Z finden sich zwei Briefgedichte, die durch längere Tituli eingeleitet werden. In Auson. 27,17 (ep. 6 ed. Mondin 1995) bedankt sich Ausonius bei Paulinus für eine Gedichtfassung von Suetons heute verlorener Schrift De regibus. Den Brief erläutert folgende einführende Bemerkung, Auson. 27,17: Ausonius Pontio Paulino cum ille misisset poematium uersibus plurimis de regibus ex Tranquillo collectis. Ausonius an Pontius Paulinus, nachdem jener ein kleines Gedicht in sehr vielen Versen über die Könige geschickt hatte, die aus Tranquillus zusammengestellt waren.

Die stilistische Ähnlichkeit zu den Brief-Tituli des Vossianus und des Harleianus ist kaum zu verkennen: Wie im Vossianus und im Harleianus ist der Hauptsatz von der Ellipse des Prädikates geprägt: Ausonius Pontio Paulino [sc. illam epistulam uersibus texit]. Die breuitas ist sicherlich dem typischen BriefTitulus geschuldet, wie er sich in vielen anderen Briefen des Ausonius, aber 395 Paul. Nol. ep. 1,10 (an Sulpicius): Post illas litteras quibus rescripsisti die domini, quo nasci carne dignatus est, repentina, ut ipse testis est, ui multitudinis, sed credo ipsius ordinatione correptus et presbyteratu initiatus sum, fateor, inuitus, non fastidio loci (nam testor ipsum, quia et ab aeditui nomine et officio optaui sacram incipere seruitutem), sed ut alio destinatus, alibi, ut scis, mente conpositus et fixus, nouum insperatumque placitum diuinae uoluntatis expaui. Außerdem Paul. Nol. ep. 3,4 (an Alypius): Nam ego, etsi a Delphino Burdigalae baptizatus, a Lampio apud Barcilonam in Hispania per uim inflammatae subito plebis sacratus sim, tamen Ambrosii semper et dilectione ad fidem innutritus sum et nunc in sacerdotii ordinatione confoueor. 396 Vgl. z. B. Greg. Tur. glor. mart. 108 (MGH script. Merov. I,2 p. 817–818). 397 Zur Datierung der Bischofswahl vgl. Trout (1991) und Fabre (1949) 47.

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Die handschriftliche Überlieferung der Briefgedichte

z. B. auch in den Briefsammlungen des Horaz und des Ovid findet.398 Wie im Vossianus und Harleianus folgt dann eine längere Begründung, die durch einen temporalen cum-Satz ausgedrückt wird.399 Ähnlich verhält es sich in einem Brief an den Grammatiker Ursulus, der unter dem Verlust des kaiserlichen Neujahrsdonativs zu leiden hatte, Auson. 27,10 (ep. 7 Mondin 1995): Ad Ursulum grammaticum Treuirorum cuius strenas Kalendis Ianuariis ab imperatore non datas reddi fecit.400 An Ursulus, den Grammatiker aus Trier, dem er die Neujahrszuwendungen, die ihm vom Imperator nicht gegeben wurden, zurückgeben ließ.

Wie zuvor fehlt im Hauptsatz das Prädikat, und erneut werden die für das Verständnis des Briefgedichtes wichtigen Informationen in einem Nebensatz gegeben. Dem Grammatiker Ursulus sind die strenae Augustae auf irgendeine Weise vorenthalten worden. Jetzt liegt es an Ausonius in seiner Funktion als quaestor, die interceptos Philippos, das regale nomisma wiederzubeschaffen.401 Stilistisch sind die in Z überlieferten Tituli denen des Vossianus und des Harleianus auffallend ähnlich. Daraus auf einen gemeinsamen Archetypus zu schließen, wäre jedoch übereilt: Die meisten spätantiken und mittelalterlichen Tituli beschränken sich auf wenige Angaben in Form kurzer Nominalsätze. Diese werden zumeist ohne finites Verbum konstruiert, so dass für weitergehende Informationen nur Nebensätze bleiben. Grundsätzlich finden sich also in allen Handschriftengruppen Brief-Tituli. Als kurze Vorreden dienen sie dazu, den Kontext des jeweiligen Briefes zu erläutern und übernehmen so eine ähnliche Funktion wie die zahlreichen von Ausonius verfassten praefationes oder Begleitbriefe. Einige dieser Tituli gehen wahrscheinlich, andere sicherlich nicht auf Ausonius selbst zurück. 398 Vgl. z. B. Auson. Auson. 27,2; 6; 7; 9; 11; 13; 18; 19; 20. 399 Vgl. den titulus zu Auson. 27,21 im Vossianus: Alia ad eundem cum ille magis ad alia responderet neque se uenturum polliceretur; ebenso der titulus zu den Paul. Nol. carm. 10 und 11 im Harleianus: Epistolae sancti paulini ad virum illustrem ausonium cum adhuc intra hispanias religioni deditus assiduis ab ipso literis provocaretur ut reversus ad patriam redderet se contuberniis amicorum. Ähnlich verhält es sich mit dem titulus zu Auson. 7 (ed. Green 1999, ep. 20 ed. Mondin 1995): Pater ad filium, cum temporibus tyrannicis ipse Treueris remansisset et filius ad patriam profectus esset. 400 Die Handschriften K und M bieten abweichend von C und T fecimus für fecit. Grundsätzlich sind Verschreibungen in beide Richtungen möglich. Mondin erklärt fecit mit Blick auf die in den anderen Überschriften gebrauchte 3. Person Singular zur lectio facilior, hält entsprechend fecimus und schreibt die Überschrift der Hand des Ausonius selbst zu. Green (1991) 623 gibt allerdings zu Recht zu bedenken, dass fecimus leicht in Anlehnung an das folgende primus entstanden sein kann. 401 Auson. 27,10,1–6: Primus iucundi foret hic tibi fructus honoris/ Augustae faustum munus habere manus;/ proximus ex longo gradus est quaesitoris amici/ curam pro strenis excubuisse tuis./ ergo interceptos, regale nomisma, Philippos/ accipe tot numero, quot duo Geryones.

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Die Brief-Tituli und der erymanthische Eber

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Wieder andere könnte Ausonius durchaus selbst verfasst haben. Weitergehende Aussagen über den Zusammenhang von Tituli und Editionsphasen zu treffen, scheint kaum möglich zu sein. So lässt der Titulus zu Auson. 7 (ep. 20 ed. Mondin 1995) keinen Rückschluss auf die Person eines möglichen Redaktors zu. Ebensowenig lässt sich anhand stilistischer Merkmale der Tituli entscheiden, ob der Vossianus und die Handschriftenfamilie Z auf einen gemeinsamen Archetypus zurückgehen oder nicht. Mit anderen Worten: Es lässt sich mit Hilfe der Tituli weder beweisen, dass die Werke des Ausonius in zwei voneinander unabhängigen Editionen, die durch den Vossianus und Z repräsentiert werden, überliefert worden sind; noch lässt sich mit ihrer Hilfe beweisen, dass die Handschriften auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen. 4.3.2 Der erymanthische Eber – ein gemeinsamer Fehler?

Sicherheit gewinnen können wir, soweit dies überhaupt möglich ist, offenbar nur durch eine genaue Untersuchung der verschiedenen Handschriften auf gemeinsame Fehler. Eine solche Untersuchung kann in diesem Rahmen nicht vollständig durchgeführt werden, dennoch sollen wenigstens einige Beispiele genannt werden. Was die Briefsammlungen betrifft, überschneiden sich der Vossianus und die Familie Z in zwei Stücken, in Auson. 27,2 (ep. 1 ed. Mondin 1995) an den Rhetor Axius Paulus und in Auson. 27,13 (ep. 4 ed. Mondin 1995) an den Landbesitzer Theon. Beide Handschriften weisen nach Meinung der Gelehrten mindestens einen signifikanten gemeinsamen Fehler in Brief 13 auf, der von Peiper durch Konjektur behoben wird. In dem derben satirischen Briefgedicht stellt Ausonius den Bruder des Adressaten Theon als Jäger dar, der den großen jagenden Helden des griechischen Mythos, Herakles und Theseus, gleichkommt.402 In diesem Zusammenhang bieten der Vossianus und Z die Verse Auson. 27,13 (ep. 4 ed. Mondin 1995) 33–40 wie folgt: Exemplum de fratre time, qui ueste reducta ostentat foedas prope turpia membra lacunas 35 perfossasque nates uicino podice nudat; inde ostentator uolitat, mirentur ut ipsum Gedippa Ursinusque suus prolesque Iouini Taurinusque ipsum priscis heroibus aequans, qualis in Olenio uictor Calydonius apro 40 aut Erymantheo pubes fuit Attica monstro. 40 Erymantheo VZ, Cromyoneo conjec. Peiper (Green, Mondin), 402 Zum Adressaten und zur satirischen Note des Briefgedichts vgl. Mondin (1995) 82– 107.

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Die handschriftliche Überlieferung der Briefgedichte

Nimm deinen Bruder als warnendes Beispiel, der mit runtergelassener Hose schartige Narben nahe am Gehänge zeigt und am benachbarten Hintern zerstoßene Backen entblößt. Dann rennt dieser Aufschneider los, damit Gedippa, sein Ursinus und der Nachkomme des Iovinus und Taurinus ihn bewundern, der ihn mit den früheren Heroen gleichsetzt; wie der Kalydonische Sieger gegen den Eber von Aetolien oder die attischen Jünglinge gegen das erymanthische Monster (Peiper: das Monster von Kromyon) war er.

V. 39 spielt auf die Kalydonische Eberjagd und den Sieg des Meleager an, V. 40 auf den Sieg des Theseus über die Sau Phaia. Problematisch ist in diesem Zusammenhang die im Vossianus und in Z überlieferte Lesart Erymantheo. Das Epitheton Erymantheus dient in der Regel der Kennzeichnung des erymanthischen Ebers. Dieser war wie der kalydonische Eber von der Sau Phaia geboren, wurde jedoch nicht vom Athener Theseus, sondern vom Argiver Herakles besiegt.403 Die WendungenErymantheo … monstro und pubes … Attica widersprechen also einander. Aus diesem Grund konjiziert Peiper Cromyoneo. Das Dorf Kromyon in der Megaris, in der Nähe Korinths litt so lange unter den regelmäßigen Raubzügen der Phaia, bis der Athener Theseus sie überwinden und fesseln konnte.404 Die Schwierigkeit, die durch das überlieferte Erymantheo entsteht, würde also durch die Konjektur Peipers, der alle späteren Herausgeber folgen, behoben. Dennoch sprechen zwei Gesichtspunkte gegen die Konjektur:405 Erstens erschafft Peiper mit der Lesart Cromyoneo einen Neologismus, der paläographisch keinerlei Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Lesart aufweist. Wie und aus welchem Grund sollte ein Schreiber aus Cromyoneo das völlig andere Wort Erymantheo bilden?406 Zweitens verbessert Peiper Ausonius mit Hilfe des Neologismus so, dass der ursprüngliche Mythos von Theseus und der Sau Phaia wiederhergestellt wird. Er bringt ihn gewissermaßen auf die Linie der Standard-Mythologie zurück. Ausonius bewegt sich aber des öfteren außerhalb der StandardMythologie und geht darin so weit, Mythen oder mythische Exempla in einer vordergründig falschen Weise zu verwenden, um den Leser zu verwir403 Vgl. z. B. Geisau, Hans von: Art. Erymanthische Eber, KLP 2, 365. 404 Vgl. z. B. Geisau, Hans von: Art. Phaia, KLP 4, 689. 405 Gegen Peiper (1886) hat bereits Pastorino (1971) argumentiert, dass Attica hier nicht den Landstrich um Athen, sondern ganz Griechenland bezeichne und Erymantheo aus diesem Grund zu halten sei. Gegen das Argument spricht jedoch das sehr präzise Olenio im vorausgehenden Vers, vgl. auch Green (1991) 229. 406 Tatsächlich sind Wortneubildungen bei Ausonius keine Seltenheit, vgl. z. B. Sigalion in Auson. 27,21,27 und liturarius in Auson. 18 (a) 21. Einzig möglich scheint, dass ein Schreiber die ihm unbekannte Lesart Cromyoneo zu Erymantheo ›verbessert‹, vielleicht mit Blick auf einen Vers in der Heldenschau der Argonautica, Val. Flacc. 1,374–376: quique Erymanthei sudantem pondere monstri/ Amphitryoniaden Tegeaeo limine Cepheus/ iuuit, (…). Fraglich ist jedoch, ob die Stellen so ähnlich sind, dass ein Schreiber auf die Idee käme, Ausonius mit Hilfe des Valerius Flaccus zu verbessern.

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Die Brief-Tituli und der erymanthische Eber

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ren, ihn zum Mitdenken anzuregen und auf bestimmte Sachverhalte hinzuweisen.407 Wir können also nicht wissen, ob Ausonius nicht eine uns unbekannte spätantike Version des Mythos kannte, in der Theseus den erymanthischen Eber tötete. Auch können wir nicht sicher sein, dass Ausonius den Mythos nicht bewusst verfälscht. Peipers Konjektur ist unter paläographischen und inhaltlichen Gesichtspunkten kaum haltbar. Der Vers belegt keinen Bindefehler, sondern den ungewöhnlichen Umgang mit einem bekannten Mythos. Auch diese Stelle gibt also keinen Aufschluss über das Verhältnis der Handschriftenfamilie Z und dem Vossianus.

4.4 Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften 4.4.1 Dindymische Gesänge – Auson. 27,21,16

Anders verhält es sich, wenn wir den späten Briefwechsel des Ausonius und Paulinus betrachten, d. h. Auson. 27,21; 22; 24 und Paul Nol. carm. 10 und 11. Wie zu zeigen sein wird, lassen sich die verschiedenen Ausonius- und Paulinus-Handschriften mit Hilfe von Bindefehlern auf eine gemeinsame Vorlage zurückführen. Die Überlieferung der Briefgedichte ist in mehrfacher Hinsicht besonders: Der Vossianus (und die ihm verwandten Handschriften) überliefert nicht nur die an Paulinus gerichteten späten Briefgedichte des Ausonius, sondern auch die Antwortschreiben des Paulinus an Ausonius, mithin den Briefwechsel insgesamt. Darin überschneidet er sich mit zwei Paulinus-Handschriften, dem Codex Parisinus 2122 aus dem 10. Jahrhundert (O) und dem Codex Bruxellensis 10615–10729 aus dem 12. Jahrhundert (B), die ebenfalls den gesamten Briefwechsel überliefern. Zu diesen Handschriften tritt eine Miscellanhandschrift hinzu, der Codex Parisinus 7558 (N). Er überliefert neben den anonymen laudes domini, der laus sancti Johannis des Paulinus und zwei Paulinus vermutlich fälschlich zugeschriebenen Hymnen große Teile des Briefwechsels: Die poetischen Briefe 21 und 22 des Ausonius werden vollständig geboten, von Brief 24 die Verse 103–132, die Briefgedichte des Paulinus wieder vollständig. Ein Vergleich dieser Handschriften zeigt Probleme auf, die denen, die sich bei der Gegenüberstellung des Vossianus und der Familie Z ergeben haben, ähneln: Zwar lassen sich die Ausonius-Handschriften V, H und P und die Paulinus-Handschriften B und O für die Briefe 21 und 22 des Ausonius und die carmina 10 und 11 des Paulinus mit Hilfe von Bindefehlern über verschiedene Stationen auf einen Archetypus zurückführen. In einzelnen Lesar407 Vgl. dazu Kap. 9.1 und Kap. 9.4.

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Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften

ten weichen sie aber so deutlich von einander ab, dass der Sachverhalt eingehender Klärung bedarf. Zwei Bindefehler finden sich im einleitenden Teil von Brief 21, den Versen 1–31 (Auson. 27,21; ep. 22 ed. Mondin 1995). Nachdem Ausonius zunächst das Schweigen des Paulinus beklagt (1–6), konfrontiert er ihn in einem bukolisch inszenierten Katalog mit dem Lautreichtum der Natur (7– 25). Die Handschriften und die Edition von Luca Mondin präsentieren uns mit einigen Abweichungen folgenden Text, Auson. ep. 22,7–25 (VPBON, ed. Mondin 1995):408

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hostis ab hoste tamen per barbara uerba salutem accipit et ›salue‹ mediis interuenit armis. respondent et saxa homini, et percussus ab antris sermo redit, redit et nemorum uocalis imago. litorei clamant scopuli, dant murmura riui, somniferumque canit saepes depasta susurrum. est et harundineis modulatio musica ripis cumque suis loquitur tremulum coma pinea uentis, incubuit foliis quotiens leuis eurus acutis. Dindyma Gargarico respondent cantica luco. nil mutum natura dedit. non aeris ales quadrupedesue silent, habet et sua sibila serpens et pecus aequoreum tenui uice uocis anhelat. cymbala dant flictu sonitum, dant pulpita saltu icta pedum, tentis reboant caua tympana tergis; Isiacos agitant Mareotica sistra tumultus; nec Dodonaei cessat tinnitus aeni, in numerum quotiens radiis ferientibus ictae respondent dociles moderato uerbere pelues.

12 somniferumque canit saepes depasta susurrum BON, Mondin Hyblaeis apibus saepes depasta susurrat VP, Green 16 Dindyma Gargarico VP, transpos. post v. 19 Green Dindymaque ideo BON Der Feind empfängt doch vom Feind durch harte Worte einen Gruß, und ein ›sei gegrüßt‹ tritt mitten zwischen die Waffen. Auch die Felsen antworten dem Menschen, [10] an Höhlen gebrochen kehrt ihm das Wort zurück, zurück kehrt ihm auch das tönende Echo der Wälder. Die Klippen am Strand rufen, Bäche geben ein Murmeln, 408 Die für die Briefe maßgeblichen Editoren Green (1991/99) und Mondin (1995) rekonstruieren den Text in unterschiedlicher Weise. Green folgt grundsätzlich dem Vossianus und nimmt eine wichtige Umstellung vor, Mondin dagegen folgt an einigen Stellen den PaulinusHandschriften B und O und der nicht sicher zuzuordnenden Handschrift N, verwirft aber die von Green vorgenommene Umstellung. Dadurch ergibt sich ein anderes Textbild. Um der Verständlichkeit willen, drucke ich die Textstücke im folgenden immer vollständig ab und präsentiere abweichende Lesarten jeweils im kritischen Apparat. Die gesamte, hier unter textgeschichtlichen und textkritischen Gesichtspunkten besprochene Passage wird an anderer Stelle ausführlich interpretiert, vgl. Kap. 8.

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die abgeweidete Hecke lässt ein einschläferndes Summen erklingen, auch schilfbestandenen Ufern ist ein musikalischer Rhythmus zu eigen, und mit ihren Winden spricht zitternd das Haar der Fichte. [15] Sooft sich ein leichter Südostwind auf ihr spitzes Laub legt, antworten Gesänge der Cybele dem Hain des Berges Ida. Nichts hat die Natur stumm geschaffen. Nicht schweigen die Vögel des Himmels oder die Vierfüßer, auch die Schlange hat ihr Zischen und das Getier des Meeres seufzt im zarten Wechsel der Stimme. [20] Schallbecken geben zusammengeschlagen einen Ton, einen Ton geben die Bühnenbretter, geschlagen vom Sprung der Füße. Gewölbte Handpauken schallen mit gespannten Häuten zurück, ägyptische Sistren treiben den Isis geweihten Lärm seinem Höhepunkt zu. Auch das Schellen des Erzes Dodoniens verklingt nicht, [25] sooft gelehrige Becken, im Rhythmus von schlagenden Stöcken getroffen, mit rhythmischem Schlag die Antwort geben.

Im Rahmen dieser Naturbeschreibungen wirft das Verspaar 15 und 16 Fragen auf. Green hat gesehen, dass v. 16 an dieser Stelle fehl am Platz wirkt. Zwar bildet er zusammen mit v. 15 ein anmutig wirkendes Satzgefüge, in dem zuerst der kunstvoll konstruierte Nebensatz, dann der nicht weniger ausgewogene Hauptsatz folgt. Warum aber antwortet an dieser Stelle der Gesang vom Berg Dindymos dem Hain des Ida? Die plötzliche örtliche Konkretisierung, die genaue Bezeichnung des Ortes innerhalb einer ansonsten bukolischen, d. h. fiktionalen Szene wirkt merkwürdig, durchbricht sie doch in gewisser Weise die bukolische Szenerie. Verändern wir die Syntax, indem wir v. 15 als Gliedsatz zu v. 14 werten, verschärft sich dieses Problem. Denn dann bleibt v. 16 ohne Anbindung an den Kontext: »Und mit ihren Winden spricht zitternd das Haar der Fichte, sooft sich ein leichter Südost auf ihr spitzes Laub gelegt hat. Dindymische Gesänge antworten dem Hain des Berges Ida. Nichts hat die Natur stumm geschaffen.« Aber auch grundsätzlich scheint der Autor den Leser im Stich zu lassen: Woher soll er wissen, ob er quotiens auf den vorhergehenden oder den folgenden Vers zu beziehen hat? Grammatikalisch und syntaktisch ist beides möglich, eine figura apo koinu in dem Sinne, dass sich ein vollständiger Nebensatz auf zwei Hauptsätze bezieht, ist an dieser Stelle kaum gemeint.409 Vermutlich aus diesen Gründen verschiebt Green v. 16 zwischen die vv. 19 und 20. Dort füge er sich wesentlich besser ein. Denn während die vv. 9 bis19 vor allem die Natur und ihre Laute behandelten, widmeten sich die vv. 20 bis 25 dem Kult, so Green.410 Folgen wir Green, lautet der Text, Auson. 27,21,11–25 (VP, ed. Green 1999): 409 Vgl. zu dieser Möglichkeit Hofmann/ Szantyr (1972) 835. 410 Vgl. die relativ kurzen Bemerkungen von Green (1982) 358: »Line 16 (…) seems out of place for stylistic reasons. Line 15, if a new sentence is begun there (…), or line 16, if 15 is taken with 14, is abrupt (…). Moreover, lines 9–19 concentrate on the sounds of nature, while those of human civilisation (mainly religious: including the wind-operated artifice of Dodona) enter in line 20. The correct position of line 16 may therefore be after line 19, where there is no offence at all to style or structure.« Noch kürzer Green (1991) 650: »This line is out of place after the natural examples in ll. 9–15 and confuses the sense and style of ll. 14–15; before l. 20

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Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften

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litorei clamant scopuli, dant murmura riui, Hyblaeis apibus saepes depasta susurrat. est et harundineis modulatio musica ripis cumque suis loquitur tremulum coma pinea uentis, incubuit foliis quotiens leuis eurus acutis. nil mutum natura dedit. non aeris ales quadrupedesue silent, habet et sua sibila serpens et pecus aequoreum tenui uice uocis anhelat. Dindyma Gargarico respondent cantica luco; cymbala dant flictu sonitum, dant pulpita saltu icta pedum, tentis reboant caua tympana tergis; Isiacos agitant Mareotica sistra tumultus; nec Dodonaei cessat tinnitus aeni, in numerum quotiens radiis ferientibus ictae respondent dociles moderato uerbere pelues.

11 Hyblaeis apibus saepes depasta sususurrat VP, Green somniferumque canit saepes depasta susurrum BON, Mondin 16 Dindyma Gargarico VP, transpos. post v. 19 Green, repugnante Mondin Dindymaque ideo BON Die Klippen am Strand rufen, Bäche geben ein Murmeln, von Hyblaeischen Bienen abgeweidet summt die Hecke. Auch schilfbestandenen Ufern ist ein musikalischer Rhythmus zu eigen, und mit ihren Winden spricht zitternd das Haar der Fichte, [15] sooft sich ein leichter Südostwind auf ihr spitzes Laub legt. [17] Nichts hat die Natur stumm geschaffen. Nicht schweigen die Vögel des Himmels [18] oder die Vierfüßer, auch die Schlange hat ihr Zischen [19] und das Getier des Meeres seufzt im zarten Wechsel der Stimme. Dindymische Gesänge, [16] antworten dem Hain des Berges Ida; [20] Schallbecken geben zusammengeschlagen einen Ton, einen Ton geben die Bühnenbretter, geschlagen vom Sprung der Füße. Gewölbte Handpauken schallen mit gespannten Häuten zurück, ägyptische Sistren treiben den Isis geweihten Lärm seinem Höhepunkt zu. Auch das Schellen des Erzes Dodoniens verklingt nicht, [25] sooft gelehrige Becken, im Rhythmus von schlagenden Stöcken getroffen, mit rhythmischem Schlag die Antwort geben.

Green reiht also die Beschreibung des Dindymus und des Ida (vermutlich mit Blick auf das Ida-Gebirge als Heimat der Cybele) in die Welt des Kultes ein. Gegen diesen Eingriff wendet sich Mondin:411 Zwar beschreibe v. 16 den heiligen Berg der Cybele und scheine aus diesem Grund an die von Green vorgeschlagene Stelle zu passen. Wenn überhaupt, dann sei der Vers aber zwischen die vv. 21 und 22 einzusetzten, denn so ergebe sich ein auf drei Verse verteiltes geographisches Trikolon: Dindymos und Gargarus stünden für die Alexandria Troas, die Maereotica sistra für Ägypten und das Dodonaeum aes für Epirus. Grundsätzlich aber hält Mondin an der traditioit fits admirably. The fact that the human songs (cantica) accompany natural sounds may have suggested the link with l. 15.« Tatsächlich sprechen noch mehr Argumente für diese Umstellung, vgl. dazu die folgende Argumentation. 411 Mondin (1994) 169–170.

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nellen Lesart der Handschriften fest, da v. 16 mit v. 15 ein perfektes Paar zu bilden scheint: V. 15 sei , so Mondin, die Protasis, v. 16 die Apodosis: incubuit foliis quotiens leuis eurus acutis, Dindyma Gargarico respondent cantica luco.412 Darüber hinaus ergäbe sich auf diese Weise eine Komposition von fünf Verspaaren: Die vv. 7 und 8 behandelten Kampfgeschehen, die vv. 9 und 10 das Echo in den Wäldern, die vv. 11 und 12 das Wasser, die vv. 13 und 14 Hecken und Schilf, die vv. 15 und 16 das laute Sausen des Windes im Wald.413 Mondins Argumentation wirkt zunächst schlüssig, hält genauerer Prüfung aber nicht Stand. Wie oben gezeigt wurde, hängt der Nebensatz in v. 15 in gewisser Weise in der Luft: Der Leser kann sich kaum sicher sein, ob er ihn mit dem vorausgehenden, dem folgenden oder gar beiden Versen kombinieren soll. Zweitens gehen die von Mondin vorgeschlagenen inhaltlichen Paarungen mit Blick auf den weiteren Verlauf des Katalogs nicht auf. Vers 11 ist in sich stimmig. Das dröhnende Rufen der Klippen und das Murmeln der Flüsse stellen zwei Aspekte einer Sache dar: Es geht offensichtlich um die verschiedenen Laute des Wassers. Wie passt aber dieser Vers mit dem folgenden, der das Summen der von Bienen abgeweideten Hecke beschreibt, zusammen? Folgten wir Mondin, müssten wir, um inhaltliche Paarungen zu erhalten, die vv. 12 und 13 tauschen. Aber auch wenn dieser Vers umzustellen ist (und es scheint so zu sein),414 ändert das nichts an den Schwierigkeiten, die Mondins Lösung birgt, da man auch für den weiteren Verlauf des Katalogs Verspaarungen erwarten würde. Spätestens in den vv. 19 und 20 bricht die Paarung aber inhaltlich auseinander: Was hat der Stimmlaut der Fische mit dem lärmenden Kult der Cybele zu tun? Vor allem aber hinkte v. 25 merkwürdig nach: Auf neun Verspaare folgte ein einzelner Vers. Im Gegenzug spricht einiges für die von Green vorgenommene Umstellung von v. 16. Zunächst ist es unproblematisch, dass der Nebensatz aufgrund der Verschiebung nun von einem vorangestellten Hauptsatz abhängig ist. Ausonius konstruiert quotiens häufiger in dieser Weise.415 Auch inhalt412 Als ähnlich konstruierte Parallelstellen führt Mondin (1994) 169 Mosch. frg. 1,8 und Ven. Fort. carm. 1,20,13. Zu Ven. Fort. vgl. Kap. 4.4.3. Die Wahl der Fachtermini Protasis und Apodosis mag in diesem Fall etwas unglücklich wirken, da sie Konditionalsätzen vorbehalten sein sollten (anders als in konditionalen Gefügen, muss der Nebensatz in temporalen Gefügen dem Hauptsatz nicht zwingend vorausgehen). Allerdings verdeutlicht die Wortwahl Mondins das Problem, aus diesem Grund wird sie an dieser Stelle beibehalten. 413 Vgl. Mondin (1994) 169: »(…) secondo l’impianto strutturale di questa sezione dell’epistola, organizzata per coppie di versi.« und dazu die Erläuterung in Anm. 52: »Cioè vv.7–8: anche i nemici salutano, 9–10: il fenomeno dell’echo, 11–12: suono di scolgi, ruscelli e siepe, 13–14: i canneti, le chione die pini, 15–16: la voce delle grandi foreste.« 414 Vgl. zu den Argumenten, die für eine Umstellung sprechen Kap. 4.4.2. 415 Vgl. z. B. Auson. 2,8,12–14 Perfugium tamen est, quotiens portenta soporum/ soluit rupta pudore quies et imagine foeda/ libera mens uigilat. Besonders schlagend Ausonius

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lich ist v. 16 an der von Green vorgeschlagenen Stelle an seinem Platz: Der Dindymon ist eine Bergkette in der Troas, deren höchste Erhebung der Gargarus mit 1700 Metern ist. Er ist dem Zeus und der Cybele heilig, die, so eine Variante des Mythos, als Tochter des Königs Meion von Phrygien und seiner Frau Dindyme auf dem nach der Mutter benannten Berg ausgesetzt wurde. Dort wurde sie von Löwen und Leoparden gesäugt, führte Tänze und Spiele auf und schenkte ihrem Gefolge, den Korybanten, Trommeln und Zimbeln, mit denen sie ihre Riten begleiteten.416 Der in der geographischen Beschreibung anklingende Hinweis auf den Cybelekult passt sich in diesen Teil des Katalogs ein: Denn erstens trägt Cybele in Rom den Beinamen Idaea und kann insofern durch die Wortverbindung Dindyma Gargarico leicht identifiziert werden; beide Wörter sind gelehrte Ersetzungen für das geläufigere Epitheton Idaeus.417 Zweitens werden die von Ausonius erwähnten cymbala und tympana nicht nur in der lateinischen Literatur immer wieder als typische Attribute des Cybelekultes genannt, sondern erscheinen als solche auch in figürlichen Darstellungen.418 Drittens werden in Rom vermutlich seit 193 oder 191 v. Chr. im Rahmen der Megalesia Bühnenspiele – ludi scenici – zu Ehren der Göttin aufgeführt.419 Auf diese verweist Ausonius in der Wendung dant pulpita saltum/ icta pedum in den folgenden vv. 20 und 21 des Briefgedichtes. Schließlich evoziert er in v. 21 mit der Formulierung reuocant caua tympana tergis Catulls carmen 63 und dessen Version der Geschichte von Attis und Cybele als literarisches Vorbild. Auf diese Weise rückt er die Beziehung des im heiligen Wahn gefangenen Cybele-Priesters Attis und der Göttin als ein Vergleichsstück in den Blickpunkt des Lesers.420 Die Erwähnung des Ida, der typischen Musikinstrumente und des Theaters signalisie27,21,23–25 (ed. Green 1999): Nec Dodonaei cessat tinnitus aeni/ in numerum quotiens radiis ferientibus ictae/ respondent dociles modulato verbere pelues. Zu dieser Stelle vgl. unten Kap. 4.4.3. 416 Zu dieser und anderen Versionen des Cybele-Kultes und -Mythos vgl. Simon, Erika, Art. Kybele, LIMC 8,1,744–767. 417 Vgl. Simon, Erika: Art. Kybele, LIMC 8,1,746. Wie geläufig das Epitheton Idaeus ist zeigt die Variante in BON. Während VP hier das schwierige Hapax legomenon Gargarico bieten, lesen wir in BON die Vereinfachung Dindymaque Idaeo. Zu der Variante und den Konsequenzen, die sich aus dieser für die Textgeschichte ergeben vgl. Kap. 4.5. 418 Vgl. z. B. Apul. met. 8, 30: Inibi uir principalis, et alias religiosus et eximie deum reuerens, tinnitu cymbalorum et sonu tympanorum cantusque Phrygii mulcentibus modulis excitus procurrit obuiam deamque uotiuo suscipiens hospitio nos omnis intra conseptum domus amplissimae constituit numenque summa ueneratione atque hostiis opimis placare contendit. Vgl. zu den figürlichen Darstellungen Simon, Erika: Art. Kybele, LIMC 8,1,757. 419 Vgl. z. B. Cic. harusp. 11–12. 420 Vgl. Catull. 63,19–21: Simul ite, sequimini/ Phrygiam ad domum Cybeles, Phrygia ad nemora deae,/ ubi cymbalum sonat uox, ubi tympana reboant. Ausführlich interpretiert wird die Reminiszenz Kap. 8.8.

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ren also gleichsam die in den Versen verborgene Catull-Reminiszenz. Schließlich führt Ausonius im Anschluss an die Beschreibung des Cybelekultes mit Isis eine zweite weibliche Gottheit in den Argumentationsstrang ein, die wie Cybele für einen der großen und einflussreichen Mysterienkulte der Spätantike steht. Es scheint kein Zufall, dass Ausonius in einem Brief an den überzeugten christlichen Asketen Paulinus zwei Kulte erwähnt, die in deutlicher Konkurrenz zum Christentum standen. Darüber hinaus hat der Eingriff in den Text Auswirkungen auf die Symmetrie der Einleitung. Durch die Versumstellung rückt der bisherige v. 17 – nil mutum natura dedit – als infinite Sentenz in das Zentrum der 31 einleitenden Verse:421 Um ihn herum gruppiert Ausonius sechs Verse einleitende Klage (1–6), zweimal neun Verse Katalog und erneut sechs klagende Verse (26–31). Erst die Umstellung verschiebt die Struktur also in der Weise, dass eine Ringkomposition entsteht, deren Achse v. 17 mit der zentralen Aussage ist.

4.4.2 Bukolische Landschaft – Auson. 27,21,12–13

Bemerkenswert ist, dass die Verse 11 und 13, in denen Ausonius die Laute des Wassers beschreibt, durch v. 12, der das Summen der Bienen in der Hecke hören lässt, voneinander getrennt werden. Auch hier scheint eine Verschiebung stattgefunden zu haben. Denn stellen wir die Verse um und verschieben v. 12 nach v. 13, ergeben sich zwei einheitlich gestaltete Passagen: Auf der einen Seite tosen die Klippen und murmeln die Flüsse, und auch das schilfbestandene Ufer hat seine eigenen Geräusche. In diesem Zusammenhang erinnert die Verbindung clamant scopuli deutlich an Vergils Beschreibung der Charybdis und den ihr eigenen clamor scopuli im dritten Buch der Aeneis sowie an das Echo, das der Feldherr Marcellus mit seiner Flotte auf dem Meer erzeugt. Auch hier heißt es clamant scopuli.422 Die murmura riui werden in lateinischer Dichtung häufig in bukolische Kataloge eingebettet, ihr Geräusch gilt als angenehm und entspannend. So besingt die vergilische copa Syrisca die angenehme Kühle eines Gartens, in dem sie nicht 421 Zum Begriff der Sentenz und Gnome vgl. die kurze Zusammenfassung bei Kirchner (2001) 9–10: »Zum einen ist sententia die Entsprechung des griechischen Begriffs Gnome. Eine Gnome ist ein allgemeingültiger Ausspruch, der eine für das Leben und Handeln der Menschen gültige Einsicht mit häufig normativem Charakter aufzeigt.« Vgl. außerdem Vielberg (2003) passim, bes. 36–38. 422 Vgl. Verg. Aen. 3,564–567: Tollimur in caelum curuato gurgite, et idem/ subducta ad Manis imos desedimus unda./ ter scopuli clamorem inter caua saxa dedere,/ ter spumam elisam et rorantia uidimus astra. Sil. 14,363–365: Insultant pariter pelago, ac Neptunia regna/ tempestate noua trepidant. tum uocibus aequor/ personat, et clamat scopulis clamoris imago.

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nur verschiedenste Blumen, die Melodie der Hirtenpfeife und Wein erfreuen, sondern auch das Murmeln eines kleines Flusses.423 Die Junktur harundineis … ripis ruft die Beschreibung eines locus amoenus in den Eklogen vor das innere Auge des Lesers: In der siebten Ekloge trifft Meliboeus auf Daphnis. Dieser sitzt unter einer schattenspendenden Eiche am Ufer des schilfbestanden Mincius und lädt Meliboeus ein, zu verweilen und dem Wechselgesang zwischen Corydon und Thyrsis zu lauschen.424 Ausonius beschreibt also mit den vv. 11 und 13 verschiedene Facetten ein und derselben Sache: nämlich den Lautreichtum des Wassers, und zwar in vergilischer Sprache, die vor allem an die ländliche Szenerie der Hirtendichtung erinnert. Ganz ähnlich verhält es sich auf der anderen Seite mit den vv. 12, 14 und 15: Die Hecke summt von Bienen, die Nadeln der Fichten wispern im Wind. Beschrieben werden die Laute der Pflanzen. Die von Bienen abgeweidete Hecke erinnert deutlich an die Passage der ersten Ekloge, in der Meliboeus das auch in der Zukunft schöne Leben des senex fortunatus Tityrus beschreibt: Tityrus wird die schattige Kühle der Flüsse genießen, die Hecke zum Nachbargrundstück wird das Summen der Bienen vom Hybla hören lassen und zum Schlaf einladen, Vögel werden singen.425 Auch die mit den Winden sprechende Fichte erinnert an eine Passage aus den Eklogen. In der achten Ekloge besingt der Hirt Damon den Maenalus, dessen Haine immer wispern und dessen Fichten sprechen, der außerdem den amores der Hirten lauscht und Pan, dem Erfinder der Hirtenmusik.426 Ausonius beschreibt also

423 Vgl. copa 5–12: Quid iuuat aestiuo defessum puluere abesse?/ quam potius bibulo decubuisse toro?/ sunt topia et kalybae, cyathi, rosa, tibia, chordae,/ en et Maenalio quae garrit dulce sub antro/ rustica pastoris fistula in ore sonat./ est et uappa, cado nuper defusa picato,/ et strepitans rauco murmure riuus aquae. Ähnlich Ov. rem. 169–184: Rura quoque oblectant animos studiumque colendi:/ quaelibet huic curae cedere cura potest./ colla iube domitos oneri supponere tauros,/ sauciet ut duram uomer aduncus humum;/ obrue uersata Cerialia semina terra,/ quae tibi cum multo faenore reddat ager;/ aspice curuatos pomorum pondere ramos,/ ut sua, quod peperit, uix ferat arbor onus;/ aspice labentes iucundo murmure riuos;/ aspice tondentes fertile gramen oues./ ecce, petunt rupes praeruptaque saxa capellae:/ iam referent haedis ubera plena suis./ pastor inaequali modulatur harundine carmen,/ nec desunt comites, sedula turba, canes./ parte sonant alia siluae mugitibus altae,/ et queritur uitulum mater abesse suum. 424 Vgl. Verg. ecl. 7,11–13: Huc ipsi potum uenient per prata iuuenci,/ hic uiridis tenera praetexit harundine ripas Mincius, eque sacra resonant examina quercu. Verg. georg. 3,10–15: primus ego in patriam mecum, modo uita supersit,/ Aonio rediens deducam uertice Musas;/ primus Idumaeas referam tibi, Mantua, palmas,/ et uiridi in campo templum de marmore ponam/ propter aquam, tardis ingens ubi flexibus errat/ Mincius et tenera praetexit harundine ripas. 425 Verg. ecl. 1,51–58, bes. 54. Die Reminiszenz bleibt erhalten, gleich ob man Auson. 27,21,12 mit VP (Hyblaeis apibus saepes depasat susurrat) oder mit BON (somniferumque canit saepes depasta susurrum) liest, vgl. dazu unten Kap. 4.5. 426 Verg. ecl. 8,22–24: Maenalus argutumque nemus pinosque loquentis/ semper habet, semper pastorum ille audit amores/ Panaque, qui primus calamos non passus inertis.

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in jeweils vergilischer Sprache und, wenn wir die Umstellung von v. 12 und 13 vornehmen, in jeweils drei Versen zunächst Geräusche, die durch Wasser, dann Geräusche, die durch Pflanzen erzeugt werden: Wie die von Bienen abgeweidete Hecke ein Summen erklingen lässt (13: canit susurrum oder susurrat), so wispert das Haar der Fichte im Wind: susurrat/canit und loquitur tremulum gehören ebenso eng zusammen wie das Dröhnen der Klippen, das Murmeln der Flüsse und die Melodie des schilfbestandenen Ufers. Dieser Befund bestätigt sich mit Blick auf eine kompositorisch ähnlich gestaltete, inhaltlich aber ganz anders ausgerichtete Passage in den einleitenden Versen des Cupido cruciatus, Auson. 19 (b) 1–12 (ed. Green 1999): Aeris in campis, memorat quos Musa Maronis, myrteus amentes ubi lucus opacat amantes, orgia ducebant heroides et sua quaeque, ut quondam occiderant, leti argumenta gerebant, 5 errantes silua in magna et sub luce maligna inter harundineasque comas grauidumque papauer et tacitos sine labe lacus, sine murmure riuos; quorum per ripas nebuloso lumine marcent fleti, olim regum et puerorum nomina, flores, 10 mirator Narcissus et Oebalides Hyacinthus et Crocus auricomans et murice pictus Adonis et tragico scriptus gemitu Salaminius Aeas. In den Gefilden der Luft, welche die Muse des Maro in Erinnerung ruft, wo die wahnsinnig Liebenden der myrtenbraune Hain mit Schatten bedeckt, trieben die Heldinnen ihre Mysterien und trugen einjede den Grund ihres Todes, wie sie einst gestorben waren. Sie streiften in einem großen Wald umher, unter schwachem Licht zwischen Rohrstengeln und schwerem Mohn und schweigenden, unbewegten Seen, zwischen Flüssen ohne Murmeln: An ihren Ufern welken bei düsterem Licht beweinte Blumen, einst die Namen von Königen und jungen Männern, der Bewunderer Narcissus und der Spartaner Hyacinthus, der goldhaarige Crocus, der mit Purpur bemalte Adonis und der mit tragischem Seufzen beschriebene Aeas.

Ausonius entwirft hier eine Unterwelts-Szenerie, die wie das Gegenbild eines bukolischen locus amoenus wirkt. Der Ort, an dem sich die Heroinen des Mythos aufhalten, zeichnet sich vor allem durch eines aus: Schweigen und Trauer. Der Wald wirkt aufgrund des fahlen Lichtes bedrohlich, die Seen stehen völlig still, das Murmeln von Flüssen ist nicht zu hören, Blumen welken. Auch hier kombiniert Ausonius also verschiedene Elemente, durch die er der Bedrohlichkeit des Ortes Ausdruck verleiht: An erster Stelle steht das fahle Licht des Waldes, an zweiter Stelle die Pflanzen des Ortes, an dritter Stelle die stillstehenden Gewässer. Bemerkenswert ist, dass die vv. 7 und 8 ein ähnliches Kompositionsschema aufweisen wie die vv. 11 und 13 in ep. 21 an Paulinus: Denn wieder beschreibt Ausonius drei Facetten der Wasserlandschaft: Der See ist ohne Bewegung, die Flüsse sind ohne Murmeln, an

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ihrem Ufern welken beweinte Blumen.427 Wie im Brief an Paulinus verteilt Ausonius zwei Teile der Beschreibung auf v. 7 (lacus/riui), einen auf v 8 (ripae). Wasser und Ufer gehören auch hier zusammen. Eine Umstellung von v. 12 nach v. 13 scheint angesichts dieser Überlegungen gerechtfertigt. Der erste Katalogteil erinnert dann umso deutlicher an die bukolische Szenerie der ersten Ekloge, die Ausonius mit der offensichtlichen Reminiszenz somniferum saepes canit depasta susurrum (bzw. Hyblaeis apibus saepes depasta susurrat.)428 evoziert, Verg. ecl. 1,51–58: Fortunate senex, hic inter flumina nota et fontis sacros frigus captabis opacum. hinc tibi quae semper uicino ab limite saepes Hyblaeis apibus florem depasta salicti 55 saepe leui somnum suadebit inire susurro: hinc alta sub rupe canet frondator ad auras; nec tamen interea raucae, tua cura, palumbes, nec gemere aeria cessabit turtur ab ulmo. Glücklicher Alter, hier wirst du an vertrauten Flüssen und heiligen Quellen schattige Kühle finden. Von hier an wird dich die Hecke am Nachbargrundstück – von Hyblaeischen Bienen werden ihre Weidenblüten immer abgeweidet – oft mit leisem Summen zum Schlaf einladen. Von hier an wird der Weidenpfeiffer unter aufragendem Fels zum Himmel singen. Und dennoch wird weder die heisere Ringeltaube noch die Turteltaube aufhören, von luftiger Ulme herab zu seufzen.

Wie erwähnt beschreibt der von seinem Land vertriebene Meliboeus vorgreifend die Landschaft, die der glückliche Alte, Tityrus, bewohnen wird, einen locus amoenus, der ähnlich beschaffen ist wie der des Ausonius. Selbst die Abfolge der Bestandteile ist ähnlich: Auf Wasser folgen die Bienen, auf die Bienen die Bäume. Allerdings legt Vergil den Schwerpunkt der Beschreibung nicht auf das Rauschen der Bäume, sondern auf den Gesang der Vögel.429

427 Zur Komposition und Struktur der Szene im Cupido cruciatus, den zugrunde liegenden vergilischen Prätexten und die Übersetzung vgl. die Interpretation von Vielberg (2011). 428 Zu den abweichenden Lesarten und ihrem Stellenwert vgl. unten Kap. 4.5. 429 Der Vergleich der beiden Texte erweist sich auch dann als ergiebig, wenn wir in v. 13 mit dem Parisinus 7557 lesen: somniferumque canit saepes depasta susurrum. Zwar ist in diesem Fall die Reminiszenz nicht so leicht zu erkennen, aber sie bleibt doch sichtbar: Denn saepes … depasta verweist in Kombination mit canit, das an die Stelle von canet (Verg. ecl. 1,56) tritt, und in Kombination mit susurrum immer noch deutlich auf die erste Ecloge, vgl. dazu auch unten Kap. 4.5.

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4.4.3 Schreiber, Redaktor oder Autor?

Es spricht einiges dafür, dass sich innerhalb der Einleitung zwei Versverschiebungen finden. Aus welchen Gründen und innerhalb welchen Zeitraums sind diese Versverschiebungen erfolgt? Wie die Vertauschung der vv. 12 und 13 zustande kam, ist nur schwer nachzuvollziehen. Wichtig ist jedoch, dass sie in allen Handschriftengruppen vertauscht sind. Den Ausonius- und den Paulinus-Handschriften muss also ein gemeinsamer Archetypus zugrunde liegen. Für die Verschiebung von v. 16 in den ersten Katalogteil ist eine genauere Antwort möglich. Sie zeigt, wie komplex der Sachverhalt ist. Betrachten wir die vv. 14–16 noch einmal so, wie sie uns die verschiedenen Handschriftengruppen bieten, Auson. ep. 22,14–16 (VPBON, ed. Mondin 1995): Cumque suis loquitur tremulum coma pinea uentis; 15 incubuit foliis quotiens leuis eurus acutis, Dindyma Gargarico respondent cantica luco. 16 Dindyma Gargarico VP Dindymaque ideo BON Und mit ihren Winden spricht zitternd das Haar der Fichte. [15] Sooft sich ein leichter Südostwind auf ihr spitzes Laub gelegt hat, antworten Dindymische Gesänge dem Hain des Berges Ida.

Vergleicht man die vv. 15 und 16 mit den letzen drei Versen des Katalogs, so zeigt sich in Hinblick auf die Verskomposition Erstaunliches. Dort heißt es, Auson. ep. 22,23–25 (VPBON, ed. Mondin 1995): Nec Dodonaei cessat tinnitus aeni, in numerum quotiens radiis ferientibus ictae respondent dociles modulato uerbere pelues. Auch das Schellen des Erzes von Dodona verklingt nicht, [24] sooft gelehrige Becken, im Rhythmus von schlagenden Stöcken getroffen, mit rhythmischem Schlag die Antwort geben.

Die vv. 24 und 25 wirken auf den ersten Blick den vv. 15 und 16 sehr ähnlich: In v. 24 baut sich der Vers um das zentral stehende quotiens auf, in v. 25 erinnert respondent deutlich an respondet in v. 16, auch wenn es dort an anderer Stelle steht. Trotz dieser Ähnlichkeit ist der Satz auf andere Weise konstruiert: Denn nicht v. 24 bildet den vorangestellten Nebensatz zu v. 25, sondern die vv. 24 und 25 bilden gemeinsam den nachgestellten, durch quotiens eingeleiteten Nebensatz zu v. 23. Vielleicht hat ein Schreiber oder Redaktor mit Blick auf den ähnlich klingenden Schluss des zweiten Katalogteils versucht, den ersten Katalogteil anzugleichen und aus diesem Grund eine Umstellung vorgenommen. Allerdings ging es dem Schreiber dabei nicht nur um das stilistische Empfinden, sondern auch um den Inhalt.

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Vers 16 beschreibt den Dindymon im troischen Ida und den Hain der Cybele. Dieser Ort wird in Zusammenhang mit der zuvor genannten Fichte gebracht, die mit den Winden spricht: Sooft sich der Südostwind auf ihre Nadeln legt, antworten die Gesänge vom Dindymos dem Hain auf dem Berg Gargaros. Die Kombination von Fichte und Ida-Gebirge ist bemerkenswert, da das Ida-Gebirge in der Troas berühmt war für seinen Bestand an Fichten und deren Baumharz, aus dem hochwertiges Pech gewonnen wurde. Das Wissen um dessen Qualität zeigen nicht nur Fachschriftsteller wie Theophrast oder Plinius,430 sondern auch Vergil, der in den Georgica und in der Aeneis mehrfach auf die Pinien und das Pech des Ida eingeht.431 So schreibt der Lehrdichter über das Bindemittel, das die Bienen zur Abdichtung der Stöcke produzieren, Verg. georg. 4,40–41: (…) collectumque haec ipsa ad munera gluten et uisco et Phrygiae seruant pice lentius Idae. (…) und das für diese Aufgabe (sc. das Abdichten des Stockes) gesammelte Bindemittel, das dichter ist als Vogelleim und Pech vom phrygischen Ida, bewahren sie auf.

Es scheint durchaus möglich, dass der Schreiber hier eine Verbindung zum Briefgedicht des Ausonius gesehen hat. Denn zum einen wirken die Verse 11–15, wie oben gezeigt wurde, vergilisch: ›Epische‹ Meeresklippen dröhnen, ›bukolische‹ Flüsse murmeln und erzeugen Geräusche im Schilfgürtel, die ›bukolische‹ Hecke summt von Hyblaeischen Bienen, die ›bukolische‹ Pinie spricht mit dem Wind. In diese Reihe – scopuli clamant, murmura riui, harundineis modulatio riuis, saepes susurrat (oder canit in N), pinea loquitur – scheint sich die Junktur Dindyma cantica respondent auch aufgrund des Verbes respondent nahtlos einzupassen. Zum anderen spricht Vergil in den zitierten Versen der Georgica nicht nur über das aus den Fichten gewonnene Pech, sondern über Bienen selbst: Die Bienen vom Hybla, die Fichten und der Dindymon ergeben mit Blick auf das literarische Vorbild Vergil also eine in sich logische Reihe. Mit anderen Worten: V. 16 passt inhaltlich auch an die Stelle, an der ihn die Handschriften bieten. Allerdings löst sich so zum einen die sorgfältig komponierte Struktur der Einleitung auf, zum anderen geht der Gehalt des Verses, der die Beschreibung des Cybelekultes einleitet, verloren. Der Leser sieht sich hier vor Fragen und Entscheidungen bezüglich der Textgestalt gestellt: Ist eine Umstellung notwendig? Versuchte der Schreiber, den Text des Ausonius ungerechtfertigt stilistisch zu verbessern oder versuchen umgekehrt wir dies? Sollte man mit Blick auf die ringkompositorische Struktur des ersten Gedichtteils den Vers verschieben oder den Handschriften vertrauen? Die Entscheidung für eine Umstellung lässt sich m. E. vertei430 Vgl. Theophr. 9,2,5–7 und Plin. nat. 14,128 und dazu z. B. Mynors (1990) 247. 431 Verg. georg. 3,450; 4,40–41; Aen. 5,449; 10,230.

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digen: Ausonius verwendet, wie zu zeigen sein wird, in den Briefgedichten an Paulinus häufiger Ringkompositionen als gestalterisches Mittel. An dieser Stelle würde sich eine symmetrische Versstruktur ergeben: 6 (2+2+2) + 9 (2+2+2+3) + 1 + 8 (2+3+3) + 6 (2+2+2). Zudem ergänzt der umgestellte Vers die Beschreibung der Kulthandlungen inhaltlich. Wenn wir den Vers umstellen, dann wirft dies ein besonderes Licht auf den Schreiber oder Redaktor. Er muss gebildet und belesen gewesen sein, um v. 16 in Verbindung mit Vergil zu bringen.432 Darüber hinaus ist es nicht gesagt, dass er Ausonius tatsächlich verbessern wollte. Möglich scheint, dass er v. 16 in margine neben v. 15 notiert hat, um die vergilische Motivreihe zu vervollständigen und einen alternativen Schluss vorzuschlagen.433 Tatsächlich kann, wie im folgenden Kapitel anhand der bisher nicht berücksichtigten Handschriften BO und N zu zeigen sein wird, nicht einmal ausgeschlossen werden, dass es sich um Marginalglossen des Ausonius selbst handelt: Wir hätten es dann an dieser Stelle mit einer Autorenvariante oder der Alternative eines Gelehrten zu tun, die sehr früh in den ursprünglichen Text gelangte, der später zum Archetypus der bekannten Handschriftengruppen wurde.434 Für eine solche frühe Verschiebung spricht unter anderem auch ein poetischer Brief des Venantius Fortunatus. In einem Briefgedicht an Leontius, einen Nachfahren des Paulinus von Nola, beschreibt Venantius eine der Villen des Leontius, das Praemiacum, nahe bei Bordeaux, auf einer Hochebene an der Garonne gelegen, Ven. Fort. 1,20,7–17:435 Deliciis obsessus ager uiridantibus aruis et naturalis gratia ruris inest. condita quo domus est, planus tumor exit in altum, 10 nec satis elato uertice regnat apex; qua super incumbens locus est deuexus in amnem, florea gemmato gramine prata uirent: leniter adpulsus quotiens insibilat Eurus, flexa supinatis fluctuat herba comis. 15 hinc alia de parte seges flauescit aristis, pinguis et altricem palmes opacat humum 432 Vgl. dazu auch Green (1999) praef. xxi mit Blick auf die Varianten und Fehler in Z: »It is not necessary to condemn all Z’s variant readings as the work of a crass interpolator, as has been done; a sophisticated mind could be at work, creating for the modern scholar choices which are indeed sometimes problematic.« 433 Ähnliches kann Deufert (1996) 27–109, bes. 50 für Lukrez zeigen. 434 Dass Ausonius seine Werke häufig be- und überarbeitete und sie auch erläuterte, zeigt unter anderem die Praefatio zum Cento Nuptialis, vgl. auch Kap. 1.3. Zur Frage der Autorenvarianten im Ausonius-Text vgl. die folgenden Überlegungen zur Handschrift N und zu Auson. 27,23. 435 Vgl. zu diesem Leontius Mratschek (2002) 116–118.

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Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften

piscibus innumeris non deficit unda Garonnae, et si desit agris fruges, abundat aquis. Das Gebiet ist bedeckt von Üppigkeit und von Feldern und ihm wohnt eine natürliche Freigebigkeit des Bodens inne. Dort, wo das Haus steht, wächst die Hochebene nach Oben hin, und nicht regiert der Gipfel mit erhabener Spitze; wo der sich hinstreckende Platz sich zum Fluss hinabzieht, grünen blumenreiche Felder von edelsteingeschmücktem Gras: Sooft ein sanft herangewehter Südostwind hineinbläst, wogt das Kraut und beugt sich mit gekrümmten Stengeln. Von diesem Ort strahlt blond die Saat mit ihren Ähren, und die ertragreiche Palme wirft ihren Schatten über heimatlichen Boden. Unzähligen Fischen fehlt nicht die Woge der Garonne, und wenn den Äckern die Feldfrüchte fehlen, dann strömt sie über von Wasser.

Die Schilderung des Landgutes ist in Teilen nach dem Muster des Gedichtes De herediolo des Ausonius gestaltet.436 Jedoch orientieren sich die Verse 13 und 14 an Auson. ep. 22,15–16 (ed. Mondin 1995) und damit an der Lesart aller Ausonius-Handschriften. Bei Ausonius heißt es: Incubuit foliis quotiens leuis eurus acutis, Dindyma Gargarico respondent cantica luco.

Venantius schreibt, Ven. Fort. carm. 1,20,13–14: Leniter adpulsus quotiens insibilat Eurus, flexa supinatis fluctuat herba comis.

Die Verse des Venantius ähneln denen des Schreibers zum einen inhaltlich. Wie bei Ausonius legt sich auch bei Venantius in einer insgesamt thematisch ähnlich gestalteten Passage der milde Südostwind auf das Gras. Zum anderen sind die Verspaare ähnlich konstruiert: Der Protasis, in deren Zentrum die Konjunktion quotiens steht, folgt jeweils die Apodosis. Komponiert ist sie jeweils als uersus aureus mit der Struktur: a + b + Verb + A + B. Zwar findet sich quotiens in lateinischer Dichtung häufig im vorangestellten Nebensatz und bisweilen wird der Vers so komponiert, dass die Konjunktion im Zentrum und die restlichen Bestandteile wie in einem Ring um sie herum gebaut werden.437 Dass aber die Protasis und Apodosis in der Weise kombiniert werden wie in den Ausonius-Handschriften und wie im Gedicht des Venantius, ist singulär.438 Venantius scheint zur Komposition des Distichons also tatsächlich auf das Briefgedicht des Ausonius zurückzugreifen. 436 Vgl. Auson. 6, bes. 21–32. Aufschlussreich wäre hier sicher ein Vergleich mit den Sabinum-Gedichten des Horaz oder auch ähnlichen spätantiken Schilderungen wie z. B. Sidon. carm. 22; dieser würde hier jedoch den Rahmen sprengen. 437 Vgl. z. B. Ov. Pont. 2,13–14: Iuppiter utilibus quotiens iuuat imbribus agros,/ mixta tenax segeti crescere lappa solet. 438 Eine Durchsicht der Poetria Nova Latina (2004) hat keine weitere Fundstelle ergeben, an der Protasis und Apodosis so kombiniert werden wie bei Venantius carm. 1,20,13–14 und Auson. 27,22,15–16 (ed. Mondin 1995).

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Interpolation oder Autorenvariante?

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Das ist zunächst insofern bemerkenswert, als es sich bei Leontius um einen Nachfahren des Paulinus handelt, der wie sein Vorfahr Bischof wurde. Venantius greift also zur Gestaltung seines Briefgedichtes an einen Nachfahren des Paulinus auf einen an Paulinus gerichteten poetischen Brief zurück. Aufschlussreich ist aber vor allem, dass Venantius auf eine Version des Briefgedichtes zurückgreift, die bereits Veränderungen durch den Verfasser selbst oder durch einen gelehrten Redaktor unterlag. Das Briefgedicht des Venantius kann also als terminus ante quem dienen und bestätigt – unter der Voraussetzung, dass wir an den Umstellungen von Auson. 27,21,16 festhalten – die These, dass der Archetypus der verschiedenen Handschriftengruppen bereits redaktionellen Veränderungen unterlag. Zu datieren wäre er dann in den Zeitraum zwischen 390 nach Christus und dem Eintritt des Venantius in das literarische Leben seiner Zeit um das Jahr 450 nach Christus.439 Fassen wir kurz zusammen: Die dem Vossianus und den Handschriften BO und N gemeinsamen Versumstellungen deuten darauf hin, dass beide Sammlungen von einer Vorlage stammen, die entweder von Ausonius selbst oder von einem gelehrten Redaktor des späten vierten oder frühen fünften Jahrhunderts mit erläuternden Bemerkungen versehen wurden, die wenig später in den Ausonius-Text gelangten.440 Zuzuschreiben sind sie entweder Ausonius selbst oder einem gelehrten Redaktor des späten vierten oder frühen fünften Jahrhunderts nach Christus, der sehr sicher im kreativen Umgang mit der lateinischen Literatur war. Wer dieser Redaktor war, lässt sich nicht ermitteln.

4.5 Die Paulinus-Handschriften – Interpolation oder Autorenvariante? Die Ausonius-Handschriften V, H und P und die Paulinus-Handschriften B und O lassen sich für die Briefe 21 und 22 des Ausonius also mit Hilfe von Bindefehlern auf eine Vorlage zurückführen. In einigen Fällen weichen die Handschriften jedoch deutlich von einander ab. Wie sind diese Abweichungen zu erklären? Für das Briefgedicht Auson. 27,24 bieten die Ausonius439 Sollte der Redaktor mit dem Schreiber der im Harleianus 2612 aufzufindenden BriefTituli zu identifizieren sein, ließe sich der terminus post quem noch genauer auf das Jahr der Bischofsweihe des Paulinus (408/415) datieren. Ebensogut können die Tituli des Harleianus aber aus der Renaissance stammen. 440 Die Herkunft der Vossianus-Familie und der Familie Z aus einem Archetypus wird durch weitere Bindefehler in ihnen gemeinsamen Werkgruppen bestätigt, vgl. Green (1991) praef. xlvi–xlvii.

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Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften

Handschriften VPH eine Version in 124 Versen,441 die Paulinus-Handschriften B und O dagegen eine Version in nur 32 Versen, von denen die Verse 16 bis 22 nicht in den Ausonius-Handschriften zu finden sind; die Miscellan-Handschrift N enthält nur die Verse 95 bis 124, die durch einen Titulus als eigenes Gedicht präsentiert werden.442 Peiper sah hier seine für den Vossianus und die Handschriftenfamile Z postulierte These bestätigt, dass das Werk des Ausonius in zwei verschiedenen Editionen veröffentlicht worden sei: Wenn irgendwo, könne man hier eine zweifache Bearbeitung durch den Verfasser annehmen.443 In der Editionspraxis verfährt Peiper dann allerdings so, dass er beide Versionen zusammenfügt und dort, wo die Familien in einzelnen Lesarten voneinander abweichen, VPH bevorzugt.444 Gegen Peipers These und gegen die Verfahrensweise, die Handschriften in dieser Weise zu kombinieren und zu kontaminieren, sind mehrfach Einwände erhoben worden. Denn die Verse 31–37 der Handschriften B und O (ed. Peiper 1886) bieten ein Exemplum, das in den Handschriften VPH in den Versen 42–43 (ed. Peiper 1886) ganz anders verwendet wird: Die Versionen der Handschriftenfamilien widersprechen sich an dieser Stelle also inhaltlich.445 Aber auch grundsätzlich wandten sich die Gelehrten, unter ihnen Carl Schenkl und Wilhelm von Hartel, gegen Peipers Annahme einer Autorenvariante und sahen die Abweichungen durch Versverlust, Versumstellungen und Interpolation bedingt. Vehement gegen Peiper argumentierte schließlich Friedrich Leo: In der Sammlung, die den Handschriften B und O zugrunde liege, sei offensichtlich ein gelehrter Redaktor am Werk gewesen. Dieser habe zum Beispiel die Verse 38–122 (ed. Peiper 1886), d. h. das gesamte Mittelstück des Gedichtes, gestrichen und durch eine Kurzversion, die Verse 31–37 (ed. Peiper 1886), ersetzt. So sei es zu erklären, dass die Gruppe VPH zwar die vv. 38–122 biete, die vv. 31–37 aber nicht, und umgekehrt B und O die vv. 31–37 an Stelle der vv. 38–122 hätten. Entsprechend seien also die vv. 31–37 in B und O als Interpolation zu athetieren.446 Während Günther Jachmann in seiner programmatischen, aber kontrovers diskutierten Studie zur Urvariante bei Ausonius Leo folgte, griffen Agostino Pastorino und Green die Anregungen Peipers auf und führten sie weiter aus. 441 Allerdings fehlen die letzten zehn Verse des Briefgedichts im Harleianus 2613. 442 Eine knappe und übersichtliche Darstellung des Sachverhalts bietet Green (1999) xxi– xxii. Den Forschungsstand dokumentieren Green (1991) 654–656, Mondin (1995) L–LX und neuerdings Filosini (2008) 31–34, die 31, Anm. 114 eine hilfreiche Übersicht der abweichenden Lesarten bietet. 443 Peiper (1880) 328. 444 Ähnlich verfährt auch Prete (1978). 445 Bereits Schenkl (1883) verschiebt aus diesem Grund die Verse 34–37 und setzt sie nach v. 66 in den Text ein, wobei er impie in impia ändert. Auch diese Umstellung löst den Widerspruch aber nicht vollständig, wie Leo (1960/11896) 324 und Green (1991) 655 zeigen. 446 Vgl. Leo (1960/ 11896) 319–331, bes. 324–326.

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Interpolation oder Autorenvariante?

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Pastorino und Green vermuten, dass Ausonius die kurze Version der Handschriften B und O tatsächlich an Paulinus geschickt, diese dann aber mit Hilfe des Antwortschreibens carmen 11 kurz vor seinem Tod zur Rechtfertigung seines Standpunktes vor einem größeren Publikum erweitert und ergänzt habe. Green druckt daher in seiner Edition beide Versionen als einzelne Briefgedichte (Auson. 27,23 [BO] und 24 [VPH]) ab.447 Allerdings ergänzt er die kürzere Version von B und O, indem er nach Auson. 27,23,22 insgesamt 20 Verse aus der längeren Version von VPH (Auson. 27,24,95– 114) einsetzt, und glättet so einen inhaltlichen Bruch: Es sei nicht ungewöhnlich, dass Verse durch die Widrigkeiten der Überlieferung verloren gingen, wie auch Paul. Nol. carm 10 zeige, dessen Praefatio in elegischen Distichen in B und O ebenfalls fehlten.448 So klug die Lösung Greens auf den ersten Blick scheint, so problematisch ist sie bei genauerem Hinsehen, weil sie voraussetzt, dass Ausonius erstens tatsächlich verschiedene Versionen seiner Briefgedichte gefertigt hat; zweitens, dass die Version B/O ursprünglich Verse enthalten hat, die aus der Familie VPH rekonstruiert werden können. Im Grunde beruht die Rekonstruktion von Brief 23 durch Green also auf zwei Annahmen, die beide zutreffen müssen, damit das Bild in sich stimmig bleibt.449 Aus diesem Grund urteilt Luca Mondin vorsichtiger, dass die 447 Dazu Green (1991) 655: »Moreover, as Pastorino has argued in detail, the variants of the longer version can be given a very satisfactory explanation: Ausonius adapts himself to what Paulinus has just written (…), and also constructs an account that will justify him to public opinion. This revised version, whether or not it was actually sent to Paulinus, remained with Ausonius’ papers, while the shorter and earlier version that he mentions is not preserved.« 448 Der inhaltliche Bruch in der kurzen Version von B und O entsteht dadurch, dass der aduentus amici im Stil von Ov. am. 1,11 völlig unvermittelt einsetzt, vgl. den Text in der Fassung von B und O (Auson. 27,23,19–22 und 43 ff. ed. Green 1999): [19] Impie, Pirithoo disiungere Thesea posses/ Euryalumque suo socium secernere Niso;/ te suadente fugam Pylades liquisset Oresten/ nec custodisset Siculus uadimonia Damon [43] en erit ut nostras hic nuntius excitet aures? ›ecce tuus Paulinus adest! iam ninguida linquit/ oppida Hiberorum (…)‹. Vgl. zu diesem Problem Green (1991) 655: »Pastorino’s explanation (in fact anticipated by Peiper) is here adopted, with one important difference. In the version of SA (sc. BO ed. Hartel 1999 II [N. R.]) there is a brusque transition from l. 22 to l. 43 of Ep. 23. Pastorino attributed this to the writer’s distress, but Ausonius has a very strong feeling for coherence and structure, and even if he had been shocked he might well have hesitated to send it to a former pupil who was, if deaf to argument, still sensitive to matters of style. A more coherent letter is made by taking ll. 23– 42 from the version VPH (…). It is not implausible to suppose that the lines in question were lost by a precursor of SA (sc. BO ed. Hartel 1999 II [N. R.]), just as ll. 1–19 of B3 (sc. Paul. Nol. carm. 10 ed. Hartel 1999 II [N. R.]) were lost.« 449 Wie schwierig diese Ergänzung ist, zeigt Auson. 27,24,101: Während Green in Auson. 27,24,101 aus inhaltlichen Gründen die Lesart des Vossianus (Rhamnusia) übernimmt, liest er in Auson. 27,23,29 mit N an derselben Stelle mens altera. Vgl. Green (1991) 657 zu mens altera: »›change of heart‹; perhaps a simple reaction to Paulinus’ involved arguments in B3 [sc. carm. 10]. 128–53. It is not likely that mens altera is an error for Rhamnusia (…) which would

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Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften

Version, die uns die Paulinus-Handschriften bieten, zwar auf eine von Ausonius selbst verfasste zweite Redaktion zurückgehe, diese aber offensichtlich auch von anderen Händen bearbeitet und aus diesem Grund nicht mehr zu rekonstruieren sei.450 Letztlich bleibt die Frage, ob B und O mit der kurzen Version des Briefgedichts Autorenvarianten oder Interpolationen präsentieren, offen: Die Argumente der Gelehrten sind, wie zuletzt Stefania Filosini mit einer gewissen Ernüchterung konstatierte, austauschbar und umkehrbar.451 Abgesehen von diesem Fall weichen BO und mit ihnen N besonders in Auson. 27,21 von VP und H ab. Auch in diesen Fällen stellt sich die Frage, ob die Abweichungen jeweils als Interpolation oder als Autorenvarianten zu werten sind (sei es in VPH oder in BON). Die deutlichsten Abweichungen finden sich in dem bereits ausführlich besprochenen bukolischen Katalog, hier bieten BO und N, Auson. 27,21 in v. 12: somniferumque canit saepes depasta susurrum; in v. 14: atque arguta suis loquitur coma pinea uentis; in v. 16: Dindymaque Idaeo respondent cantica luco. Demgegenüber bieten der Vossianus und die ihm verwandten Handschriften, in v. 12: Hyblaeis apibus saepes depasta susurrat; in v. 14: cumque suis tremulum loquitur coma pinea uentis; in v. 16: Dindyma Garagico respondent cantica luco. Inhaltlich lässt sich hier kaum für die eine oder die andere Lesart argumentieren, denn jede Variante passt sich thematisch in das bukolische Sujet ein: In v. 12 lässt entweder die abgeweidete Hecke ein Summen erklingen oder die Hecke summt abgeweidet von Hyblaeischen Bienen. In v. 14 spricht die Fichte entweder wispernd oder zitternd mit den Winden. In v. 16 ändert sich inhaltlich

be out of place here.«; weiterhin zu Rhamnusia 663: »for mens altera in 23.29. Paulinus had clearly changed his mind.« Tatsächlich spricht aber einiges dafür, dass im ursprünglichen Text entweder Rhamnusia oder mens altera gestanden hat und eine der Lesarten aufgrund einer Textverderbnis durch einen Schreiber konjiziert wurde, vgl. dazu unten Kap. 4.6. 450 Vgl. Mondin (1995) LIX und auch Filosini (2008) 33. 451 Vgl. Filosini (2008) 33: »Il problema appare di difficile soluzione per la reversibilità di vari argomenti a sostegno delle diversi posizioni;« Diese Reversibilität der Argumente zeigt sich besonders bei Keul-Deutscher (1998) 341–369. Keul-Deutscher weist den Rekonstruktionsversuch durch Pastorino und Green mit der Begründung zurück, dass Paulinus das Briefgedicht des Ausonius genau gekannt haben müsse, um eine so ausgefeilte, auf den poetischen Brief abgestimmte Antwort zu formulieren (342, Anm. 4). Dieses Argument erscheint zunächst einleuchtend, es beruht aber vor allem auf der Prämisse Keul-Deutschers, dass Paulinus carmen 11 als Zeugnis tiefen und echten Gefühls geschrieben habe, um Ausonius seiner immerwährenden Zuneigung zu versichern (z. B. 348). Wenn man Paulinus dieses Ansinnen nicht unterstellt, lässt sich die Argumentation allerdings auch im Sinne von Green umkehren; dann nämlich, wenn wir davon ausgehen, dass im Kontext von Auson. 27,23/24 (ed. Green 1999) und Paul. Nol. carm. 11 Paulinus mit carm. 11 eine literarisch ausgefeilte Basis schafft, auf der Ausonius, wie von Green und Pastorino vermutet, ep. 23 zur Rechtfertigung noch einmal umarbeitet.

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Interpolation oder Autorenvariante?

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nichts, lediglich das Attribut Idaeus wird gegen das Attribut Gargaricus ausgetauscht. Die Gelehrten suchten aus diesem Grund andere Argumente für die eine oder die andere Lesart und folgten in den meisten Fällen dem Vossianus.452 Aufschlussreich schienen die Lesarten vor allem hinsichtlich der Diskussion um Autorenvarianten oder Interpolationen zu sein: So wertete Pastorino den Vers somniferumque canit saepes depasta susurrum (BON) mit Blick auf die zugrundeliegende Passage der ersten Ecloge Vergils als eine frühe, noch nicht ausgereifte Variante, die auf Ausonius zurückgehe.453 In dieser Version spiele der Vers zwar auf das Summen der Bienen an, aber die Wendung saepes depasta allein lasse das vergilische Vorbild nicht deutlich hervortreten. Wirklich zu erkennen sei die Anspielung aber erst in der Version von VPH: Hyblaeis apibus saepes depasta susurrat. VPH biete also offensichtlich die überarbeitete und endgültige Fassung.454 Dagegen wandte Mondin ein, dass die Version von BON vorzuziehen sei. Die Wendung canit saepes depasta susurrum sei in jeder Hinsicht eine lectio difficilior: Der Ausdruck canere susurrum sei nicht so leicht zu verstehen wie saepes susurrat, ebenso bereite die Wendung saepes depasta ohne eine Ergänzung im Ablativ Probleme. Vermutlich habe ein Leser die vergilische Formulierung Hyblaeis apibus als glossa in margine oder glossa supra lineam eingefügt, um depasta verständlich zu machen. Später sei die originale Lesart somniferumque canit gegen Hyblaeis apibus ausgetauscht worden, und das habe die ›Verbesserung‹ von susurrum in susurrat nach sich gezogen. Umgekehrt sei es kaum vorstellbar, dass die stilistisch und grammatikalisch anspruchsvollere Version von BON später als Erläuterung zu der leichteren Version von VPH in den Text gelangt sei.455 Tatsächlich ist die Version von BON die elaboriertere. Mit der Wendung somniferumque canit saepes depasta susurrum verschlüssselt der Dichter den Bezug zum vergilischen Prätext stärker als mit der wörtlichen Übernahme Hyblaeis apibus, welche dieselbe Versposition wie im ›Original‹ einnehmen. Und anders als Pastorino meint, bleibt der Bezug auch in BON zu erkennen: Denn Ausonius nimmt alle vergilischen Schlüsselwörter – saepes, depasta, somnum und susurrum – in seinen Vers auf.456 Insofern scheint die Kritik Mondins berechtigt. Problematisch ist es allerdings, wenn er den Vers mit der Begründung als lectio difficilior wertet, dass depasta ohne Ablativ und 452 Vgl. Schenkl (1883) 186; Peiper (1886) 285; Prete (1978) 282–283; Green (1999) 250. Lediglich Mondin (1994) 168 plädiert in v. 12 für BON, vgl. dazu den folgenden Abschnitt. 453 Verg. ecl. 1,53–55: Hinc tibi, quae semper, uicino ab limite saepes/ Hyblaeis apibus florem depasta salicit/ saepe leui somnum suadebit inire susurro. 454 Pastorino (1962) 225. 455 Mondin (1994) 168. 456 Vgl. noch einmal Verg. ecl. 1,53–55: Hinc tibi, quae semper, uicino ab limite saepes/ Hyblaeis apibus florem depasta salicit/ saepe leui somnum suadebit inire susurro.

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Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften

auch die Kombination saepes susurrum canit schwer zu fassen sei. Wie das Partizip depastus in lateinischer Dichtung häufig ohne Ablativ konstruiert wird, so zieht das Verb canere häufiger ein Akkusativobjekt nach sich. Die Gruppe BON mag also im Vergleich mit VPH den elaborierteren Vers bieten, eine tatsächliche lectio difficilior aber nicht. Jedoch ist hier nicht nur die Argumentation für die eine oder die andere Lesart, sondern auch die Basis entscheidend, auf der jeweils argumentiert wird. Pastorino hält eine zweifache Redaktion durch den Autor Ausonius für gegeben: In den Paulinus-Handschriften BON zeige sich eine frühe Version, in den Ausonius-Handschriften VPH die späte, endgültige Version des Briefgedichtes. Mondin dagegen sieht in der Lesart von VPH eine interpolierte Variante, die den Ausonius-Text in einem ersten Schritt erklären, in einem zweiten Schritt verbessern sollte. Es ist kaum zu entscheiden, wer hier der Wahrheit näher kommt. Zwar ist Mondins Argumentation schlüssig und eine Interpolation von VPH durchaus möglich. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Lesart von VPH oder die Lesart von BON eine frühe Fassung des Briefgedichtes präsentiert: Beide Varianten sind, was die Wortstellung betrifft, sehr verschieden und doch ausgewogen komponiert. In BON folgt der Vers dem Schema: a + Verb + B + b + A; in VPH dem Schema a + A + B + b + Verb. Adjektive und Substantive werden also auf verschiedene Weise kombiniert, das Verb nimmt jeweils eine andere Position ein. Nur die Verseinschnitte – Penthemimeres und Hephthemimeres – sind jeweils dieselben. Beide Varianten weisen überdies unterschiedliche Formen intertextueller Markierung auf: Zum einen in VPH das deutliche Signal, das durch die wörtliche Übernahme von zwei Worten an derselben Stelle im Vers erzeugt wird; zum anderen das stärker verschlüsselte Signal in BON, das den Leser durch die Übernahme mehrerer, teilweise veränderter Worte aus aufeinander folgenden Versen an die literarische Vorlage erinnert. Beide Formen der Markierung finden sich, wie an anderer Stelle gezeigt wurde, bei Ausonius häufig.457 Die Handschriftengruppen VPH und BON bieten also jeweils Verse, die sich nicht so sehr in der Qualität, als vielmehr in der Kompositionsform unterscheiden. Die Lesart der Paulinus-Handschriften wirkt dabei aufgrund der stärker verschlüsselten Reminiszenz etwas elaborierter als die der Ausonius-Handschriften. Wenn hier tatsächlich Autorenvarianten vorliegen, lässt sich, anders als Pastorino meint, kaum entscheiden, welche Variante früher, welche später anzusetzen ist. Wenn es sich bei der Version von VPH tatsächlich um eine Interpolation handelt, wie Mondin meint, war der Redaktor fähig, einen guten lateinischen Vers zu komponieren und eine Reminiszenz in diesen einzubetten. Der Redaktor wäre dann eher als Co-Autor, nicht als Interpolator zu betrachten. Was uns

457 Vgl. dazu besonders Görler (1991).

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Interpolation oder Autorenvariante?

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die Handschriften in v. 12 präsentieren – Interpolation oder Autorenvariante – lässt sich auf der Grundlage des vorliegenden Materials jedenfalls nicht entscheiden.458 In v. 14 bieten der Vossianus und die ihm verwandten Handschriften die Lesart, Auson. ep. 21,14 (VPH): cumque suis loquitur tremulum coma pinea uentis. Die Paulinus-Handschriften, präsentieren ihn wie folgt, Auson. ep. 21,14 (BON): atque arguta suis loquitur coma pinea uentis. Die Partikel atque ersetzt also die Kombination aus Präposition und Partikel cumque, an die Stelle des Adverbersatzes tremulum tritt das Adjektiv arguta, das zudem an die zweite Versposition geschoben wird. Anders als zuvor wertet Mondin an dieser Stelle die Version von VPH als die ursprüngliche Lesart, die von BON dagegen als Interpolation. Das Adjektiv tremulus werde in der antiken Dichtung häufig mit dem Klang der Stimme und dem Rauschen von Blättern im Wind verbunden, die Verbindung von tremulum, loqui und comapinea sei also idiomatisch.459 Der Schreiber des BON zugrundeliegenden Hyparchetypus habe tremulum gegen arguta ausgetauscht: Erstens erscheine tremulum als Ersatz für das Adverb nur ein weiteres Mal in der lateinischen Literatur.460 Zweitens verstärke das Adjektiv arguta den Anklang an Verg. ecl. 8,22–24: Maenalus argutumque nemus pinosque loquentis semper habet, semper pastorum ille audit amores Panaque, qui primus calamos non passus inertis. Der Maenalus hat immer säuselnden Hain und flüsternde Fichten, immer hört er die Liebesklagen der Hirten und Pan, der als erster das Flötenrohr nicht stumm ließ.

Aus diesen Gründen sei tremulum als lectio difficilior zu werten. Tatsächlich passt diese Vergil-Stelle als Vorlage gut zu v. 14 im Briefgedicht des Ausonius: argutum wird an derselben Versposition in arguta aufgenommen, das Substantiv pinos im Adjektiv pinea, das ebenfalls dieselbe Position einnimmt, loquentis in loquitur. Zwar steht die Verbform bei Vergil und Ausonius in jeweils anderer Funktion an jeweils anderer Position, doch umschreibt sie in beiden Fällen das Tun der Fichte. Auch inhaltlich passt die Strophe der Ekloge sich in den Zusammenhang des Briefgedichtes ein, denn Ausonius 458 Selbst wenn die Varianten tatsächlich auf Ausonius zurückgehen, bestätigt dies nicht die These Brandes (1881) und Seecks (1887), dass alle Varianten im Ausonius-Text auf Ausonius selbst zurückgehen. Vgl. dazu auch Jachmann (1941) 47–50. 459 Mondin (1995) 253: »L’aggettivo tremulus, frequente come determinazione del suono o della voce, qui evoca anche l’impressione visiva della pianta che freme allo spirare del vento.« Mit Verweis auf: Hor. epod. 10,7–8: Insurgat Aquilo quantus altis montibus/ frangit trementis ilices; Petron. 131,8: Nobilis aestiuas platanus diffuderat umbras/ et bacis redimita Daphne tremulaeque cupressus/ et circum tonsae trepidanti uertice pinus. 460 Mondin (1995) 253 mit Verweis auf Martial 14,203: Tam tremulum crisat, tam blandum prurit, ut ipsum/ masturbatorem fecerit Hippolytum.

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Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften

gestaltet an dieser Stellen einen Katalog im bukolischen Sujet und schreibt Teile seines Briefgedichtes, wie noch zu zeigen sein wird, in Form von amores.461 Was also spricht gegen die Version von BON? Etwas merkwürdig wirkt zunächst, dass dem Substantiv coma zwei Attribute – arguta und pinea – zugeordnet sind. So entsteht das Schema: a + b + Verb + A + a + B. Allerdings vertritt das Adjektiv pinea hier den Genitivus Subjektivus von pinus, der einen an dieser Stelle sehr ungewöhnlichen Spondeus erzeugen würde.462 Das Adjektiv ersetzt also eine eigene syntaktische Einheit, so dass sich das Schema ergibt: a + b+ Verb + A + C + B. Grundsätzlich spräche gegen BON nur, dass VPH mit tremulum eine lectio difficilior bietet. Aber handelt es sich hier tatsächlich um eine lectio difficilior? Ist es so schwierig, in tremulum den Ersatz für das Adverb zu sehen?463 Ließe sich nicht umgekehrt argumentieren, dass die Kombination arguta … coma pinea kompositorisch zunächst so ungewöhnlich wirkt, dass tremulum mit Blick auf die Parallelen, an denen tremulus oder tremens das Baumlaub beschreibt, für arguta in den Text tritt? Auch hier können wir auf der Grundlage des handschriftlichen Befundes kein abschließendes sicheres Urteil für die eine oder die andere Lesart fällen. Beide Varianten könnten durchaus von Ausonius stammen. Grundsätzlich ist also zu fragen, ob hier einer Handschriftengruppe der Vorzug zu geben ist oder ob beide Handschriftengruppen gleichberechtigt sind. Eine Entscheidung hängt in erster Linie davon, ob und mit welchen Argumenten die einzelnen Varianten tatsächlich als lectiones difficiliores bewertet werden können. Ein besonderer Stellenwert kommt in diesem Zusammenhang dem schon besprochenen Vers Auson. 27,21,16 zu. In v. 16 (= Auson 27,21,19 ed. Green 1999) lesen wir in BON Dindymaque Idaeo respondent cantica luco, in VPH Dindyma Gargarico respondent cantica luco. Hier scheint der Fall eindeutig: Das in der lateinischen Literatur nur an dieser Stelle aufzufindende Adjektiv Gargaricus sei, so die Meinung aller Editoren seit Schenkl, durch die geläufige Form Idaeus in Form einer Glosse in margine oder supra lineam erläutert worden. Diese sei dann später in den Text gelangt.464 Wenn die Gelehrten hier richtig urteilen, sind VPH zumin461 Vgl. dazu Kap. 9.4.3. 462 Ein ähnlicher Fall ist z. B. Lucr. 6,387–388: Quod si Iuppiter atque alii fulgentia diui/ terrifico quatiunt sonitu caelestia templa (…). Das Adjektiv caelestia tritt an die Stelle von caeli. Im Vergleich dazu Lucr. 5,491–492: (…) corpora multa uaporis et aeris altaque caeli/ densabant procul a terris fulgentia templa. Vgl. grundsätzlich auch Hofmann/Szantyr (1972) 161. 463 Dass in der Dichtung seit Vergil häufig das Adjektiv für das Adverb gesetzt wird, zeigen Hofmann/Szantyr (1972) 171–172. Ähnlich Green (1991) 649 mit Blick auf Ausonius: »VP’s form tremulum is typical of Ausonius (…).« 464 Vgl. z. B. Green (1991) 650: »NSA [sc. BON] offer Dindymaque Idaeo, written perhaps to accomodate a gloss (Gargaricus is extremely rare) or to supply a connective.« Ähnlich Mondin (1995) 253: »Dindymaque Idaeo (…), dovuta probabilmente a disagio per il raro Gargaricus (…).« Tatsächlich ist Gargaricus in der lateinischen Dichtung Hapax legomenon.

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dest an dieser Stelle der Gruppe BON vorzuziehen. Wie sind dann die zuvor besprochenen Varianten in BON zu erklären? Handelt es sich bei ihnen ausschließlich um Interpolationen? Wie schwierig es ist, hier ein begründetets Urteil zu fällen, zeigen die Lesarten des Codex Parisinus 7558 (N).

4.6 Sonderüberlieferungen im Parisinus 7558 (N/Puteaneus) Was die Briefe 21 und 22 des Ausonius betrifft, weist der Parisinus zahlreiche gemeinsame Lesarten mit B und O auf. Die drei Handschriften weichen hier, wie wir gesehen haben, deutlich von VPH ab. Umgekehrt weist N, was die carmina 10 und 11 des Paulinus und die Verse 95 bis 124 von Auson. 27,24 angeht, gemeinsame Lesarten mit VPH auf. Diese finden sich nicht in B und O. Offensichtlich geht N für die Briefgedichte 21 und 22 des Ausonius auf dieselbe Vorlage wie die Paulinus-Handschriften B und O zurück, für die carmina 10 und 11 des Paulinus und den zweiten Teil des Briefgedichtes Auson. 27,24 jedoch auf dieselbe Vorlage wie die Ausonius-Handschriften VPH.465 Darüber hinaus weicht N in einigen Fällen sowohl von den Ausonius-Handschriften als auch von den Paulinushandschriften ab. Sollten diese Abweichungen signifikant sein, muss die Rolle des Parisinus, der im Vergleich mit VPH und BO oft als weniger wertvoll eingeschätzt wird, neu bewertet werden. Hier seien daher die wichtigsten Abweichungen vorgestellt.466 Der schlechte Ratgeber des Paulinus soll zukünftig, so der Wunsch des poetischen Ichs am Ende des Briefgedichtes, nicht mehr in der bukolischen Idealwelt der Dichter, sondern in der Einsamkeit leben. Hier bietet der Vossianus, Auson. 27,21,62–68: Impius ut nullos hic uocem uertat in usus; gaudia non illum uegetent, non dulcia uatum 65 carmina, non blandae modulatio flexa querellae; non fera, non illum pecudes, non mulceat ales, 465 Vgl. Mondin (1995) praef. XLVII–L mit zahlreichen Beispielen. Anhand von Trennfehlern kann Mondin nachweisen, dass N nicht von V abhängig ist, vgl. praef. XLVIII. 466 Verzichtet wird hier z. B. auf eine Diskussion der Abweichung in Auson. 27,21,51–52. Hier bietet N: Vasconei saltus et ninguida Pyrenaei/ hospitia et nostri facit hoc obliuio caeli. Dagegen bieten BO und der Vossianus an Stelle von Vasconei saltus die Version Vasconis hoc saltus. Geographische Bezeichungen werden in spätantiker Dichtung, wie schon eine kurze Sichtung des Prudentius, des Paulinus und des Ausonius zu Vasco und den entsprechenden Varianten zeigt, so häufig variiert, dass die Frage, ob Ausonius hier Vasconei oder Vasconis geschrieben hat, (wenn überhaupt) nur auf Basis einer breiter angelegten Untersuchung geklärt werden kann, die auch andere Autoren einbezieht.

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Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften

non quae pastorum nemoralibus abdita lucis solatur nostras echo resecuta loquellas; Der Frevler, er soll seine Stimme nicht mehr gebrauchen können. Scherze sollen jenen nicht ermuntern, [65] nicht die süßen Lieder der Dichter, nicht der geformte Rhythmus schöner Liebesklage; nicht die wilden Tiere, nicht das Vieh, nicht die Vögel sollen ihn besänftigen, nicht das Echo, das verborgen in den schattigen Hainen der Hirten unsere Gesänge zurückwirft, ihn trösten.

Dagegen bietet B in v. 68 das unverständliche solatur nostram secore secuta loquellas, O bietet die wenig bessere Variante solatur nostras et ore secuta loquellas. Es ist deutlich zu erkennen, wie diese Varianten entstehen konnten: Das Präfix re- wurde jeweils von secuta getrennt und zu dem vorausgehenden echo gezogen. Aus echore entstanden schließlich secore und et ore. Den Handschriften BO liegt vermutlich eine verdorbene Quelle zugrunde, deren Schreiber echo und resecuta nicht oder falsch trennte. Dagegen präsentiert N eine Variante, die sich nicht oder nicht nur durch Verschreibungen erklären lässt, Auson 27,21,67–68: Non quae pastorum nemoralibus abdita lucis solatur tacitas defixo in pectore curas. Nicht soll das, was verborgen in schattigen Hainen der Hirten ist, die im erstarrten Herzen schweigenden Sorgen trösten.

Die Variante bereitet einige Schwierigkeiten. Da in v. 68 ein Subjekt fehlt, ist entweder vor quae in v. 67 ein ea zu ergänzen oder der durch quae eingeleitete Nebensatz selbst muss an die Stelle des Subjekts treten. Aber welcher Art sollen die Geheimnisse sein, die in den Wäldern verborgen sind und inwiefern sollen sie trösten oder nicht trösten? Gegenüber dem Vossianus fehlt in N also eine Information, die für das Verständnis der Passage entscheidend ist. Merkwürdig wirkt darüber hinaus die Formulierung tacitas defixo in pectore curas. Hier ist nicht gemeint, dass die Sorgen im Herzen des Ratgebers zu einem Klumpen erstarrt sind (etwa: defixas in pectore curas). Vielmehr erklärt sich die Erstarrung des Herzens durch den folgenden Vergleich mit Bellerophontes. Denn wie der wahnsinnige Bellerophontes soll der Ratgeber traurig und einsam die Einöden durchstreifen. Das Herz des Ratgebers ist aufgrund von Wahnsinn erstarrt.467 Die Wendung defixo in pectore nimmt also in gewisser Weise das Ergebnis des Fluches nach Art 467 Defigere bezieht sich im Lateinischen häufiger auf eine Art Schock- oder Schreckstarre, weniger auf die Erstarrung vor Sorge, vgl. z. B. Hor. epod. 1,16,10–14: (…) pauor est utrobique molestus./ improuisa simul species exterret utrumque./ gaudeat an doleat, cupiat metuatne, quid ad rem,/ si, quidquid uidit melius peiusue sua spe,/ defixis oculis animoque et corpore torpet? Weitere Beispiele bei Simbeck, K.: Art. defigo, ThLL 5,1,1 col. 341, l. 62-col. 342, l. 3 und col. 342, l. 45-l. 55.

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einer Prolepse vorweg: Sie ist nur mit Hilfe des folgenden BellerophontesVergleiches zu verstehen. Demgegenüber wirkt die Variante des Vossianus glatter, auch wenn sie einigen Anspruch an die Kompetenz des Lesers stellt: Vers 67 nimmt den Relativsatz vorweg. Das Beziehungswort echo, das gleichzeitig Subjekt des gesamten Satzes ist, folgt in v. 68. Von echo hängt ein zweite satzwertige Einheit ab, das Partizip resecuta nostras loquellas. Auch diese Konstruktion ist nicht leicht zu verstehen, und doch spricht besonders ein Gesichtspunkt für den Vossianus. In der Version des Vossianus spielt der Dichter auf die im dritten Buch der Metamorphosen erzählte Geschichte von Echo und Narcissus an. Dort verliebt sich die Nymphe Echo in den jungen, arroganten Jäger Narcissus und folgt seinen Spuren.468 Als er sie zurückweist, verbirgt sie sich in den Wäldern. Von Liebe zerfressen stirbt sie, ihre Stimme jedoch bleibt erhalten und narrt die Bewohner des Waldes.469 Der Leser kann diese Anspielung im Vossianus aufgrund der Zusammenhänge sofort erkennen: Denn wie die Nymphe verbirgt sich das Echo des Ausonius im Wald, wie die Nymphe werden Autor und poetisches Ich von ihrem geliebten Gegenüber zurückgewiesen. Vor allem aber ist der Leser auf die Anspielung vorbereitet, da Ausonius bereits zu Beginn des Briefgedichtes im Katalog auf die ovidische Version des Mythos von Narcissus und Echo verweist.470 Zu Beginn und am Ende des Briefgedichtes greift Ausonius auf diesen Mythos zurück, in beiden Fällen ist die Anspielung eingebettet in eine bukolische Szenerie. Es spricht einiges dafür, dass der Vossianus hier die richtige Version gegen den Parisinus bietet. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass pectore deutlich an die Varianten in B und O, secore secuta und et ore secuta erinnert. Offensichtlich ist pectore aus derselben Verschreibung enstanden wie secore und et ore. B und O und N gehen also jeweils auf eine an dieser Stelle bereits verdorbene Handschrift zurück. Doch unterscheidet sich N 468 Ov. met. 3,370–378: Ergo ubi Narcissum per deuia rura uagantem/ uidit et incaluit, sequitur uestigia furtim;/ quoque magis sequitur, flamma propiore calescit,/ non aliter quam cum summis circumlita taedis/ admotas rapiunt uiuacia sulphura flammas./ o quotiens uoluit blandis accedere dictis/ et mollis adhibere preces! natura repugnat/ nec sinit incipiat; sed, quod sinit, illa paratast/ exspectare sonos, ad quos sua uerba remittat. 469 Ov. met. 3,393–403: Spreta latet siluis pudibundaque frondibus ora/ protegit et solis ex illo uiuit in antris./ sed tamen haeret amor crescitque dolore repulsae/ et tenuant uigiles corpus miserabile curae/ adducitque cutem macies et in aera sucus/ corporis omnis abit. uox tantum atque ossa supersunt;/ uox manet; ossa ferunt lapidis traxisse figuram./ inde latet siluis nulloque in monte uidetur;/ omnibus auditur; sonus est, qui uiuit in illa./ sic hanc, sic alias undis aut montibus ortas/ luserat hic nymphas, sic coetus ante uiriles. 470 Auson. 27,21,9–10: Respondent et saxa homini et percussus ab antris/ sermo redit, redit et nemorum uocalis imago. Vgl. dazu Ov. met. 3,357–358: Vocalis nymphe, quae nec reticere loquenti/ nec prius ipsa loqui didicit resonabilis Echo. Eingehend interpretiert werden die Reminiszenzen Kap. 8.7.

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Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften

deutlich von ihnen, da die Formulierung solatur nostras … loquellas durch solatur tacitas … curas ersetzt wird. Diese Ersetzung lässt sich nur schwer erklären, wenn N und BO an dieser Stelle von einer verdorbenen Handschrift abhängen. Mit welchem Grund sollte ein Schreiber nostras … loquellas durch die paläographisch und inhaltlich fernliegende Junktur tacitas … curas ersetzen? Wahrscheinlich geht N also auf eine Handschrift zurück, die in Auson. 27,21,68 entweder noch stärker verdorben war als BO und dann durch den Schreiber von N verbessert wurde oder aber bereits verbessert war. N folgt also teilweise einem eigenen Überlieferungsweg. Der Handschrift liegt zumindest in Teilen eine Vorlage zugrunde, die von V und BO nicht genutzt wurde. Dass der Parisinus 7558 in Teilen auch von der Vossianus-Familie unabhängig ist, zeigt m. E. Auson. ep. 27,24. Der Parisinus überliefert von diesem Gedicht nur die Verse 95 bis 124, die Prete auch aus diesem Grund als eigenständiges Briefgedicht wertet. In den Versen 95 bis 101 fasst Ausonius die Problematik des Briefwechsels abschließend noch einmal kurz zusammen, Auson. 27,24,95–101 (V): Agnoscisne tuam, Ponti dulcissime, culpam? nam mihi certa fides nec commutabilis umquam Paulini illius ueteris reuerentia durat quaeque meoque tuoque fuit concordia patri; si tendi facilis cuiquam fuit arcus Vlixi 100 aut praeter dominum uibrabilis ornus Achilli, nos quoque tam longo Rhamnusia foedere soluet. Erkennst du deine Schuld, lieber Pontius? Denn ich bin ganz sicher treu und ewig unveränderlich dauert meine Verehrung für jenen alten Paulinus an und die Eintracht, die schon meinen und deinen Vater verband. Wenn der Bogen des Odysseus von irgendwem so leicht zu spannen oder von jemandem außer dem Herrn der Eschenspeer des Odysseus zu schwingen wäre, dann wird sogar uns Nemesis von einem so langen Bund entbinden.

In v. 101 bietet der Parisinus 7558 an Stelle von Rhamnusia die Variante mens altera: » (…) dann wird eine andere mens sogar uns von so einem langen Bund entbinden.« Beide Lesarten passen sich gut in den Textzusammenhang ein. Schon in den Versen 40 bis 45 des Gedichtes beschreibt Ausonius, wie Nemesis, deren Beiname Rhamnusia auf ihren Kult im attischen Rhamnus zurückzuführen ist, den Persern Schaden zufügt. Den zivilisierten Nachfahren des Romulus aber solle die Rachegöttin des Ostens fernbleiben. Für Paulinus und Ausonius, die Senatoren und Konsuln Roms, gehöre es sich nicht, den Intrigen einer fremden Göttin nachzugeben.471 Es folgt ein Zwi471 Auson. 27,24,43–58: Grande aliquod uerbum nimirum diximus, ut se/ inferret nimiis uindex Rhamnusia uotis:/ Arsacidae ut quondam regis non laeta triumphis/ grandia uerba premens ultrix dea Medica belli/ sistere Cecropidum in terris monumenta paranti/ obstitit et Graio

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schenstück, in dem sich der Ich-Sprecher auf das aptum besinnt: Nicht das ferne östliche Ungeheuer trenne Paulinus von ihm, sondern seine neue spanische Heimat.472 Daran schließt sich die oben zitierte Passage – Agnoscisne tuam, Ponti dulcissime, culpam – an. Hier nimmt der Text den im vorausgehenden Gedichtteil gesponnenen Faden wieder auf: Erst dann, wenn eherne Gesetze gebrochen werden, wird die fremde Göttin ihre Wirksamkeit in Rom entfalten, wird sie das Freundschaftsband zwischen den Senatoren und Dichtern Paulinus und Ausonius lösen. Die Lesart mens altera passt sich ebenfalls in den Zusammenhang ein. Sie stellt den neuen, veränderten Paulinus dem alten, dem Paulinus ille uetus, der Ausonius in Freundschaft verbunden war, gegenüber. Damit erinnert sie den Leser an einen wichtigen Aspekt des Briefwechsels, die Veränderung. Bereits im ersten Briefgedicht des Ausonius wirft der Ich-Sprecher Paulinus vor, seinen Charakter verändert zu haben, Auson. 27,21,50: uertisti, Pauline, tuos, dulcissime, mores. Paulinus geht auf diesen Vorwurf an zwei Stellen in carm. 10 ein. In der programmatischen iambischen Passage (Paul. Nol. carm. 10,19–102) weist er zunächst die Bitte des Ausonius zurück, in die Welt der Musen und der Dichtung zurückzukehren. Früher habe er mit Ausonius zusammen gedichtet, gemeinsam hätten sie Apoll aus der delphischen Höhle gerufen. Jetzt aber treibe eine neue Macht seinen Geist, die ein anderes Verhalten einfordere, Paul. Nol. carm. 10,29–30: Nunc alia mentem uis agit, maior deus, aliosque mores postulat. Nun treibt eine andere Macht meinen Geist an, ein größerer Gott, und fordert einen neuen Charakter.

Diesen Gedanken nimmt Paulinus an anderer Stelle wieder auf: Man solle ihn nicht für verdorben halten, denn freiweillig bekenne er, dass er nicht durch seinen Verstand und Willen sein früheres Leben verändert habe, Paul. Nol. carm. 10,140–143: 140

(…) quoniam sim sponte professus me non mente mea uitam mutasse priorem. mens noua mi, fateor, mens non mea, non mea quondam, sed mea nunc auctore deo (…)

Freiwillig bekenne ich ja, dass ich nicht durch meine mens mein früheres Leben verändert habe. Eine neue mens ist mir, nicht meine mens, nicht meine mens einst, sondern jetzt die meine, weil Gott es bewirkt hat (…) iam iam figenda tropaeo/ ultro etiam uictis Nemesis stetit Attica Persis./ quae tibi Romulidas proceres uexare libido est?/ (…) [56] Paulinum Ausoniumque, uiros quos sacra Quirini/ purpura et auratus trabeae uelauit amictus,/ non decet insidiis peregrinae cedere diuae. 472 Auson. 27,24,59–94, bes. 59–62: Quid queror Eoique insector crimina monstri?/ occidui me ripa Tagi, me Punica laedit/ Barcino (…).

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Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften

Die Ausdrücke mens altera und mens noua bedeuten also jeweils soviel wie ›eine neue, eine andere mens‹. Anders als die Wendung mens noua im Briefgedicht des Paulinus drückt die von Ausonius gewählte Formulierung mens altera aber eine Veränderung zum Negativen aus: Paulinus ist nicht mehr der alte, er hat sich zum Negativen verändert. Eine solche Veränderung ruft auch Horaz in der Ode an Ligurinus vor das Auge des Lesers, Hor. carm. 4,10,6–8: Dices [sc. Ligurine] ›Heu‹, quotiens te in speculo uideris alterum, ›quae mens est hodie, cur eadem non puero fuit, uel cur his animis incolumes non redeunt genae?‹ Du wirst sagen, Ligurinus, ›Ach‹, sooft du dich im Spiegel als einen anderen siehst, ›Über welchen Verstand verfüge ich heute, warum hatte ich denselben nicht als Junge oder warum kehren dieser Verstandesschärfe nicht faltenlose Gesichtszüge zurück?‹

Horaz beschreibt hier die Veränderung durch das Altern, die Diskrepanz von zunehmender Weisheit und abnehmender Schönheit. Diese Veränderung wird fassbar in der negativ konnotierten Wendung te … uideris alterum: »Du siehst dich als einen anderen, als einen veränderten.« Sowohl Horaz als auch Ausonius scheinen das Adjektiv alter aus den üblichen Korrelationen zu lösen und es gleichermaßen als Ersatz für alius und immutatus zu verwenden. Diese Verwendung ist gewagt und findet sich in der lateinischen Dichtung entsprechend selten.473 Und tatsächlich verwendet Ausonius alter nur an zwei Stellen in ähnlicher, an keiner Stelle in derselben Weise.474 Schrieb Ausonius also Rhamnusia (V) oder mens altera (N)? Für den Vossianus spricht in erster Linie die Argumentation des zweiten Gedichtteils: Zunächst erwähnt der Ich-Sprecher in den Versen 40 bis 45 Nemesis, die dann mit Blick auf den eigentlichen Grund des Zerwürfnisses beiseite gelas473 Vgl. Hey, O.: Art. alter, ThLL 1, col. 1736, l. 27-l. 48 mit weiteren Beispielen und dem Zusatz dub. interpr. Etwas geläufiger ist alter als bloßer Ersatz für alius, vgl. Hey, O.: Art. alter, ThLL 1, col.1736, l.4-l.36; auch Hofmann/Szantyr (1972) 208. 474 Vgl. die an Valentinian I. und Gratian gerichtete hexametrische Praefatio zum Cento nuptialis, Auson. 18 (b) 4–9: Tuque prior (nam te maioribus ire per altum/ auspiciis manifesta fides), quo iustior alter/ nec pietate fuit nec bello maior et armis/ tuque puerque tuus, magnae spes altera Romae, flos ueterum uirtusque uirum, mea maxima cura,/ nomine auum referens, animo manibusque parentem. Während alter in v. 4 wie häufiger einen von zweien im Vergleich miteinander bezeichnet, schwingt in v. 7 eine andere Konnotation mit: Gratian ist die andere, die zweite Hoffnung Roms. Ähnlich verhält es sich im Ordo urbium nobilium, wo Capua ein anderes, ein zweites Rom werden will Auson. 24,61–63: Illa potens opibusque ualens, Roma altera quondam,/ comere quae paribus potuit fastigia conis,/ octauum reiecta locum uix paene tuetur. Hier schwingt (auch aufgrund des Gedichtanfangs) deutlich mit, dass Capua vermutlich ein schlechteres Rom werden wird. An allen anderen Stellen verwendet Ausonius alter m. E. in geläufiger Weise, vgl. z. B. Auson. 11,20,6–7: tu mihi quod genitor, quod auunculus, unus utrumque;/ alter ut Ausonius, alter ut Arborius.

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sen wird. Erst am Ende nimmt der Ich-Sprecher, vorausgesetzt Rhamnusia gehört an dieser Stelle in den Text, den Mythos noch einmal auf und verstärkt so die Aussage. Für die Lesart des Parisinus spricht erstens der Ausdruck mens altera, der sehr gewählt wirkt und mit Blick sowohl auf den Vergleichspunkt – den uetus Paulinus der Vergangenheit – als auch auf die horazische Parallelstelle die negatve Konnotation deutlich spürbar werden lässt. Zweitens greift die Wendung mens altera das Thema Veränderung, das für das Briefgedicht Auson. 27,21 und das Antwortschreiben des Paulinus zentral ist, noch einmal auf. Ein Gesichtspunkt spricht allerdings gegen die Version des Parisinus. Wenn der Schreiber des Parisinus oder der Schreiber seines Hyparchetypus die Verse Auson. 27,24,95–124 tatsächlich als eigenständiges Gedicht (in P sind ja nur die Verse 95 bis 124 überliefert) verstanden hat, dann greift Nemesis am Gedichtanfang recht unvermittelt in das Geschehen ein. Der Gedankengang verläuft wie folgt: Paulinus soll seine Schuld erkennen. Ausonius ist treu. Erst wenn eherne Gesetze gebrochen werden, werden sogar sie durch Nemesis getrennt werden. Warum zeichnet gerade Nemesis für die Trennung verantwortlich? Einem Leser, der nur die Verse 95 bis 124 vor Augen hat, fehlt hier der Zusammenhang. Diese Unebenheit hätte der Schreiber durch die Wendung mens altera, die dem Leser aus den vorausgehenden Briefgedichten inhaltlich bekannt ist, weitgehend geglättet. Noch dazu wäre mens altera eine paläographisch geschickte Konjektur, da der Schreiber immerhin fünf Buchstaben aus Rhamnusia übernommen (mnsra) und von diesen drei in derselben Reihenfolge belassen hätte (mn*s). Dennoch bleibt die Frage, ob Rhamnusia inhaltlich so schwer zu verstehen ist, dass ein Schreiber es in mens altera geändert hätte. Möglich, vielleicht sogar wahrscheinlicher scheint, dass der Text, wie es bereits für andere Stellen gezeigt werden konnte, auch hier verdorben war und ein Schreiber aus den verbliebenen Buchstaben mens altera formte. Allerdings lässt sich in ähnlicher Weise gegen die Lesart des Vossianus argumentieren. Denn es ist auffällig, dass die Verse nach den Nemesis-Passagen stilistisch jeweils ähnlich gestaltet sind. Nach der Passage Auson. 27,24,43–58 setzt Ausonius ein, Auson. 27,24,59–61: quid queror Eoique insector crimina monstri?/ occidui me ripa Tagi, me Punica laedit/ Barcino. Nach v. 101 heißt es, Auson. 27,24,102–103: sed cur tam maesto sero tristia carmina uersu/ et non in meliora animus se uota propinquat? In beiden Fällen beginnt Ausonius mit Fragepronomen, die den neuen Abschnitt deutlich vom vorhergehenden abgrenzen. Es mag also sein, dass auch der Schreiber des Vossianus oder seines Hyparchetypus an dieser Stelle mit einem verdorbenen Text zu kämpfen hatte, nur die Buchstabengruppen ›mns‹ und ›ra‹ lesen konnte und daraus mit Blick auf die vorausgehenden Passagen Rhamnusia ergänzte. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, an welcher Stelle und in welche Richtung eine Verschreibung stattgefunden hat. Dass der

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Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften

Parisinus zuvor jedoch bereits in v. 68 eine Lesart bietet, die offensichtlich eine verdorbene Textstelle korrigieren soll, mag darauf hinweisen, dass auch an dieser Stelle ein Schreiber in den Text eingegriffen und mens altera konjiziert hat. Wiederum scheint es nicht ausgeschlossen, dass auch an dieser Stelle Varianten vorliegen, die auf Ausonius selbst zurückgehen. Die Vossianus-Familie und der Parisinus weichen in zwei weiteren Fällen von einander ab, die den Leser erneut vor Schwierigkeiten stellen. In der Schlusspassage des Briefgedichtes bieten VPH Auson. 27,24,104–106: Sit procul iste metus: certa est fiducia nobis, 105 si genitor natusque dei pia uerba volentum accipiat, nostro reddi te posse precatu Diese Furcht sei fern: Ich glaube ganz sicher, dass du, wenn der Schöpfer und der Sohn Gottes die Bitten der Wollenden annimmt, auf unser Bitten zurückgegeben werden kannst.

In v. 105 bietet N uouentum an Stelle von uolentum: Gott nimmt also nicht die Bitten der Wollenden, sondern der Wünschenden an. Ein ähnlicher Fall findet sich in dem Vers, der den reditus amantis einleitet. Hier bieten VPH, Auson. 27,24,115–116: 115 Ecquando iste meas impellet nuntius aures? ›Ecce tuus Paulinus adest: (…)‹ Wann wird endlich dieser Bote meine Ohren anstoßen? ›Schau, dein Paulinus ist schon da: (…)‹

Der Parisinus schreibt in v. 115 impleuit nuntius aures. Der Sinn verändert sich leicht: »wann hat dieser Bote meine Ohren angefüllt?« Die Lesarten uouentum und uolentum, impellet und impleuit sind paläographisch so ähnlich, dass hier nicht Autorenvarianten oder Interpolationen, sondern offenbar Verschreibungen die Abweichungen verursacht haben: Der Vossianus und der Parisinus gehen hier also sicher auf eine Quelle zurück. Welche Handschrift überliefert nun die jeweils korrekte Lesart? Im Fall von uolentum und uouentum ist dies kaum zu entscheiden. In Auson. 27,24,105 bezieht sich Ausonius auf folgende Passage im Briefgedicht des Paulinus, Paul. Nol. carm. 10,126–128: Quod si contraria uotis constituat [sc. deus] nostri [sic!], prece deflectendus in illa est quae uolumus. Wenn er [sc. Gott] also etwas beschließt, was unseren Wünschen entgegensteht, muss er durch das Gebet zu jenem bewegt werden, was wir wollen.

In dem Abschnitt, der diesen Versen zugrundeliegt, handelt Paulinus über die Möglichkeit und die Bedingung seiner Rückkehr. Anders als Ausonius denkt, haben die Musen keine Macht mehr über Paulinus. Die Musen als

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Sonderüberlieferungen im Parisinus 7558

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nomina sine numine sind nicht in der Lage, die Wünsche der Menschen zu erfüllen. Nur Gott kann dies tun.475 Wenn er etwas festlegt, was menschlichem Wunsch entgegensteht, gibt es nur einen Weg, dies zu ändern: Gott muss durch Gebete zu dem bewegt werden, was der Mensch will. Dieser eigentümliche Gedanke spiegelt bis zu einem Gewissen Grad das do-ut-desPrinzip römischer Prägung. Allerdings tritt an die Stelle der Gabe, für die ein Gott eine Gegenleistung erbringt, das Gebet. Die Entscheidung für die eine Lesart, uolentum, oder die andere, uouentum, wird dennoch nicht erleichtert, da Paulinus beide Worte verwendet, wenn auch in anderen Formen. Leichter zu bewerten sind die Varianten impellet und impleuit. Die Wendung impellere aures – die Ohren anstoßen – ist in der lateinischen Dichtung gut belegt: Vergil schreibt die Wenduung impulit aures einmal in den Georgica, einmal in der Aeneis, Statius verwendet sie zweimal, Claudian einmal.476 Im Vergleich dazu wirkt impleuit aures, auch wenn man mit Brandes impleuit zu implebit verbessert, weniger idiomatisch: Man würde vermutlich eine Ergänzung im Ablativ, z. B. hoc sermone erwarten.477 Statius belehrt uns jedoch eines Besseren. Er schreibt im vierten Buch der Thebais, Stat. Theb. 4,309–311: Iamque Atalantaeas implerat nuntius auris, 310 ire ducem bello totamque impellere natum Arcadiam: Und schon hatte der Bote die Ohren der Atalantiden erfüllt, dass ein Führer im Krieg vorangehe und der Sohn ganz Arkadien antreibe.

Die Übereinstimmung kann kaum zufällig sein: Ausonius übernimmt drei Wörter an derselben Versposition und verändert nur implerat zu implebit, und auch bei Statius fehlt eine Ergänzung im Ablativ.478 Darüber hinaus entfaltet der Prätext auch eine inhaltliche Wirkung. Die vom Herold angesprochene Atalante spricht nach einigen Versen ihren Sohn Parthenopaeus an: 475 Vgl. auch Paul. Nol. carm. 10,109–115: Sed reditum inde meum, genitor, te poscere mallem/ unde dari posset. reuocandum me tibi credam,/ cum steriles fundas non ad diuina precatus,/ Castalidis supplex auerso numine Musas?/ non his numinibus tibi me patriaeque reducis/ surda uocas et nulla rogas (leuis hoc feret aura,/ quod datur in nihilum), sine numine nomina Musas. 476 Vgl. z. B. Verg. georg. 4,349: Maternas impulit aures luctus Aristaei, Claud. carm. 18,371–373: Postquam uera fides facinus uulgauit Eoum/ gentibus et Romae iam certius impulit aures,/ ›Eutropiumne etiam nostra dignabimur ira?‹ (…). Für weitere Parallelstellen vgl. Hofmann, J. B.: Art. impello, ThLL 7,1, col. 536, ll. 81–82 und Otto, W.: Art. auris, ThLL 2,1, col. 1511, ll. 69–82. 477 Vgl. z. B. Ov. met. 12,56–58: E quibus (sc. uerbis) hi uacuas implent sermonibus aures,/ hi narrata ferunt alio mensuraque ficti/ crescit et auditis aliquid nouus adicit auctor. 478 Für weitere Parallelstellen, an denen implere ohne Ergänzung konstruiert wird, vgl. Labhardt, A.: Art. impleo, ThLL 7,1, col. 632, ll. 50–79.

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Bindefehler in den Ausonius- und Paulinushandschriften

Es sei zu früh für ihn, solange er noch nicht erwachsen und noch nicht stark genug sei, solle er nicht als Krieger in die Fremde ziehen. Doch der Held schenkt der Mutter kein Gehör und fällt im Kampf.479 Der Kontext der Thebais verändert an dieser Stelle die Aussage des Briefgedichts, indem er die Warnung der Atalante an Parthenopaeus in das Briefgedicht überträgt. Offenbar bietet an dieser Stelle der Parisinus 7558 gegen den Vossianus und die ihm verwandten Handschriften die korrekte Lesart.

4.7 Ergebnisse Betrachten wir die Tituli, die besprochenen Umstellungen und die Lesarten in einer Zusammenschau, lässt sich mit Vorsicht folgendes Ergebnis skizzieren. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass die große Handschriftenfamilie Z und der Vossianus mit den ihm verwandten Handschriften aus einer Vorlage stammen, lässt sich dies zumindest für die Briefgedichte weder mit Hilfe der Tituli noch mit Hilfe von Bindefehlern belegen. Der von Peiper entdeckte ›Fehler‹ in Auson. 27,13,40 spricht eher für eine uns unbekannte Version oder eine bewusste Veränderung des Mythos als für einen gemeinsamen Fehler der Handschriftenfamilien. Jedenfalls ist es gewagt, eine metrisch und syntaktisch eindeutige Lesart durch einen Neologismus, der paläographisch weit von der Lesart der Handschriften entfernt ist, zu ›verbessern‹. Ebensowenig lässt sich beweisen, dass die Werke des Ausonius in zwei verschiedenen Exemplaren, einem zu Lebzeiten und einem postumen, ediert wurden. Das in diesem Zusammenhang von Brandes und Pasquali vorgetragene Argument, dass der Titulus zu Auson. VII (ed. Green 1999) zweifelsfrei für zwei verschiedene Editionen der Opuscula spreche, beruht auf einer Konjektur und lässt sich aus diesem Grund nicht halten. Anders verhält es sich, wenn wir die Überlieferungsgeschichte des Briefwechsels selbst betrachten: Hier zeigen zwei gemeinsame Versumstellungen, dass die Ausonius- und die Paulinus-Handschriften zumindest für Auson. 27,21 und 24 auf eine Vorlage zurückgehen. Diese Umstellungen müssen, wie ein Vers des Venantius Fortunatus zeigt, sehr früh, vor Venantius, d. h. spätestens in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts oder in der Akme des Venantius vorgenommen worden sein. Die Art der Umstellung spricht min479 Stat. Theb. 4,318–343. Besonders verstärkend wirkt in diesem Zusammenhang der letzte Satz des Boten, Theb. 4,339–340: nunc refer arma domum! uos autem hunc ire sinetis,/ Arcades, o saxis nimirum et robore nati! Nimmt man hier Arcades als pars pro toto für Graeci, so entfaltet sich der Sinn des Briefgedichtes ganz neu: Paulinus ist auf dem Weg in die Ferne, in die von Griechen bewohnte Magna Graecia.

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Ergebnisse

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destens für einen sehr gebildeten Redaktor oder für ein kommentiertes Exemplar der Ausonius-Briefe, durch das Rand- oder Zeilennotizen in den Text hineingelangt sind. Diesen Befund stützen die Handschriften BON, die in einigen Versen signifikant von VPH abweichen. Die abweichenden Lesarten sind in zwei Fällen stilistisch und inhaltlich so ausgewogen formuliert, dass sie nicht ohne weiteres als lectiones faciliores zu Interpolationen erklärt werden können. Wahrscheinlich ist, dass den verschiedenen Lesarten tatsächlich ein Text zugrundeliegt, der in margine von Ausonius selbst vorgeschlagene Alternativen und Vorschläge enthielt. Dafür sprechen besonders die Varianten in Auson. 27,21,16 Dindyma Gargarico und Dindymaque Idaeo: Idaeus liest sich an dieser Stelle tatsächlich wie ein Kommentar zu dem Hapax legomenon Gargaricus. Der Parisinus 7558 (N) schließlich weicht in einigen Fällen deutlich, in einigen Fällen weniger deutlich von den Ausonius-Handschriften VPH und den Paulinus-Handschriften BO ab. N geht offenbar zumindest in Teilen auf eine von V und BO unabhängige, vermutlich teilweise stark verdorbene Handschrift zurück und hat einen eigenen Überlieferungswert: In einem Fall, Auson. 27,24,115 lässt sich zweifelsfrei zeigen, dass N gegen V die korrekte Lesart bietet. Das von Mondin entworfene Stemma zeigt also richtig die groben Linien der Überlieferung, ist aber in zwei wesentlichen Punkten zu korrigieren: Erstens bieten BO und N von V abweichende Lesarten, die nicht als Interpolationen zu werten sind, sondern auf ein vielleicht von Ausonius selbst kommentiertes Exemplar der Briefe schließen lassen. Zweitens geht N unter anderem auf eine von V und BO unabhängige Vorlage zurück.

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5. Die Briefreihenfolge

5.1 Die Sammlung der frühen Briefgedichte in der Handschriftengruppe Z Die 13 ›frühen‹, d. h. vor 389 verfassten Briefgedichte des Ausonius an seine Freunde, zu denen neben Paulinus Rhetoren wie Axius Paulus, der Grammaticus Ursulus, der Satiriker Tetradius und der Landbesitzer Theon gehören, finden sich in den späten Handschriften der Familie Z, die offenbar auf einen heute verlorenen Codex Veronensis des 12. Jahrhunderts zurückgehen.480 Die Handschriftengruppe bietet die Briefe in folgender Reihenfolge: In den Handschriften KMT wird sie durch das Incipit INCIPIT LIBER EPISTOLARUM, in C durch LIBER EPISTOLARUM INCIPIT eingeleitet. Alle Handschriften beginnen mit drei Briefen an den Rhetor Axius Paulus, es folgen ein Brief an Paulinus, darauf ein Brief an den Grammatiker Ursulus. Auf den Brief an Ursulus folgen zwei weitere Briefe an Paulinus, einer an den Satiriker Tetradius, einer an den ehemaligen proconsul Africae Sextus Petronius Probus sowie zwei weitere an den Rhetor Axius Paulus. Geschlossen wird die Sammlung in den Handschriften KT durch das Explicit FINIT EPISTOLARUM LIBER, in CM durch FINIT EPISTOLARUM LIBER PRIMUS. Nach einer längeren Lücke, die durch andere Werke des Ausonius gefüllt wird, finden sich in allen Handschriften ein weiterer Brief an den Landbesitzer Theon sowie einer an Paulinus. Daraus ergibt sich folgendes Gesamtbild: INCIPIT LIBER EPISTOLARUM KMT ep. 1 LIBER EPISTOLARUM INCIPIT C AUSONIO PAULO Tandem eluctati retinacula blanda morarum … INVITATIO AD PAULUM ep. 2 Si qua fides falsis umquam est adhibenda poetis

ed. Mondin 1995, ep. 2 ed. Green 1999

ed. Mondin 1995, ep. 4 ed. Green 1999

480 Folgende Codices der Familie Z überliefern die frühen Briefe: Der Patavinus Capit. C 64 aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (C), der Londonensis Brit. Lib. King’s 31(=Mus. Brit. King’s 31 ed. Mondin), der durch Wasserzeichen in das Jahr 1475 datiert werden kann (K); weiterhin der Florentinus Naz. Conv. Sopp. J. 6, 29 (= Magl. Conv. Sopp. J. 6, 29 ed. Mondin), der als Abschrift für Coluccio Salutati auf das Jahr 1385 datiert werden kann (M), schließlich der Leidensis Vossianus Lat. Q 107 (=Leid. Voss. Lat. Q 33 ed. Mondin) aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (T). Ausführlich beschrieben wird die Familie Z bei Reeve (1978) 350–366. Vgl. aber auch den kurzen Überblick Green (1999) xiv–xv.

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Frühe Briefgedichte in der Handschriftengruppe Z RESCRIPTUM PAULO Versus meos utili et conscio sibi pudore celatos carmine tuo et sermone praemissis … AUSONIUS PONTIO PAULINUS Condiderat iam Solis equos Tartesia Calpe AD URSULUM GRAMMATICUM TREVIRORUM CUIUS STRENAS KALENDIS IANUARIIS AB IMPERATORE NON DATAS REDDI FECIMUS Primus iucundi foret hic tibi fructus honoris … AUSONIUS PAULINO Quanto me affecit beneficio … AUSONIUS PAULINO Multas et frequentes mihi gratiae tuae causas et occasio subinde nata concinnat … AUSONIUS TETRADIO O qui uenustos uberi facundia … AUSONIUS PROBO PRAEFECTO PRAETORIO Oblata per antiquarios mora scio promissi mei gratiam expectatione consumptam … AUSONIUS PAULOI Ἑλλαδικῆς μέτοχον μούσης Latiaeque Camenae AUSONIUS PAULOI Ῥωμαίων ὕπατοσ ἀρεταλόγῳ ἠδὲ ποιητῇ FINIT EPISTOLARUM LIBER KT FINIT EPISTOLARUM LIBER PRIMUS CM AUSONIUS THEONI Ausonius, cuius ferulam nunc sceptra uerentur AUSONIUS PAULINO Paulino Ausonius: metrum sic suasit

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ep. 3.

ed. Mondin 1995, ep. 5 ed. Green 1999

ep. 6

ed. Mondin 1995, ep. 17 ed. Green 1999

ep. 7

ed. Mondin 1995, ep. 10 ed. Green 1999

ep. 8

ed. Mondin 1995, ep. 19 ed. Green 1999

ep. 9

ed. Mondin 1995, ep. 20 ed. Green 1999

ep. 10

ed. Mondin 1995, ep. 11 ed. Green 1999

ep. 11

ed. Mondin 1995, ep. 9 ed. Green 1999

ep. 12

ed. Mondin 1995, ep. 6 ed. Green 1999

ep. 13

ed. Mondin 1995, ep. 7, 8 ed. Green 1999

ep. 4

ed. Mondin. 1995, ep. 13 ed Green 1999

ep. 5

ed. Mondin 1995, ep. 18 ed. Green 1999

Zu den in Z gesammelten Briefen treten diejenigen hinzu, die der Vossianus 111 überliefert. Er enthält insgesamt 12 Briefe des Ausonius, darunter zwei Stücke, die auch Z bietet, ep. 1 an Axius Paulus und ep. 4 an Theon (ed. Mondin 1995).481 Den Anfang der Sammlung bildet ein in Prosa abgefasster Brief an Quintus Aurelius Symmachus (Auson. ep. 14 ed. Mondin 1995).482 481 Auson. 27,2;13 (ed. Green 1999). 482 Auson. 27,12 (ed. Green 1999).

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Die Briefreihenfolge

Es folgen zwei Briefe an Axius Paulus (ep. 1, 15 ed Mondin 1995)483, vier Briefe an den Landbesitzer Theon (ep. 4, 16, 17, 18 ed. Mondin 1995)484 und zwei Briefe an den Sohn Hesperius (ep. 19, 20 ed. Mondin 1995).485 Zwischen Brief 19 und 20 ist ein briefähnliches Stück eingeschoben, das Carmen ad patrem de suscepto filio. Auf Brief 20 folgen zwei weitere briefähnliche Stücke, die Ausonius seinem Enkel gleichen Namens gewidmet hat: Ein Protrepticus liber, der den Enkel auf das Schulleben und die Klassikerlektüre vorbereiten soll und ein lückenhafter Genethliacos zum Geburtstag desselben Enkels. Beschlossen wird die Sammlung durch die späte Korrespondenz mit Paulinus: Den vier letzten Briefgedichten an Paulinus (Auson. 27,21; 22; 23/ 24 ed. Green 1991) sind die Antwortschreiben Paul. Nol. carm. 10 und carm. 11, beigefügt. Auf die Briefe folgen im Vossianus noch die Epigramme des Ausonius, die nicht sicher zuzuordnende Oratio Sancti Paulini,486 die beiden frühen Briefgedichte des Paulinus an Gestidius sowie dessen in sapphischen Strophen abgefasstes Propemptikon für Nicetas, den Bischof von Remesiana. Die Ausonius-Editoren bis hin zu Roger Green versuchten gemeinhin aus den Briefsammlungen des Vossianus und der Familie Z die Chronologie der einzelnen Briefe abzuleiten und ordneten sie zu diesem Zweck in einem ersten Schritt nach Adressaten und in einem zweiten Schritt innerhalb der Adressatengruppen nach chronologischen Gesichtspunkten. Gemeinsam ist fast allen Editionen, dass die an Paulinus gerichteten Briefe und der Briefwechsel mit Paulinus am Ende der Briefsammlung aufgeführt werden: An erster Stelle die vor 389 geschriebenen, in Z überlieferten Briefe, an zweiter Stelle der im Vossianus überlieferte Briefwechsel als letztes Zeugnis des literaturschaffenden Ausonius mit den Antwortschreiben des Paulinus.487 Luca Mondin wendet sich in seiner Edition der Briefe mit einer innovativen Rekonstruktion der Briefsammlung von Z gegen eine solche Synopse: Ordnet man die in Z erst nach einer Lücke überlieferten Briefe an den Landbesit483 Auson. 27,2;3 (ed. Green 1999). 484 Auson. 27,13;14;15;16 (ed. Green 1999). 485 Auson. 1;7 (ed. Green 1999). Green (1991) 285 hält 7 nicht für einen Brief, sondern für ein ambitionierteres Werk und ordnet es deshalb an anderer Stelle ein: »This poem is often classed as a letter, and A. might have begun with correspondence in mind; but the opening words of the fragment and its high style suggest something more ambitious. There is a remarkable intensity of sentiment and expression (…). The poem is similar in tone to the letters that recalled Paulinus, and reminiscent in certain respects of the Moselle and Eclogues, but the style is that of high epic (…).« 486 Vgl. zur Oratio und der umstrittenen Frage der Autorschaft z. B. Green (1991) 250– 251. 487 Vgl. Schenkl (1883) 179–194 (ohne die Antwortschreiben des Paulinus), Peiper (1886) 266–307 (mit den Antwortschreiben des Paulinus), Prete (1978) 265–284 (ohne die Antwortschreiben des Paulinus), Green (1991) 222–23 (die Antworten des Paulinus in Appendix B, 708–719) Green (1999) 241–259 (ohne die Antworten des Paulinus). An dieser Anordnung orientieren sich mit Abweichungen auch Dräger (2002) 62–141 und Amherdt (2004) 39–211.

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Frühe Briefgedichte in der Handschriftengruppe Z

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zer Theon und an Paulinus nach den ersten drei Briefen an Axius Paulus in die Sammlung ein, dann formen die Briefgedichte in Z ein Gedichtbuch, das in Aufbau und Symmetrie an das erste Buch der Briefe des Horaz und an die ersten drei Briefe der Epistulae ex Ponto des Ovid erinnert. Im Zentrum dieses Briefbuchs steht der in elegischen Distichen geschriebene Brief 7 an den Grammatiker Ursulus über das Neujahrsgeschenk des Augustus. Gerahmt wird dieser Brief durch jeweils zwei Briefe an Paulinus, die Briefe 5 und 6 sowie 8 und 9. Am Anfang und Ende des Gedichtbuches stehen jeweils Briefe an den Rhetor Axius Paulus: Am Buchanfang die Briefe 1, 2 und 3, am Buchende die ›makkaronischen‹ Briefgedichte 12 und 13. Die drei Zwischenstücke sind an verschiedene Adressaten gerichtet: Brief 4 an den Landbesitzer Theon, Brief 10 an den Satiriker Tetradius, Brief 11 an den proconsul Africae der Jahre 356 und 357 Sextus Petronius Probus: INCIPIT LIBER EPISTOLARUM KMT LIBER EPISTOLARUM INCIPIT C AUSONIO PAULO Tandem eluctati retinacula blanda morarum … INVITATIO AD PAULUM Si qua fides falsis umquam est adhibenda poetis RESCRIPTUM PAULO Versus meos utili et conscio sibi pudore celatos carmine tuo et sermone praemissis … AUSONIUS THEONI Ausonius, cuius ferulam nunc sceptra uerentur AUSONIUS PAULINO PAULINO AUSONIUS: METRUM SIC SUASIT AUSONIUS PONTIO PAULINUS Condiderat iam Solis equos Tartesia Calpe AD URSULUM GRAMMATICUM TREVIRORUM CUIUS STRENAS KALENDIS IANUARIIS AB IMPERATORE NON DATAS REDDI FECIMUS Primus iucundi foret hic tibi fructus honoris … AUSONIUS PAULINO Quanto me affecit beneficio … AUSONIUS PAULINO Multas et frequentes mihi gratiae tuae causas et occasio subinde nata concinnat …

ep. 1

ed. Mondin 1995, 27,2 ed. Green 1999

ep. 2

ed. Mondin 1995, 27, 4 ed. Green 1999

ep. 3.

ed. Mondin 1995, 27,5 ed. Green 1999

ep. 4

ed. Mondin. 1995, 27,13 ed Green 1999

ep. 5

ed. Mondin 1995, 27,18 ed. Green 1999

ep. 6

ed. Mondin 1995, 27,17 ed. Green 1999

ep. 7

ed. Mondin 1995, 27,10 ed. Green 1999

ep. 8

ed. Mondin 1995, 27,19 ed. Green 1999

ep. 9

ed. Mondin 1995, 27,20 ed. Green 1999

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Die Briefreihenfolge

AUSONIUS TETRADIO O qui uenustos uberi facundia … AUSONIUS PROBO PRAEFECTO PRAETORIO Oblata per antiquarios mora scio promissi mei gratiam expectatione consumptam … AUSONIUS PAULOI Ἑλλαδικῆς μέτοχον μούσης Latiaeque Camenae AUSONIUS PAULOI Ῥωμαίων ὕπατοσ ἀρεταλόγῳ ἠδὲ ποιητῇ FINIT EPISTOLARUM LIBER KT FINIT EPISTOLARUM LIBER PRIMUS CM

ep. 10

ed. Mondin 1995, 27,11 ed. Green 1999

ep. 11

ed. Mondin 1995, 27,9 ed. Green 1999

ep. 12

ed. Mondin 1995, 27,6 ed. Green 1999

ep. 13

ed. Mondin 1995, 27,7;8 ed. Green 1999

Wie kunstvoll das Briefbuch komponiert ist, zeigen z. B. die Briefe an den Rhetor Axius Paulus. Alle an ihn gerichteten Briefe sind Einladungen: Die Briefe eins und zwei laden anlässlich des anstehenden Osterfestes und der voraussichtlich einsetzenden Geschäftigkeit in der Stadt nach dem Osterfest auf das ruhige Landgut des Ausonius.488 Paulus tritt in diesen Briefgedichten als Intellektueller auf, der physisch und geistig in der Blüte seiner Jahre steht: Er soll schnelle Pferde und Rennwagen nutzen, um möglichst schnell zu Ausonius gelangen. Ganz anders dagegen wird Paulus in den Briefen 12 und 13 beschrieben. Dort wird er als alternder Lehrer vorgeführt, der aufgrund seiner nachlassenden Kräfte in Selbstmitleid versinkt. Auch er wird von Ausonius auf das Land eingeladen, soll aber, so die eindringliche Mahnung im letzten Brief, vorsichtig sein und ein lahmes Pferd verwenden.489

488 Vgl. Auson. ep. 1 ed. Mondin 1995 (ep. 2 ed. Green 1999) 9–10: instantis reuocant quia nos sollemnia paschae/ libera nec nobis est mora desidiae. Auson. ep. 2 ed. Mondin 1995 (ep. 4 ed. Green 1999) 17–20: Nos etenim primis sanctum post pscha diebus/ auemus agrum uisere. Nam populi coetus et compita sordida rixis/ fastidientes cernimus 489 Vgl. Auson. ep. 1 ed. Mondin 1995 (ep. 2 ed. Green 1999) 5–7: cornipedes rapiant imposta petorrita mulae,/ uel cisio triiugi, si placet, insilias,/ uel celerem mannum uel ruptum terga ueredum/ conscendas, propere dummodo iam uenias. Im Vergleich dazu Auson. ep. 13 ed. Mondin 1995 (ep. 8 ed. Green 1999) 9–16: Si post infaustas uigor integratus habenas/ et rediit membris iam sua mobilitas,/ si riguam laetis recolis Pipleida Musis,/ iam uates et non flagrifer Automedon,/ pelle soporiferi senium nubemque ueterni/ atque alacri mediam carpe uigore uiam. sed cisium aut pigrum cautua conscende ueredum,/ non tibi sit rhedae, … Dazu insgesamt Mondin (1995) XLII–XLIV.

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Die Reihenfolge der Briefgedichte im Vossianus

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5.2 Die Reihenfolge der Briefgedichte im Vossianus Gegenüber Z scheint die Briefsammlung des Vossianus weniger unter künstlerischen als unter praktischen Gesichtspunkten geordnet zu sein. Die Briefe sind nach Adressaten geordnet: An der Spitze steht ein Prosabrief an den neben Paulinus berühmtesten Briefpartner des Ausonius, Quintus Aurelius Symmachus. Es folgen Briefe an Axius Paulus, an Theon, an den Sohn Hesperius, das carmen de suscepto filio an den Vater des Ausonius, der Protrepticus liber und der Genethliacos an den Enkel und schließlich die späten Briefgedichte an Paulinus. Die Ordnung nach Adressaten ist offensichtlich, und dennoch gliedert sich die Briefsammlung im Vossianus in zwei deutlich voneinander zu unterscheidende Hälften. Die Briefgedichte an Axius Paulus und Theon und auch das erste Briefgedicht an den Sohn Hesperius erinnern unter inhaltlichen und stilistischen Gesichtspunkten deutlich an die in Z gesammelten Briefe. Es handelt sich um scheinbar belanglose, oft witzige Stücke, zum Beispiel um Einladungsschreiben, Abhandlungen über Austern oder um die satirische Kritik an den dichterischen Fähigkeiten des Adressaten.490 Im Vergleich dazu wirken die übrigen Briefgedichte anders: Sie sind erstens, wenn man das im Vossianus zu den Briefen gezählten carmen ad patrem de suscepto filio (Auson. 3 ed. Green 1999), den an den Enkel gerichteten Protrepticus liber und den Genethliacos (Auson. 8/9 ed. Green 1999) als Briefe wertet,491 entweder an Verwandte oder an Paulinus gerichtet. Zweitens sind diese Briefgedichte, sehen wir von dem ersten Stück an den Sohn Hesperius ab, ernster in Inhalt und Ton. Im carmen ad patrem de suscepto filio benachrichtigt Ausonius seinen Vater von der Geburt eines Sohnes. Der Protrepticus liber ad nepotem bereitet einen Enkel gleichen Cognomens auf die Härten des Schullebens vor und macht ihn mit dem Lektürekanon vertraut, der Genethliacos für denselben, nun einige Jahren älteren Enkelsohn gratuliert zum Geburtstag, nicht ohne ihn erneut auf seine schulische Laufbahn anzusprechen.492 Im carmen ad filium schließlich blickt ein trauernder und einsamer Ausonius in gleichsam ovidischer Manier dem Schiff hinterher, das seinen Sohn in die Heimat, die Aquitania secunda, zurückbringt (Auson. 7 ed. Green 1999). Die späten Briefgedichte an Paulinus und dessen

490 Vgl. zum literarischen Charakter der Briefsammlung in Z Kap. 5.1. 491 Green (1991) 267, 287–296 zählt das carmen de suscepto filio, den Protrepticus und den Genethliacos anders als der Vossianus (dem z. B. Peiper, 1886, folgt) nicht zu den Briefen, da diese Stücke nur briefähnlich seien, sich hinter der brieflichen Einkleidung jedoch andere literarische Gattungen verbärgen. 492 Der Protrepticus liber und der Genethliacos sind offenbar an denselben Enkelsohn gerichtet, vgl. dazu Green (1991) 296–297.

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Die Briefreihenfolge

Antwortschreiben passen sich in diesen Rahmen ein, denn auch sie behandeln ernste Themen wie Freundschaft, Verlassenwerden und Einsamkeit.

5.3 Die Chronologie des Briefwechsels mit Paulinus 5.3.1 Die Geschichte einer Kontroverse

Die Ausonius- und Paulinushandschriften bieten den Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus jeweils in einer anderen Abfolge. Die Sammlung des Vossianus beginnt mit den Briefgedichten des Ausonius und endet mit den Antwortschreiben des Paulinus. Umgekehrt verfährt der Schreiber des Parisinus 7558, der die Briefgedichte des Paulinus denen des Ausonius voranstellt. Die Schreiber der Paulinus-Handschriften, des Bruxellensis und des Parisinus 2122, versuchen die Charakteristik des Briefwechsels zu erhalten und ordnen die Briefgedichte des Ausonius und die Antworten des Paulinus im Wechsel an:493 Vossianus (V)

Parisinus 7558 (N)

Auson. 27,21 Auson. 27,24 Auson. 27,22 Paul. Nol. carm. Paul. Nol. carm. Paul. Nol. carm. Paul. Nol. carm.

Auson. 27,21 Auson. 27,22 Paul. Nol. carm. 11,1–48 Paul. Nol. carm. 10,103–331 Auson. 27,24,95–124 Paul. Nol. carm. 10,1–18 Paul. Nol. carm. 10,19–102

11,1–48 10,103–331 10,1–18 10,19–102

Bruxellensis/Parisinus 2122 (BO) Auson. 27,21 Paul. Nol. carm. 10,19–102 Auson. 27,22 Paul. Nol. carm. 11,1–48 Auson. 27,23* (ed. Mondin) Paul. Nol. carm. 10,103–331.

Paulinus selbst spricht nun in Paul. Nol. carm. 10 davon, dass er drei Briefe des Ausonius in einem libellus erhalten habe. Diese hätten sich zwar durch ihre schöne äußere Form, inhaltlich aber durch vielfältige Klagen ausgezeichnet, aus denen Bitterkeit und Tadel, jedoch auch – und sogar in stärkerem Maße – väterliche Liebe und Ehrerbietung sprächen.494 Diese Äußerung ist seit den im Jahr 1574 in Lyon publizierten ›Ausonianarum quaestionum libri duo‹ des Joseph Justus Scaliger Gegenstand und Grundlage philologischer Forschung und gelehrten Streites gewesen. Der Humanist Scaliger, der 493 Das folgende Schema basiert auf Hartel (1999 II) XV und Mondin (1995) 46, richtet sich in der Briefnummerierung aber nach Green (ed. 1999). 494 Vgl. Paul. Nol. carm. 10,3–12: Ex quo nulla tuo mihi littera uenit ab ore,/ nulla tua uidi scripta notata manu,/ ante salutifero felix quam charta libello/ dona negata diu multiplicata daret./ trina etenim uario florebat epistola textu,/ sed numerosa triplex pagina carmen erat./ dulcia multimodis quaedam sub amara querellis/ anxia censurae miscuerat pietas./ sed mihi mite patris plus quam censoris acerbum/ sedit et e blandis aspera penso animo.

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Die Chronologie des Briefwechsels mit Paulinus

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Herausgeber der ersten Teubneriana aus dem Jahr 1886 Rudolf Peiper und mit ihm der Herausgeber der zweiten Teubneriana aus dem Jahr 1979 Sesto Prete argumentierten unter Berücksichtigung der Aussage des Paulinus für die Briefreihenfolge Auson. 24, Auson. 22, Ausonius 21, Paul. Nol. carm. 11, Paul. Nol. carm. 10 (jeweils ed. Peiper 1886).495 Die Gedichte 10 und 11 seien, folgern Scaliger, Peiper und Prete, demnach die zeitgleich oder jedenfalls in kurzem Abstand verfassten Antworten auf die drei überlieferten Briefe des Ausonius.496 Heute ist es dagegen communis opinio, dass unter den drei von Paulinus erwähnten Briefen die oben besprochenen Briefe 27,21 und 27,22 (ed. Green 1999) des Ausonius, zwei Klagen über das Schweigen des Freundes, gewesen sein müssen. Tatsächlich nimmt Paulinus in carm. 10 so häufig in Wort und Inhalt auf beide Briefe Bezug, dass die Annahme, er habe sie, wie es die antiken Epistolographen fordern, beim Schreiben vor Augen gehabt, mehr als naheliegt.497 Der dritte von Paulinus erwähnte Brief, ist nicht unter den übrigen von Ausonius an den Freund gerichteten Briefen zu finden und scheint verloren.498

495 Es konnte lediglich die zweite Auflage der Ausonianae Quaestiones aus dem Jahr 1580 eingesehen werden, die jedoch denselben Text bietet wie die Erstausgabe von 1574. Vgl. J. J. Scaliger Ausonianarum lectionum libri duo (1580) II, 222–223: »Ait se iam quartam istam aestatem nihil litterarum ab Ausonio accepisse: cum antea [223] nihilominus hoc cumulatissime praestitisset. Quippe tres epistolas uno die se ab illo accepisse. Hoc enim vult, cum ait: ›Trina etenim vario florebat epistula textu: et numerosa triples pagina carmen erat.‹ Tres, inquit, epistolas simul accepi. Tres autem epistolas se uno die & simul accepisse, tum illud demonstrat, quod Paulinus innuit chartam floruisse trina epistola: quod nihil aliud est, quam in eadem charta tres epistolas fuisse. Tum etiam illa magis declarant: ›Ante salutifero felix quam charta libello Dona negata diu multiplicata daret.‹ Cum, inquit, post longam intermissionem litterarum cumulatissime uno die acipperem: cum tres epistolas pro una mihi mitteres.« Direkt an Scaliger schließt Prete (1962) 316–317 an: »Any attempt at establishing an order in the letters of Ausonius by matching them with the replies of Paulinus, however, is at best dangerous business. Undoubtedly the poems of Paulinus are filled with parallel passages (…) of the letters of his teacher, which take up at one time or another the complaints of Ausonius and answer them. But it seems rather obvious for a mere glance at the letters of Paulinus that he has not attempted to reply to Ausonius indictments in the order in which (…) they were made.« 496 Vgl. Scaliger (1580) II, 222–223 (wie Anm. 495), Peiper (1880) 325–330 und Prete (1962) passim. 497 Am offensichtlichsten ist sicher die Beziehung zwischen Auson. 27,21 und Paul. Nol. carm. 10. Vgl. dazu die Briefanfänge, Auson. 27,21,1–6 und Paul. Nol. carm. 10, 1–6. Für weitere Bezüge vgl. Auson. 27,21,49,51,52,57,69,71,72,73,104; 27,22,31–35 und dazu entsprechend: Paul. Nol. carm. 10,104,156 ff.,191,106,108,109 ff.,162,163,196 f.,203,223. Vgl. auch Schenkl (1883) XI und Green (1991) 647–648. 498 Häufiger wurde, wenn auch mit Vorsicht, Auson. 27,19 als möglicher dritter Brief vorgeschlagen, da Ausonius dort auf eine Krankheit anspielt, von der Paulinus sich offenbar auf einem seiner Landgüter, dem Ebromagus, erholt, das in Nordspanien lokalisiert wurde, vgl. Auson. 27,19 (b) 16–17 und PLRE I, Paulinus Nr. 21, S. 682. Green (1991a) 372 sieht in der

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Die Briefreihenfolge

Heftig umstritten ist dagegen die Reihenfolge der Briefe 21 und 22. Ihre Chronologie scheint, wie Mratschek mit Recht kritisiert hat, »allmählich immer undurchsichtiger« zu werden.499 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Mehrzahl der von Ausonius an den Freund gesandten Briefe scheinbar schon für Paulinus verloren waren und sich daher den Gelehrten die Frage auftat, wieviele Briefe Ausonius ursprünglich hatte schreiben müssen, bis er endlich ein Schreiben von Paulinus in Händen hielt. Die Antwort auf diese Frage fiel, abhängig von der Anordnung der Briefe 21 und 22, unterschiedlich aus. Paulinus spricht, wie bereits erwähnt, von drei in einem libellus empfangenen Briefen, Ausonius dagegen in dem ersten der bei Green abgedruckten Briefe ausdrücklich davon, dass dies bereits der vierte Brief sei, der dem Freund wohlbekannte Klagen enthalte, Auson. 27,21,1–2 (ed. Green 1999): Quarta tibi haec notos detexit epistula questus, Pauline, et blando residem sermone lacessit.

Einer der von Ausonius an den Freund gerichteten Briefen hatte den Empfänger, so wir den Angaben des Ausonius und Paulinus glauben können, nicht erreicht. Vielleicht war er auf der Reise verloren gegangen oder an den falschen Bestimmungsort gelangt.500 Der zweite Brief beginnt ebenfalls mit einer Klage über das Ausbleiben einer Antwort. Es habe, so beginnt das poetische Ich, gehofft, dass die Klage seines vorhergehenden Briefes, den Freund (sc. zu einer Antwort) hätte bewegen können, Auson. ep. 27,22,1–2 (ed. Green 1999): von Ausonius angesprochenen Rekonvaleszenz einen möglichen Anfangspunkt der conversio. … Allerdings konnte Mratschek (2002) 190–208 nachweisen, dass das in Auson. 27,19 (b) 14–18 erwähnte Landgut des Paulinus, Ebromagus, nicht in Spanien, sondern in der Umgebung des antiken Bordeaux lag. Auson. 27,19 kommt damit als dritter, von Paulinus erwähnter Brief nicht in Frage. 499 Mratschek (2002) 190. Die Briefreihenfolge war seit den ›Ausonianae Quaestiones‹ Scaligers Gegenstand zahlreicher Diskussionen. Ein Problembewusstsein zeigt sich aber schon viel früher im Codex Vossianus Lat. F. 111, vgl. dazu auch Kap. 4.3.1. Im folgenden wird die Nummerierung Greens konsequent beibehalten, um weiterer Verwirrung vorzubeugen. Die Nr. 21 bezeichnet immer den Briefanfang Auson. 27,21,1: quarta tibi haec notos detexit epistula questus; die Nr. 22 immer den Briefanfang Auson. 27,22,1: proxima quae nostrae fuerat querimonia chartae. 500 Dass Briefe bisweilen sehr lange brauchten, um ihren Empfänger zu erreichen, oder auch verloren gingen, leuchtet angesichts der langen, für den Briefboten oft mühseligen und nicht immer ungefährlichen Reisewege ein. Das fehlende Postgeheimnis tat ein übriges. Bestes Beispiel ist der von Augustinus an Hieronymus gesandte Streitbrief über Origenes. Dieser kursierte, vielleicht nicht ganz ohne Absicht des Verfassers, über ein Jahr in der italischen Öffentlichkeit, bevor schließlich eine Kopie den eigentlichen Adressaten erreichte, Vgl. Divjak, J.: Art. Epistulae, Augustinus Lexikon 2,931.

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Die Chronologie des Briefwechsels mit Paulinus

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Proxima quae nostrae fuerat querimonia chartae credideram quod te, Pauline, inflectere posset

Aus beiden Briefanfängen geht hervor, dass Ausonius vorher Briefe ähnlichen Inhalts geschrieben hatte. Für die Anzahl der tatsächlich von Ausonius geschriebenen Briefe ist nun entscheidend, ob Brief 22, wie Roger Green annimmt, auf Brief 21 oder umgekehrt Brief 21 auf Brief 22 folgt, wie die große Mehrzahl der Herausgeber und Kommentatoren meint. Für den ersten Fall (22 proxima quae folgt 21 quarta … detexit) hätte Ausonius tatsächlich fünf Briefe geschrieben, und proxima würde als zeitliche Bestimmung am Anfang des fünften Briefes direkt auf die quarta epistula als vorausgehendes Dokument verweisen. Paulinus hätte also von fünf Briefen insgesamt zwei nicht empfangen. Für den zweiten Fall (21: quarta … detexit folgt 22: proxima quae) hätte Ausonius insgesamt vier Briefe geschrieben. Das Adjektiv proxima würde sich entweder auf den von Paulinus empfangenen, nur an die Nachwelt nicht überlieferten Brief oder auf den einen, bereits für Paulinus verlorenen Brief beziehen. Eine weitere chronologische Variante wurde von Altay Coşkun ausgearbeitet und mit Vehemenz vertreten. Die in Brief 21 gewählte Perfektformen von detegere, also detexit, verweise, so Coşkun, in Übereinstimmung mit dem Perfekt lacessit (sic!) darauf, dass nicht dieser, sondern der vorangegangene Brief der vierte gewesen sei. Brief 21 sei also der fünfte Brief der Korrespondenz, Brief 22 der sechste: Insgesamt habe der erste Teil des Briefwechsels daher aus sechs Briefen bestanden, von denen Paulinus nur drei empfangen habe. Drei Briefe seien bereits für Paulinus, vier für die Nachwelt verloren gewesen.501 Die Rekonstruktion Coşkuns ist in sich stimmig, basiert aber auf der falschen Annahme, dass es sich bei detexit um ein Perfekt zu detegere in der Bedeutung ›offenlegen‹ handelt. Tatsächlich verwendet Ausonius hier aber korrelierend zu dem Präsens lacessit die Präsensform des Wortes detexere, das als Kompositum von texere in den Bedeutungen ›durch Schrift darlegen‹ oder ›Verse weben‹ in antiker und spätantiker Literatur geläufig ist.502 Auch die handschriftliche Titulatur des Briefes 21 durch einen Schreiber stützt den Vorschlag Coşkuns nicht. Der über den Briefanfang geschriebene Satz »Cum Pontius Paulinus iunior quartis iam litteris non respondisset sic ad eum scriptum est« deutet, wie an anderer Stelle gezeigt wurde, wohl eher darauf, dass dem Schreiber derselbe Fehler unterlaufen ist wie etlichen Philologen nach ihm.503 Es bleiben also die oben angeführten 501 Coşkun (2002) 108 mit Anm. 272. 502 Vgl. dazu die Stellenangaben Kap. 4.3.1 mit Anm. 390. 503 Vgl. dazu Kap. 4.3.1 Mein Dank gilt an dieser Stelle Dr. Marcus Heckenkamp (Werne), der mich durch genaues Nachfragen vor demselben Fehler bewahrt hat. Als Perfekt zu detegere wird detexit aufgefasst von Evelyn White (1919) 2,112; Dräger (2002) 82 und Amherdt (2004) 102. Anders als Coşkun erklären Dräger (2002) 206 und Amherdt (2004) 102 das Perfekt als

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Die Briefreihenfolge

Hypothesen, dass entweder Brief 21 auf 22 folgt und Ausonius insgesamt vier Briefe geschrieben oder Brief 22 auf 21 folgt und der Dichter dementsprechend fünf Briefe verfasst hatte. Die handschriftliche Überlieferung und die Anordnung der Briefe in den Codices helfen hier nicht weiter. Zwar ist Brief 22 im Codex Vossianus mit der Notiz epistula subinde scripta überschrieben und dementsprechend nach Brief 21 angeordnet. Dies mag aber die Interpretation eines Schreibers oder aus einer früheren Handschrift übernommen sein.504 Die übrigen Textzeugen bieten wechselweise die Reihenfolge 21/22 oder 22/21.505 Dementsprechend mussten die Herausgeber und Kommentatoren auf inhaltliche Argumente zurückgreifen, um für die eine oder die andere Reihenfolge plädieren zu können. Zwei prominente Beispiele seien hier herausgegriffen: Luca Mondin sprach sich mit dem Argument, dass die Formulierung Quarta detexit epistula mindestens drei Briefe voraussetze, während die Wendung proxima querimonia sich auf nur einen Brief beziehe, für die Reihenfolge 22/21 aus, die zudem durch die klassisch-philologische Tradition bestätigt wurde: Bereits Karl Schenkl, der Editor der MGH Ausgabe von 1883, und wenig später Rudolf Peiper (1886) in der ersten Teubneriana, dann Agostino Pastorino in seiner großen italienischen Ausgabe von 1971 und schließlich Sesto Prete in der zweiten Teubneriana von 1978 plädierten für diese Chronologie. Auch Paul Dräger und David Amherdt folgen in den jüngsten Ausgaben (2002/2004) dieser Tradition.506 Für die Reihenfolge 21/22 trat bisher lediglich Roger Green ein, dieser dafür umso nachdrücklicher: Brief 22 wirke, so Green, wie eine kurze Notiz zu einem gewichtigeren, vorher abgesandten Brief, auf den Paulinus nicht geantwortet habe. Ausonius zeige sich in diesem Brief ungeduldiger und aggressiver, noch dazu konkretisiere er Anspielungen aus dem vorausgehenden Brief.507 Für diese Reihenfolge spricht weniger der Eindruck, dass der Brief 22 ungeduldiger und aggressiver wirkt als der vorausgehende (das mag von Leser zu Leser unterschiedlich beurteilt werden). Es ist der Umstand, dass Ausonius viele in Brief 21 nur angesprochene und angedachte Themen in Brief 22 aufgreift und dort vorher begonnene, aber nicht zu Ende geführte Gedankengänge abschließt, der die Rei-

epistolographisches Tempus, um so das Präsens lacessit auszugleichen; der Briefschreiber habe sich der Höflichkeit halber in die Situation des Briefschreibers versetzt und formuliere deshalb rückblickend. 504 Allerdings hatte der Schreiber ein Gespür für die Problematik: Die Handschrift bietet Auson. 27,24 in zwei Teilen, die so angeordnet sind, dass der zweite Teil Auson. 27,24,102– 132 (Prete) vor Auson. 27,21 (Green) und so scheinbar zu einem Teil des von Paulinus empfangenen libellus mit drei Briefen wird. 505 Vgl. Prete (1962) 8. 506 Dräger (2002) 190–191; Amherdt (2004) 31–32. 507 Green (1991) 653.

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Die Chronologie des Briefwechsels mit Paulinus

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henfolge 21/22 wahrscheinlicher macht als die von Mondin vorgeschlagene. Gemeinsam ist den Vorschlägen Greens und Mondins, dass es sich um begründbare, gleichzeitig aber auch widerlegbare Hypothesen handelt, die auf überlegter inhaltlicher Argumentation, vor allem aber philologischer Intuition beruhen.

5.3.2 Die Briefe 21 und 22 als Teil eines Gedichtzyklus?

Grundsätzlich weisen die im vorausgehenden Abschnitt skizzierten Hypothesen eine wichtige Gemeinsamkeit auf: Die Gelehrten gingen immer davon aus, dass Ausonius die Briefe 21 und 22 zu unterschiedlichen Zeitpunkten verfasst hatte und dass diese den Freund durch einen Zufall gemeinsam in einem libellus erreichten. Denn die Briefe schienen einer starken emotionalen Dynamik zu unterliegen: Die Verärgerung des Ausonius steigerte sich in den Augen der Gelehrten jeweils mit dem zweiten Brief und wich dann, nachdem er mit carm. 10 endlich eine Antwort erhalten hatte, der im letzten Brief an Paulinus spürbar werdenden Resignation und Entäuschung darüber, dass Paulinus sich nicht umstimmen ließ. Mit anderen Worten schien sich im Verlauf des Briefwechsels das plötzlicher Veränderung unterliegende persönliche Verhältnis der Briefpartner widerzuspiegeln. Daher stellte sich in erster Linie die Frage, wieviele Briefe Ausonius geschrieben hatte, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Reihenfolge Paulinus sie empfangen hatte und warum er so spät antwortete. Luca Mondin schließlich eröffnete in Auseinandersetzung mit einer gewagten These Greens einen neuen Zugang zur Frage der Briefreihenfolge, ließ diesen aber weitgehend ungenutzt. Green hatte angenommen, dass Brief 22 Paulinus erst kurz vor Abschluss seines Antwortschreibens, carm. 10, erreichte. Aus diesem Grund nämlich sei Paulinus in carm. 10 nur in aller Kürze auf den Brief des Freundes eingegangen und habe erst zu Beginn seines zweiten, vermutlich ein Jahr später abgefassten Briefgedichtes stärker Bezug auf diesen genommen.508 Mondin kritisierte mit Recht, dass dies unwahrscheinlich sei. Denn Paulinus spricht zumindest vordergründig davon, dass er einen libellus mit drei Briefen erhalten habe.509 Dementsprechend dürfte er Brief 22 kaum später, sondern zur selben Zeit empfangen haben wie Brief 21. Es muss andere Gründe für die unterschiedliche Berücksichtigung der beiden Ausonius-Briefe in carm. 10 geben. Mondin verwies nun in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit, dass es sich bei den von Ausonius versandten poetischen Briefen um überarbeitete Versionen früherer, unbeantwortet gebliebener Prosabriefe gehandelt 508 Green (1991) 653. 509 Mondin (1995) LX, vgl. zur Anzahl der Briefe und zum Charakter der Zahlenangaben bei Paulinus aber das folgende Kap. 6.

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Die Briefreihenfolge

haben könnte. Diese überarbeiteten Versionen habe er vielleicht zu einer Art Gedichtzyklus zusammengefügt. In diesem Fall, so Mondin, sei weniger über die tatsächliche chronologische Reihenfolge der Briefe als vielmehr über ihre Position innerhalb des Zyklus nachzudenken.510 Mondin eröffnet, indem er vorschlägt, die Briefe als Teil eines Zyklus zu betrachten, und so den Fokus von einer vermeintlich realen auf die literarische Chronologie lenkt, einen neuen Zugang nicht nur zur Reihenfolge des Briefwechsels, sondern zu den Briefen selbst: Die drei Briefe des von Paulinus empfangenen libellus gehörten, vorausgesetzt Mondin hat Recht, nicht nur inhaltlich, sondern auch, was Komposition und Struktur betrifft, viel enger zusammen als bisher angenommen. Sie wären als einheitlich komponiertes literarisches Gesamtkunstwerk aufzufassen, dessen von den Gelehrten postulierte innere emotionale Dynamik nicht unbedingt Ausdruck zunehmender Verärgerung und Enttäuschung, sondern Teil der literarischen Gestaltung durch den Autor wäre. Die Frage, in welcher Reihenfolge Ausonius die Briefe abgefasst hat, verliert so ihre Relevanz; Es wird Raum geschaffen für eine neue Fragestellung: Wie verhalten sich Brief 21 und 22 in Struktur, Inhalt und Komposition zueinander, wie könnte sich der dritte Brief in diese Struktur einpassen? Mondin verfolgte den von ihm aufgezeigten Weg nicht weiter: Es sei kaum möglich, über die Position der Briefe innerhalb des Zyklus zu spekulieren, da die handschriftliche Überlieferung in dieser Frage nicht weiterhelfe.511 Diese Einschränkung ist berechtigt. Dennoch ist es, wie zu zeigen sein wird, möglich, auch unabhängig von der handschriftlichen Überlieferung eine Annäherung an die von Mondin aufgeworfenen Frage zu versuchen.

510 Mondin (1995) LX. 511 Mondin (1994) LX.

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6. Die Inszenierung der Briefdichtung

6.1 Chronologische Rekonstruktion und literarische Deutung Paulinus eröffnet sein Antwortschreiben an Ausonius mit einer Praefatio in neun elegischen Distichen. In dieser skizziert das poetische Ich den bisherigen Verlauf des Briefwechsels, würdigt die äußere Form der empfangenen Briefe und rekapituliert kurz ihre wichtigsten inhaltlichen Gesichtspunkte. Aussagekräftig für den vorliegenden Zusammenhang sind die Verse 1–8, in denen die empfangenen Briefe unter ästhetischen, literarischen und stilistischen Gesichtspunkten charakterisiert werden, Paul. Nol. carm. 10,1–8:

5

Quarta redit duris haec iam messoribus aestas et totiens cano bruma gelu riguit, ex quo nulla tuo mihi littera uenit ab ore, nulla tua uidi scripta notata manu, ante salutifero felix quam charta libello dona negata diu multiplicata daret. trina etenim uario florebat epistola textu, sed numerosa triplex pagina carmen erat.

Dies ist jetzt der vierte Sommer, der abgehärteten Schnittern zurückgekehrt ist, und ebenso oft erstarrte der Winter in weißem Frost. Seitdem gelangte kein Wort aus deinem Mund zu mir, kein Schriftstück, das von Deiner Hand gezeichnet war, sah ich, bevor mir nun ein Brief, glücklich und glückbringend aufgrund des grußtragenden Gedichtbuches, lange verwehrte Geschenke vielfältig brachte. Denn ein dreifacher Brief zeichnete sich aus durch stilistische Vielfalt, und zwar war das rhythmenreiche Gedicht ein dreifaches Lied.

Diese Verse sind nicht nur für die Rekonstruktion einer realen oder literarischen Chronologie, sondern für das Verständnis des gesamten Briefwechsels grundlegend. Als Vorlage für den Briefanfang dient im Einklang mit den Forderungen der antiken Epistolographen eines der empfangenen Schreiben, und zwar die einleitende Klage über das lange Schweigen des Freundes in Auson. 27,21.512 Wie eng der Brief des Ausonius und das Antwortschreiben tatsächlich zusammengehören, zeigen die zahlreichen wörtlichen Entsprechungen: Beide Briefe beginnen mit dem Wort quarta. In v. 3 schreibt Paulinus nulla mihi littera uenit. Ausonius hatte geschrieben: nulla mihi pagina 512 Vgl. z. B. Iul. Vict. ars rhet. 448 (ed. Giomini, S. 106,8–10): Rescribere sic oportet, ut litterae, quibus respondes, prae manu sint, ne quid, cui responsio opus sit, de memoria effluat.

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Die Inszenierung der Briefdichtung

reddit (sc. officium). In v. 5 beschreibt Paulinus eine felix charta und einen salutifer libellus, Ausonius eine non felix pagina und einen salutiger libellus. Erweckt wird auf diese Weise der Eindruck, das poetische Ich habe die Briefe des Gegenübers, die von dessen Hand signierten Schriftstücke, die charta und den libellus beim Schreiben vor sich liegen. Der Leser wird so in die epistolare Szenerie, in die Situation des Antwortenden hineingenommen. Den vier unbeantworteten Briefen des Ausonius stellt das poetische Ich vier Jahre gegenüber, in denen es keine Worte aus dem Mund des Freundes vernahm und keine Schriften sah, die von diesem persönlich gekennzeichnet waren. Die Klage des Gegenübers wird auf diese Weise entkräftet: Woran auch immer es gelegen haben mag, dass die Briefe ihren Empfänger nicht erreichten – das Ich im Antwortschreiben des Paulinus ist nicht der Schuldige, sondern der Leidtragende. Anders als im Brief des Ausonius endet die Einleitung jedoch nicht in der kritischen Frage, wie das Ausbleiben der Briefe zu erklären sei. Im Gegenteil gibt das Ich seiner Freude über die empfangenen Briefe Ausdruck: Sie sind lange entbehrte, nun aber vielfältig gewährte Geschenke, deren außerordentliche Qualität sich in ihrer stilistischen und rhythmischen Vielfalt zeigt. Als zentral für die chronologische Rekonstruktion des Briefwechsels hat sich die Parenthese in den vv. 7 und 8 erwiesen, in denen das poetische Ich die empfangene charta als trina epistula und triplex carmen beschreibt. Es sind die Numeralia trina und triplex, die den Versen über den Kontext des Einzelbriefes hinaus Bedeutung verliehen haben. Auf diese Numeralia gründete Joseph Justus Scaliger in den 1580 erschienenen Ausonianae Quaestiones die zur communis opinio gewordene These, dass Paulinus drei Briefe des Ausonius an einem Tag empfangen habe.513 Denn im Rahmen des persönlichen Briefwechsels zwischen zwei Freunden schienen die Wendungen trina epistula und triplex carmen sowohl die Anzahl als auch den literarischen Charakter der von Paulinus empfangenen Briefe verlässlich zu beschreiben: Offenbar handelte es sich bei den Schriftstücken, so der Tenor der Forschung, um drei verschiedene poetische Briefe. Hier öffnet sich nun der beschriebene Problemhorizont erneut: Wenn die poetischen Briefe nicht die Realität persönlicher Kommunikation beschreiben, sondern eine literarische Spiegelung tatsächlicher Ereignisse sind, dann lassen auch die von Paulinus verwendeten Numeralia nicht unbedingt eine genaue chronologische Rekonstruktion des Briefwechsels zu. Ein anderer Weg öffnet sich jedoch, wenn die gleichsam aus ihrem textlichen Zusammenhang gerissenen Numeralia in den literarischen Kontext der Briefdichtung eingebettet werden. Denn die Junkturen felix charta, salutifer libellus, dona multiplicata, trina epistula, numerosa pagina und triplex carmen die-

513 Vgl. J. J. Scaliger, Ausonianarum lectionum libri duo (1580) II, 222–223.

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Die felix charta und der salutifer libellus

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nen Paulinus, dies wird im folgenden zu zeigen sein, zur Inszenierung des Briefes als Dichtung und umgekehrt zur Inszenierung der Dichtung als Brief. Aus den angeführten Begriffen wird deutlich, was genau Ausonius und Paulinus unter ihren poetischen Briefen verstehen und wie sie diese literarisch verorten.

6.2 Die felix charta und der salutifer libellus In den vier Versen, die Paulinus zur Beschreibung der empfangenen Briefgedichte dienen, greift er vier bereits von Ausonius in Brief 21 verwendete Begriffe auf: charta, libellus, epistula und pagina. Lediglich carmen fügt er dieser Reihe hinzu. Im Kontext des poetischen Briefes definieren epistula und carmen eindeutig die Pole Brief und Gedicht, die Begriffe charta, libellus und pagina wandeln dagegen im Spannungsfeld von Brief und Gedicht ihre Bedeutung. In der Grundbedeutung bezeichnen charta und pagina den Beschreibstoff Papyrus, der libellus den Baumbast. Im epistolaren Kontext kann jeder der drei Begriffe als Synonym für den Brief oder ein kurzes Schriftstück stehen. In der Dichtung aber bezeichnen charta und pagina häufig metonymisch das Gedicht, libellus oft ein Gedicht oder ein kleines Gedichtbuch.514 Die Gelehrten deuteten die von Paulinus empfangene charta zumeist als Synonym für den Beschreibstoff selbst, den Papyrus, und den salutifer libellus in Analogie zum Schreiben des Ausonius und in Übereinstimmung mit dem Verfasser des entsprechenden Thesaurus-Artikels, von Kamptz, als grußtragendes Schriftstück.515 Das zu charta gehörige Attribut felix schien im Kontext des Antwortschreibens die Funktion eines gleichsam proleptischen, in die Zukunft weisenden Adjektivs zu übernehmen: Glückbringend oder freudetragend sei der von Paulinus erhaltene Brief aufgrund eines grußtragenden Schreibens gewesen, so die geläufige Interpretation des Verses,516 die in zwei Punkten von der Deutung derselben Begriffe im vorausgehenden Schreiben des Ausonius abweicht. Die Kommentatoren und Übersetzer fassen charta in Auson. 27,21 als Synonym für den Brief auf und deuten die Junktur non felix als personifizierendes Attribut, das den Zustand der charta selbst 514 Vgl. Wulff, C: Art. charta, ThLL 3,5, col. 996 ff., s. v.; Kamptz, J. v.: Art. libellus, ThLL 7,2,8, col. 1262–1270, besonders col. 1268, l. 70-col. 1269, l. 51 und Thome, Gabriele: Art. pagina, ThLL 10,1, col. 84–91. 515 Vgl. Kamptz, J. v.: Art. libellus, ThLL 7,2,8, col. 1263, ll. 1–3, der zur Stelle ein erklärendes »syn. Epistula« hinzufügt. 516 Vgl. Evelyn White (1919) II,124–125; Mondin (1995) 250–251; Dräger (2002) 90–91 und Amherdt (2004) 124–125.

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Die Inszenierung der Briefdichtung

beschreibt: Der Brief sei aufgrund der Zurückweisung unglücklich.517 Trotz dieser Abweichungen sind sich die Gelehrten grundsätzlich darin einig, dass die Begriffe charta, libellus und pagina in den Briefen des Ausonius und Paulinus jeweils eine Reihe von Synonymen bilden, die entweder den Brief selbst bezeichnen oder zumindest auf den brieflichen Kontext anspielen. Gerade die rasche Folge der Synonyme wirft aber die Frage auf, ob die einzelnen Begriffe tatsächlich mehr oder weniger denselben Gegenstand bezeichnen, d. h. den Brief in der einen oder anderen Form oder ob die oben aufgeführten weiteren Bedeutungen mitschwingen. So spricht Catull von einem libellus, wenn er im ersten Gedicht der Sammlung fragt, Cat. 1,1: Cui dono lepidum nouum libellum? – »Wem schenke ich das fein gearbeitete neue Buch?« Etwa 150 Jahre später widmete Martial das dritte Buch der Epigramme in einer kurzen Ansprache an den libellus seinem einflussreichen Patron Faustinus, Mart. 3,2,1–5:

5

Cuius uis fieri, libelle, munus? (…) Faustini fugis in sinum? Sapisti.

Wessen Geschenk, Buch, willst Du werden? (…) Du fliehst in den Schoß des Faustinus? Weise bist Du.

Das Gedicht des Catull und das Epigramm des Martial sind für den Kontext des Briefwechsels zwischen Paulinus und Ausonius insofern interessant, als sie den auch in der Spätantike üblichen Brauch widerspiegeln, Gedichtbücher Freunden und Förderern zu bestimmten Anlässen, z. B. den Saturnalien oder Geburtstagen, als Geschenke an Freunde und Förderer zu überreichen.518 Wie sehr die Gedichte Catulls und auch die Konvention, Literatur als Geschenk für andere zu betrachten, in die Spätantike hineinwirkten, zeigt eine Praefatio, die Ausonius einem Teil seiner Werke voranstellte, Auson. 1,4,1–6: ›Cui dono lepidum nouum libellum?‹ Veronensis ait poeta quondam inuentoque dedit statim Nepoti. at nos illepidum rudem libellum 517 Vgl. Evelyn White (1919) II,112–113; Mondin (1995) 250–251; Dräger (2002) 82–83 und Amherdt (2004) 102–103, besond. 103 mit Anm. 6–7. 518 Vgl. für dieselbe Verwendung von libellus in einem ähnlichen Zusammenhang auch Catull. 14,12–15: Di magni, horribilem et sacrum libellum!/ quem tu scilicet ad tuum Catullum/ misti, continuo ut die periret,/ Saturnalibus, optimo dierum!; und Stat. Silv. 4,9,1–6: Est sane iocus iste, quod libellum/ misisti mihi, Grype, pro libello./ urbanum tamen hoc potest uideri/ si post hoc aliquid mihi remittas;/ nam si ludere, Grype, perseueras,/ non ludis.

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Die felix charta und der salutifer libellus

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burras quisquilias ineptiasque, credimus gremio cui fouendum?

›Wem schenke ich das kunstvolle neue Buch?‹ sagte einst der Dichter aus Verona und gab es Nepos, der ihm gleich in den Sinn gekommen war. Aber mein häßliches, ungeschliffenes Gedichtbuch, die Nichtigkeiten, Kleinigkeiten und Spielereien, welchem Schoß soll ich sie anvertrauen, damit sie von ihm gewärmt werden?

Ausonius gibt die Antwort wenige Verse später: Er schenkt das Buch dem Rhetor und Panegyriker Drepanius Pacatus. In derselben Weise verwendet Ausonius den Begriff libellus in einem Schreiben an Sextus Petronius Probus, den Praefectus Praetorio des Jahres 368. Diesem Schreiben gibt er neben Kopien der Chronicorum libri des Cornelius Nepos und Fabeln eines nicht sicher zu bestimmenden Titianus als Corollarium ein eigenes Gedicht bei, Auson. 27,9 (a) 6–11: Libello tamen apologorum antetuli paucos epodos, studio in te obseruantiae meae impudentissimo, paucos quidem, ut ego loquax iudico; uerum tu, cum legeris, etiam nimium multos putabis. Dem Buch der Fabeln habe ich in meinem unziemlichen Eifer, deinen Respekt zu erlangen, wenige Epoden vorangestellt, wenige natürlich, wie ich als Schwätzer es beurteile; aber du wirst, hast du sie erstmal gelesen, meinen, dass es zu viele sind.

Der libellus bezeichnet hier also das Volumen, die Buchrolle oder den Pergamentcodex, der die Chronica des Nepos und die Fabeln des Titianus enthält. Die vorangestellten Verse, so fährt Ausonius den Tonfall gespielter Bescheidenheit beibehaltend fort, seien aus ihm geradewegs, wie Probus schon merken werde, hervorgesprudelt. Vielleicht werde er einmal einen Panegyricus auf die Karriere des Probus halten. Dieser werde wenigstens das Bemühen in Rechnung stellen und die Dummheit eines zweiten Choerilus mit der Großzügigkeit eines Alexanders vergelten.519 Nun aber solle er die Epoden als Vorwort zu den Fabeln annehmen. In den Epoden spricht das Ich nicht mehr Probus, sondern in ovidischer Manier den libellus selbst an. Dieser soll den Weg zu Probus nach Sirmium stellvertretend für den Autor zurücklegen, Auson. 27, 9 (b) 1–3: Perge, o libelle, Sirmium et dic ero meo ac tuo aue atque salue plurimum. Mache dich auf, Buch, nach Sirmium und bestelle meinem und deinem Herren zahlreiche Grüße. 519 Auson. 27,9 (a) 11–17: Adiuro beneuolentiam tuam, uerecundiae meae testem, eos mihi uita suppetet, aliquid rerum tuarum quamuis incultus expoliam; quod tu etsi lectum non probes, scriptum boni consulas, cumque ego imitatus sim uesaniam Choerili, tu ignoscas magnanimitate Alexandri.

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Die Inszenierung der Briefdichtung

Die Vielfalt des Begriffes libellus wird hier besonders deutlich. Er bezeichnet vordergründig das Widmungsgedicht selbst, das dem Probus an Stelle des Verfassers Grüße ausrichten soll und selbst einen Gruß darstellt. Gleichzeitig schwingen aber auch die Bedeutungen ›Gedichtbuch‹ für das Volumen mit den Werken des Nepos und Titianus und ›Schriftstück‹ für den in Prosa verfassten Brief mit. Der Begriff libellus fasst hier gleichsam drei Aspekte einer Sache zusammen. Im Protrepticus ad nepotem Ausonium, einem Schreiben an den Enkel gleichen Namens, das diesen auf die Härten des gallischen Schullebens vorbereiten soll, verwendet Ausonius den Terminus libellus schließlich metonymisch für carmen. Dem Protrepticus geht ein Schreiben an den Sohn, Hesperius, voraus, Auson. 8 (a) 1–2: Libellum quem ad nepotulum meum, sororis tuae filium, instar protreptici luseram uenturus ipse praemisi legendum. Ich habe die Absicht, demnächst selbst zu kommen und habe nun ein Gedicht vorausgeschickt, das ich für meinen kleinen Enkel, den Sohn deiner Schwester, an Stelle eines Protrepticus geschrieben habe.

Die Junktur libellum … luseram erinnert an ähnliche Formulierungen bei Vergil und Ovid. So charakterisiert der Lehrdichter am Ende der Georgica seine frühere Dichtung mit den Worten carmina lusi pastorum – »Hirtengedichte habe ich spielerisch ersonnen.« Ovid spricht im dritten Buch der ars amatoria von Niliacis carmina lusa modis, von Liedern die in ägyptischen Weisen gespielt werden.520 Im Protrepticus ad nepotem verwendet Ausonius demnach den Terminus libellus als Synonym für carmen. Wie verhält es sich in den Briefen an Paulinus? Im Verlauf seiner Klage über das Schweigen des Freundes stellt das Ich seinen eigenen Bemühungen, den Freund zu einer Antwort zu bewegen, das enttäuschende Ergebnis gegenüber, Auson. 27,21,3–4: Officium sed nulla pium mihi pagina reddit, fausta salutigeris ascribens orsa libellis. Aber kein Gedicht vergalt mir die freundschaftliche Pflicht, indem es grußtragenden Büchern glückverheißende Anfänge hinzusetzte.

Der salutiger libellus wurde, wie anfangs bemerkt, von den Interpreten zumeist als Synonym für das Schreiben oder das Schriftstück aufgefasst.521 Es liegt jedoch im Vergleich mit den angeführten Beispielen aus Catull, Martial und Ausonius nahe, die libelli auch an dieser Stelle als einzelne uolumina, also Bücher oder Bände zu verstehen, die fausta orsa enthalten sollen. 520 Vgl. Verg. Georg. 4,565–566: Carmina qui lusi pastorum audaxque iuuenta,/ Tityre, te patulae sub tegmine fagi und Ov. ars 3,318: et modo Niliacis carmina luda modis. 521 Vgl. dazu dieses Kapitel oben.

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Die felix charta und der salutifer libellus

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Die Wendung fausta orsa scheint in diesem Kontext nicht den Anfang irgendeines Schriftstückes zu beschreiben, sondern Worte oder Texte, die literarischen Ansprüchen genügen. Grundsätzlich verwendet Ausonius den Begriff orsa auf dreifache Weise: Erstens als Synonym für die epische oder elegische Rede, zweitens als Synonym für den Vortrag oder die Rede im allgemeinen, drittens als Synonym für das literarische Werk. In einem Epigramm über die Tapferkeit des im Kampf gefallenen spartanischen Heros Thrasybulos spricht auch dessen Vater. Seine kurze Rede wird mit den Worten eingeleitet, Auson. Epigr. 24 (ed. Kay), 5–7: 5

Quem postquam maesto socii posuere feretro, talia magnanimus edidit orsa pater: ›flete alios: natus lacrimis non indiget ullis, et meus et talis et Lacedaemonius.‹

Nachdem die Gefährten ihn auf die Totenbahre gelegt hatten, sprach der hochherzige Vater folgende Worte: ›Beweinet andere: Mein Sohn bedarf keiner Tränen, er war mein Sohn, ein großer Mann und ein Spartaner.‹

Während die Wendung talia … orsa hier für die Rede des Vaters im Kontext einer epischen Handlung steht,522 wird die literarische Konnotation des Begriffes in der commemoratio Professorum Burdigalensium deutlich. Im dritten Gedicht schreibt Ausonius über seinen Kollegen, den Rhetor Luciolus, 11,3,1–4: Rhetora Luciolum condiscipulum atque magistrum, collegamque dehinc, nenia maesta, refer, facundum doctumque uirum, seu lege metrorum condita seu prosis solueret orsa modis, (…) Über den Rhetor Luciolus, meinen Mitschüler und Lehrer, meinen Kollegen, trauervolle Nenia, berichte sodann, über den beredten und gelehrten Mann, gleich ob er Worte gemäß dem Gesetz der Verskunst oder gemäß den Rhythmen der Prosa formulierte, (…)

Der nicht näher bekannte Luciolus zeichnete sich als gelehrter Redner offenbar durch seine Fähigkeit aus, dem literarischen Anspruch der jeweiligen Gattung zu genügen und sowohl gute Dichtung als auch gute Prosa zu deklamieren.523 Die Junktur orsa soluere umschreibt hier also die Kunst, formvol522 Ausdrücke wie edidit…orsa gehen zurück auf die von Norden (81984/11909) 162 als ennianisch identifizierte Formulierung orsa loqui, vgl. z. B. Verg. Aen. 6,124–125: Talibus orabat (sc. Aeneas) dictis, arasque tenebat,/ cum sic orsa loqui uates. Bereits Verg. Aen. 7,435 heißt es dann: Hic iuuenis uatem inridens sic orsa uicissim/ ore refert. Vgl. auch Verg. Aen. 11,122– 124: (…) Drances/ infensus iuueni Turno sic ore uicissim/ orsa refert. 523 Zu Luciolus und seiner Stellung an den Rhetorikschulen von Bordeaux vgl. Sivan (1993) 80–81,88.

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Die Inszenierung der Briefdichtung

lendete Dichtung und Prosa zu formulieren und vorzutragen.524 In einer auch literaturgeschichtlich interessanten Passage des Protrepticus ad nepotem tritt der Begriff orsa schließlich für das literarische Werk selbst ein. Nachdem das Ich des Protrepticus den Enkel zunächst auf die Härten der gallischen Schulen vorbereitet, empfiehlt er ihm im zweiten Teil einen Lektürekanon unbedingt zu studierender Werke, Auson. 8 (b) 45–47: 45 Perlege, quodcumque est memorabile; prima monebo. conditor Iliados et amabilis orsa Menandri euoluenda tibi; Lies gründlich, was auch immer der Erinnerung wert ist. Das Wichtigste werde ich dir empfehlen. Die Seiten des Schöpfers der Ilias und die Werke des süßen Menander sollen von dir aufgeschlagen werden.

Während in der commemoratio Lucioli der Aspekt des gesprochenen, kunstvoll vorgetragenen Wortes im Vordergrund steht, gilt dies hier für den Aspekt des geschriebenen Wortes: Der Begriff orsa ist an dieser Stelle ein Synonym für die Werke des Menander.525 Im Vergleich mit dem Brief an den Praefectus Praetorio Probus und den übrigen vorgestellten Texten liegt es nahe, dass die fausta orsa entweder metonymisch für ein oder mehrere Gedichte oder allgemeiner für Texte mit literarischem Anspruch stehen, die dem libellus hinzugefügt werden und dem Empfänger einen Gruß ausrichten sollen. Die fausta orsa selbst können also wie die Epoden an Probus als Gruß in Form eines Gedichtes verstanden werden. Die salutigeri libelli bezeichnen die Bände, in denen diese Grüße in Gedichtform enthalten sind.526 Zu diesem Befund passt eine Stelle in demselben Brief, an der das poetische Ich das bereits angesprochene Thema noch einmal aufgreift, Auson. 27,21,32–35: Quis prohibet ›salue‹ atque ›uale‹ breuitate parata scribere felicesque notas mandare libellis? non ego longinquos ut texat pagina uersus 35 postulo multiplicique oneret sermone tabellas. 524 Vorbild für diese Stelle ist Stat. Silv. 1,4,26–31: Licet enthea uatis/ excludat Piplea sitim nec conscia detur/ Pirene: largos potius mihi gurges in haustus/ qui rapitur de fonte tuo, seu plana solutis/ cum struis orsa modis seu cum tibi dulcis in artem/ frangitur et nostras curat facundia leges. Statius scheint der erste zu sein, der orsa in dieser Weise verwendet, vgl. den Befund bei Bohnenkamp, K.: Art. ordior, ThLL 9,2, col. 950, ll. 45–68. 525 Auch diese Verwendung zuerst bei Statius, z. B. Silv. 4,7,53–56: Sed tuas artes puer ante discat,/ omne quis mundi senium remensus/ orsa Sallusti breuis et Timaui/ reddis alumnum. Vgl. Bohnenkamp, K.: Art. ordior, ThLL 9,2, col. 950, ll. 45–68. 526 Gleichzeitig bleibt auch an dieser Stelle die epistolare Form durch das Partizip ascribens gewahrt. Die antiken Briefschreiber verwenden ascribere, um Grüße zu übermitteln. Z. B. schreibt Cicero an Atticus, Cic. Att. 1,5,8: (…) salutemque tibi plurimam adscribit et Tulliola, deliciae nostrae. Vgl. für Parallelstellen auch Mess: Art. ascribo, ThLL 2,4 col. 773, ll. 44–80.

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Die felix charta und der salutifer libellus

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Wer hindert dich daran ›sei gegrüßt‹ und ›lebewohl‹ in angemessener Kürze zu schreiben und freudebringende Zeichen den Büchern anzuvertrauen? Ich fordere nicht, dass das Gedicht lange Verse webt, und die Spalten mit abwechslungsreicher Rede zu füllen?

Ausonius verwendet libellus in v. 33 in nahezu demselben Kontext wie in v. 3. Konsequent werten daher die Übersetzer und Kommentatoren libellus auch an dieser Stelle als Synonym für den Beschreibstoff, das Schreiben oder den Brief, dem glücksbringende Zeichen anvertraut werden sollen.527 Demgegenüber legen die folgenden vv. 34 und 35 eine andere Interpretation nahe. Es war offensichtlich üblich, das geht aus den Versen hervor, die Spalten der libelli mit längeren Gedichten oder mit abwechslungsreicher Prosa zu füllen. Sie wenigstens mit kurzen Anmerkungen zu beschreiben, erfüllt nur das Mindestmaß und ist ein Zugeständnis des poetischen Ichs an sein Gegenüber. Die im Brief an Paulinus genannten fausta orsa stehen demnach nicht für den glückverheißenden Anfang eines Briefes, wie Dräger meinte, sondern für einen Text, der literarischen Ansprüchen genügt. Dieser Text soll den libelli, den Buchrollen, hinzugefügt werden. Paulinus verwendet den Begriff libellus häufiger als Ausonius. Maßgeblich für sein Verständnis des Begriffes ist ein Brief an Sulpicius Severus aus dem Jahr 402, dem Paulinus ein Paket mit mehreren Werken beigelegt hat, Paul. Nol. ep. 28,6: Habes ergo libellos a me duos: unum uersibus natalicium de mea sollemni ad dominaedium meum cantilena, (…) alius libellus ex his est, quos ad benedictum id est Christianum uirum, amicum meum Endelechium scripsisse uideor, non tamen edidisse conuincar. is enim mihi auctor huius in domino opusculi fuit, sicut ipsius epistola, quae libello meo pro themate praescribitur docet. fateor autem idcirco me libenter hunc ab amico laborem recepisse, ut in Theodosio non tam imperatorem quam Christi seruum, non dominandi superbia sed humilitate famulandi potentem, nec regno sed fide principem praedicarem.528 Du hast also von mir zwei Rollen erhalten: Ein Natalicium mit Versen aus meinem Gedicht für meinen Hausherren (sc. Felix), (…) die andere Rolle gehört zu denen, die ich offensichtlich an einen gesegneten Mann, also einen Christen, an meinen Freund Endelechius geschrieben habe. Dennoch kann ich für ihre Veröffentlichung nicht verantwortlich gemacht werden. Dieser Mann hat mich nämlich zu diesem Werk im Herrn angeregt, wie sein Brief zeigt, der meiner Rolle als thematische Einführung vorangestellt wird. Dagegen gestehe ich ein, dass ich die Aufgabe gerne von meinem Freund angenommen habe, um, was Theodosius anbelangt, nicht so sehr den Herr527 Vgl. z. B. Evelyn White (1919) 115 spricht von »paper«, Dräger (2002) 87 von »Schriftstück«, Amherdt (2004) 109 von »papier«. 528 Der Doppelpunkt nach habes ergo libellos an Stelle des von von Hartel (1999 I) gesetzten Kommas in CSEL 29,246 wird in Übereinstimmung mit Mratschek (1996) 165 mit Anm. 8 gesetzt.

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Die Inszenierung der Briefdichtung scher als vielmehr den Diener Christi, nicht so sehr den aufgrund seines Herrscherstolzes als vielmehr den aufgrund seiner dienstbaren Demut Mächtigen, nicht den aufgrund seiner Herrschaft, sondern den aufgrund seines Glaubens ersten Mann im Staate zu rühmen.

Dem Brief an Sulpicius sind zwei libelli beigelegt. Der eine enthält ein nicht näher bestimmtes Natalicium, verfasst zum Todestag des Felix,529 der andere den berühmten, aber verlorenen Prosa-Panegyricus auf Theodosius, dessen Anfertigung durch einen Brief des Endelechius angeregt wurde. Dieser Brief dient dem libellus nun als Vorwort.530 Wie im Brief des Ausonius an Sextus Probus bezeichnet der libellus ein Buch oder einen Band, der mehrere literarische Werke enthält.531 Anders, nämlich als Synonym für carmen, setzt Paulinus libellus in den Natalicia ein. Im dreizehnten Natalicium, verfasst für den 14. Januar 407, schreibt er, Paul. Nol. carm 21,47–55: Unde igitur faciam texendi carminis orsum? quae bona Felicis referam? quae multa per omnes passim agit, expediam magis, anne domestica dicam 50 munera, quorum ego sum specialis debitor illi? haecpotius repetam, mihi quae conlata meisque sat memini; et quia praeteritis magis illa libellis dicta mihi, quae partim aliis permixtaque nobis praestitit, ex his nunc opibus, quas largiter in nos 55 contulit, hunc animo texam gratante libellum, Von welchem Punkt soll ich ausgehen und beginnen, mein Gedicht zu weben? Welche guten Taten des Felix soll ich berichten? Soll ich vor allem darlegen, wie viel Gutes er für alle an allen Orten tut, oder soll ich Segnungen unseres Hauses nennen, aufgrund derer ich sein besonderer Schuldner bin? Die will ich lieber überdenken, die er, ich erinnere mich gut daran, mir und den Meinen hat zukommen lassen. Auch weil ich in den vorausgehenden Gedichten mehr jenes berichtet habe, was er zum Teil anderen und zum Teil uns Gutes getan hat, will ich nun aus den Gaben, die er reichlich uns geschenkt hat, mit dankbarem Herzen ein Gedicht weben. 529 Verschiedene Argumente sprechen dafür, dass der libellus des Paulinus ein PapyrusVolumen war und aufgrund der Verszahl nur ein Natalicium enthalten hat, vgl. Mratschek (1996) 165–172, bes. 167–169. 530 Der Theodosiuspanegyricus wurde von Hieronymus ep. 58,8 als prudenter ornateque compositum gerühmt. Vgl. zur Wirkung des Panegyricus auf die Zeitgenossen und zu seiner literarischen Bedeutung die ausführliche Darstellung bei Duval (1995) passim. 531 Einen Sonderfall stellt die Beschreibung der spartanischen Skytale in Auson. 27,22,23– 25 dar. Der Begriff libellus wird dort als Synonym für den Beschreibstoff, das Pergament, verwendet, vgl. zur Skytale auch Kap. 9.1. mit Anm. 716. Das ist insofern ungewöhnlich, als libellus entweder für den Papyrus oder den Baumbast steht. Weitere Stellen, an denen libellus metonymisch für Pergament verwendet wird, sind m. W. nicht bekannt, vgl. auch Premerstein, A. v.: Art. libellus, in: RE 25 (1926) 27 und Birt (1882) 253.

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Die felix charta und der salutifer libellus

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Das dreizehnte Gedicht zu Ehren des Felix, das längste aus der Reihe der Natalicia, thematisiert einerseits das Wirken des Märtyrers zu Gunsten des Nolaner Wallfahrtszentrums in den politischen und kriegerischen Wirren der jüngeren Vergangenheit, andererseits sein Wirken im Leben des Paulinus selbst.532 Die abgedruckte Passage führt die Hörer oder Leser, nach einem Preis des dies natalis und des wiedergewonnenen Friedens nach den Vandaleneinfällen, mit der panegyrischen Formel unde faciam orsum,533 auf die Themen des Nataliciums hin. Das Ich will nicht von den Wohltaten, die Felix anderen hat zukommen lassen, berichten. Diesen ist in den praeteriti libelli genügend Raum gewährt worden. Lieber will es nun von den Hilfen erzählen, die es selbst und seine Gemeinschaft in Nola von Felix erhalten haben. Aus diesem Stoff will es in dankbarem Geiste einen libellus weben. Der Terminus libellus definiert anders als im Brief an Severus nicht das uolumen, in dem das Gedicht enthalten ist, sondern das Gedicht selbst. Das zeigt ein Vergleich der vv. 47 und 55: Wie aus den Formulierungen faciam texendi carminis orsum (21,47) und hunc animo texam gratante libellum (21,55) deutlich hervorgeht, werden carmen und libellus in eins gesetzt. Die praeteriti libelli in v. 52 bezeichnen also die vorausgehenden Natalicia als einzelne Gedichte.534 Es scheint auch aufgrund dieses Befundes unwahrscheinlich, dass Paulinus ausgerechnet in dem Antwortschreiben an Ausonius von dieser Verwendung abweicht und libellus, wie von den Gelehrten angenommen, als Synonym für epistula verwendet. Dagegen spricht vor allem der Kontext der Stelle. Wie in den Widmungsgedichten des Catull an Nepos und des Martial an Faustinus und wie im Brief des Ausonius an Probus gewährt der Brief dem Empfänger Geschenke, die im dem auf die vv. 5 und 6 folgenden Distichon als Briefe und Gedichte gleichermaßen beschrieben werden.535 Der salutifer libellus dient in diesem Kontext nicht als Synonym für den Brief, sondern der Umschreibung des uolumen, das die Geschenke enthält. Dieser Ansatz vermag, dies sei hier wenigstens kurz angemerkt, auch ein neues Licht auf die felix charta zu werfen. In Auson. 27,21,5 fragt das poetische Ich, mit welchem Recht sein unglücklicher Brief, die non felix charta, die Zurückweisung durch Paulinus erfahren habe. Die Sprechweise von der non felix charta erinnert deutlich an das Eröffnungsgedicht der Tristia des Ovid. Dort tägt der poeta exul seinem Buch auf, nach Rom zu reisen: Es solle an seiner Stelle nach Rom, aber bar des Schmuckes, wie es sich für einen Exilan532 Zu Inhalt, Aufbau und Besonderheiten des Nataliciums vgl. Kirsch (2004) 109–113. 533 Vgl. Kirsch (2004) 110. 534 Vgl. zu dieser Verwendung auch Paul. Nol. carm. 18,70; 20,306; 21,204. Auch an diesen Stellen bezeichnen die praeteriti libelli jeweils die vorausgegangenen Natalicia, d. h. die einzelnen Gedichte. 535 Vgl. Paul. Nol. carm. 10,5–8.

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Die Inszenierung der Briefdichtung

ten gehöre, unglücklich solle es das zu dieser Zeit passende Gewandt tragen.536 Denn, so fährt der poeta nach einer Aufzählung verschiedener Elemente antiken Buchschmucks fort,537 nur glückliche Bücher würden in dieser Weise geschmückt, sein Buch aber solle sich seines Schicksals erinnern, Ov. trist. 1,1,9–10: 10

Felices ornent haec instrumenta libellos fortunae memorem te decet esse meae.

Glückliche Bücher mögen diese Schmuckmittel verschönern, für dich aber gehört es sich, meines Schicksals zu gedenken.

Im Gegensatz dazu empfängt das Ich bei Paulinus eine felix charta. Diese bringt nun nicht nur dem Empfänger Glück und Freude durch einen grußtragenden libellus. Das Adjektiv felix dient hier auch der Personifikation der charta selbst. Sie ist, anders als die charta des Ausonius, glücklich, fast schon beneidenswert, weil sie den libellus und die in diesem enthaltenen dona begleitet.538

6.3 Die trina epistula Die vv. 7 und 8 der Praefatio dienen in Form einer Parenthese der Erläuterung des vorausgehenden Distichons. Die von Paulinus empfangene felix charta brachte lange verwehrte Geschenke, denn sie war eine trina epistula, eine numerosa pagina und ein triplex carmen, Paul. Nol. carm. 10,7–8: Trina etenim uario florebat epistola textu sed numerosa triplex pagina carmen erat. Denn ein dreifacher Brief zeichnete sich aus durch stilistische Vielfalt, und zwar war das rhythmenreiche Gedicht ein dreiteiliges Lied. 536 Ov. trist. 1,1,1–4: Parue nec inuideo sine me, liber, ibis in urbem:/ ei mihi, quod domino non licet ire tuo./ uade, sed incultus, qualem decet exulis esse;/ infelix habitum temporis huius habe. 537 Ov. trist. 1,1,5–9: Nec te purpureo uelent uaccinia fuco:/ non est conueniens luctibus ille color:/ nec titulus minio, nec cedro charta notetur,/ candida nec nigra cornua fronte geras. 538 Vgl. auch Wissig-Baving (1991) 90–96. Sie führt eine ganze Reihe solcher ›schwacher‹ Personifikationen an. ›Schwach‹ oder ›schwächer‹ sind diese Personifikation, weil hier, so Wissig-Baving, anders als in der direkten Anrede an das Buch, nicht unmittelbar der Eindruck erzeugt werden soll, das Buch sei tatsächlich eine Person. Vielmehr werde das Buch mit menschlichen, personalen Eigenschaften ausgestattet. Z. B. Catull. 1,5–7: (…) cum ausus es (…)/ omne aeuum tribus explicare chartis/ doctis (…); und Mart. 1,4,8: Lasciua est nobis pagina, uita proba.

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Die trina epistula

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Trotz der einfachen Satzstruktur und der klaren Verskomposition wurde das Distichon mit auffallend unterschiedlichem Ergebnis interpretiert. Einig waren sich die Gelehrten seit Scaliger darin, dass die Junktur trina epistula drei separate Briefe bezeichnet, die Paulinus an einem Tag empfangen hatte.539 Kontrovers diskutiert wurden dagegen das Nomen textus und die syntaktischen Bezüge in v. 8. Eine Gruppe von Herausgebern interpretiert uario textu in Hinblick auf den vielfältigen Inhalt der empfangenen Briefe und zieht im folgenden Vers das Adjektiv numerosa und das Numerale triplex zu pagina. Stellvertretend für diese Gruppe sei die Übersetzung Drägers gegeben: »Denn drei Briefe prangten durch mannigfaltigen Inhalt, aber rhythmisch war das dreifache Blatt ein Gedicht.«540 Das Adjektiv numerosa erfüllt also die Funktion eines prädikativen Zustandsattributes, das in der Übersetzung wie eine adverbiale Bestimmung wirkt. Die zweite Gruppe der Herausgeber sieht dagegen in der Junktur uario textu eine Anspielung auf die vielgestaltige äußere Form der Briefe und zieht in v. 8 das Numerale triplex zu carmen. »The varied texture of three letters, full of life, was contained there, yet the sheets of verses formed a threefold poem«, übersetzte Walsh.541 Welche Interpretation ist vorzuziehen? Der erste Vers der Parenthese ist sicher eine Anspielung auf Auson. 27,21 1: quarta tibi haec notos detexit epistula questus. Beide Verse sind nach einem ähnlichen Muster komponiert: An die betonte Anfangsposition sind jeweils die Numeralia gesetzt: quarta (a1)und trina (a2). Die Wendungen detexit epistula (A1) und florebat epistola (A2) stehen jeweils in der Mitte des Verses. Gerahmt werden sie im Brief des Ausonius durch ein gesperrtes Objekt, notos (b1) … questus (B1), in der Antwort des Paulinus durch den Ablativus Instrumenti uario (b2) …textu (B2). Das Nomen textu spiegelt zudem inhaltlich das von Ausonius gewählte Verb detexere. Gemeint ist in beiden Fällen nicht der Inhalt der Briefe, sondern das Gewebe, die äußere Form der Briefe. Dieser Gedanke wird im zweiten Teil der Parenthese weiter ausgeführt. Eingeleitet wird der Vers durch die Partikel sed, die von den Gelehrten adversativ aufgefasst wurde. Diese Aufassung passt jedoch nicht zur Logik des Satzes, die ein nam oder ein weiteres enim, zumindest aber ein et erwar539 Einzig Evelyn White (1919) 2,125 weicht davon ab. Er wertet trina als Ersatz für das Multiplikativum ter. 540 Vgl. Dräger (2002) 91. Ähnlich auch Amherdt (2004) 125: »Ils’agissait en effet de trois lettres se distinguant par la Variété de leur contenu, mais pour ce qui est du rhythme, cette triple page formait un poème.« Diese Linie der Interpretation geht offenbar zurück auf de Labriolle (1910) 28: » … assujettie aux lois du rhythme, cette triple page consituait un poeme.« 541 Vgl. Walsh (1975) 58. Ähnlich auch Evelyn White (1919) II, 125: »For indeed ’twas a triple letter enriched with various flowers of composition, but the melodious sheets were a threefold poem.«

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Die Inszenierung der Briefdichtung

ten ließe. Bereits von Hartel sah diese Schwierigkeit und deutete an, dass Paulinus vielleicht et geschrieben habe. Tatsächlich ist eine Verschreibung von et zu sed oder set oder die falsche Auflösung einer Abkürzung denkbar.542 Die Schwierigkeit lässt sich jedoch ohne einen Eingriff in den Text lösen, wenn man die Partikel als intensives sed interpretiert, das ähnlich wie das deutsche ›und zwar‹ gesetzt wird, »um ein neues Moment, ein wichtiges Attribut mit einem gewissen Nachdruck anzuknüpfen.«543 Wie ordnet sich nun das Numerale triplex in den Satz ein? Ist das Multiplikativum wie das Adjektiv numerosa auf pagina zu beziehen oder auf carmen? Dräger erläutert seine Entscheidung für die Zusammengehörigkeit von numerosa, triplex und pagina in einem kurzen Kommentar zur Stelle. Triplex zu carmen zu ziehen, führe, so Dräger, in die falsche Richtung, denn zumindest die beiden erhaltenen Bezugsbriefe seien im Hexameter verfasst.544 Er meint offenbar, dass die Wendung triplex … carmen als syntaktische, grammatikalische und inhaltliche Einheit verstanden einen Brief mit drei verschiedenen Gedichten bzw. drei Gedichten unterschiedlicher Versmaße voraussetze, Ausonius aber drei Briefe im gleichen Versmaß geschrieben habe.545 Die Komposition der beiden Verse und die Wortstellung sprechen gegen diese Interpretation. Vers 7 ist ein gleichsam neoterisch gebauter Hexameter, in dem zwei Substantive (AB) und zwei Attribute (ab) in der Weise über den Vers verteilt werden, dass die Attribute am Versanfang jeweils den Substantiven am Versende vorausgehen (abAB): trina (a) etenim uario (b) florebat epistula (A) textu (B).546 Diese Wortstellung wird im folgenden Pentameter beibehalten, wenn triplex auf carmen bezogen wird: sed numerosa (a) triplex (b) pagina (A) carmen (B) erat. Bezieht man dagegen triplex wie numerosa auf pagina ergibt sich die Wortstellung aaAB, die mehr als ungewöhnlich wäre: Dass innerhalb eines Verses ein Substantiv mit zwei Attributen versehen wird, das zweite dagegen ohne Attribut verbleibt, ist in lateinischer Dichtung kaum denkbar.547 542 Hartel (1999 II) notiert zur Stelle im kritischen Apparat »et fort.« 543 Löfstedt (1911) 179. Zum intensiven Gebrauch von sed auch Hofmann/Szantyr (1972) 482 und Gnilka (1980) 6. 544 Vgl. Dräger (2002) 214 zu Paul. Nol. carm. 10,8. 545 Ähnlich auch Amherdt (2004) 125 mit Anm. 31, der in deutlicheren Worten als Dräger erklärt, Paulinus spiele darauf an, dass er von Ausonius drei Briefe in Hexamtern erhalten habe, die insgesamt ein Gedicht gebildet hätten 546 Zu dieser Wortstellung, ihren Ursprüngen und ihrer Häufung in neoterischer Dichtung Norden (81984/11909) 393–396. 547 Die Wortstellungen abAB und abBA entsprechen nach Norden (81984/11909) 395 dem Streben der lateinischen Autoren nach Isokolie und Satzparallelismus: »In der Tat ist ja diese Art der Wortstellung nur eine Erscheinungsform des Satzparallelismus (Isokolie, Konzinnität); das zugrundeliegende Prinzip lässt sich so formulieren: Falls von zwei Substantiven das eine ein Attribut hat, so wird auch dem zweiten ein solches hinzugefügt. Besonders charakteristisch

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Die Parenthese dient folglich der weiteren Erläuterung des im vorausgehenden Distichon Gesagten: Der wegen des libellus glückliche und glückbringende Papyrus brachte lange verwehrte Geschenke auf vielfältige Weise. Denn die trina epistula zeichnete sich durch gestalterische Vielfalt aus, und zwar war die numerosa pagina ein triplex carmen. Offen bleibt die Frage, wie die Junkturen trina epistula, numerosa pagina und triplex carmen zu deuten sind. Das Distributivum trina wurde von fast allen Gelehrten als Ersatz für die Kardinalzahl tres aufgefasst: »The varied texture of three letters, full of life, was contained there.« übersetzte Walsh, der stellvertretend für die anderen genannt sei.548 Die Ersetzung der Kardinalzahl durch die entsprechende Form des Distributivums findet sich bereits in klassischer Zeit. Ungewöhnlich ist jedoch, dass Paulinus hier nicht den in diesen Fällen sonst üblichen Plural, sondern den kollektiven Singular des Distributivums verwendet. Dieser ersetzt in klassischer und kaiserzeitlicher Dichtung und Prosa das Multiplikativum und bezeichnet oft den Ertrag, der erzielt wird.549 Vielleicht aus diesem Grund hat White den kollektiven Singular trina epistula anders als Walsh im Englischen mit der Formulierung »triple letter« wiedergegeben.550 Beide Interpretationsansätze liegen dicht beieinander und sind unter inhaltlichen Gesichtspunkten nur schwer voneinander zu trennen. Was ist der Unterschied zwischen drei Briefen und einem dreifachen Brief? Im neunten Natalicium, verfasst für den 14. Januar des Jahres 403, beschreibt Paulinus detailliert die zur Ehre Gottes und des Märtyrers Felix in Nola errichteten Kirchenbauten. Anlass für dieses Natalicium ist nicht nur der dies natalis des Märtyrers, sondern auch der Besuch des Bischofs Niketas aus dem dakischen Remisiana. Bei einem Rundgang durch das Heiligtum werden diesem die einzelnen Gebäude vorgeführt. Mit Verweis auf das Mysterium der göttlichen Trinität fordert das Ich schließlich dazu auf, auch den Zugang zum Grab des Märtyrers zu bewundern, Paul. Nol. carm. 27,455– 457: 455 Hoc etiam mirare, domus quod martyris alta lege sacramenti per limina trina patescit (fassus enim est unum trino sub nomine regnum). Dieses auch bewundere, dass sich das hohe Haus des Märtyrers gemäß dem Gesetz des Geheimnisses durch drei Eingänge öffnet (denn er bekennt ein Königreich unter einem dreifachen Namen).

sind solche Fälle, wo das eine Attribut für den Sinn nicht wesentlich ist und nur der Satzarchitektonik oder der Antithese zuliebe hinzugefügt wird (…)« 548 Walsh (1975) 58; Dräger (2002) 91 und Amherdt (2004) 125. 549 Vgl. z B. Verg. Aen. 10,207–208: It grauis Aulestes centenaque arbore fluctum/ uerberat adsurgens (…). Dazu auch Hofmann/Szantyr (1972) 212–213. 550 Evelyn White (1919) 2,125.

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Das Mysterium der göttlichen Trinität spiegelt sich in der Anlage des Kirchenbaus wider: Weil Felix sich zum homousion, zu der Herrschaft eines Königs unter einem dreifachen Namen, d. h. eines Gottes, der sich in drei Gestalten, nämlich Vater, Sohn und heiligem Geist, bekennt, verfügt die Basilica über drei Zugänge. Während der Plural des Distributivums trina in v. 456 die Kardinalzahl ersetzt, tritt der kollektive Singular trino im Unterschied dazu an die Stelle des Multiplikativums. Deutlicher wird dieser Unterschied in einer Passage des elften natalicium Felicis (Paul. Nol. carm. 19), das, geschrieben für den 14. Januar des Jahres 405, von der wundersamen Auffindung eines gestohlenen Kreuzes berichtet.551 Dem eigentlichen Wunderbericht gehen 163 Verse voraus, in denen Paulinus beschreibt, wie sich in allen Teilen der Oikumene der Glaube an Christus durch das Wunderwirken der Apostel durchzusetzen vermag. Erst danach spricht das Ich über die Wunder des Felix, die denen der übrigen Heiligen nicht nachstehen. Eines der großen Verdienste der Apostel ist es, dass sie die Götter als Trugbilder entlarven, denen keine Macht zukommt. Ganz Rom spotte über Numa und das Orakel der Sibylle, Ägypten habe Apis im Stich gelassen, Kreta Zeus, die Phrygier feierten nicht mehr das Fest der Cybele, Diana sei aus Ephesus geflohen, das Heiligtum der Serapis zerstört worden.552 »Ist Isis eine Göttin? Kann eine Frau göttlich sein?«, fragt das Ich schließlich und gibt die Antwort in einem kurzen Syllogismus: Wenn sie eine Göttin wäre, wäre sie körperlos. Ohne Körper aber gebe es kein Geschlecht und ohne Geschlecht keine Geburt. Wie habe sie – eine Göttin – sich dann Osiris verschafft, den sie suche? Warum wisse sie – eine Göttin – nicht, wo sie nach ihm suchen müsse? Eine Mutter oder eine Frau könne niemals göttlich sein.553 Der scheinbaren Göttin Isis stellt das Ich eine Beschreibung des wahren Gottes gegenüber, Paul. Nol. carm 19,133–139: (…) nam deus unus, uirtus trina, deus pater unus et unus in ipso 135 filius, ex ipso simul unus cum patre uerbi spiritus; haec tria sunt deus unus nomina semper. sola dei natura deus, quod filius et quod spiritus et pater est; sed filius ex patre natus, spiritus ex patre procedens. Denn es ist ein Gott, eine dreifache Kraft, ein Gott Vater und ein Sohn in diesem, aus diesem selbst ein Geist gleich mit dem Vater des Wortes; diese drei Namen sind immer ein Gott. Die einzige Natur Gottes ist Gott, weil er der Sohn und weil er der 551 Zu Aufbau, Struktur und Inhalt des Natalicium Kirsch (2005) 103–106. 552 Paul. Nol. carm. 19,57–152. 553 Paul. Nol. carm. 19,129–133: Ergo dea est Isis? mulier dea? si dea, corpus/ non habet, et sexus sine corpore uel sine sexu/ partus abest. unde ergo illi quem quaerit Osirim?/ atque ubi quaerat eum nescit dea? sed dea numquam/ esse potest mater nec femina.

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Geist und der Vater ist; und zwar ist der Sohn aus dem Vater geboren, der Geist geht aus dem Vater hervor.

Die Verse enthalten eine vollständige Definition der Trinität im Sinne des nicänischen Homousions: Es existiert nur ein Wesen Gottes, das sich in drei Gestalten offenbart: Im Vater, im Sohn und im heiligen Geist.554 Dass der kollektive Singular trina in v. 134 nicht die Kardinalzahl, sondern das Multiplikativum ersetzt, geht aus einem Vergleich mit einem auf das Frühjahr des Jahres 401 datierten Brief des Paulinus an seinen Tauflehrer Amandus, den späteren Bischof von Bordeaux, hervor. Thema des Briefes ist das Lob des Evangelisten Johannes. Dieser sei, so Paulinus, zwar zeitlich der letzte der Evangelisten gewesen, er habe sich aber als erster mit dem Ursprung der Offenbarung befasst und sei als einziger der Propheten und Evangelisten in den Himmel eingedrungen, habe sich über alle Wesenheiten des Himmels erhoben und sich mit seinem erhabenen Geist auf den Schöpfer selbst konzentriert. Denn mit der unaussprechlichen Schöpfung beginne er und verkünde, dass der Sohn mit dem Vater Ewigkeit, Wesen, Allmacht und schöpfende Kraft teile, Paul. Nol. ep. 21,3: (…) in ipsum se creatorem ardua mente direxit, et ab illa ineffabili generatione ordiens coaeternum et consubstantialem et coomnipotentem et coopificem patri filium nuntiauit, in spiritu sancto deo deum cernens, quia in ipso trinitas diuinitatis inpletur et una trinitas diuinitas cernitur. spiritus enim dei sicut et uerbum dei deus, uterque in uno capite permanentes et ex uno patris fonte manantes, sed filius nascendo, spiritus procedendo, salua quisque personarum suarum proprietate distincti potius quam diuisi. Er wandte sich mit erhabenem Geist dem Schöpfer selbst zu, und beginnend mit der unaussprechlichen Schöpfung verkündete er, dass der Sohn die Ewigkeit und das Wesen und die Allmacht und die schöpferische Kraft mit dem Vater teile. Er sah in Gott, d. h. hier dem heiligen Geist, Gott, weil in diesem selbst die Dreieinigkeit der Göttlichkeit erfüllt wird und die eine Göttlichkeit der Dreieinigkeit erkannt wird. Denn der Geist Gottes und das Wort Gottes bleiben beide in einem Ursprung und strömen aus der einen Quelle des Vaters, der Sohn in der Geburt, der Geist im Hervorgehen. Beide sind aufgrund der unversehrten Eigentümlichkeit ihrer Personen eher unterschieden als getrennt.

Entscheidend für das Trinitätsverständnis des Paulinus ist die Vorstellung, dass Sohn und Geist als Personen zwar zu unterscheiden, aber nicht zu trennen sind.555 Hinter dieser Unterscheidung von drei Personen, die das eine 554 Zur Trinitätslehre bei Paulinus vgl. Fabre (1949) 55–65. 555 Wie wichtig die Unterscheidung zwischen distinguere und diuidere ist, zeigt auch ein (nicht mehr zu datierender) Brief an Victricius, den Bischof von Rouen. Paulinus lobt diesen für sein Bekenntnis zur Trinität, Paul. Nol. ep. 37,5: Cum ergo fides et confessio tua, ut credimus atque confidimus, coaeternam trinitatem unius diuinitatis et substantiae et operis et regni esse testetur cumque patrem deum et filium deum et spiritum sanctum deum putet, qui est et erat et uenturus est, qui misit te sicut Moysen et apostolos euangelizare gentibus bona domini,

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Wesen Gottes bilden, steht die Vorstellung, dass der Vater, der Sohn und der heilige Geist jeweils spezifische Aufgaben erfüllen. Wenn der Mensch ein Acker sei, schreibt Paulinus in einem Brief an Aper und Amanda, dann sei Gott der Vater selbst der Bauer, Gott, das Heil des Menschen, d. h. Christus, der wahre Weinstock und der heilige Geist derjenige, der die Seelen bewässert.556 Die deutliche Unterscheidung zwischen distinctio und diuisio der drei Personen Gottes in dem Brief an Amandus lässt die Funktion des kollektiven Singulars trina uirtus im elften Natalicium deutlicher hervortreten. Das Numerale steht hier nicht für die Kardinalzahl, sondern ersetzt das Multiplikativum und kennzeichnet so das Wesen der göttlichen Trinität: Gott ist ein Wesen, dessen Kraft sich in drei Teilen bzw. auf dreifache Weise, als Vater, Sohn und heiliger Geist, offenbart. Mit anderen Worten behält trinus auch als kollektiver Singular eine leicht distributive Funktion bei und bezeichnet an den genannten Stellen drei zu unterscheidende, aber dennoch zusammengehörige Teile. Sie ergeben ein Ganzes: Das eine Wesen Gottes. Bestätigt wird dieser Befund durch zwei Ausnahmen, an denen der Singular des Distributivums tatsächlich an die Stelle der Kardinalzahl tritt. Im bereits zitierten neunten Natalicium (Paul. Nol. carm. 27) führt das Ich den Gast Niketas als Vorbild geistlichen Lebens und geistlicher Unterweisung vor Augen. Durch die Worte dieses weisen Mannes könne es, so beginnt das Ich, in seinem verdorrten Inneren fruchtbare Gedanken fassen. Wie der israelitische Hirte Jacob pflücke Niketas sich drei Stöcke von drei Bäumen, um seine Herde durch seine Worte mit dem Wasser des Lebens zu besprengen und sie als gerettet zu kennzeichnen, Paul. Nol. carm. 27,250–255: 250

Hic (sc. Nicetas) etiam tres corde pari trina sibi legit ab arbore uirgas, quis in aqua positis pecus aduocat et coeuntes ingrauidat uirgisque tribus concepta colorat, ut de interrasa uariatis cortice uirgis 255 insignita gregis sancti fetura probetur.

quod ita, ut ispe a deo doctus es, doces: unitatem trinitatis sine confusione iungens et trinitatem ipsius unitatis sine separatione distinguis, ita ut nulla alteri persona conueniat et in omni persona trium deus unus eluceat, et tantus quidem filius, quantus et pater, quantus et spiritus sanctus, sed semper quisque sui nominis proprietate distinctus indiuiduam retineat in uirtutis et gloriae aequalitate concordiam. 556 Vgl. Paul. Nol. ep. 39,6: Sed ad rusticationis nostrae uerba redeamus; nam ipse deus noster et pater agricola est, et deus salutaris noster uera uitis est, et spiritus sanctus rigator animarum est. Entsprechend der Unterscheidung zwischen Gott Vater und Sohn werden die drei Gestalten oder Personen Gottes auch verschieden symbolisiert, vgl. Paul. Nol. ep. 32,10: Pleno coruscat trinitas mysterio:/ stat Christus agno, uox patris caelo tonat/ et per columbam spiritus sanctus fluit.

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Dieser pflückt sich mit gleichem Sinn (sc. wie Jacob) drei Äste von drei Bäumen. Nachdem er diese in Wasser gelegt hat, ruft er das Vieh und besprengt die Vorbeiziehenden und zeichnet mit den drei Ästen die Nachkommenschaft, so dass der Nachwuchs, gekennzeichnet von der mit den verschiedenen Stöcken rasierten Wolle, als Teil der heiligen Herde gebilligt wird.

Diesen Gedanken nimmt das Ich noch einmal auf, um das Geheimnis der Trinität in einer Allegorie zu verdeutlichen. Drei Stöcke habe es erwähnt, in denen das Geheimnis des himmlischen Königreiches sichtbar werde, Paul. Nol. carm. 27,275–277: 275 Tres patriarcha sibi trina legit arbore uirgas, spirantem storacis, leuem platano, nuce firmam. spiritus in platano est, uirgo in storace, in nuce Christus. Drei Zweige pflückt sich der Patriarch von drei Bäumen: Den duftenden vom StoraxStrauch, den leichten von der Platane, den festen vom Nussbaum. Der Geist ist in der Platane, die Jungfrau im Storax-Strauch, Christus im Nussbaum.

In beiden Fällen tritt der Singular des Distributivums tatsächlich an die Stelle der Kardinalzahl. Wie tres uirgae drei Zweige, so bezeichnet trina arbor jeweils drei Bäume, nicht einen dreifachen oder dreiteiligen Baum. Ausschlaggebend für die Verwendung des Singulars ist an dieser Stelle nicht metrischer Zwang (oder grammatikalische Nachlässigkeit), sondern das Nomen arbor. Dieses hat in spätantiker Dichtung auch im Singular so häufig plurale Bedeutung, dass es gleichsam wie ein singulare tantum behandelt wird.557 Der Singular trina dient also nicht etwa aus Nachlässigkeit als Ersatz für die Kardinalzahl, sondern – gerade im Gegenteil – weil das Singulare tantum arbor zwingend ein Attribut im Singular erfordert. Das Numerale wird durch die Abhängigkeit von arbor zu einem Singular, hat aber wie das Nomen weiterhin plurale Bedeutung. Hier kann kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Die untersuchten Stellen deuten jedoch darauf hin, dass der kollektive Singular des Distributivums in der Dichtung des Paulinus nicht für die Kardinalzahl, sondern für des Multiplikativum eintritt; besonders in den Fällen, in denen der Dichter die verschiedenen Bestandteile einer Sache beschreiben will, ohne die Einheit des Oberbegriffs zu verletzen. Überträgt man dieses Ergebnis auf das Distichon in carm. 10, dann spricht Paulinus genaugenommen nicht von drei Briefen, sondern von einem dreifachen oder dreiteiligen Brief. Dieser Brief zeichnete sich durch seine Vielfalt in der äußeren Form aus, und zwar, fährt das Ich fort, war die numerosa pagina ein triplex carmen.

557 Vgl. Svennung (1935) 169.

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6.4 Die numerosa pagina und das triplex carmen Es scheint auf den ersten Blick naheliegend zu sein, die Wendung numerosa pagina in Analogie zu trina epistula als kollektiven Singular und numerosa als Mengenangabe zu deuten, zumal der kollektive Singular bereits in der augusteischen Dichtung häufig in Verbindung mit Mengenangaben auftritt.558 Paulinus selbst verwendet numerosa in dieser Weise an anderen Stellen. Im elften Natalicium für das Jahr 405 beschreibt Paulinus in einer langen Ekphrasis die Lampen, die den Innenraum der Felix-Basilika erleuchten, Paul. Nol. carm. 19,418–419: (…) densaque multicomis imitantur (sc. lumina) sidera flammis distinguntque graues numerosa luce tenebras. (…) die Lichter ahmen mit ihren strahlenden Flammen die dichtgedrängten Sterne nach und durchschneiden mit unendlichem Schein die schwere Dunkelheit.

Entsprechend würde also die numerosa pagina des Paulinus zahlreiche Seiten bezeichnen, die ein dreiteiliges Gedicht bildeten. Gleichermaßen ist es aber möglich, numerosa als rhetorischen Terminus zu verstehen, mit dem die rhythmischen Qualitäten der empfangenen Briefe beschrieben werden. Welchen Stellenwert Reden, Gedichte und Briefe hatten, die in der äußeren Form, d. h. im Satzbau, in der Wortwahl und auch im Rhythmus, an die von den klassischen Rednern und Dichtern geprägten Ideale heranreichten oder diese sogar zu übertreffen schienen, zeigt sich in den Briefen des Ausonius immer wieder. In einem Brief an Symmachus lobt das Ich das Gegenüber über die Maßen: Wer glänze so, dass er gegenüber Symmachus nicht verblasse? Wer reiche so weit an die Anmut des Aesop heran, wer so weit an den kunstvollen Satzrhythmus des Isocrates, wer so weit an die bündigen Gedankengänge des Demosthenes, wer so weit an die Fülle des Cicero und an das, was Vergil ausmache, heran?559 Ähnlich emphatisch äußert sich das Ich in einigen frühen, vermutlich zwischen 383 und 386, vielleicht aber auch noch früher, an Paulinus gerichteten Briefen über dessen Kunstfertigkeit, über die Gelehrsamkeit seiner Briefe, über die Erfreulichkeit seiner Gedichte, über ihre Originalität und ihren Stil.560 Die opulentia Tulliana und die prop558 Vgl. Hofmann/Szantyr (1972) 13–14 mit weiterführender Literatur. 559 Auson. 27,12,19–22: Aut quisquam ita nitet ut comparatus tibi non sordeat? quis ita ad Aesopi uenustatem, quis sophisticas Isocratis conclusiones, quis ita ad enthymemata Demosthenis aut opulentiam Tullianam aut proprietatem nostri Maronis accedat? 560 Auson. 27,19,4: Quid autem tam amabile tamque hospitale quam quod tu, ut me participes, delicias tuas in ipsa primitiarum nouitate defrudas? o melle dulcior, o Gratiarum uenustate festiuior, o ab omnibus patrio stringende complexu! sed haec atque alia huiusmodi docu-

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Die numerosapagina und das triplexcarmen

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rietas Maronis des Symmachus wurzelten wie die eruditio epistularum, die concinnitas uerborum und die iucunditas poematis des Paulinus in der sicheren Kenntnis und Handhabung der literarischen Ideale, die in den Rhetorikschulen mit Hilfe der als klassisch geltenden Literatur vermittelt wurden. Es ist daher naheliegend, dass Paulinus das Adjektiv numerosus in einer Passage, in der er die äußere Form der empfangenen Briefe und Gedichte beschreibt, und in Verbindung mit pagina als rhetorischen Terminus versteht, der wie triplex carmen zur Erläuterung des vorausgehenden Verses dient: Numerosa pagina korrespondiert inhaltlich mit uario textu, triplex carmen mit trina epistula. In dieser Weise versteht auch die Mehrzahl der Herausgeber und Kommentatoren numerosa als Anspielung auf die äußere Form des Gedichtes: »the sheets of verses formed a triple poem«, übersetzt Walsh, und ähnlich spricht Dräger von einem »rhythmischen Blatt«.561 Dem widerspricht jedoch zunächst, dass das Adjektiv numerosus in der lateinischen Dichtung fast ausschließlich als Mengenangabe verwendet wird. Nur sehr selten steht es, anders als das Nomen numerus, zur Bezeichnung rhythmischer Qualität. In dieser Weise verwendet es Ovid in der ›autobiographischen‹ Sphragis des vierten Buches der Tristien. Nachdem der poeta exul von seiner Kindheit und Jugend in Sulmo, von den vergeblichen Versuchen des Vaters, ihn zu einer Laufbahn als Redner zu bewegen, von einer an körperlicher Schwäche gescheiterten Karriere im Senat und seiner Unlust zu einer Laufbahn als Staatsbeamter geschrieben hat, spricht er schließlich über seine Berufung, über den Dienst an den Musen und der Dichtung.562 Die Dichter seien sein ein und alles gewesen, soviele Dichter, soviele Götter vermeinte er zu sehen. Von den zeitgenössischen Dichtern hebt er den Lehrdichter Macer, den Elegiker Properz, den Iambendichter Bassus und schließlich auch Horaz hervor, Ov. trist. 4,10,49–50:563 Et tenuit nostras numerosus Horatius aures, dum ferit Ausonia carmina culta lyra. Auch Horaz, reich an Rhythmen, nahm unsere Ohren gefangen, solange er mit ausonischer Lyra vollendete Lieder schlug.

menta liberalis animi aliquis fortasse et aliquando, quamuis raro; illud de epistularum eruditione, de poematis iucunditate, de inuentione et concinnatione, iuro omnia nulli umquam imitabile futurum, etsi fateatur imitandum. 561 Vgl. Walsh (1975) 58 und Dräger (2002) 91: »aber rhythmisch war das dreifache Blatt ein Gedicht.« 562 Vgl. für die einleitende Passage Ov. trist. 4,10,1–40. 563 Vgl. Ov. trist. 4,10,41–48: Temporis illius colui fouique poetas,/ quotque aderant uates, rebar adesse deos./ saepe suas uolucres legit mihi grandior aeuo,/ quaeque nocet serpens, quae iuuat herba, Macer,/ saepe suos solitus recitare Propertius ignes,/ iure sodalicii, quo mihi iunctus erat./ Ponticus heroo, Bassus quoque clarus iambis/ dulcia conuictus membra fuere mei.

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Die Inszenierung der Briefdichtung

Die Stelle hat scheinbar nicht viel mit dem Kontext des Antwortschreibens an Ausonius gemeinsam: Ein deutlicher inhaltlicher Bezug zum Prätext liegt nicht vor, und auch Zitatsegmente in Form wörtlicher Übernahmen sind nicht erkennbar. Dennoch scheint es möglich, dass Paulinus auf diese Stelle Bezug nimmt. Erstens ist die Exildichtung des Ovid, dies wird im folgenden Kapitel zu zeigen sein, entscheidend für die Komposition und Struktur des Briefwechsels. Einzelne Themen ovidischer Exildichtung ziehen sich wie ein roter Faden durch sämtliche Briefe. Zweitens wirkt numerosus als Terminus technicus wie ein Signal, mit dessen Hilfe der Dichter auf die wenigen Stellen verweist, an denen numerosus in derselben Weise verwendet wird. Dieses Signal wird schließlich innerhalb der ovidischen Folie selbst, nämlich durch die Wendung Ausonia … lyra bestätigt: Die Aurunci, griechisch die Ausones, besiedelten den südlichen Teil Latiums, bis sie gegen Ende des vierten Jahrhunderts vor Christus von Rom unterworfen wurden. Seit Vergil dienten der gräzisierte Name des Landstrichs, Ausonia, und das zugehörige Adjektiv Ausonius zur Bezeichnung von Personen, Dingen und Institutionen, die in engem Zusammenhang mit dem italischen Kernland und Rom standen.564 Ausonius wusste natürlich um die literarische Tradition dieses Landstriches, führte sein Cognomen in der Mosella etymologisch auf latinischen Ursprung zurück, und nutzte darüber hinaus die Möglichkeiten, die sein Cognomen zum literarischen Spiel bot, so z. B. in einem Gedicht auf die schlichte Schönheit des italischen Sabinerlandes, Auson. Epigr. 27,1–4 (ed. Kay): Laudet Achaemenias Orientis gloria telas, molle aurum pallis, Graecia, texe tuis, non minus Ausoniam celebret dum fama Sabinam, parcentem magnis sumptibus, arte parem. Mag der ruhmreiche Orient seine parthischen Pfeile preisen, webe du, Griechenland, weiches Gold in deine Mäntel, wenn nur der Ruhm nicht weniger das ausonische Sabinerland/ die Sabina des Ausonius feiert, das/ die sich zwar großen Aufwand spart, an Kunstfertigkeit aber ebenbürtig ist.

Vordergründig lobt das Ich durch den Vergleich mit dem griechischen Osten die Sabinerin, die stellvertretend für Rom steht: Orientalischem Luxus wird schlichte Schönheit gegenübergestellt. Der Leser jedoch, der weiß, dass die Frau des Ausonius Sabina hieß, wird in dieses Gedicht auch das Lob der Ehefrau, der Sabina des Ausonius hineinlesen. Paulinus verweist also mit nur einem Wort, in diesem Fall numerosus, auf einen bestimmten Prätext und lässt dann mit Hilfe des Signalwortes Ausonia gleichsam den Prätext selbst sprechen: Die von Ausonius geschickten Seiten und damit auch ihr Verfasser selbst sind rhythmenreich wie Horaz und seine Gedichte. Die Vorgehensweise des Paulinus setzt allerdings voraus, dass Au564 Vgl. z. B. Hülsen, Christian: Art. Ausonia, RE 2,2, 2561.

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Die numerosapagina und das triplexcarmen

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sonius als Rezipient auch eine so versteckte Reminiszenz erkennen kann. Tatsächlich spielt die Sphragis des vierten Tristien-Buches in der Dichtung des Ausonius eine herausragende Rolle. Ausonius nutzt sie in einer an den Leser gerichteten Praefatio, um sich auf ihrer Folie selbst als Dichter zu inszenieren. Wie Ovid beschreibt Ausonius einleitend seine Heimat und seine Familienverhältnisse, setzt seinen Beruf als Lehrer von dem Arztberuf des Vaters ab, führt dem Leser seine Laufbahn als Rhetor vor Augen und stellt sich schließlich in eine Reihe mit den großen Lehrern der römischen Antike: Mit Aemilius Asper, dem Kommentator des Terenz und Vergil, mit dem Grammatiker Terentius Scaurus, der Plautus und Vergil kommentiert hatte, und schließlich dem eruditissimus grammaticorum, Probus von Beirut.565 Die Vermutung, dass Ausonius die von Paulinus hinter dem Terminus numerosus verborgene Reminiszenz und ihren Gehalt erkannt hat, liegt nahe. In diesen Zusammenhang passt es hinein, dass pagina nicht nur für den Beschreibstoff, das einzelne Blatt Papyrus, sondern auch metonymisch für das Gedicht stehen kann: Die Junktur triplex carmen ist als Erläuterung der pagina numerosa zu verstehen. Der ganze Vers dient dazu, das hinter trina epistula Verborgene zu konkretisieren: Ein dreifacher Brief zeichnete sich durch sein vielfältiges Gewebe aus, und zwar war das rhythmenreiche Gedicht ein dreiteiliges Lied. Gleichzeitig bleibt aber die ursprüngliche Grundbedeutung der Junktur numerosa pagina erhalten. Sie schwingt gewissermaßen mit. Es ist durchaus möglich numerosus als Mengenangabe und pagina als kollektiven Singular in der Grundbedeutung zu verstehen. Der Vers dient in diesem Fall nicht nur zur Erläuterung der trina epistula, sondern greift auch das an die Stelle des Adverbs tretenden multiplicata aus v. 6 wieder auf: Der libellus brachte lange verwehrte Geschenke vielfältig: Denn ein dreifacher Brief zeichnete sich aus durch sein vielfältiges Gewebe, und zwar waren zahlreiche Seiten ein dreifaches Gedicht. Der Vers zeigt also deutlich, dass Paulinus dem Leser verschiedene Ebenen des Verständnisses eröffnet: Ein rhetorisch gebildeter und im Umgang mit den klassischen Autoren versierter Leser wie Ausonius wird numerosus nicht nur als rhetorischen Terminus deuten, sondern auch den zugrundelie565 Vgl. Auson. 1,1,1–8: Ausonius genitor nobis, ego nomine eodem;/ qui sim, qua secta stirpe lare et patria,/ ascripsi ut nosses, bone uir, quicumque fuisses,/ et notum memori me coleres animo./ uasates patria est patri, gens Aedua matri/ de patre, Tarbellis sed genetrix ab Aquis,/ ipse ego Burdigalae genitus: diuisa per urbes/ quattuor antiquas stirpis origo meae; 13–22: sed redeo ad seriem. genitor studuit medicinae,/ disciplinarum quae dedit una deum;/ nos ad grammaticen studium conuertimus et mox/ rhetorices etiam quod satis attigimus./ nec fora non celebrata mihi, sed cura docendi/ cultior, et nomen grammatici merui,/ non tam grande quidem, quo gloria nostra subiret/ Aemilium aut Scaurum Berytiumque Probum,/ sed quo nostrates, Aquitanica nomina, multos/ collatus, sed non subditus, aspicerem. Die einzelnen Bezüge zu Ov. trist. 4,10 sind im einzelnen noch nicht ausgiebig untersucht, vgl. aber grundsätzlich Luck (1977) 2,266.

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Die Inszenierung der Briefdichtung

genden ovidischen Prätext erkennen. Ein weniger gebildeter Leser oder Hörer wird in numerosus wenigstens eine Mengenangabe, vielleicht aber auch den rhetorischen Terminus erkennen. Wie sehr Paulinus und zu welchem Zweck er mit den Bedeutungen der Worte spielt, zeigt ein abschließender Blick auf den Begriff pagina.

6.5 Die Inszenierung: Das Wechselspiel von Brief und Dichtung Der zuletzt behandelte Vers zeigt exemplarisch, dass Paulinus dem Leser verschiedene Wege der Interpretation anbietet. Es ist möglich, ihn auf verschiedenen Ebenen zu lesen. Auf der darstellenden Ebene ist pagina als kollektiver Singular und numerosa entweder entsprechend als Mengenangabe oder aber als rhetorischer Terminus zu verstehen. Gleichermaßen kann pagina numerosa aber auch als Synonym für ein rhythmenreiches Gedicht verstanden werden. Auf eine andere Weise erschließt sich der Gehalt des Textes dem Leser schließlich dann, wenn er numerosus als rhetorischen Terminus technicus und als zugrundeliegenden Prätext die Sphragis im vierten Buch der Tristien erkennt: Die Gedichte des Ausonius sind, das ist die unter der Textoberfläche verborgene Aussage, rhythmisch so vielfältig wie die des Horaz. Was hier anhand eines Verses gezeigt wurde, gilt für die Beschreibung der empfangenen Briefe im Ganzen. Die Begriffe epistula und carmen sind, wie bereits erwähnt, die Fixpunkte in der kurzen Beschreibung: Die in den libelli enthaltenen Geschenke sind sowohl Brief als auch Gedicht. Im Spannungsfeld dieser Pole stehen die Begriffe charta, libellus und pagina, die in der Grundbedeutung den Beschreibstoff, d. h. den Papyrus oder die Papyrusrolle bezeichnen, übertragen aber metonymisch für den Brief, das Gedicht oder, im Falle von libellus, für das Gedichtbuch stehen können. Paulinus ermöglicht durch die Wahl der Synonyme auch an diesen Stellen mehrere Wege der Interpretation. Einerseits versetzen charta, libellus und pagina, als Synonyme für den Brief verstanden, die Gedichte des Ausonius in einen epistolaren Kontext, andererseits verdeutlichen aber gerade diese Begriffe in Verbindung mit Attributen wie salutifer, felix und numerosus den poetischen Charakter dieser Briefe. Dies gilt nun auch für die Beschreibung der vom poetischen Gegenüber geforderten Antwortschreiben im Brief des Ausonius. Anders als Paulinus setzt Ausonius bereits am Anfang des Briefes den epistolaren Rahmen durch das eindeutige epistula fest. Paulinus und Ausonius spielen beide mit den Möglichkeiten, die vieldeutigen Begriffen wie pagina, libellus und charta innewohnen. Insgesamt besehen ermöglichen die entsprechenden Verse des Ausonius und Paulinus daher weniger eine Aussage über die reale Chronologie des

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Die Inszenierung: Das Wechselspiel von Brief und Dichtung

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Briefwechsels, sie zeigen vielmehr, mit welchen Mitteln Ausonius und Paulinus ihre Briefe beschreiben und wie sie diese literarisch einordnen: Sie sind anspruchsvolle Gedichte, die in einem epistolaren Kontext stehen: Der literarische Text selbst wird zur Botschaft. Aufschlussreich für die Frage der Briefreihenfolge ist nun, dass Paulinus die Briefgedichte des Ausonius als literarische Einheit auffasst. Er versteht sie als dreifachen Brief und rhythmenreiches dreifaches Gedicht. Ergiebiger als die Frage, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Reihenfolge Ausonius die Briefe an Paulinus geschrieben hat, ist daher die Frage, wie sich diese drei Gedichte zueinander verhalten.

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7. Strukturen der Dichtung – Ausonius, Ovid und Vergil

7.1 Ausonius und Ovid – Metamorphosen einer Freundschaft An anderer Stelle wurde gezeigt, dass Ausonius das Briefgedicht Auson. 27,21 auf der Folie der ovidischen Exilelegie Ov. trist. 4,7, einer Klage über das lange Schweigen des Freundes, gestaltet.566 Die Ergebnisse der Analyse seien hier noch einmal kurz zusammengefasst: Formal markiert Ausonius den intertextuellen Bezug mit Hilfe verschiedener aus dem Originalkontext gelöster Textsegmente, die er in das Briefgedicht überträgt. Als eine zusätzliche intertextuelle Markierung wirkt die Struktur beider Gedichte: Auf die einleitende Klage folgt jeweils ein Katalog, der auf die zentrale Aussage der Gedichte hinführt: Der poeta exul des Ovid fürchtet, dass sich sein Freund verändert hat, der Ich-Sprecher des Ausonius ist sich sicher, dass sich Paulinus verändert hat. Die Briefgedichte des Ovid und Ausonius liegen inhaltlich, stilistisch und auch strukturell also nah beieinander. Das starke intertextuelle Signal, das Ausonius so am Anfang von Brief 21 setzt, bestätigt er am Ende von Brief 22, Auson. 27,22,32–35 Tu (sc. Pauline) contemne alios nec dedignare parentem affari uerbis. ego sum tuus altor et ille praeceptor primus, primus largitor honorum, 35 primus in Aonidum qui te collegia duxi. Du verachte andere und weigere dich nicht, deinen ›Vater‹ mit Worten anzusprechen. Ich bin dein Nährer und jener erste Lehrer, der erste, der dir Ämter verschafft hat, der erste, der dich in die Gemeinschaft der Aoniden eingeführt hat.

Formuliert ist die Schlusspassage des Briefes auf der Folie von Ov. trist. 3,7 und Pont. 4,3. In Tristien 3,7 wendet sich der poeta exul an die Dichterin Perilla. Er drängt sie seinem eigenen, auch durch die Dichtung verursachten Schicksal zum Trotz, ihre Studien wieder aufzunehmen und zur Dichtung zurückzukehren, Ov. trist. 3,7,29- 32 (ed. Hall 1995):

566 Vgl. Kap. 3.6.

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Ausonius und Ovid – Metamorphosen einer Freundschaft

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Pone, Perilla, metum; tantummodo femina nulla neue uir a scriptis discat amare tuis. ergo desidiae remoue, doctissima, causas inque bonas artes et tua sacra redi.

Lege, Perilla, die Furcht ab, solange nur keine Frau und kein Mann aus deinen Schriften zu lieben lernt. Schiebe also die Vorwände für das Nichtstun beiseite, gelehrte Dichterin, und kehr zu deinem Heiligtum, zur Kunst, zurück.

Zu verstehen ist diese Aufforderung vor dem Hintergrund, dass der poeta exul fürchtet, die Dichterin könne nach seiner Relegation das Dichten aus Furcht aufgeben.567 In den vorausgehenden Versen beschreibt der poeta sein Verhältnis zu Perilla in Worten, die Ausonius als Vorbild nutzt, Ov. trist. 3,7,11–18, 23–26 (ed. Hall 1995): ›Tu (sc. libelle) quoque‹ dic ›studiis communibus ecquid inhaeres, doctaque non patrio carmina more canis? nam tibi cum facie mores natura pudicos et raras dotes ingeniumque dedit. 15 hoc ego Pegasidas deduxi primus ad undas, ne male fecundae uena periret aquae; primus id aspexi teneris in uirginis annis, utque pater natae duxque comesque fui. (…) dum licuit, tua saepe mihi, tibi nostra legebam; saepe tuis iudex, saepe magister eram: 25 aut ego praebebam factis modo uersibus aures, aut ubi cessaras, causa ruboris eram.‹ Sage zu ihr (sc. Büchlein): ›Hängst du auch noch dem uns verbindenden Schaffen an und singst du, nicht nach heimischem Brauch, gelehrte Gedichte? Denn dir hat die Natur zusammen mit Schönheit einen reinen Charakter und seltene Gaben und Begabung verliehen. Ich habe als erster diese Begabung zur Musenquelle geführt, damit die Ader fruchtbaren Wassers nicht versiege. Ich habe als erster diese Begabung im zarten Alter eines Mädchens erkannt, und wie ein Vater der Tochter war ich dir Führer und Begleiter. (…) So lange es möglich war, hast du mir oft deine Werke, ich dir meine vorgelesen. Oft war ich deinen Werken ein Richter, oft ein Lehrer. Entweder lieh ich den gerade geschriebenen Werken ein Ohr, oder war, wenn du faul warst, Grund deiner Schamesröte.‹

Ausonius markiert die Beziehung zwischen den Texten auch an dieser Stelle, indem er mehrere Segmente aus dem ovidischen Prätext in den Kontext seines Briefgedichtes einbettet. Die Pegasidae undae Ovids ersetzt er durch die collegia Aonidum, pater verwandelt er in parens, dux in die Verbform ducere. Welche Funktion hat der intertextuelle Bezug zu speziell dieser Elegie im 567 Vgl. Ov. trist. 3,7,21–22: Sed uereor, ne te mea nunc fortuna retardet,/ postque meos casus sit tibi pectus iners.

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Strukturen der Dichtung – Ausonius, Ovid und Vergil

Kontext des poetischen Briefes an Paulinus? Erstens erweitert Ausonius den thematischen Rahmen seines eigenen Gedichtes. Denn mit Hilfe verschiedener Schlagwörter entwickelt er die Vorstellung eines idealisierten LehrerSchüler-Verhältnisses, auf dessen Basis der Ich-Sprecher das richtige Verhalten des Schülers einfordern kann. Innerhalb dieser Beziehung übernimmt er die Funktionen von parens, praeceptor, altor, largitor und dux, Paulinus die des Schülers. Die ovidische Folie, die an Perilla gerichtete Elegie, illustriert nun diese Beziehung zwischen Förderer und Protegé, sie ist der Hintergrund, auf dem sich das Verhältnis zwischen den Briefpartnern abbildet. Perilla wird in der Elegie als junges Mädchen dargestellt. Ihre Beziehung zu dem poeta exul ist gegründet auf gemeinsamen Studien, sie lebt von einem wechselseitigen Austausch literarischer Werke. Dennoch ist in dieser Beziehung eine Hierarchie erkennbar: Der poeta hat als erster das seltene Talent der jungen Dichterin erkannt und sie mit der Dichtung vertraut gemacht. Seinem Alter und seiner Erfahrung als Dichter entsprechend übernimmt er Funktionen als Richter und als Lehrer. Beschrieben wird also eine Beziehung zwischen Lehrer und Schülerin, deren Grundlage der Austausch von und das freundschaftliche Gespräch über Literatur ist. Ausonius stellt die Beziehung seines Ich-Sprechers zu Paulinus ähnlich idealisiert dar: Wie der poeta exul ist der Briefschreiber nicht nur praeceptor, sondern der primus praeceptor, derjenige also, der das Talent entdeckt und gefördert hat. Angelegt ist dieses Bild bereits in den früheren Briefen und Briefgedichten an Paulinus. In Brief 17 lobt der Briefschreiber den Freund überschwänglich für die gedichtete Version von Suetons heute verlorener Schrift De regibus, Auson. 27,17 [ep. 6 ed. Mondin 1995], 5–6: Haec tu quam perite et concinne, quam modulate et dulciter, ita iuxtam naturam Romanorum accentuum enuntiasti ut tamen ueris et primigeniis uocibus sua fastigia non perirent! iam quid de eloquentia dicam? liquido adiurare possum nullum tibi ad poeticam facundiam Romanae iuuentutis aequari: certe ita mihi uideri. si erro, pater sum, fer me et noli exigere iudicium obstante pietate. uerum ego cum pie diligam, sincere ac seuere iudico. affice me oro, tali munere frequenter, quo et oblector et honoror. Wie gelehrt und kunstreich, wie melodiös und klingend hast du dieses Gedicht in Übereinstimmung mit den Gesetzen der akzentuierenden römischen Metrik geschrieben, aber dennoch so, dass die eigentliche Wortbetonung erhalten blieb. Was soll ich also angemessenes über deine Eloquenz sagen? Ich kann dir versichern, dass keiner aus der römischen Jugend dich in der Dichtkunst übertrifft. Tatsächlich scheint es mir so zu sein. Sollte ich mich irren, dann betrachte mich als deinen Vater! Dann ertrage mich und fordere in Zukunft kein Urteil mehr von mir, denn meine Zuneigung vernebelt dieses. Aber da ich dich ja als Freund schätze, urteile ich ehrlich und streng. Schicke mir also weiterhin solche Geschenke, durch die ich erfreut und geehrt werde.

Ausonius setzt damit in dem ersten an Paulinus gerichteten Brief einen Rahmen, der auch im weiteren Verlauf der Briefsammlung gilt: Der in der Brief-

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sammlung beschriebene Paulinus erscheint, gleich ob man mit Green die Briefe chronologisch ordnet oder mit Mondin von einer literarischen Ordnung ausgeht, als hochbegabter Schüler, der Briefschreiber des Ausonius demgegenüber als wohlwollender Lehrer, Kritiker und Förderer.568 Der Brief Auson. 27,18 (ep. 5 ed. Mondin 1995) z. B. ist eine hexametrische Laudatio auf den politischen Erfolg und die unerschöpfliche poetische Begabung des jungen Schülers, der den um so viel älteren Lehrer in der Dichtkunst bei weitem übertrifft.569 Brief 19 ist ein Dank für zwei Geschenke, die Paulinus geschickt hat: Erstens eine kostbare Fischsoße, zweitens den Brief selbst und ein diesem zugefügtes Gedicht. Dieses zeichne sich so sehr aus durch iucunditas, inuentio und concinnitas, dass in Zukunft nichts Vergleichbares geschaffen werden könne. Dennoch will der Briefschreiber dem Wunsch des Paulinus folgen und das Gedicht gegenlesen. Damit der Briefbote nun aber nicht ohne ein Geschenk heimkehre, sollten dem Brief wenigstens einige schnell hingeworfene Jamben hinzugefügt werden.570 In dem nun folgenden iambischen Teil des Briefes spricht der Briefschreiber, ähnlich dem poeta der Exilelegie Ov. trist. 3,7, das Versmaß an: Der schnelle Iambus solle zu Paulinus eilen, bald dessen Grußwort hören und den Auftrag erhalten, dieses zu übermitteln. Er solle nicht verharren, sondern noch während er spreche zurückkehren,571 vorher aber Folgendes dem Schüler ausrichten, Auson. 27,19 (b) [ep. 8,2 ed. Mondin 1995] 23–28:

568 Zu den unterschiedlichen Ansätzen, die Briefe zu ordnen vgl. Kap. 5.3. 569 Vgl. Auson. 27,18 [ep. 5 ed. Mondin 1995]) passim, bes. 7–12. 570 Vgl. Auson. 27,19 (a) [ep. 8,1,5–8 ed. Mondin 1995]: Sed hoc atque alia huiusmodi documenta liberalis animi aliquis fortasse et aliquando, quamuis rarus: illud de epistularum tuarum eruditione, de poematis iucunditate, de inuentione et concinnatione iuro omnia nulli umquam imitabile futurum, esto fateatur imitandum. (6) de quo opusculo, ut iubes, faciam: exquisitim uniuersa limabo et quamuis per te manus summa contigerit, caelum superfluae expolitionis adhibebo, magis ut tibi paream, quam ut perfectis aliquid adiciam. (7) interea tamen, ne sine corollario poetico tabellarius tuus rediret, paucis iambicis praeludendum putaui, dum illud, quod a me heroico metro desideras, incohatur. (8) isti tamen, ita te et Hesperium saluos habeam, quod spatio lucubratiunculae unius effusi (quamquam hoc ipsi de se probabunt) tamen nihil diligentiae ulterioris habuerunt. uale. 571 Vgl Auson. 27,19 (b) (ed. Green [8, 2 ed. Mondin]) 1–7: Iambe, Parthis et Cydonum spiculis,/ Iambe, pinnis alitum uelocior,/ Padi ruentis impetu torrentior,/ magna sonorae grandinis ui densior,/ flammis corusci fulgoris uibratior,/ iam nunc per auras Persei talaribus/ petasoque ditis Arcados uectus uola; 14–23: fer hanc salutem praepes et uolucripes/ Paulini ad usque moenia, Ebromagum loquor,/ et protinus, iam si resumptis uiribus/ alacri refecti corporis motu uiget,/ saluere iussum mox reposce mutuum./ nihil moreris iamque dum loquor redi,/ imitatus illum stirpis auctorem tuae,/ triplici furentem qui Chimaeram incendio/ superuolauit tutus igne proximo. Vgl. dazu den Anfang von Ov. trist. 3,7,1–2: Vade salutatum, subito perarata, Perillam,/ littera, sermonis fida ministra mei.

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Strukturen der Dichtung – Ausonius, Ovid und Vergil

Dic (sc. libelle) › ualere‹, dic ›saluere te iubet amicus et uicinus et fautor tuus, 25 honoris auctor, altor ingenii tui.‹ dic et ›magister‹, dic ›parens‹, dic omnia blanda atque sancta caritatis nomina, ›aue‹que dicto dic ›uale‹ actutum et redi. Sage (sc. Büchlein): ›Dass es dir gut geht‹, sage ›dass du gesund bist, befiehlt dein Freund und dein Nachbar und dein Förderer, der Urheber deiner Ämterlaufbahn, der Nährer deines Talents.‹ Nenne auch den Lehrer und den Vater, nenne alle schönen und heiligen Namen der Freundschaft, sage ›sei gegrüßt‹ und, nachdem es gesagt ist, ›lebe wohl‹ sogleich und kehre zurück.

Hier verbinden sich die verschiedenen Linien, mit denen Ausonius die Beziehung zwischen dem Briefschreiber und Paulinus nachzeichnet. Der Briefschreiber stilisiert sich in Worten, die denen der Schlusspassage in Brief 22 ähneln, als Freund und Förderer des politischen und künstlerischen Talents, er ist Lehrer und Vater. Ausonius geht nun in Brief 22, was die Beschreibung der Beziehung zu Paulinus betrifft, noch einen Schritt weiter. Er hebt sie durch einen Rückgriff auf das Prooemium des dritten Buches De rerum natura des Lukrez, in dem der Dichter Epikur als geistigen Vater, Lehrer und Nährer feiert, auf eine philosophische Ebene, Lucr. 3,1–13: E tenebris tantis tam clarum extollere lumen qui primus potuisti inlustrans commoda uitae, te sequor, o Graiae gentis decus, inque tuis nunc ficta pedum pono pressis uestigia signis, 5 non ita certandi cupidus quam propter amorem quod te imitari aueo. quid enim contendat hirundo cycnis, aut quidnam tremulis facere artubus haedi consimile in cursu possint et fortis equi uis? tu pater es, rerum inuentor, tu patria nobis, 10 suppeditas praecepta, tuisque ex, inclute, chartis, floriferis ut apes in saltibus omnia libant omnia nos itidem depascimur aurea dicta, aurea, perpetua semper dignissima uita. Der du zuerst aus der tiefen Finsternis so leuchtend die Fackel hoch zu erheben vermocht hast, der du als erster vermocht hast, die Güter des Lebens zu zeigen, dir, o Zierde des griechischen Volkes, dir folge ich nach und setze den Fuß in die Spuren, die du in den Boden gedrückt hast – nicht so begierig zu wetteifern als vielmehr aus Liebe, weil ich dafür brenne, dir nachzustreben. Denn wie könnte mit dem Schwan die Schwalbe sich vergleichen, oder wie könnte es der Bock mit zitternden Gliedern im Lauf mit der starken Kraft des Pferdes aufnehmen? Du bist der Vater, der Entdecker der Dinge, du bist uns Heimat, du gibst uns Vorschriften, und von deinen Schriften, Verehrter, weiden wir, wie die Bienen in den blumentragenden Wäldern alles saugen, alle goldenen Worte ab, goldene, die des ewigen Lebens am würdigsten sind.

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Ausonius und Ovid – Metamorphosen einer Freundschaft

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Epikur ist für den Lehrdichter derjenige, der das Licht der Vernunft in der Dunkelheit hat aufleuchten lassen. Er ist geistiger Vater, der Erfinder der Dinge, der den Lehrdichter wie ein Vater unterweist. Aus seinen Schriften weidet er alle goldenen Worte ab. Ausonius greift nun einzelne zentrale Bestandteile des hier durchgeführten pater-Motivs auf: Das lukrezische qui primus wird verändert in primus … qui, pater und patria werden aufgenommen in parens, praecepta wird aufgenommen in praeceptor, depascimur schließlich in altor.572 Anders als der lukrezische Lehrdichter versetzt sich der Ich-Sprecher bei Ausonius allerdings nicht in die Situation des Schülers, sondern in die des Lehrers. Mit Hilfe zweier klassischer, bekannter Prätexte, einer Elegie des Ovid und des Lehrgedichts des Lukrez, präsentiert sich der Ich-Sprecher also als intellektueller Vater im Geiste, der Paulinus durch seine Worte und Lehren erzieht und nährt und zum politischen wie literarischen Erfolg führt. Dieses von Lukrez, Ovid und schließlich Ausonius beschriebene Lehrer-Schüler-Verhältnis ist sowohl in der Bildungsgeschichte als auch in der Literatur der Antike fest verankert. Quintilian fordert in der Institutio Oratoria, dass Schüler ihre Lehrer nicht weniger als die Studien lieben und sie als ihre geistigen Väter, als parentes non quidem corporum sed mentium, anerkennen sollten; diese Form der pietas sei von großem Nutzen für das eifrige Lernen.573 Das Motiv des pater und filius mentis spielt allgemein in der antiken und spätantiken Briefliteratur eine bedeutende Rolle, 572 Die Markierung des intertextuellen Bezugs ist im Verglich mit den Reminiszenzen, die auf Ov. trist. 3,7 (und, wie zu zeigen sein wird, Ov. Pont. 4,3) verweisen, weniger deutlich. Dass Ausonius hier nicht direkt auf Lukrez, sondern auf ursprünglich lukrezische, aber topisch gewordene Motive zurückgreift, ist dennoch unwahrscheinlich. Ausonius kannte Lukrez sehr gut, wie z. B. der Fluch auf den schlechten Ratgeber Auson. 27,21,63–68 zeigt, der eng angelehnt ist an eine Naturschilderung in Lucr. 5,1384 -1398 (dazu Mondin, 1995, 263). Paulinus vermochte die Reminiszenzen außerdem zu erkennen und nutzte dieselbe Lukrezstelle Paul. Nol. carm. 10,93–96, außerdem in anderer Weise carm. 11,35–43. Der Leser ist überdies auf Lukrez vorbereitet, denn bereits Auson. 27,18 stellt sich Ausonius in die literarische Tradition des Lukrez, wenn der Briefschreiber sein Talent mit dem des Paulinus vergleicht, Auson. 27,18 (ed. Green [ep. 5 ed. Mondin 1995]), 7–12: Longaeuae tantum superamus honore senectae./ quid refert? cornix non ideo ante cygnum,/ nec quia mille annos uiuit Gangeticus ales/ uincit centum oculos, regie pavo, tuos./ cedimus ingenio, quantum praecedimus aeuo;/ assurgit Musae nostra Camena tuae. Die angeführten Vergleiche zwischen der Krähe als einem Symbol für hohes Alter und dem Schwan als Symbol für die Dichtkunst in v. 8 und die Gegenüberstellung von dem ewiges Leben symbolisierenden Phoenix und dem für seine Schönheit gerühmten Pfau in den Versen 9 und 10 verweisen auf den von Lukrez angeführten Vergleich zwischen dem Schüler ›Lukrez‹ als einer Schwalbe und dem Lehrer ›Epikur‹ als einen Schwan, vgl. Lucr. 3,6–7. Zu Vogelvergleichen in der antiken Dichtung vgl. die Übersicht bei Mondin (1995) 110–111. 573 Quint. inst. 2,9,1–2: Plura de officio docentium locutus discipulos id unum interim moneo, ut praeceptores suos non minus quam ipsa studia ament, et parentes esse non quidem corporum sed mentium credant. multum haec pietas conferet studio.

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und zwar immer dann, wenn zumeist der ältere Briefpartner in der Rolle des Lehrers gesehen wird. Das ist der Fall, wenn Marcus Aurelius an Fronto schreibt574 oder wenn Paulinus den früheren Schüler des Augustinus, Licentius, ermahnt, von einer Karriere im Staatsdienst zu Gunsten einer Karriere als uere pontifex und uere consul der Kirche abzusehen, und die mahnenden Stimmen des Augustinus, Alypius und seiner selbst als ueridicos monitus patris Augustini, uerba patrum und consilium senum bezeichnet.575 Ausonius erweitert demnach in der abschließenden Passage von Brief 22 den thematischen Rahmen um einen Aspekt: Der angesprochene Freund bleibt Schüler und ist deshalb zwar auch den Gesetzen der amicitia, in erster Linie aber der dem Lehrer geschuldeten pietas verpflichtet. Die intertextuellen Verweise auf die Perilla-Elegie und das Lukrez-Prooemium veranschaulichen dem Leser also den kulturellen und den literarischen Horizont der Beziehung zwischen dem Briefschreiber und seinem literarischen Gegenüber. Darüber hinaus zielt Ausonius mit Hilfe der Ovid-Reminiszenz auch auf die zentrale Aussage der gesamten ovidischen Elegie. Denn der Appell des poeta exul – inque bonas artes et tua sacra redi (Ov. trist. 3,7,32) – erinnert den Leser deutlich an das Ende des ersten Ausonius-Briefes. Dort bittet der Ich-Sprecher die Musen darum, den Freund und Dichter zur lateinischen Dichtung zurückzubringen, Auson. 27,21,73–74: Haec precor, hanc uocem, Boeotia numina, Musae, accipite et Latiis uatem reuocate Camenis. Darum bitte ich, dieses Gebet, Musen, ihr Gottheiten Boeotiens, vernehmt und ruft den Dichter zu den Camenen Latiums zurück.

Ausonius schlägt also mit Hilfe des intertextuellen Bezugs inhaltlich den Bogen zum letzten Verspaar des ersten Briefes, zum Appell an die Musen, und verbindet auf diese Weise das Ende des zweiten mit dem Ende des ersten Briefgedichtes. Auch das ist eine raffinierte Form von Intertextualität. Zusätzlich verstärkt wird die intertextuelle Verbindung der beiden Briefgedichte durch den Bezug auf eine Elegie aus den Epistulae ex Ponto. In Ov. Pont. 4,3 klagt der poeta exul über einen Freund, der ihn trotz ihrer langen Freundschaft zu verlassen scheint, Ov. Pont. 4,3,11–18: 574 Vgl. Front. 1,6,9: Vale, disertissime, doctissime, mihi carissime, dulcissime, magister optatissime, amice desiderantissime. 575 Vgl. Paul. Nol. ep. 8,1: Vere enim pontifex et uere consul Licentius erit, si Augustini uestigiis, propheticis et apostolicis disciplinis, ut sacrato beatus Elisaeus Eliae, ut inlustri apostolo Timotheus adolescens, adhaereas indiuulso per itinera diuina comitatu. ut et sacerdotium corde perfecto discas mereri et populis ad salutem magistro ore consulere; ep. 8 [elegischer Teil], 23– 27: Tunc reminisceris frustra patris Augustini/ contempsisse dolens ueridicos monitus./ quare si sapiens et si pius es, puer, audi/ et cape uerba patrum consiliumque senum.

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Ausonius und Ovid – Metamorphosen einer Freundschaft

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Ille ego sum, quamquam non uis audire, uetusta paene puer puero iunctus amicitia: ille ego, qui primus tua seria nosse solebam et tibi iucundis primus adesse iocis: 15 ille ego conuictor densoque domesticus usu, ille ego iudiciis unica Musa tuis. ille ego sum, qui nunc an uiuam, perfide, nescis, cura tibi de quo quaerere nulla fuit. Ich bin der, auch wenn du es nicht hören willst, der sich als Kind schon dem Kind in alter Freundschaft verband. Ich bin der, der für gewöhnlich als erster deine ernsten Gedanken kannte und als erster mit dir lustige Scherze teilte: Ich war dein Freund in vertrautem Umgang, ich allein war nach deinem Urteil ein Dichter. Ich bin der, von dem du jetzt, Treuloser, nicht weißt, ob ich lebe, nach dem zu fragen dir nicht mehr wichtig ist.

Ille ego sum beginnt der poeta in v. 11 eine Aufzählung seiner eigenen Verdienste. Er, der poeta, sei es gewesen, der Kummer und Freude mit dem Freund geteilt habe, der bei ihm ein- und ausgegangen sei, der allein als Dichter vor ihm habe bestehen können, nun aber von ihm vergessen werde. Erneut markiert Ausonius die Reminiszenz auf für ihn typische Weise: Er verändert ille ego sum in ego sum ille und verwendet primus zweimal.576 Darüber hinaus ähnelt die in der Elegie beschriebene Freundschaft wieder dem Bild, das Ausonius in den früher entstandenen Briefen und Briefgedichten von seiner persona und Paulinus entwirft. Wie der poeta exul kennt der Ich-Sprecher Paulinus von Kindesbeinen an, weiß alles über ihn, fördert die Dichtkunst des Freundes und tritt in fast jedem Briefgedicht als Lehrer und Richter dieser Dichtkunst auf.577 Anders als zuvor rückt Ausonius jetzt aber nicht das Verhältnis von Lehrer und Schüler in der Vordergrund, sondern das Verhältnis zweier Freunde. Auf den Kontext des Briefgedichtes übertragen ergänzen sich so die Mahnung an Perilla und der Klagebrief an den Freund. Außerdem weist Ausonius mit Hilfe der Elegie Ov. Pont. 4,3 zurück auf die Ov. trist. 4,7, die Elegie also, die er als Folie für das erste Briefgedicht an Paulinus verwendet. Wie schon in trist. 4,7 spricht der poeta exul auch in Pont. 4,3 eine Veränderung des Freundes an, allerdings verschärft sich, wie ich bereits an anderer Stelle gezeigt habe,578 die Aussage deutlich, Ov. Pont. 4,3,17–24: Ille ego sum, qui nunc an uiuam, perfide, nescis, cura tibi de quo quaerere nulla fuit. siue fui numquam carus, simulasse fateris: 576 Vgl. Auson. 27,22,33–35: Ego sum tuus altor et ille/ praeceptor primus, primus largitor honorum,/ primus in Aonidum qui te collegia duxi. 577 Vgl. dieses Kapitel oben. 578 Vgl. Rücker (2009) passim.

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Strukturen der Dichtung – Ausonius, Ovid und Vergil

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seu non fingebas, inueniere leuis. aut age, dic aliquam, quae te mutauerit, iram: nam nisi iusta tua est, iusta querela mea est.

Ich bin derjenige, von dem du jetzt, Treuloser, nicht weißt, ob ich noch lebe, nach dem zu fragen dir kein Anliegen ist. Sei es, dass ich dir niemals etwas wert war, dann gestehst du, geheuchelt zu haben, sei es, dass du nicht vorgetäuscht hast, dann wirst für schwankend du befunden. Oder nenne mir doch irgendeinen Groll, der dich verändert hat. Denn wenn deine nicht gerecht ist, dann ist meine Klage gerecht.

In Ov. trist. 4,7 fürchtet der poeta exul, der Freund könnte sich verändert haben. In Ov. Pont. 4,3 muss er sich eingestehen, dass der Freund sich verändert hat: Die Verwandlung ist abgeschlossen. Zorn hat den Freund verändert. Ausonius scheint also tatsächlich mit Hilfe der Reminiszenzen eine Verbindung zwischen den Elegien Ov. trist. 4,7 und Pont. 4,3 herzustellen und im Kontext des Briefwechsels Ov. Pont. 4,3 als Fortsetzung von Ov. trist. 4,7 zu lesen. Zumindest rahmen die Exilelegien als literarische Vorbilder die Kritik an der charakterlichen Veränderung des Paulinus und erläutern sie so. Denn sie helfen dem außenstehenden Leser, Einblick in das Verhältnis der Protagonisten zu nehmen und zu begreifen, mit welchem Recht der IchSprecher den abtrünnigen Freund Paulinus kritisieren und von ihm ein anderes Verhalten fordern kann. Mit Blick auf die Struktur der Briefgedichte fällt auf, dass die Exilelegien des Ovid in ihrer Funktion als literarische Folien den Briefgedichten 21 und 22 Rahmen und Struktur verleihen. Dem Anfang von Brief 21 und dem Ende von Brief 22, besonders hervorgehobenen Stellen innerhalb der Gedichte also, liegen Prätexte zugrunde, die in gewisser Weise selbst miteinander interagieren. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Ende von Brief 21 und dem Anfang von Brief 22.

7.2 Ausonius und Vergil – Der Fluch und der Heimweg Am Ende von Brief 21 formuliert Ausonius einen emphatischen Musenanruf, Auson. 27,21,73–74: Haec precor, hanc uocem, Boeotia numina, Musae, accipite et Latiis uatem reuocate Camenis. Darum bitte ich, dieses Gebet, Musen, ihr Gottheiten Boeotiens, vernehmt und ruft den Dichter zu den Camenen Latiums zurück.

Der Dichter erinnert so an den Fluch, den Dido kurz vor ihrem Tod gegen Aeneas ausspricht, Verg. Aen. 4,607–621:

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Ausonius und Vergil – Der Fluch und der Heimweg

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Sol, qui terrarum flammis opera omnia lustras, tuque harum interpres curarum et conscia Iuno, nocturnisque Hecate triuiis ululata per urbes 610 et Dirae ultrices et di morientis Elissae, accipite haec, meritumque malis aduertite numen et nostras audite preces. si tangere portus infandum caput ac terris adnare necessest, et sic fata Iouis poscunt, hic terminus haeret: 615 at bello audacis populi uexatus et armis, finibus extorris, complexu auulsus Iuli auxilium imploret uideatque indigna suorum funera; nec, cum se sub leges pacis iniquae tradiderit, regno aut optata luce fruatur, 620 sed cadat ante diem mediaque inhumatus harena. haec precor, hanc uocem extremam cum sanguine fundo. Sol, der du alles Tun auf der Erde mit deinen Flammen durchwanderst, und du, Juno, Vermittlerin und Mitwisserin der Sorgen, Hekate, in Städten bei Nacht an Kreuzwegen mit Heulen verehrt, ihr Rachegöttinnen und ihr Götter der sterbenden Dido, nehmt meine Klagen an und wendet eure Macht den Übeln verdientermaßen entgegen und erhört mein Flehen. Muss sein unsägliches Haupt doch erreichen den Hafen und sicher anlanden an der Küste, so fordern es ja die Schicksalssprüche Juppiters, bleibt dies doch die Grenze: Gequält durch den Krieg und durch Waffengänge mit einem kühnen Volk, verbannt aus seinem Land, entrissen der Umarmung des Julus, soll er um Hilfe flehn und die unwürdigen Begräbnisse der Gefährten mitansehen; und, wenn er sich unter die Gesetze harten Friedens gebeugt hat, soll er sich nicht an Herrschaft und Leben erfreuen, sondern fallen vor dem Tag, unbestattet, am Strand. Das bitte ich, dieses letzte Gebet verströme ich mit meinem Blut.

Ausonius markiert den Bezug zu Vergil, indem er in v. 73 vier Wörter aus Verg. Aen. 4,621 unverändert übernimmt: haec precor, hanc uocem. Dieses Signal bestätigt er durch accipite, das er aus Verg. Aen. 4,611 löst und an derselben Versposition in seinen Text einsetzt. In dem so evozierten Abschnitt ruft Dido Apoll und dunkle Gottheiten, Hekate Trivia, die rächenden Furien, alle Götter der sterbenden Königin an. Sie sollen ihre Gebete erhören und Aeneas mit dem Unglück schlagen, das er über sie gebracht hat: Wenn er, wie es der Wille Juppiters ist, seine Bestimmung erfüllt hat, soll er Krieg erdulden, den Tod der Gefährten mit ansehen müssen und schließlich am Strand einen einsamen Tod sterben und unbestattet bleiben. Der Fluch der Dido sollte sich erfüllen: Bei Livius stirbt Aeneas tatsächlich drei Jahre nach dem Frieden mit den Latinern in einer Schlacht am Fluss Numicus.579 Sein Leichnam bleibt unauffindbar, er selbst unbestattet. Ausonius wählt eine sehr düstere Szene als literarisches Vorbild, die jedoch deutliche Parallelen zur Situation des Briefschreibers aufweist: Denn so wie Dido von Aeneas wird auch der Ich-Sprecher von Paulinus verlassen. Gleichzeitig werden aber 579 Vgl. Livius 1,2,6; Serv. Aen. 4,616–623.

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Strukturen der Dichtung – Ausonius, Ovid und Vergil

auch Unterschiede deutlich: Zwar wählt Ausonius eine düstere Szene als Vorlage, aber der Ich-Sprecher wendet sich nicht an die Furien oder Hekate, sondern an die Musen. Er verflucht den Freund nicht, sondern bittet vielmehr um seine Rückkehr in die Aquitania Secunda und zur römischen Dichtung. Ausonius gestaltet das Ende von Brief 21 also offen. Im Vordergrund steht die inuocatio Musarum, unter der Textoberfläche jedoch droht der Fluch der Dido. Rückkehr und Verderben scheinen gleichermaßen möglich. Wie Paulinus die Rückkehr gelingen kann, zeigt Ausonius mit dem Beginn des folgenden Briefgedichtes, Auson. 27,22,1–3: Proxima quae nostrae fuerat querimonia chartae credideram quod te, Pauline, inflectere posset eliceretque tuam blanda obiurgatio uocem. Ich hatte geglaubt, dass die Klage meines letzten Briefes dich, Paulinus, hätte umstimmen können und dass schön verpackter Tadel eine Antwort aus dir herauslocken würde.

Wie die erneute Klage über das Schweigen mit der Rückkehr des Freundes zusammenhängt, verdeutlicht eine Vergil-Reminiszenz, die es ermöglicht, den Text auf andere Weise zu lesen. Die erste Hälfte des ersten Verses proxima quae nostrae verweist den Leser sehr deutlich auf die Weissagung des Sehers Helenus im dritten Buch der Aeneis. Dort berichtet Aeneas von seinen Irrfahrten. Nach etlichen Zwischenstationen und verwirrenden Orakeln gelangte er schließlich auch nach Buthrotum, das der Krieger und Seher Helenus zu einem neuen Troja erbaut hatte.580 Von Sorgen geplagt, bittet Aeneas den Seher um Rat, welchem Weg er nach den verwirrenden Göttersprüchen folgen, wie er Gefahren begegnen soll.581 Helenus verkündet und erklärt das Apollon-Orakel, weist den Weg, spricht mögliche Gefahren offen an, stellt ihn unter den Schutz des Apollon und spricht in diesem Rahmen eine eindringliche Warnung aus, Verg. Aen. 3,395–398: Fata uiam inuenient aderitque uocatus Apollo. has autem terras Italique hanc litoris oram proxima quae nostri perfunditur aequoris aestu effuge; cuncta malis habitantur moenia Grais. Das Schicksal findet den Weg und Apoll wird helfen, wenn du ihn rufst. Die Länder aber und die Küste des italischen Strandes, die als nächste von unserem Meer umtost werden, fliehe. Dort werden alle Städte von verdorbenen Griechen bewohnt.

580 Zu den Irrfahrten vgl. Verg. Aen. 3,192–267. Die Stadt Buthrotum wird beschrieben Verg. Aen. 3,346–355. 581 Verg. Aen. 3,359–368.

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Ausonius und Vergil – Der Fluch und der Heimweg

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Das intertextuelle Signal ist leicht zu erkennen. Die erste Hälfte des Verses Verg. Aen. 3,397 überträgt Ausonius fast wörtlich in seinen Text. Allein nostri ändert er in nostrae. Nahezu fugenlos passt sich nun der Prätext, die Warnung des Helenus, in das Briefgedicht an Paulinus ein. Denn Helenus warnt Aeneas davor, den Teil Italiens aufzusuchen, den Paulinus zukünftig bewohnen wird: die magna Graecia in Süditalien. Offenbar besetzen hier der Dichter Ausonius und sein Ich-Sprecher die Rolle des ratgebenden uates Helenus, während Paulinus in die des umherirrenden Aeneas gedrängt wird. Diese Parallele bestätigt sich, wenn man das Umfeld des Prätexts in die Interpretation einbezieht, d. h. die Weissagung des Helenus und das dritte Buch der Aeneis insgesamt. Bestimmend für das Buch der Irrfahrten ist, dass die Trojaner, und besonders Aeneas, hin- und hergerissen sind zwischen Hoffnung und Verzweifeln: Einerseits hoffen sie auf die neue, ihnen zugesagte Heimat, andererseits interpretieren sie die Göttersprüche falsch und schlagen aus diesem Grund Irrwege ein.582 Diese dramatischen Eckpfeiler, zwischen denen sich die Handlung des dritten Buches abspielt, greift nun auch Helenus in seiner Weissagung auf. Er lässt keinen Zweifel daran, dass die Irrfahrten der Trojaner dem Willen der Götter entsprechen, versichert Aeneas aber gleichzeitig, dass er einen Weg nach Italien finden werde, Verg. Aen. 3,374–380: Nate dea (nam te maioribus ire per altum 375 auspiciis manifesta fides, sic fata deum rex sortitur uoluitque uices, is uertitur ordo), pauca tibi e multis, quo tutior hospita lustres aequora et Ausonio possis considere portu, expediam dictis: prohibent nam cetera Parcae 380 scire Helenum farique uetat Saturnia Iuno. Sohn der Göttin – offenbar befährst du auf höhere Weisung das Meer, dieses Los hat dir der König der Götter zugedacht und dieses Schicksal dir bestimmt, so dreht sich der Kreis – weniges aus vielem werde ich dir sagen, damit du sicherer ruhiges Meer überquerst und im italischen Hafen einlaufen kannst. Denn das übrige zu wissen verbieten die Parzen und es auszusprechen verbietet die saturnische Juno.

582 Das Spannungsfeld von göttlicher Vorsehung, Hoffnung auf Heimat und menschlicher Verzweiflung zeigt bereits der Anfang des dritten Buches: Aeneas und seine Gefährten wissen aufgrund der Weissagung der Kreusa am Ende von Verg. Aen. 2,780–782 dass ihre Fahrt göttlichem Willen entspricht und ein Ziel hat. Welches Ziel sie hat, wissen sie nicht. Entsprechend schliesst Aeneas die Einleitung seines Fahrtenberichts mit der Bemerkung, zusammen mit den Gefährten, dem Sohn und den Göttern der Heimat werde er auf das Meer verbannt (Verg. Aen. 3,4–12). Darauf folgen Irrfahrten, falsch verstandene Orakel und anderes mehr, das eine erfolgreiche Landnahme verhindert und den Zweifel des Aeneas verstärkt.

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Strukturen der Dichtung – Ausonius, Ovid und Vergil

Aeneas und seine Gefährten irren nach dem Willen der Götter über das Meer, und nur weniges kann Helenus dem Helden mitteilen, damit er sicher den italischen Hafen erreicht. Alles weitere zu verraten, ist ihm verboten. Wichtig für das Zusammenspiel von Epos und Briefgedicht ist in diesem Zusammenhang besonders das Adjektiv Ausonius, das im Kontext des Briefgedichtes einen neuen Sinn entfaltet. Wie bereits an anderer Stelle beschrieben, nutzt Ausonius das Adjektiv, das ursprünglich die Zugehörigkeit einer Person oder Sache zum Stamm der Auruncer beschreibt und in kaiserzeitlicher Dichtung als Synonym für ›italisch‹ dient, häufiger zum literarischen Spiel mit seinem eigenen Cognomen.583 Bezieht man nun mit Blick auf ein mögliches literarisches Spiel die Wendung Ausonio possis considere portu in die Interpretation ein, zeigt sich erneut die Verbindung zwischen dem uates Helenus und dem Ich-Sprecher auf der einen und den Helden Aeneas und Paulinus auf der anderen Seite. Wie Aeneas befährt auch Paulinus maioribus auspiciis das Meer, wie Aeneas belasten ihn offenbar Sorgen. Wie Aeneas kann aber auch Paulinus sicher den rettenden Hafen, die Heimat erreichen, wenn er den Ratschlägen des uates Gehör schenkt. Der vergilische Kontext entfaltet also eine Wirkung im Briefgedicht. Allerdings ändert sich die Aussage des Vergil-Textes aufgrund der Doppeldeutigkeit des Adjektivs Ausonius, es entfaltet eine zweifache Wertigkeit. Der ausonische Hafen, in den Paulinus einlaufen soll, liegt in Italien und Rom, das der Ich-Sprecher am Ende von Brief 21 durch das Gebet an die Camenen Latiums zur geistigen Heimat des Adressaten erklärt. Aber gleichzeitig ruft der Prätext Paulinus zurück in seine geographische Heimat, die nicht in Süditalien, sondern in Südgallien, in der Aquitania Secunda liegt. Rom als geistige und die Aquitania Secunda als geographische Heimat werden als zwei Seiten derselben Medaille gedacht. Eine Rückkehr zu Ausonius bedeutet eine Rückkehr in die Welt der römischen Dichtung und eine Rückkehr zu ihren Werten. Dass es tatsächlich möglich ist, Prätext und Briefgedicht in dieser Weise zusammen zu lesen, zeigt schließlich das Antwortschreiben des Paulinus, Paul. Nol. carm. 10. Im epodischen Teil des Briefgedichtes, den Versen 19– 101, rechtfertigt Paulinus den Rückzug aus der Welt theologisch und entwickelt ein eigenes Literaturideal, das er dem des Ausonius gegenüberstellt. Dichtung darf nicht um ihrer selbst oder um der Kunst willen geschrieben werden, sie muss vielmehr wie jede andere Tätigkeit des Christen im Dienste Gottes stehen und zur Verbreitung des christlichen Heils beitragen.584 Am Beginn der Epoden steht eine scharfe Erwiderung auf die inuocatio Musarum des Ausonius, Paul. Nol. carm. 10,19–22:

583 Vgl. das Epigramm Auson. 27 (ed. Kay), 1–4 und dazu Kap. 6.4. 584 Eine gute Zusammenfassung des iambischen Teils bietet vor allem Filosini (2008) 48– 52; zum christlichen Literaturideal des Paulinus vgl. Skeb (1997) 86–147.

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Ausonius und Vergil – Der Fluch und der Heimweg

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Quid abdicatas in meam curam, pater, redire Musas praecipis? negant Camenis nec patent Apollini dicata Christo pectora. Was verlangst du, ›Vater‹, daß ich mich wieder um verworfene Musen kümmern soll? Herzen, die Christus geweiht sind, verweigern sich den Camenen und sind Apoll verschlossen.

Indem Paulinus die abdicatae Musae den dicata Christo pectora gegenüberstellt, nimmt er das Ergebnis der folgenden Argumentation vorweg: Ein traditionelles Literaturverständnis und heidnische Dichtung sind mit einem Leben als Christ unvereinbar. In der Vergangenheit, so fährt der Ich-Sprecher fort, hätten Ausonius und er einträchtig den tauben Apoll und die Musen wie Gottheiten angerufen und aus Bergwäldern die Gabe zu reden – eine Gottesgabe – erbeten.585 Jetzt aber verhalte es sich anders, Paul. Nol. Carm. 10,29–32 (ed. Filosini 2008): 30

Nunc alia mentem uis agit, maior deus, aliosque mores postulat sibi reposcens † ab homine † munus suum, uiuamus ut uitae patri.586

Eine andere Macht treibt jetzt meinen Sinn an, ein größerer Gott, einen anderen Charakter fordert er, für sich fordert er vom Menschen seine Gabe zurück, damit wir, für ihn, den Vater des Lebens, leben.

Paulinus antwortet hier auf den Vorwurf des Ausonius, sein Charakter habe sich geändert:587 Die charakterliche Neuorientierung auf Gott und seine Forderungen hin ist, so Paulinus, wesentlich für seinen neuen Lebensweg. Damit bereitet er einen Gedanken vor, der die Epoden im folgenden wie ein roter Faden durchzieht: Alles, was Gott dem Menschen schenkt, muss Gott zurückerstattet, in seinen Dienst gestellt und für das Heil des Menschen eingesetzt werden. Dazu gehört das geistige Vermögen des Menschen ebenso wie sein materielles Vermögen. Aus diesem Grund darf sich der Christ nicht mit den Märchen der Dichter und der Rhetorik der Philosophen befassen, denn sie vernebeln die Herzen der Menschen mit Erlogenem und Nichtigkeiten, schulen nur seine Sprachfähigkeit zu zweifelhaftem Ruhm und tragen 585 Paul. Nol. carm. 10,23–28: Fuit ista quondam non ope, sed studio pari/ tecum mihi concordia/ ciere surdum Delphica Phoebum specu,/ uocare Musas numina/ fandique munus munere indultum dei/ petere e nemoribus aut iugis. 586 Der Ablativ ab homine passt sich nicht in das Metrum ein, Hartel konjizierte aus dem Grund a suo: Gott fordere von dem, was sein eigen sei, also vom Menschen sein Geschenk zurück. Filosini (2008) 105–106 spricht sich ebenfalls für a suo aus, verweist jedoch zu Recht darauf, dass das Problem im Grunde nicht lösbar ist. 587 Auson. 27,21,50: Vertisti, Pauline, tuos, dulcissime, mores.

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Strukturen der Dichtung – Ausonius, Ovid und Vergil

vor allem nichts zum Heil des Menschen durch Gott bei.588 Der christliche Dichter darf sich also nur dann mit Philosophie und paganer Literatur befassen, so der von Paulinus nicht explizit geäußerte Schluss, wenn er sie richtig verwendet und in den Dienst Gottes stellt. Wie der usus iustus in der literarischen Praxis des Paulinus aussieht, zeigen die Verse 29 und 30.589 Für die Gestaltung dieser Verse greift Paulinus auf eine Passage aus der Aeneis und eine Szene aus der Andria des Terenz. Vergil schildert im zwölften Buch der Aeneis, wie es kurz vor dem Zweikampf, den Aeneas und Turnus zur Beendigung der Kampfhandlungen zwischen Latinern und Trojanern ausfechten wollen, trotz des vereinbarten Waffenstillstandes zu einem neuen Kampf kommt.590 Aeneas versucht noch den Kampf zu verhindern, wird aber von einem Pfeil getroffen und verwundet vom Kampfplatz gebracht.591 Der Heiler Japyx wendet darauf seine ganze Kunst auf, um ihn zu retten und ihn wieder in den Kampf zu entlassen. Denn Turnus nutzt die Gunst der Stunde und beginnt, die Trojaner zurückzutreiben.592 Als Japyx erfolglos bleibt, greift Venus ein: Sie verbirgt sich in einer Wolke und versetzt das Wasser, das Japyx zur Säuberung der Wunde verwendet, mit heilenden Kräutern. Ein Wunder geschieht: Die Blutung wird gestillt, der 588 Paul. Nol. carm. 10,33–41 (ed. Green 1991,709, der die Verse 38–41 in einer anderen, m. E. besseren Version bietet als von Hartel): Vacare uanis, otio aut negotio,/ fabulosis litteris/ uetat, suis ut pareamus legibus/ lucemque cernamus suam,/ quam uis sophorum callida arsque rhetorum et/ figmenta uatum nubilant,/ qui corda falsis atque uanis imbuunt,/tantumque linguas instruunt,/ nihil afferentes, ut salutem conferant/ aut ueritatem detegant. Den theologischen Hintergrund der ganzen Passage erläutert Skeb (1997) 110–130. 589 Zur Theologie des Christo reddere und des usus iustus in Paul. Nol. carm. 10 vgl. Skeb (1997) 128, der auch die literarische Praxis des Paulinus in die christlich-literarische Geistesgeschichte des 4. Jahrhunderts einzuordnen sucht: »Die in carm. 10 vorgetragenen Einzelgedanken des Paulinus bewegen sich insgesamt im Rahmen der Aussagen der anderen frühchristlichen Schriftsteller zur ›Übernahme‹ der heidnischen Kulturgüter, (…), ohne dass jedoch eine konkrete Vorlage erkennbar würde. Es ergeben sich folgende Gemeinsamkeiten: Die conversio als Akt der entschiedenen Aufnahme eines christlichen Lebens zieht Konsequenzen für die literarischen (philosophischen und künstlerischen) Talente des betreffenden Menschen nach sich, eine conversio der Talente. (…) Bei dieser Neuorientierung der geistigen Fähigkeiten und paganen Kulturgüter geht es nicht um deren Aufhebung, sondern um die ›Rückerstattung‹ an Gott, den Spender und Besitzer dieser Gaben; diese Rückerstattung richtet sie auf Gott aus, d. h. sie nimmt sie in seinen Dienst oder verwendet sie auf Gott, der so zum Thema literarischen Schaffens wird. Diese Verwendung ist keine blinde Übernahme, sondern geschieht nach bestimmten Kriterien, die sich je nach Situation und Autor voneinander unterscheiden und zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können.« Allgemein zum usus iustus als literarischer Methode der christlichen Autoren vgl. Gnilka (1984) passim, dazu jedoch die kritischen Anmerkungen bei Lühken (2002) 20–22. 590 Verg. Aen. 12,229–286. 591 Verg. Aen. 12,311–323. 592 Verg. Aen. 12,384–410; die Kampfeswut des Turnus auch Verg. Aen. 12,324–382.

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Schmerz lässt nach, der Pfeil kann herausgezogen gewerden und Aeneas kommt zu Kräften.593 In dieser Situation spricht Japyx den Helden an, Verg. Aen. 12,427–431: ›Non haec humanis opibus, non arte magistra, proueniunt neque te, Aenea, mea dextera seruat: maior agit deus atque opera ad maiora remittit.‹ 430 ille auidus pugnae suras incluserat auro hinc atque hinc oditque moras hastamque coruscat. ›Nicht durch menschliche Kraft, nicht durch die (Heil)Kunst, meine Lehrerin, kam dies zustande, und dich, Aeneas, heilte nicht meine Hand: Ein größerer Gott bewirkt dies und schickt dich erneut zu größeren Werken.‹ Jener begierig auf den Kampf schient seine Waden mit Gold hier und dort und läßt voll Ungeduld die Lanze schimmern.

Paulinus erinnert den Leser an diese Passage, indem er die erste Hälfte von v. 429 übernimmt und (vermutlich mit Blick auf das Versmaß) leicht verändert: maior agit deus wird bei ihm zu agit maior deus. Wie bei Ausonius so wirkt auch bei Paulinus das vergilische Original in das Briefgedicht hinein: Denn die Situation, in der sich Aeneas und der Ich-Sprecher befinden, ist in bestimmten Punkten vergleichbar. Wie Aeneas befindet sich auch der Asket in einem fortwährenden Kampf, der von einem maior deus entschieden wird, sich allerdings auf einer anderen Ebene abspielt: Paulinus kämpft um die richtige Lebensform, der Kampf selbst findet im Innern, in der mens statt. Deutlich wird der Gehalt der Reminiszenz, wenn wir die Venus des Vergil und den maior deus des Paulinus miteinander vergleichen: Venus bewirkt zwar die Heilung des Aeneas, so dass dieser den Kampf wieder aufnehmen kann, aber sie verbirgt sich in einer Wolke. Japyx und Aeneas können daher nur erkennen, dass ein Gott geholfen hat. Welcher Gott gewirkt hat, wissen sie nicht. Der christliche Gott des Paulinus verhält sich ganz anders: Er verhüllt sich nicht, sondern gibt sich zu erkennen und stellt neue Forderungen an den Menschen. An die Stelle der von Aeneas zu bewältigenden opera maiora treten alios mores, die in den folgenden Versen aufgefächert werden.594 Mit der Wendung aliosque mores postulat schließlich führt Paulinus den Leser weiter zur Andria des Terenz und ergänzt so die Vergil-Reminiszenz, Ter. Andr. 185–193: 593 Verg. Aen. 12,411–424: Hic Venus indigno nati concussa dolore/ dictamnum genetrix Cretaea carpit ab Ida,/ puberibus caulem foliis et flore comantem/ purpureo; non illa feris incognita capris/ gramina, cum tergo uolucres haesere sagittae./ hoc Venus obscuro faciem circumdata nimbo/ detulit, hoc fusum labris splendentibus amnem/ inficit occulte medicans, spargitque salubris/ ambrosiae sucos et odoriferam panaceam./ fouit ea uulnus lympha longaeuus Iapyx/ ignorans, subitoque omnis de corpore fugit/ quippe dolor, omnis stetit imo uulnere sanguis./ iamque secuta manum nullo cogente sagitta/ excidit, atque nouae rediere in pristina uires. 594 Paul. Nol. carm. 10,33–41 (ed. Green 1991,709).

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Strukturen der Dichtung – Ausonius, Ovid und Vergil

185 Simo: meum gnatum rumor est amare. Davos: id populus curat scilicet. Simo: hoccine agis an non? Davos: ego uero istuc. Simo: sed nunc ea me exquirere iniqui patris est; nam quod antehac fecit nil ad me attinet. dum tempus ad eam rem tulit, siui, animum ut expleret suom; nunc hic dies aliam uitam defert, alios mores postulat: 190 dehinc postulo siue aequomst te oro, Daue, ut redeat iam in uiam. hoc quid sit? omnes qui amant grauiter sibi dari uxorem ferunt. Davos: ita aiunt. Simo: tum siquis magistrum cepit ad eam rem inprobum, ipsum animum aegrotum ad deteriorem partem plerumque adplicat. Simo: Das Gerücht geht um, mein Sohn habe ein Verhältnis. Davos: Das interessiert das Volk allerdings. Simo: Willst du mich jetzt ernst nehmen oder nicht? Davos: Natürlich. Simo: Der Sache will ich jetzt nicht weiter nachgehen, ich bin kein kleinlicher Vater; was mein Sohn vorher getan hat, geht mich nichts an. So lange seine Jugend für diese Sache verantwortlich war, ließ auch ich zu, dass er tat, was er wollte. Dieser Tag heute führt zu einem anderen Leben, und fordert eine andere Lebensweise: Daher fordere ich oder – es bleibt sich gleich – bitte ich dich, dass du ihn auf den richtigen Weg zurückkehren läßt. Wie dieser aussieht? Von jedem, der ein Verhältnis hat, sagt man, er trage schwer an der Ehe. Davos: So sagt man. Simo: Wenn sich einer in dieser bedeutenden Sache einen schlechten Lehrer gesucht hat, entwickelt sich sein ohnehin verdorbenes Gemüt meistens noch weiter in die schlechtere Richtung.

Vers 189 ist aufgrund der wörtlichen Übernahme von drei Worten an derselben Stelle im Vers (alios mores postulat) leicht als literarisches Vorbild auszumachen. Er verweist, wie im folgenden zu zeigen ist, auf die hier abgedruckte Passage im Ganzen. Die Handlung der Andria ist von Verwechslungsgeschichten geprägt und komplex, entsprechend können hier nur die für unseren Zusammenhang wichtigen Punkte kurz dargestellt werden: Die Hauptpersonen der in Athen spielenden Komödie sind der junge Mann Pamphilus, sein Vater Simo und der hinterlistige Sklave Davos. Simo will seinen Sohn zwingen, die Tochter eines angesehenen Bürgers zu heiraten. Pamphilus jedoch liebt Glycerium, die Schwester einer stadtbekannten und berüchtigten Hetäre. Simo ersinnt nun eine List, um seinen Sohn mit einem spontan inszenierten Hochzeitsfest zu überraschen und ihn zur Ehe mit der Bürgertochter zu überreden. In dieser Situation spricht er den Sklaven Davos an, den es auf seine Seite zu ziehen gilt, und es kommt zu dem oben abgedruckten Dialog Ter. Andr. 185–193.595 Die Bezüge, die sich an dieser Stelle zwischen Komödie und Briefgedicht entfalten, sind ungewöhnlich vielfältig, denn die Lebenssituationen des Pamphilus und des Paulinus sind bis zu einem gewissen Grad vergleichbar. Wie Pamphilus in Athen führte Paulinus in Aquitanien und auf seinen Reisen ein Leben, in dem er sich treiben lassen

595 Zur Handlung der Andria vgl. Kruschwitz (2004) 29.

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konnte.596 Jetzt, in der Gegenwart der Komödie und des Briefwechsels fordert jeweils eine höhergestellte Instanz den Beginn eines neuen Lebens, das eine neue Lebensweise nötig macht. Anders als in der Komödie ist im Briefgedicht aber nicht der umtriebige Vater der fordernde, sondern der sich offenbarende maior deus. An die Stelle der väterlichen Intrige tritt der Heilsplan Gottes, den Paulinus im christologischen und eschatologischen Teil der Epoden entfaltet.597 Auch Ausonius passt sich in dieses Bild ein, denn er läuft Gefahr, die Rolle des Davos zu übernehmen. Wenn er es verhindert, dass Paulinus auf den richtigen, durch Gott vorbestimmten Lebensweg zurückkehrt, verhält er sich zumindest in dieser Sache wie ein magister improbus, der den Charakter des Zöglings noch weiter verdirbt. Liest man die Wendung magister improbus auf diese Weise in das Briefgedicht hinein, entfaltet sie eine Signalwirkung. Ein Ausonius in der Rolle des magister improbus Davos konterkariert das idealisierte Lehrer-Schüler-Verhältnis, das Ausonius selbst in den Briefgedichten 21 und 22 mit Hilfe der Perilla-Elegie (Ov. trist. 3,7) und des Lukrezprooemiums (3,1–13) zeichnet. Ausonius verhält sich in den Augen des Paulinus also nur dann wie ein guter magister, wenn er die Veränderung des Freundes zulässt und so dem Willen Gottes entspricht. Die Komödie des Terenz endet schließlich so, wie es der Leser erwartet. Pamphilus weigert sich, seinem Vater zu gehorchen. Dieser resigniert: Sein Sohn möge seinen Willen haben, müsse aber auf den Vater verzichten. Dennoch geht die Geschichte gut aus: Es stellt sich heraus, dass Glycerium, die Geliebte des Pamphilus, tatsächlich die verschollene Schwester der eigentlich vorgesehenen Braut, also die Tochter eines ehrbaren Bürgers ist. Pamphilus kann seine Glycerium heiraten, und auch der Vater ist glücklich. Die Probleme haben sich durch einen Zufall in Wohlgefallen aufgelöst. Paulinus zeichnet dagegen ein anderes Bild: Sein Leben ist nicht durch den Zufall, sondern durch den Heilsplan des sich offenbarenden Gottes bestimmt, dem auch Ausonius in der Rolle des magister zu folgen hat. Paulinus reagiert also auf die Klagen und Forderungen des Ausonius nicht allein mit einer deutlichen Zurückweisung, sondern erläutert sein Verhalten durch die Verwendung bestimmter literarischer Vorbilder und antwortet mit ihrer Hilfe darüber hinaus auf die von Ausonius verwendeten Prätexte: Auch Paulinus lässt seinen Ich-Sprecher in der persona des Aeneas auftreten und einen Kampf ausfechten. Allerdings wählt Paulinus einen anderen Aeneas als Vorbild, nicht den irrenden alter Odysseus aus dem dritten Buch der Aeneis, sondern den Helden aus dem elften Buch, der im Kampf verwundet, von 596 Vgl. dazu z. B. die autobiographisch inszenierten Passagen im 13. Natalicium, Paul. Nol. carm. 21,365–427 und in ep. 35–36 (an die Tauflehrer Delphinus und Amandus) und ep. 5 an Sulpicius Severus. Zum historischen Wert dieser Quellen vgl. die skeptischen Bemerkungen von Trout (1999) 15–22. 597 Vgl. Paul. Nol. carm 10,33–80, bes. 43–80.

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einer höheren Macht geheilt und auf den richtigen Weg zurückgeführt wird. Aber auch dieser Aeneas ist anders. Er wird nicht mehr von einer von Wolken verhüllten Venus, sondern vom einzigen, wahren Gott geleitet. Der IchSprecher wird so zu einem christlichen Aeneas. Ähnlich verhält es sich, wenn Paulinus die Thematik der Andria aufgreift und damit gleichzeitig das von Ausonius beschriebene Lehrer-Schüler- und Vater-Sohn-Verhältnis gegeninszeniert. Der Prätext legt es nahe, Paulinus und seinen Ich-Sprecher hinter der Maske des Sohnes Pamphilus zu sehen. Entscheidend ist jedoch, dass der intrigante Vater Simo durch den maior deus abgelöst wird. Denn das bedeutet gleichzeitig, dass Ausonius in der Rolle des magister improbus den von diesem Gott vorgesehenen Lebensweg und Heilsplan zu billigen hat. Nicht mehr der magister spielt als Ratgeber die entscheidende Rolle, sondern Gott. Im direkten Vergleich arbeiten Ausonius und Paulinus also auf ähnliche Weise. Beide Dichter greifen auf literarische Vorbilder zurück, um erstens den Gehalt und die Aussage ihrer Gedichte um wichtige Punkte zu erweitern. Zweitens eröffnen sie so zumindest in den hier beschriebenen Fällen ein Spiel mit verschiedenen Rollen, durch welches das Verhältnis der Briefsprecher auf jeweils unterschiedliche Art in Szene gesetzt wird: Ausonius tritt in seinen Briefgedichten in der Maske des Lehrers, in der Maske des verlassenen poeta exul und in der des Sehers Helenus auf, Paulinus stülpt er die Maske des Schülers, die Maske eines freiwillig in die Verbannung gehenden Dichters und die des umherirrenden Aeneas über. Zumindest die Rollen des Aeneas und des Sohnes nimmt Paulinus an, deutet sie jedoch mit Hilfe anderer Prätexte anders als von Ausonius vorgesehen und antwortet so auch literarisch auf seinen Lehrer. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die Grenzen zwischen Dichter, Ich-Sprecher und den gewählten Masken letztlich verschwimmen: Es ist kaum auszumachen, an welcher Stelle sich lediglich der Ich-Sprecher und an welcher Stelle sich die Dichter selbst hinter einer bestimmten persona – z. B. hinter Aeneas oder dem Ich-Sprecher verbergen. Kommunizieren lediglich die Ich-Sprecher mit Hilfe der Reminiszenzen oder auch die Dichter, die historischen Gestalten Ausonius und Paulinus, miteinander, enthalten die Briefgedichte also doch persönliche oder emotionale Botschaften? Vielleicht könnte man mit Ellen Oliensis formulieren, dass sich alle personae – der Sprecher in der Rolle des Ich-sagenden Briefschreibers, der Sprecher als alter Aeneas, aber auch Paulinus selbst als alter Aeneas in der Instanz des Dichters zusammenfinden.598 Bis zu welchem Grad sie das tun, wieviel Emotion, sei es Ärger oder Trauer, tatsächlich durch einen Prätext geweckt werden kann und soll, lässt sich kaum ermitteln. Festhalten lässt sich aber, dass die Reminiszenzen und die durch sie evozierten Prätexte auf

598 Vgl. Oliensis (1998) 2. Vgl. dazu auch Kap. 1.3 mit Anm. 108 mit der für diesen Zusammenhang wichtigsten Passage ihres Buches.

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Die literarische Struktur der Briefgedichte – Eine Ringkomposition

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mindestens drei Ebenen wirken: Erstens wirken sie auf der internen Ebene der Argumentation, d. h. auf der Ebene des Ich-Sprechers und des Adressaten; zweitens auf der Ebene der Dichter, denn auch die literarische Formung der Briefgedichte ist eine Botschaft; drittens auf der Ebene zwischen Dichter und außenstehendem Publikum, das mit Hilfe der Reminiszenzen in das literarische Spiel mit hineingenommen wird. Wie wichtig die Reminiszenzen für die Binnenstruktur der Briefgedichte sein können, soll abschließend kurz an den Briefgedichten 21 und 22 des Ausonius gezeigt werden.

7.3 Die literarische Struktur der Briefgedichte – Eine Ringkomposition Betrachtet man die besprochenen Ovid- und Vergil-Reminiszenzen im Zusammenhang, ergibt sich folgendes Bild: Als Folie für den Beginn von Brief 21 und das Ende von Brief 22 wählt Ausonius jeweils Exilelegien des Ovid, für das Ende von Brief 21 und den Anfang von Brief 22 jeweils Szenen aus der Aeneis. Die Exilelegien behandeln jeweils die Themen Schweigen und charakterliche Veränderung, die Aeneis-Szenen jeweils das Thema Einsamkeit, Verlassenwerden und Heimkehr. Zusätzlich greift die Perilla-Elegie am Ende von Brief 22 das Thema Rückkehr zur Dichtung auf und schlägt so einen inhaltlichen Bogen zur inuocatio Musarum am Ende von Brief 21. Die Reminiszenzen verändern also die Aussage der Briefgedichte und verleihen ihnen gleichzeitig die Struktur einer Ringkomposition, die das Muster A BB A aufweist: Brief 21 Quarta tibi haec notos detexit epistula [questus, Pauline, et blando residem sermone lacessit; officium sed nullapium mihi pagina reddit, fausta salutigeris ascribens orsa libellis. Unde istam meruit non felix charta repulsam, spernit tam longo cessatio quam tua fastu? – – – – – – Haec precor, hanc uocem, Boeotia numina, [Musae, Accipite et Latiis uatem reuocate Camenis.

Ovid. trist. 4,7,1–8

Klage/Schweigen

Verg. Aen. 3,374–462

Einsamkeit/ Verlassenwerden

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Strukturen der Dichtung – Ausonius, Ovid und Vergil

Brief 22 Proxima quae nostrae fuerat querimonia chartae Credideram quod te, Pauline, inflectere posset Eliceretque tuam blanda obiurgatio uocem. Sed tu, iuratis uelut alta silentia sacris Deuotus teneas, perstas in lege tacendi. – – – – – tu (sc. Pauline) contemne alios nec dedignare parentem affari verbis. Ego sum tuus altor et [ille praeceptorprimus, primus largitor honorum, primus in Aonidum qui te collegia duxi.

Verg. Aen. 4, 610–621

Rückkehr

Ov. trist. 3, 7,15–18; Ov. Ponto 4, 3, 11–21

Klagen/ Schweigen Rückkehr

Natürlich ließe sich dieses Schema auch umkehren, wenn man Brief 22 vor Brief 21 liest (B [Verg.] A [Ov.] A [Ov.] B [Verg.]). Allerdings sprechen erstens, wie an anderer Stelle gezeigt wurde, verschiedene Argumente dafür, dass Brief 22 das vorausgehende Gedicht inhaltlich ergänzt und steigert.599 Zweitens verlöre die literarische Antwort, die die Helenus-Weissagung am Anfang von Brief 22 auf die inuocatio Musarum und die unterlegte DidoSzene am Ende von Brief 21 gibt, ihre unmittelbare Wirkung. Drittens wirkt die Doppelreminiszenz am Ende des Briefgedichtes wie ein besonderer Abschluss der Gedichte, zumal sie einen inhaltlichen Bogen zum Ende von Brief 21 schlägt. Wichtiger aber ist, dass die Frage, in welcher Reihenfolge die Briefgedichte 21 und 22 des Ausonius abgefasst und abgeschickt wurden, mit diesem Ergebnis ihre Relevanz verliert. Die Briefgedichte gehören eng zusammen und formen ein literarisches Gesamtkunstwerk. Sicherlich werden damit neue Fragen aufgeworfen: Wie passen sich Auson. 27,23/24 und die Antwortschreiben des Paulinus in die beschriebene Struktur ein? Und wie sind die Angaben des Nolaners zur Anzahl der empfangenen Briefe zu bewerten? Eine zufriedenstellende Antwort kann in diesem Rahmen nur in sehr begrenztem Maße gegeben werden. Mindestens die Briefgedichte 21 und 22 des Ausonius waren, wie von Mondin vermutet, tatsächlich Teil eines Zyklus von Briefgedichten, den Paulinus, das zeigen seine detaillierten Antworten, bereits in dieser Form gekannt hat.600 Damit stellt sich die Frage, wie die genauen Zahlenangaben in Paul. Nol. carm. 10,7–8 (trina epistola, 599 Vgl. dazu Kap. 3.4. 600 Vgl. Mondin (1995) LX und Kap. 5.3.

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Die literarische Struktur der Briefgedichte – Eine Ringkomposition

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triplex carmen) zu bewerten sind. Denn auch wenn Paulinus hier keine Angaben zur Chronologie, sondern zur äußeren Gestalt der Briefgedichte macht, spricht er von einem dreifachen oder dreiteiligen Brief und einem dreifachen Gedicht. Es mag also sein, dass Paulinus tatsächlich einen weiteren Teil des Zyklus vor Augen hatte, der heute verloren ist.601 Wie sich Auson. 27,23/24 und wie sich die carmina 10 und 11 des Paulinus mit ihren genauen Antworten zu diesem Zyklus verhalten, ob sie von vornherein Teil des Zyklus waren oder später für eine Art Gesamtausgabe der Briefgedichte, auf die der überlieferungsgeschichtliche Befund hinweist, überarbeitet und hinzugefügt wurdem, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Aufschlussreich ist vor allem, dass die Briefgedichte 21 und 22 ein literarisches Kunstwerk sind, in dem Ausonius das Verhältnis von Briefschreiber und Adressaten auf vielfältige und auch ungewöhnliche Weise inszeniert. Aus welchem Grund z. B. verwendet Ausonius gerade die Exilelegien des Ovid als literarisches Vorbild? Sicherlich handelt es sich bei den verwendeten Elegien um Briefe und sie scheinen auch deshalb passend gewählt. Vor allem aber ähnelt die Lebenssituation des ovidischen poeta exul der des Anachoreten: Beide leben in gewisser Weise im Exil. Allerdings tritt der ovidische poeta den Weg in das Exil gezwungenermaßen an und stellt aus diesem Grund die Klage und die Bitte um Rückkehr in das Zentrum seiner Dichtung. Paulinus hingegen wählt das Exil freiwillig, und so kehrt sich das Verhältnis um: Nicht der Gehende, sondern der Bleibende klagt.602 Mit Blick auf diesen Befund und mit Blick auf die Ergebnisse, die in den vorausgehenden Kapiteln vier und fünf erzielt wurden, spricht einiges dafür, dass zumindest die Briefgedichte 27,21 und 22 des Ausonius in der vorliegenden Gestalt eine späte Fassung sind. Erstens weist Brief 21 Spuren einer Überarbeitung auf, die für uns in den inhaltlich, metrisch und stilistisch anspruchsvollen Doppelfassungen mancher Verse fassbar werden. Zweitens bilden Brief 21 und 22 ein Gesamtkunstwerk und eine literarische Einheit. Drittens spricht für eine späte Überarbeitung, dass Ausonius über die Pläne des Paulinus, sich von Spanien aus nach Nola zurückzuziehen, informiert ist; andernfalls verlöre die Anspielung auf das dritte Buch der Aeneis und die

601 Dass es sich bei diesem Teil nicht um Auson. 27,23/24 handeln kann, wurde an anderer Stelle gezeigt, vgl. dazu Kap. 5.3. 602 Zu dieser Form der Inszenierung passt auch das dritte Buch der Aeneis, das Buch der Irrfahrten, als literarisches Vorbild, denn es zeigt eine Exilsituation. Feror exul in altum/ cum sociis natoque penatibus et magnis dis (Verg. Aen. 3,11–12) spricht Aeneas am Anfang des Buches. Aeneas als Held und literarische Folie verdeutlichen in diesem Zusammenhang auch, warum Paulinus den Weg in das Exil geht: Wie Aeneas ist Paulinus ein Suchender, der maioribus auspiicis das Meer befährt, aber die Sprüche der Götter falsch interpretiert und daher in die Irre geht: Nur der uates Ausonius kann durch eine richtige Interpretation helfen, vgl. dazu auch Rücker (2009) 102–103.

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Strukturen der Dichtung – Ausonius, Ovid und Vergil

Weissagung des Helenus ihre Wirkung. Es scheint also naheliegend, dass die vorliegende Fassung der Briefgedichte relativ spät, vielleicht sogar nach der Abreise des Paulinus aus Spanien, d. h. aus der Retrospektive entstanden ist. Damit stellt sich die Frage, wie eine ursrprüngliche Version der Briefe ausgesehen haben könnte. Sie ist kaum zu beantworten. Handelte es sich um Briefe in Prosa, die nachträglich in poetische Form gebracht wurden oder waren die Briefe von vornherein als Dichtung konzipiert? Gab es überhaupt einen ›echten‹ Briefwechsel – echt in dem Sinne, dass Ausonius einen Brief schickte und Paulinus auf diesen antwortete? Wie passen sich die Antwort-Gedichte des Paulinus in das so entstehende Bild ein? Sind auch sie überarbeitet worden, und, wenn ja, von wem?

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8. Der Katalog – Macht und Ohnmacht der Sprache

8.1 Struktur und Komposition des Katalogs Ausonius nutzt, wie wir im vorausgehenden Kapitel bereits sehen konnten, Reminiszenzen und die durch sie evozierten literarischen Vorbilder, um das Verhältnis zwischen Ich-Sprecher und Adressaten mit Hilfe bekannter literarischer Motive in der einen oder anderen Weise zu inszenieren und die Briefgedichte so inhaltlich zu bereichern. Das Briefgedicht Auson. 27,21 enthält mit dem bukolisch gestalteten, unter anderen Gesichtspunkten besprochenen Katalog eine Passage, die besonders reich an Reminiszenzen ist.603 Mindestens 16 Textsegmente aus Catull, Vergil, Ovid, Horaz, Statius und auch Cicero finden sich in einem Textabschnitt von nur 19 Versen Länge, den Versen Auson. 27,21,7–25.604 Die auch für Ausonius ungewöhnliche 603 Auson. 27,21,7–25. 604 Die Reminiszenzen sind zum Teil von Mondin (1995) 251–256 gesammelt, allerdings nicht auf ihre Bedeutung für das Briefgedicht untersucht worden. 16 Reminiszenzen sind in den Versen Auson. 27,21,7–25 relativ sicher zu identifizieren. Auson. 27,21,7 hostis ab hoste tamen per barbara uerba salutem verweist auf Ov. Epist. 4,6 hostis ab hoste (Phaedra); auf Ov. Pont. 4,13,20 barbara uerba (an Carus) und Pont. 3,4,1 uerba salutem (an Rufinus). Auson. 27,21,9 respondent et saxa homini verweist auf Cic. Arch. 19: saxa atque solitudines uoci respondent (Orpheus); die zweite Vershälfte percussus ab antris stellt, wie zu zeigen sein wird, eine Beziehung her zu Verg. georg. 4,509 sub antris (Orpheus und Eurydice) und zu Ov. met. 3,213 percussus ab apro (Aktaeon). Auson. 27,21,10 nemorum uocalis imago verweist auf Ov. met. 3,357–358 uocalis nymphe und resonabilis Echo (Narcissus und Echo). Auson. 27,21,11 clamant scopuli auf Sil. 14,365 clamat scopulis; murmura riui auf Hor. epist. 1,10,12 murmure riuum. Auson. 27,21,12 Hyblaeis apibus saepes depasta [ebenso die Variante somniferumque canit saepes depasta susurrum] auf Verg. ecl. 1,54 Hyblaeis apibus florem depasta (vgl. dazu Kap. 4.5.1 und Mondin, 1995, 252–253). Auson. 27,21,14 suis loquitur tremulum coma pinea uentis [auch die Variante atque arguta suis loquitur coma pinea uentis, vgl. Kap. 4.5.1] auf Verg. ecl. 8,22 argutumque nemus pinusque loquentis. Auson. 27,21,18 pecus aequoreum verweist auf Verg. georg. 3,353 genus aequoreum; dem zweiten Versteil habet sua sibilia serpens liegt Stat. silv. 2,1,48 zugrunde (Epicedion auf einen jung verstorbenen Schüler). Auson. 27,21,20 dant flictu sonitum verweist auf Verg. Aen. 9,667 dant flictu sonitum. Auson. 27,21,21 icta pedum erinnert an Ov. met. 14,739 icta pedum (Iphis und Anaxarete); die zweite Vershälfte reboant caua tympana tergis an Catull. 63,20 ubi cymbalum sonat uox, ubi tympana reboant (Attis und Cybele). Auson. 27,21,25 respondent dociles verweist auf Auson. 9,4 respondendas docili (Genethliacon).

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Der Katalog – Macht und Ohnmacht der Sprache

Dichte der Reminiszenzen und der Versbau erinnern mit Blick auf die literarische Technik teilweise an den Cento nuptialis. Während Ausonius dort aber entweder zwei verschiedene, kaum veränderte Vershälften aus der Aeneis kombiniert oder bisweilen auch ganze Verse übernimmt, kombiniert er hier ganz verschiedene Autoren und verändert die übernommenen Textsegmente. Die Formulierung respondent et saxa homini in Auson. 27,21,9 etwa evoziert eine Passage aus Ciceros Rede Pro Archia poeta, die den Vers schließende Wendung percussus ab antris dagegen eine Passage aus den Georgica des Vergil und eine aus den Metamorphosen des Ovid. In diesem Fall markiert Ausonius die Cicero-Reminiszenz am deutlichsten und sensibilisiert den Leser so für die stärker verfremdeten Ovid- und Vergil-Reminiszenzen, da die drei evozierten Prätexte ähnliches thematisieren: Einerseits das Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht der Sprache, andererseits die Flucht verschiedener mythischer Gestalten in die Einsamkeit und die daraus erwachsenden Konsequenzen.605 Auffällig sind darüber hinaus, wie bereits an anderer Stelle zu zeigen war, die klare Struktur und Komposition des Katalogs.606 Trotz dieses Reichtums an Reminiszenzen und der klaren Kompositionsformen wurde der Katalog in der Forschung bisher kaum beachtet: Aufschlussreich schien er vor allem für die »religiöse Biographie« des Adressaten Paulinus und den Verlauf seiner conversio, da Ausonius im Katalog auf zwei einflussreiche, dem Christentum in der Ikonographie teilweise verwandte Mysterienkulte, den Cybele- und den Isis-Kult, verweist und diese von dem seltsamen ägyptischen Schweigekult des Sigalion abhebt. Ausonius wusste offenbar zum Zeitpunkt der Abfassung oder der Überarbeitung des Briefgedichtes von der conversio des Freundes.607 Darüber hinaus aber wurde der Katalog kaum beachtet. Denn was seine Stellung und Funktion im Briefgedicht betrifft, scheint ihm wenig Bedeutung zuzukommen: Ausonius variiert ein Thema, den Lautreichtum der unbelebten und belebten Welt, und erschafft so eine Folie, auf der das Schweigen des Freundes deutlich hervortritt.608 Mehr leistet der Katalog für die Argumentation des Briefgedichts auf den ersten Blick nicht. 605 Vgl. zu Auson. 27,21,9 unten Kap. 8.5. 606 Vgl. dazu Kap. 3.3 und auch Kap. 4.4. 607 Vgl. dazu Mondin (1995) 256: »(…) la menzione della divinità egizia potrebbe celare una sottile vena ironica nei confronti di Paolino, implicitamente tacciato di vane superstizioni, giacché in questi anni i misteri isaci svolgono un ruolo di grande rilievo negli ultimi conati di riscossa del morente paganeismo, e attirano quindi gli strali della più beffarda polemica christiana:« 608 Wie wenig prominent der Katalog in der Forschung ist, zeigen die Kommentare: Green (1991) 694 spricht zwar insgesamt von einem »carefully structured letter«, geht auf die Funktion des Katalogs allerdings nicht ein, dasselbe gilt für Amherdt (2004) 99–100. Wenig ausführlicher ist Mondin (1995) 251. Er beschreibt die Struktur der Priamel in aller Kürze: »Il

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Reminiszenzen und Prätexte – Ein Überblick

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Dass es sich anders verhält, soll im Folgenden mit Hilfe einiger besonders auffälliger Reminiszenzen gezeigt werden. Allerdings verweisen einige der zu besprechenden Reminiszenzen auf Prätexte, deren Interpretation in der Forschung umstritten ist: Es handelt sich um die Arruns-Episode im elften Buch der Aeneis und die Orpheus-Geschichte im vierten Buch der Georgica. Gerade an diesen Stellen ist es schwierig, die Prätexte und das Briefgedicht des Ausonius zueinander in Beziehung zu setzen. Denn es droht die Gefahr, dem Dichter Ausonius eine moderne, der Spätantike vielleicht fernliegende Vergil-Interpretation unterzuschieben.609 Um eine leichtere Orientierung zu ermöglichen, werde ich daher im Folgenden vorausgreifen und die zu besprechenden Reminiszenzen jeweils kurz in Hinblick auf eine mögliche Aussage vorstellen. Danach werde ich das Verhältnis von Briefgedicht, Prätexten und Reminiszenzen kleinschrittig analysieren.

8.2 Reminiszenzen und Prätexte – Ein Überblick 8.2.1 Phaedra und der getische poeta – Ovid

Vers 7 verweist den Leser im ersten Teil mit der Wendung hostis ab hoste auf den Phaedra-Brief der Epistulae Heroidum. Dort versucht Phaedra mit einem Brief an ihren Stiefsohn Hippolytos das Unaussprechliche auszusprechen und ihm ihre Liebe zu erklären. Anders als die Briefschreiberin weiß der Leser um den katastrophalen Ausgang des Unternehmens: Den Tod des Stiefsohnes und den Selbstmord der Phaedra. Ausonius eröffnet mit Hilfe der Reminiszenz ein weiteres Rollenspiel. Denn im Briefgedicht ist nicht der Ich-Sprecher derjenige, der schuldig wird, sondern der Adressat. Paulinus zeichnet für das Scheitern der Kommunikation verantwortlich. Das uitium der Phaedra besteht in frevelhafter Liebe und dem Entschluss, einen Brief zu schreiben, das des Paulinus dagegen umgekehrt im Schweigen und in dem Entschluss, keinen Brief zu schreiben. Warum Paulinus eine epistula nicht schadet, offenbart der Ich-Sprecher im Laufe des Briefgedichts: Die Beziecomportamento del singolo contrapposto alla legge naturale, verificata nelle sue più svariate manifestazioni secondo lo schema della Priamel: si tratta di un topos ben noto (ad es. Ou. Am. 1,10,25–29, ars 2,373–77, trist. 4,6,1–18), qui riproposto per evidenziare il silenzio di Paolino in un mondo che è invece tutto voce. Il discorso procede in forma die elenco, dai rumori prodotti da esseri inanimati (vv. 9–16), ai versi animali (17–19), ai suoni creati dall’artificio umano (20–25), contro cui spicca il mutismo dell’amico (26–27).« 609 Diese Gefahr besteht natürlich immer und ist im Grunde ein konstitutiver Baustein des Konzeptes von Intertextualität. Dass Ausonius selbst um diese Gefahr weiß und mit ihr spielt, zeigt die Praefatio zum Cento nuptialis, vgl. dazu Kap. 2.4.1.

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Der Katalog – Macht und Ohnmacht der Sprache

hung zu Paulinus ist, anders als die zwischen Phaedra und Hippolytos, kein crimen und kein uitium und verlangt nach einem Brief.610 Umgekehrt besteht das crimen gerade darin, keinen Brief zu schreiben. Im Schlussteil von v. 7 erinnert die Wendung barbara uerba salutem an zwei Exilelegien des Ovid. In Ov. Pont. 3,4 und 4,13 beschreibt sich der ovidische poeta exul als Dichter, der durch die Verbannung in ein fremdes Land seine dichterische Identität zu verlieren droht: er ist fast schon ein getischer Dichter, der nur noch in getischer Sprache zu schreiben vermag. Ausonius spricht mit Hilfe dieser Prätexte eine Warnung aus: Denn das Schicksal des ovidischen poeta exul, der Verlust der Sprache und der dichterischen Identität, droht auch dem in gewisser Weise freiwillig verbannten Paulinus. Die Parallelen zwischen Exilelegie und Briefgedicht verdeutlicht Ausonius hier mit Hilfe eines historisch-biographischen Signals: Einer der Adressaten des Ovid, Carus, hatte wie Ausonius selbst einen Panegyricus geschrieben und war zudem Prinzenerzieher.611 8.2.2 Arruns, Orpheus, Actaeon und Echo – Vergil, Cicero und Ovid

Eng zusammen mit diesen Reminiszenzen hängt in v. 8 der Verweis auf den etruskischen Helden Arruns, den Ausonius mit der Formulierung mediis … armis signalisiert. Arruns tötet im elften Buch der Aeneis nicht nur die Königin Camilla, sondern flieht nach vollbrachter Tat in die Wälder. Auf diese Weise leitet Arruns ein Motiv ein, das die folgenden von Ausonius evozierten Prätexte wie ein roter Faden durchzieht: Der Held flieht zumeist aufgrund seiner (oft selbst verschuldeteten) Sprachlosigkeit oder wegen seiner Angst in die Wälder und löst dadurch eine Tragödie aus.612 Darüber hinaus erfüllt die Figur des Arruns, bezogen auf den Kontext des Briefgedichtes, aber auch eine strukturelle Funktion: Sie deutet auf den Fluch der Dido im vierten Buch der Aeneis und damit auf die Schlusspassage von Auson. 27,21 hin. Die Verse 9 und 10 weisen innerhalb des Katalogs das komplexeste Muster an Reminiszenzen auf: Die Wendung respondent et saxa homini am Anfang von v. 9 erinnert an eine Passage in der oratio pro Archia poeta, in der Cicero den Dichter Archias mit dem göttlichen Orpheus vergleicht und seine Macht über die Sprache hervorhebt. Die Schlussworte des Verses ab antris erinnern dagegen an den Orpheus des vierten Buches der Georgica, dessen Gesang und Sprache zwar Steine und Tiere bewegen, Eurydice letztlich aber nicht zurückbringen können. Ausonius deutet hier jedoch nicht nur das Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht der Sprache an, sondern 610 Vgl. die ausführliche Argumentation unten Kap. 8.3. 611 Vgl. unten Kap. 8.4.1. 612 Vgl. z. B. zu Arruns Kap. 8.4, zu Actaeon Kap. 8.6, zu Echo Kap. 8.7.

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Reminiszenzen und Prätexte – Ein Überblick

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lässt mit Hilfe des Prätextes ein weiteres Thema anklingen: Orpheus flieht in die Einsamkeit Thrakiens, weil er sich von der Trauer um Eurydice hinreißen lässt. Schließlich verfällt er dem Wahnsinn und stirbt. Orpheus teilt so, wie zu zeigen sein wird, einen wichtigen Charakterzug mit Paulinus: Denn auch Paulinus hat mit dem Tod seines Sohnes Celsus einen schweren Verlust erlitten. Ausonius nutzt hier den Prätext, um das Verhalten des Paulinus zu kritisieren.613 Eingebettet in diese Orpheus-Reminiszenzen ist schließlich mit der Wendung percussus ab eine Anspielung auf die Figur des Actaeon im dritten Buch der Metamorphosen. Actaeon wird von der Göttin Diana in einen Hirsch verwandelt. Seiner Sprache und seiner menschlichen Identität beraubt, flieht er in die Wälder und wird dort von den eigenen Hunden zerissen.614 In v. 10 schließlich erfüllt die Formulierung uocalis imago eine doppelte Funktion: Sie erinnert zum einen an die Geschichte von Narcissus und Echo, deren Protagonistin Echo von Narcissus zurückgewiesen, sich ebenfalls in die Wälder zurückzieht, dort zu einem Schatten ihrer selbst wird und schließlich stirbt. Narcissus dagegen wird von den Göttern für seinen Hochmut und seinen Hass auf andere gestraft, verliebt sich in sein eigenes Spiegelbild und stirbt ebenfalls. Auch in diesem Fall ist, wie zu zeigen sein wird, die Symbolik, die sich mit Hilfe der Figuren im Briefgedicht entfaltet, greifbar. Zum anderen wirkt v. 10 im Ganzen wie ein intertextuelles Signal, dessen Kern redit … uocalis imago den Leser auf die hohe literarische Reflexivität des Katalogs hinweist.

8.2.3 Attis und Paulinus – Der Priester der Cybele und der Asket

Abschließend möchte ich eine Reminiszenz der zweiten Kataloghälfte besprechen: In v. 21 erinnern die Worte reboant caua tympana tergis an das Attis-Gedicht des Catull, carm. 63. Dies ist insofern aufschlussreich, als Attis bei Catull als Cybele-Priester dargestellt wird, der sich im religiösen Wahn selbst entmannt. Im Nachhinein bedauert er sein Handeln zutiefst und sehnt sich in die kultivierte Welt Griechenlands zurück. Doch es ist zu spät, er wird von Cybele gejagt und flieht in die Wälder. Das Rollenspiel, das hier mit Hilfe der Reminiszenz eröffnet wird, ist offensichtlich: Ausonius lässt Paulinus in der Maske des Attis auftreten: Auch er wird seinen religiösen Wahn bedauern.

613 Vgl. Kap. 8.5. 614 Vgl. Kap. 8.6.

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Der Katalog – Macht und Ohnmacht der Sprache

8.3 Phaedra – Liebe und Sprachlosigkeit Eingeleitet wird der Katalog durch v. 7, der abgesehen von den Worten tamen und per aus Reminiszenzen besteht. Sie verweisen auf drei Briefgedichte des Ovid. Die Wendung hostis ab hoste deutet auf die vierte Elegie der Epistulae Heroidum,615 den Brief der Phaedra an Hippolytos, die Formulierung barbara uerba salutem außerdem gleich zweimal auf die Epistulae ex Ponto: Auf einen Brief an den mehrfach erwähnten Freund Rufinus (Pont. 3,4) und einen weiteren an Carus (Pont. 4,13).616 Jede der drei Reminiszenzen signalisiert also den Verbleib in der Gattung ›Briefgedicht‹. Welche Wirkung entfalten die Reminiszenzen darüber hinaus? Diese Frage soll zunächst für den Brief der Phaedra, dann in einem eigenen Kapitel für die Exilelegien beantwortet werden. Das tragische Geschehen um Phaedra und Hippolytos brachte Sophokles einmal, Euripides zweimal in Tragödienform zur Aufführung.617 Von den verschiedenen Versionen ist nur die zweite Tragödie des Euripides überliefert, der Hippolytos Stephanophoros, den auch Ovid zur Gestaltung des Phaedra-Briefes nutzt.618 Die Rahmenhandlung gestaltet sich wie folgt: Theseus hatte mit der Amazone Hippolyte den Hippolytos gezeugt, der sich durch Schönheit und Keuschheit auszeichnete. Nach dem Tod der Hippolyte heiratete Theseus die Tochter des Minos und der Pasiphae, Phaedra. Da nun Aphrodite beschlossen hatte, Hippolytos für seine unverhältnismäßige Keuschheit zu strafen, ließ sie seine Stiefmutter Phaedra in heftiger Liebe zu ihm entbrennen. Phaedra versuchte ihre frevelhafte Liebe zu verheimlichen, aber die wissende Amme enthüllte das Geheimnis dem Hippolytos, der darauf in Wut geriet. Schließlich erhängte sich Phaedra wegen der Schande, sandte aber zuvor Theseus einen Brief, in dem sie Hippolytos bezichtigte, sie verführt und entehrt zu haben. Theseus schenkte ihren Worten Glauben und bat Poseidon, seinen Sohn mit dem Tod zu strafen. Poseidon erhörte die Bitte.619 615 Vgl. dazu Ov. Epist. 4,5–6: His arcana notis terra pelagoque feruntur;/ inspicit acceptas hostis ab hoste notas. 616 Vgl. Ov. Pont. 3,4,1–2: Haec tibi non uanam portantia uerba salutem/ Naso Tomitana mittit ab urbe tuus …; und Ov. Pont. 4,13,20: a! pudet, et Getico scripsi sermone libellum,/ structaque sunt nostris barbara uerba modis. 617 Zu den Frühformen des Mythos und seinen verschiedenen Bearbeitungen vgl. z. B. Waldner, Katharina: Art. Phaidra, DNP 9,716–717 und ausführlicher Linant de Bellefons, P.: Art. Phaidra, LIMC 7,1,356–359. 618 Inwieweit Ov. Epist. 4 auch auf Sophokles und dem ersten Hippolytos des Euripides fußt, ist unklar. Zum Zusammenspiel von Ov. Epist. 4 und Eur. Hipp. vgl. Casali (1995/96) 1– 15. 619 Vgl. die Inhaltsangabe Eur. Hipp. I.

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Phaedra – Liebe und Sprachlosigkeit

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Die Phaedra-Elegie des Ovid setzt, auch wenn sich ein genauer Zeitpunkt innerhalb der Handlung nicht festlegen lässt, vermutlich vor dem Gespräch der Amme mit Hippolytos ein.620 Die kretische Königstochter beginnt ihr Briefgedicht mit einer scheinbar harmlosen Klage, welche die Brisanz der Situation auf der textinternen Handlungsebenen nur in Ansätzen deutlich werden lässt: Hippolytos kann anders als der außenstehende Leser zu Beginn des Briefgedichts nicht wissen, dass seine Stiefmutter ihn liebt, Ov. Epist. 4,1–12: Quam nisi tu dederis, caritura est ipsa, salutem mittit Amazonio Cressa puella uiro. perlege quodcumque est – quid epistula lecta nocebit? te quoque in hac aliquid quod iuuet esse potest; 5 his arcana notis terra pelagoque feruntur. inspicit acceptas hostis ab hoste notas. ter tecum conata loqui ter inutilis haesit lingua, ter in primo destitit ore sonus. qua licet et sequitur, pudor est miscendus amori; 10 dicere quae puduit, scribere iussit amor. quidquid Amor iussit, non est contemnere tutum; regnat et in dominos ius habet ille deos. Wenn du ihr keinen Gruß gewährst, dann sendet das Mädchen aus Creta, die ja des Grußes entbehrt, dem Mann, dem Sohn der Amazone, einen Gruß. Lies es, was es auch ist – warum soll ein gelesener Brief schaden? Es könnte etwas in ihm stehen, was auch dich erfreut; mit Hilfe von Schriftzeichen werden Geheimnisse über Land und Meer gebracht, auch ein Feind liest den vom Feind empfangenen Brief. Dreimal habe ich versucht mit dir zu sprechen, dreimal blieb die nutzlose Stimme hängen, dreimal stockte der Klang schon beim ersten Wort. Wo es möglich ist und wo es passt, soll Scham der Liebe beigemengt werden. Was zu sagen mich beschämt, befahl Amor zu schreiben. Was auch immer Amor befahl, empfiehlt sich nicht zu verachten. Er regiert und hat Macht über die Herren, die Götter.

Als Briefschreiberin beklagt Phaedra im ersten Distichon in beinahe topischen Worten das briefliche Schweigen des Hippolytos, das ihr als Vorwand für den eigenen Brief dient.621 Die folgenden zwei Distichen lassen bereits ihre Verzweiflung erahnen: Hippolytos soll den Brief unbedingt bis zum Ende lesen; das Lesen eines Briefes könne kaum schaden. Briefe beförderten Geheimnisse, sogar der Feind lese einen vom Feind empfangenen Brief. Schließlich kommt Phaedra zu einem zentralen Punkt: Der Brief dient ihr als Ersatz für ein Gespräch, denn aufgrund ihres Schamgefühls kann sie ihre verbotene Liebe nicht in gesprochenen Worten äußern. Aus Scham habe sie 620 Vgl. Casali (1995/96) 1–15. 621 Zur brieflichen Klage vgl. Kap. 3.5 passim. Aus dem einleitenden Distichon Ov. Epist. 4,1–2 geht nicht eindeutig hervor, ob der Leser hier am Anfang eines Briefwechsels steht oder mitten in einen von Hippolytos unterbrochenen Briefwechsel einsteigt.

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ihre Liebe verschwiegen, Amor aber habe befohlen, sie in schriftliche Worte zu fassen. Diesen Befehl kann sie nicht missachten, denn Amor herrscht als Gott über die Götter. Im Unterschied zu Phaedra und zu Hippolytos kennt der außenstehende Leser das Ende der Geschichte. Er weiß um die Ablehnung und den Hohn des Hippolytos, um das Leiden der Phaedra, um ihren Selbstmord. Er weiß auch, dass Phaedra Hippolytos in einem Brief an Theseus bezichtigen wird, sie verführt zu haben, dass Theseus ihr Glauben schenken und Hippolytos durch einen Fluch dem Tod überantworten wird.622 Die scheinbar harmlose Frage der Phaedra – quid epistula lecta nocebit? (Ov. Epist. 4,3) – entfaltet auf der Folie der euripideischen Tragödie so einen neuen Sinn: Sie wirkt gleichermaßen tragisch und ironisch.623 Ovid erzeugt also Spannung, indem er das Briefgedicht der Phaedra in den Handlungsverlauf der euripideischen Tragödie einbettet und mit dem Wissen des Lesers und der Unwissenheit der Protagonisten gleichermaßen spielt. Ähnlich verfährt auch Ausonius, wenn er sein Briefgedicht mit Hilfe des intertextuellen Signals hostis ab hoste in v. 7 in ein bestimmtes Verhältnis zum Briefgedicht der Phaedra setzt. Setzt man die handelnden Personen der Briefgedichte ›Ausonius‹ und ›Paulinus‹ auf der einen, ›Phaedra‹ und ›Hippolytos‹ auf der anderen Seite in eine Relation, werden die inhaltlichen Übereinstimmungen ebenso greifbar wie die Differenzen, die zwischen dem Prätext und dem Briefgedicht des Ausonius liegen. Wie der Ich-Sprecher des Ausonius das Schweigen des Paulinus beklagt, so leidet auch die Phaedra des Ovid unter dem Schweigen des Hippolytos. In der Einleitung formuliert sie die eindringliche Bitte, den Brief wenigstens bis zum Ende zu lesen, und erklärt, warum sie überhaupt einen Brief schreibt: Dreimal habe sie vergeblich versucht, ein Gespräch mit Hippolytos zu beginnen, aber dreimal sei ihr das Wort im Halse stecken geblieben (Ov. Epist. 4,7–8). Dieses dreifache Scheitern erinnert den Leser deutlich an die drei vergeblichen Versuche des Ich-Sprechers bei Ausonius, sein schweigendes Gegenüber zu einer Antwort zu bewegen: Der jetzt begonnene ist bereits der vierte Brief.624 Allerdings resultiert in der Elegie des Ovid das vergebliche Bemühen der Phaedra um einen Sprechakt aus ihrer eigenen Unzulänglichkeit. Sie ist es, die aufgrund ihrer Scham keine Worte findet. Sie kann nicht sprechen, weil das Unaussprechliche – die verbotene Liebe zu Hippolytos – nicht gesagt werden darf. Dagegen ist im Briefgedicht des Ausonius gerade nicht der Ich-Sprecher son622 Vgl. Eur. Hipp. 724–731 und 856–1268. 623 Ähnliches gilt auch für das erste Distichon, Ov. Epist. 4,1–2. Phaedra sendet Hippolytos salus im Sinne eines Grußes. Der Leser weiß aber, dass dieser und auch der folgende Brief der Phaedra das Gegenteil von salus, nämlich Unheil bewirken werden. Vgl. Casali (1995/96) 1–2. 624 Vgl. Auson. 27,21,1: Quarta tibi haec notos detexit epistula questus.

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dern der Adressat, Paulinus, für das Scheitern der Kommunikation verantwortlich. Er ist derjenige, den die Scham am Sprechen und Schreiben hindert, Auson. 27,21,28–31: Obnixum, Pauline, taces. agnosco pudorem, quod uitium fouet ipsa suum cessatio iugis. 30 dumque pudet tacuisse diu, placet officiorum non seruare uices, et amant longa otia culpam Du, Paulinus schweigst beharrlich. Ich erkenne die Scham darüber, dass das beständige Zögern selbst seinen eigenen Fehler noch wärmt. Und während man sich schämt, lange geschwiegen zu haben, gefällt es, den Wechsel der Freundschaftspflichten nicht zu bewahren, auch liebt langer Müßiggang die Schuld.

Schweigen und Scham bringt Ausonius hier in einen direkten Zusammenhang. Nicht das Unaussprechliche erzeugt Scham und dadurch Sprachlosigkeit, vielmehr erzeugt das Schweigen – der Beweis mangelnder pietas gegenüber dem Freund – selbst Scham und dadurch Schweigen. Der Ich-Sprecher, der zunächst in der persona der Phaedra zu sprechen scheint, schiebt den Grund des Schweigens und des Unglücks – das Schamgefühl – auf den Adressaten: Nicht er selbst, sondern der schweigende Empfänger ist verantwortlich. Ausonius spielt also mit den Rollen, die ihm der Heroiden-Brief des Ovid bietet, indem er teilweise den Ich-Sprecher, teilweise den Adressaten in der Maske der Phaedra auftreten lässt. Wie weit dieses Spiel geht, zeigen die Verse Ov. Epist. 4,9–14: 10

Qua licet et sequitur, pudor est miscendus amori; dicere quae puduit, scribere iussit amor. quidquid Amor iussit, non est contemnere tutum; regnat et in dominos ius habet ille deos. ille mihi primo dubitanti scribere dixit: ›Scribe. dabit uictas ferreus ille manus‹

Wo es möglich ist und wo es passt, soll Scham der Liebe beigemengt werden. Was zu sagen mich beschämt, befahl Amor zu schreiben. Was auch immer Amor befahl, empfiehlt sich nicht zu verachten. Er regiert und hat Macht über die Herren, die Götter. Jener sagte mir, die ich zunächst zögerte zu schreiben: ›Schreib. Auch dieser Mann aus Eisen wird bald dir besiegt seine Hand reichen.‹

Amor ist derjenige, der zu schreiben befiehlt; dem können sich weder Phaedra noch, wird der Inhalt der Elegie auf den Kontext des Briefgedichts übertragen, der Ich-Sprecher des Ausonius widersetzen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Paulinus in den Augen des Ich-Sprechers schweigt, weil er fürchtet, zu Unrecht zu lieben und verraten zu werden: Die Angst vor dem crimen amicitiae, die Angst vor der Ehefrau hindern ihn

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daran, sein Gegenüber mit Worten anzusprechen.625 Wieder ist es der Adressat Paulinus, der durch sein Schweigen die Maske der Phaedra auszufüllen scheint. Ausonius integriert also den Brief der Phaedra als Prätext in sein Briefgedicht. Als solcher erfüllt er die Funktion, das scheinbar klar konturierte Verhältnis zwischen Ich-Sprecher und Adressaten und die von ihnen ausgefüllten Rollen zu verschieben und aufzuheben und den Text so für eine neue Interpretation zu öffnen. Darüber hinaus birgt die literarische Folie eine Aufforderung an den Adressaten: Während in der Tragödie des Euripides die rasende Liebe in das Verdeben führt, spielt im Phaedra-Brief des Ovid und im Briefgedicht des Ausonius auch die Unfähigkeit zur Kommunikation, das Versagen der Sprache eine entscheidende Rolle. Denn nicht einmal die Aufforderung, den Brief zu Ende zu lesen, scheint ihren Zweck zu erfüllen. Zumindest im Cupido cruciatus des Ausonius626 betrachtet die verzweifelte Phaedra in der Unterwelt ihren von Hippolytos verschmähten Brief und hält in der Hand noch die Schlinge, mit der sie sich erhängt hat, Auson. 19 (b) 30–33: 30 Pasiphae niuei sequitur uestigia tauri, licia fert glomerata manu deserta Ariadne, respicit abiectas desperans Phaedra tabellas. haec laqueum gerit, haec uanae simulacra coronae Pasiphae folgt den Spuren des schneeweißen Stiers, die verlassene Ariadne trägt Fäden zusammengeballt in der Hand, auf die weggeworfenen Täfelchen blickt die traurige Phaedra zurück. Die eine hält eine Schlinge, die andere das Trugbild einer Krone.

625 Vgl. Auson. 27,22,28–33: Innumeras possum celandi ostendere formas/ et clandestinas ueterum reserare loquellas/ si prodi, Pauline, times nostraeque uereris/ crimen amicitiae. Tanaquil tua nesciat istud;/ tu contemne alio nec dedignare parentem/ affari uerbis. Zum Motiv des proditor und der Tanaquil vgl. die Interpretation in Kap. 3.4. Bereits Knight (2005) 369 verweist darauf, dass die Ovid-Reminiszenz satirisch auf die Furcht des Paulinus vor Verrat weisen könnte, geht diesem Ansatz aber nicht weiter nach: » (…) the Ovidian context, that of Phaedra addressing Hippolytus, may point in a satiric underlay, that Paulinus fears ›betrayal‹ at the hands of the writer, a theme made overt in Ep. 22.« 626 Der Cupido cruciatus beschreibt ein Bild, das Cupido in der Unterwelt zeigt: Gefesselt und ans Kreuz geheftet von den tragischen Frauengestalten, die ohne eigenes Verschulden durch die Liebe ins Unglück gestürzt wurden. Die Gelehrten haben den Detailreichtum der Bildbeschreibung zumeist als Beweis dafür genommen, dass Ausonius ein Bild beschreibt, das tatsächlich in einem der Paläste oder der reichen Privathäuser in Trier hing (zuletzt Dräger, 2002b, 121–129). Demgegenüber konnte Gindhart (2006) 214–236 zeigen, dass die Bildbeschreibung auch allegorisch gedeutet werden kann. Dass das Gedicht auch unabhängig von dieser (kaum zu beantwortenden) Frage gelungen interpretiert werden kann, zeigt Vielberg (2011) passim. Vgl. zu dieser Problematik auch Kap. 2.3 mit Anm. 154.

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Die Annahme, dass hier tatsächlich Hippolytos die Täfelchen verschmäht oder weggeworfen, und nicht Phaedra selbst sie fortgeworfen hat,627 wird durch eine Reihe von Wandmalereien gestützt, die Hippolytos in eben dieser Situation zeigen: Die Amme überbringt ihm die Wachstafeln, er wirft sie noch während des Lesens oder nach beendeter Lektüre fort.628 In der durch Ovid geprägten Vorstellung des Ausonius und vermutlich auch in der des Paulinus hat Hippolytos den Brief zwar empfangen, ihn aber aufgrund seines frevelhaften Inhalts verschmäht. Nicht nur der Frevel selbst, sondern die mangelnde Kommunikationsfähigkeit beider Seiten führen ins Verderben. Im Briefgedicht des Ausonius haben sich die Vorzeichen verändert: Die Beziehung zwischen Ich-Sprecher und Adressaten ist rein. Umso mehr gilt die Aufforderung – perlege quodcumque id est: Der Ich-Sprecher schickt den Brief, der Adressat kann dieses Zeugnis reiner Liebe gefahrlos lesen und antworten. Er muss sogar antworten, denn nicht zu antworten hieße, sich gleichermaßen wie Phaedra und Hippolytos zu verhalten.

627 Abiectas kann in der Bedeutung ›fortgeworfen‹ oder ›weggeworfen‹ inhaltlich auch auf Phaedra bezogen werden. Vgl. z. B. die Übersetzung von Evelyn White (1919) 211: »(…) hopeless Phaedra looks back at the tablets she has cast away.« Anders verhält es sich, wenn abiectas im übertragenen Sinn als ›verschmäht‹, ›verworfen‹ gedeutet wird. 628 Die entsprechenden Wandmalereien zeigen zumeist die Amme auf der linken, Hippolytos auf der rechten Seite. Die tabellae liegen zumeist zwischen ihnen. Es handelt sich hier um eine Tradition der Darstellung, die erst im 1. Jh. n. Chr. ihren Anfang zu nehmen scheint und römischen Ursprungs ist. Vgl. zur Datierung der einzelnen Wandmalereien Linant de Bellefonds, P.: Art. Hippolytos I, LIMC 5,1, 460: »Curieusement, à part les répresentations hypothétiques d’Italie méridionale mentionées plus haut, nous ne possédons aucun document d’époque grecque qui mette en scène simultanément Hippolyte et Phèdre. Le thème, au contraire, connaît une grande faveur dans l’art romain, et tout d’abord, à partir des années 60 ap. J.-C., dans la peinture romaine qui privilégie la scène de la ›révélation‹ par la nourrice á H. de l’amour que lui porte Phèdre.« Wichtig ist in diesem Zusammenhang die in den Metamorphosen erzählte Geschichte von Byblis und Caunus. Den Brief, mit dem Byblis sich an ihren Bruder Caunus wendet, gestaltet Ovid auf der Folie des Phaedra-Briefes. Als Caunus die Tafeln mit dem Brief empfängt liest er sie nur zum Teil und wirft sie dann fort, Ov. met. 9,574–575: Attonitus subita iuuenis Maeandrius ira/ proicit acceptas lecta sibi parte tabellas/ uixque manus retinens trepidantis ab ore ministri, ›dum licet, o uetitae scelerate libidinis auctor,/ effuge‹ ait, ›qui, si nostrum tua fata pudorem/ non traherent secum, poenas mihi morte dedisses.‹ Das Motiv ist also aus anderen ovidischen Zusammenhängen bekannt und mag auf diese Weise Eingang in die Erzähltradition des Mythos von Phaedra und Hippolytos gefunden haben.

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8.4 Sprachlosigkeit und Exil – Der Tod des Dichters und der Tod des Arruns 8.4.1 Der Tod des Dichters

Gut zu erkennen sind auch die in den zweiten Teil des Verses Auson. 27,21,7 eingearbeiteten intertextuellen Signale, Auson. 27,21,7–8: Hostis ab hoste tamen per barbara uerba salutem accipit et ›salue‹ mediis interuenit armis. Der Feind empfängt doch vom Feind durch fremde Worte einen Gruß, und ein ›sei gegrüßt‹ tritt mitten zwischen die Waffen.

Die Wendung per barbara uerba salutem accipit stellt eine Verbindung zum dritten und vierten Buch der Epistulae ex Ponto des Ovid her: In einer der letzten Elegien der Gedichtsammlung schreibt der poeta exul an den Dichter Carus,629 er sei durch seinen Aufenthalt in Tomis zu einem getischen Dichter geworden, der nun in getischen Worten für ungebildetes Publikum dichte, Ov. Pont. 4,13,17–22: Nec te mirari, si sint uitiosa, decebit carmina, quae faciam paene poeta Getes. a, pudet, et Getico scripsi sermone libellum, 20 structaque sunt nostris barbara uerba modis: et placui (gratare mihi) coepique poetae inter inhumanos nomen habere Getas. Dass du dich wunderst, wenn die Lieder fehlerhaft sind, gehört sich nicht – sie habe ich als beinahe getischer Dichter gefertigt. Ach, es beschämt mich, auch in getischer Sprache habe ich ein Gedichtbüchlein geschrieben, und fremde Worte wurden gemäß unseren Versmaßen aneinander gereiht: Und ich gefiel – beglückwünsche mich – und begann unter ungebildeten Geten den Ruf eines Dichters zu haben.

Dass diese Reminiszenz nicht zufällig ist, verdeutlicht das Zusammenspiel mit der Wendung uerba salutem, die auf einen Brief des poeta exul an Rufinus verweist630, Ov. Pont. 3,4,1–4: 629 Carus ist lediglich aus Ov. Pont. 4,13 und 16 bekannt. Er war offensichtlich Verfasser einer Heracleis (vgl. Ov. Pont. 4,13,10–11; 4,16,7–8) und Erzieher der Söhne des Germanicus (vgl. Ov. Pont. 4,13,45–48). Vgl. auch Courtney, E.: Art. Carus, DNP 2, 1000. 630 Wie Carus ist auch Rufinus allein aus den Epistulae ex Ponto bekannt, neben Pont. 3,4 vgl. auch Pont. 1,3,1: Hanc tibi Naso tuus mittit, Rufine, salutem (…). Mehr erfährt man über ihn nicht.

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Haec tibi non uanam portantia uerba salutem Naso Tomitana mittit ab urbe tuus, utque suo faueas mandat, Rufine, triumpho, in uestras uenit si tamen ille manus. Diese Worte, die dir keinen leeren Gruß bringen, sendet dir dein Naso aus der Stadt Tomis, wie er wünscht, dass du seinem Triumph, Rufinus, wohlgesonnen bist, wenn jener überhaupt in deine Hände gelangt.

In beiden Fällen arbeitet Ausonius ovidische Junkturen in sein Briefgedicht ein, die jeweils an dieselbe Versposition gesetzt sind. Das Wort uerba dient auf diese Weise als Scharnier, das die Reminiszenzen verbindet. Der Weg zu ihrem Verständnis führt über den Inhalt der Prätexte. Denn die Elegien an Rufinus und Carus thematisieren Ähnliches: Erstens die Taten des Tiberius, des Drusus und des Germanicus und zweitens die Schwierigkeiten des poeta, über diese Taten zu berichten. In der an Rufinus gerichteten Elegie Pont. 3,4 will der poeta den Triumph beschreiben, der Tiberius im Jahre 13 n. Chr. anlässlich des Pannonienfeldzuges zugesprochen worden war, sieht sich jedoch vor das Problem mangelnder Aktualität gestellt: Er erfährt von dem Triumph nur durch Hörensagen, andere sind ihm zuvorgekommen, Ov. Pont. 3,4,17–20; 51–56: Spectatum uates alii scripsere triumphum: est aliquid memori uisa notare manu. nos ea uix auidam uulgo captata per aurem 20 scripsimus, atque oculi fama fuere mei. (…) 51 est quoque cunctarum nouitas carissima rerum, gratiaque officio, quod mora tardat, abest. cetera certatim de magno scripta triumpho iam pridem populi suspicor ore legi 55 illa bibit sitiens lector, mea pocula plenus: illa recens pota est, nostra tepebit aqua. Andere Dichter haben den Triumphzug gesehen und ihn dann geschrieben, es ist schon etwas, mit erinnernder Hand Gesehenes zu beschreiben. Ich aber schrieb das, was ich durch gieriges Hören dem Volke abgriff, das Gerücht wurde mein Auge. (…) Auch ist ja die Neuheit aller Geschehnisse am meisten wert, und der Pflichterfüllung wird kein Dank gezollt, wenn Verzögerung hemmt. Anderes, was um die Wette über den großen Triumph geschrieben wurde, wird, denke ich, längst im Volksmund verlesen. Jene Becher trinkt der durstige Leser, meine der volle, jenes Wasser ist frisch, das meine schmeckt schal.

Diese Schwierigkeit gleicht der Dichter aus, indem er vorausschauend die zukünftigen Taten des Tiberius beschreibt, und so der stadtrömischen Konkurrenz zuvorkommt.631 Etwa zwei Jahre später, nachdem er vom Tod des 631 Vgl. Ov. Pont. 3,4,87–114. Den Triumph des Tiberius erwähnt Ovid auch in der an

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Augustus vernommen hat, wendet sich der poeta exul an Carus und beschreibt dem Freund ein Preisgedicht, das er zu Ehren des Thronfolgers Tiberius und dessen Söhnen Drusus und Germanicus verfasst hat.632 Während der poeta exul allerdings zwei Jahre zuvor noch in der Lage war, den Triumph und die kommenden Taten des Tiberius in lateinischer Sprache zu beschreiben, sieht er seine Sprachkunst jetzt dem Verfall preisgegeben. Er verfasst die laudes Caesarum in getischer Sprache und wird, wie er schon in einer Elegie der Tristien befürchtet hatte, immer mehr zu einem getischen Dichter.633 Dass Ausonius die Exilelegien tatsächlich in so enger Verknüpfung gelesen wissen will, verdeutlicht einerseits der Inhalt beider Elegien, andererseits die Form der Reminiszenz selbst. Die Reminiszenzen sind durch das Schlüsselwort uerba miteinander verknüpft, ihre Wirkung – so das Signal – erzeugen sie nur im Zusammenhang. Auf welche Weise sich die ovidischen Elegien im Kontext der Briefgedichte an Paulinus entfalten, zeigt exemplarisch Ov. Pont. 4,13. Das Gedicht beginnt und endet mit einer Anrede an den Adressaten, Ov. Pont. 4,13,1–2 und 43–50: 1

O mihi non dubios inter memorande sodales, qui quod es, id uere, Care, uocaris, aue! (…) at tu, per studii communia foedera sacri, per non uile tibi nomen amicitiae 45 (sic capto Latiis Germanicus hoste catenis den Adoptivsohn des Tiberius, Nero Claudius Germanicus, gerichteten Elegie Pont. 2,1: Anders als in Ov. Pont. 3,4 ist fama hier jedoch (vielleicht mit Blick auf den Adressaten) positiv besetzt. Ov. Pont. 2,1,19–52, bes. 19–20: Gratia, Fama, tibi! per quam spectata triumpho/ incluso mediis est mihi pompa Getis. 632 Vgl. Ov. Pont. 4,13,23–32: Materiam quaeris? laudes: de Caesare dixi./ adiuta est nouitas numine nostra dei./ nam patris Augusti docui mortale fuisse/ corpus, in aetherias numen abisse domos:/ esse parem uirtute patri, qui frena rogatus/ saepe recusati ceperit imperii:/ esse pudicarum te Vestam, Liuia, matrum,/ ambiguum nato dignior anne uiro:/ esse duos iuuenes, firma adiumenta parentis,/ qui dederint animi pignora certa sui. Zu Carus als Prinzenerzieher vgl. Ov. Pont. 4,13,47–48: Sic ualeant pueri, uotumque commune deorum,/ quos laus formandos est tibi magna datos. Die in vv. 31–32 genannten iuuenes sind der leibliche Sohn des Tiberius, Drusus Iulius Caesar, und sein Adoptivsohn Germanicus Iulius Caesar, die sich zwischen 10 und 16 n. Chr. militärische Verdienste in Germanien erwarben. Vgl. die kurzen Zusammenfassungen von Eck, Werner: Art. Drusus (II 1), DNP 3, 825–826. und Ders., Art. Germanicus (2), DNP 4, 963–965. Die v. 47 erwähnten pueri sind wahrscheinnlich die Söhne des Germanicus: Nero Iulius Caesar, Drusus Caesar und Caligula. 633 Vgl. Ov. Pont. 4,13,17–22. Die Befürchtung, er könne immer mehr zu einem getischen Dichter werden, äußert der poeta exul bereits Ov. trist. 5,12,57–58 und unterstreicht seine Unfähigkeit lautlich: Ipse mihi uideor iam dedidicisse Latine:/ nam didici Getice Sarmaticeque loqui. Ovid beweist gerade an dieser Stelle sein Können als Dichter. Vgl. dazu Ehlers (1988) passim und Barchiesi (1997) 34–36.

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materiam uestris afferat ingeniis: sic ualeant pueri, uotum commune deorum, quos laus formandos est tibi magna datos), quanta potes, praebe nostrae momenta saluti, 50 quae nisi mutato nulla futura loco est. Du, der du von mir unter die wahren Freunde zu rechnen bist, weil du nach dem gerufen wirst, was du wahrhaftig bist, Carus, sei gegrüßt. (…) Aber du, bei den gemeinsamen Bündnissen unseres geweihten Bemühens, bei dem dir nicht wertlosen Namen der Freundschaft (so möge Germanicus, nachdem der Feind mit latinischen Ketten gefesselt, deiner Begabung einen neuen Stoff liefern, so mögen die Söhne gedeihen – das ist der gemeinsame Wunsch der Götter – die zu formen du die große Ehre hast) soviel du vermagst, trage zu meiner Rettung bei, die nie möglich sein wird, es sei denn ich wechsel den Ort.

Carus trägt einen sprechenden Namen. Er ist unter die wenigen wahren Freunde des poeta exul zu rechnen. Entsprechend formuliert der poeta am Ende des Gedichtes eine eindringliche Bitte: In Erinnerung an ihre gemeinsamen literarischen Interessen und ihre Freundschaft soll Carus ihm helfen, nach Rom zurückzukehren. Denn er selbst wünscht für den Freund nur das Beste, dass Germanicus ihm mit einem Sieg über die Feinde Roms einen Anlass zu literarischer Betätigung, zu einem Panegyricus gebe, dass die ihm anvertrauten pueri unter seiner Obhut gedeihen mögen. Diese pueri können niemand anders sein als der Sohn des Drusus – Tiberius Iulius Caesar – und die vier Söhne des Germanicus: Nero, Iulius Caesar, Drusus Caesar und Caligula.634 Carus war Panegyriker und Prinzenerzieher.635 An dieser Stelle wird nun das Band zwischen Exilelegie und spätantikem Briefgedicht sichtbar: Auch Ausonius war Prinzenerzieher und Panegyriker. Er war der Lehrer Gratians, und Gratian selbst bot ihm Anlass zu einem breit angelegten Panegyricus, in dem er unter anderem die militärischen Erfolge des Prinzeps, darunter die (auch von Ovid in Pont. 3,4 angesprochene) Sicherung der Rhein- und Donaugrenze, feiert.636 Carus ist eine ideale Identifikationsfigur. 634 Die Kommentatoren sprechen zumeist lediglich von den Söhnen des Germanicus, dies jedoch ohne ersichtlichen Grund. Vgl. Barchiesi (1997) 37–38. 635 Ovid erwähnt Pont. 4,13,15–16 und 4,16,7–8 eine Herculeis. Diese dürfte Carus als Panegyriker ausweisen, da Hercules als Vorbild des idealen Herrschers gilt: Eine augusteische Herculeis bietet also versteckter und offensichtlicher Augustus-Panegyrik breiten Raum, vgl. Barchiesi (1997) 35. 636 Vgl. Auson. 21,2,7–10: Aguntur enim gratiae non propter maiestatis ambitum neque sine argumentis imperatori fortissimo – testis est uno pacatus anno et Danuuii limes et Rheni; liberalissimo – ostentat hoc diues exercitus; (…) possum ire per omnes appellationes tuas, quas olim uirtus dedit, quas proxime fortuna concessit, quas adhuc indulgentia diuina meditatur, uocare Germanicum deditione gentilium, Alamannicum traductione captorum, uincendo et ignoscendo Sarmaticum, conectere omnia merita uirtutis et cognomina felicitatis (…). Vgl. dazu Ov. Pont. 3,4,87–108. Nicht sicher ist, welche zukünftigen militärischen Erfolge Ovid in Ov. Pont. 4,13,45–48 meint.

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Mit ihrer Hilfe signalisiert Ausonius den Beginn eines weiteren literarischen Rollenspiels: Der Ich-Sprecher wird – in der literarischen Fiktion – zu Carus, Paulinus zum Verbannten, der einen Hilferuf an den Freund sendet. Die Exil-Elegien Ov. Pont. 3,4 und 4,13 zeigen Paulinus die Zukunft, das Schicksal, das ihm die Fremde bringt: Er droht die Fähigkeit, in lateinischer Sprache zu dichten, zu verlernen und immer stärker die Gewohnheiten und die Sprache der Barbaren anzunehmen. Tatsächlich könnte Paulinus in der Zukunft solche Elegien schreiben, solche Hilferufe aus dem Exil senden. Das ist es, was Ausonius meines Erachtens mit Hilfe Ovids sagen will: Die Prätexte zeigen eine mögliche Zukunft, sie zeigen zwei mögliche Briefe des Paulinus. An anderer Stelle wurde darauf hingewiesen, dass durch die gleichsam strategisch gesetzten Ovid- und Vergil-Reminiszenzen an den Briefanfängen und Briefenden ein Rollentausch vorgenommen wird, der die Gesetze der Exilelegien auf den Kopf stellt und das naturwidrige Verhalten des Paulinus symbolisiert: Paulinus wird in die paradoxe Rolle eines freiwillig Verbannten gedrängt, während Ausonius als Briefschreiber auftritt, der eine nicht weniger merkwürdige Rolle ausfüllen muss. Obwohl er in der Welt der römischen Dichtung, in einem innerlichen Rom lebt, muss er mit Hilfe von Briefen das freiwillige Exil und das Schweigen des Freundes beklagen und ihn um Rückkehr bitten.637 Diese verkehrte Welt wird hier korrigiert: Der freiwillig verbannte Paulinus wird zum tatsächlichen poeta exul und Briefschreiber werden, er wird den Verlust der eigenen Sprache und den Verlust seiner dichterischen Identität beklagen und den treuen Freund um Rettung anflehen und schreiben: praebe nostrae momenta saluti (Ov. 4,13,49). Und er wird erkennen, dass das einzige Heil in der Rückkehr liegt. Das so entworfene Bild wirkt düster. Der Leser weiß, dass die Bitten des ovidischen poeta exul erfolglos blieben. Ausonius lässt also Paulinus in die Rolle des ovidischen Briefschreibers schlüpfen, die zuvor er als Ich-Sprecher ausgefüllt hatte. Gleichzeitig schlüpft er in die persona des Carus, der als historische Figur in der augusteischen Zeit als Prinzenerzieher und Dichter ähnliche Funktionen ausübt wie er selbst. Der ovidische poeta exul und Paulinus auf der einen, die Prinzenerzieher Carus und Ausonius verschmelzen also durch die Überlagerung von Exilelegie und Briefgedicht. Die Exilelegien selbst werden so in gewisser Weise zu fiktiven Briefen des Paulinus, zu fiktiven Briefen in einem tatsächlich vorliegenden Brief oder – vorsichtiger formuliert – zur Folie eines irgendwann von Paulinus zu schreibenden Briefgedichtes. Sie beschreiben die Welt des von Paulinus freiwillig gewählten Exils und die Folgen seiner Entscheidung: Den Verlust der eigenen Sprache und den Verlust der dichter-

637 Vgl. zur Figur des freiwillig Verbannten Rücker (2009) und auch oben Kap. 7.

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ischen Identität. Ausonius konstruiert also mit Hilfe der Exilelegien einerseits die mögliche Zukunft des Freundes, andererseits aber auch einen möglichen Fortgang des Briefwechsels. Realität und Fiktion verschmelzen, die im Rahmen der Intertextualitätstheorie postulierte semantische Explosion eines Textes wird an dieser Stelle Wirklichkeit.638

8.4.2 Der Tod des Arruns

8.4.2.1 Der Antiheld Ausonius nimmt die Motive Exil und Sprachlosigkeit, die sich hier noch unter der Textoberfläche verbergen, im Verlauf des Gedichtes schließlich direkt auf, indem er den Exilort des Paulinus benennt: Die schneebedeckten Einöden der Pyrenäen und die einst vom verbannten Sertorius verwüstete Hispania Tarraconensis. Sie sind verantwortlich für die Pflicht- und Heimatvergessenheit des Freundes.639 Wichtiger aber als die Benennung des Exilortes ist eine in Auson. 27,21,8 folgende dritte Reminiszenz, die das bisher im Zusammenspiel von Prätext und neuem Text Gesagte um einen Aspekt erweitert. Die Wendung mediis interuenit armis deutet auf Verg. Aen. 11,806–815: Fugit ante omnis exterritus Arruns laetitia mixtoque metu, nec iam amplius hastae credere nec telis occurrere uirginis audet. ac uelut ille, prius quam tela inimica sequantur, 810 continuo in montis sese auius abdidit altos occiso pastore lupus magnoue iuuenco, conscius audacis facti, caudamque remulcens subiecit pauitantem utero siluasque petiuit: haud secus ex oculis se turbidus abstulit Arruns 815 contentusque fuga mediis se immiscuit armis. Vor allen flieht Arruns erschüttert von Freude und beigemengter Furcht. Nicht wagt er, der Lanze noch weiter zu trauen, noch sich den Waffen der Jungfrau zu stellen. Und so verbirgt sich, bevor feindliche Waffen ihm folgen, im hohen Gebirge der umherstreifende Wolf, nachdem er den Hirten oder den großen Jungstier getötet hat. Sich wohl bewusst der kühnen Tat, zieht er den Schwanz ein, rollt den ängstlich zitternden unter dem Bauch ein und enteilt in die Wälder: Nicht weniger stiehlt sich Arruns erschrocken davon und zufrieden mit der Flucht taucht er unter im Heer.

Ausonius verweist den Leser mit Hilfe der Reminiszenz mediis … armis auf das Handeln des etruskischen Krieger Arruns, der auf das Kampfgeschehen im elften Buch der Aeneis entscheidenden Einfluss nimmt. Während die 638 Vgl. zur semantischen Explosion Lühken (2002) 27 und Kap. 2.4.2. 639 Auson. 27,21,51–61.

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Latiner Drances und Turnus im Kriegsrat des Latinus noch die Möglichkeiten, einen neuen Kampf zu vermeiden, abwägen, greift Aeneas die Stadt an. Darauf stellt sich die Volskerkönigin Camilla der trojanischen Reiterei und tötet zahlreiche trojanische Helden. Schließlich fasst sich der Etrusker Arruns ein Herz und tötet die der Diana geweihte Kriegerin mit einem einzigen Speerwurf. An diesem Punkt des Geschehens setzt der abgedruckte Vergil-Text ein: Erschüttert von der eigenen Tat flieht Arruns in das dichteste Kampfgetümmel – mediis armis – und versucht dort unerkannt zu bleiben. Sein Verhalten bewertet der Erzähler in einem Gleichnis: Arruns verhält sich wie ein Wolf, der zunächst kühn mordet, dann aber den Schwanz einzieht und im dichten Wald hoher Berge unterzutauchen versucht. Dass Ausonius diese Szene als literarisches Vorbild wählt,640 verdeutlicht nicht nur die Übernahme von zwei Worten an jeweils derselben Versposition, sondern auch die Handlung des Prätextes selbst, die sich in dieser Szene in fünf Phasen entwickelt: Erstens: Arruns beobachtet Camilla. Zweitens: Er beschließt, sie zu töten, und bittet Apoll um Unterstützung. Drittens: Arruns schleudert den Speer auf Camilla und zieht sich feige in das Getümmel zurück. Viertens: Camilla stirbt. Fünftens: Arruns wird von Opis gestraft und getötet. Besonders aufschlussreich für den Zusammenhang des Briefgedichtes sind das Gebet des Arruns an Apoll und seine Tötung durch Opis. Nachdem Arruns lange unbemerkt hinter Camilla hergeschlichen ist, entschließt er sich zum Wurf und ruft zuvor Apoll um Hilfe an, Verg. Aen. 11,785–793: (…) telum ex insidiis cum tandem tempore capto concitat et superos Arruns sic uoce precatur: ›summe deum, sancti custos Soractis Apollo, quem primi colimus, cui pineus ardor aceruo pascitur, et medium freti pietate per ignem cultores multa premimus uestigia pruna, da, pater, hoc nostris aboleri dedecus armis, 790 omnipotens. non exuuias pulsaeue tropaeum uirginis aut spolia ulla peto, mihi cetera laudem facta ferent; haec dira meo dum uulnere pestis pulsa cadat, patrias remeabo inglorius urbes.‹ (…) als er endlich die Gelegenheit beim Schopfe packt, aus dem Hinterhalt den Speer schleudert und die Götter so anruft: ›Höchster der Götter, Wächter des heiligen Soracte, Apoll, den wir als erste verehren, für den Fichtenhitze im Holzstoß glüht und für den wir vertrauend auf pietas, wir, die Verehrer, unsere Spuren der glühenden Kohle eindrücken, gewähre, allmächtiger Vater, dass diese Schande durch unsere Waf640 Unter formalen Gesichtspunkten wäre auch zu denken an Verg. Georg. 2,282–283: (…) necdum horrida miscent/ proelia, sed dubius mediis Mars errat in armis. Inhaltlich spricht jedoch, wie im folgenden gezeigt wird, alles für die Arruns-Episode.

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fen getilgt werde. Nicht strebe ich nach der Rüstung, nicht nach der Trophäe der besiegten Jungfrau oder anderen Beutestücken, andere Taten werden mir Ruhm bringen. Solange nur diese unheilvolle Krankheit von meiner Wunde geschlagen fällt, werde ich ruhmlos in die Heimatstädte zurückkehren.‹

Apoll erhört das Gebet teilweise: Arruns wird die Königin töten, jedoch nicht in seine Heimat zurückkehren.641 Das hat seinen Grund. Noch vor Beginn der Kämpfe hatte Diana die Nymphe Opis beauftragt, den möglichen Mörder der Camilla – gleich ob Trojaner oder Italer – mit dem Tod zu bestrafen, und gleichzeitig versprochen, die ihr geweihte Jungfrau Camilla eigenhändig in der Erde ihres Vaterlandes zu bestatten.642 Und tatsächlich findet die Nymphe den Etrusker in seinem Versteck, Verg. Aen. 11,863–866: Hic dea se primum rapido pulcherrima nisu sistit et Arruntem tumulo speculatur ab alto. ut uidit fulgentem armis ac uana tumentem, 855 ›cur‹ inquit ›diuersus abis? huc derige gressum, huc periture ueni, capias ut digna Camillae praemia. tune etiam telis moriere Dianae?‹ (…) extemplo teli stridorem aurasque sonantis audiit una Arruns haesitque in corpore ferrum. 865 illum exspirantem socii atque extrema gementem obliti ignoto camporum in puluere linquunt. Hier stellt sich die Göttin zunächst in schnellem Schwung auf und erblickt Arruns von der Grabeshöhe aus. Wie sie ihn da glänzend in Waffen sieht, sich blähend voll Eitelkeit, spricht sie: ›Warum fliehst Du? Wende hierhin deinen Schritt, hierhin komm und stirb, damit du den Lohn würdig der Camilla empfängst. Wirst du nicht durch das Geschoss der Diana sterben?‹ (…) Plötzlich hört Arruns das Zischen des Geschosses und die singende Luft, und gleichzeitig schlägt die Spitze in den Körper ein. Ihn, der sein Leben aushaucht und ein letztes Mal röchelt, vergessen die Freunde. Sie lassen ihn im Staub der unbekannten Gegend ihn zurück.

Arruns sieht das Vaterland nicht noch einmal, stirbt einsam, in der Fremde zurückgelassen von den Gefährten. Übertragen in den Kontext des Briefgedichts erinnert das Schicksal des Arruns – seine verhinderte Rückkehr, sein Tod in der Fremde – in gewisser Weise an das Schicksal des ovidischen poeta exul, der sein Ende in der Fremde fürchtet: Führt also die Vergil-Reminiszenz den Gedanken der zuvor von Ausonius evozierten Exilelegien zu Ende? 641 Vgl. Verg. Aen. 11,794–798: Audiit et uoti Phoebus succedere partem/ mente dedit, partem uolucris dispersit in auras: sterneret ut subita turbatam morte Camillam, adnuit oranti; reducem ut patria alta uideret,/ non dedit, inque notos uocem uertere procellae. 642 Vgl. den Auftrag der Diana an die Nymphe Opis, Verg. Aen. 11,590–594: Haec cape et ultricem pharetra deprome sagittam:/ hac quicumque sacrum uiolarit uolnere corpus,/ Tros Italusque mihi pariter det sanguine poenas./ post ego nube caua miserandae corpus et arma/ inspoliata feram tumulo patriaeque reponam.

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Folgt auf den Verlust der eigenen Sprache und auf den Verlust der dichterischen Identität zwangsläufig der Tod in der Fremde? Warnt der Ich-Sprecher erneut den Adressaten Paulinus? Ist das Handeln des Arruns mit dem des Paulinus vergleichbar? Sicherlich ist Paulinus kein zweiter Arruns: Er tötet keine Königin aus dem Hinterhalt. Auch ist nicht zu erwarten, dass er durch einen Racheakt der Diana umkommen wird. Trotz dieser offenkundigen Unterschiede lohnt sich eine genauere Betrachtung der Protagonisten: Arruns ist dem Schicksal verfallen (fatis debitus), er lauert schweigend auf eine Möglichkeit zum Mord (tacitus uestigia lustrat), er ist ein improbus uir. Seine Waffe findet nur aus dem Hinterhalt ihr Ziel. Den offenen Kampf wagt er nicht. Nach der Tat ist Arruns erschüttert (exterritus) und verstört (turbidus) und wie der mit ihm verglichene auius lupus, der kühn mordet und dann feige im Wald untertaucht, sucht er sein Heil in der Flucht. Er stiehlt sich davon und zeigt sich dennoch stolz in glänzenden Waffen. Arruns ist trotz seiner Verdienste ein Antiheld, der sich durch seine Hinterhältigkeit und Feigheit von den übrigen besiegten und unbesiegten Helden des elften Buches deutlich abhebt.643 So wird ihm anders als z. B. Pallas und Camilla keine prachtvolle Leichenfeier ausgerichtet. Er wird im Gegenteil tot am Strand zurückgelassen und sieht die Heimat nicht mehr. Mehrere Parallelen sprechen dafür, diesen vergilischen Antihelden dem Helden des Briefgedichtes, Paulinus, an die Seite zu stellen. Erstens flieht Paulinus wie der mit Arruns verglichene Wolf in die Einsamkeit der Gebirgswälder. Ausonius evoziert so mit Hilfe der Reminiszenz ein Motiv, das sich in den meisten der folgenden Prätexte ebenfalls findet: Fast immer zieht sich der Protagonist angsterfüllt in die Wälder zurück und geht so seinem Verderben entgegen.644 Zweitens treffen die Wesenszüge, mit denen der vergilische Erzähler das Verhalten des Arruns bewertet, auf Paulinus und seinen schlechten Ratgeber zu: Wie Arruns vermeidet Paulinus, indem er schweigt, die offene Konfrontation. Wie Arruns wird Paulinus von Furcht vor Verrat und Bestrafung getrieben. Dabei wird Paulinus aber nie explizit durch Begriffe wie improbus, turbidus oder exterritus gekennzeichnet, und auch der Vorwurf, eine offene Konfrontation zu meiden und zu fliehen, wird nicht offen ausgesprochen. Das Unausgesprochene wird erst durch den Kontext des Briefgedichtes und durch die uneigentliche Sprechweise der Reminiszenzen offenbar: Wie der vergilische Arruns nimmt Paulinus durch sein Verhalten Wesenszüge eines Feiglings an.645 643 Vgl. auch die Interpretation von Schmit-Neuerburg (1999) 228–232. 644 Vgl. die Beispiele oben Anm. 612. 645 Dieser Sachverhalt verschärft sich, wenn Arruns tatsächlich ein Krieger auf Seiten der Latiner, also ein Gefährte der Camilla gewesen sein sollte, wie jüngst wieder von Fratantuono (2006) 284–290, bes. 285–286 postuliert: »Virgil describes her pursuer as improbus (…), usually translated as ›relentless‹ or ›untiring‹. But the adjective also conveys its pejorative sense

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Über diesen Charakterzug hinaus kann der vergilische Arruns dem Adressaten des Briefwechsels vielleicht in einer weiteren Hinsicht an die Seite gestellt werden. Durch sein Gebet gibt sich Arruns als Priester des Apollo Soranus zu erkennen. Dessen Priester, die Hirpi Sorani konnten als Wolfsdämonen verkleidet über glühende Kohlen gehen, ohne sich zu verletzen.646 Vermutlich in seiner Eigenschaft als Priester kann Arruns das Verhalten der Camilla nicht ertragen. Ihr Auftreten als Kriegerin erfüllt ihn mit Abscheu, sie ist für ihn eine dira pestis.647 Die Junktur dira pestis erinnert in diesem Kontext deutlich an die pestes cognomine Dirae, an die gefiederten, weiblichen Unheils- und Fluchdämonen im zwölften Buch der Aeneis. Sie erscheinen den Menschen als Unheilszeichen und lassen sie in ihren Handlungen vor Schreck erstarren.648 Arruns hält Camilla offenbar für ein unheilvolles Zeichen, für eine Fluchgöttin.649 Es ist seine Pflicht, sie zu töten, denn in den Aufgabenbereich des Apollon fällt die Abwehr böser Zeichen.650 An of ›evil‹ here. First, Arruns is explicitly said to be shadowing Camilla in both her attacks and her retreats, a feat that would be somewhat remarkable if done by an enemy and not one of her own allies. Second, taking Arruns to be on Italian site gives more explanation to why he runs away after he slays her, while his prayer to Apollo that he be allowed to return home however inglorious, gets added weight if he slew his own commander.« 646 Die ausführlichste Beschreibung des Kultes bei Plin. n. h. 7,19. Mit Apoll wird die etruskische Unterweltsgottheit Soranus CIL XI 7485 identifiziert. Zur Entstehungsgeschichte des Kultes vgl. Latte (1976) 148. 647 Vgl. Verg. 11,792. 648 Vgl. z. B. die Beschreibung Verg. Aen. 12,845–852: Dicuntur geminae pestes cognomine dirae/ quae et Tartaream Nox intempesta Megaeram/ uno eodemque tulit partu paribusque reuinxit/ serpentum spiris uentosasque addidit alas. Dazu passend wird Camilla Verg. 11,721– 724 mit einem Vogel verglichen, allerdings mit dem heiligen Habicht: Quam facile accipiter saxo sacer ales ab alto/ consequitur pennis sublimen in nube columbam/ comprensamque tenet pedibusque euiscerat uncis;/ tum cruor et uolsae labuntur ab aethere plumae. Die Erstarrung eines Dirae-Opfers wird am Beispiel des Turnus beschrieben Verg. Aen. 12,860–868. Vgl. grundsätzlich zur Funktion der Dirae im Epos auch Hübner (1970) 1–25. 649 Diese Interpretation wird durch eine Szene im ersten Buch der Pharsalia des Lucan bestätigt. Dort tritt ein etruskischer Haruspex namens Arruns auf, der angesichts unheilvoller Himmels- und Naturzeichen eine Eingeweideschau vornimmt: Lucan. 1,611–615: (…) inpatiensque (sc. aris) diu non grati uictima sacri,/ cornua succincti premerent cum torua ministri, deposito uictum praebebat poplite collum./ nec cruor emicuit splitus, sed uolnere largo/ diffusum rutilo dirum pro sanguine uirus. Bereits der Name des Haruspex, Arruns, erinnert den Leser an das elfte Buch der Aeneis. Darüber hinaus treten die Junkturen uolnere largo (614) und dirum … uirus (615) an die Stelle von uolnere … meo und dira … pestis, Verg. Aen. 11,792– 793: (…) haec dira meo dum uolnere pestis/ pulsa cadat. Lucan sieht in der Camilla Vergils offenbar ein Unheilszeichen und in Arruns denjenigen, der dieses Zeichen erkennt und gegen es vorgehen kann. Auf diese Weise kann der vergilische Arruns zur Folie des lucanischen Arruns werden. 650 Vgl. dazu Danoff, Christo: Art. Apollon, KLP 1,441–448, bes. 442–443. Es wirkt ironisch, dass der hirpus Arruns sich zur Abwehr der dira pestis an Apoll wenden muss, denn in

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dieser Stelle scheint es möglich, einen weiteren Bezug zum Adressaten des Briefgedichts herzustellen. Denn Paulinus gehört als Asket einer kleinen und elitären Gruppe von Christen an und wird von Ausonius zweimal mit Mysterienkulten und außerdem, wie an anderer Stelle zu zeigen sein wird, mit einem zweiten rigorosen Priester, nämlich mit Attis, in Verbindung gebracht.651 Zum anderen wird die Tradition der Hirpi Sorani an der Wende zum 4. Jahrhundert durch christliche Einsiedler fortgeführt, die sich aus Rom an den mons Soracte zurückziehen, um dort in der Einsamkeit zu leben. Der berühmteste dieser Einsiedler war (so die Überlieferung der actus Silvestri und des liber pontificalis Damasiani) Silvester I., der am Soracte angeblich von Konstantin aufgesucht wurde.652 Auch wenn es nicht zu beweisen ist, so ist es zumindest nicht unwahrscheinlich, dass Ausonius als Gelehrter von dieser Tradition wusste und sie mit Hilfe der Reminiszenz für den Briefwechsel nutzbar macht.

8.4.2.2 Strukturelle Funktionen der Arruns-Figur Die Geschichte von Arruns und Camilla ist noch in anderer Hinsicht aufschlussreich für das Verständnis des Briefwechsels. Den Tod der Camilla beschreibt Vergil mit den Worten, Verg. Aen. 11,828–831: Tum frigida toto paulatim exsoluit se corpore, lentaque colla 830 et captum leto posuit caput, arma relinquunt, uitaque cum gemitu fugit indignata sub umbras. Dann löst sie sich erkaltend allmählich ganz von ihrem Körper, legt den gebeugten Nacken und das im Tod gefangene Haupt nieder und streckt die Waffen, und ihr Leben fährt, voll Unmut, aufstöhnend hinab zu den Schatten.

Die Todesszene weist deutlich auf den letzten Vers der Aeneis und so auf den Tod des Turnus. Auch seine Seele fährt voll Unmut zu den Schatten, Verg. Aen. 12,951–925: der griechischen Mythologie tritt der apotropäische Apollon vor allem als Wolfstöter auf; und auch in diesem Fall ist Apollon mit für den Tod des hirpus Arruns verantwortlich, indem er ihm seinen Schutz verwehrt, Verg. Aen. 11,794–798. 651 Vgl. Auson. 27,21,27; 22,4–5. Zu Attis vgl. unten Kap. 8.8. 652 Greg. Dial. 1,7; epist. 1,24 und lib. pont. 314, PL 8,795 berichten davon, dass Konstantin Silvester wegen seines Aussatzes aufgesucht habe. Dieser habe die harte Haltung des Augustus gegen die Christen als Grund erkannt und Konstantin zur Buße und Taufe geraten; dieser Taufbericht ist als stadtrömisch verortetes Konkurrenzmodell zur Taufe Konstantins durch Eusebius von Nikomedien in Konstantinopel aller Wahrscheinlichkeit eine Legende, die allerdings kirchenpolitisch wirkungsmächtig war, vgl. Amerise (2005) 93–118.

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Ast illi soluuntur frigore membra uitaque cum gemitu fugit indignata sub umbras. Jenem sinken in Erstarrung die Glieder, und sein Leben fährt, voll Unmut, aufstöhnend hinab zu den Schatten.

Dass Camilla und Turnus jeweils voll Unmut und aufstöhnend zu den Schatten fahren, ist nicht die einzige Parallele: Beide sterben, weil sie geblendet werden. Camilla wird abgelenkt, weil sie von weiblicher Gier nach glänzender Beute beherrscht wird, durch den in goldener Rüstung und feinen Stoffen kämpfenden Seher Chloreus. Nur deshalb findet der Speer des Arruns sein Ziel.653 Turnus stirbt, weil er einst das goldene Wehrgehenk des Pallas genommen hat und es im Zweikampf mit Aeneas zur Schau stellt.654 Allerdings wird Camilla von Arruns, Turnus aber von Aeneas getötet. Doch auch hier zeigt sich eine Parallele: Arruns stirbt einsam in der Fremde, an einem verlassenen Strand und nimmt damit das Schicksal des Aeneas, das Dido in ihrem Fluch auf ihn herabwünscht, vorweg, Verg. Aen. 4,615–620: At bello audacis populi uexatus et armis, finibus extorris, complexu auulsus Iuli auxilium imploret uideatque indigna suorum funera; nec, cum se sub leges pacis iniquae tradiderit, regno aut optata luce fruatur, 620 sed cadat ante diem mediaque inhumatus harena. Aber heimgesucht von dem Krieg und den Waffen eines verwegenen Volkes, verbannt aus seinem Land, entrissen der Umarmung des Iulus soll er um Hilfe flehn und die unwürdigen Bestattungen der seinen sehen; und nicht, wenn er sich auch den Gesetzen des ungerechten Friedens gelangt hat, soll er Herrschaft und das ersehnte Leben genießen, sondern vor der Zeit fallen, unbestattet, mitten am Strand.

653 Verg. Aen. 11,778–784: Hunc uirgo, siue ut templis praefigeret arma/ Troia, captiuo siue ut se ferret in auro/ uenatrix, unum ex omni certamine pugnae/ caeca sequebatur totumque incauta per agmen/ femineo praedae et spoliorum ardebat amore,/ telum ex insidiis cum tandem tempore capto/ concitat et superos Arruns sic uoce precatur: 654 Vgl. den ›Raub‹ des Wehrgehenks Verg. Aen. 10,495–502: Et laeuo pressit pede talia fatus/ exanimem rapiens immania pondera baltei/ impressumque nefas: una sub nocte iugali/ caesa manus iuuenum foede thalamique cruenti,/ quae Clonus Eurytides multo caelauerat auro;/ quo nunc Turnus ouat spolio gaudetque potitus. Die Konsequenz folgt, als Aeneas das Wehrgehenk wiedererkennt, Verg. Aen. 12,938–949: Stetit acer in armis/ Aeneas uoluens oculos dextramque repressit;/ et iam iamque magis cunctantem flectere sermo/ coeperat, infelix umero cum apparuit alto/ balteus et notis fulserunt cingula bullis/ Pallantis pueri, uictum quem uulnere Turnus/ strauerat atque umeris inimicum insigne gerebat./ ille, oculis postquam saeui monimenta doloris/ exuuiasque hausit, furiis accensus et ira/ terribilis: ›tune hinc spoliis indute meorum eripiare mihi? Pallas te hoc uulnere, Pallas/ immolat et poenam scelerato ex sanguine sumit.‹ Darauf folgt der Todesstoß.

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Aeneas soll vor seiner Zeit fallen und unbestattet am Strand zurückbleiben. Diese Prophezeiung erfüllt sich im Gegensatz zu allen anderen Vorhersagen nicht in der Aeneis selbst, die mit dem Tod des Turnus endet. Bestätigt wird die Weissagung der Dido jedoch durch die Todesart des Arruns, der ignoto in puluere von den Gefährten zurückgelassen wird und auch sonst, wie Laurence Kepple zeigen konnte, zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Aeneas aufweist:655 Als einzige Figur neben Aeneas wird Arruns explizit als fatis debitus bezeichnet. Er zeichnet sich nicht nur wie Aeneas durch ein hohes Maß an pietas aus, seine pietas ähnelt der des Aeneas.656 Von Arruns heißt es tacitus uestigia lustrat (Verg. Aen. 11,763), von Aeneas solum densa in caligine Turnum/ uestigat lustrans (Verg. Aen. 12,466–467).657 In Camillas Tod kündigt sich also der Tod des Turnus, in Arruns’ Tod der Tod des Aeneas an. Was Vergil dadurch erreicht, beschreibt Kepple treffend: »Virgil certainly implies, then, a judgement on Aeneas’ killing of Turnus: as Turnus’ victory over Pallas was only a prelude to his death at the hands of Aeneas, so the triumph of Aeneas over Turnus is a portent of Aeneas’ own death. Virgil makes the destruction of Camilla and Turnus seem worthy of regret instead of rejoicing, even though their deaths advance the cause of Aeneas and Rome. The reader finds himself wishing that Camilla might have survived, that Turnus might have been spared – that the brave and the beautiful should not die of an inhuman Fate. It is for Arruns and Aeneas to enforce reality.«

Die Figur des Arruns leistet also innerhalb der Aeneis mehr, als der Leser zunächst erwarten kann. Sie ist in gewisser Weise ein Spiegel der Handlungen des Aeneas und deutet auf das Schicksal, dem auch Aeneas unterworfen ist. Im Kontext des Briefgedichtes spiegelt Ausonius mit Hilfe des vergilischen Arruns also das Verhalten des Adressaten. Gleichzeitig scheint er mit Arruns bereits auf die Figur des Aeneas und die Vergil-Reminiszenz am Ende des ersten Briefgedichtes vorauszuweisen, die den Fluch der Dido im vierten 655 Vgl. Kepple (1976) 350–356 und das Fazit 358: »These lines describe a fate which has a haunting similarity to the end which Dido (who get her way in every other respect) envisaged for Aeneas: Arruns dies unwept, in an anonymous place, having greatly benefitted his people. These details concerning Arruns, it must be remembered, can only have been created by the poet to serve his immediate purposes within the Aeneid. It can hardly be coincidential, therefore, that in virtually everything the reader is told about Arruns, there is a resonance of Aeneas.« 656 Vgl. dazu mit Beispielen Kepple (1976) 351. 657 Kepple (1976) 352 unterstreicht die Parallele noch durch folgende richtige Beobachtung: »These are the only places in the Aeneid in which a form of the verb ›lustro‹ is used with the noun›vestigia‹ or a form of the verb ›vestigo‹ in the same line.«

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Orpheus und Eurydice

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Buch der Aeneis evoziert.658 Wie an anderer Stelle gezeigt wurde, drängt Ausonius vor dem Hintergrund des düsteren Vergil-Textes den abtrünnigen Paulinus in die Rolle des Aeneas und weist so auf die Gefahren, die aus seinem Handeln erwachsen können. Aeneas ist aufgrund der in ihm vereinten Widersprüche eine ideale Identifikationsfigur, mit deren Hilfe Ausonius den säumigen Briefpartner in verschiedenen Rollen auftreten lassen kann.659 Die Widersprüchlichkeit, die Aeneas und auch Paulinus in sich vereinen, deutet Ausonius also bereits am Anfang des Briefgedichts in der Figur des Arruns an und lässt so erneut die Prätexte miteinander in Verbindung treten.

8.5 Orpheus und Eurydice 8.5.1 Vocalis imago

Die eben besprochenen Verse Auson. 27,21,7–8 können als Verse des Übergangs bezeichnet werden. Mit ihrer Hilfe verbindet Ausonius das einleitende Briefformular und den folgenden Katalog. Thematisch gehören die Verse bereits in die Priamel, die Reminiszenzen in v. 7 knüpfen aber mit dem Verweis auf die epistolaren Prätexte an die Einleitung an und signalisieren dem Leser den Verbleib innerhalb der Gattung. Der eigentliche Einstieg in die Priamel erfolgt schließlich mit v. 9. Dieser Vers entführt den Leser in eine bukolische Landschaft, die in den folgenden sieben Versen durch ein Netz aus Reminiszenzen entfaltet und illustriert wird. Die Verse neun und zehn umschreiben das in Höhlen und Wäldern erzeugte Echo der menschlichen Stimme: Steine antworten dem Menschen, an Höhlenwänden zurückgeworfen kehrt das Gespräch, aus den Hainen das Echo der Stimme zurück. Die Wirkung des Schalls ahmt Ausonius auch klanglich nach, indem er in v. 10 das Verb redit wiederholt, Auson. 27,21,10: sērmŏ rĕdīt, rĕdĭt et nemorum uocalis imago.

Das zweite redit wirkt mit seinen zwei kurzen Silben wie ein Echo des ersten redit, das an dieser Position im Hexameter auf der letzten Silbe betont ist.660 Thematisch zugrunde liegt diesen Versen die Echo-Passage aus dem vierten 658 Vgl. Auson. 27,21,73–74: Haec precor hanc uocem Boeotia numina Musa/ accipite et Latiis uatem reuocate Camenis. Im Vergleich dazu Verg. Aen. 4,611–621: Accipite haec … haec precor hanc uocem extremam cum sanguine fundi. Ausführlich besprochen wird die Reminiszenz Kap. 7.2. dazu auch Rücker (2009). 659 Vgl. dazu Rücker (2009). 660 Vgl. mit weiteren Beispielen und weiterführender Literatur zu dieser Klangfigur Mondin (1995) 252.

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Buch De rerum natura des Lukrez. Dort erklärt der Lehrdichter seinen Schülern, wie durch den Schall der Stimme im Gebirge ein Echo erzeugt wird, Lucr. 4,568–579: At quae pars uocum non auris incidit ipsas, praeterlata perit frustra diffusa per auras. 570 pars solidis allisa locis reiecta sonorem reddit et interdum frustratur imagine uerbi. quae bene cum uideas, rationem reddere possis tute tibi atque aliis, quo pacto per loca sola saxa paris formas uerborum ex ordine reddant, 575 palantis comites cum montis inter opacos quaerimus et magna dispersos uoce ciemus. sex etiam aut septem loca uidi reddere uoces, unam cum iaceres: ita colles collibus ipsi uerba repulsantes iterabant dicta referri. Ein Teil der Stimmen aber, der nicht die Ohren selbst erreicht, streicht vorbei und vergeht vergeblich in die Lüfte verströmt. Ein Teil prallt an festes Gelände und gibt zurückgeworfen einen Ton zurück und täuscht uns gelegentlich mit dem Bild eines Wortes. Hat man das gut erkannt, kann man erklären, auf welche Weise Felsen an einsamen Orten die gleichen Formen der Worte in derselben Reihenfolge zurückgeben, wenn wir die Gefährten, die durch schattige Gebirgsschluchten streifen, suchen und die verstreuten mit lauter Stimme rufen. Sieben oder acht Stimmen sah ich die Orte zurückgeben, obwohl man nur eine hineinwarf: So warfen die Hügel selbst den Hügeln Worte zurück, wiederholten den Vortrag der Worte.

Mit Hilfe dieser physikalischen Begründung kann der Lehrdichter den Aberglauben, dass das Echo durch das Feiern, das Flötenspiel und den Gesang von Faunen und Satyrn und durch die Lieder des Pan entstehe, widerlegen.661 Die zitierte Passage gilt als locus classicus der Echo-Beschreibungen, und sie dürfte, auch wenn keine direkte wörtliche Bezugnahme zu erkennen ist, den Versen 9 und 10 des Ausonius mittelbar zugrunde liegen.662 Zumindest verwendet Ausonius den Begriff imago hier in einer auffälligen Weise, da ihm, wie im folgenden zu zeigen sein wird,imago sonst zur Bezeichnung eines Bildes oder Abbildes dient, während er zur Beschreibung des Echos das ursprünglich griechische Wort echo nutzt. 661 Vgl. Lucr. 4,580–592. 662 Die Lukrez-Passage ist vermutlich auch Vorbild für Verg. georg. 4,49–50: Aut ubi odor caeni grauis aut ubi concaua pulsu/ saxa sonant uocisque offensa resultat imago. Ähnlich auch Varro rust. 3,16,2: Primum secundum uillam potissimum, ubi non resonent imagines (hic enim sonus harum fugae existimatur esse protelum), esse oportet aere temperato, neque aestate feruido neque hieme non aprico, ut spectet potissimum ad hibernos ortus, qui prope se loca habeat ea, ubi pabulum sit frequens et aqua pura. Zum Verhältnis von Auson. 27,21,9–10 und Lucr. 4,568–579 vgl. Mondin (1995) 251–252 Auson. 27,21,9–10: »Il particolare è quello descritto da Lucr. 4,537s. quo pacto per loca sola (…).«

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In dieser Weise spricht er auch am Ende des ersten Briefgedichtes an Paulinus nicht von der imago, sondern von der echo, welche die traurigen Klagen aus den Hainen der Hirten zurückträgt, Auson. 27,21,66–68:663 Non (sc. eum) quae pastorum nemoralibus abdita lucis solatur nostras echo resecuta loquellas; Nicht das Echo soll (sc. ihn) besänftigen, das verborgen in den schattigen Hainen der Hirten unsere Gesänge zurückwirft.

Zwar verknüpft Ausonius hier das physikalische Echo mit dem Namen der Nymphe, die sich im Mythos tatsächlich in den Wäldern verbirgt und Narcissus ihre Liebe anbietet, doch bestätigt sich der Befund an anderer Stelle. In einem poetischen Brief an den Rhetor Assius Paulus versucht der Briefschreiber den Freund davon zu überzeugen, ihn auf seinem Landgut zu besuchen, und vergleicht zu diesem Zweck die Ruhe des Landlebens mit der Hektik des Stadtlebens, Auson. 27,4,19–26: Nam populi coetus et compita sordida rixis fastidientes cernimus angustas feruere uias et congrege uolgo nomen plateas perdere. turbida congestis referitur uocibus echo: ›tene‹!, ›feri!‹, ›duc!‹, ›da!‹, ›caue!‹ 25 sus lutulenta fugit, rabidus canis impete saeuo et impares plaustro boues. 20

Denn ich, der ich den Auflauf des Volkes und die von Streitereien beschmutzten Straßenkreuzungen nicht ausstehen kann, bemerke, dass die engen Straßen glühen und die Gassen, verstopft sind sie ja von Volk, ihren Namen Lügen strafen. Wirres Echo wird in einem Knäuel von Stimmen zurückgeworfen: ›Halt ein!‹, Trag!’, ›Führe!‹, ›Gib!‹, ›Hüte dich!‹. Hier flieht eine schmutzige Sau, hier ein toller Hund in wütendem Angriff und hier Ochsen, die zu schwach sind für den Wagen.

Wieder verwendet Ausonius zur Beschreibung des Widerhalls nicht imago, sondern echo. Der kleine, aber wichtige Unterschied zwischen imago und echo tritt deutlich hervor in der Mosella. Das sich im Wasser spiegelnde Bild eines Hügels beschreibt Ausonius mit folgenden Worten, Auson. 16,189– 199: Illa fruenda palam species, cum glaucus opaco 190 respondet colli fluuius, frondere uidentur fluminei latices et palmite consitus amnis. quis color ille uadis, seras cum propulit umbras Hesperus et uiridi perfundit monte Mosellam! tota natant crispis iuga motibus et tremit absens 663 Vgl. zur handschriftlichen Überlieferung dieser Verse Kap. 4.6, außerdem zur Syntax die Interpretation in Kap. 3.3 mit Anm. 265.

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195 pampinus et uitreis uindemia turget in undis. annumerat uirides derisus nauita uites, nauita caudiceo fluitans super aequora lembo per medium, qua sese amni confundit imago collis et umbrarum confinia conserit amnis. Jener Anblick ist ganz offen zu genießen, wenn der blaue Fluss dem schattigen Hügel antwortet, wenn das Flusswasser von Laub und der Strom von der Weinrebe bepflanzt scheint. Welche Farbe hat das Wasser, wenn Hesperus späte Schatten vorantreibt und die Mosel mit dem grünen Hügel erfüllt! Die Höhen verschwimmen ganz in kräuselnden Bewegungen, der abwesende Weinstock zittert, und die Taube bläht sich in gläsernen Wellen. Es zählt die grünen Reben der genarrte Schiffer, der Schiffer, der mit dem aus Stämmen gefertigten Kahn über das Wasser dümpelt, in der Mitte des Flusses, wo sich das Abbild des Hügels mit dem Fluss vermischt und der Fluss die Linien der Schatten zusammenfügt.

Die dichterische Beschreibung des sich im Wasser der Mosel spiegelnden Weinbergs erinnert in zumindest einem Punkt an die Wirkung des Schalls im vierten Buch von De rerum natura. Wie dort die Hügel den Hügeln antworten, indem sie gesprochene Worte zurückhallen lassen (Lucr. 4,578– 579), so antwortet hier der Fluss dem Hügel, indem er dessen Bewuchs in seinem Wasser nachzeichnet. Allerdings beschreibt Ausonius nicht den Schall, sondern ein Bild. Die Mosel zeichnet sich aber nicht nur durch ihre Schönheit, sondern auch dadurch aus, dass sie sanft dahingleitet. So ermöglicht sie das Gespräch über das Wasser hinweg, Auson. 16,293–297: Licet hic commercia linguae iungere et alterno sermonem texere pulsu. 295 blanda salutiferas permiscent litora uoces, et uoces et paene manus; resonantia utrimque uerba refert mediis concurrens fluctibus echo. Hier ist es möglich, sprachlich miteinander zu verkehren und durch wechselnden Schlag ein Gespräch zu weben. Schön vermengen die Ufer die grußbringenden Stimmen, Stimmen und fast schon die Hände [sc. zum Gruß]; von beiden Seiten zurückschallende Worte trägt das Echo zurück, das in der Mitte der Fluten aufeinandertrifft.

Hier beschreibt Ausonius die Wirkung des Halls und verwendet dazu nicht den lateinischen Terminus imago, sondern den ursprünglich griechischen Terminus echo. Die Begriffe imago und echo bezeichnen also Ähnliches – nämlich ein Spiegelbild, einmal das Spiegelbild der Bäume im Wasser, einmal das Spiegelbild der Worte. Dieses Verhältnis von imago und echo illustriert auch das elfte Epigramm, in dem die Nymphe Echo das Wort an einen Maler richtet, Auson. 13,11,1–8 (ed. Kay): Vane, quid affectas faciem mihi ponere, pictor, ignotamque oculis sollicitare deam? aeris et linguae sum filia, mater inanis indicii, uocem quae sine mente gero.

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extremos pereunte modos a fine reducens ludificata sequor uerba aliena meis. auribus in uestris habito penetrabilis echo; et si uis similem pingere, pinge sonum.

Eitler Maler, warum versuchst du mir ein Gesicht zu geben, und die Göttin, die den Blicken entzogen ist, zu reizen? Ich bin die Tochter der Luft und der Rede, die Mutter vergeblichen Zeichens, ich führe das Wort ohne Verstand. Die letzten Klänge bringe ich vom ersterbenden Ende zurück und verfolge fremde Worte, die ich mit meinen Worten verspotte. In euren Ohren verharre ich, das durchdringende Echo. Wenn du mich malen willst, dann male den Klang.664

Der Maler soll nicht versuchen, die für die Augen unsichtbare Echo auf Leinwand zu bannen. Sie ist ihrem Wesen nach ein unvollständiges Bild unserer eigenen Worte und spiegelt lediglich die letzten Silben des Gesagten wider, d. h. sie redet ohne Sinn und Verstand. Echo in einem Bild fassen zu wollen, würde bedeuten, den Klang selbst malen zu wollen; ein unmögliches Unterfangen. Der Witz des gelehrten Epigramms wird erstens dadurch wirksam, dass Echo hier entgegen ihrem Charakter nicht sine mente spricht, sondern eine vollendete Rede führt. Zweitens erinnert die Aufforderung an den Maler – pinge sonum – daran, dass Echo selbst schon ein Abbild ist. Sie verhält sich zu der Stimme des Sprechenden wie sich das Bild zum Blick des Betrachters verhält, sie ist selbst eine imago und erinnert so an die Aussage des lukrezischen Lehrdichters, dass der Widerhall den Hörenden mit dem Abbild des Wortes täuschen kann (Lucr. 4,571 frustratur imagine uerbi.). Ausonius spielt hier also mit dem lukrezischen Begriff der imago uerbi, ohne diesen selbst zu nennen.665 Trotz der offensichtlichen sachlichen und begrifflichen Nähe von Abbild und Echo unterscheidet Ausonius die Begriffe in seinem üblichen Sprachgebrauch aber deutlich voneinander: imago verwendet er, um ein Bild, ein Abbild oder ein Spiegelbild, echo, um den Widerhall des Schalls, das Echo, zu kennzeichnen.666 Von dieser Verwendung weicht Au664 Die Übersetzung orientiert sich an dem Kommentar von Kay (2001) 94–96. 665 Vgl. auch die präzise Interpretation durch Kay (2001) 95: »The fact that Echo is speaking is humorous in itself – she is not shwowing ›vocem sine mente‹ as she usually would – and she makes great play of ambiguities between the worlds of sight and sound, painting and writing. How can the painter paint the invisible? If he wants to, he must paint sound. A frequent description of an echo is ›vocis imago‹ (…) and it is to sound what painting is to sight; Ausonius plays wittily with these concepts. He makes no reference to Echo’s existence as a nymph, and this enhances his impact.« 666 Vgl. zu den verschiedenen Bedeutungen auch folgende Stellen: z. B. das Epicedion in patrem, das der Dichter der imago seines verstorbenen Vaters weiht, Auson. 5 (a) 12–14: Imagini ipsius hi uersus subscripti sunt neque minus in opusculorum meorum seriem relati. Ein ähnlich klassischer Gebrauch von imago im Sinne eines Totenbildnisses bzw. einer Totenmaske auch das Sallust-Zitat in der gratiarum actio, Auson. 21,8,36: Non possum fidei causa ostendere imagines maiorum, ut ait apud Sallustium Marius, nec deductum ab heroibus genus

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sonius mit der Formulierung uocalis imago im Briefgedicht an Paulinus ab, und das hat seinen Grund. Ausonius bedient sich hier einer sogenannten Alexandrinischen Fußnote, um dem Leser einen intertextuellen Bezug zu signalisieren und ihm zusätzlich Mittel und Wege zu zeigen, die Bedeutung der Reminiszenzen zu entschlüsseln.667 Ein besonders starkes Signal ist die Wendung uocalis imago. Sie verweist den Leser, wie bereits Gillian Knight festgestellt hat, auf die Geschichte von Narcissus und Echo im dritten Buch der Metamorphosen, Ov. met. 3,356–358: Aspicit hunc (sc. Narcissum) trepidos agitantem in retia ceruos uocalis nymphe, quae nec reticere loquenti nec prius ipsa loqui didici resonabilis Echo.668 Ihn, der zitternde Hirsche in Netze treibt, erblickt die Nymphe des Schalls, die weder dem Sprechenden die Antwort verschweigen noch vorher selbst sprechen kann, die alles erwidernde Echo.

Ausonius ersetzt die ovidische Formulierung resonabilis Echo durch das synonyme uocalis imago und deutet mit dem Adjektiv uocalis gleichzeitig auf die Wendung uocalis nymphe im vorausgehenden Vers. Auch dieser Prätext entwickelt im Kontext des Briefgedichts eine zusätzliche inhaltliche Valenz, über die jedoch in Kapitel 8.7 zu sprechen sein wird.669 Als literarisches Signal dient die Wendung uocalis imago zunächst dazu, den Leser auf die hohe literarische Reflexivität der gesamten Passage aufmerksam zu machen: Die Rede und der tonreiche Widerhall, der aus den Wäldern zurückkehrt, bezeichnen nicht nur den physikalischen Widerhall des gesprochenen Wortes, sondern auch das literarische Echo.670 Der heilige Hain steht nicht ausschließlich für einen geographisch fassbaren oder fiktiven literarischen Ort, sondern als Metapher für den Ort, an dem sich der Dichter aufuel deorum stemma replicare (…); für das gemalte Bild vgl. den Cuipdo cruciatus, Auson. 19 (b) 29–31: Tota quoque aeriae Minoia fabula Cretae/ picturarum instar tenui sub imagine uibrat: Pasiphae niuei sequitur uestigia tauri (…); für ein Traumbild die Ephemeris, Auson. 2,8,11–14: Perfugium tamen est, quotiens portenta soporum/ soluit rupta pudore quies et imagine foeda/ libera mens uigilat; (…). Über das Echo handelt Ausonius außerdem in den Epigrammen über Narcissus und Echo, vgl. Auson, 13,11 und 110. Vgl. dazu auch Kap. 8.5.1. 667 Vgl. Zum Begriff der alexandrinischen Fußnote Hinds (1997) 2–3. 668 Dazu schreibt Knight (2005) 372: »Ausonius’ reference to uocalis imago seems to collate Ovid’s depiction of Echo, who pined away for love of Narcissus, as uocalis nymphe.« 669 Vgl. dazu Kap. 8.7. 670 Vgl. grundsätzlich Hinds (1998) 1–5. Ein ähnliches Signal gibt Ovid in am. 2,6,1–2: Psittacus Eois, imitatrix ales ab Indis,/ occidit exequias ite frequenter, aues. Die Verse stellen einen Bezug zu Catull. 3,1–4: Lugete, o Veneres Cupidinesque,/ et quantum est hominum uenustiorum./ passer mortuus est meae puellae,/ passer, deliciae meae puellae. Das Adjektiv imitatrix zeigt hier die Reminiszenz an.

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hält, d. h. für die Dichtung selbst.671 Die Verse 9 und 10, vielleicht sogar der ganze Katalog, sind eine uocalis imago, ein tonreiches Spiegelbild früherer Literatur. Die alexandrinische Fußnote bereitet den Leser auf die hohe Dichte der folgenden Reminiszenzen vor.

8.5.2 Orpheus und Eurydice

8.5.2.1 Die Reminiszenzen In v. 9 verweist Ausonius mit Hilfe der Formulierung respondent et saxa homini auf ein kurzes, aber bekanntes Adynaton in Ciceros Rede Pro Archia poeta, Cic. Arch. 19: Sit igitur, iudices, sanctum, apud uos, humanissmos homines, hoc poetae, nomen quod nulla numquam barbaria uiolauit. saxa atque solitudines uoci respondent, bestiae saepe immanes cantu flectuntur atque consistunt. nos instituti rebus optimis non poetarum uoce moueamur? Es sei also, Richter, unanastbar bei Euch, Männern von hoher Bildung, der Name »Dichter«, den niemals die Barbaren verletzt haben. Steine und Wüsten antworten seiner Stimme, wilde Tiere werden oft durch seinen Gesang umgestimmt und verharren. Wir, mit den besten Voraussetzungen ausgestattet, wollen uns nicht durch die Stimme der Dichter bewegen lassen?672

Das Bild, das Cicero hier mit dem Begriff poeta und der Beschreibung dichterischer Kunst vor dem Publikum beschwört, ist nicht das irgendeines Dichters, sondern das des göttlichen Dichters Orpheus. Orpheus konnte als 671 Augusteischer Prototyp einer solchen Verwendung ist Verg. Aen. 6,179–182: Itur in antiquam siluam, stabula alta ferarum,/ procumbunt piceae, sonat icta securibus ilex/ fraxineaeque trabes cuneis et fissile robur/ scinditur, aduoluunt ingentis montibus ornos. Die Szene verweist auf Ennius Ann. 175–179. Mit der antiqua silua beschreibt Vergil nicht nur den Wald, in dem die Gefährten des Aeneas Bäume schlagen, er verwendet den Begriff vielmehr poetologisch als Synonym für die Dichtung selbst. Vgl. Hinds (1998) 13: »As Aeneas finds his silua, so too does Virgil: the tour de force of allusion to poetic material from the Aeneid’s archaic predecessor, the Annales, ist figured as a harvest of mighty timber from an old-growth forest – in a landscape (that of Aeneid 6) charged with associations of awe and venerability.« 672 Die Passage galt aufgrund ihrer poetischen Färbung bereits Quintilian als besonders gelungen, vgl. Quint. inst. 8,3, 75: Iam sublimius illud pro Archia: ›et saxa atque solitudines uoci respondent, bestiae saepe inmanes cantu flectuntur atque consistunt‹ et cetera. Vgl. weiterhin 9,4,44; 11,1,34; 11,3,84; 11,3,167. Ähnlich formuliert Cicero im Schlussteil der Verrinen, Cic. Verr. II, 5,171: Si haec non ad ciuis Romanos, non ad aliquos amicos nostrae ciuitatis, non ad eos qui populi Romani nomen audissent, denique si non ad homines uerum ad bestias, aut etiam, ut longius progrediar, si in aliqua desertissima solitudine ad saxa et ad scopulos haec conqueri ac delirare uellem, tamen omnia muta atque inanima tanta et tam indigna rerum acerbitate commouerentur.

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Sohn der Kalliope durch seinen Gesang Tiere besänftigen, Steine erschüttern und schließlich die Götter der Unterwelt dazu bewegen, Eurydice freizugeben.673 Ausonius bestätigt den intertextuellen Verweis auf Orpheus nun durch den Versschluss ab antris, der an den Auftritt des Orpheus und der Eurydice am Ende der Georgica erinnert, Verg. georg. 4, 507–510: Septem illum totos perhibent ex ordine menses rupe sub aeria deserti ad Strymonis undam fleuisse, et gelidis haec euoluisse sub antris 510 mulcentem tigris et agentem carmine quercus; Sieben ganze Monate habe er unter einem ragenden Fels an der Woge des einsamen Strymon geweint, und habe dies alles in eisiger Grotte durchwühlt und durch sein Lied die Tiger besänftigt und die Eichen bewegt.

Die Vergil-Reminiszenz am Verschluss ist nicht so deutlich markiert wie die Cicero-Reminiszenz am Versanfang. Lediglich antris übernimmt Ausonius wörtlich, während er die Präposition sub in ab verwandelt.674 Gerade der Versanfang lässt jedoch den Leser mit Hilfe des ciceronischen Orpheus aufmerksam und hellhörig werden für den intertextuellen Bezug auf die Orpheus-Szene in den Georgica. Ausonius beschreibt also in v. 9 nicht nur die Wirkung des Echos, sondern verweist mit Hilfe der Reminiszenzen auf einen ciceronischen und einen vergilischen Prätext und durch diese wiederum auf Orpheus als Sänger und Dichter. Beide Reminiszenzen illustrieren nun den Kontext des Ausonius-Briefes in unterschiedlicher Weise und auf verschiedenen Textebenen.

673 Vgl. zum Motiv der alles bewegenden Gesangskunst des Orpheus Eur. Bacch. 560–64 (Tiere und Pflanzen) und Eur. Iph. A. 1211–1214. Ausführlich beschreibt die Wirkung orphischen Gesanges Ov. met. 10, 86–154. Zu Orpheus allgemein vgl. den kurzen Überblick bei Die Neue-Pauly-Gruppe Kiel, Art. Orpheus, DNP 9, 54–57 und ausführlicher Garezou, M.-X.: Orpheus, LIMC 7,1, 81–105 und 7,2, 57–77. 674 Aus welchem Grund Ausonius das vergilische sub durch ab ersetzt, wird in Kap. 8.6 deutlich werden. Unproblematisch scheint mir, dass der Vaticanus lat. 3867 (saec. v) gegen den Florentinus Laur. xxxix. I. (saecl. v) die Variante astris bietet. Beide Varianten waren im fünften Jahrhundert bereits überliefert, so dass es durchaus möglich ist, dass Ausonius in seinem Vergil antris las. Vgl. auch Zwierlein (2000) 1–13 zu Eingriffen in den Vergil-Text in tiberischer und flavischer Zeit. Im übrigen zeigt eine pompeijanische Wandmalerei aus flavischer Zeit (Pompeji IV 14,20; vgl. dazu Carezzou, M.-X.: Art. Orpheus, in: LIMC 7,1, 90) Orpheus in der von Vergil beschriebenen Situation unter dem Überhang einer Höhle. Daraus geht natürlich nicht zwingend hervor, dass Vergil tatsächlich sub antris geschrieben hat. Das Bild deutet aber zumindest darauf hin, dass die Vorstellung von Orpheus in der Höhle bereits in flavischer Zeit geläufig war.

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8.5.2.2 Der ciceronische Orpheus – die Macht der Sprache und der Bildung Vor dem Hintergrund des ciceronischen Prätextes schlüpft der Ich-Sprecher des Briefgedichtes gleichsam in die Rolle des Dichters und weist das poetische Gegenüber wie auch den außenstehenden Leser auf die zentrale rhetorische Frage in der Argumentation Ciceros hin: nos instituti rebus optimis non poetarum uoce moueamur? (Cic. Arch. 19) – »Wollen wir, die wir in den besten Dingen ausgebildet sind, nicht durch die Stimme der Dichter bewegt werden?« Diese Frage wird durch die Reminiszenz Teil des Briefgedichts und entfaltet dort ihre Wirkung. Sie richtet sich auf der textinternen Ebene an den eigentlichen Adressaten, auf der textexternen Ebene an den außenstehenden Leser: Wird nicht Paulinus, werden nicht auch wir durch die Stimme des Dichters Ausonius bewegt? Ein wichtiger Bestandteil dieser rhetorischen Frage ist der kurze Einschub instituti rebus optimis. Er weist zurück auf das zentrale Thema der Argumentatio in der Archias-Rede, das Lob der Bildung und der Literatur. Das Studium der Literatur, so Cicero, leite die Jugend an, erfreue das Alter, sei ein Schmuck in glücklichen Zeiten, gewähre Zuflucht und Trost im Unglück, sei ein Genuss zu Hause und kein Hindernis bei der Arbeit, dieses Studium sei bei Nacht mit ihm, es reise mit ihm und begebe sich mit ihm aufs Land. Diesen hohen Wert schreibt Cicero der Literatur vor allem aufgrund ihrer moralischen Wirkung zu: Kein anderes Medium bewahre die Leit- und Vorbilder so wie die Literatur. Seine ethischen Grundsätze habe er durch Lektüre gefestigt, denn Bücher und auch die Sprüche der Weisen seien voll von solchen Grundsätzen, ebenso würden sie durch Beispiele aus alter Zeit vermittelt. Dies alles läge in Dunkelheit verborgen, träte nicht das Licht der Literatur hinzu. Denn wie viele plastische Bilder tapferer Männer hätten die griechischen und lateinischen Schriftsteller nicht nur zur Betrachtung, sondern auch zur Nachahmung überliefert. Diese habe er in der Politik und im Privatleben immer vor Augen gehabt, auch habe er versucht, durch das Kennenlernen dieser hervorragenden Männer seinen Geist und seinen Verstand zu formen.675 675 Vgl. die Passage Cic. Arch. 12–18 (Auszüge): Quaeres a nobis, Gratti, cur tanto opere hoc nomine delectemur? quia suppeditat nobis ubi et animus ex hoc forensi strepitu reficiatur et aures conuicio defessae conquiescunt. an tu existimas aut suppetere nobis posse, quod cottidie dicamus in tanta uarietate rerum, nisi animos nostros doctrina excolamus, aut fere animos nostros tantam posse contentionem, nisi eos doctrina eadem relaxemus? ego uero fateor, me his studiis esse deditum. (…) sed pleni omnes sunt libri, plenae sapientium uoces, plena exemplorum uetustas; quae iacerent in tenebris omnia, nisi litterarum lumen accederet. quam multas nobis imagines non solum ad intuendum uerum etiam ad imitandum fortissimorum uirorum expressas scriptores Graeci et Latini reliquerunt! quas ego mihi semper in administranda re publica

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Der Katalog – Macht und Ohnmacht der Sprache

Das von Cicero entworfene Bildungsideal, in dessen Mittelpunkt die Geist und Verstand des (politischen und privaten) Menschen formende Literatur steht,676 wirkt übertragen auf den Kontext des Briefwechsels wie ein Plädoyer für die klassische Bildung und insofern wie ein Gegenentwurf zu den Gedanken, die Paulinus in den Briefgedichten über das Verhältnis von Glauben und Bildung entwirft: Literatur und Bildung müssen den Menschen Christus näherbringen und zum ewigen Leben beitragen, andernfalls sind sie für ihn wertlos. An die Stelle des lumen litterarum tritt das lumen ueritatis, Christus, der als magister uirtutium (sic! Vgl. Anm. 677) erst ein Leben als integrer Mensch ermöglicht.677 Wenn Ausonius also am Anfang des ersten Briefes mit Hilfe einer Reminiszenz auf das Bildungsprogramm Ciceros verweist, so ist diese Aussage in Analogie zum Briefschluss zu sehen, an dem der Ich-Sprecher sein Gegenüber zur Rückkehr zur lateinischen Dichtung auffordert.678 Diese Rückkehr soll sich nicht nur unter formalen Gesichtspunkten vollziehen, sie bedeutet eine Rückkehr zu den Inhalten dieser Literatur. Die Reminiszenz gibt also auch Aufschluss über die Briefsituation: Denn die Wahl des Prätextes, in dessen Zentrum das Lob der klassischen Bildungsinhalte steht, zeigt deutlich, dass Ausonius entweder während der Abfassung oder während der Überarbeitung des Briefgedichtes von der conversio des Paulinus, vor allem aber von den Inhalten der conversio gewusst proponens animum et mentem meam ipsa cogitatione hominum excellentium conformabam. atque idem ego hoc contendo (…). 676 Die Bedeutung der Anm. 675 abgedruckten Passage wird hervorgehoben von Vretska (1988) 134–135: »Cicero hat unter Anwendung hoher stilistischer Mittel einen Höhepunkt seiner Argumentatio erreicht: litterae und ihre studia sind für den Politiker die besten Grundlagen zur Erlangung höchster Vollendung, aber auch für den Nichtpolitiker in der Freizeit des otium die beste Erholung.« 677 Vgl. Paul. Nol. carm. 10,33–52: Vacare uanis, otio aut negotio,/ et fabulosis litteris/ uetat suis ut pareamus legibus/ lucemque cernamus suam,/ quam uis sophorum callida arsque rhetorum et/ figmenta uatum nubilant,/ qui corda falsis atque uanis imbuunt/ tantumque linguas instruunt/ nihil afferentes, quod salutem conferat aut ueritatem detegat./ quod enim tenere uel bonum aut uerum queunt/ qui non tenent summae caput/ ueri bonique fomitem et fontem deum,/ quem nemo nisi in Christo uidet? hic ueritatis lumen est, uitae uia,/ uis mens manus uirtus patris,/ (…)/ magister hic uirtutium (sic!). Die Endung des Genitivs -ium ist vermutlich dem Metrum geschuldet, vgl. Filosini (2008) 112. Es ist denkbar, dass Paulinus an dieser Stelle auf die Archias-Reminiszenz Bezug nimmt: Die Formulierung otio aut negotio (33) erinnert an Ciceros Feststellung, Bildung und Literatur unterstützten ihn so in seinem beruflichen und politischen Tun wie sie ihn in seiner Freizeit erfreuten (Arch. 12–13). Paulinus widerspricht außerdem deutlich der These, dass die Literatur zur Erleuchtung des Menschen beitrage (Paul. Nol. carm. 10,36–40 und im Vergleich Cic. Arch 14: Sed pleni omnes sunt libri, plenae sapientium uoces, plena exemplorum uetustas; quae iacerent in tenebris omnia, nisi litterarum lumen accederet. quam multas nobis imagines non solum ad intuendum uerum etiam ad imitandum fortissimorum uirorum expressas scriptores Graeci et Latini reliquerunt!). 678 Vgl. Auson. 27,21,73–74.

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haben muss. Ohne ein Wissen des Autors um diese Inhalte verlören die Reminiszenz und der in ihr sichtbar werdende Gegenentwurf zum Bildungsideal des Paulinus an Wirkung und Aussagekraft. 8.5.2.3 Orpheus und Aristaeus – Formen der Trauer Die Orpheus-Szene im vierten Buch der Georgica ergänzt den Kontext des Ausonius-Briefes in anderer Weise. Sie bietet die in der Rede Pro Archia poeta nur angedeutete Rahmenhandlung des Orpheusmythos und handelt wie der Brief an Paulinus selbst und die meisten der bisher evozierten poetischen Prätexte von der Erfahrung des Verlassenwerdens, des Verlassenseins und des Scheiterns. Im Zentrum des vierten Buches der Georgica steht die Bienenzucht. Ihren Ursprung erklärt der Erzähler und Lehrer am Ende des Buches mit Hilfe des Aristaeus-Epyllions: Der Hirt Aristaeus, ein Sohn der Nymphe Kyrene, wendet sich, nachdem er seine Bienenvölker durch eine Seuche verloren hat, an seine Mutter und bittet sie um Hilfe. Auf ihren Rat hin überwältigt er den wandlungsfähigen Meergreis Proteus, der darauf in die Rolle des Erzählers schlüpft und die Ursache der Bienenseuche aufdeckt. Orpheus, so beginnt Proteus, habe Aristaeus verflucht. Denn auf der Flucht vor dem liebestollen Hirten sei Eurydice von einer Giftschlange gebissen worden und zu Tode gekommen. Es folgen die Katabasis des Orpheus, der zweite Tod der Eurydice, der verzweifelte Gesang des Orpheus, der Tiere und Pflanzen bezwingt, schließlich sein Wahnsinn und Tod: Er irrt durch das unwegsame Skythien, verschmäht die Bacchantinnen des Dionysos und wird von ihnen zerrissen. Sein Kopf rollt ins Meer und ruft weiter nach Eurydice. Mit dem Ende der Geschichte stürzt sich der Seher in die Fluten. Aristaeus kennt nun den Grund der Bienenseuche und besänftigt auf Anweisung seiner Mutter Kyrene den Zorn des Orpheus durch ein Tieropfer: Aus der offenen Bauchhöhle der geopferten Stiere schwirren schließlich – mirabile dictu – neue Bienenvölker.679 Innerhalb des Aristaeus-Epyllions stellt die Geschichte von Orpheus und Eurydice einen eigenständigen erzählerischen Teil dar, in dessen Zentrum die Katabasis des Orpheus, die Rede der Eurydice und die Trauer des Sängers stehen. Als Orpheus und Eurydice das Sonnenlicht schon fast erreicht haben, wird der Liebende von Wahnsinn (dementia) erfasst. Er bleibt stehen und dreht sich, nicht an die Folgen denkend, nach ihr um. Damit ist alle Mühe vergeblich, der Vertrag zwischen den Göttern des Hades und Orpheus ist gebrochen, dreifacher Donner hallt 679 Vgl. für das gesamte Aristaeus-Epyllion Verg. georg. 4,315–558, für die OrpheusGeschichte 4,453–527. Über die Funktion des Epyllions, das möglicherweisse die von Servius angeführten laudes Galli ersetzt hat (Serv. ecl. 10,1; georg. 4,1), ist viel spekuliert worden. Eine Zusammenfassung einschlägiger Forschungsmeinungen bietet Baier (2007) 314–318.

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über das Wasser des Avernersees.680 Eurydice spricht darauf ihre Abschiedsworte an Orpheus, Verg. georg. 4,499–506: Illa ›quis et me‹ inquit ›miseram et te perdidit, Orpheu, 495 quis tantus furor? en iterum crudelia retro fata uocant, conditque natantia lumina somnus. iamque uale: feror ingenti circumdata nocte inualidasque tibi tendens, heu non tua, palmas.‹ dixit et ex oculis subito ceu fumus in auras 500 commixtus tenuis fugit diuersa, neque illum prensantem nequiquam umbras et multa uolentem dicere praeterea uidit; nec portior Orci amplius obiectam passus transire paludem. quid faceret? quo se rapta bis coniuge ferret? 505 quo fletu manis, quae numina uoce moueret? illa quidem Stygia natabat iam frigida cumba. Jene sprach: ›Wer hat mich Arme und dich, Orpheus, vernichtet? Was für ein Wahn? Das grausame Schicksal ruft mich zurück, Tod bedeckt die tränennassen Augen. Lebe nun wohl: Hinweggetragen werde ich umgeben von tiefer Nacht und schwache Arme strecke ich nach Dir aus, nicht mehr die deine.‹ Sprach’s und plötzlich entfloh sie seinen Augen, sich auflösend wie Rauch, der verweht in die milden Lüfte, nicht sah sie jenen, der vergeblich die Schatten zu fassen versuchte und vieles außerdem sagen wollte, nicht ließ ihn der Hüter des Orcus den drohenden Sumpf von neuem durchqueren? Was sollte er tun? Wohin gehen, nachdem zweimal die Gattin ihm entrissen wurde? Wie durch Weinen die Manen, wie mit der Stimme die Götter bewegen? Jene aber glitt schon erkaltet im stygischen Kahn hinweg.

Orpheus zieht sich daraufhin in die Wildnis zurück und klagt der empfindsamen Natur sein Leid, Verg. georg. 4,507–510: Septem illum totos perhibent ex ordine menses rupe sub aeria deserti ad Strymonis undam fleuisse, et gelidis haec euoluisse sub antris 510 mulcentem tigris et agentem carmine quercus; qualis populea maerens philomela sub umbra amissos queritur fetus, quos durus arator obseruans nido implumis detraxit; at illa flet noctem, ramoque sedens miserabile carmen 515 integrat, et maestis late loca questibus implet. nulla Venus, non ulli animum flexere hymenaei: solus Hyperboreas glacies Tanaimque niualem 680 Vgl. Verg. georg. 4,486–493: Iamque pedem referens casus euaserat omnis/ redditaque Eurydice superas ueniebat ad auras/ pone sequens (namque hanc dederat Proserpina legem),/ cum subita incautum dementia cepit amantem,/ ignoscenda quidem, scirent si ignoscere Manes:/ restitit, Eurydicen suam iam luce sub ipsam/ immemor heu! uictusque animi respexit. ibi omnis/ effusus labor atque immitis rupta tyranni/ foedera, terque fragor stagnis auditus Auernis.

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aruaque Riphaeis numquam uiduata pruinis lustrabat, raptam Eurydicen atque irrita Ditis 520 dona querens. Sieben ganze Monate habe er unter einem ragenden Fels an der Woge des einsamen Strymon geweint, und habe dies alles in eisiger Grotte durchwühlt und durch sein Lied die Tiger besänftigt und die Eichen bewegt; so wie die traurige Nachtigall unter dem Schatten den Verlust ihrer Jungen beklagt, die der harte Schnitter beobachtete und noch ungefiedert dem Nest entriss; jene aber weint die Nacht hindurch, sitzt auf dem Ast, beginnt ihr Klagelied von neuem und erfüllt mit traurigem Klagen weithin die Gegend. Keine Venus, keine Hochzeitsgötter beugten seinen Sinn. Allein durchstreifte er die Eiswüsten des Nordens, den schneeigen Don und die niemals von Raureif verlassenen skythischen Ebenen, den Raub der Eurydice und das fruchtlose Geschenk des Unterweltgottes beklagend.

Orpheus und Eurydice schaffen ihre eigene Binnengeschichte: Sie handeln als Protagonisten selbständig, und reflektieren das Ergebnis ihrer Handlungen in der Rede und und im Gesang. Die erzählerische Funktion dieser Binnengeschichte ist vor allem aufgrund der Angaben des Servius, aber auch aufgrund einiger Brüche in der Argumentation umstritten. Nach Servius hatte Vergil die zweite Hälfte des vierten Georgica-Buches ursprünglich als laudes Galli, als Preisgedicht auf den Dichter und Freund Gallus, konzipiert. Erst nach dem erzwungenen Selbstmord des praefectus Aegypti habe er die laudes getilgt und durch das Aristaeus-Epyllion und die Orpheus-Geschichte ersetzt.681 Die Gelehrten haben sich seither mit der Frage beschäftigt, wie sich, wenn die Angaben des Servius stimmen, das neue Stück in den Gang des vierten Buches einfügt, auf einige Ungereimtheiten im Aufbau hingewiesen682 und verschiedene Vorschläge gemacht, wie das Aristaeus-Epyllion 681 Vgl. Serv. ecl. 10,1: Fuit (sc. Gallus) amicus Vergilii adeo, ut quartus Georgicorum a medio usque ad finem eius laudes teneret, quas postea iubente Augusto in Aristei fabulam commutait; außerdem Serv. georg. 4,1: Sane sciendum, ut supra diximus, ultimam partem huius libri esse mutatam; nam laudes Galli habuit locus ille, qui nunc Orphei continet fabulam, quae inserta est, postquam irato Augusto Gallus occisus est. 682 Anders, als z. B. von der Nymphe Kyrene angekündigt, erteilt Proteus dem Hirten keine Ratschläge, sondern offenbart ihm lediglich die Ursache der Bienenseuche, die Schuld am Tod der Eurydice. Erst die Nymphe selbst, die bereits von der Schuld ihres Sohnes weiß, erteilt die notwendigen praecepta. Verg. georg. 4,396–399: Hic tibi, nate, prius, uinclis capiendus, ut omnem/ expediat morbi causam euentusque secundet./ nam sine ui non ulla dabit praecepta neque illum/ orando flectes; (…). Die von Kyrene angekündigten praecepta werden von Proteus nicht eingelöst. Daraus schlussfolgert Lefèvre (1986) 184–185: »Cyrene sagt Aristaeus ausdrücklich, Proteus werde ihm praecepta erteilen (398). Dieser denkt aber nicht daran, sondern erzählt die Geschichte von Orpheus und Eurydice (453–527). Die praecepta gibt dann Cyrene selbst (…). Der aufmerksame Leser möchte nicht so gern den tiefsinningen Interpretationen der modernen Gelehrten folgen, sondern sich lieber eingestehen, dass damit der ganze Proteus-Auftritt überflüssig wird; denn das, was sie später sagt, hätte Cyrene gleich sagen können.«

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und die Geschichte von Orpheus und Eurydice zu interpretieren sei.683 Mit Blick auf die Vielfalt der Interpretationen stellt sich die Frage, wie Ausonius die Geschichte von Orpheus und Eurydice verstanden haben mag. Sie ist kaum zu beantworten, aber vielleicht lässt sich in groben Umrissen skizzieren, welche Wirkung die Orpheus-Geschichte im Briefgedicht des Ausonius entfaltet. Denn grundsätzlich enthält die Katabasis des Orpheus eine eschatologische Botschaft, eine Kritik am ›Zuviel‹ und der Unfähigkeit loszulassen. Der vergilische Orpheus tritt den Weg in die Unterwelt an, um die tote Eurydice mit Hilfe des Gesangs in die Welt der Lebenden zurückzuholen. Das Unterfangen gelingt zwar, doch Orpheus versagt als Mensch. Der Blick zurück zu Eurydice, der Versuch, sie mit Blicken festzuhalten, bewirkt ihren endgültigen Verlust. Orpheus lernt nun nicht hinzu, sondern lässt sich zu maßloser Trauer hinreißen und verweigert sich der Liebe: Dieser Verweigerung folgt sein gewaltsamer Tod. Aufschlussreich für den Kontext des Briefgedichtes ist in diesem Zusammenhang, dass sich der historische Paulinus in einer ähnlichen Situation befand wie der mythische Orpheus: Paulinus hatte innerhalb kurzer Zeit den Verlust seines Bruders und den Verlust seines Sohnes Celsus zu betrauern. Beide Todesfälle trafen ihn schwer. Der Tod des Bruders zog den Rückzug in die Hispania Tarraconensis nach sich, der Tod des Sohnes vielleicht die endgültige Entscheidung für die conversio zu einem asketischen Leben und zu einem Verzicht auf persönlichen Besitz.684 Verwendet Ausonius die 683 Neumeister (1982) passim sieht in der Orpheus-Geschichte ein Sinnbild für den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen, den Orpheus in seinem Liebeswahn zu durchbrechen versuche. Erren (2003) 960–961 meint, Vergil kritisiere über den Mythos den Auferstehungsglauben der orphischen Mysterien: Die Unterweltsgötter hätten Orpheus eine neue Eurydice zugestanden, er aber habe die alte gewollt und sei mit diesem unerfüllbaren Wunsch gescheitert (ähnlich auch schon Neumeister, 1982, 54). Anders interpretiert Lefèvre (1988) 190–191 die Passage: Die Klage des Orpheus um Eurydice sei tatsächlich die Klage des Dichters um Gallus, der hier in Gestalt des maßlosen Orpheus auftrete. So wie Vergil Gallus in der 10. Ekloge zu einer maßvollen Lebensführunge habe anhalten wollen, stelle er nun fest, dass die unbeherrschte Haltung ein bleibender Charakterzug des Gallus gewesen sei: dementia habe den Unvorsichtigen schließlich zu Grunde gerichtet. 684 Vgl. zum Tod des Bruders Paul. Nol. ep. 35,1 (an Delphinus, verfasst zwischen 390 und 392): Contristatos autem nos uehementer fatemur non tam de obitu corporali fratris nostri quam de neglegentia eius spiritali, qua relinquendarum istic potius curarum quam prouidendorum illic remediorum memor posthabenda praeposuit et praeponenda posthabuit. quem oportuit et illa potiora pro se curare et haec temporalia pro filiis non praetermittere; außerdem ep. 36,1 (an Amandus, verfasst zwischen 390 und 392): Curae nobis erat ex recenti dolore fraternae diuulsionis, quem etiamsi temporaliter ab hoc saeculo sciamus adsumptum, in illo nobis cito consequendum, tamen ea uerius causa obisse lugemus, quia ex his, quae gesta ab ipso in finem eius uel ordinata sunt, peccatis magis nostris quam uotis congrua egisse perspeximus, ut mallet ad dominum debitor transire quam liber. Zum Tod des Sohnes äußert sich Paulinus nur an einer Stelle, Paul. Nol. carm. 31,599–610: Talium enim infantum caeli regnum esse probatur,/

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Orpheus-Figur des Vergil also, um eine falsche Form des Trauerns zu kritisieren? Dazu passt, dass Orpheus wie Paulinus in die Einsamkeit flieht und sich so in die mit dem ovidischen poeta exul und dem vergilischen Arruns begonne Reihe einordnet. Dazu passt auch, dass die Geschichte von Orpheus und Eurydice im Rahmen des Aristaeus-Epyllions als Lehrstück aufzufassen ist. Der Hirte Aristaeus selbst hat unter einer Seuche zu leiden, die seinen Bienenvölkern den Tod bringt. Er selbst sieht sich von den Götter geschlagen und wendet sich mit einem Klageruf an seine Mutter, die Quellnymphe Kyrene: Sei er als Sohn des Apoll geboren, damit ihn jetzt der Zorn der Götter treffe? Sogar den Ruhm seines sterblichen Lebens – die Bienen – habe er verloren. Jetzt da es soweit gekommen sei, solle sie auch noch seine Wälder, sein Vieh und die Ernte vernichten.685 Kyrene erhört die Klage ihres wütenden Sohnes, der darauf seine eigene Katabasis in die Tiefe des Wassers antritt, dort Wunder und ungeheure Schönheit erlebt und schließlich den Ratschlag seiner Mutter vernimmt: Er solle den Meergreis Proteus aufsuchen. Dieser sei ein allwissender uates, der das Gegenwärtige, die Vergangenheit und die Zukunft kenne und ihm – habe er den Gestaltwandler einmal überwunden – den Grund der Bienenseuche nennen werde.686 Aristaeus befolgt die Anweisungen seiner Mutter und die des Proteus und kommt so zu neuen Bienenvölkern. Der Hirte ist ein Gegenbild des Sängers Orpheus. Wie Orpheus seine Eurydice verliert er seine Bienenvölker und wie Orpheus versucht er sie zurückzuerlangen. Auch er unternimmt eine Katabasis. Anders als der thrakische Sänger steigt er aber nicht hinab in das Reich der Unterweltgötter, sondern in das des Lebens, der Liebe und der Fruchtbarkeit.687 Und anders als Orpheus versucht er nicht von furor und Trauer getrieben das Alte, d. h. dieselben Bienen, wiederzuerlangen. Dem Hirten Aristaeus gelingt es zu erkennen, dass der individuelle Tod der Bienen »nicht Tod ist, sondern nur eine Verwandlung derselben unsterblichen Natur, ein qualis eras aeuo mente fideque puer,/ qualis et ille fuit noster, tuus ille beati/ nominis, accitus tempore quo datus est,/ exoptata diu suboles nec praestita nobis/ gaudere indignis posteritate pia;/ credimus aeternis illum tibi, Celse, uirectis/ laetitiae et uitae ludere participem,/ quem Complutensi mandauimus urbe propinquis/ coniunctum tumuli foedere martyribus,/ ut de uicino sanctorum sanguine ducat,/ quo nostras illo spargat in igne animas. 685 Vgl. Verg. georg. 4,321–332. 686 Vgl. Verg. georg. 4,333–414; bes. 386–399. 687 Vgl. zu dieser Charakterisierung vor allem Neumeister (1982) 49: »Zwischen den beiden in der Ursprungssage miteinander verbundenen Geschichten fallen sofort gewisse Entsprechungen, aber auch Gegensätze auf. Beide Protagonisten haben etwas, das ihnen teuer war, durch Tod verloren, (…) beide treten eine Katabasis an. Diese allerdings hat unterschiedlichen Charakter: (…) Orpheus dringt ein in den Bereich der Toten, Aristaeus dagegen wird gerade von der Göttin herabgerufen, die ihm das Leben geschenkt hat, und die Beschreibung der Region, in der sie wohnt, ist durchsetzt mit Elementen und Anspielungen, die auf Liebe, Zeugungskraft und Fruchtbarkeit hindeuten.«

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Weiterströmen des alle Lebewesen durchströmenden Gesamtlebens.«688 Deshalb kann er seine Wut überwinden und sich dem Leben zuwenden. Er opfert, und aus dem Tod entsteht neues Leben. Orpheus und Aristaeus stehen jeweils am Scheideweg, und jeder wählt seinen eigenen Weg: Der eine kann den individuellen Tod der Geliebten nicht verwinden und wird vernichtet, der andere lernt, den Tod als einen Teil des Lebens zu betrachten und sich neuem Leben zuzuwenden. Ausonius und der Ich-Sprecher führen dem Leser mit dem AristaeusEpyllion und der Orpheus-Geschichte also zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, mit dem Tod umzugehen, vor Augen. Auch Paulinus steht am Scheideweg: Er kann sich für die Trauer und Einsamkeit des Orpheus oder für den Weg des Aristaeus entscheiden und den Tod als Teil des Lebens akzeptieren.689 Die so erzielte Wirkung wird verstärkt durch die Personenpaarung: Im Aristaeus-Epyllion wendet sich ein junger Mann, der Hirte Aristaeus, nach einem schweren Verlust ratsuchend an einen allwissenden, greisen uates, den Meergreis Proteus. In den Briefgedichten des Ausonius wendet sich gerade umgekehrt ein greiser uates ratgebend an einen jungen Mann, Paulinus, der wie Aristaeus einen schweren Verlust erlitten hat und Wege sucht, seine Trauer zu bewältigen.

8.6 Actaeon – Flucht in die Wälder In den so entstehenden intertextuellen Kontext von v. 9 fügt sich mit den Worten percussus ab eine dritte Reminiszenz ein. Mondin hat darauf hingewiesen, dass das Simplex percussus an dieser Stelle aus metrischen Gründen das Kompositum repercussus ersetze. Dieses gebrauche z. B. Curtius Rufus zur Umschreibung des Echos.690 Tatsächlich verwendet Ausonius percussus aber nicht aus metrischer Notwendigkeit, sondern um auf eine Passage aus dem dritten Buch der Metamorphosen aufmerksam zu machen, Ov. met. 3,209–212: Inde ruunt alii rapida uelocius aura, 210 Pamphagos et Dorceus et Oribasos, Arcades omnes, Nebrophonosque ualens et trux cum Laelape Theron Et pedibus Pterelas et naribus utilis Agre 688 Neumeister (1982) 49. 689 Vgl. dazu auch Kap. 3.3 zur Wirkung der Bellerophontes-Reminiszenz in Auson. 27,21,71. 690 Vgl. Mondin (1995) 252: »Simplex pro composito in luogo del più appropriato, ma metricamente meno comodo, cfr. Curt. 3,10,2 Clamor… iugis montium uastisque saltibus repercussus.«

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Actaeon – Flucht in die Wälder

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Hylaeusque ferox nuper percussus ab apro (…) Dann eilen die anderen schneller als der Sturmwind heran, Pamphaos, Dorkeus und Oribasos, Arkader alle, der kräftige Nebrophonos und mit Laelaps der wilde Theron, Pterelas nützlich wegen seiner Schnelligkeit, Agre, nützlich wegen ihrer Nase, auch der übermütige Hylaeus, neulich geschlagen vom Eber (…)

Ausonius stellt mit der Formulierung percussus ab einen Bezug zum Hundekatalog und so zur Verwandlung des Actaeon im dritten Buch der Metamorphosen her. Actaeon tritt dort wie schon im lauacrum Palladis des Kallimachos als begnadeter Jäger auf, der, ohne es zu wollen, den heiligen Hain der Artemis betritt und die nackte Göttin beim Bad erblickt. Die erzürnte Göttin hat ihren Bogen nicht zur Hand, bespritzt den Jäger aber mit Wasser aus der Quelle und spricht ihn an, jetzt sei es ihm erlaubt, von ihrer Nacktheit zu erzählen – wenn er es denn noch könne. Auf diese Worte verwandelt sich Actaeon in einen angsterfüllten Hirsch, der schließlich von seinen eigenen Hunden zerrissen wird.691 Auf die von Ovid erzählte Geschichte nimmt Ausonius mit zwei Wörtern Bezug, die zwar an derselben Stelle im Vers stehen, sonst aber wenig spektakulär zu sein scheinen. Der Leser braucht eine Bestätigung des intertextuellen Signals, und hier bietet sich Actaeon selbst an. Denn Actaeon ist der Sohn des Hirten Aristaeus. Ausonius bettet also den Hinweis auf den Jäger in einen Vers ein, der im ersten und letzten Teil an die Geschichte seines Vaters Aristaeus und an Orpheus erinnert. Noch dazu erleidet Actaeon ein Schicksal ähnlich dem des Orpheus: Er wird zwar nicht von den Maenaden, aber von seinen Hunden zerrissen. Die Verbindungen zwischen Actaeon und Aristaeus auf der einen Seite und Aristaeus und Orpheus auf der anderen Seite sind offensichtlich. Warum aber der Verweis auf Actaeon? Betrachten wir zur Beantwortung dieser Frage seine Verwandlung. Erzürnt durch den Frevel verwandelt Diana den Jäger Actaeon in einen Hirsch: Sie zieht ein Geweih aus seinem Kopf heraus, den Hals in die Länge, macht seine Ohren spitzer, vertauscht Füße und Hände mit Schenkeln und lässt ihm ein Fell wachsen.692 Vor allem aber veleiht sie ihm ein zuvor unbekanntes Gefühl: Angst, Ov. met. 3,198–206 u. 225–229: Additus et pauor est; fugit Autonoeius heros et se tam celerem cursu miratur in ipso. 200 ut uero uultus et cornua uidit in unda: ›me miserum!‹ dicturus erat; uox nulla secuta est; 691 Vgl. Kallim. Hymn. 5,107–117 und Ov. met. 3,138–252. Ältere Versionen des Mythos berichten im Gegensatz zu Kallimachos von einer Schuld des Actaeon, der in seiner Hybris eine Hochzeit mit Artemis erwägt und aus diesem Grund bestraft wird. Zu den verschiedenen Versionen vgl. Bömer (1969) 487–488. 692 Vgl. Ov. met. 3,193–197.

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ingemuit; uox illa fuit; lacrimaeque per ora non sua fluxerunt; mens tantum pristina mansit. quid faciat? repetatne domum et regalia tecta 205 an lateat siluis? pudor hoc, timor impedit illud. dum dubitat, uidere canes; (…) 225 ea turba cupidine praedae per rupes scopulosque adituque carentia saxa, quaque est difficilis, quaque est uia nulla, sequuntur. ille fugit per quae fuerat loca saepe secutus, heu! famulos fugit ipse suos. Noch Furcht fügt sie hinzu. Es flieht der Held der Autonoe und wundert sich im Lauf, dass er so schnell ist. Sobald er aber seine Züge und das Geweih im Wasser sieht, will er sagen ›Ich unglückseliger!‹ Keine Stimme folgt; er stöhnt; das ist jetzt seine Stimme. Auch Tränen strömen nicht über seine Wangen. Nur sein Geist bleibt der alte. Was soll er tun? Soll er nach Hause, zu seinem Königspalast eilen oder sich in den Wäldern verstecken? Scham verhindert das eine, Furcht das andere. Während er noch zweifelte, sahen ihn die Hunde. (…) Die Meute, begierig auf Beute, folgt ihm über Steine, Felsen und unzugängliche Klippen, dort, wo der Weg schwierig, dort wo kein Weg ist. Jener flieht über Orte, an denen er selbst oft verfolgte. Ach! Selbst flieht er seine Diener.

Der einstige Held kann von der Göttin verwandelt nicht mehr sprechen, ja nicht einmal weinen. Lediglich sein inneres Wesen bleibt erhalten: mens tantum pristina mansit (3,203). In dieser Situation weiß er nicht, an wen oder wohin er sich wenden soll. Von Scham erfüllt traut er sich nicht nach Hause. Gleichzeitig verbietet ihm seine Furcht, sich in den Wäldern zu verstecken. Schließlich werden die Hunde auf ihn aufmerksam und jagen den Jäger über Stock und Stein. Wieder wählt Ausonius einen Prätext, dessen Held flieht. Anders als zuvor Orpheus, Arruns oder auch der poeta exul Ovids, bleibt Actaeon in seiner Verzweifelung zunächst unentschlossen: Scham hindert ihn, den Weg nach Hause einzuschlagen, Furcht hindert ihn, den Weg in den Wald einzuschlagen. Sein Handeln wird von zwei Gefühlen bestimmt, die, wie mehrfach gezeigt wurde, auch in den Briefgedichten 21 und 22 des Ausonius eine wichtige Rolle spielen: Im Anschluss an den bukolischen Katalog führt Ausonius das unnatürliche Schweigen des Freundes auf Scham zurück. Dieser Gedanke bleibt in Brief 22 erhalten und wird erweitert: Zur Scham tritt jetzt die Furcht vor Verrat hinzu. Beide Gefühle hindern Paulinus daran, einen Antwortbrief zu schreiben.693 Vor allem aber wählt Ausonius hier einen Prätext, der das Motiv der Sprachlosigkeit nicht nur thematisiert, sondern es bis in die letzte Konsequenz steigert. Actaeon kann aufgrund seiner Verwandlung zunächst seiner Angst nicht Ausdruck verleihen. Schließlich scheitert 693 Vgl. Auson. 27,21,28–31 und Auson. 27,22,6–12.

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Actaeon – Flucht in die Wälder

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die Verständigung mit seinen Hunden und seinen Gefährten, Ov. met. 3,229–231; 236–245: clamare libebat: 230 ›Actaeon ego sum, dominum cognoscite uestrum.‹ uerba animo desunt: resonat latratibus aether. (…) cetera turba coit confertque in corpore dentes. iam loca uulneribus desunt; gemit ille sonumque, etsi non hominis, quem non tamen edere possit ceruus habet maestisque replet iuga nota querelis; 240 et genibus pronis supplex similisque roganti circumfert tacitos, tamquam sua bracchia, uultus. at comites rapidum solitis hortatibus agmen ignari instigant oculisque Actaeona quaerunt et uelut absentem certatim ›Actaeona‹ clamant 245 (ad nomen caput ille refert.). Er wollte rufen: ›Ich bin es, Actaeon, erkennt euren Herrn.‹ Die Worte fehlen dem Vorhaben: Die Luft hallt wider von Gebell. (…) Die restliche Meute kommt herbei und schlägt ihre Fänge in den Körper. Schon fehlt Platz für neue Wunden. Jener stöhnt und gibt einen Laut von sich, nicht den eines Menschen, aber auch keinen, den ein Hirsch äußern kann. Angefüllt wird das bekannte Gebirge von traurigen Klagen; und mit gebeugten Knien, demütig und ähnlich einem Bittenden wendet er schweigende Gesichtszüge, gleichsam an Stelle der Arme, nach oben. Seine unwissenden Gefährten aber treiben die wilde Schar mit gewohnten Ermahnungen an und suchen mit den Augen nach Actaeon. Und als ob er fehlte, rufen sie um die Wette ›Actaeon‹ (bei seinem Namen hebt jener den Kopf.).

Äußerlich ein Tier, innerlich ein Mensch ist Actaeon menschlicher und tierischer Ausdrucksfähigkeit beraubt. Es bleiben ihm nur Gesten: Wie ein Betender, den Blick an Stelle der Arme nach oben gerichtet, kauert er am Boden, und in einer grotesk anmutenden Szene hebt er auf den Actaeon-Ruf seiner Gefährten den Kopf. Seine Verwandlung und seine Sprachlosigkeit führen einen grauenhaften Tod herbei. Auf der Folie dieses Prätextes entfaltet Ausonius den zuvor erschaffenen intertextuellen Rahmen weiter. Das im Briefgedicht und in den Praetexten entwickelte Thema ›Sprachlosigkeit‹ stellt Ausonius hier durch den intertextuellen Bezug auf die Metamorphosen in den größeren Zusammenhang menschlicher Verwandlung. Denn ähnlich dem Actaeon der Metamorphosen verwandelt sich auch Paulinus, und wie Actaeon verurteilt ihn seine Verwandlung zur Sprachlosigkeit.694 Schließlich zeigt Paulinus in den Augen 694 Besonders deutlich wird das in den Fällen, in denen der Ich-Sprecher das Schweigen und die charakterliche Veränderung des Paulinus in einen direkten Zusammenhang bringt, z. B. Auson. 27,21,50: Vertisti, Pauline, tuos, dulcissime, mores.; aber auch Auson. 27,21,26–28: Tu, uelut Oebaliis habites taciturnus Amyclis/ aut tua Sigalion Aegyptius oscula signet,/ obni-

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Der Katalog – Macht und Ohnmacht der Sprache

des Ich-Sprechers weitere Züge des Actaeon: Er hat Angst, er schämt sich, er weiß offenbar nicht, wohin er gehört. Die Folge ist zumindest bei Actaeon, dass er aufgrund seiner Verwandlung und aufgrund seines Schweigens stirbt. Wieder konfrontieren Ausonius und der Ich-Sprecher ihr Gegenüber mit einer deutlichen Warnung: Auf Verwandlung und Sprachlosigkeit folgt der Tod.695

8.7 Narcissus und Echo Mit Vers 10 setzt Ausonius die Beschreibung des Echos fort, Auson. 27,21,9–10: et percussus ab antris 10 sermo redit, redit et nemorum uocalis imago. An Höhlen gebrochen kehrt ihm das Wort zurück, zurück kehrt ihm auch das tönende Echo der Wälder.

Die Junktur uocalis imago am Schluss von v. 10 verweist den Leser des Briefes auf die erste Begegnung von Narcissus und Echo im dritten Buch der Metamorphosen, Ov. met. 3,356–358: xum, Pauline, taces. Das religiöse Moment wird in Auson. 27,22,4–5 wieder aufgenommen: Sed tu, iuratis uelut alta silentia sacirs/ deuotus teneas, perstas in lege tacendi. 695 Auffällig ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass Actaeon den Verstand und die eigene Identität nicht verliert, Ov. met. 3,203: Mens tantum pristina mansit. Verbirgt sich hier ein Hoffnungsschimmer? Hofft der Ich-Sprecher, dass Paulinus wie Actaeon trotz der Verwandlung innerlich er selbst bleibt und zurückfindet in seine Heimat? Wie eine Rückkehr möglich wird, zeigt der Ich-Sprecher ja am Anfang von Auson. 27,22 (vgl. Kap. 7.2.). Es bleibt in gewisser Weise dem Leser überlassen, bis zu welchem Grad er die Interpretation hier ausreizen will. Dass der Prätext in dieser Weise gelesen werden kann, zeigt Paulinus selbst. Er spricht mit Blick auf Auson. 27,21,50 von einer wirklichen Verwandlung seines ganzen Seins, vgl. Paul. Nol. carm. 10,128–143: (…) si displicet actus/ quem gero agente deo, prius est, si fas, reus auctor,/ cui placet aut formare meos aut uertere sensus./ nam mea si reputes quae pristina, quae tibi nota,/ sponte fatebor eum modo me non esse sub illo/ tempore qui fuerim, quo non peruersus habebar/ et peruersus eram, falsi caligine cernens,/ stulta deo sapiens et mortis pabula uiuens/ quo magis ignosci mihi fas, quia promptius ex hoc/ agnosci datur a summo genitore nouari/ quod non more meo geritur; non, arbitror, istic/ confessus dicar mutatae in praua notandum/ errorem mentis, quoniam sim sponte professus/ me non mente mea uitam mutasse priorem./ mens noua mi, fateor, mens non mea, non mea quondam,/ sed mea nunc auctore deo, (…). Zwar liegen hier keine explizit fassbaren Reminiszenzen vor, der Zusammenhang ist aber in gewisser Weise ein ovidischer: Paulinus hat durch Gottes Willen tatsächlich eine Metamorphose durchlaufen.

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Narcissus und Echo

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Aspicit hunc trepidos agitantem in retia ceruos uocalis nymphe, quae nec reticere loquenti nec prius ipsa loqui didicit resonabilis Echo. Diesen erblickt, als er furchtsame Hirsche in die Netze treibt, die Nymphe des Schalls, die weder dem Sprechenden die Antwort versagen noch selbst zuerst sprechen konnte, die widerhallende Echo.

Wie bereits an anderer Stelle gezeigt wurde, nutzt Ausonius die Reminiszenz, die er hier nicht durch wörtliche Übernahmen, sondern durch die Verwendung von Synonymen signalisiert, als alexandrinische Fußnote, die den Leser auf die hohe literarische Reflexivität der gesamten Passage aufmerksam macht. Welche inhaltliche Funktion erfüllen Reminiszenz und Prätext in Hinblick auf das Briefgedicht? Betrachten wir dazu einige Passagen im dritten Buch der Metamorphosen, Ov. met. 3,370–371; 375–378: Ergo ubi Narcissum per deuia rura uagantem uidit [sc. Echo] et incaluit, sequitur uestigia furtim, (…) 375 o quotiens uoluit blandis accedere dictis et mollis adhibere preces! natura repugnat nec sinit incipiat; sed, quod sinit, illa parata est exspectare sonos, ad quos sua uerba remittat. Sobald sie also Narcissus sah, wie er durch die einsamen Wälder streifte, und dann für ihn entbrannte, folgte sie heimlich seinen Spuren. (…) Ach wie oft wollte sie mit schmeichelnden Worten ihm nahen und sanfte Bitten zur Hilfe nehmen! Ihre Natur kämpft dagegen an und lässt nicht zu, dass sie beginnt. Aber für das, was sie zulässt: Auf Klänge zu warten, auf die sie ihre Worte ja zurückschickt, dazu ist jene bereit.

Echo verliebt sich also in Narcissus, kann ihn aber nicht ansprechen, weil ihr die sprachlichen Mittel fehlen. Die Erzählung nimmt daraufhin einen komischen Verlauf: Narcissus wird von seinen Gefährten getrennt und ruft nach ihnen. Die Nymphe antwortet in Bruchstücken und tritt schließlich, nach einem ärgerlichen coeamus des Narcissus, ebenfalls mit einem coeamus, allerdings einem freudigen, aus dem Wald hervor, um ihren vermeintlichen Gefährten in die Arme zu schließen. Narcissus weist sie mit harschen Worten zurück.696 Echo flieht in die Wälder, lebt in einsamen Höhlen und verwandelt sich dort aufgrund ihrer Trauer in ein körperloses Wesen, Ov. met. 3,393–401: Spreta latet siluis pudibundaque frondibus ora protegit et solis ex illo uiuit in antris. 395 sed tamen haeret amor crescitque dolore repulsae et tenuant uigiles corpus miserabile curae adducitque cutem macies et in aera sucus 696 Ov. met. 3,379–392.

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Der Katalog – Macht und Ohnmacht der Sprache

corporis omnis abit. uox tantum atque ossa supersunt; uox manet; ossa ferunt lapidis traxisse figuram. 400 inde latet siluis nulloque in monte uidetur; omnibus auditur; sonus est, qui uiuit in illa. Verachtet verbirgt sie sich in den Wäldern und mit Laub bedeckt sie sich schamvoll das Antlitz und lebt seither in verlassenen Höhlen. Aber dennoch haftet die Liebe und wächst mit dem Schmerz der Zurückweisung, ständiger Kummer schwächt den armen Körper, lässt die Haut schrumpeln, alle Säfte des Körpers entschwinden in die Luft. Nur Stimme und Knochen bleiben zurück. Die Stimme bleibt, die Knochen, so sagt man, haben sich in Steine verwandelt. Seither verbirgt sie sich in Wäldern und wird auf keinem Berg gesehen, gehört wird sie von allen: Der Klang ist es, der in ihr lebt.

Mit der Nymphe Echo betritt also nach Arruns, Orpheus und Actaeon eine weitere literarische Figur die Bühne des Briefgedichts, die mit ihrer Sprachlosigkeit zu kämpfen hat und sich in die Wälder zurückzieht und dort allein und einsam stirbt. Darüber hinaus greift Ausonius hier erneut auf einen Prätext zurück, der ein wichtiges Motiv des Briefgedichtes aufgreift: Das der Zurückweisung. Setzt man mit Blick auf dieses Motiv erneut die Protagonisten der Geschichte zueinander in Beziehung, ergibt sich folgendes Bild: Wie Echo von Narcissus wird der Ich-Sprecher des Briefgedichtes von Paulinus zurückgewiesen. Hinter dem Ich-Sprecher scheint die Gestalt der Echo, hinter Paulinus die Gestalt des Narcissus auf. Dieses Bild vervollständigt sich, wenn wir die Geschichte weiterverfolgen. Narcissus wird, nachdem er weitere potentielle weibliche und auch männliche Geliebte zurückgewiesen hat, von einem der Geschädigten verflucht, Ov. met. 3,404–406: Inde manus aliquis despectus ad aethera tollens 405 ›sic amet ipse licet, sic non potiatur amato!‹ dixerat: adsensit precibus Rhamnusia iustis. Da hatte ein Verschmähter die Hände zum Himmel gehoben und gerufen: ›Mag er auch selbst so lieben, soll er sich so des Geliebten nicht bemächtigen!‹ Den gerechten Bitten stimmte Nemesis zu.

Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt. Narcissus ruht sich nach der Jagd an einem See aus, beugt sich über das Wasser, um zu trinken, und verliebt sich in sein Spiegelbild. Schließlich erkennt er, dass er sich selbst nie wird erreichen können und geht auf ähnliche Weise zugrunde wie Echo: Die unerwiderte Liebe verzehrt ihn, seine gesunde Hautfarbe verblasst, schließlich stirbt er.697 Die Nymphe trauert angesichts seines Leidens und antwortet trotz ihres Zorns auf seine letzten Rufe, Ov. met. 3,494–501: Quae tamen ut uidit, quamuis irata memorque, 495 indoluit, quotiensque puer miserabilis ›eheu!‹ dixerat, haec resonis iterabat uocibus ›eheu!‹ 697 Ov. met. 3,407–493.

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Attis und Cybele

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cumque suos manibus percusserat ille lacertos, haec quoque reddebat sonitum plangoris eundem. ultima uox solitam fuit haec spectantis in undam: 500 ›heu frustra dilecte puer!‹ totidemque remisit uerba locus; dictoque uale ›uale!‹ inquit et Echo. Dennoch bedauerte Echo ihn, obgleich sie noch zornig war und sich erinnerte, und sooft der bedauernswerte Junge ›Ach‹ gesagt hatte, wiederholte sie mit zurückschallender Stimme ›Ach‹. Immer wenn jener seine Schultern mit den Händen geschlagen hatte, gab auch sie dasselbe Geräusch des Schlagens zurück. Sein letztes Wort – er starrte in das einsame Wasser – war: ›Ach vergeblich geliebter Junge!‹ – ebenso viele Worte warf der Ort zurück – und nachdem er das Lebewohl gesagt hatte, sagte auch Echo ›Lebewohl‹.

Echo bleibt Narcissus treu und verabschiedet sich von ihm – wie es in ihrer Natur liegt – mit seinen eigenen Worten. Vor allem aber behält sie in ihrer Beziehung das letzte Wort: uale. Echo überlebt Narcissus also nicht trotz, sondern gerade wegen ihres komisch wirkenden Sprachfehlers. Selbst mit einem schweren Sprachfehler ist Kommunikation möglich! Wieder entfaltet der Prätext im Kontext des Briefgedichtes also eine warnende Wirkung. Arroganz gegenüber denjenigen, die lieben, und zu große Selbstliebe führen gleichermaßen in den Untergang. Gleichzeitig aber enthält der Prätext auch eine, wenngleich ironische Zusage: Wie Echo wird der Ich-Sprecher trotz seines Zornes immer antworten und vor allem das letzte Wort behalten. Ausonius erzeugt hier mit Hilfe der Metamorphosen auch literarischen Witz: Dass gerade der poeta doctus des Briefgedichtes, der eine äußerst elaborierte Sprechweise pflegt und in seinen Text einen Teppich aus Reminiszenzen hineinwebt, hier in der persona der stammelnden Echo auftritt, verfehlt seine Wirkung nicht.

8.8 Attis und Cybele Im zweiten Teil des Katalogs beschreibt der Ich-Sprecher unter anderem den Lautreichtum des Cybele- und des Isis-Kultes und weist seinen Adressaten so darauf hin, dass es neben der von Paulinus gewählten Religion auch andere, konkurrenzfähige Mysterienkulte gibt, zu deren Ausübung nicht nur Sprache und Gesänge, sondern kultischer Lärm gehören, Auson. 27,21,16– 22: 16 Dindyma Gargarico respondent cantica luco; 20 cymbala dant flictu sonitum, dant pulpita saltu icta pedum, tentis reboant caua tympana tergis; Isiacos agitant Mareotica sistra tumultus;

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Der Katalog – Macht und Ohnmacht der Sprache Dindymische Gesänge antworten dem Hain des Berges Ida; Schallbecken geben zusammengeschlagen einen Ton, einen Ton geben die Bühnenbretter, geschlagen vom Sprung der Füße. Gewölbte Handpauken schallen mit gespannten Häuten zurück, ägyptische Sistren treiben den Isis geweihten Lärm seinem Höhepunkt zu.

Die Verse 20 und 21 erinnern den Leser in diesem Zusammenhang an eine Passage aus dem Attis-Gedicht des Catull, Catull. 63,19–26: ›Simul ite [sc. Gallae], sequimini 20 Phrygiam ad domum Cybeles, Phrygia ad nemora deae, ubi cymbalum sonat uox, ubi tympana reboant, tibicen ubi canit Phryx curuo graue calamo, ubi capita Maenades ui iaciunt ederigerae, ubi sacra sancta acutis ululatibus agitant, 25 ubi sueuit illa diuae uolitare uaga cohors; quo nos decet citatis celerare tripudiis.‹ Zusammen macht euch auf, [sc. ihr Gallae], folgt mir zum phrygischen Haus der Cybele, zu den phrygischen Hainen der Göttin, wo das Schallbecken erklingt, wo Handpauken erschallen, wo der phrygische Flöter erhaben auf gebogenem Halm spielt, wo die Efeu tragenden Maenaden mit Macht ihre Häupter schütteln, wo sie mit spitzen Schreien die heiligen Kulthandlungen vorantreiben, wo dieses wandernde Gefolge der Göttin umherzuschweifen pflegt, wohin auch wir mit schnellem Dreischritt eilen müssen.

Catull schildert hier die Ansprache des Griechen Attis an seine Gefährten, der nach der Ankunft in Phrygien von heiligem Wahn für Cybele erfasst wird, sich selbt entmannt und seine Gefährten auffordert, es ihm nachzutun und den rauschhaften Kult der Göttin zu feiern.698 Catull beschreibt also nicht die Zusammenkunft des mythischen (Götter-) Paares, Attis und Cybele, sondern die Geschichte eines jungen Griechen, der zur gesellschaftlichen Elite seiner Heimat gehört, sich im religiösen Wahn seiner Bestimmung als gesellschaftlich hochstehender Funktionsträger entzieht und durch Raserei und Selbstkastration zu einem Hohepriester und Diener der Göttin wird, zu einem neuen Attis.699 698 Vgl. Catull. 63,1–11: Super alta uectus Attis celeri rate maria/ Phrygium ut nemus citato cupide pede tetigit/ adiitque opaca siluis redimita loca deae,/ stimulatus ibi furenti rabie, uagus animi/ deuolsit ilei acuto sibi pondera silice;/ itaque ut relicta sensit sibi membra sine uiro,/ etiam recente terrae sola sanguine maculans/ niueis citata cepit manibus leue typanum,/ typanum tuom, Cybele, tua, mater, initia,/ quatiensque terga taurei teneris caua digitis/ canere haec suis adorta est tremebunda comitibus: 699 Vgl. Thomson (1998) 373–374: »As nearly all editors point out, whereas Ovid’s Attis is still Phryx puer, as he is in the Attis myth in general, C.’s is very much a Greek (…). In this, he is unique; he has neither predecessors nor followers, as far as we can tell. Why, then, did C. give the name of Attis to a Greek who crossed the sea to serve a goddess whose votaries ritually made themselves eunuchs? For it was never claimed that the Attis of the myth was other than Oriental. In the language of the cult, however, as it was taken over from the Romans from its

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Attis und Cybele

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Ausonius markiert den intertextuellen Bezug, indem er zwei Segmente – cymbalum sonat uox und tympana reboant – aus dem Attis-Gedicht des Catull herauslöst und in veränderter Form in das Briefgedicht einfügt. Der Prätext erfüllt, wenn wir ihn zum Briefgedicht in Beziehung setzen, zwei Funktionen: Erstens ergänzt er die Beschreibung des Lautreichtums. Zu den Schallbecken und Handpauken und den Theaterspielen im Rahmen der Megalensia tritt, vermittelt durch das Gedicht des Catull, der ursprüngliche, wilde Teil des Kultes hinzu: Die ›Jagd‹ der Maenaden durch den Wald.700 Zweitens drängt der Dichter den Freund mit Hilfe des Prätextes ganz offensichtlich in die Rolle eines zweiten Attis. Denn das Handeln des Attis und das Handeln des Paulinus weisen deutliche Parallelen auf: Wie Attis will auch Paulinus über das Meer, wie Attis unterliegt Paulinus einer radikalen religiösen conversio und wie Attis ist Paulinus ein Vertreter einer jungen reichen Oberschicht, deren Bestimmung in der Ausübung wichtiger politischer und sozialer Funktionen liegt.701 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das weitere Erleben des Attis. Nach seiner Raserei verfällt er in tiefen Schlaf und wird am nächsten Morgen durch die Strahlen der Sonne geweckt. Erst jetzt wird er sich seiner

centre, Pessinus in Phrygia, the name ›Attis‹ was certainly one of two given to the chief priests (…). (…) in Rome the eunuch priests of Cybele were called Galli (…) and the name ›Attis‹ was easily transferred to the leader, or local high-priest, of any troop of them. The inscription (ILS 4161) of a certain C. Camerius Crescens describes him as Attis populi Romani. Since the hero of our poem is exactly the leader of just such a troop of (prospective) Galli, the name of Attis is quite naturally assigned to him.« Zur sozialen Stellung und der so erzeugten Wirkung Bremmer (2005) 58: »What must have also struck the Roman reader is Catullus’ stress on the elevated social status of Attis. Both the mention of the gymnasium (60–4) and the hint at his male lovers (64–6) show that Attis is represented as belonging to the jeunesse dorée of his town. This went of course totally against the ruling ideas of Catullus’ time. Roman citizens and even slaves were forbidden to join the cult, just as it was forbidden to Roman citizens and slaves to castrate themselves. In 77 BC the Roman consul Mamercus Aemilius Lepidus even reserved an earlier judgement that a Roman citizen turned Gallus could inherit: such a person, after all, was neither man nor woman.« 700 Dass Catull diese ›Jagd‹ tatsächlich als wild, schrankenlos und unzivilisiert verstanden wissen will, verdeutlicht Catull. 63,27–36. 701 Catull. 63,1–2: Super alta uectus Attis celeri rate maria/ Phrygium ut nemus citato cupide pede tetigit. Zu den übrigen Eigenschaften des Attis vgl. die Bemerkungen bei Bremmer (2005) 58; zur conversio des Attis Weinreich (1968 [11926]) passim, bes. 326: »Attis floh, Veneris nimio odio bewogen, die Heimat, lebte in der Bergwildnis, und nie mehr kam er nach Hause. (…) bei jenem Attis und seinen Gefährten [kam] das einschneidende Erlebnis eines orientalischen Kultes hinzu, um sie zu entwurzeln. Hier liegt ein radikaler Fall von religiöser Bekehrung vor. (…) Das Musterbeispiel für diese Art von Bekehrung zu einem ganz anderen Leben, für die tiefen seelischen Erschütterungen in Reue und Leid bei der Erinnerung an das frühere Dasein und für die Unlösbarkeit eines solchen Schicksals ist eben das Attisgedicht.«

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Der Katalog – Macht und Ohnmacht der Sprache

Tat bewusst, bedauert sie zutiefst und klagt der Heimat sein Schicksal, in dem Bewusstsein, niemals zu ihr zurückkehren zu können,702 Catull. 63,50–60: 50 ›Patria o mei creatrix, patria o mea genetrix, ego quam miser relinquens, dominos ut erifugae famuli solent, ad Idae tetuli nemora pedem, ut aput niuem et ferarum gelida stabula forem et earum omnia adirem furibunda latibula: 55 ubinam aut quibus locis te positam, patria, reor? cupit ipsa pupula ad te sibi dirigere aciem, rabie fera carens dum breue tempus animus est. egone a mea remota haec ferar in nemora domo? patria, bonis, amicis, genitoribus abero? abero foro, palaestra, stadio et guminasiis? (…).‹ Heimat, meine Erzeugerin, Heimat, meine Mutter, die ich unglückselig zurücklasse, wie gebieterflüchtige Sklaven ihre Herren, der ich den Schritt zu den Hainen des Ida gesetzt habe, um im Schnee und in den eisigen Lagern der Wildtiere zu leben, und in meiner Raserei alle ihre Schlupfwinkel von Wildtieren aufzusuchen, was soll ich glauben, in welcher Gegend, Heimat, du liegst? Selbst meine Pupille begehrt auf dich den Blick zu richten, solange für kurze Zeit mein Geist frei von Raserei ist. Werde ich von meiner Heimat weit fortgerissen in diese Haine? Werde ich der Heimat, meinen Gütern, den Freunden, den Eltern fehlen? Werde ich dem Forum, dem Ringplatz, dem Stadion und den Gymnasien fehlen?

Seinem zukünftigen Leben in den eisigen, schneebedeckten Höhen des IdaGebirges stellt Attis nun das Bild seines ersehnten, aber unerreichbaren Lebens in der zivilisierten Heimat gegenüber: Klagen müsse er wieder und wieder. Alle Funktionen privaten und öffentlichen Lebens habe er ausgefüllt. Die Blüte des Gymnasiums sei er gewesen, die Zierde des Ringplatzes, seine Tür sei von Menschen umlagert, sein Haus mit Blumenkränzen geschmückt gewesen. Er solle nun eine Dienerin und die Sklavin der Cybele sein? Eine Mänade solle er werden, ein unfruchtbarer Mann? Er solle den eisigen Ida bewohnen, am Fuße der hohen Gipfel Phrygiens wohnen?703 Die Klage endet mit dem Ausruf, Catull. 63,73: 702 Catull. 63,44–49: Ita de quiete molli rapida sine rabie/ simul ipsa pectore Attis sua facta recoluit,/ liquidaque mente uidit sine queis ubique foret,/ animo aestuante rusum reditum ad uada tetulit./ ibi maria uasta uisens lacrimantibus oculis,/ patriam allocuta maestast ita uoce miseriter. 703 Catull. 63,61–72: Miser ah miser, querendum est etiam atque etiam, anime!/ quod enim genus figuraest, ego non quod obierim?/ ego mulier – ego adolescens, ego ephebus, ego puer,/ ego gymnasi fui flos, ego eram decus olei;/ mihi ianuae frequentes, mihi limina tepida;/ mihi floridis corollis redimita domus erat,/ linquendum ubi esset orto mihi sole cubiculum./ eo nunc deum ministra et Cybeles famula ferar?/ ego Maenas, ego mei pars, ego uir sterilis ero?/ ego uiridis algida Idae niue amicta loca colam?/ ego uitam agam sub altis Phrygiae columinibus,/ ubi cerua silui cultrix, ubi aper nemori uagus?

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Attis und Cybele

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Iam iam dolet quod egi, iam iamque paenitet. Jetzt, ja jetzt schmerzt mich, was ich getan habe, jetzt, jetzt bereue ich!

Schließlich hört auch Cybele die Klage des Attis und schickt einen ihrer Löwen, der Attis mit Wahnsinn schlägt und ihn zurück in die Wälder jagt, wo er den Rest seines Lebens der Göttin dienen wird.704 Verbindet man Prätext und Briefgedicht miteinander, verschwimmen die Grenzen zwischen Attis und Paulinus. Es liegt nahe, den Adressaten, den Asketen und Priester Paulinus wie einen zweiten Attis an den Stränden Kampaniens den Verlust der Heimat beklagen zu hören. Denn wie die Epistulae ex Ponto 3,4 und 4,13 des Ovid zeigt auch das Attis-Gedicht des Catull eine mögliche Zukunft des Asketen und Priesters Paulinus – eine Zukunft in der Wildnis ohne öffentliche Ämter, ohne gesellschaftlichen Umgang, ohne die Errungenschaften griechisch-römischer Kultur. Wie Attis wird oder könnte auch Paulinus in ferner Zukunft rufen: Iam iam dolet quod egi, iam iamque paenitet. Der Vergleich von Paulinus und Attis enthält nun verschiedene Spitzen, die teilweise im Prätext selbst enthalten sind, teilweise auch durch das Zusammenspiel von literarischer Fiktion und historischen Gegebenheiten möglich werden. Catull beschreibt Attis zunächst als Mann, der sich gefangen in religiösem Wahn mit Hilfe eines scharfen Steins selbst entmannt (Catull. 63,1–5). Dadurch wird Attis zu einem Wesen zwischen Mann und Frau, das jetzt schneeweiße Hände und zarte Finger hat. Entsprechend wechselt Catull das Genus, spricht im Folgenden nicht mehr von ›ihm‹, sondern von ›ihr‹ und bezeichnet Attis als notha mulier, als Halbweib (Catull. 63,27). Attis und Paulinus vergleichen heißt also einen von religiösem Wahn ergriffenen, sich im Rausch selbst entmannenden Anhänger der Cybele mit einem christlichen Asketen vergleichen. Der Angriff, den Ausonius seinen Ich-Sprecher so mit Hilfe der CatullReminiszenz führen lässt, wirkt noch schärfer mit Blick auf die gesellschaftliche Stellung der Eunuchen. Sie werden von der res publica bis in die Spätantike wegen ihrer Unfähigkeit zum Geschlechtsverkehr, ihrer Unfruchtbarkeit, ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Weiblichkeit und ihrer hohen Stimme gesellschaftlich stigmatisiert. Zudem gelten sie als geizig, eifersüchtig, bestechlich, boshaft und grausam.705 Darüber hinaus bleibt auch die Anspielung auf den Cybelekult nicht ohne Wirkung, da er im Laufe des vierten Jahrhunderts in zunehmende Konkurrenz zum Christentum tritt. Julian und die Familien der Symmachi und Flaviani beleben den Kult, getragen von der neuplatonischen Philosophie, in der Mitte des vierten Jahrhunderts in Rom neu. Die Annäherung von Christentum und Cybelekult zeigt sich vor allem in der ›Lehre‹, die zunehmend entradikalisiert wird. So wird die 704 Catull. 63,78–90. 705 Vgl. Muth, R.: Art. Kastration, RAC 20, 285–342, bes. 308–312.

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Der Katalog – Macht und Ohnmacht der Sprache

Kastration des Attis (wie das christliche Mönchtum) als spirituelles Eunuchentum gedeutet, das so gesellschaftlich annehmbarer wird. Schließlich wird Attis teilweise mit Christus gleichgesetzt.706 Den christlichen Denkern musste also daran gelegen sein, sich vom Cybelekult abzusetzen und Cybele und Attis sowie ihre Anhänger zu diskreditieren. Bereits Tertullian und Minucius, später Hieronymus, Augustinus, Prudentius und Paulinus überziehen Cybele und Attis mit Spott und Häme und versuchen zu beweisen, dass Christus und Cybele nichts gemeinsam haben. Was die Diebstähle eines Merkur im Vergleich zur Grausamkeit der Magna Mater Cybele seien, für die sich junge Männer selbst entmannten, um so durch die Entmannung die Kräfte Roms zu stärken, fragt z. B. Augustinus im siebten Buch von De civitate dei.707 Die Catull-Reminiszenz im Rahmen des Katalogs dient also dazu, den Adressaten des Briefgedichtes zu diskreditieren und ihm eine mögliche Zukunft vor Augen zu halten. Es scheint möglich, dass Paulinus am Ende wie Attis den Verlust der Heimat beklagen und seine Rückkehr vergeblich ersehnen wird. Zu dieser intertextuellen Warnung passt das Ende von carm. 63. In den letzten Versen spricht der Erzähler die Göttin selbst an, Catull. 63,91–93: Dea magna, dea Cybele, dea domina Dindymei, procul a mea tuos sit furor omnis, era, domo; alios age incitatos, alios age rabidos! Große Göttin, Göttin Cybele, Göttin, Herrin des Dindymos, fern sei dein Wahnsinn, Herrin, von meinem Haus: andere treibe von dir angestachelt an, andere treibe als gehetzte.

Die Stimme des Erzählers wird hier in gewisser Weise zur Stimme des IchSprechers im Briefgedicht, der den Wahn, der sein Gegenüber Paulinus heimgesucht hat, von sich fernzuhalten sucht.

706 Vgl. Ristow, G.: Art. Kybele, RAC 22, 595–601. 707 Aug. civ. 7,26,23–30: At uero ista Magna deorum Mater etiam Romanis templis castratos intulit atque istam saeuitiam moremque seruauit, credita uires adiuuare Romanorum exsecando uirilia uirorum. quid sunt ad hoc malum furta Mercurii, Veneris lasciuia, stupra ac turpidines ceterorum, quae proferremus de libris, nisi cotidie cantarentur et saltarentur in theatris? sed haec quid sunt ad tantum malum, cuius magnitudo Magnae Matri tantummodo competebat? Vgl. auch Tert. apol. 15,5; 25,6; Min. Fel. 22,4; 24,11; Aug. in Joh. tract. 7,6; Hieron. in Hos. comm. 1,4,14; Prud. perist. 10,196–200; c. Symm. 2,51–60; Paul. Nol. carm. 32,82–93.

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Zusammenfassung: Macht und Ohnmacht der Sprache

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8.9 Zusammenfassung: Macht und Ohnmacht der Sprache Betrachten wir die untersuchten Prätexte in einer Zusammenschau, fallen einige Gemeinsamkeiten ins Auge. Die Prätexte befassen sich mit Ausnahme der Arruns-Geschichte aus dem elften Buch der Aeneis und des AttisGedichtes direkt oder indirekt mit dem Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht der Sprache: Die Phaedra des Ovid wird sterben, weil sie selbst sprachlos bleibt und ihre Briefgedichte von Hippolytos weder gelesen noch beantwortet werden. Der poeta exul der Epistulae ex Ponto verliert im Exil die Fähigkeit, in lateinischer Sprache zu dichten, und droht daran zugrunde zu gehen. Actaeon wird von seinen Hunden zerrissen, weil ihn seine Verwandlung zur Sprachlosigkeit verurteilt. Umgekehrt behält die in eine Stimme verwandelte Nymphe Echo trotz ihres Sprachfehlers die Oberhand über Narcissus, der aufgrund seiner Egozentrik und Selbstverliebtheit stirbt. Echo behält das letzte Wort. Die Prätexte und die in ihnen handelnden Personen tragen auf diese Weise jeweils eine Botschaft in das Briefgedicht hinein, werden also zu einen Teil des Gedichts: Phaedra und Hippolytos zeigen Paulinus, was aus mangelnder Kommunikationsfähigkeit entstehen kann. Der poeta exul des Ovid verdeutlicht ihm, wie schlecht es Dichtern außerhalb der Heimat ergeht, und führt ihm so eine mögliche Zukunft vor Augen. Actaeon warnt vor Verwandlung, Narcissus vor Egozentrik und dem Hass auf andere. Sehr komplex stellt sich das Verhältnis von Prätext und Briefgedicht schließlich in Auson. 27,21,9 dar. Der Vers lässt den Leser an zwei literarische Vorbilder denken: An eine Passage aus Ciceros Rede für den Dichter Archias (Cic. Arch. 19) und an die Geschichte von Orpheus und Eurydice im Aristaeus-Epyllion der Georgica (Verg. georg. 4,453–527). Der Adressat soll sich mit Hilfe der Reminiszenzen auf das Bildungsideal ciceronischer Prägung besinnen und seinen Weg der Trauer überdenken. Auffällig ist, wie verschieden die Orpheus-Figuren bei Vergil und bei Cicero dargestellt sind, und wie sich Ausonius diese Verschiedenheit zunutze macht: Mit Hilfe der Cicero-Reminiszenz verweisen Ausonius und sein Ich-Sprecher auf eine Orpheus-Figur, die durch ihren alles beherrschenden Gesang zu einem Symbol für die Macht der Dichter wird. Der Orpheus Ciceros beherrscht Bäume, Tiere und sogar Steine. Auch Cicero, die Richter und die übrigen Hörer der Rede müssen sich seiner Stimme und damit implizit auch der des Archias beugen: nos non poetarum uoce moueamur? (Cic. Arch. 19). Die Antwort liegt auf der Hand: ›Ja, auch wir wollen uns der Stimme der Dichter, der Stimme des göttlichen Orpheus, der Stimme des Archias beugen.‹ Dagegen stößt die Orpheus-Figur der Georgica an die Grenzen ihrer Macht, als sie Eurydice zum zweiten Mal verliert. Der Fährmann lässt Orpheus nicht über die Styx und die an den Hades angrenzenden Sümpfe übersetzen. So stellt

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Der Katalog – Macht und Ohnmacht der Sprache

sich ihm die Frage, was er tun, wohin er sich wenden, wie er durch Weinen die Manen, welche Gottheiten er nun durch seine Stimme anrühren soll: quae numina uoce moueret? (Verg. georg. 4,504–505). Auch an dieser Stelle liegt die Antwort auf der Hand: Selbst der göttliche Sänger vermag die Gottheit nicht mehr zu erweichen. Sein Trauerlied kann zwar wilde Tiere und Bäume, nicht aber Götter bewegen. Anders als in der Rede für Archias vergegenwärtigt die rhetorische Frage hier nicht die Macht, sondern die Ohnmacht der Sprache. Sie verleiht der Verzweiflung sowohl des Sängers als auch des mitleidenden Erzählers Ausdruck. In Ciceros Rede für Archias siegt die Sprache machtvoll – sie muss im Kontext dieser Rede siegen –, in den Georgica Vergils verliert sie ihre Macht und unterliegt. Ausonius kombiniert also in v. 9 zwei verschiedene OrpheusBilder. Ihnen liegen vermutlich zwei verschiedene Versionen des ursprünglichen Mythos zugrunde. Dass es Orpheus mit Hilfe seines Gesanges gelang, Eurydice aus dem Hades zu befreien, davon berichten bereits Euripides und Pindar. Sein Scheitern bezeugen dagegen vor Vergil nur so wenige Quellen, dass die Klassische Philologie der Neuzeit diese Version lange Zeit für eine Erfindung des Dichters oder für seine sophistische Kritik am orphischen Auferstehungsglauben hielt.708 Das Verhältnis von Macht und Ohnmacht der Sprache, von Erfolg und Scheitern, wird so zu einem grundlegenden Thema des Katalogs, das an der Textoberfläche im Begriff des Schweigens nach außen dringt, unter der Textoberfläche durch die Reminiszenzen aufgefächert wird. Dadurch, dass Ausonius beide Orpheus-Mythen kombiniert, erreicht er m. E. aber noch etwas anderes: Der Ich-Sprecher tritt als Dichter in der Maske des (ciceronischen) Orpheus auf, dem es gelingen wird, den Adressaten mit Hilfe der Stimme zurückzurufen. Dagegen scheint die Rolle des (vergilischen) Orpheus, der den Tod weder ver- noch überwinden kann, dem Adressaten, dem historischen Paulinus, auf den Leib geschrieben: Er droht wie Orpheus aufgrund seiner Trauer um Sohn und Bruder den Weg in die Einsamkeit zu suchen und deshalb wahnsinnig zu werden. Ausonius warnt mit Hilfe der Protagonisten – Phaedra, Hippolytos, des poeta exul, Arruns, Orpheus, Actaeon, Narcissus und Attis – nicht nur vor einem bestimmten Schicksal, sondern eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit zu literarischen Rollenspielen, da der Paulinus des Briefwechsels jeweils einige wesentliche Merkmale der Protagonisten teilt: Er verhält sich feige wie Arruns und vermeidet die offene Konfrontation. Er ist von Trauer erfüllt wie der vergilische Orpheus. Er verwandelt sich wie Actaeon und ist deshalb zur Sprachlosigkeit verurteilt. Wie Narcissus liebt er sich selbst mehr als Ausonius, und wie Attis scheint er gefangen in religiösem Wahn. Paulinus agiert 708 Erfolgreich ist Orpheus bei Eur. Alc. 357–362, Pind. Py. 4,177 und Simonides frg. 34. Vgl. zu den verschiedenen Versionen zusammenfassend Garezou, M.-X.: Art. Orpheus, LIMC 7,1, 81–82 und Erren (2003) 959–960.

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Zusammenfassung: Macht und Ohnmacht der Sprache

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auf der Folie der Prätexte jeweils wie ein zweiter Arruns, ein zweiter Orpheus, ein zweiter Actaeon, ein zweiter Narcissus und ein zweiter Attis. Die Prätexte selbst dienen also auch dazu, das Verhalten des Freundes zu charakterisieren. Dass Ausonius und sein Ich-Sprecher den Adressaten in diesem Zusammenhang auch direkt angreifen, zeigt die Catull-Reminiszenz, durch die Paulinus in die Rolle des in religiösem Wahn gefangenen, sich selbst entmannenden Attis gedrängt wird. Wichtig scheint mir in allen Fällen ein Punkt, der bisher zu kurz gekommen ist und auch hier nur kurz angesprochen werden kann: Die Protagonisten der Prätexte verändern sich in drei Fällen durch den Einfluss einer Frau. Orpheus wird durch seine maßlose Liebe zu Eurydice verändert, Actaeon durch die Göttin Diana, Attis schließlich durch Cybele. Auch Paulinus wird, wie Ausonius am Ende des zweiten Briefgedichtes aufdeckt, durch eine Frau verändert: Therasia in Gestalt der halb-mythischen Männer-Beherrscherin Tanaquil. Es mag sein, dass sich auch hinter den Frauen-Gestalten des Mythos mehr verbirgt, als es zunächst den Anschein hat. Insgesamt erweitert Ausonius den Katalog mit Hilfe der Reminiszenzen um ein breites Spektrum an Aussagemöglichkeiten. Der Katalog dient mit dem offensichtlichen Grundthema ›Lautreichtum‹ also nicht nur als Folie, auf der das Schweigen des Freundes deutlich hervortritt. Er zeigt darüber hinaus auf einer tieferen Ebene deutlich, was Schweigen, Feigheit, Selbstverliebtheit und religiöser Wahn bewirken können. Auffällig ist, dass Ausonius Prätexte wählt, die dunkel und düster wirken: Immer geht es um Einsamkeit, Wahnsinn und Tod. Er entwirft so ein literarisches Gegenbild, das die dunkle Seite des an der Textoberfläche sichtbaren locus amoenus zeigt.

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9. Lehrdichtung auf ovidischer Folie – Das Lehrgedicht in Auson. 27,22

9.1 Das Lehrgedicht – Struktur und Komposition Am Anfang des zweiten Briefgedichts steht die neuerliche Klage über das Schweigen des Freundes. Er habe geglaubt, beginnt der Ich-Sprecher, dass seine letzte Klage den säumigen Freund hätte locken und dass Tadel in eine schöne äußere Form verpackt, ihn zu einer Antwort hätte reizen können. Der Freund aber verharre schweigend, als ob er das Schweigen zu einem Kult erhoben hätte. Ob es ihm nicht erlaubt sei oder ob er sich schäme, wenn er Paulinus als seinen Erben und sich selbst als väterlichen Freund betrachte?709 Darauf lässt der Ich-Sprecher eine Aufforderung folgen, Auson. 27,22,8–12: Ignauos agitet talis timor, at tibi nullus sit metus et morem missae acceptaeque salutis 10 audacter retine. uel si tibi proditor instat aut quaesitoris grauior censura timetur, occurre ingenio, quo saepe occulta teguntur. Feiglinge treibt solche Furcht an, dir aber sei solche Angst fern, und die Gewohnheit, einen Gruß zu schicken und zu empfangen, [10] behalte kühn bei. Wenn dir entweder ein Verräter droht oder der scharfe Tadel eines Untersuchungsrichters zu fürchten ist, dann begegne dem mit Scharfsinn, durch den Geheimes oft verborgen wird.

Bitten um Antwortschreiben kennt der Leser bereits aus Brief 21. Während sie dort allerdings immer indirekt formuliert und mit Beispielen aus Geschichte und Mythologie unterlegt werden, drückt der Ich-Sprecher seinen Wunsch jetzt erstmals ohne Umschweife aus.710 Bereits bekannt sind auch die Motive ›Furcht‹, ›Verrat‹ und ›Kühnheit‹,711 die Ausonius hier allerdings nutzt, um den Leser auf eine Veränderung im Sujet der Gattung vorzubereiten: Während der Ich-Sprecher in Brief 21 als Ursache und Ergebnis des Schweigens Scham erkennt, tritt hier die Furcht vor dem proditor und dem quaesitor in den Vordergrund. Proditor und quaesitor nehmen den 709 Vgl. Auson. 27,22,1–7. 710 Indirekt formuliert der Ich-Sprecher die Bitte um Antwort z. B. Auson. 27,21,32–47. 711 Vgl. Auson. 27,21,26–47.

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Das Lehrgedicht – Struktur und Komposition

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Platz des schlechten Ratgebers aus Brief 21 ein.712 Wer sich hinter ihnen verbirgt, bleibt zunächst weiter offen. In diesem Zusammenhang fordert der Ich-Sprecher jedenfalls den Freund auf, sein ingenium zu nutzen, um das Geheimnis ihrer Brieffreundschaft bewahren und den Briefwechsel fortsetzen zu können. Was er unter der Aufforderung occurre ingenio versteht, zeigt er mit Hilfe eines zweiteiligen Katalogs. Der erste Teil enthält drei Beispiele aus der Mythologie, der zweite Teil zwei Beispiele aus der ›Praxis‹ antiker Geheimsprachen, Auson. 27,22,13–31:

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Threicii quondam quam saeua licentia regis fecerat elinguem, per licia texta querellas edidit et tacitis mandauit crimina telis. et pudibunda suos malo commisit amores uirgo nec erubuit tacituro conscia pomo. depressis scrobibus uitium regale minister credidit idque diu texit fidissima tellus; inspirata dehinc uento cantauit harundo. lacte incide notas: arescens charta tenebit semper inaspicuas; prodentur scripta fauillis. uel Lacedaemoniam scytalen imitare, libelli segmina Pergamei tereti circumdata ligno perpetuo inscribens uersu, qui deinde solutus non respondentes sparso dabit ordine formas donec consimilis ligni replicetur in orbem. innumeras possum celandi ostendere formas et clandestinas ueterum reserare loquellas, si prodi, Pauline, times nostraeque uereris crimen amicitiae. Tanaquil tua nesciat istud.

Die Frau, welche die rasende Zügellosigkeit des thrakischen Königs hatte verstummen lassen, klagte mit Hilfe gewobener Fäden [15] und vertraute das Verbrechen verschwiegenem Gewebe an. Und die schamhafte Jungfrau vertraute ihre Liebesgeheimnisse einem Apfel an und wissend um die Verschwiegenheit der Frucht errötete sie nicht. Der Diener vertraute den königlichen Makel tiefen Erdgruben an, und ihn hält lange die treueste Erde bedeckt: [20] Schließlich sang, behaucht vom Wind, das Gras. Mit Milch ritze die Zeichen ein: Das trockene Papier wird sie immer unsichtbar enthalten, aufgedeckt wird das Geschriebene mit Hilfe von Asche. Oder ahme die spartanische Scytale nach, indem du auf Stücke pergameischen Bastes schreibst, die um das Rundholz gewickelt sind, [25] mit fortlaufendem Vers, der schließlich gelöst, nachdem seine Ordnung aufgehoben ist, solange keine antwortenden Formen geben wird, bis er auf ein Rund ähnlichen Holzes gewickelt wird. Unzählige Formen des Verbergens kann ich dir zeigen und die Reden der Alten dir entschlüsseln, [30] wenn du, Paulinus, fürchtest verraten zu werden und das Verbrechen unserer Freundschaft scheust. Deine Tanaquil soll nichts davon wissen.

712 Vgl. zum schlechten Ratgeber Auson. 27,21,62–62: Quis tamen iste tibi tam longa silentia suasit?/ impius ut nollos hic uocem uertat in usus (…).

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Das Lehrgedicht in Auson

Der Mythen-Katalog beginnt mit Philomela. Der thrakische König Tereus hatte sie vergewaltigt und ihr die Zunge herausgeschnitten, um ihr Schweigen sicherzustellen. Philomela webte die Tat jedoch in einen Teppich ein, den sie ihrer Schwester Prokne, der Frau des Königs, zukommen ließ. Zusammen nahmen sie blutige Rache, töteten Itys, den Sohn der Prokne und des Tereus, und setzten ihn dem König zum Mahl vor. Auf der Flucht wurde Prokne in die klagende Nachtigall, Philomela in eine Schwalbe, Tereus in einen kriegerischen Wiedehopf verwandelt.713 Mit dem zweiten Beispiel wendet sich der Ich-Sprecher erneut einer Liebesgeschichte zu: Die pudibunda uirgo, die noch unverheiratete Cydippe, vertraut in der Version des Ausonius ihre Liebschaft mit Acontius einem Apfel an und errötet nicht vor Scham, weil sie um die Verschwiegenheit der Frucht weiß.714 Mit dem dritten Beispiel greift der Ich-Sprecher den Mythos des thrakischen Königs Midas auf. Midas hatte sich im Rahmen eines Sängerwettstreits zwischen Apoll und Pan für letzteren als besten Sänger entschieden, und dies, obwohl nicht ihm, sondern Tmolus, einem Berggott die Rolle des Richters zukam. Apollon strafte den König für seine Frechheit, seinen schlechten musikalischen Geschmack und seine Dummheit, indem er seine Ohren in Eselsohren verwandelte. Midas versuchte zwar sein uitium unter einer phrygischen Mütze zu verbergen, jedoch bemerkte sein Sklave die Ohren während der Rasur, schwor sich zu schweigen, konnte das Gesehene aber nicht für sich behalten. Er hob eine Grube aus, flüsterte das Gesehene hinein und bedeckte es mit Erde. Lange barg die Erde das Geheimnis. Schließlich aber sangen die auf ihr wachsenden Binsen, wenn der Wind in sie hineinfuhr, von den Ohren des Midas und kündeten so von den Eselsohren und der Frechheit und Dummheit des Königs.715

713 Vgl. dazu Touloupa, E.: Art. Prokne et Philomela, LIMC 7,1, 527–529, die auch Varianten des Mythos anführt. 714 Die Darstellung des Mythos bei Ausonius weicht von den Versionen des Kallimachos und Ovid inhaltlich ab, ist formal aber, wie Kap. 9.4 zeigen wird, deutlich an letzteren angelehnt. Bei Kallimachos und Ovid erblickt Acontius Cydippe am Strand. Er entbrennt in Liebe zu ihr und wirft ihr einen Apfel vor die Füße, auf den er einen Liebesschwur eingeritzt hat. Sie nimmt den Apfel auf, liest ihn, wie in der Antike üblich, laut vor und ist damit an Acontius gebunden. Sie verschweigt dies jedoch ihren Eltern, die sie mehrfach zu verheiraten versuchen. Jedesmal erkrankt sie schwer, die Hochzeit wird so unterbunden. Schließlich rät das ApollonOrakel von Delphi dazu, Cydippe mit Acontius zu verheiraten. Vgl. Kallimachos Fr. 79–87 (Asper) und Ov. Epist. 20/21, auch den spätantiken Aristaineitos 1,10. Die drei Quellen bieten das überlieferte Material in relativer Übereinstimmung, die Versionen unterscheiden sich nur im Detail. Zu den verschiedenen Versionen des Mythos vgl. z. B. Hintermeier (1993) 103–104, instruktiv auch Cairns (1969) 131–134. 715 Die ausführlichste Version des Mythos bietet Ov. met. 11,106–193, bes. 172–193. Zu den Varianten Bömer (1980) 261–263.

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Das Lehrgedicht – Struktur und Komposition

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Der zweite Teil des Katalogs enthält zwei ›praktische‹ Ratschläge für Paulinus: Er solle mit Milch schreiben. Getrocknet werde der Brief die Zeichen verborgen halten. Mit Hilfe von Asche trete die Schrift wieder hervor. Wesentlich detaillierter beschreibt der Ich-Sprecher die komplizierte Verschlüsselungstechnik der Spartaner: Pergameischen Bast, Pergament also, soll Paulinus in Streifen schneiden und um einen Rundstab, der auf bestimmte Weise gedrechselt ist, wickeln und es dann beschreiben. Wird das Pergament von dem Stab gelöst, löst sich auch die Ordnung der Schrift: Sie kann nur dann entziffert werden, wenn das Pergament um denselben Stab oder ein identisch gedrechseltes Gegenstück gewickelt wird.716 Am Ende des Katalogs nimmt der Ich-Sprecher den bekannten Argumentationsstrang wieder auf: Die angeführten Techniken soll Paulinus anwenden, wenn er Furcht vor Verrat oder dem crimen amicitiae verspürt. Allerdings löst er jetzt in einem kurzen Nachsatz auf, wer sich hinter dem proditor und dem quaesitor verbirgt: Es ist die Tanaquil des Paulinus, die dessen Ehefrau Therasia symbolisiert.717 Dieser Teil des Briefgedichts ähnelt unter gattungsspezifischen, strukturellen und auch inhaltlichen Gesichtspunkten einem Lehrgedicht. Gegenstand ist die ars celandi. Der Ich-Sprecher begibt sich in die Rolle des Lehrers, um seinem Schüler die Kunst, einen Brief in Geheimschrift zu verfassen, zu vermitteln. In einem ersten Schritt postuliert und beschreibt er ein bestimmtes Problem, das es mit Hilfe des Verstandes zu überwinden gilt: Die Furcht vor dem proditor und dem quaesitor. Nun führt der Lehrer mit Hilfe des kurzen Katalogs vor, dass es auch unter widrigen Umständen möglich ist, verbotene Briefe zu schreiben und geheimzuhaltendes zu übermitteln. Auch stilistisch nähert sich der Ich-Sprecher den Vorgaben und der Tradition des klassischen Lehrgedichts an: Der Katalog beginnt mit syntaktisch und stilistisch einfach gehaltenen Beispielen, mündet dann aber in die komplexe Beschreibung der Skytale. Das inhaltlich vielleicht am wenigsten ansprechende Beispiel wird sprachlich äußerst kunstvoll verpackt. Als kompositorisches Vorbild für dieses Lehrstück dient eine Passage aus dem dritten Buch der ars amatoria. Dort weist der ovidische artifex Amoris der puella Mittel und Wege, den Gefahren, die durch den uafer maritus und den obstans custos drohen, zu trotzen und mit dem Liebhaber in Kontakt zu treten, Ov. ars 3,611–612 u. 617–630:

716 Die Technik, eine Skytale zu wickeln, wird beschrieben bei Plut. Lys. 19 und Gell. 17,9,6–15. Vgl. zur Technik die kurze Beschreibung von West (1988) 42–48. Eine ausführliche Beschreibung sowie einen Überblick über den Mythos ›Skytale‹ in der Antike bietet die elektronische, über das Internet verfügbare Version von Collard (2004) 44–63; [Link: http:// bcs.fltr.ucl.ac.be/FE/07/CRYPT/Crypto44–63.html#transposition.] 717 Zu Therasia in der Rolle der Tanaquil vgl. Kap. 3.3.

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Das Lehrgedicht in Auson

611 Qua uafer eludi possit ratione maritus quaque uigil custos, praeteriturus eram. (…) tot licet obseruent, adsit modo certa uoluntas, quot fuerant Argo lumina, uerba dabis. scilicet obstabit custos ne scribere possis, 620 sumendae detur cum tibi tempus aquae, conscia cum possit scriptas portare tabellas, quas tegat in tepido fascia lata sinu. cum possit sura chartas celare ligatas et uincto blandas sub pede ferre notas! 625 cauerit haec custos, pro charta conscia tergum praebeat inque suo corpore uerba ferat. tuta quoque est fallitque oculos e lacte recenti littera (carbonis puluere tange: leges), fallet et umiduli quae fiet acumine lini, 630 et feret occultas pura tabella notas. Wie der verschlagene Angetraute hintergangen werden kann und wie der aufmerksame Türhüter, wollte ich übergehen. (…) Mögen dich soviele Augen beobachten, wie Argos sie hatte: Wenn du es ernsthaft willst, wirst du sie täuschen. Natürlich wird der Wächter dich am Schreiben hindern, aber Zeit zum Waschen wird man dir lassen, deine Freundin kann dann die beschriebenen Tafeln tragen, die sie an der warmen Brust unter dem weiten Tuch versteckt, sie kann das Papier an der Wade befestigt verbergen und unter dem geschnürten Fuß die schmeichelnden Zeichen tragen. Sollte der Wächter auf der Hut sein, möge die Vertraute ihren Rücken an Stelle des Bastes geben und auf ihrem Körper die Worte tragen. Sicher ist auch und täuscht die Augen der Buchstabe aus frischer Milch (berühre ihn mit Kohle, du wirst lesen). Täuschen wird auch die Schrift, die geschrieben wird mit der Spitze des feuchten Leinenstengels, die unbeschriebene Tafel wird verborgene Schriftzeichen tragen.

Ausonius markiert den Bezug zu den Anweisungen des artifex amoris formal lediglich, indem er das Motiv, Geschriebenes durch die Nutzung von Milch zu verbergen, übernimmt. Die Szenerie jedoch gestaltet er ganz ähnlich. Das Thema, das die beiden Lehrgedichte verbindet, ist die ars celandi und fallendi, die in diesem Fall jeweils darin besteht, den Mann oder, im Fall des Paulinus, die Frau und die für ihn oder sie arbeitenden Hüter durch das Abfassen geheimer Botschaften zu hintergehen. Der literarische Paulinus wird so in eine Rolle gedrängt, die dem Part der zu belehrenden puella ähnelt: Wie ihre Liebschaften vom Ehemann und vom Wächter bedroht werden, so wird die Freundschaft zwischen Paulinus und dem poetischen Ich vom proditor und quaesitor in Gestalt der ›tanaquilesken‹ Therasia bedroht, und wie die puella soll Paulinus sein ingenium nutzen, um dieser Gefahr auszuweichen, und die Ehefrau hintergehen. Die Aufforderung lacte incide notas entfaltet, vor dem Hintergrund des ovidischen Prätextes gelesen, eine gewisse Ironie.718 718 Vgl. dazu auch Knight (2005) 382: »The strategems which follow can be seen to offer an ironic juxtaposition of female and male, erotics and friendship. The first, that of ›incising

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Das Lehrgedicht – Struktur und Komposition

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Allerdings verwendet Ausonius zur Gestaltung seines Maßnahmenkatalogs ganz andere Beispiele als Ovid. Dieser zieht mit der Vertrauten der puella und ihren Möglichkeiten Beispiele heran, die in der römischen Lebenswelt und in noch stärkerem Maße in der literarischen Welt der römischen Liebeselegie verankert sind: Die conscia kann die Briefe unter ihrem Gewand verbergen, sie an ihrem Bein befestigen, sie zwischen Fuß- und Schuhsohle verstecken oder auch ihren eigenen Körper als Beschreibstoff anbieten. Milch oder feuchte Leinenstengel bieten sich außerdem an, um Nachrichten verborgen zu halten. Ausonius taucht dagegen im ersten Teil seines Lehrgedichts in die Welt des Mythos ein: Philomela, Midas und Cydippe treten vor das Auge des Lesers. Erst in dem Vorschlag, Milch zu benutzen, nähert Ausonius sich inhaltlich wieder der ovidischen Darstellung an. Dennoch bleibt Ausonius auch im ersten mythologischen Katalogteil kontextuell und strukturell Ovid verhaftet. Erstens bedient er sich mit den mythischen Exempla eines rhetorischen Hilfsmittels, das Ovid selbst in den Epistulae Heroidum, den Tristia und den Epistulae ex Ponto zur Überzeugung anderer einsetzt: Z. B. lobt der poeta exul mit Hilfe mythischer Exempla Freunde für ihre Unterstützung und motiviert sie zu weiterer Unterstützung. Will der poeta exul die geleisteten Dienste des Freundes hervorheben und ihn so an sich binden, bezieht er klassische Freundschaftspaare wie Theseus und Pirithous und Nisus und Euryalus in die Argumentation seiner Briefegedichte ein.719 Will er umgekehrt, die Unzuverlässigkeit eines Freundes kritisieren und korrigierend auf sein Verhalten einwirken, führt er Exempla an, die sich durch ihre Zuverlässigkeit auszeichnen, wie den Steuermann Palinurus, den Wagenlenker Automedon oder den Arzt Podalirius.720 Ausonius bedient sich also einer rhetorischen Argumentationstechtik, die Ovid selbst in den Briefen der Exildichtung angelegt hat und insofern als ein gattungsspezifisches Merkmal des poetischen Briefs gelten kann. Zweitens verdeutlicht Ausonius seine literarische Nähe zur Dichtung Ovids auch durch die Wahl seiner Exempla, Philomela, Cydippe und Midas:

letters with milk‹ to be subsequently revealed by the application of ash, is borrowed (…) from an Ovidian context which instructs the female in adultery. In relation to the situation of Paulinus, the effect may be to cast him in the light of locked-in wife or mistress.« 719 Vgl. zu diesen klassischen Freundschaftspaaren, Ov. trist. 1,5,15–26: Di tibi sint faciles, et opis nullius egentem/ fortunam praestent dissimilemque meae./ si tamen haec nauis uento ferretur amico,/ ignoraretur forsitan ista fides./ Thesea Pirithous non tam sensisset amicum,/ si non infernas uiuus adisset aquas./ ut foret exemplum ueri Phoceus amoris,/ fecerunt furiae, tristis Oresta, tuae./ si non Euryalus Rutulos cecidisset in hostes,/ Hyrtacidae Nisi gloria nulla foret./ scilicet ut flauum spectatur in ignibus aurum,/ tempore sic duro est inspicienda fides. 720 Vgl. Ov. trist. 5,6,1–14.

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Das Lehrgedicht in Auson

Die Geschichten von Philomela und Midas werden in den Metamorphosen erzählt, die von Cydippe in ihrem eigenen Briefwechsel mit Acontius. Ovid ist also, wie bereits Gillian Knight erkannt hat, das ›link‹, das die Exempla verbindet.721 Allerdings wirkt die Wahl der Exempla auf den ersten Blick nur teilweise gelungen. Denn es gelingt Philomela zwar, ihren Gegner Tereus zu überlisten und ihre Schwester auf einem geheimen Weg von der Untat des Bruders zu unterrichten, aber ihr Schreiben verbirgt nicht, sondern deckt im Gegenteil auf. Mit Hilfe ihres ingenium offenbart sie das, was Tereus verbergen will. Der Zweck ihres Handelns besteht im prodere. Ähnlich verhält es sich mit dem Friseur des Midas: Auch ihm gelingt es, den König zu hintergehen und den Schwur außer Kraft zu setzen. Gleichzeitig scheitert er aber mit seinem Ansinnen, da letztlich die Erde und die Pflanzen das Geheimnis des Königs preisgeben. Noch schwieriger zu bewerten ist das Beispiel der Cydippe. In der kallimacheischen und ovidischen Version des Mythos, die auch in der Spätantike bekannt ist, ritzt Acontius seine amores in einen Apfel ein. Cydippe liest diese ›Inschrift‹ laut, daraufhin errötet sie und ist an Acontius gebunden. Die Cydippe des Ausonius übernimmt also die Rolle des ovidischen Acontius. Einerseits entsprechen die Beispiele Philomela und Midas also dem Ansinnen des Lehrdichters: Sie zeigen, wie man einen Gegner mit List besiegen und verborgene Botschaften schicken kann. Andererseits konterkarieren sie aber das Ziel des Lehrers, denn sie decken Verborgenes auf, einmal ein crimen und facinus, einmal ein uitium. Der Lehrdichter verstößt mit diesen ambivalent zu deutenden Beispielen zumindest teilweise gegen die rhetorische Grundregel, die eigene Argumentation nur auf similia zu stützen, das heißt auf solche Exempla, die dem eigenen Fall naheliegen und der Überzeugung der angesprochenen Personen dienen.722 Damit bedient er sich einer literarischen Technik, die Ovid in der Liebesdichtung immer wieder anwendet, um seine Texte mit Witz zu bereichern und seine Leser zum Mitdenken 721 Knight (2005) 381: »The three exempla which follow here … all reveal an Ovidian link. The prominent placing of the unnamed Threicii (regis) seems to echo the Metamorphoses, which similarly begins its narrative with the words Threicius Tereus. Cydippe is said to have ›entrusted‹ her love to an apple. Commisit parallels the preceding mandauit (of Philomela’s tapestry) and the succeeding credidit (of the barber’s betrayal), suggesting that Ausonius is conflating the motif of her receipt of the message-apple, deriving from Callimachus, with her letter-response as offered by the Heroides. The barber whispers the secret into depressis scrobibus, a ›sunken trench‹, in seeming imitation of the phrase scrobibus … opertis as used in Ovid’s recounting of the tale.« 722 Vgl. z. B. den locus classicus Quint. inst. 5,11: Omnia igitur ex hoc genere sumpta necesse est aut similia esse aut dissimilia ut contraria. similitudo adsumitur interim et ad orationis ornatum. sed illa, cum res exiget: nunc ea, quae ad probationem pertinent, exsequar. potentissimum autem est inter ea, quae sunt huius generis, quod proprie uocamus exemplum, id est rei gestae aut ut gestae utilis ad persuadendum id, quod intenderis, commemoratio.

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Philomela und Tereus

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anzuregen.723 Zu welchem Zweck Ausonius auf die genannten Beispiele zurückgreift, soll im folgenden erläutert werden (aus sachlichen Gründen in der Reihenfolge Philomela, Midas, Cydippe).

9.2 Philomela und Tereus Die Geschichte von Philomela, Prokne und Tereus fasst Ausonius in nur drei Versen (Auson. 27,22,13–15) zusammen. Die erste Hälfte dieser Zusammenfassung (13–14a) schildert das Verbrechen des Königs, die zweite Hälfte (14b-15) die List, mit der Philomela ihrer Schwester von der Untat berichtet. Ausonius beschränkt sich also mit einem Hinweis auf das Exemplum, er setzt mit anderen Worten den Inhalt der Geschichte als bekannt voraus. Auf das literarische Vorbild, die Metamorphosen, deutet Ausonius nun bereits vor der Mythenerzählung mit den letzten beiden Worten der Lehrgedichtseinleitung occurre ingenio (Auson. 27,22,12) hin, denn die ovidische Philomela zeichnet sich durch ihr ingenium aus.724 Mit dem ersten Wort in v. 13, Threicii, bestätigt er dieses Signal. Es verweist auf den Beginn der TereusTragödie im sechsten Buch der Metamorphosen, die Ovid mit den Worten Threicius Tereus einleitet.725 Diese Reminiszenz wird schließlich durch die 723 Paradebeispiel für solche unpassenden Exempla in der Liebesdichtung ist Ov. am. 1,3. Hier verspricht das elegische Ich der umworbenen puella Ernsthaftigkeit und Schamhaftigkeit und widerspricht damit allem, was das Ich sonst über sich selbst in seiner Funktion als desultor amoris äußert. In der Wahl der exempla rückt Ovid dieses Zerrbild wieder zurecht. Er verspricht der Geliebten Liebeslieder, mit denen er sie verewigen will wie Io, Leda und Europa. Auf diese Weise würden sie in der Welt besungen werden, ihre Namen seien so auf ewig vereint. Unpassendere Beispiele hätte das Ich kaum wählen können, um seine Treue zu zeigen: Io, Leda und Europa sind »Chiffre eben nicht für die Erfahrung liebevoller Treue in Ewigkeit, sondern für das genaue Gegenteil davon.« (Heldmann, 2001,363–364). Um seine Treue zu beweisen, wählt das Ich also Beispiele, die Opfer eines notorischen Ehebrechers geworden sind. Heldmann (2001) 364 ist der naheliegenden Frage nachgegangen, warum Ovid so vorgeht: Die Antwort liege darin, dass Ovid auf zwei Ebenen arbeite. Auf der internen Ebene erschienen die Exempla als passend, da sich das Ich als desultor amoris der Doppelbödigkeit der Argumentation bewusst sei und auf die Dummheit der puella hoffe. Auf der externen Textebene, die sich an den Leser richte, seien die Exempla passend und unpassend zugleich: unpassend, weil sie dem Anspruch des persuadere nicht gerecht würden; passend, weil sie das verzerrte Bild des Ichs entzerrten und die puella vor dem Publikum vorführten. 724 Vgl. Ov. met. 6,574–575: Os mutum facti caret indice. grande doloris/ (…). Die Verbindung sehen bereits Mondin (1995) 244 und in Anlehnung an diesen Amherdt (2004) 94, vgl. auch Knight (2005) 381, die unabhängig von beiden zu demselben Ergebnis kommt. 725 Vgl. Ov. met. 11,424–425: Threicius Tereus haec auxiliaribus armis/ fuderat (…); dazu auch Knight (2005) 381.

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Das Lehrgedicht in Auson

Formulierungen in den vv. 14 und 15 bestätigt, die nah an ihrem ovidischen Vorbild sind, vgl. Ov. met. 6,574–578: (…) grande doloris 575 ingenium est miserisque uenit sollertia rebus. stamina barbarica suspendit callida tela purpureasque notas filis intexuit albis, indicium sceleris. Groß ist der Geist im Schmerz und im Unglück erscheint die Klugheit. Schlau spannte Philomela die Fäden am einfachen Webstuhl und wob purpurne Zeichen in weiße Fäden hinein, den Beweis des Verbrechens.

Den dolor und die res miserae der ovidischen Philomela nimmt Ausonius in querella auf, stamina findet eine Entsprechung in licia, intexere in texta, barbarica tela wird ersetzt durch tacitis telis, das indicium criminis ist angedeutet in crimina mandare. Angesichts der intertextuellen Signale liegt es nahe zu fragen, ob und wie sich die Aussage des Briefgedichtes vor dem Hintergrund des ovidischen Vorbildes verändert. Gillian Knight glaubt, dass das Motiv pudor die Erzählung des Ovid und das Briefgedicht des Ausonius miteinander verbindet. Prokne habe die Gründe für die Scham der Schwester erkannt und wünsche sich nun Tereus der Zunge, der Augen, aller Glieder zu berauben, die ihrer Schwester die Keuschheit genommen hätten. Tereus selbst wolle das beschämende Geheimnis um seines Ansehens willen bewahren. Auf diese Weise importiere Ausonius das Vokabular der römischen Liebeselegie in seinen Brief, um seine Texte erotisch zu konnotieren und Paulinus (dies bereits im Hinblick auf die der ars amatoria entnommene Anweisung, mit Asche zu schreiben) satirisch als Partner in einer Liebesbeziehung zu stilisieren.726 Man kann das Verhältnis von Prätext und Briefgedicht so interpretieren; mir scheint jedoch die folgende Deutung plausibler, die in der gesamten Tereus-Passage angelegt ist. Tereus war dem athenischen König Pandion im Kampf gegen Barbaren zur Hilfe geeilt, hatte die Feinde vernichtet und als Dank die Tochter des Pandion, Prokne, zur Frau erhalten. In dieser unglückseligen Verbindung kündigen sich nun das Verbechen des Tereus und der Tod des Sohnes Itys bereits an, Ov. met. 6, 424–434: 726 Knight (2005) 381–382 sieht in pudor ein Motiv, das alle drei Prätexte verbindet und eine satirische Deutung ermöglicht: »All three Ovidian contexts offer further satiric possibilities through associated notions of ›shame‹, ›modesty‹ and ›secrecy‹. (…) In the case of Philomela, shame is associated with the victim of lust. Procne is said there to have unveiled ora … pudibunda, the ›shameful face‹ of her sister, and to have wished to mutilate the organs which took away her pudor. The need for secrecy is enforced upon her, but the desire for secrecy belongs initially to Tereus, who wishes to hide the shameful secret which threatens his previously high reputation.«

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Philomela und Tereus

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Threicius Tereus haec auxiliaribus armis 425 fuderat et clarum uincendo nomen habebat; quem sibi Pandion opibusque uirisque potentem et genus a magno ducentem forte Gradiuo conubio Prognes iunxit. non pronuba Iuno, non Hymenaeus adest, non illi Gratia lecto; 430 Eumenides tenuere faces de funere raptas, Eumenides strauere torum tectoque profanus incubuit bubo thalamique in culmine sedit. hac aue coniuncti Progne Tereusque, parentes hac aue sunt facti. Tereus, der Thraker, hatte sie (sc. die Barbarenscharen) mit helfenden Waffen vertrieben und trug durch den Sieg einen berühmten Namen. Ihn, reich an Männern und Schätzen, der ein tapferes Geschlecht zurückführte auf Mars, band Pandion an sich durch die Hochzeit mit Prokne. Nicht stand die schirmende Juno, nicht Hymen, nicht Gratia an ihrem Ehebett. Die Eumeniden hielten die Fackeln geraubt vom Begräbnis, die Eumeniden bereiteten das Lager, auf dem Dach ließ der unheilige Uhu sich nieder und saß auf dem First des Gemachs. Unter dem Zeichen dieses Vogels wurden Prokne und Tereus verbunden, unter dem Zeichen dieses Vogels wurden sie Eltern.

Die Verbindung, die Ausonius durch das Signalwort Threicii und das zugehörige regis über das Formale hinaus auch inhaltlich zwischen den Gedichten knüpft, wird in der ovidischen Formulierung opibusque uirisque potens und in dem folgenden Vers et genus a magno ducentem forte Gradiuo deutlich. Wie diese Attribute auf den mythischen Tereus zutreffen, so gelten sie auch für den historischen Paulinus. Er war tatsächlich opibusque uirisque potens, er gehörte altem senatorischen Adel an und ging durch die Ehe mit Therasia eine Verbindung mit der gens Anicia ein, d. h. mit einer der reichsten und einflussreichsten Familien der weströmischen Reichshälfte.727 Der historische Paulinus ähnelt also dem thrakischen Helden, was äußere Merkmale wie Reichtum, Macht, Einfluss und Eheschließung betrifft, so sehr, dass der Dichter mit Hilfe der ovidischen Folie die Aussage seines eigenen Textes verändern kann. In welche Richtung er sie verändert, zeigt bereits der Verlauf der Hochzeitsfeierlichkeiten. Die Eheschließung von Prokne und Tereus steht unter keinem guten Stern: Iuno pronuba fehlt bei der Hochzeit in ihrer Funktion als Trauzeugin, an Stelle des Hochzeitsgottes Hymenaeus und der Chariten erscheinen die Eumeniden am Hochzeitsbett, sie halten nicht Hochzeits-, sondern vom Begräbnis geraubte Beerdigungsfackeln. Zu allem Unglück lässt sich auf dem Dachfirst der unheilverkündende bubo nieder.728 Unter seinem Zeichen wird Itys, der Sohn der Prokne und des Tereus 727 Vgl. Kap. 1.1 mit weiterführender Literatur. 728 Zur Funktion der Iuna pronuba, des Hymenaeus, der Chariten und Eumeniden und des bubo vgl. Bömer (1976) 124–126.

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Das Lehrgedicht in Auson

gezeugt. Der Fortgang der Geschichte kann nur tragisch sein, das Schicksal der Protagonisten ist schon in der Hochzeit besiegelt. Mit der Formulierung Threicii … regis spielt Ausonius also direkt auf eine Passage in den Metamorphosen an, in der die unglückselige Verbindung zweier Menschen thematisiert wird. Das ist insofern aufschlussreich, als das ›Lehrgedicht‹ letztlich in eine Kritik an der Ehefrau des Paulinus mündet. Mit der Bemerkung, ›deine Tanaquil soll nichts davon (d. h. von unserer Verbindung) wissen‹, löst der Ich-Sprecher auf, wer sich hinter dem schlechten Ratgeber des ersten Briefs, dem proditor und dem quaesitor verbirgt. Es ist Therasia, die Ehefrau des Paulinus, die hier mit Hilfe der halbmythischen Tanaquil als männerbeherrschend dargestellt wird.729 Vor dem Hintergrund dieser Kritik erscheint die Anspielung auf die ovidische Tereus-Tragödie wie eine scharfe Warnung an ›Paulinus‹: Auch seine Eheschließung wurde von den Erynnien begleitet, auch sein Schicksal scheint besiegelt. Hart wirkt in diesem Zusammenhang der ovidische Nachsatz parentes/ hac aue sunt facti (Ov. met. 6,433–434). Denn in ihm kündigt sich nicht nur das Schicksal des Itys, sondern auch das Schicksal des Celsus an: Celsus, der Sohn des Paulinus und der Therasia starb, wie bereits erwähnt, vermutlich vor dem Briefwechsel mit Ausonius im Alter von nur wenigen Wochen. Sein Tod gilt als ein Auslöser der conversio.730 Ist es denkbar, dass ein Dichter, wenn auch mit Hilfe literarischer Prätexte und literarischer personae, nicht nur das gemeinsame Leben zweier Menschen kritisiert, sondern zusätzlich auf den Tod eines Kindes anspielt, der, auf der Folie des Prätextes gelesen, wegen der unglücklichen Partnerwahl der Eltern unausweichlich zu sein scheint? Denn wenn wir die Verbindung von Tereus und Paulinus zu Ende denken und überspitzt formulieren, dann isst Paulinus in der Rolle des Tereus sein eigenes Kind, das ihm seine Frau vorgesetzt hat.731 Tatsächlich ist der Leser auf eine solch harsche Warnung und einen solchen Vorwurf vorbereitet, da der Ich-Sprecher sein Gegenüber bereits im vorausgehenden Brief mit Hilfe der Orpheus-Reminiszenzen und des Mythos von Bellerophontes auf falsche und richtige Formen von Trauer im Todesfall der eigenen Kinder hinweist.732 Tereus, Prokne und Philomela führen also eine Reihe weiter.

729 Vgl. Auson. 27,22,31. Zur Figur der Tanaquil vgl. Kap. 3.3. 730 Vgl. zu Celsus Kap. 3.2 mit weiterführender Literatur. 731 Die Frage ist aus der historischen und literarischen Retrospektive kaum zu beantworten; eine Antwort auf sie wird umso schwieriger, je mehr der Briefwechsel als Akt der persönlichen Kommunikation gewertet wird, in dem sich zwei Individuen über die Form ihrer Beziehung austauschen. Aber auch, wenn jeweils ein poetisches Ich als handelnde Person im Einzelbrief angenommen wird, bleibt die Frage schwierig zu beantworten. Denn dem Briefwechsel liegt tatsächlich eine reale Situation zugrunde: Paulinus und Therasia sind nicht nur literarische, sondern historische Gestalten, deren Sohn wirklich gestorben ist. 732 Vgl. zu Orpheus Kap. 8.5.2; zu Bellerophontes Kap. 3.3.

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Die Dummheit des Midas

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9.3 Die Dummheit des Midas Mit den Versen Auson. 27,22,18–20 erinnert Ausonius an die Geschichte des phrygischen Königs Midas und nimmt dazu Bezug auf eine Passage im elften Buch der Metamorphosen, Ov. met. 11,180–193: 180 Ille [sc. Midas] quidem celare cupit turpisque pudore tempora purpureis temptat uelare tiaris. sed solitus longos ferro resecare capillos uiderat hoc famulus. qui cum nec prodere uisum dedecus auderet, cupiens efferre sub auras, 185 nec posset reticere tamen, secedit humumque effodit et domini quales aspexerit aures uoce refert parua terraeque immurmurat haustae; indiciumque suae uocis tellure regesta obruit et scrobibus tacitus discedit opertis. 190 creber harundinibus tremulis ibi surgere lucus coepit et, ut primum pleno maturuit anno, prodidit agricolam; leni nam motus ab Austro obruta uerba refert dominique coarguit aures. 180 del. omnino Tarrant Jener [sc. Midas] freilich will es verheimlichen und entstellt von Scham versucht er die Schläfen unter der purpurnen Phrygermütze zu verbergen. Aber der Sklave, der die langen Haare mit dem Eisen zu schneiden pflegte, hatte es gesehen. Der, weil er die gesehene Unzier nicht zu verraten wagte und, begierig es in alle Welt zu tragen, sie doch nicht verschweigen konnte, entfernt sich und gräbt den Boden auf und, was für Ohren er beim Herren gesehen hat, erzählt er mit leiser Stimme und flüstert es der aufgegrabenen Erde ein. Und was seine Stimme verraten, bedeckt er mit zurückgeworfener Erde und geht schweigend von den verschlossenen Schollen weg. Ein dichter Hain schwankenden Schilfrohrs begann dort zu sprießen und, nachdem ein Jahr um war, verriet es alles den Bauern; denn bewegt von sanftem Südwind spricht es verschüttete Worte und klagt die Ohren des Herren an.

Der Erzähler beschreibt in dieser Passage, wie der Sklave des Midas eine List ersinnt, um den Makel des Midas – die Eselsohren, die von seiner Dummheit zeugen – gleichermaßen geheimzuhalten und doch von ihm erzählen zu können. Dass Ausonius in v. 18 auf diese Passage Ovids anspielt, ist offenkundig. Der Dienter taucht nicht als famulus, sondern als minister auf, das dedecus des Königs wird zu einem regale uitium. Schließlich ändert Ausonius die Wendung scrobibus … opertis in depressis scrobibus. Die so in das Bewusstsein des Lesers gerufene Geschichte von der List des Friseurs konterkariert nun das Anliegen des Ich-Sprechers noch deutlicher als das Beispiel der Philomela. Es gelingt dem Friseur, der hin- und hergerissen scheint zwischen Ehrgefühl und dem Bedürfnis zu erzählen, zunächst zwar, das uitium und dedecus seines Herrn mit Hilfe einer List gleichzeitig geheimzuhalten

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Das Lehrgedicht in Auson

und zu offenbaren. Doch die List schlägt letztlich fehl, weil auch die Erde und das auf ihr wachsende Schilfrohr das Geheimnis nicht wahren können. Der Friseur des Midas kann also nicht oder zumindest nur teilweise als Beispiel dienen, wenn es darum geht, Geheimnisse zu wahren. Warum lässt Ausonius seinen Ich-Sprecher also gerade dieses Beispiel wählen? Wozu es im Rahmen des Briefgedichtes dient, wird meines Erachtens deutlich, wenn wir den Fokus der Betrachtung vom Frisör auf den eigentlichen Protagonisten richten: auf Midas. Im elften Buch der Metamorphosen bringt der phrygische König Midas den von Bauern volltrunken aufgefundenen Silen dem Bacchus zurück, der ihm dafür zum Dank die Erfüllung eines Wunsches gewährt. Midas wählt schlecht: Alles, was er berührt, soll sich in Gold verwandeln. Bacchus erfüllt den Wunsch, und Midas geht glücklich davon.733 Erst als sich auch die Speisen und Getränke, die er anrührt, in festes und flüssiges Gold verwandeln, begreift er sein Unglück und seine Dummheit und fleht im Bewusstsein der eigenen Schuld um Gnade. Vor allem die Erkenntnis und das Bekenntnis der eigenen Schuld- und Sündhaftigkeit bewegen Bacchus, und er weist einen Weg, den Fluch abzuschütteln. Wie vom Gott gefordert, springt Midas in den Fluss Pactolos, der die Gold wirkende Kraft des Königs aufnimmt und zu einem goldführenden Strom wird.734 Midas scheint nun geläutert, Ov. met. 11,146–149: Ille [sc. Midas], perosus opes, siluas et rura colebat Panaque montanis habitantem semper in antris; pingue sed ingenium mansit; nocituraque, ut ante, rursus erant domino stultae praecordia mentis. Jener [sc. Midas], voll Hass gegen sein Besitztum, bewohnte Wälder und Fluren und verehrte den Pan, der immer in Gebirgshöhlen lebt. Aber sein träger Verstand blieb derselbe; und erneut schadbringend, wie zuvor, war dem König die Gesinnung seines törichten Geistes.

Midas zieht sich, geläutert von der Gier nach Reichtum, in die Wälder zurück, um dort ein einfaches Leben zu führen. Trotz dieser Kehrtwende bleibt sein Geist träge. Und diese Trägheit hat Folgen für ihn. Denn Pan muss in einem ungleichen Sängerwettstreit gegen Apoll antreten, dessen Sangeskunst er im Übermut geringer geschätzt hat als seine eigene.735 Midas spielt in diesem Sängerstreit eine unglückliche Rolle, Ov. met. 11,161–174: 733 Ov. met. 11,89–107. 734 Ov. met. 11,129–145. 735 Ov. met. 11,153–156: Pan ibi dum teneris iactat sua carmina nymphis/ et leue cerata modulatur harundine carmen/ ausus Apollineos prae se contemnere cantus/, iudice sub Tmolo certamen uenit ad inpar.

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Die Dummheit des Midas

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Calamis agrestibus insonat ille (sc. Pan) barbaricoque Midan (aderat nam forte canenti) carmine delenit. post hunc sacer ora retorsit Tmolus ad os Phoebi; uultum sua silua secuta est. 165 ille caput flauum lauro Parnaside uinctus uerrit humum Tyrio saturata murice palla, distinctamque fidem gemmis et dentibus Indis sustinet a laeua, tenuit manus altera plectrum; artificis status ipse fuit. tum stamina docto 170 pollice sollicitat, quorum dulcedine captus Pana iubet Tmolus citharae summittere cannas. iudicium sanctique placet sententia montis omnibus; arguitur tamen atque iniusta uocatur unius sermone Midae; Mit ländlichem Rohr begann jener (sc. Pan) zu singen und mit fremdartigem Lied berührte er Midas, der zufällig in der Nähe des Singenden war; nach diesem wandte Tmolus seine heiligen Züge dem Antlitz des Phoebus zu. Sein Wald folgte dem Blick: Jener hatte das blonde Haupt mit einem Lorbeer vom Parnass umwunden und das Gewand, gesättigt von tyrischem Purpur, streifte den Boden; die Leier, geschmückt mit Gemmen und indischem Elfenbein, hält er in der Linken, die andere Hand hält das Plektrum; seine Haltung war die eines Meisters. Dann schlägt er mit geübtem Daumen die Saiten an, von deren Süße gefangen, Tmolus dem Pan befiehlt, die Halme der Kithara zu unterwerfen. Das Urteil und der Spruch des heiligen Berges gefällt allen. Beklagt und ungerecht gerufen wird es nur von der Stimme eines einzigen, des Midas.

Pan weist sich hier selbst als ländlicher Gott aus, der auf Schilfrohren flötet, d. h. ein sehr einfaches Instrument spielt, das in der Darstellung des Lukrez den Anfang aller musikalischen Entwicklung markiert.736 Dagegen atmet das Bild, das der Erzähler von Apoll zeichnet, Kultiviertheit. Er trägt ein langes Gewand, seine Leier ist mit Edelsteinen und Elfenbein geschmückt. Schon seine Haltung ist eines Meisters würdig. Verstärkt wird dieser Gegensatz durch die äußere Erscheinung des Pan, die der Erzähler hier nicht beschreibt, die das Publikum des Ovid aber automatisch assoziiert haben dürfte: Pan ist am ganzen Körper behaart, hat Ziegenbeine und Ziegenhörner.737 Enstprechend unterschiedlich fällt die Musik aus, welche die unglei736 Lucr. 5,1380–1387 über die Entstehung der Musik: At liquidas auium uoces imitarier ore/ ante fuit multo quam leuia carmina cantu/ concelebrare homines possent aurisque iuuare./ et zephyri, caua per calamorum, sibila primum/ agrestis docuere cauas inflare cicutas./ inde minutatim dulcis didicere querelas,/ tibia quas fundit digitis pulsata canentum,/ auia per nemora ac siluas saltusque reperta,/ per loca pastorum deserta atque otia dia. Schließlich das Fazit 5,1397: agrestis enim tum musa uigebat. Ähnich auch Verg. ecl. 2,32–33: Pan primum calamos cera coniungere pluris/ instituit, Pan curat ouis ouiumque magistros. 737 Vgl. z. B. den sehr konzisen und informativen Überblick bei Pötscher, Walter: Art. Pan, KLP 4, 444–447.

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Das Lehrgedicht in Auson

chen Götter machen: Pan singt ein barbaricum carmen mit der ländlichen Flöte, Apoll spielt pollice docto auf der Leier und überwältigt Tmolus und das übrige Publikum. Nur einer, Midas, ist durch die fremdartigen Klänge des Pan berührt und beklagt das Urteil des Tmolus. Daraufhin straft Apoll seine Dummheit, indem er die Ohren des Midas in Eselsohren verwandelt.738 Welche Wirkung entfaltet nun diese Geschichte, mit der Ovid vielleicht eine grundlegende Konkurrenz zwischen einer agrestis Musa und einer kultivierteren Dichtkunst spiegelt,739 im Briefgedicht des Ausonius? Auffällig ist zunächst, dass die Protagonisten Midas und Paulinus eine wesentliche Eigenschaft teilen: Wie der mythische Midas hütet und vermehrt auch Paulinus zunächst seinen Reichtum und wie Midas empfindet er seinen Reichtum schließlich als Fluch, beginnt seinen Besitz zu hassen und zieht sich aus der Welt zurück, um ein einfaches Leben zu führen.740 Der Erzähler der Metamorphosen tadelt nun nicht den Rückzug selbst, sondern die fortwährende geistige Trägheit des Midas, seine Begeisterung für die ländliche, einfache Musik, symbolisiert durch Pan, und seine Verschlossenheit und seine Taubheit gegenüber der hohen Kunst, die hier durch Apoll symbolisiert wird. Diese Kritik überträgt sich auf den Adressaten des Briefgedichtes. Denn Paulinus wendet sich von Apoll und den Musen ab und einer neuen Form der Dichtung, einer christlichen Dichtung zu, in der Christus die Quelle aller Inspiration wird. Ausonius verwandelt also Paulinus mit Hilfe des Prätextes in einen zweiten, wegen seiner Dummheit und Unkultiviertheit eselsohrigen Midas, und rückt Christus in die Nähe des rohen und ungeschlachten, ziegenbeinigen, ziegenköpfigen und am ganzen Körper behaarten Pan, der lediglich primitive Musik hervorbringt.741 Auf diese Weise kritisiert er nicht 738 Ov. met. 11,174–177: Nec Delius aures humanam stolidas patitur retinere figuram,/ sed trahit in spatium uillisque albentibus implet/ instabilesque imas facit et dat posse moueri. 739 Es scheint vorstellbar, dass Ovid hier einen bereits in den Eclogen angelegten Konkurrenzkampf zwischen Pan als Vertreter der vorgeblich einfachen Dichtung und Apoll als Vertreter der hohen Dichtung wieder aufnimmt: Zumindest zeigt sich der Erzähler in Verg. ecl. 4,58–59 davon überzeugt, Pan als Dichter zu übertreffen (Pan etiam, Arcadia mecum si iudice certet,/ Pan etiam Arcadia dicat se iudice uictum). In Verg. ecl. 6,3–5 weist Apoll dem Erzähler in Gestalt des Tityrus die Grenzen auf: Cum canerem reges et proelia, Cynthius aurem /uellit et admonuit: ›pastorem, Tityre, pinguis/ pascere oportet ouis, deductum dicere carmen.‹ 740 Vgl. z. B. Paul. Nol. ep. 5 an Sulpicius Severus, aber auch Ambrosius über die Entscheidung des Paulinus, Ambr. Epist. 27 (58),1–2: Paulinum splendore generis in partibus Aquitaniae nulli secundum, uenditis facultatibus tam suis quam etiam coniugalibus in hos sese induisse cultus ad fidem comperi, ut se in pauperes conferat, quae redegit in pecuniam et ipse pauper ex diuite factus tamquam deoneratus graui sarcina domui, patriae cognationi quoque ualedicat, quo inpensius deo seruiat, elegisse autem secretum adfirmatur Nolanae urbis, ubi tumultum fugitans aeuum exigat. 741 In eine ähnliche Richtung geht Knight (2005) 382: »At the same time, the cause of

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Das Rätsel

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nur Paulinus, sondern auch das Wesen der christlichen Literatur und Kultur im Allgemeinen. Denn die christlichen Intellektuellen des zweiten bis vierten nachchristlichen Jahrhunderts mussten sich immer wieder mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass sie einem Kult folgten, dessen Anhänger sich vornehmlich aus der Unterschicht rekrutierten, einen sermo rusticus sprächen und entsprechend minderwertige ›Literatur‹ hervorbrächten.742 Die künstlerische Formung, die Paulinus seinen poetischen Antwortschreiben angedeihen ließ, kann neben den expliziten Zurückweisungen in carm. 10 vielleicht als Antwort auf diese implizite Kritik verstanden werden.743

9.4 Das Rätsel – Acontius und Cydippe 9.4.1 Acontius und Cydippe – Mythos in veränderter Form?

Mit der pudibunda uirgo Cydippe führt Ausonius eine Gestalt in den Briefwechsel ein, deren Geschichte Kallimachos in den Aitien, Ovid in den Heroides und der vermutlich in die zweite Hälfte des fünften oder in die erste Hälfte des sechsten Jahrhunderts nach Christus zu datierende Aristainetos ausführlich erzählen.744 Kallimachos berichtet im Rahmen des zweiten Aitienbuches über die Entstehung des Geschlechts der Akontioiden und in diesem Zusammenhang über das Aufeinandertreffen von Acontius und Cydippe und die Entstehung ihrer Liebe.745 Ovid gibt im letzten Briefpaar der Heroides, Epist. 20 und 21, den Hauptpersonen selbst die Gelegenheit, Mida’s punishment, his rejection of the civilised music of Apollo in favour of the barbarous piping of Pan, may also be linked with the attack on Paulinus’s desertion of the pastoral paradise found in Ep. 21.« 742 Vgl. z. B. die Sammlung dreier grundlegender Vorwürfe (und ihre Beantwortung) bei Arnob. adv. gentes 1,58–59: Sed ab indoctis hominibus et rudibus scripta sunt et idcirco non sunt facili auditione credenda. (…) triuialis et sordidus sermo est.(…) barbarismis, soloecismis obsitae sunt, inquit, res uestrae et uitiorum deformitate pollutae. Dass diese Problematik im vierten Jahrhundert insofern noch aktuell war, als die christlichen Texte den Gebildeten als zu wenig kunstvoll erschienen, zeigt Aug. conf. 3,5: Itaque institui animum intendere in scripturas sanctas et uidere, quales essent. et ecce uideo rem non conpertam superbis neque nudatam pueris, sed incessu humilem, successu excelsam et uelatam mysteriis, et non eram ego talis, ut intrare in eam possem aut inclinare ceruicem ad eius gressus. non enim sicut modo loquor, ita sensi, cum adtendi ad illam scripturam, sed uisa est mihi indigna, quam Tullianae dignitati conpararem. 743 Vgl. Paul. Nol. carm. 10,29–42 und dazu die ausführlicheren Beobachtungen in der Schlussbetrachtung, Kap. 10. 744 Vgl. zu den verschiedenen Datierungsansätzen Aristain. (ed. Viellefond) IX–XI. Viellefond entscheidet sich für das frühe sechste Jahrhundert. 745 Vgl. Kallimach. Fr. 78–87 (ed. Asper).

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Das Lehrgedicht in Auson

ihre Beziehung, d. h. ihre noch unglückliche Liebe, in eigenen Worten zu beschreiben. In der Version des Aristainetos schließlich berichtet eine Frau, Eratocleia, ihrem Geliebten Dionysias in Briefform über das berühmte Liebespaar.746 Die Geschichte verläuft bei allen drei Autoren ähnlich: Acontius sieht Cydippe am Strand von Delos, verliebt sich in sie, trägt den Liebeseid auf den Apfel auf und wirft ihn Cydippe zu Füßen. Ihre Amme hebt ihn auf, gibt ihn verwundert ob der Schrift Cydippe und fordert sie auf zu lesen. Cydippe liest den Eid laut und ist an Acontius gebunden.747 Die Erzähltradition des Mythos reicht also vom vierten Jahrhundert vor Christus bis in das späte fünfte oder frühe sechste Jahrhundert nach Christus. Ausonius erweckt nun den Anschein, sich gegen diese Tradition zu stellen. Denn in seiner Kurzversion vertraut Cydippe ihre amores, ihre Liebschaften dem Apfel an, denn sie weiß, dass die Frucht schweigen wird. Außerdem errötet sie nicht, obgleich sie eine pudibunda uirgo ist und obgleich schamhaftes Erröten eines ihrer Merkmale im Heroidenbrief ist. Entweder macht Ausonius also einen Fehler oder er greift auf eine andere, uns unbekannte Version des Mythos zurück oder er vertauscht die Rollen absichtlich und lässt bewusst Cydippe, nicht Acontius in den Vordergund des Briefgedichtes treten. Den Kommentatoren und Herausgebern schien es durchaus möglich, dass Ausonius nicht Kallimachos und Ovid, sondern eine andere, heute verlorene Vorlage genutzt hat.748 Das Verspaar im Brief des Ausonius würde somit belegen, dass in der Spätantike andere als die uns häufig nur durch Ovid überlieferten Versionen ein und desselben Mythos kursierten und bekannt waren. Im Kontext dieser Diskussion geht Luca Mondin einen Schritt weiter.749 Er kritisiert Greens Annahme, dass das Merkmal der Schamhaftigkeit, das sich in der Formulierung pudibunda … uirgo und dem Verb erubuit (Auson. 27,22,16–17) spiegele, das Briefgedicht des Ausonius mit dem Heroiden-Briefwechsel der Cydippe und des Acontius verbinde.750 Dieses Merkmal sei als intertextuelles Signal sehr schwach und erkläre außerdem 746 Vgl. Aristain. (ed. Viellefond) 1,10. 747 Vgl. Ov. Epist. 20,11–14 (ed. Dörrie): (Acontius Cydippae): uerba licet repetas quae demptus ab arbore fetus/ pertulit ad castas me iacente manus:/ inuenies illic id te spondere, quod opto/ te potius, uirgo, quam meminisse deam. Epist. 21,105–116 (ed. Dörrie): (Cydippe Acontio). Vgl. dazu die Version bei Aristain. (ed. Viellefond) 1,10,25–40. 748 Dräger (2002) 205 bemerkt: »Zweites Beispiel: Acontius/Cydippe. Nach dem geläufigen Mythos, dem Ausonius jedoch nicht folgt, schreibt Acontius (…)« Etwas ausführlicher ist Amherdt (2004) 94–95: »La version proposée par Ausone est quelque peu différente, puisqu’ici c’est la jeune fille qui écrit le message sur la pomme: on ne sait pas s’il s’sagit d’une version du mythe qui nous serait inconnue d’une innovation d’Ausone, d’une autre légende (qui ne doit d’ailleurs pas nécessairement se rattacher à l’histoire de Cydippe).« 749 Vgl. für das folgende Mondin (1995) 245. 750 Vgl. die kurze Bemerkung zu den Versen Auson. 27,22,16–17 bei Green (1991) 654: »Cydippe, whose bashfulness is mentioned in Ov. Her. 19.5–6, 20.112–13.«

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Das Rätsel

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nicht die Abweichung von der ovidischen Version. Im Gegenzug formuliert Mondin die These, dass Ausonius mit den Versen 16 und 17 nicht auf Cydippe und Acontius, sondern auf Briseis und Achill anspiele. Er verweist in diesem Zusammenhang auf den Homerscholiasten Ven. A., der zu der in Hom. Il. 6,35 erwähnten Stadt Pedaso bemerkt, Briseis habe sich in den Eroberer Achill verliebt und ihm einen Apfel zukommen lassen. Auf diesen habe sie geschrieben, dass die Belagerten am Ende seien und die Stadt erobert werden könne.751 Bestätigt wird diese Episode, die Ovid im Brief der Briseis an Achill nicht erwähnt (Ov. Epist. 3), in einem Epigramm der Anthologia Latina. Dort verrät Briseis ihre Heimatstadt ebenfalls mit Hilfe von Äpfeln.752 Das Epigramm beweise, so fährt Mondin fort, dass die heute unbekannte Geschichte von Briseis und den Äpfeln in der Spätantike bekannt gewesen sei und Ausonius diese meinen könne. Mondin selbst muss allerdings einräumen, dass der Botschaft, die Briseis dem Scholiasten zu Folge an Achilles geschrieben hat, und auch das Epigramm der Anthologia Latina der erotischen Konnotation entbehren, die der von Ausonius verwendeten ovidischen Formulierung commisit suos … amores innewohnt. Mondin schließt seinen Gedankengang daher mit einem relativ schwachen Argument: Die Geschichte von Achill und Briseis könnte in der uns verlorenen Version einen erotischen Kern enthalten haben, den Ausonius gekannt habe und auf den er hier anspiele.753 Gegen die These Mondins spricht vor allem, dass Ausonius mit den beiden anderen Beispielen aus dem Mythos, Philomela und Midas, aber auch mit der Anweisung, Milch zu benutzen, direkt auf ovidische Vorlagen zurückgreift. Er begibt sich mit seinem Lehrgedicht durch den Intertext gleichsam in die Welt der ovidischen Dichtung. In dieser intertextuellen Welt rahmen die aus den Metamorphosen entnommenen Exempla Philomela und Midas die pudibunda uirgo Cydippe. Sie symbolisiert in gewisser Weise die Heroides und damit die von Ausonius gewählte Gattung des poetischen Briefs. Warum aber verändert Ausonius den Mythos in so markanter Weise?

751 Vgl. Schol. Ven. A ad Hom. Il. 6,35. 752 Vgl. AL 135 ed. Riese (124 ed. Shackleton Bailey): His (sc. malis) contempta deum tenuit Discordia mensam,/ prodidit atque urbem [sic!] his Briseida suam. 753 Mondin (1995) 245: »Nessuna delle margefonti accenna a un messaggio d’amore, ma è possibile che nella tradizione erotico-elegiaca per noi perduta il nucleo narrativo esposto dallo scolio omerico fosse arricchito con l’aggiunta di questo particolare (in Partenio 21 un’altra faniculla invaghita di Achille gli consegna la sua città: testimonianza sicura di una tradizione ellenistica sulle vicende erotiche del Pelide).«

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Das Lehrgedicht in Auson

9.4.2 Tacituro conscia pomo – eine Catull-Reminiszenz?

Wie Roger Green erkennt auch Gillian Knight in dem Motiv des pudor das Element, welches das Briefgedicht des Ausonius mit dem Brief der Cydippe verbindet.754 Um die inhaltlichen Abweichungen zu erklären, zieht sie Catull. 65 heran, einen poetischen Brief, in dem das Ich die in 66 folgende Übersetzung der kallimacheischen Locke der Berenike dem Redner Hortensius Hortalus widmet. In die Widmung eingebettet ist die Klage um den Tod des Bruders: Trotz seiner Trauer um den Bruder, die ihn von den Musen weit entfernt habe, trotz seiner großen Leiden, sende er die Verse des Kallimachos an ihn, Hortalus. Denn dieser solle nicht glauben, er habe seine Worte flüchtigen Winden anvertraut und diese seien dem Dichter entfallen wie das Geschenk des Verlobten, der Apfel, der keuschen jungen Frau, Catull. 65,15–24: 15 Sed tamen in tantis maeroribus, Ortale, mitto haec expressa tibi carmina Battiadae, ne tua dicta uagis nequiquam credita uentis effluxisse meo forte putes animo, ut missum sponsi furtiuo munere malum 20 procurrit casto uirginis e gremio, quod miserae oblitae molli sub ueste locatum, dum aduentu matris prosilit, excutitur; atque illud prono praeceps agitur decursu, huic manat tristi conscius ore rubor. Aber dennoch, in so großem Schmerz, Hortalus, schicke ich dir die Gesänge, entlehnt dem Battiaden, damit du nicht meinst, die Worte seien – vergeblich flüchtigen Winden anvertraut – meinem Sinn entfallen wie der Apfel als heimliches Geschenk des Verlobten aus dem reinen Schoß der Jungfrau rollt, welcher der Armen – sie vergaß ja, dass unter ihrem weichen Gewand er verborgen war – welcher, als sie bei der Ankunft der Mutter aufsprang, herausfiel: Jener aber rollt kopfüber in steilem Sturz, während ihr schuldbewusste Röte über das traurige Gesicht fließt.

Die Vermutung Knights, dass Ausonius nicht nur auf die Heroides, sondern auch auf dieses Gedicht Catulls anspielt, ist berechtigt: Erstens liegen die Formulierungen Auson. 27,22,17 nec erubuit tacituro conscia pomo und Catull. 65,24 manat tristi conscius ore rubor relativ nah beieinander. Zweitens scheint Catull mit dem Apfel-Vergleich auf das Akontioiden-Aition des Kallimachos im dritten Buch der Aitien, also die Geschichte von Acontius und Cydippe, anzuspielen, um so den Leser mit einem Kunstgriff auf die Locke der Berenike im vierten Buch der Aitien einzustimmen.755 Dem hat 754 Knight (2005) 382: »The pair of letters in Heroides repeatedly evoke Cydippe’s ›modesty‹, proved through the act of blushing.« 755 Vgl. z. B. Kroll (1989) 198–199 und Hunter (1993) 179–182.

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Syndikus entgegengehalten, dass die bei Catull geschilderte Episode in den entscheidenden Punkten von der Version in den Fragmenten des Kallimachos und Aristainetos abweicht: Der Apfel sei zwar in gewisser Weise ein, wenn auch vergiftetes Geschenk des Verlobten, aber Cydippe lasse ihn zumindest bei Ovid und Aristainetos nicht der Mutter vor die Füße fallen.756 Daher argumentieren die meisten Kommentatoren vorsichtiger und versuchen nicht, ein bestimmtes Vorbild zu identifizieren, sondern sprechen allgemein vom Apfel als einem Symbol der Liebe.757 Allerdings ist in unserem Zusammenhang nicht so sehr die Frage entscheidend, ob Catull selbst auf das Akontioiden-Aition anspielt. Entscheidend ist vielmehr, ob Ovid und Ausonius Catull so verstanden und das Gedicht aus diesem Grund für ihre Briefgedichte genutzt haben. Zwei Gesichtspunkte sprechen dafür, dass Ovid und später Ausonius (in Anschluss an Ovid) die catullische uirgo mit Cydippe und entsprechend den sponsus mit Acontius identifizieren konnten. Im poetischen Brief des Catull nutzt das Ich folgenden Vergleich, um die Klage auf den Bruder abzuschließen, Catull. c. 65,10–14: (…) 10

numquam ego te, uita frater amabilior, aspiciam posthac, at certe semper amabo, semper maesta tua carmina morte canam, qualia sub densis ramorum concinit umbris Daulias absumpti fata gemens Itylei.

Niemals mehr werde ich dich, Bruder, mir lieber als das Leben, erblicken, aber sicher werde ich dich immer lieben. Immer werde ich traurige Lieder um deinen Tod singen, so wie unter dem dichten Schatten der Zweige die Daulierin das Schicksal des von ihr genommenen Itys beweinte.

Die Daulierin ist Prokne, die Ehefrau des thrakischen Königs Tereus, die um ihren Sohn weint. Catull lässt also dem Apfelbeispiel den Mythos von Tereus und Prokne als Beispiel vorausgehen. Wenn Ausonius hier also tatsächlich auf Catull anspielt, dann bestätigt er die relativ schwachen intertextuellen Signale in den Versen 16 und 17, indem er die Mythen um Tereus und Philomela und Acontius und Cydippe kombiniert und sie in derselben Reihenfolge anordnet wie Catull. In diese Hypothese passt sich eine Überlegung Richard Hunters zu den Epistulae Heroidum ein. Das Briefpaar in den Epistulae Heroidum ergänze, so Hunter, den von Catull angeführten Vergleich in sinnvoller Weise.758 Denn Acontius schreibe an Cydippe, Ov. Epist. 20,203– 214 (ed. Dörrie): 756 Vgl. dazu Syndikus (2001) 197–198. 757 Vgl. in zeitlicher Reihenfolge Ellis (1889) 353–354. Fordyce (1978) 327–328. Der jüngste Kommentar von Thomson (1998) 446–447 behandelt die Frage nicht. 758 Vgl. Hunter (1993) 179–182.

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Et cur ignorent? matri licet omnia narres; nil tua, Cydippe, facta pudoris habent. 205 ordine fac referas ut sis mihi cognita primum, sacra pharetratae dum facis ipsa deae, ut te conspecta subito, si forte notasti, restiterim fixis in tua membra genis, et, te dum nimium miror, nota certa furoris, 210 deciderint umeris pallia lapsa meis; postmodo nescio qua uenisse uolubile malum, uerba ferens doctis insidiosa notis, quod quia sit lectum sancta praesente Diana, esse tuam uinctam numine teste fidem. Warum sollten sie (sc. die Eltern) es auch nicht wissen? Der Mutter darfst du alles erzählen. Nichts Beschämenswertes, Cydippe, hat dein Handeln. Erzähle es in der Reihenfolge, dass du zuerst mir bekannt wurdest, während du die Opfer der köchertragenden Göttin vollzogst, dass ich, nachdem ich dich erblickt hatte, plötzlich, wenn du es vielleicht bemerkt hast, stehen blieb, mein Gesicht fest auf deine Gestalt gerichtet, und dass, während ich dich zu sehr bewunderte, ein sicheres Anzeichen von Liebeswahn, mir der Umhang von den Schultern rutschte und fiel. Ich weiß nicht, woher später der rollende Apfel kam, der in gelehrten Zeichen heimtückische Worte trug.

Acontius rät Cydippe an dieser Stelle des Briefes dazu, der Mutter von seiner List zu erzählen und auf diese Weise die Verantwortung auf ihn oder noch besser den furor zu schieben, der ihn gepackt habe: Denn bei ihrem Anblick sei er erstarrt, der Mantel sei ihm von den Schultern gerutscht, der Apfel mit dem trügerischen Eid sei, wie, das wisse er nicht, ihm entschlüpft. Das Herabfallen des Apfels schildert Acontius in Worten, die an den poetischen Brief des Catull erinnern: Wie der uirgo Catulls entschlüpft der Apfel dem Acontius unbeabsichtigt, und der Apfel selbst wird jeweils als schwer zu halten charakterisiert. Catull verwendet praeceps, Ovid uolubilis. Vor allem aber ist bemerkenswert, dass Ovid die Geschichte so erzählt, dass seine Version die des Catull und umgekehrt die des Catull seine Geschichte ergänzt. Der ovidische Acontius gibt seiner Cydippe einen Ratschlag, auf welche Weise sie ihrer Mutter die Gründe ihrer Krankheit ohne Scham erklären kann. Sie soll das Geschehene schildern, dabei aber die Zufälligkeit, das Unbeabsichtigte des Geschehens und den furor des Acontius, der rationales Handeln verhindert hat, betonen. Tatsächlich befolgt Cydippe den Rat des Acontius und gesteht ihrer Mutter alles, wie sie ihm später schreibt Ov. Epist. 21,243– 244 (ed. Dörrie): Fassaque sum matri deceptae foedera linguae lumina fixa tenens plena pudoris humo. Ich habe der Mutter die vertraglichen Bindungen meiner getäuschten Zunge gestanden und hielt dabei meine Augen, voll der Scham, fest auf den Boden gerichtet.

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Cydippe legt also ein Geständnis ab, ist aber trotz ihrer Unschuld schamerfüllt. Ihre Augen sind auf den Boden gerichtet. Allerdings verschweigt sie im Heroiden-Brief, in welcher Form sie ihrer Mutter von dem Apfeltrick des Acontius berichtet hat, und überlässt diese Frage der Kreativität des Lesers. Diese Lücke in der Berichterstattung füllt nun die uirgo des Catull aus, denn sie wendet für ihr Geständnis unwillentlich den ›Apfeltrick‹ an: Der Apfel fällt zufällig aus dem Bausch ihres Gewandes und rollt vor die Füße der Mutter. Ergänzt also Ovid mit Hilfe Catulls den Brief der Cydippe? Ist mit anderen Worten die Cydippe Ovids gleichzusetzen mit der uirgo des Catull? Acontius wäre dann in den Augen des außenstehenden Lesers mit seinem Ratschlag an Cydippe doppelt erfolgreich. Sie hätte sich nicht nur der Mutter offenbart und so den Fluch der Artemis aufgehoben, sondern durch die unwillentliche Anwendung des ›Apfeltricks‹ die Zufälligkeit des Geschehens und damit nicht nur ihre, sondern auch die Unschuld des Acontius unterstrichen. Ovid ermöglicht es dem Leser also, auf der Folie von Catull. carm. 65, die Geschichte von Acontius und Cydippe in anderer Weise zu lesen und sie gewissermaßen zu vervollständigen. Es spricht also einiges dafür, dass Ovid auf Catull und Ausonius auf Catull und Ovid zurückgreift. Warum aber dieser doppelte Rückgriff des Ausonius und warum die Umkehrung des Handlungsverlaufs? Knight versucht die Schwierigkeit dadurch zu lösen, dass sie Cydippe eine andere Rolle auf den Leib schreibt. Indem er das Subjekt pudibunda uirgo und das verneinte Verb nec erubuit antithetisch gegenüberstelle, zeige Ausonius auf der Folie Catulls, dass Cydippe nicht so unschuldig sei, wie sie tue.759 Das aber kann nur bedeuten (auch wenn Knight dies nicht explizit äußert), dass die Cydippe Catulls in der Interpretation des Ausonius selbst den Apfel beschreibt und sie diesen versehentlich der Mutter vor die Füße fallen lässt. Das Beispiel der Cydippe würde dann erneut das Anliegen des Ich-Sprechers konterkarieren, da sie ihr Geheimnis zwar zu verbergen sucht, es aber verrät. Letztlich täuschte sie sich dann auch in dem Apfel, der eben nicht schweigt, sondern das Geheimnis preisgibt. Ein weiterer Widerspruch bleibt jedoch, und er scheint kaum zu lösen: Die uirgo des Catull errötet schuldbewusst, die des Ausonius nicht. Einigermaßen sicher ist also lediglich, dass Ausonius in v. 17 sehr wahrscheinlich nicht nur auf Ovid, sondern auch auf Catull anspielt.

759 Knight (2005) 382: »While Ausonius dubs her pudibunda uirgo, he highlights her failure to blush, nec erubuit tacituro conscia pomo (Ep. 22.17), recalling perhaps Catullus 65, where the girl, ›betrayed‹ by the love-gift which rolls from her lap in the presence of her mother, is suffused with (…) conscius rubor. This Cydippe, accordingly, may be less ›innocent‹ than she might appear on the surface.«

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Das Lehrgedicht in Auson

9.4.3 Die Briefschreiberin und die Rollen des Ausonius

Einen weiteren intertextuellen Hinweis liefert Ausonius in v. 16, der hier der Übersichtlichkeit wegen noch einmal abgedruckt sei, Auson. 27,22,16–17: et pudibunda suos malo commisit amores uirgo (…) Und die schamhafte Jungfrau vertraute ihre Liebesgeheimnisse einem Apfel an (…).

Literarisches Vorbild der Wendung suos malo commisit amores ist ein Verspaar aus dem ersten Buch der Amores, Ov. am. 1,12,21–22: his (sc. tabellis) ego commisi nostros insanus amores molliaque ad dominam uerba ferendi dedi? Diesen Täfelchen habe ich Wahnsinniger unsere Liebesgeheimnisse anvertraut, sie ließ ich schmeichelnde Worte zur Herrin tragen?

Den intertextuellen Zusammenhang signalisiert Ausonius, indem er amores an derselben betonten Versposition belässt, nostros durch suos ersetzt und schließlich commmisi in commisit ändert. Die Verse Ovids helfen, wie wir gleich sehen werden, wenigstens in Teilen zu verstehen, warum Ausonius die Rollen von Acontius und Cydippe tauscht; vorab seien jedoch einige Informationen zu amores 1,12 gegeben. Die Elegie hängt eng zusammen mit dem vorausgehenden Gedicht, Ov. am. 1,11. Dort erteilt das elegische Ich Nape, der verdienstvollen Magd der Corinna, den Auftrag, von ihm beschriebene Holztäfelchen – tabellae – zunächst zu seiner Geliebten zu bringen und sie dann mit einer Antwort zu ihm zurückzubringen.760 Ein Wort reicht ihm: ›ueni!‹ – komm. Für den Fall des Erfolgs verspricht das elegische Ich eine Belohnung. Allerdings gilt diese nicht der Magd, sondern den Täfelchen: Sie will er der Venus weihen und sie so zu etwas besonderem machen.761 Die Hoffnung des elegischen Ichs wird nun in Amores 1,12 herbe enttäuscht. Die Tafeln kehren mit einem kläglichen Ergebnis zurück: Statt des erhofften ›ueniam!‹ meldet die infelix littera, dass Corinna heute nicht kann.762 Das elegische Ich beginnt nun eine Invektive gegen die Tafeln und gegen ihr Wachs: Solche Sargbretter sollten verschwinden, ebenso das Wachs. Korsische Bienen hätten es produziert. Der Baum, aus dem die Tafeln geschnitten seien, habe dem Selbstmord durch Erhängen und dem Henker zur Herstel760 Ov. am. 1,11,1–22. 761 Ov. am. 1,11,23–28: Quid digitos opus est graphio lassare tenendo?/ hoc habeat scriptum tota tabella ›ueni‹/ non ego uictrices lauro redimire tabellas/ nec Veneris media ponere in aede morer./ subscribam ›Veneri fidas sibi Naso ministras/ dedicat.‹ at nuper uile fuistis acer. 762 Ov. am. 1,12,1–2: Flete meos casus: tristes rediere tabellae;/ infelix hodie littera posse negat.

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lung des Kreuzes gedient. Dem bubo habe er Schatten gespendet, den Eiern des Geiers und der Eule ein Nest geboten. Darauf folgt in den Versen 21 und 22 die oben zitierte Klage, wie er seine amores solchen Täfelchen habe anvertrauen können. Das Gedicht endet schließlich mit einem Fluch, Ov. am. 1,12,29–30: Quid precer iratus, nisi uos cariosa senectus rodat, et immundo cera sit alba situ? Was soll ich in meinem Zorn anderes wünschen, als dass morsches Alter euch benagt, und das Wachs weiß sei von schmutzigem Schimmel.

Aufschlussreich für das Verständnis des Cydippe-Mythos im Briefgedicht des Ausonius ist das Pronomen his in Ov. am. 1,12,21, zu dem inhaltlich tabellis zu ergänzen ist. Übertragen in den Kontext des Briefgedichtes erläutert der Vers die Wörter malo und pomo in Auson. 21,16–17. Sie bezeichnen hier meines Erachtens nicht die Frucht, d. h. den Apfel, sondern stehen gleichsam als pars pro toto für das Holz des Apfelbaumes. Die Cydippedes Ausonius vertraut ihre amores, seien sie nun Liebesgeheimnisse oder Liebesgedichte, also nicht der Frucht, sondern dem Beschreibstoff, dem Holztäfelchen an. Ausonius zeichnet hier mit Hilfe des Prätextes ein Bild von Cydippe, das sie beim Schreiben ihres Briefes an Acontius, als Briefschreiberin des letzten Heroidenbriefes zeigt. Jetzt wird auch deutlich, aus welchem Grund Cydippe im Briefgedicht des Ausonius nicht errötet. In der Rolle als Briefschreiberin errötet auch die Cydippe des Ovid nicht, vielmehr spricht sie im Brief so offen mit Acontius, dass sie sich schließlich beherrschen muss: Sie habe der Mutter voller Scham gestanden, warum sie während der Hochzeitsfeierlichkeiten jedesmal schwer erkrankt sei. Jetzt sei es an ihm zu handeln; dass ihr Brief so offen zu ihm gesprochen habe, das sei schon zuviel für eine uirgo.763 Cydippe tritt also bei Ovid in verschiedenen Rollen auf: In ihrer eigenen Erzählung der Begebenheiten tritt sie als getäuschte uirgo auf und errötet in der Vergangenheit sittsam, im gegenwärtigen brieflichen Gespräch mit Acontius tritt sie dagegen selbstbewusst auf und hat es nicht nötig zu erröten, zumal sie weiß, dass die Tafeln das Gesagte bewahren werden. Gleichzeitig erreicht Ausonius durch die Anspielung auf die Elegie Ov. am. 1,11 (und auch 1,12) noch etwas anderers. Denn das elegische Ich der Amores und der Ich-Sprecher des Briefgedichtes befinden sich in einer ähnlichen Situation: Beide erhofften jeweils eine positive Antwort auf ihr Ansinnen, beide scheiterten (bisher) mit ihren Bitten. Der elegische Fluch gegen die Holztafeln wird so zu einem Bestandteil des Briefgedichtes. Auch das 763 Ov. epist. 21 [ed. Dörrie] 243–246: Fassaque sum matri deceptae foedera linguae/ lumina fixa tenens plena pudoris humo./ cetera cura tua est; plus hoc quoque uirgine factum,/ non timuit tecum quod mea charta loqui.

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Das Lehrgedicht in Auson

Briefgedicht an Paulinus ist eine infelix littera, auch dieses Gedicht und das Material, auf dem es geschrieben ist, sind zu verfluchen. Allerdings ergeht es dem Ich-Sprecher noch etwas schlechter als dem elegischen Ich Ovids. Im Gegensatz zu diesem hat er bisher keine Antwort erhalten, nicht einmal eine Absage. In gewisser Weise eröffnet Ausonius so ein bereits bekanntes Rollenspiel: Hier schlüpft der Ich-Sprecher in die persona der ovidischen Amores, er übernimmt die Rolle des elegischen Ichs, das an die Geliebte, in diesem Fall an den Geliebten schreibt. Dieses Rollenspiel hebt Ausonius nun allerdings mit Hilfe eines weiteren Prätextes auf eine andere Ebene. Betrachtet man malum und pomum als Synonyme für den Beschreibstoff und nimmt man die Wendung meos … amores als intertextuelles Signal hinzu, fühlt man sich erinnert an eine berühmte Szene aus der zehnten Ecloge Vergils, Verg. ecl. 10,52–54: Ibo et Chalcidico quae sunt mihi condita uersu carmina pastoris Siculi modulabor auena certum est in siluis inter spelaea ferarum malle pati tenerisque meos incidere amores arboribus: crescent illae, crescetis, amores. Ich werde gehen und die Lieder, die ich zuvor in chalkidischem Vers dichtete, werde ich nun auf der Flöte des sizilischen Hirten spielen. Sicher ist, dass ich lieber in den Wäldern zwischen den Höhlen der wilden Tiere leiden und meine Amores in Bäume einritzen will. Jene wachsen, wachsen werdet auch ihr, Amores.

Hier singt der verliebte Dichter Gallus und erklärt den Hirten und Göttern Arkadiens sein Unglück: Er ist verliebt in Lycoris, doch sie folgt einem anderen in die Ferne.764 Ihm bleibt nichts, als die Wälder Arkadiens aufzusuchen und die Art und Weise seines Singens seinen veränderten Lebensumständen anzupassen: An die Stelle geschriebener Großdichtung (condita carmina) tritt die auf der Flöte gespielte Hirtenweise.765 Seine amores, der Begriff bezeichet hier sowohl seine Liebesbeziehung zu Lycoris als auch das elegische Liebesgedicht,766 will er zukünftig in die Baumrinde einritzen. Und wie 764 Bei der Klage des Gallus anwesend sind ganz unterschiedliche Gestalten: Schäfer und Sauhirten, aber auch Adonis, Apollo, Silvanus und Pan. Sie alle fragen nach dem Grund seines Liebeswahns und verweisen auf die Unersättlichkeit des Amor, der sich von Tränen nähre, vgl. Verg. ecl. 10,9–30, bes. die Rede des Pan 28–30: ›Ecquis erit modus?‹ inquit. ›Amor non talia curat./ nec lacrimis crudelis Amor nec gramina riuis/ nec cytiso saturantur apes nec fronde capellae.‹ Gallus antwortet darauf, dass er gerne die dichtende Lebensweise der Arkadier teilen würde, dazu aber nicht in der Lage sei, denn ihn treibe seine Liebe zu Lycoris, Verg. ecl. 10,31– 49. 765 Die Wendung Chalcidico … uersu bezeichnet hier wahrscheinlich Dichtung im Stil des chalkideischen Dichters Euphorion, vgl. Quint. inst. 10,1,56 und dazu Clausen (1995) 306 zur Stelle. 766 Vgl. die vergleichbaren Verse Verg. ecl. 10,6; 34 und dazu Breed (2006) 131: »Dicere

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die Bäume sollen beide wachsen: Die Liebe und die Gedichte. Am Ende schließt Gallus, er könne Amor nicht besiegen, ganz gleich welche Weltgegend er aufsuche. So wolle auch er die Überlegenheit des Gottes anerkennen, Verg. ecl. 10,68: Omnia uincit amor et nos cedamus amori. Alles besiegt Amor: Und auch wir wollen dem Amor weichen.

Unter formalen Gesichtspunkten interessant scheint mir, dass Vergil mit der Wendung meos incidere amores arboribus ein Motiv aufgreift, das Kallimachos im Akontioiden-Aition verwendet: Dort schneidet Acontius, von Liebe und Begeisterung für Cydippe ergriffen, »Cydippe ist schön« in die Rinde der Bäume.767 Ausonius verweist also mit Hilfe Vergils zurück auf das Aition des Kallimachos und zeigt so indirekt, dass er hier die auch von Catull und Ovid verwendete Version des Mythos meint. Die zehnte Ekloge ergänzt nun im Briefgedicht des Ausonius die Elegie des Ovid. Durch den intertextuellen Verweis versetzt Ausonius seinen Ich-Sprecher in die Rolle des Dichters Gallus: Wie Gallus die Abwesenheit der Geliebten beklagt, so trauert der IchSprecher um Paulinus und wie Gallus schreibt er Amores. Gleichzeitig beschreibt aber auch Ausonius in der Funktion des Dichters seine Briefgedichte mit Hilfe der Ovid- und Vergilreminiszenz in poetologischer Hinsicht als Amores, als Liebesgedichte. Bereits hier bereitet er den Leser auf das Rollenspiel vor, das er im zweiten Teil des Katalogs mit der Reminiszenz lacte incide notas eröffnet, und in dem Paulinus die Rolle der puella, Therasia die des Rivalen und der Ich-Sprecher die des eifersüchtigen Liebhabers übernehmen wird. Ausonius ist als Dichter der Regisseur dieses Rollenspiels und bietet den Akteuren mit Hilfe seiner Dichtung eine literarische Bühne.768

amores in line 6 of Eclogue 10 (…) means both ›to sing about Gallus loves‹ or ›Gallus‹ love affairs and to sing Gallus Loves, taking Amores both as the story told in Gallus’ poems and as the title of his poetic collection.« 767 Vgl. Kallim. fr. 85 (ed. Asper, fr. 73 Pfeiffer). 768 Dieses Ergebnis bestätigt die grundsätzliche Vermutung von Knight (2005) 364: »It may be argued that at one level the verse-epistles to Paulinus represent an attempt to draw him back into this world of erudite interchanges. More subversively, the exploitation of erotics may be seen as launching an attack on Paulinus’ change of lifestyle through an evocation of the classic triangle familiar from Latin love-elegy comprising older lover (Ausonius), younger beloved (Paulinus) and rival (Therasia).«

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10. Zusammenfassung und Ausblick

Am Anfang dieser Studie stand die Frage, wie die Briefgedichte des Ausonius einzuordnen, welcher literarischen Gattung sie zuzuordnen sind. Sind sie persönliche Briefe an einen Freund, die aus Gründen der sozialen und der literarischen Konvention in Verse gegossen werden, oder sind sie Dichtung, Literatur und Kunst, die im kommunikativen Gewand eines persönlichen Briefes auftreten? Die Untersuchung hat gezeigt, dass Ausonius das Persönliche tatsächlich, um einen von Charles Witke und Georgia Nugent geprägten Begriff zu verwenden, in einer radikal textlichen Welt verankert.769 Dies bewerkstelligt Ausonius, indem er erstens das Verhältnis zwischen poetischem Ich und dem Adressaten immer wieder neu inszeniert: Bisweilen versetzt er den Ich-Sprecher in die Rolle des elegischen Liebhabers und den Adressaten entsprechend in die der puella, bisweilen lässt er den Ich-Sprecher als Lehrdichter und den Adressaten als Schüler auftreten. Zweitens bereichert er die Briefgedichte mit ›Botschaften‹, d. h. unter der Textoberfläche verborgenen Aussagen, die den Adressaten kritisieren, die ihn vor einem bestimmten Verhalten warnen, ihm einen Rat erteilen oder ihm den Weg nach Hause weisen. Verständlich werden diese Rollenspiele und verborgenen Aussagen auf der Folie der für Ausonius, Paulinus und ihre Zeitgenossen klassischen Literatur. So lässt Ausonius mit Hilfe intertextueller Technik verschiedene Gestalten und Inhalte vor das Auge des Lesers treten: Die elegische puella zeigt Wege, den Rivalen zu täuschen, Bellerophontes, Orpheus und Eurydice, Actaeon und Attis warnen vor einem bestimmten Verhalten, Aeneas und Helenus weisen den Weg nach Hause, Cicero zeigt, was wirkliche Bildung im klassischen Sinne bedeutet. Die dem Briefgedicht eigentlich fremden Texte und literarischen Gestalten entfalten eine eigene Wirkung. Sie verselbständigen sich. Wie im Cento nuptialis arbeitet Ausonius also auch in den Briefgedichten auf verschiedenen Textebenen: An der Textoberfläche finden sich die Aussagen des Ich-Sprechers, unter der Oberfläche des Textes finden sich weitere Aussagen, die das Gesagte verstärken, verändern und konterkarieren können. Besonders deutlich zeigt sich dies in Briefgedicht 21. Hier verbergen sich z. B. hinter dem vordergründig harmlosen bukolischen Katalog düstere Texte, mit deren Hilfe der Ich-Sprecher das Schweigen des Brieffreundes kri769 Vgl. Witke (1971) 63–64 und vor allem Nugent (1990) 240.

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tisiert. Um die Ebenen unterscheiden und die verschiedenen Aussagen verstehen und entschlüsseln zu können, muss der Leser über ein entsprechendes Wissen, über die von Ausonius verwendeten Texte und literarischen Techniken verfügen und an demselben kulturellem und literarischem Gedächtnis teilhaben.770 Das bedeutet: Kommunikation zwischen dem Dichter, dem Adressaten und den außenstehenden Lesern spielt sich für Ausonius immer auf einer literarischen Ebene ab. Kommunikation zwischen Gebildeten ist ohne Literatur nicht vorstellbar. Schon deshalb sind die Briefgedichte des Ausonius als Literatur und Dichtung zu bewerten, die tief in der literarischen Tradition, d. h. in der Literatur der augusteischen Zeit und der hohen Kaiserzeit wurzeln. Ovid hat sich in diesem Zusammenhang als das neben Vergil wichtigste literarische Vorbild des Ausonius erwiesen, wohingegen Horaz, was das Spiel mit den Texten betrifft, kaum eine Rolle zu spielen scheint. Allerdings übernimmt Ausonius von Horaz das Metrum und stellt seine Briefgedichte auf diese Weise in die Tradition des vorgeblich privaten Briefes horazischer Manier, der auf den ersten Blick keine Literatur, sondern, spontan geschrieben, auf Belehrung und Aufforderung ausgelegt zu sein scheint. Ausonius verbindet also in seinen Briefgedichten an Paulinus den mahnenden Hexameter-Brief des Horaz mit der elegischen Klage des Ovid und zeigt sich wie Horaz in der Rolle eines Lebens-Lehrers, der den Schüler und Freund zu einem besseren Leben (zurück)führen will. Wie kunstvoll Ausonius seine poetischen Briefe gestaltet, zeigen aber nicht nur die Reminiszenzen und die durch sie transportierten Inhalte, sondern auch die Kompositionsform der Briefgedichte 21 und 22. Ausonius strukturiert die Gedichte mit Hilfe von Prätexten, genauer mit Hilfe von Ovid und Vergil, in der Weise, dass eine Ringkomposition entsteht, in der die einzelnen Prätexte interagieren, d. h. aufeinander Bezug nehmen und sich ergänzen. Die Briefgedichte 21 und 22 sind daher nicht als Einzelbriefe, sondern als Einheit, als literarisches Gesamtkunstwerk zu lesen. Damit verliert die kontrovers diskutierte Frage, in welcher Reihenfolge Ausonius die Briefgedichte 21 und 22 geschrieben und in welcher Reihenfolge Paulinus sie erhalten haben könnte, zwar nicht ihre Berechtigung, aber ihre Relevanz. Vielmehr rückt die Frage in den Vordergrund, ob die poetischen Briefe des Ausonius Teil eines unvollständig überlieferten Zyklus an Briefgedichten waren und ob dieser Zyklus auf einer früheren Version der Briefe beruht, sei sie in Prosa oder Versen verfasst gewesen.771 Für einen solchen Zyklus sprechen mehrere Gesichtspunkte: Erstens konnte Luca Mondin zeigen, dass die frühen Briefgedichte in der Version 770 Zum kulturellen Gedächtnis als Sammelbegriff für den der Antike eigenen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten vgl. zusammenfassend Vielberg (2006b) 206– 207 mit Verweis auf weiterführende einschlägige Literatur. 771 Vgl. Kap. 7.

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der Handschriften-Familie Z horazischen Ordnungsprinzipien folgen und so ein Gedichtbuch bilden, das in Struktur und Inhalt an das erste Buch der Briefe des Horaz erinnert. Es ist daher m. E. nicht unwahrscheinlich, dass auch die späten Briefgedichte des Vossianus und der ihm verwandten Handschriften ursprünglich ein eigenes Gedichtbuch formten, in dem die Briefgedichte an Paulinus enthalten waren. Zweitens weist besonders das Briefgedicht 21 Spuren einer Überarbeitung auf. Einige Verse sind jeweils in zwei, stilistisch, metrisch und inhaltlich anspruchsvollen Versionen überliefert. Darüber hinaus enthalten teilweise beide Textfassungen Reminiszenzen, die sich inhaltlich jeweils in den Gedankengang des Briefgedichtes einfügen. In manchen Fällen ist daher kaum zu entscheiden, welcher Variante der Vorzug zu geben ist. Es stellt sich die Frage, ob in diesen Fällen nicht beide Varianten auf Ausonius und zwei verschiedene, von ihm stammende Versionen des Briefgedichtes zurückgehen. Drittens zeigt die Wahl der Prätexte oft, dass Ausonius über die Hintergründe und Inhalte der conversio, auch über Nola als neuen oder angestrebten Wohnsitz des Paulinus informiert gewesen sein muss. Andernfalls könnten die Pro Archia Poeta-Reminiszenz und das durch diese evozierte ciceronische Bildungsideal oder auch die Anspielung auf die Weissagung des Helenus im dritten Buch der Aeneis ihre Wirkung im Briefgedicht nicht entfalten. Es ist also naheliegend, dass die Briefgedichte 21 und 22 in der vorliegenden Form relativ spät, vielleicht sogar nach dem Umzug des Paulinus nach Nola, aus der Retrospektive entstanden sind.772 In diesem Zusammenhang ist zu fragen, inwieweit sich die Briefgedichte des Paulinus in den Briefzyklus des Ausonius einpassen. Die Häufigkeit der direkten wörtlichen Bezüge auf den Text des Ausonius spricht dafür, dass die carmina 10 und 11 des Paulinus nach diesem oder aber in Zusammenhang mit diesem entstanden sind. Das heißt: Es ist zu überlegen, ob die Briefgedichte des Ausonius und des Paulinus zusammen einen Zyklus an Briefgedichten bildeten oder zumindest als solcher vorgesehen und konzipiert waren. Hier könnte eine weiterführende Untersuchung ansetzen, die folgenden Fragen nachgehen müsste: Wie verhalten sich erstens die Briefgedichte des Paulinus in der Argumentationsstruktur zu denen des Ausonius? Gibt es Hinweise darauf, dass sie sich strukturell und kompositorisch in den Briefzyklus des Ausonius einbinden lassen? Was sagt zweitens die Abfolge der Briefgedichte in den Handschriften, in denen der Briefwechsel als solcher präsentiert wird, über seine tatsächliche Gestalt aus? Wenn die Briefgedichte des Ausonius und des Paulinus unter Gesichtspunkten des Inhalts und der Komposition zusammengehören sollten, wer hat sie dann drittens in dieser Weise zusammengesetzt? Was bedeutet es in diesem Zusammenhang, dass der Briefwechsel mit einem Gedicht des Paulinus zu enden

772 Vgl. Kap. 4 und 5.

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scheint (wenn wir der Überlieferung des Vossianus und den Interpretationen der Gelehrten trauen können), das zudem einen deutlichen Schlusspunkt setzt? Die Kontroverse um die Briefreihenfolge hat die Forschung zum poetischen Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus lange dominiert; auch deshalb, weil gerade die Briefgedichte des Ausonius von starker und wachsender emotionaler Dynamik geprägt sind. Die Verärgerung, das Gekränktsein des Dichters steigert sich in den Briefgedichten 21 und 22 (gleich in welcher Reihenfolge man sie liest) immer bis zu einem bestimmten Höhepunkt, der jeweils gegen Ende des Gedichtes erreicht ist und schwächt sich schließlich in Brief 24 zu Resignation ab, der jedoch am Ende die nicht enden wollende Hoffnung auf eine Rückkehr des Freundes entgegengesetzt wird. Der Verlauf des Briefgedichte scheint also jeweils die Gefühlslage des Autors wiederzugeben. Tatsächlich sind Gefühle wie Verärgerung und die daraus folgende Ermahnung im Rahmen der Briefe 21 und 22 des Ausonius aber als literarische Mittel aufzufassen, mit deren Hilfe der Dichter Ausonius das Verhältnis zwischen dem Ich-Sprecher, der persona Ausonius und seinem Gegenüber, der persona Paulinus, in Szene setzt. Denn diese Gefühle sind insofern literarisch, als sie dem Leser aus anderen brieflichen Klagen bekannt sind: Z. B. aus der Exildichtung des Ovid oder aus den Briefen des Symmachus. Aus diesem Grund kann Ausonius das Verhältnis zwischen seiner persona und der des Paulinus in so vielfältiger Weise inszenieren, aus diesem Grund kann Ausonius mit Worten Ovids in der persona des elegischen Liebhabers auftreten, der ohne große Hoffnung um die puella in Gestalt von Paulinus gegen den uafer maritus in Gestalt von Therasia kämpft. Die persönlichen Gefühle, die den Gedankengang des Briefwechsels dominieren, sind nicht Abbild der Psyche des Autors, sondern ein Bild, das der Dichter von der Psyche des Ich-Sprechers zeichnet und dem Leser präsentiert. Sie unterliegen dem Gestaltungswillen des Ausonius. Die Briefgedichte 21 und 22 sind daher kein unmittelbarer Gefühlsausdruck, sondern Ausdruck literarischen Schaffens und literarischen Gestaltens. Sie sind Literatur, die bestimmte Gefühlslagen reflektiert, mit diesen Gefühlslagen spielt und für den Leser auch deshalb attraktiv wird. Der Dichter Ausonius ist mit seinen Briefgedichten über die Möglichkeiten und Grenzen von Freundschaft ebensowenig gescheitert wie knapp 400 Jahre zuvor der Exildichter Ovid mit seinen Gedichten über die Möglichkeiten des Lebens und Dichtens im Exil. Welchen Zweck verfolgte nun Ausonius mit seinen Briefgedichten, und welche Stellung nehmen sie innerhalb seines Oeuvres und innerhalb der Literatur des ausgehenden vierten Jahrhunderts nach Christus ein, wenn nicht in erster Linie die Gefühle, sondern das Literarische und der Literaturwillen des Ausonius ausschlaggebend sind für die Entstehung und die Gestalt seiner poetischen Briefe? Die Briefgedichte sind in jedem Fall ein

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Spätwerk des Ausonius, vielleicht die letzten von ihm verfassten Gedichte. Entstanden sind sie etwa zwischen den Jahren 389 und 395 n. Chr., eventuell etwas später, d. h. in einer historischen Situation, die für Ausonius unter anderem von folgenden Gesichtspunkten gekennzeichnet gewesen sein dürfte: Erstens prägte das Christentum die Gesellschaft in allen Belangen und schürte so Konflikte unter den gesellschaftlichen Eliten, die sich nicht nur auf Fragen der politischen Machtverteilung, sondern durchaus auch auf Fragen der Philosophie und Religion bezogen. Der Einfluss christlicher Intellektueller und Politiker wie Augustinus, Hieronymus und Ambrosius auf die Spitzen der Gesellschaft war – das suggerieren zumindest ihre Schriften – stark wie nie zuvor. Gleichzeitig hatte sich eine intellektuelle Opposition unter so wichtigen und mächtigen Leitfiguren wie Symmachus, Praetextatus und Nicomachus Flavianus formiert, die den Staatskult als Grundlage des politischen, sozialen und kulturellen Gefüges bewahren wollte. Darüber hinaus gerieten christliche Intellektuelle, die (wie Augustinus, Hieronymus und Ambrosius) der asketischen Bewegung nahestanden, in Widerspruch zu der oft weniger rigorosen christlichen Senatspartei Roms, die den Ausgleich mit den heidnischen Senatoren suchte. In dieser Situation bezog zweitens mit dem Senator Meropius Pontius Paulinus eine politisch einflussreiche, sehr vermögende Persönlichkeit aus dem direkten Umfeld des Ausonius explizit Stellung, indem er beschloss, sein früheres Leben aufzugeben und sein materielles und geistiges Vermögen in den Dienst der asketischen Bewegung zu stellen. Die conversio des Paulinus war aufsehenerregend und ließ ihn binnen kurzem zu einer Berühmtheit werden. Vor allem aber zog sie für Paulinus Veränderungen in allen Lebensbereichen nach sich: An die Stelle des alten Dichters Paulinus, der im Grunde zum Selbstzweck schrieb, dessen literarische Betätigung keinerlei Rechtfertigung bedurfte, trat nun, um nur ein, für uns aber besonders wichtiges Beispiel zu nennen, der christliche Dichter Paulinus, dessen Dichtung einen soteriologischen und eschatologischen Zweck erfüllen musste, nämlich den Menschen das Heil in Christus zu bringen. Ausonius bezog mit seinen poetischen Briefen an Paulinus ebenso eindeutig Stellung. Die Briefgedichte sind mit ihren zahlreichen Reminiszenzen und verborgenen Aussagen ein Plädoyer für die römische Literatur und Bildung. Denn die römische Literatur und das ihr zugrunde liegende Werteund Bildungssystem waren die Grundlage jeglichen kulturellen und literarischen Schaffens, die Grundlage der Kommunikation zwischen den intellektuellen und politischen Spitzen der Gesellschaft und so zumindest eine Grundlage des soziokulturellen Gefüges. Der Weg, den Paulinus mit der conversio eingeschlagen hat, liefen diesem System zuwider. Die Briefgedichte an Paulinus ließen Ausonius also tatsächlich, wie bereits Amherdt formuliert hat, zum Sprachrohr einer bestimmten Gesellschaft und eines bestimmten römisch-aristokratischen Gesellschaftsentwurfs werden, in dem die Leistun-

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gen und die Kunst der Vorfahren eine entscheidende Rolle spielen.773 Der Verlust der eigenen Sprache, der eigenen Kultur, das macht Ausonius m. E. gerade in Brief 21 mit Hilfe der Prätexte immer wieder deutlich, geht einher mit dem Verlust der eigenen Identität als Dichter und als Mensch. Mit Blick auf dieses Ergebnis wäre es wünschenswert, die Untersuchung auf die Briefgedichte des Paulinus auszuweiten und zu fragen, wie, d. h. mit welchen literarischen Mitteln der Asket auf die Vorwürfe des Rhetors antwortet. An einer Stelle ist immerhin deutlich geworden, dass Paulinus, auch wenn er als christlicher Dichter gewissermaßen unter veränderten Vorzeichen schreibt, Vergil und Terenz ebensogut für sich und seine Zwecke einzusetzen weiß wie sein Lehrer. Paulinus ordnet sich also, zumindest was die literarische Technik betrifft, in dieselbe Tradition ein wie Ausonius und zeigt so, dass auch ein christlicher Dichter um seine literarischen Wurzeln und um ihre Wichtigkeit weiß. Zu beobachten ist allerdings auch, dass Paulinus die Diskussion teilweise auf eine andere Ebene hebt als Ausonius. Am Ende von carm. 10 fordert das poetische Ich sein Gegenüber dazu auf, sich wie ein Vater im Geiste zu verhalten. Die Mittel der Satire zu nutzen und hinter schmeichelnden Worten ätzende Botschaften zu verbergen, sei die Sache von Dichtern, nicht aber die von Vätern im Geiste. Pietas und fides erforderten es, böswilligen Gerüchten keinen Glauben zu schenken.774 Paulinus wertet die Briefgedichte des Ausonius als satirisches Schreiben und als Angriff auf das Verhältnis von Lehrer und Schüler, d. h. er hebt die Argumentation in gewisser Weise auf eine persönlichere Ebene. Ob sich diese persönliche Ebene als roter Faden durch seine Briefgedichte zieht und ob Paulinus sich hier grundlegend von Ausonius unterscheidet – das zu ergründen bleibt einer eigenen Untersuchung vorbehalten, die sich auch mit der Frage auseinandersetzen müsste, inwieweit die rigorose asketische Haltung des Dichters die literarische Gestaltung der Briefgedichte und den Umgang mit der klassischen Literatur beeinflusst. Die vorliegende Untersuchung hat, so hoffe ich, gezeigt, dass die Briefgedichte des Ausonius nicht nur historische Dokumente, sondern vor allem Literatur ersten Ranges sind. Diese Literatur lebt sowohl von der Begabung des Dichters als auch von seinen literarischen Vorbildern, von Vergil, Horaz und Ovid.

773 Vgl. Amherdt 2004 (a). 774 Paul. Nol. carm. 10,260–268.

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Namen- und Sachregister

Aborius, Aemilius Magnus 11 – Förderer des Ausonius 11 – Rhetor 11 Achilles 75, 137, 331 Acontius 7, 316, 320, 329–339, 347, s. auch Cydippe – Rolle bei Ovid 316, 320, 329 f., 334 f., 337 – Rolle bei Catull 332–335 – Rolle bei Ausonius 320, 330, 337 – Abweichungen von der Erzähltradition 329 f., s. auch Mythos – Rolle bei Aristainetos 329 f. – und Cydippe 316, 320, 329–339, 347 – und der Apfel 316, 320, 334 f. Actaeon 6 f., 80, 262 f., 298–302, 304, 311, 313 – Rolle bei Ovid 263, 298–300, 311 – Rolle bei Ausonius 298–302, 311 – und Paulinus 301 f. – und Diana 80, 263, 299, 313 Adeodatus 53 Adynaton, Adynata 134–136, 144 f., 289 Aemilius Asper 233 aemulatio 43, 49, 51, 60, 67, 88, 348, 354, s. auch Reminiszenz; Intertextualität; imitatio; Horaz Aeneas 73, 75 f., 115, 130, 137, 217, 244– 248, 250 f., 253 f., 257,276, 281–283, 289, 340, 351 – und Paulinus 247 f., 257, 283 – in der Dichtung des Ausonius 73, 76, 282 – in der Dichtung des Paulinus 245 – Irrfahrten 247 f. – als Identifikationsfigur 283 Aesop 56, 230 Aition 332 f., 339 Akontioiden 329 Alexandrinische Fußnote 289, 303 Allecto 73 Altar der Victoria 14 f., 121, 351, s. Ambrosius, Gratian, Symmachus

Alypius 20, 22, 53, 99, 161, 242 – Briefpartner des Paulinus 20, 99, 161 – Freund Augustins 22, 53, 242 Amandus 22, 99, 102, 227 f., 253, 296 – Tauflehrer des Paulinus 22, 227, 253 – Briefpartner des Paulinus 99, 102, 227 f. – Bischof von Bordeaux 99, 227 Ambrosius 12, 14, 21 f., 24, 28, 52, 103, 121, 328, 344, 351 – Unterstützer des Paulinus 22 – Askese 344 – Ratgeber Gratians 12 – Streit um den Victoriaaltar 121 – und Symmachus 121 amicitia 21, 96, 103 f., 108, 117, 122, 133, 242 f., 267 f., 272, 315, 317, 353, s. pietas Amyklai 105, 107 Ancus Marcius 117 Apfel, Apfelbaum 97, 315 f., 320, 330–337, s. Acontius, Cydippe Apis 226 Apoll 30, 54, 191, 245 f., 249, 276 f., 279 f., 297, 316, 326–329, 338 – und Pan 316, 338 – und Christus 249 Aquitania Secunda, Aquitanien 12 f., 18 f., 23 f., 26, 102, 109, 203, 246–248, 252 – geographische Lage 12, 203 – kulturelles und wirtschaftliches Zentrum 13, 26 – geistige Landschaft 23 – literarisches Gegenbild zur Hispania Tarraconensis 26, 102, 109 – literarisches Gegenbild zur Magna Graecia 247 Archetypus, Hyparchetypus 47, 154, 162 f., 165, 175, 177, 179, 185, 193, s. Textkritik Archimedes 70 Aristaeus 7, 87, 293, 295, 297–299, 311, 353 – Rolle bei Vergil 297, 311 – Rolle bei Ausonius 298 f.

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Namen- und Sachregister

Arruns 6 f., 74, 261 f., 270, 275–283, 297, 300, 304, 311–313, 349, 351 – Funktion bei Vergil 278 f., 297 – Rolle bei Ausonius 282 – Held, Antiheld 278 – und Hirpi Sorani 279 f. – und Paulinus 278 – strukturelle Funktion 280 ars imitandi 50, s. Horaz Artemis 111, 299, 335 artes liberales 54, 56, s. Licentius artifex amoris 125, 127, 317 f., s. Ovid Askese 13, 15, 20, 22, 25, 32, 36, 81, 100, 102 f. – christliche Askese 13, 15, 20, 22, 81, 103 – Askese bei Paulinus 25, 32, 36, 81, 100, 102 – s. auch conversio Astrologie 118 f., s. auch Tanaquil Atalante 195 f. Attis 7, 80, 164, 170, 190, 259, 263,280, 305–313, 340, 347 – Rolle bei Catull 263, 306–312 – Rolle bei Ausonius 263, 280, 307, 307 – und Paulinus 263, 280, 307, 307 Augustinus 14, 20–22, 28, 53–55, 101, 206, 242, 310, 344, 351, 355 – conversio 20–23, 101 – Briefpartner des Paulinus 23, 28 – Unterstützer des Paulinus 21 f. – otium Christianum in Cassiciacum, secessus in villam 53, 55, 101, 103, 355 – und Licentius 53–55, 242 Aurunci, Auruncer, Ausones 232, 248 – im Wortspiel 248 Ausones s. Aurunci Ausonia, Aeonia 11 Ausonius, Decimus Magnus 11 – Name 11 – Leben 11–13 – Karriere 11 f., 58, 233 – Ausonius quaestor sacri palatii, comes, praefectus praetorio, consul 12, 15, 124 Ausonius rhetor 11–13, 17 f., 26 f., 35, 55, 57 f., 65, 67 f., 71, 127, 233 – Freundeskreis 13 – Einstellung zum Christentum 16 – Religiösität 15–17 – Halbchrist und Namenschrist 15 f., 39

– – – –

nominal pagan 16 literarisches Werk 12–13 Briefgedichte an Freunde 198–204 Briefgedichte an Paulinus, s. Briefwechsel, poetischer des Ausonius und Paulinus – Klagebriefe 121, 132 f., 138, 140 f., 146 – literarisches Selbstverständnis, literarisches Ideal 49–60 – Bildungsideal 49–60, 292 f., 311, 342 – literarische Technik, s. auch Reminiszenz und Intertextualität 32, 66–91 – in der Literaturwissenschaft 60–66 – und postmoderne Literaturtheorie 63– 66 – Freundschaft mit Paulinus 17 -19 – und Ovid 141–147, 236–244, 319 f. – und Vergil 49–60, 76, 244–248 – Ausonius-Philologie 150–154 Ausonius, Iulius – Vater des Ausonius 11 f., 233 Authentizität 44 Automedon 137, 202, 319 Autorenvariante und Interpolation, s. Textkritik Avienus 52 f. Axius/Assius Paulus (Rhetor, Addressat in den Briefgedichten des Ausonius) 38, 68, 72, 153 f., 163, 198–203, 285 Barthes, Roland 64, 66, 347 Baskenland 109 Bassus 231 Bildung, Bildungsgedanke 7, 30, 46, 52, 55 f. 58, 120, 241, 289, 291–293, 311, 340, 342, 344, 349, 354 Bindefehler 6, 47, 149, 165 f., 168, 170–196, s. Textkritik Bellerophontes, Bellerophon 80, 94 f., 111– 114, 188 f., 298, 324, 340 – Rolle bei Ausonius 80, 112, 114 – Rolle bei Homer 111–114 – Rolle bei Euripides 111 – Rolle bei Pindar 111 – und Paulinus 113 – und Celsus (I) 98–100, 113, 263, 296, 324 Beschreibstoffe s. auch Cydippe, Phaedra – libellus 6, 23, 48, 103, 106, 148, 204, 206, 208–210, 212–222, 225, 233 f.

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Namen- und Sachregister – charta 6, 48, 92, 96, 103, 133, 136, 143, 148, 204 f., 207, 211–222, 234, 246, 255 f., 315, 318, 337 – Bast, Baumbast 97, 213, 220, 315, 317 f. – Holz 97, 315 – Holztäfelchen 336 f. – Wachs 269, 336 f. Bienen, Bienenzucht 93, 104, 110, 169, 171– 174, 176, 182 f., 240, 293, 295, 297, 336 Birbilis 84, 94 f., 109 Bordeaux 11–13, 17, 22, 99, 116, 177, 206, 217, 227, 354 f. – wirtschaftliches und kulturelles Zentrum der Aquitania Secunda 12 f., 26 Briefe, Briefliteratur, Briefgedichte, Epistolographie – kulturelles und diskursives Medium 32– 35, 37–39, 120–121 – Deissmann-Kontroverse 38 Briefe, poetische – des Ausonius 11, 20, 23, 25, 30, 33, 35 – des Paulinus 30 – des Horaz 12, 16, 37 f., 41–46, 49–51, 55, 57–61, 69, 71, 146 f., 162, 178, 192 f., 201, 231 f., 234, 259, 341 f., 345 – des Ovid 128–142 – des Claudian 16, 37, 45, 49, 60, 195, 353 – als Geschenke/ Corollaria 215, 239 Briefwechsel, poetischer des Ausonius und Paulinus – in der Forschung 24–41 – literarische Form und Gestaltung 41– 45 – existenzielle Aspekte 25, 39 – Rezipienten 30–32, 34, 43, 71, 77, 87– 90, 127, 142, 233 – Ich-Sprecher, persona 37, 41, 43, 48, 77–83, 87, 98, 104–110, 116 f., 119, 141– 143, 191–193, 236, 238, 241–251, 253– 255, 259, 261, 266–269, 274, 278, 291 f., 298, 301 f. 304 f., 309–317, 324–326, 335, 337–340, 343 – Reihenfolge und Chronologie 148– 149, 198–210 – Überlieferungsgeschichte, handschriftliche Überlieferung 148–154 Brieftituli 6, 49, 149, 154–165, s. Briefwechsel, Tituli Buchrolle 215, 219, s. auch libellus

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Bürgerkrieg 59, 109 Bukolik 6, 104, 109–111, 115, 176, 182, 186 f., 189, 259, 283, 300, 340 Bukolische Landschaft 6, 109, 171, 283 Bukolische Szenerie 104, 110, 144, 166 f., 173 f., 189 – bei Vergil 174 – bei Ausonius 144 Buthrotum 246 Caesar, Caius Iulius (I) 59 f., 83–85, 151, 272 Caesar, Caius Iulius (II), Sohn des Germanicus 272 Calagurris 84, 94 f., 109 Caligula 272 f. Camilla 74 f., 262, 276–282 Campania, Campanien 18, 20 f., s. auch Paulinus, Magna Graecia – bei Ausonius 18 – als Gegenentwurf zur Aquitania 18–20 Capraria 113 f. Carus 259, 262, 264, 270–274 Cassiciacum, s. Augustinus Catilina 57, 59 Catull 7, 42 f., 51, 90, 170 f., 214, 216, 221, 259, 263, 288, 306–310, 313, 332–335, 339, 346 f., 349, 351 f., 354 Celsus (I) – Sohn des Paulinus 98–100, 113, 263, 296, 324 – Auslöser der conversio des Paulinus 113 – Rolle bei Ausonius 263, 296 – und Bellerophontes 113, 324 Celsus (II) – Sohn des Pneumatius und der Fidelis 100 Cento nuptialis 5, 12 f., 41, 46, 61, 63, 65– 67, 71, 73 f., 76 f., 151, 157, 177, 192, 260 f., 340, 347 – Stomachion 70 charta 6, 48, 92, 96, 103, 133, 136, 143, 148, 204 f., 207, 211–222, 234, 246, 255 f., 315, 318, 337, s. Beschreibstoff – Synonym für Brief 213 f. Christentum – Rolle im 4. Jh. 13 f., 16, 21, 171, 309 – und gesellschaftliche Eliten 16, 21, 344 – Verhältnis zum Staatskult 13 f., 16, 171, 309

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Namen- und Sachregister

– conflict of ideologies 24 f., 355 – s. auch Heidentum und Staatskult christliches Literaturideal, s. Paulinus Chronologie 6, 23, 26 f., 47, 148 f., 158, 200, 204–211, 234, 257, s. Briefwechsel Cicero, Marcus Tullius 6 f., 41 f., 48, 53, 55 f. 58–60, 103, 108, 112 f., 120, 218, 230, 259 f., 262, 289–292, 311 f., 340, 342, 346, 348 – Literaturideal 292 – Orpheus 290, 291, 311 f. – Bildungsideal, Literaturideal 291 f., 311, 340, 342l Co-Autor 184, s. Textkritik conflict of ideologies, s. Christentum und Heidentum conversio 20–23, 25–30, 32, 40, 99, 115 f., 206, 250, 260, 292, 296, 307, 324, 342, 344, 355 – asketisches Prinzip 22, 25 f., 28 f., 100, 114, 296, 344 – s. auch Paulinus Corinna 82, 134–135, 336 Corollaria/ Corollarien, s. Briefgedichte custos 276, 317 f., s. puella Cybele, Magna Mater 7, 80, 104, 167–171, 176, 226, 259 f., 263, 305–310, 313 – Cybele-Kult 170 f., 176, 226, 260, 263, 305 f., 309 f. – Konkurrenz zum Christentum 171 – und Attis 7, 80, 259, 263, 280, 305– 313, 340 Cydippe – Rolle bei Ovid 316, 320, 330, 333–335, 337 – Rolle bei Catull 7, 332–335 – Rolle bei Ausonius 316, 319–321, 329 f., 332, 336 f. – Rolle bei Aristainetos 330, 333 – Abweichungen von der Erzähltradition 330, s. auch Mythos – virgo 316, 329–331, 333–337 – und Acontius 316, 320, 329–339, 347 – und der Apfel 316, 320, 334 f. – Beschreibstoffe 337 – Holz 337 – Holztäfelchen 336 f. Damon 172, 181, 279, 351 Daphnis 142, 172 Davos 252 f.

Deissmann-Kontroverse 37 f. Delphinus – Tauflehrer des Paulinus und seines Bruders 99, 253, 296 – Briefpartner des Paulinus 102, 296 – Bischof von Bordeaux 99 Demosthenes 56, 230 Diana 74, 80, 226, 263, 276–278, 299, 313, 334 – und Arruns 74, 276–278 – und Actaeon 80, 263, 299, 313 Dido 115, 244–246, 256, 262, 281 f. – und Aeneas 244 f., 281 f. – Rolle bei Vergil 245 – Rolle bei Ausonius 245 f., 256, 262, 282 Dindymus/ Dindymos 6, 92 f., 104, 165– 170, 175 f., 178, 182, 186, 197, 305 f., 310 Dirae, Fluchgöttinnen 245, 279, 351 Diskurs 44 f., 349, 355 Distributivum 225–229, s. Numeralia Dodona 92, 166–168, 170, 175 Doppeledition, zweifache Edition. s. Textkritik Dracontius 150 Drances 217, 276 Drusus 271–273 Ebromagus, Landgut des Paulinus 27, 142, 205 f. Echo (I), Nymphe 67, 189, 259, 262 f., 285 f., 288, 302–305, 311, s. auch Narcissus – Rolle bei Ovid 262, 288, 311 – Rolle bei Ausonius 189, 286, 302 f. Echo (II), physikalisches Echo 90, 93–95, 104, 110, 166, 169, 188, 283–285, 298, s. auch imago – bei Lukrez 284 – bei Ausonius 110, 284–287 – Unterschied zu imago 286 f. Echo (III), literarisches Echo 284, 288, 290 – bei Ausonius 288, 290 Elegisches Ich 82, 125, 134, 321, 336–338, s. auch Ich-Sprecher Elementarunterricht 55, s. auch Schulwesen Emotionale Dynamik 25, 31, 130, 209 f., 343 Encolp 67 Endelechius 219 f. Epikur 240 f., s. auch Lukrez

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Namen- und Sachregister epistula 6, 37, 48 f., 92, 105, 107, 115, 121, 123, 128, 130–134, 136, 140 f., 143 f., 148, 158, 160 f., 201, 205–208, 212 f., 221–225, 227, 229–231, 233 f., 239, 242, 255, 261, 264–266, 270, 309, 311, 319, 333, 346, 348, 350, 352, 355 Etrusker, etruskisch 74, 117, 262, 275–277, 279 Euripides 111, 129, 264, 268, 312 – und Bellerophontes 111 – und Hippolytus 129, 264 Eurydice 7, 48, 259, 262 f., 283, 285–297, 311–313, 340, s. Orpheus exempla 314–321 unpassendes, falsches exemplum 320 Exil 5, 7, 38, 43, 48, 111, 128, 130–133, 141–147, 221, 232, 236, 239, 244, 255, 257, 262, 264, 270–281, 311, 319, 343, 347–350, 352, 355 – bei Ovid 38, 43, 48, 111, 128, 130–133, 141–147, 232, 236, 239, 244, 255, 257, 262, 264, 319, 343, 347, 349 f., 352, 355 – bei Ausonius 141–147, 255, 257, 262, 270–281 Exildichtung 5, 38, 43, 48, 128, 130–133, 141, 143, 145, 147, 232, 319, 343, 349, 352, 355 – Tristia, Tristien des Ovid 133, 139– 141, 231, 233 f., 236, 272, 350 – Epistulae ex Ponto des Ovid 37, 121, 128, 130–133, 140 f., 201, 242, 264, 270, 309, 311, 319, 348, 350, 352, 355 Faun 284 Felix, Märtyrer 18, 20, 22, 98, 219–221, 225 f., 230, 349, 355 – Kult 18, 20 – und Paulinus 221, 225 Felix-Natalicia 21, s. Natalicia femme fatale 119, s. Tanaquil, Therasia figura apo koinu 167 Fiktion, Fiktionalität, literarische Fiktion – in den Briefgedichten des Ausonius 41–45 – in den Epistulae Heroidum, den Tristien und Epistulae ex Ponto des Ovid 128–132 – bei Symmachus 120–128 Fish, Stankley, s. reader-response-criticism fortunatus senex, s. Meliboeus Fronto 242

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Furcht, Verrat 23, 48, 56 f., 97, 100, 111, 113, 116 f., 119, 133, 141, 194, 236 f., 244, 248, 267 f., 272, 275, 277 f., 300, 303, 324 f., 317, 325, 331, 335 Galerius 14 Gallus, Lycoris 295 f., 307, 338 f., 349 – und Vergil 295 f., 339 – in den Eclogen 339 – in der Georgica 295 Garonne 142, 177 f. Geheimsprache 97, 117, 315, 317–319, 331, s. auch Skytale – bei Ovid (ars amatoria) 317 – bei Ausonius 315 – Milch 97, 315–319, 331 Genethliacus/ Genethliacos 200, 203 gens Pontia 17, s. Paulinus Germanicus 270–273 Girardinus, Bartholomaeus 151 Glycerium 252 f. Grammaticus 12, 55, 58, 198 – Funktion, s. Schulwesen Gratian 11 f., 15, 18, 66 f., 73–76, 192, 273 – Schüler und Förderer des Ausonius 12 – Förderer des Paulinus 18 – Streit um den Victoriaaltar 15 Halbchristen 15 f., 39, s. Ausonius Handschriften, s. Briefwechsel Hapax legomenon 170, 186, 197 – als textkritisches Argument 197 – s. auch Sigalion, liturarius/ liturarii Heidentum 13 f., 16, 121, 351 – Rolle im 4. Jh. 13 f., 16 – und gesellschaftliche Eliten 16 – Verhältnis zum Christentum 13 f., 16 – conflict of ideologies 24 f., 355 – s. auch Christentum und Staatskult Hekate, Hekate Trivia 245 f. Helena, Paris 129 f. Helenus 246–248, 254, 256, 258, 340, 342 – bei Vergil 246 – bei Ausonius 256 Herakles 163 f. Hesperius, Sohn des Ausonius 152, 156, 200, 203, 216 – als Herausgeber der Werke des Ausonius 156 Hilerda 83–85, 95, 109

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Namen- und Sachregister

– bei Lucan 83 – bei Ausonius 83, 109 Hippolytus 69 f., 129, 185, 261 f., 265–266, 268 f., 311 f., s. Phaedra Hirpi Sorani 279 f., s. auch Arruns Hispania Tarraconensis 11, 17, 26, 84, 87, 98–100, 102, 109, 275, 296 – Wahlheimat des Paulinus 84, 98, 100, 102, 109, 296 – literarisches Gegenbild zur Aquitania Secunda 102 Holztäfelchen, Holz 97, 315, 336 f., s. auch Cydippe, Phaedra, Beschreibstoffe Homer 57 f., 67, 111 f., 114, 129, 331, 354 homo interior Christianus 28, s. Innerlichkeit Homousion 226 f., s. Trinität Horaz 12, 16, 37 f., 41–46, 49–51, 55, 57–61, 69, 71, 146 f., 162, 178, 192 f., 201, 231 f., 234, 259, 341 f. 345, 352, 354, s. auch Briefe, poetische; imitatio; aemulatio – ars poetica 49 f. – ars imitandi 50 – Literaturideal 49–51, – Bedeutung für die Briefgedichte des Ausonius 146

Interpolation und Autorenvariante 6, 47, 91, 149, 152, 154, 177, 179–185, 187, 194, 197, s. Textkritik Interpretationsgemeinschaft 33, 35, s. auch reader-response-criticism Intertextualität 43, 35, 64–66, 90, 242, 261, 275, 347, 350, 355, intertextuelle Analyse, s. auch Reminiszenz – bei Ausonius 43, 64, 242, 275 – Kristeva, Julia 66, 352 – usus iustus 250 – imitatio 43 – aemulatio 43 invocatio Musarum 114, 246, 248, 255 f. – Iapyx 250 f. Irrfahrten 130, 140, 246 f., 253 f., 257 – des Odysseus 140, 253 – des Aeneas 130, 246 f., 254, 257 – des Paulinus 246–248 Isandros 111 f. Isis-Kult 104, 260, 305 Isocrates/ Isokrates 56, 230 Itys 326, 322–324, 333, s. auch Philomela, Prokne, Tereus – bei Ovid 316 – und Celsus (I) 324

Ich-Sprecher 37, 41, 43, 48, 77–83, 87, 98, 104–110, 116 f., 119, 141–143, 191–193, 236, 238, 241–249, 251, 253–255, 259, 261, 266–269, 274, 278, 291 f., 298, 301 f., 304 f., 309–317, 324–326, 335, 337–340, 343 – personae des Ausonius und Paulinus 48, 79–82 Ida (mons) 92 f., 104, 167 f., 170, 175 f., 182 f., 186, 197, 251, 306, 308 Identität 14, 40, 55, 262 f., 274 f., 278, 345 – kulturelle 40, 55 – als Dichter 262, 274 f., 278, 345 Ilias 50, 57, 111–113, 202, 215, 218 imago 7, 90, 92, 154, 166, 171, 189, 259, 263, 283–289, 302 – Unterschied zu Echo 90, 166, 283–285 imitatio 21, 43, 49–51, 60, 67, 88, 320, 348, 354, s. auch aemulatio; Reminiszenz; Intertextualität; Horaz Innerlichkeit/ inner self/ homo interior Christianus 16, 28 – geistiges Prinzip 28

Johannes (Evangelist) 227 Juno 73, 75, 106, 245, 247, 323 Juppiter 83, 245 Juvenal 41, 118 f. – Rezeption bei Ausonius 118 Juvencus 49 Kallimachos 299, 316, 329 f. 332 f. 339 – Rezeption bei Catull 332 f. Kalypso 126 f. Katalog 6, 48, 104 f., 110 f., 117, 134 f. 137, 139, 144, 166, 169–171, 174 f. 182, 186, 189, 236, 259–313, 315–317, 319, 339 f., 347 – bukolischer Katalog 144, 166 – Exemplakatalog im Lehrgedicht 314– 321 Klage, Klagebriefe 5, 103, 120–141, 146, 343 – bei Ausonius 120–133 – bei Ovid 103, 128–140, 146, 343 – bei Symmachus 5, 103, 121–127, 146, 343

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Namen- und Sachregister Kommunikation 13, 25, 27 f., 32, 37, 40 f. 48, 77, 87, 104, 127, 212, 261, 267–269, 305, 311, 324, 341, 344, 353, 356 Komödie 5, 57, 121, 123 f., 128, 146, 252 f. – bei Symmachus 121, 123 f., 128, 146 – bei Paulinus 251–253 Konjektur 26, 29, 47, 157 f., 163–165, 193, 196, s. Textkritik Konstantin 14, 280, 350 Kristeva, Julia 66, 352, s. Intertextualität Kromyon 164 kulturelles Gedächtnis 31, 67, 77, 88, 341 Laelius 108, 346 Lampius, Boschof von Bordeaux 160 Laodamia 111 f. Lartidianus 53 Lautreichtum 105, 111, 166, 172, 260, 305, 307, 313 Lehrdichter 48, 79, 176, 216, 231, 241, 284, 287, 320, 340, s. auch Lehrgedicht – Lukrez 241, 284, 287 – Vergil 79, 176, 216 – Ovid 216, 231, 241, 320 – Ausonius 48, 241, 340 Lehrer, Lehrer-Schüler-Verhältnis 19 f., 67, 238, 241, 253 – bei Lukrez 241, 253 – bei Ovid 241, 253 – bei Quintilian 241 – bei Fronto, Marcus Aurelius 242 – bei Ausonius 19 f., 67, 238, 241 f., 253 Lehrgedicht 7, 48, 117, 120, 241, 314–339, s. auch Ausonius; Lukrez; Vergil; Ovid Lektüre 77 – heuristische 77 – hermeneutische 77 Lektüreerfahrung 120, 129 Leontius, Nachfahre des Paulinus 177–179 und Venantius Fortunatus 177–179 Leserlenkung 43, 85, 107, s. auch Psychagogie libellus 6, 23, 48, 103, 106, 148, 204, 206, 208–210, 212–222, 225, 233 f., s. auch Beschreibstoffe Gedichtbuch, Büchlein 12, 148, 201, 211, 213–216, 234, 270, 342 Beschreibstoff, Baumbast 97, 213, 220, 315, 317 f. Licentius 53–55, 242, 354 – und Paulinus 242

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– und Augustinus 53–55, 242 – artes liberales 54, 56 Licinius 14 Liebesdichtung, Liebeselegie 5, 82 f., 121– 128, 134, 145 f., 319–322 – bei Ovid 125, 134, 145 f., 319, 322 – bei Properz 82f Liebhaber 42, 82 f., 86, 125, 317, 339 f., 343 Ligurinus 192 Literarisierung 42 f., 128, 140 Literaturideal, s. Cicero, Ausonius, Paulinus, Macrobius Literaturtheorie, moderne/postmoderne Literaturtheorie, Literaturwissenschaft 30, 35, 44 f., 62–66, 90, 347, 349, 354, 356 – und romantisches Dichtungsideal 62, 64 – und die Idee des Genius 62 liturarius/ liturarii 156–158, 164, s. auch Hapax legomenon Livius 117–119, 245 locus amoenus 172–174, 313, 350, 354 Lucan 51, 55, 59 f., 78, 83–85, 87, 89, 109, 124, 279, 346 – Rezeption bei Ausonius Lukrez 32, 177, 240–242, 253, 284, 287, 327, 348, 351, s. auch Lehrer, Lehrer-Schüler-Verhältnis – und Epikur 240 f. Lycoris 338, s. Gallus Macer 231 Macrobius 52 f., 55, 347 f., 355 – Datierung 52 – Bildungs- und Literaturideal 52–53 Maenalus 172, 185 Magna Graecia 196, 247 – Gegenentwurf zu Aquitanien 247, s. auch Aquitania Secunda, Campania Magna Mater 310, s. Cybele Magnus Maximus 12, 18, 98, 153 – Ursurpator 12, 98, 153 – und Paulinus 18 Marcus Aurelius 242, s. Auch Lehrer, Lehrer-Schüler-Verhältnis maritus 317 f., 343, s. puella Martial 41, 72, 84, 109, 185, 214, 216, 221, 346 – Rezeption durch Ausonius 41 Megalesia 170 Melania die Ältere 20 f.

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Namen- und Sachregister

– Gast in Nola 20 Melania die Jüngere 20 – Gast in Nola 20 Meliboeus 110, 172, 174, s. auch Eclogen – Meliboeus und Tityrus 110, 172, 174 – Rolle in den Briefgedichten des Ausonius – Tityrus fortunatus senex 110 f. Menalippos 80 f. Menander 57 f., 218 Midas 7, 316, 319–321, 325–329, 331 – bei Ovid 316, 319–321, 325, 327 f. – bei Ausonius 331 – Pan und Apollo 316, 326–329 – Dummheit des Midas 316, 325–329 – Friseur des Midas 320, 325 f. – Reichtum des Midas 323, 326, 328 Milch 97, 315, 317–319, 331, s. Geheimsprache Mincius 172 Mönche, Mönchtum 113 f., 310, 351 Monnica 53 Multiplikativum 223–229, s. Numeralia Musen 23, 82, 95, 114 f., 191, 194, 231, 237, 242, 244, 246, 249, 328, 332 Mythos, Mythologie 7, 48, 111 f., 114, 128 f., 144 f., 163–165, 170, 173, 189, 193, 196, 264, 269, 285, 293, 296, 299, 312 f., 316 f., 319 f., 324, 329–331, 333, 337, 339 – Abweichungen von der Erzähltradition – Theseus und Phaia 163–165, 264 – Acontius und Cydippe 329–331 Namenschristen 15 f., s. Ausonius Narcissus 7, 173, 189, 259, 263, 285, 288, 302–305, 311–313, s. auch Echo (I) – Rolle bei Ausonius 305 und Paulinus 304 Natalicia, Natalicia Felicis, Natalicium 20 f., 25, 98–100, 219–221, 225 f., 228, 230, 253, 352, 354 – literarische Form und Rezipienten 21, Anm. 38 Nemesis 190–193, 304 Neologismus 164, 196 – als textkritisches Argument 164, 196 – s. auch Hapax legomenon, Sigalion Nepos 215 f., 221 Nero 272 f. Neuplatonisums, Neuplatoniker 107 Nicetas von Remisiana 20 f., 200, 228

– Gast in Nola 20 f. – literarische Figur im Natalicium 228 Nicomachus Flavianus 14, 52, 344 – Vertreter des Staatskultes 14, 52, 344 – in den Saturnalia des Macrobius 52 Nigidius Figulus 108 Nola 11, 20, 221 – Wahlheimat des Paulinus 11 – Wallfahrtszentrum und Pilgerstätte 20, 221 Nord-/Nordostspanien, s. Hispania Tarraconensis 84, 99, 205 Norische Viehseuche 79 Numeralia 212, 223–234 – Distributivum 225–299 – Multiplikativum 223–229 – kollektiver Singular 225–230, 233 f. Odysseus 126 f., 140, 190, 253 Opis 276 f. Orpheus 6 f., 48, 80, 259, 261–263, 289–291, 293–300, 304, 311–313, 324, 340, 353 – Rolle bei Cicero 6 f., 48, 262, 289 f. – Rolle bei Vergil 6, 48, 262, 290, 296 f. – und Paulinus 296–297 – und Eurydice 283–298 – und Celsus (I) 263, 296, 324 – Tod orsa 57, 92, 103, 106, 143, 216–219, 255, Synonym für Gedicht otium 20, 100–103, 105, 292, 355 – otium ruris 20, 100–103, s. auch secessus in villam – otium litteratum bei Seneca 102 otium ruris bei Paulinus 20 – otium Christianum 20 – bei Paulinus 20 – bei Augustinus 20, 101 – und Scham 105 Ovid passim, s. auch Briefe, poetische; Exilelegie – Amores 125, 128, 134, 172, 336–339, 346, Rezeption bei Ausonius – Ars Amatoria 125 f., 135, 216, 317, 322, 346, 349 f., 354, Rezeption bei Ausonius – Epistulae Heroides 130, Rezeption bei Ausonius – Liebesdichtung 121–128, 320 f. – Lehrdichter 48, 79, 176, 216, 231, 241, 284, 287, 320, 340

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Namen- und Sachregister – artifex amoris 125, 127, 317 f. – Metamorphosen 6, 189, 236–244, 260, 263, 269, 288, 298 f., 301–303, 305, 320 f., 324–326, 328, 331, 347, Rezeption bei Ausonius – Exilelegie 131, 144–146, 236, 239, 244, 255, 257, 262, 264, 272–275, 277 – Tristia 37, 114, 121, 128, 130–133, 140–143, 193, 221, 319, 346, 348, 352, 355 – Epistulae ex Ponto 37, 121, 128, 130– 133, 140 f., 201, 242, 264, 270, 309, 311, 319, 348, 350, 352, 355 – poeta exul 43, 130–133, 135 f., 138 f., 142–145, 156, 221, 231, 236–238, 242– 244, 254, 257, 262, 270, 272–274, 277, 297, 300, 311 f., 319 – Klagebriefe 128–141 Palinurus 137, 319 Pallas 75, 278, 281 f. Pammachius 15 Pamphilus 252–254 Pan 172, 185, 284, 316, 326,-329, 338 – und Midas 326 – und Christus Pandarus 75 Pandion 322 f. Pannonien 271 Paris 129, s. Helena Parthenopaeus 195 f. Paulinus, Meropius Pontius, Bischof von Nola 11, 17, 58, 344 – Name 11 – Leben 17 f. – Karriere 18 f. – und Therasia 19 f., 22, 100, 102, 117, 119, 313, 317 f., 323 f., 339, 343 – und Celsus (I) 98–100, 113, 263, 296, 324 – conversio 116 – Askese 22 – Bautätigkeit in Nola 20 – Bischof in Nola 11, 20, 160 f., 179 – Briefgedichte an Ausonius, s. Briefwechsel, poetischer des Ausonius und Paulinus – literarisches Selbstverständnis, literarisches Ideal 29, 249–255,292 – christliches Literaturverständnis 29, 292

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– Bildungsideal 292 – literarische Technik 249–255, s. auch Reminiszenz und Intertextualität Pegasus 111 Perilla 132, 236–239, 242 f., 253, 255, s. auch Lehrer, Lehrer-Schüler-Verhältnis – Rolle bei Ovid 236 – Rolle bei Ausonius und Paulinus 237, 242 persona 30, 34, 38–40, 42 f., 49, 64 f., 131, 147, 171, 222, 227 f., 243, 253 f., 267, 274, 305, 324, 338, 343, s. Ich-Sprecher Petrarca, Francesco 150 Petron 67, 185, 198, 201, 215 Phaedra 6 f., 129, 259, 261 f., 264–269, 311, s. Hippolytus – Briefschreiberin 265 – und Ausonius und Paulinus 267– 269 Phaia 164 Philipp von Makedonien 106 Philomela 7, 294, 316, 319–325, 333 s. auch Itys, Prokne, Tereus – und Tereus 321–325 – und Prokne 316, 321–324, 333 pietas 23 f., 94 f., 103, 108 f., 122, 133, 143 f., 204, 241 f., 267, 276, 282, 345 – im Verhältnis zu amicitia 103, 108, 122, 133, 242, 267 Pindar 111, 312 Plautus 16, 51, 57–59, 68, 123 f., 233 Plinius der Jüngere 42 f., 103, 121 f., 140, 176, 352, 355 – Brieftopik 28, 116, 120, 354 – Schweigen im Brief Podalirius 137, 319 poeta exul 43, 130–133, 135 f., 138 f., 142– 145, 156, 221, 231, 236–238, 242–244, 254, 257, 262, 270, 272–274, 277, 297, 300, 311 f., 319, s. Ovid Polyneikes 79 f. – Rolle bei Ausonius 79 f. – und Paulinus 80–81 Pompeius Magnus, Gnaeus 59 f., 83 f. Prätext 6, 31, 34, 43, 51, 73–77, 79, 82 f., 86–90, 104, 113, 118, 125, 127 f., 143, 174, 183, 195, 232, 234, 237, 241, 244, 247 f., 253 f., 260–263, 266, 268, 271, 274–278, 283, 288, 303–305, 307, 309, 311, 313, 318, 322, 324, 328, 337 f., 341 f., 345, s. auch Intertextualität und Reminiszenz

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Namen- und Sachregister

Praetextatus, Vettius 52 f., 55, 60, 344 – Anhänger des Staatskultes 52 – Figur bei Macrobius 52 f., 55 Priamel als literarisches Mittel 104 f., 144 f., 260 f., 283 Prinzenerzieher 11, 262, 272–274 Priscillianer 98, 116 und Paulinus 98, 116 Probus, Sextus Petronius (praefectus praetorio, Adressat in den Briefen des Ausonius) 198, 201, 215 f., 218, 220 f., 233 Prokne 316, 321–324, 333, s. auch Itys, Philomela, Tereus – und Tereus 316, 321–324, 333 – und Philomela 316, 321–324, 333 – und Therasia 323 f. Properz 51, 82 f., 87, 89, 231, 347 Proteus 293, 295, 297 f., 347 Protrepticus 56–58, 60, 200, 203, 216, 218 Prudentius 30, 45, 49, 60, 76, 90, 187, 310, 350, 352 Psychagogie 51 puella 83, 86, 90, 126, 265, 288, 317–319, 321, 339, 340, 443 – Verhältnis zum maritus und custos bei Ovid 317 f. – Verhältnis zur Amme 265 – Rollenspiel: Ausonius, Paulinus und Therasia 339 Pythagoras, Pythagoreer, Pythagoreismus 95, 106–108, 354 – Pythagoras als Gegenbild zu Christus – Pythagoreer in der Spätantike – reader-response-criticism 33–35, 64– 66 – Fish, Stanley 33, 35, 66, 349 Realität 5, 13, 17, 39 f., 42–44, 64, 76 f., 86, 121–123, 128, 131 f., 139, 146, 212, 275, s. Fiktion Redactor, Redaktor 6, 47, 149, 155–159, 161, 163, 175, 177, 179 f., 184, 197, s. Textkritik reditus amantis 23, 141, 194 – bei Ovid – bei Ausonius Reminiszenzen 5–7, 34, 49–60, 76 f., 81, 86– 88, 90, 104, 115, 133, 144 f., 147, 189, 241, 244, 254 f., 259–264, 271 f., 274, 278, 283, 288–290, 302, 305, 311–313, 324, 341 f., 344, 351, s. auch Intertextualität

– Theorie der Reminiszenz 43–45, 86– 88 – Funktion der Reminiszenz bei Ausonius 66–90 – Funktion der Reminiszenz bei Paulinus 244–255 Rhetor 11, 13, 17, 24, 26 f., 29, 35, 38, 55, 58, 65, 68, 101, 127, 163, 198, 201 f., 215, 217, 233, 250, 285, 292, 345 – Funktion, s. auch Schulwesen Rhetorenschulen 11, 12, 17 f., 57, 67, 217, 231 – von Bordeaux 11 f., 17 – von Toulouse 11 Ringkomposition 6, 105, 171, 177, 255–258, 341 Rufinus, Briefpartner des Paulinus 20, 259, 264, 270 f. Rusticus 53, 329 Rutilius Namatianus 113 Sabina, Attusia Lucana 12, 232 – Frau des Ausonius 12, 232 – Spiel mit dem Namen 232 Sallust 55, 57–60, 218, 287 Salymer 111 Sannazaro, Jacopo 150 Satire, satirisches Schreiben 43, 67, 86, 118 f., 123, 143, 155, 163, 203, 345 Saturnalien 52, 55, 214, 346, 348, 355 – Werk des Macrobius 52, 55, 346, 348, 355 Satyr 143, 284 Scaliger, Joseph Justus 148, 156 f., 204–206, 212, 223, 354 Scham 50, 68, 82, 93, 97, 105, 116, 119, 125, 143, 145, 237, 265–267, 270, 300, 302, 304, 314–316, 321 f., 325, 330, 334–337 Schreiber und Scriba, s. Textkritik Schulwesen 55 Elementarunterricht 55 Grammatikunterricht 18 Grammaticus 12, 55, 58, 198 Rhetor 11, 13, 17, 24, 26 f., 29, 35, 38, 55, 58, 65, 68, 101, 127, 163, 198, 201 f., 215, 217, 233, 250, 285, 292, 345 Secessus in villam 101, 103, s. auch otium Sedulius 49, 150 sermo rusticus 329 Sertorius 59 f., 84, 94 f., 109, 275 Servius Tullius 118

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Namen- und Sachregister Sicoris 84 f., 95 – bei Lucan 84 f. – bei Ausonius 85 Sibylle 73, 226 – und Constantia und Gratian 73 – Orakel 226 Sigalion 92 f., 105, 107 f., 164, 260, 301, s. auch Hapax legomenon, Neologismus Silius Italicus 51 – Rezeption bei Ausonius Silvester I. 280 Simo 252, 254 Singular, kollektiver Singular 212, 223–234, s. Numeralia Siricius 22 – Bischof von Rom 22 – Fürsprecher der christlichen Senatspartei 22 – Gegenspieler des Paulinus 22 Skytale 97, 220, 317 Sophistik 107, s. Zweite Sophistik Spanien 19 f., 23, 81, 84 f., 99, 102 f., 109, 141, 160, 205 f., 257 f., s. Hispania Tarraconensis Sparta, Spartaner 93, 95, 97 Sprachlosigkeit 7, 262, 264–282, 300–302, 304, 311 f. Statius 51, 55, 79, 87, 89, 195, 218, 259, 348 Stomachion 70, s. Cento nuptialis Sueton 161, 238 Syrisca 171 Sulpicius Severus 20–22, 28, 100 f., 161, 219 f., 253, 328 – Asket 20 – Brieffreund des Paulinus 101, 161, 219 f. Szenerie 104, 110, 144, 166 f., 173 f., 189, s. Bukolik Tanaquil 96 f., 117–119, 268, 313, 315, 317 f., 324, s. auch Therasia – Rolle bei Livius 117–119 – Rolle bei Iuvenal 118 f. – und Therasia 117, 119, 313, 317 f., 324 – und Paulinus 118 f. – als femme fatale 119 – und Astrologie 118 f. Tarquinius Priscus 117 Tatian 114 Terentius Scaurus 233

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Terenz 16, 51, 54 f., 57–60, 233, 250 f., 253, 345, 352 – Rezeption bei Paulinus 249–255 Tereus 7, 316, 320–324, 333, s. auch Philomela, Prokne – und Philomela 321–325 – und Prokne 316, 321–324, 333 – und Paulinus und Therasia 322–324 Tetradius (Satiriker, Adressat in den Briefgedichten des Ausonius) 198, 201 Textkritik – Archetypus, Hyparchetypus 47, 154, 162 f., 165, 175, 177, 179, 185, 193 – Interpolation 6, 47, 91, 149, 152, 154, 179–187, 194, 197 – Autorenvariante 6, 47, 91, 149, 152, 154, 179–185, 194, 177 – Urvariante bei Ausonius 180, 351 – Bindefehler 6, 47, 149, 165 f., 168, 170–196 – Doppeledition 152 f., 257 – Konjektur 26, 29, 47, 157 f., 163–165, 193, 196 – Umstellung 47, 104, 166, 168 f., 171, 173–176, 179 f., 196 – Versverschiebung 175 – Co-Autor 184 – Redactor/ Redaktor 6, 47, 149, 155– 159, 161, 163, 175, 177, 179 f., 184, 197 Theodolf von Orleans 150 Theodosius 14, 52, 56, 61, 114, 219 f. Theon (Landbesitzer, Adressat in den Briefgedichten des Ausonius) 38, 153, 163, 198–201, 203 Therasia 19 f., 22, 100, 102, 117, 119, 313, 317 f., 323 f., 339, 343 – Leben 19 f. – Frau des Paulinus 20 – im Werk des Ausonius 118 f. – quaesitor und proditor 117, 119, 268, 314, 317 f., 324 Tanaquil 117, 119, 313, 317 f., 324 – femme fatale 119 – und Prokne 323 f. Theseus 163–165, 264, 266, 319 Thyestes 83, 85, 89 Tiberius 271–273 Tibull 51 Tiro 120 Tituli 6, 47, 49, 149, 154–165 – Brieftituli 6, 49, 149, 154–165

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Namen- und Sachregister

– als textkritisches Argument 154–165 Tityrus 110, 172, 174, 328, s. Meliboeus Tod des Autors 34, s. auch Literaturtheorie Tomis 145, 270 f. Tradition 5, 14, 17, 24 f., 27, 30, 33–35, 40, 43 f., 46, 56–58, 60–63, 66 f., 86 f., 102, 120 f., 128, 141 f., 146 f., 151, 208, 232, 241, 249, 269, 280, 317, 330, 341, 345, 350, 353 – literarische 33, 35, 43 f., 46, 57 Trier 4, 12 f., 18, 29, 48, 65, 122, 124, 156, 162, 268, 349, 354 – Kaiserresidenz 12 Trinität 225–229 – Homousion 226 f. – bei Paulinus 227 Tristia, Tristien, Epistulae ex Ponto 133, 139–141, 231, 233 f., 236, 272, 350, s. Exildichtung Triumphzug 271 Troja 73 f., 106, 127, 130, 155, 246 f., 250, 276 f. Turnus 75, 92, 250, 276, 279–282, 301 Tydeus 80 f., 86 Überlieferung, handschriftliche Überlieferungsgeschichte s. Ausonius, Briefwechsel Überlieferungsgeschichte 9, 25, 47, 196, s. Ausonius, Briefwechsel Umstellung 47, 104, 166, 168 f., 171, 173– 176, 179 f., 196, s. Textkritik Ursulus (Grammaticus) 162, 198, 201 Urvariante 180, 351, s. Textkritik usus iustus 250, s. auch Intertextualität Valentinian I. 192

12, 18, 67–69, 76, 122, 124,

Varro, Marcus Terentius 53 f. 284, 354 Venantius Fortunatus 177–179, 196 – bei Paulinus Venus 68, 80, 103, 250 f., 254, 294 f., 336 – und Aeneas 250 f., 254 – Gegenbild zum christlichen Gott 251 Vergil 6, 12, 16, 41, 43, 45 f., 48 f., 51 f., 54 f., 57–61, 65–77, 79, 86, 88–90, 93, 111, 115, 130, 142, 171–174, 176 f., 183, 185 f., 195, 216, 230, 232 f., 236, 238, 240, 242, 244– 256, 258–262, 274, 276–280, 282 f., 289 f., 295–297, 311 f., 338 f., 341, 345–347, 349 f., 352–354, 356 – Bedeutung für und Rezeption durch Ausonius – Eklogen 172 – Georgica 79, 87, 176, 195, 216, 260– 262, 290, 293, 295, 311 f., 347, 352 f. – Aeneis 44, 48, 52, 72–76, 130, 137, 171, 176, 195, 246 f., 250, 253, 255, 257, 260–262, 275, 279 f., 282 f., 311, 342 – Lehrdichter 48, 79, 176, 216 Verrat 23, 48, 56 f., 97, 100, 111, 113, 116 f., 119, 133, 141, 194, 236 f., 244, 248, 267 f., 272, 275, 277 f., 300, 303, 324 f., 317, 325, 331, 335, s. Furcht Verschiebung 104, 169, 171, 175, 177, s. Textkritik Versverschiebung virgo 316, 329–331, 333–337, s. Cydippe Wertesystem 55 Wachs 269, 336 f., s. Beschreibstoffe Wolf 275–280 Zweite Sophistik 107

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Aristeinetos 1,10: 330 Ambrosius Epist. 27 (58),12: 328 27 (58),3: 22 Ammianus 21,15,6: 67 29,6,7: 67 Arnobius adv. gentes 1,58–59: 329 Augustinus ord. 3,9: 54 ord. 4,10: 54 conf. 1,17: 67 conf. 3,5: 329 conf. 9,3,15: 101 civ. 7,26,23–30: 310 epist. 26: 54 epist. 26,5: 54 op. monach. 28,63: 114 in Joh. Tract. 7,6: 310 Ausonius 1 (praefationes) 1,1–5: 154 1,1,1–8: 1,4,1–3: 88 1,4,1–6: 214 2 (Ephemeris) 2,3: 15 2,8,11–14: 288 2,8,12–14: 169 3 (Carmen ad patrem de suscepto filio) 3: 203 4 (Versus paschales) 4: 13,15 5 (Epicedion) 5: 154 5 (a) 12–14: 287 6 (De herediolo) 6: 155 6,21–32: 178 7 (Pater ad filium)

7: 18,156 7,1–3: 158 7,2: 158 7,4–13: 156,162,163,203 8 (Protrepticus ad nepotem) 8 (a) 1–2: 216 8 (b) 38–44; 45–50; 51–56: 57 8 (b) 45–47: 218 8 (b) 48: 58 8 (b) 56–65; 66–95: 58 8 (b) 58–59: 58 8 (b) 89–93: 58 8 (b) 93–100: 58 9 (Genethliacon) 9,4: 259 11 (Commemoratio professorum Burdigalensium) 11: 13 11,1,7: 109 11,6,50–54: 88,146 11,20,6–7: 192 12 (Epitaphia heroum) 12: 13 13 (Epigrammata) 13,2,7–8: 78 13,11,1–8: 286 [13] 27,1–4 (ed. Kay): 232 16 (Mosella) 16: 13 16,189–199: 285 16,293–297: 286 16,414–415: 159 17 (Bissula) 17 (a) 1–6: 146 18 (Cento nuptialis) 18: 13 18 (a) 1–3: 68 18 (a) 4–5: 69 18 (a) 4–9: 68 18 (a) 12–21: 69 18 (a) 21: 157, 164 18 (a) 21–24: 157 18 (a) 39–51: 70

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Stellenregister

18 (a) 52–57: 70 18 (b) 1–11: 41 18 (b) 4–9: 192 18 (b) 46–50: 75 18 (b) 94–100: 75 18 (b) 101–131: 72 18 (b) 110–119: 71 18 (b) 113: 72 18 (c): 72 18 (c) 113–119: 67 18 (e) 1–11: 41 19 (Cupido cruciatus) 19 (b) 1–12: 173 19 (b) 53: 65 19 (b) 29–31: 288 21 (Gratiarum actio) 21,2,7–10: 273 21,8,36: 287 24 (Ordo urbium nobilium) 24: 13 24,61–63: 192 25 (Technopaegnion) 25,14,5: 106 27 (Epistulae) 27,1: 200 27,2: 163,199 27,3: 200 27,4,19–26: 285 27,4,29–34: 103 27,6: 162 27,7: 200 27,9: 200 27,9 (a) 6–11, 11–17: 215 27,9 (b) 1–3: 215 27,10: 162 27,10,1–6: 162 27,11: 162 27,12: 199 27,12,19–22: 230 27,12,19–26: 56 27,12,25–26: 108 27,12,35–39: 56 27,13: 163, 199, 200 27,13,40: 196 27,14;15;16: 199 27,17: 20, 146, 161 27,17,5–6: 238 27,17,29–38: 83 27,18: 40, 83, 146, 162, 239, 241 27,18,7–12: 239, 241 27,19: 105, 146, 162, 239

27,19 (a) 5–8: 239 27,19 (a) 14–24: 83 27,19 (b) 1–7: 239 27,19 (b) 14–18: 206 27,19 (b) 14–23: 239 27,19 (b) 16–17: 205 27,19 (b) 23–28: 239 27,20: 146,162 27,21–24 27,21: 11, 92, 103–114, 111, 115, 148, 159, 162 27,21,1: 115, 144, 158, 159, 206, 223, 266 27,21,1–2: 115, 148, 206 27,21,1–6: 90, 103, 115, 143 27,21,3: 144 27,21,3–4: 216 27,21,5: 221 27,21,6: 144 27,21,7: 259 27,21,7–8: 270, 283 27,21,7–15: 104 27,21,7–25: 166, 259 27,21,8: 275 27,21,9: 48, 311 27,21,9–10: 189, 284, 302 27,21,9–16: 144 27,21,10: 90, 283 27,21,11–25: 167 27,21,12: 111, 172, 182 27,21,12–13: 171–174 27,21,16: 144, 165–171, 179, 197 27,21,16–22: 305 27,21,17–25: 104 27,21,19: 186 27,21,26: 116 27,21,26–28: 144, 301 27,21,26–31: 104 27,21,26–47: 314 27,21,27: 164 27,21,28–31: 267, 300 27,21,32–35: 218 27,21,32–47: 314 27,21,36–43: 106 27,21,44: 106 27,21,50: 109, 145, 249, 301, 302 27,21,51–52: 187 27,21,51–55: 84 27,21,51–61: 275 27,21,51–59: 109 27,21,56–59: 84, 145 27,21,60–61: 19

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Stellenregister 27,21,62: 109 27,21,62–68: 187, 315 27,,21,63–68: 110, 241 27,21,66–68: 285 27,21,67–68: 110, Anm. 256, 188 27,21,71: 298 27,21,73–74: 242, 244, 283, 292 27,22: 96, 115–120, 158, 159, 160, 204, 205 27,22,1: 206 27,22,1–2: 206 27,22,1–3: 246 27,22,1–7: 314 27,22,4–5: 302 27,22,6–12: 300 27,22,8–12: 314 27,22,12: 321 27,22,13–15: 321 27,22,13–31: 315 27,22,15–16: 178 27,22,16–17: 330, 336 27,22,17: 332 27,22,18–20: 325 27,22,23–25: 220 27,22,28–29: 87 27,22,28–33: 268 27,22,31: 324 27,22,31–35: 205, 236 27,22,33–35: 18, 109, 243 27,22,34: 19 27,22,35: 18 27,23: 11, 177, 181, 182, 204, 256, 257 27,23,19–22; 29; 43–44: 181 27,23/24: 180–182 27,24: 11, 23, 36, 46, 150, 181, 187, 190, 204, 208 27,24,1: 18 27,24,1–26: 23 27,24,8–9: 18 27,24,19–26: 77–78 27,24,20–26: 88 27,24,21–22: 79 27,24,38–39: 23 27,24,43–58: 190, 193 27,24,59–61: 193 27,24,59–94: 109, 191 27,24,59–124: 193 27,24,95–101: 23, 190 27,24,95–114: 181 27,24,95–124: 159 27,42,101: 181, 184 27,24,102–103: 193

27,24,102–132: 208 27,24,102–114: 141 27,24,103–124: 23 27,24,104–105: 17 27,24,104–106: 194 27,24,105: 194 27,24,115: 197 27,24,115–116: 194 27,24,115–118: 17 27,24,124: 88, 142 Apuleius met. 8,30: 170 Bibel Mt 19,20: 22 Catullus 3,1–4: 90, 288 14,12–15: 214 63,1–2: 307 63,1–5: 309 63,1–11: 306 63,19–21: 170 63,19–26: 306 63,20: 259 63,27: 309 63,27–36: 307 63,50–60: 308 63,61–72: 308 63,73: 308 63,78–90: 309 63,91–93: 310 65: 332,335 65,10–14: 333 65,15–24: 332 66: 332 Cicero S. Rosc. 13,37: 122 Verr. 2,5,171: 289 Arch. 12–18: 291 Arch. 14: 292 Arch. 19: 259, 289, 291, 311 har. resp. 11–12: 170 Tusc. 3,58–64: 112 Tim. 1: 108 Lael. 91–92: 108 Att. 1,5,8: 218 Att. 9,10,1: 107 Att. 12,53: 107 fam. 15,16,1: 103, 105 fam. 16,26: 103 fam. 16,25: 121 Limon frg. II (ed. Morel): 59

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Claudian carm. 18,371–373: 195 carm. min. 41,3: 105 Codex Theodosianus 12,6,3: 52 16,1,2: 14 16,3,1: 114 Copa 5–12: 172 Curtius 3,10,2: 298 Euripides Alc. 357–362: 312 B. TGF fr. 285–315: 112 Bacch. 560–564: 290 Hipp. I: 264 Hipp. 724–731: 266 Iph. A. 1211–1214: 290 Fronto 1,6,9: 242 Gellius 1,24,3: 58 9,10: 68 17,9,6–15: 317 Gregor der Große Dial. 1,7: 280 Epist. 1,24: 280 Gregor von Tours glor. mart. 108: 161 Hieronymus epist. 8,2: 158 epist. 66,6: 15 epist. 125,16: 123 Homer Il. 6,35: 331 Il. 6,155–205: 111 Il. 6,196–205: 112, 113 Schol. Ven. A ad Il. 6,35: 331 Horaz a. p. 1–9: 69 a. p. 125–135; 135–139; 263–274: 49–51 a. p. 383–390: 69 carm. 2,16,27–28: 146 carm. 3,3,1: 146 carm. 4,10,6-.8: 192 epod. 10,7–8: 185 epod. 15,21: 106 epist. 1,6,10–14: 188 epist. 1,10,12: 259 epist. 2,1,156–160: 49 epist. 2,1,170–174: 59

Iulius Victor ars. rhet. 448: 211 Iuvenal 6,565–568: 119 6,569–584: 119 Laktanz Pros. Pers. 48,2–12: 14 Liber pontificalis 314: 280 Livius 1,34: 118 1,34,4–35,6: 117 1,40,1–41,7: 118 Lucan 1,611–615: 279 2,544–549: 59 4,48–109; 110–166; 254–343: 84–85 4,58: 89 8,446: 78 Lukrez 3,1–13; 240–241 4,568–579: 284–287 4,571: 287 4,578–579: 286 5,491–492: 186 5,1380–1387: 327 5,1384–1398: 241 6,387–388: 186 Macrobius Sat. 1,4,2–3: 52 Sat. 1,4,4: 53 Sat. 1,5,2: 53 Sat. 1,5,4–10: 53 Martial 1,48: 222 3,2,1–5: 214 10,10,3: 84, 109 Minucius Felix 22,4: 310 24,11: 310 Ovid am. 1,11: 181, 336, 337 am. 1,11,1–28: 336 am. 1,12,1–2: 336 am. 1,12,21: 337 am. 1,12,21–22: 336 am. 1,12,29–30: 337 am. 2,5,29–34: 125 am. 2,5,35–37: 125 am. 2,6,1–2: 90; 288 am. 2,17,29–33: 135

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Stellenregister ars 1,271–274: 135 ars 2,113–116; 119–128: 126 ars 2,139–144: 127 ars 2,153–154: 125 ars 3,318: 216 ars 3,611–612: 317, 318 ars 3,617–630: 317, 318 Epist. 3: 331 Epist. 4: 129; 164 Epist. 4,1–2: 265, 266 Εpist. 4,1–12: 265 Epist. 4,3: 266 Εpist. 4,5–6: 264 Epist. 4,6: 259 Epist. 4,7–8: 266 Epist. 4,9–14: 267 Εpist. 17,245–246: 129; 130 Epist. 20/21: 316, 329 Epist. 20,11–14: 330 Epist. 20,203–214: 333 Epist. 21,105–116: 330 Epist. 21,243–244: 334 Epist. 21,243–246: 337 met. 1,299: 105 met. 3,356–358: 288 met. 3,357–358: 189, 259 met. 3,198–206: 299, 300 met. 3,203: 302 met. 3,209–212: 298 met. 3,213: 259 met. 3,225–229: 299, 300 met. 3,229–231; 236–245: 301 met. 3,356–358: 302, 303 met. 3,370–378: 189, 303 met. 3,393–401: 303 met. 3,393–403: 189, 303 met. 9,574–575: 269 met. 9,692: 105 met. 10,84–154: 290 met. 12,56–58: 195 met. 14,739: 259 met. 15,60: 108 met. 15,160–164: 106 trist. 1,1,1–10: 222 trist. 1,1,15–26: 319 trist. 1,2: 131 trist. 1,3: 140 trist. 1,4: 140 trist. 1,5: 133 trist. 1,8: 133 trist. 2,469–492: 142

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trist. 2,493–496: 142 trist. 2,497–514: 143 trist. 2,515–516: 143 trist. 3,7: 236, 239, 241, 253, 256 trist. 3,7,1–2: 239 trist. 3,7,11–18: 237 trist. 3,7,21–22: 237 trist. 3,7,23–26: 237 trist. 3,7,29–32: 236 trist. 3,7,32: 242 trist. 4,5: 133 trist. 4,7: 133–139, 145 trist. 4,7,1–8: 255 trist. 4,7,1–10; 11–18: 144 trist. 4,7,2–8; 9–12; 12–18; 19–20: 133, 134 trist. 4,7,19–20: 138, 139, 145 trist. 4,7,20: 135 trist. 4,7,21–26: 136, 145 trist. 4,10: 233 trist. 4,10,1–40: 231 trist. 4,10,41–48: 231 trist. 4,10,49–50: 231 trist. 5,6: 133, 136 trist. 5,6,1–6: 137 trist. 5,6,7–8: 137 trist. 5,6,9–14: 137 trist. 5,6,15–18: 137 trist. 5,9: 133 trist. 5,13: 133–137 trist. 5,13,17–19: 134 trist. 5,13,19–24: 135 trist. 5,13,31–34: 136 Pont. 1,3,1: 270 Pont. 2,1,19–52: 272 Pont. 2,13–14: 178 Pont. 3,4: 262, 272, 273, 274 Pont. 3,4,1: 259 Pont. 3,4,1–2: 264, 272 Pont. 3,4,1–4: 270 Pont. 3,4,7–8: 270 Pont. 3,4,17–20: 271 Pont. 3,4,51–56: 271 Pont. 3,4,87–114: 271 Pont. 3,4,87–108: 273 Pont. 4,3: 133, 138, 139, 140, 236, 244 Pont. 4,3,1–2: 138 Pont. 4,3,5–16: 139 Pont. 4,3,11–22: 146 Pont. 4,3,17–24: 139 Pont. 4,3,27–30: 140 Pont. 4,3,57–58: 140

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Pont. 4,13: 262, 264, 271, 274 Pont. 4,13,1–2: 272 Pont. 4,13,15–16: 273 Pont. 4,13,17–22: 270, 272 Pont. 4,13,20: 259, 264 Pont. 4,13,23–32: 272 Pont. 4,13,43–50: 272 Pont. 4,13,45–48: 270, 273 Pont. 4,13,47–48: 272 Pont. 4,16,7–8: 273 Paulinus von Nola ep. 1,10: 161 ep. 3,4: 99, 161 ep. 5: 100, 328 ep. 5,4: 20, 100, 201 ep. 5,14: 22 ep. 8: 54 ep. 8,1: 242 ep. 8,23–27: 242 ep. 10: 102 ep. 21,3: 227 ep. 24,1: 33 ep. 24,19: 101 ep. 25: 102 ep. 28,6: 219 ep. 32,10: 228 ep. 35: 20 ep. 35,1: 99, 296 ep. 36: 20, 296 ep. 36,1: 99 ep. 37,5: 227 ep. 38,10: 101 ep. 39,6: 228 carm. 6–9: 102 carm. 10: 23, 162, 200, 204, 205 carm. 10,1–8: 148, 210, 211 carm. 10,1–18: 204 carm. 10,3–12: 204 carm. 10,5–8: 221, 222, 224 carm. 10,7–8: 256 carm. 10,19–22: 248 carm. 10,19–102: 23, 29, 191, 204 carm. 10,23–28; 29–32; 33–41: 249, 250, 251 carm. 10,29–30: 191 carm. 10,29–42: 329 carm. 10,33–52: 292 carm. 10,36–40: 292 carm. 10,89–96: 18 carm. 10,93–96: 19 carm. 10,103–331: 204

carm. 10,104; 106; 108; 109: 205 carm. 10,109–115: 195 carm. 10,126–128: 194 carm. 10,128–143: 302 carm. 10,140–143: 191 carm. 10,156; 157; 158; 162; 163: 205 carm. 10,191; 196; 197; 203; 223: 205 carm. 10,260–268: 345 carm. 10,286–292: 81 carm. 10,289–331: 23 carm. 10,221–238: 85 carm. 10,260–268: 143 carm. 11: 24, 36, 182, 205 carm. 11,1–48: 204 carm. 11,49–68: 17, 24 carm. 14,44–115: 21 carm. 18,70: 221 carm. 19: 226 carm. 19,57–152: 226 carm. 19,129–133: 226 carm. 19,148–419: 230 carm. 21: 21 carm. 21,365–399: 98 carm. 21,365–417: 253 carm. 21,367–373; 374–394; 397–398: 18 carm. 21,398–401: 19 carm. 27: 228 carm. 27,250–258: 228 carm. 27,275–277: 229 carm. 27,455–457: 225 carm. 31,599–610: 296 carm. 31,602: 100 carm. 31,607–610: 100 carm. 32,82–93: 310 Petron 131,8: 185 132,11–12: 67 Pindar O. 13: 111 Py. 4,177: 312 Plautus Cist. 536–542: 299 Capt. 80–87: 123 Plinius der Ältere nat. 7,19: 279 nat. 14,128: 176 Plinius der Jüngere epist. 1,9: 102 epist. 1,11: 103, 107, 123 epist. 2,2: 103 epist. 3,17: 103

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Stellenregister epist. 9,100: 107 Properz 2,3,1–8: 82 2,3,17–24: 82 2,3,25–30: 83 2,3,45–50: 81 2,21,1: 103 Prudentius perist. 10,196–200: 310 c. Symm. 2,51–60: 310 Quintilian inst. 2,9,1–2: 241 inst. 5,11: 320 inst. 8,3,75: 289 inst. 10,1,56 Seneca rhetor suas. 3,7: 88 Seneca De otio 1: 102 Thyest 789–881: 86 Thyest. 855–859: 85 Thyest. 858: 89 Servius ecl. 10,1: 293 georg. 4,1: 293 Aen. 4,616–623: 245 Rutilius Namatianus 1,439–452: 114 Sallust Sallust. Hist. Frg. 1,1: 59 Sidonius Carm. 22: 178 Simonides Frg. 43: 312 Silius 14,363–365: 171 14,365: 259 Statius silv. 1,4,26–31: 218 silv. 2,1,48: 259 silv. 4,9,1–6: 214 Theb. 4,309–311: 195 Theb. 4,318–343: 196 Theb. 8,716–766: 80 Theb. 8,735–739: 81 Theb. 8,751–756: 81 Theb. 9,32–74: 80 Theb. 9,75–85: 80 Theb. 9,82: 89 Theb. 9,82–85: 79 Sueton

Vita Terentii 5: 38 Sulpicius Severus Mart. 25,3–5: 38 Symmachus epist. 1,14: 13 epist. 1,33: 123 epist. 1,34: 122, 144 epist. 1,37,2: 108 epist. 4,28: 107 epist. 4,54,1: 158 epist. 5,29: 187 epist. 5,44: 115 epist. 6,49: 116 epist. 7,120: 104 Tacitus Agr. 3,1–2 Terenz Eun. 1024: 54 Andr. 185–193: 251, 252 Theophrast 9,2,5–7: 176 Valerius Flaccus 1,374–376: 164 Varro rust. 3,16,2: 284 Venantius Fortunatus carm. 1,20,7–17: 177 carm. 1,20,13: 169 carm. 1,20,13–14: 178 Vergil ecl. 1: 111 ecl. 1,46–58: 110 ecl. 1,51–58: 172 ecl. 1,53–55: 174 ecl. 1,54: 259 ecl. 1,54–55: 111 ecl. 1,56: 174 ecl. 2,32–33: 327 ecl. 3,83: 67 ecl. 4,58–59: 328 ecl. 6,3–5: 328 ecl. 7,11–13: 172 ecl. 8,22–24: 172, 185, 259 ecl. 8,108: 88 ecl. 10,6: 338 ecl. 10,9–30: 338 ecl. 10,31–49: 338 ecl. 10,34: 338 ecl. 10,52–54: 338 ecl. 10,68: 339 georg. 2,282–283: 276

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georg. 3,10–15: 172 georg. 3,332–333: 79 georg. 3,335: 259 georg. 3,450: 176 georg. 3,356: 89 georg. 3,534–536: 79 georg. 3,536: 79 georg. 4,40–41: 176 georg. 4,49–50: 284 georg. 4,315–558: 293 georg. 4,321–332: 297 georg. 4,333–414: 297 georg. 4,349: 195 georg. 4,396–399: 295 georg. 4,453–527: 311 georg. 4,486–493: 294 georg. 4,499–506: 294 georg. 4,504–505: 312 georg. 4,507–510: 290, 294 georg. 4,509: 259 georg. 4,565–566: 216 Aen. 1,1: 130 Aen. 2,780–782: 247 Aen. 3,4–12: 247 Aen. 3,11–12: 257 Aen. 3,192–202: 137 Aen. 3,192–267: 246 Aen. 3,346–355: 246 Aen. 3,359–368: 246 Aen. 3,395–398: 246 Aen. 3,374–380: 247 Aen. 3,74–462: 255 Aen. 3,397: 247 Aen. 3,513–520: 137 Aen. 3,561–565: 137 Aen. 3,564–567: 171 Aen. 4,607–621: 115, 244 Aen. 4,621: 245 Aen. 4,611–621: 256, 283 Aen. 4,615–620: 283 Aen. 5,12–25: 137 Aen. 5,244–265: 75 Aen. 5,449: 176

Aen. 6,124–125: 217 Aen. 6,125–128: 74 Aen. 6,179–182: 289 Aen. 6,273–240: 73 Aen. 6,469: 67 Aen. 7,435: 217 Aen. 7,563–571: 72 Aen. 9,176–185: 75 Aen. 9,581–589: 75 Aen. 9,667: 259 Aen. 9,740–746 Aen. 10,207–208: 225 Aen. 10,230: 176 Aen. 10,362: 75 Aen. 10,495–502: 281 Aen. 10,818: 76 Aen. 10,875: 54 Aen. 11,36: 75 Aen. 11,122–124: 217 Aen. 11,557–560: 74 Aen. 11,581–584: 74 Aen. 11,590–594: 277 Aen. 11,763: 282 Αen. 11,778–784: 281 Αen. 11,785–793: 276 Αen. 11,792–793: 279 Αen. 11,794–798: 277, 280 Αen. 11,799–804: 74 Αen. 11,806–815: 275 Αen. 11,828–831: 280 Aen. 11,863–866: 277 Aen. 12,229–286: 250 Aen. 12,311–323: 250 Aen. 12,324–382: 250 Aen. 12,384–410: 250 Aen. 12,411–424: 251 Aen. 12,427–431: 251 Aen. 12,466–467: 282 Aen. 12,845–852: 289 Aen. 12,860–868: 279 Aen. 12,938–949: 281 Aen. 12,951–925: 280

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