Aufklärung in Europa 9783412330941, 3412174971, 9783412174972

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Aufklärung in Europa
 9783412330941, 3412174971, 9783412174972

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Europa in der Frühen Neuzeit Festschrift für Günter Mühlpfordt Band 5 Aufklärung in Europa

Europa in der Frühen Neuzeit Festschrift für Günter Mühlpfordt zum 75. Geburtstag herausgegeben von

Erich Donnert Band 5

Europa in der Frühen Neuzeit Festschrift für Günter Mühlpfordt Band 5

Aufklärung in Europa

Herausgegeben von

Erich Donnert

§

1999 Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Europa in der Frühen Neuzeit: Festschrift für Günter Mühlpfordt / hrsg. von Erich Donnert. Köln ; Weimar; Wien : Böhlau Bd: 5. Aufklärung in Europa. -1999 ISBN 3-412-17497-1

Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem Papier hergestellt. © 1999 by Böhlau Verlag G m b H & Cie Köln Alle Rechte vorbehalten

Satz: Graphische Werkstätten Lehne GmbH, Grevenbroich Druck und Verarbeitung: Strauss Offsetdruck GmbH, Mörlenbach Printed in Germany ISBN 3-412-17497-1

Inhaltsverzeichnis

H A N S JOACHIM M E Y E R , D R E S D E N

Z u m Geleit

XI

HANS-JÜRGEN PANDEL, H A L L E

Graßwort

XIII

H E L M U T REINALTER, INNSBRUCK

D i e Aufklärung zwischen Moderne und Postmoderne

1

F R A N K L I N KOPITZSCH, B R E M E N

Aufklärungsgesellschaften in neuen Perspektiven

11

D E T L E F D Ö R I N G , LEIPZIG

Die Leipziger gelehrten Sozietäten in der 1. H ä l f t e des 18. Jahrhunderts und das Auftreten J o h a n n Christoph Gottscheds

17

H O L G E R ZAUNSTÖCK, H A L L E

Die halleschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert. Eine Strukturanalyse

43

ALOYS H E N N I N G , BERLIN

Eine frühe L o g e des 18. Jahrhunderts: Die „Hocherleuchtete Oculisten-Gesellschaft" in Wolfenbüttel

65

P I E R R E - A N D R E B O I S , REIMS

Geheimbünde und Menschenrechte: die deutsche Freimaurerei im 18. Jahrhundert am Scheideweg zwischen Reaktion und Fortschritt

83

W O L F G A N G ALBRECHT, WEIMAR

Illuminatismus redivivus? Revolutionsfeindliche Publizistik Phantasmen

im Bann überkommener

Verschwörungs-

91

P A U L G . K U N T Z , A T L A N T A , GEORGIA/USA

Luther und Bach: Ihre Vertonung der Zehn G e b o t e

99

LARISSA KIRILLINA, M O S K A U

Johann Sebastian Bach und die Musikkultur der Spätaufklärung

117

VI

Inhaltsverzeichnis

STEFAN O E H M I G , BERLIN

Stadt und Säkularisation. Zum Verlauf und zu den Folgen der Aufhebung der Leipziger Klöster

135

HEINER LÜCK, HALLE

Melchior von Osses und Christian Thomasius' Kritik am Gerichtswesen des frühmodernen Staates

187

GERHARD RICHWIEN, H A L L E

„Des Herrn Postmeisters Kunstpalast". Das Portal des Riesenhauses in Halle/Saale - Betrachtungen zur Ikonographie eines Monuments der Aufklärung

199

D E T L E F D Ö R I N G , LEIPZIG

Die res publica litteraria im mitteldeutschen Raum um 1700 im Spiegel ihrer Korrespondenz

221

C O N R A D G R A U , BERLIN

Professor in Halle, Präsident in Berlin. Annäherungen an die Brüder Nikolaus Hieronymus Gundling und Jakob Paul Gundling

241

ERICH DONNERT, H A L L E

Friedrich der Große und die Berliner Academie Royale des Sciences et BellesLettres. Die Geschäftsführung Eulers und die auswärtigen Präsidentschaften d'Alemberts und Condorcets

255

O R C U T T W . FROST, A N C H O R A G E , ALASKA/USA

Georg Wilhelm Steller. Der Naturforscher der Bering-Expedition, 1741-1742

285

URSULA NIGGLI, ZÜRICH

Alexander Gottlieb Baumgarten in neuer Sicht

295

GÜNTER SCHENK, H A L L E

Zum Logikuntericht in pietistisch orientierten deutschen Ländern des 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Elemente. philosophiae rationalis von Johann Christoph Knaus

305

PAUL MITZENHEIM, JENA

Zur Bedeutung des Wirkens von Salzmann in Erfurt für seinen weiteren Entwicklungsweg

335

Inhaltsverzeichnis

VII

PAUL S . SPALDING, JACKSONVILLE, ILLINOIS/USA

Wenn sich Zwei streiten, freut sich der Dritte. Kreative Spannungen in einer Grafschaft des 18. Jahrhunderts

341

M I C H A E L SCHIPPAN, B E R L I N

Die Aufklärung und eine messianische Bewegung in der Mark Brandenburg. Philipp Rosenfeld und die „Rosenfeldianer"

351

H E L M U T B R A U E R , LEIPZIG

Nachdenken über den Bettel um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Ein Beispiel aus Wien

365

ALOYS HENNING, BERLIN

Aufklärung versus absolutistische Raison. Zu J. C. W. Moehsens Sendschreiben an einen... La Mettries Lettre... A Emanuel Koniq

Cbirurgum von 1748 und J. O. de

391

W O L F R A M KAISER, H A L L E

Das hallesche Collegium clinicum und seine Ausstrahlung auf die medizinischen Unterrichtsformen im 18. Jahrhundert

419

ARINA VÖLKER, HALLE

Die Wundarzneikunst in der Aufklärungsmedizin des 18. Jahrhunderts

433

IRENA STASIEWICZ-JASIUKOWA, WARSCHAU

Christian Wolff, die Wolffianer und der Katholizismus im Polen der Aufklärung

445

MICHAEL G . MÜLLER, HALLE

Die polnische „Dissidenten-Frage" im 18. Jahrhundert. Anmerkungen zum Verhältnis von religiöser Toleranz und Politik in PolenLitauen im Zeitalter der Aufklärung

455

GABRIELA L E H M A N N - C A R L I , HALLE/POTSDAM

Rhetorik im Kontext der Aufklärung in Rußland

463

A R V O T E R I N G , TARTU

Est-, Liv- und Kurländer an auswärtigen Gymnasien und Pädagogien im 17. und 18. Jahrhundert

473

PAUL MITZENHEIM, J E N A

Herder und Riga

495

VIII

Inhaltsverzeichnis

GERT RÖBEL, MÜNCHEN

Die Gesandtschaft von Guarient. Aus Anlaß ihrer 300-jährigen Wiederkehr

505

R O G E R BARTLETT, L O N D O N

Aufklärung, Adel und Gesellschaft in Rußland

521

ERICH DONNERT, H A L L E

Schul- und Bildungswesen in Rußland im 18. Jahrhundert

531

G A L I N A I . SMAGINA, ST. PETERSBURG

Der Beitrag der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg zur Entwicklung des russischen Büdungswesens im 18. Jahrhundert

541

E N G E L ' P . KARPEEV, ST. PETERSBURG

Ecce homo. Lomonosov - psychologisch gesehen

547

ERICH DONNERT, H A L L E

Katharina II. als aufgeklärte Reformerin und Rußlands Aufstieg zur europäischen Großmacht

559

D A N I E L VESELY, BRATISLAVA

Das Wiederaufleben des Protestantismus in der Slowakei zur Zeit der Aufklärung

575

J O H A N N E S IRMSCHER, B E R L I N

Alexandros Mavrokordatos, griechischer Gelehrter und türkischer Diplomat . . .

589

ERHARD HIRSCH, H A L L E

„Krön" zeugen. Dessau-Wörlitz und die aufgeklärte Geschmacksrevolution. „Landwirtschaft und Gärtnerei daselbst galten für Schulen in diesen Fächern" . . .

593

H E L G A E . LÜHMANN-FRESTER, HOYA

Johann Beckmann und August Ludwig Schlözer. Episoden aus ihrem Leben und Wirken

615

HANS-WERNER ENGELS, HAMBURG

Zu Leben und Werk von Johann Friedrich Ernst Albrecht (1752-1814) WALTER G R A B , T E L

645

Aviv

Reflexionen eines Jakobinerforschers über die Zusammenhänge von technischer Revolution und gesellschaftlich-politischem Wandel zur Gleichberechtigung . . .

681

Inhaltsverzeichnis

IX

LARISSA KIRILLINA, M O S K A U

Johann Georg Sulzers „Allgemeine Theorie der Schönen Künste" und Ludwig van Beethovens ästhetische Anschauungen

687

PETER K U N Z E , B A U T Z E N

Die Bemühungen der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz bei der Herausgabe sorbischer Volkslieder

695

ANNEMARIE HAASE, A A C H E N

Hallesche Neuanfänge bei der Erforschung der Aufklärung im östlichen Europa

707

PETER H O F F M A N N , N A S S E N H E I D E

Berliner Neuanfänge in Lehre und Forschung zur Osteuropäischen Geschichte

.

715

U L R I C H N E U H Ä U S S E R - W E S P Y , N E U N K I R C H E N AM B R A N D

Günter Mühlpfordt und die Gleichschaltung der DDR-Geschichtswissenschaft in den fünfziger Jahren

721

DIETRICH GRILLE, ERLANGEN-NÜRNBERG

U p ewig ungedeelt - Einheit im Widerstreit. Der X I I . Internationale Historiker-Kongreß 1965 und die verhinderte Teilnahme von Günter Mühlpfordt

745

HARTMUT BOOCKMANN ( F ) , GÖTTINGEN

Der Historiker Günter Mühlpfordt

771

MARGARETE W E I N , H A L L E

Der „Fall Mühlpfordt" 1947-1989 und Ulbrichts Verfolgungskampagne an der Universität Halle. Mit Exkurs: Lehren der Geschichte - Zur Lage nach den Wahlen 1998

777

Autorenverzeichnis

821

Zum Geleit Wer glaubt, die Gesetze der Geschichte zu kennen und in seinem Handeln zu verwirklichen, kann in der Geschichtswissenschaft nur seine Magd sehen. Und wer meint, seine Auffassung verkörpere den nicht zu übertreffenden Gipfel der Wissenschaftlichkeit, hat keinen Sinn für die Freiheit der Wissenschaft. So war der Konflikt zwischen einer Herrschaftsordnung, deren Repräsentanten solche ideologischen Ansprüche erhoben, und dem Historiker Günter Mühlpfordt, dessen Werk dem Streben nach Einsicht und Erkenntnis verpflichtet ist, unvermeidlich. Es hat nicht viele solcher Konflikte in der Geschichtswissenschaft während der vierzigjährigen Geschichte der DDR gegeben. Die meisten, die sich dem System nicht andienen wollten, verließen - so lange das noch möglich war - dessen Machtbereich oder wandten sich ideologiefernen Arbeitsgebieten zu. Zu viele gaben der Versuchung nach und suchten im reichen Geschehen der Vergangenheit nicht nach der präzisen Beschreibung des Faktums und seiner Gründe und Zusammenhänge, sondern nach Beispielen und Illustrationen für gegenwärtig Gefälliges und Erwünschtes. Sie wußten in ihrer Arbeit schon vorher, wohin ihr Weg führen würde, weil sie sich dessen Ziel und Richtung von Politik und Ideologie vorgeben ließen. Günter Mühlpfordt kann keiner dieser Gruppen zugeordnet werden. Als er 1958 zum Mittelpunkt einer Kampagne gemacht wurde, deren Zweck es war, die Wissenschaft in der DDR dem Kommando des Marxismus-Leninismus zu unterwerfen, und er dabei seine Professur verlor, hätte er noch in die Bundesrepublik gehen können. Schon vorher war ihm genug angetan worden, um dort Anspruch auf besondere Förderung als politischer Flüchtling zu begründen. Günter Mühlpfordt blieb und widmete sich als Privatgelehrter ganz den historischen Studien. Nur wer die DDR kennt, in der eine solche Existenz eigentlich nicht vorgesehen war, kann auch nur annähernd ermessen, was dies im täglichen Leben bedeutete: Gesellschaftliche Nichtachtung und Rücknahme der persönlichen Bedürfnisse auf das Unerläßliche. Und dies ohne Aussicht auf Änderung. Mit Heinrich Heine hätte er sagen können: „Ich kämpfte ohne Hoffnung, daß ich siege." U m so mehr muß es alle, die vor diesem Leben mit Respekt stehen, freuen, daß Günter Mühlpfordt mit der revolutionären Wende endlich die längst verdiente Anerkennung seines der Wahrheit und nur der Wahrheit verpflichteten wissenschaftlichen Werkes erleben kann. Es ist mir eine große Ehre, diese Worte dem 5. Band ihm gewidmeter Arbeiten voranstellen zu dürfen. Mögen diese wissenschaftlichen Werke nicht nur historische Erkenntnis vermitteln, sondern auch Achtung begründen vor der Haltung, die dieses Leben stets geprägt hat. Denn die Grundhaltung dieses Lebens zeugt von den Werten, auf denen sich unser gesellschaftliches Zusammenleben gründen muß, wenn es von menschlichem Anstand, von der Achtung der Freiheit und vom Streben nach Wahrheit bestimmt sein soll.

-jüC-J-

y^y.

Prof. Dr. Hans Joachim Meyer Sächsischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst

HANS-JÜRGEN PANDEL, H A L L E

Grußwort Sehr geehrter Herr Kollege Mühlpfordt, meine sehr verehrten Damen und Herren, als geschäftsführender Direktor möchte ich Sie herzlich im Namen des Instituts für Geschichte zu unserem Kolloquium „Europa in der frühen Neuzeit" begrüßen. Meinen besonderen Dank möchte ich den Gästen aus den deutschen und ausländischen Universitäten abstatten, die unserer Einladung gefolgt sind. Sie ehren durch Ihre Anwesenheit in der Person von Günter Mühlpfordt nicht nur einen hochverdienten Wissenschaftler, sondern auch das Schicksal einer Persönlichkeit, die Verhältnissen standhielt, die die meisten von uns nie erleben mußten. 1) Ich lerne Herrn Kollegen Mühlpfordt heute zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht kennen. Meines Wissens bin ich ihm bisher niemals begegnet. Dennoch ist er mir nicht fremd, - im Gegenteil. Er ist mir seit langen Jahren ein enger Vertrauter. Aus meinen Forschungen zur Aufklärungshistorie ist er nicht wegzudenken. Seit den späten 70er Jahren ging ich mit ihm um, als wenn er in meinen Seminaren an der Universität Osnabrück leibhaftig anwesend gewesen wäre. Formulierungen wie „Mühlpfordt sagt", „Mühlpfordt sieht das aber anders" oder „Mühlpfordt hat dazu aber diese Quellen benutzt" waren ständige Redensarten in meinen Seminaren. Günter Mühlpfordt hat gezeigt, daß Aufklärer wie Johann Christoph Adelung und Karl Friedrich Bahrdt sowie August Ludwig Schlözer und Karl Hagen mehr waren, als Namen in der Vorgeschichte einer Disziplin, über die die Geschichte von Sprachwissenschaft, Pädagogik und Geschichtswissenschaft hinweggegangen ist. Am Beispiel von Bahrdt hat er mir gezeigt, daß diese facettenreiche Person nicht allein ein kurioser Tupfer in einem Kompendium der Geschichte der Erziehungswissenschaften ist. Günter Mühlpfordt verdanke ich die Einsicht, daß diese Aufklärer einer ernsthaften, quellengestützten Forschung würdig sind. 2) Nicht nur in den Bereich der Forschung, sondern auch in den Bereich der Forschungsinstitutionen gehört der Name Günter Mühlpfordt. Die hallischen Universitätsinstitute für Geschichte werden demnächst 125 Jahre alt - wann genau wissen wir im Moment nicht so richtig. Ihre Geschichte beginnt mit dem Historischen Institut von Gustav Droysen und Heinrich Dümmler. In diese Tradition gehört auch das von Günter Mühlpfordt aufgebaute Universitätsinstitut für Osteuropäische Geschichte. In der noch zu schreibenden Geschichte der historischen Universitätsinstitute wird das von Günter Mühlpfordt aufgebaute Institut für Osteuropäische Geschichte einen hervorragenden Platz einnehmen. Daß die von ihm begründete Tradition der Forschung in dem wiedergegründeten Institut für Geschichte weiterlebt, dafür ist das heutige Kolloquium der beste Beweis. An ihm nehmen mit dem Kollegen Erich Donnert der letzte Lehrstuhlvertreter der alten Institution und mit Kollegen Michael G . Müller der Lehrstuhlvertreter für Osteuropäische Geschichte des neuen, wiedergegründeten Instituts teil. Beide gehören zu den Initiatoren dieses Ehrenkolloquiums. Das von Ihnen, Herr Mühlpfordt, aufgebaute Institut für Osteuropäische Geschichte gehört gewissermaßen zur zweiten Phase der Gründung historischer Institute. Die erste Phase wurde durch die persönlichen Seminare eines Leopold Ranke und eines Johann Gustav Droysen begründet. Das hallische Institut von Dümmler und Gustav Droysen war

XIV

Grußwort

das letzte in dieser Reihe. Die zweite Generation der Institute begann, nach den ersten Diskussionen in den 20er Jahren, erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die als Ausbildungsinstitutionen gegründeten historischen Seminare nahmen jetzt den Charakter von Forschungsinstituten an. In einer Geschichte der historischen Ausbildungsinstitutionen Halles gehört dem von Günter Mühlpfordt gegründeten Institut ein hervorragender Platz. Wir Neueren, die nach 1992 nach Halle kamen, müssen noch zeigen, daß wir die 125jährige hallische Tradition fortsetzen können. 3) Es ist wohl nicht zufällig, daß Günter Mühlpfordt eine so starke Vorliebe für die Aufklärung hat. Ich vermute, daß das mit seiner Persönlichkeit zusammenhängt. Es entspricht einer inneren Logik, daß er sich mit Personen beschäftigt hat, die alle ihre Ecken und Kanten hatten. Sie standen alle konsequent zu ihrer Überzeugung - auch in schwierigen Zeiten. Karl Hagen beispielsweise hielt unverrückbar an der Position des Republikanismus in der Paulskirche fest. Er machte die deutsche Revolution bis zum bitteren Ende des Rumpfparlaments in Stuttgart mit. Diese Konsequenz wurde ihm mit Amtsenthebung entgolten. In Deutschland bekam er nie mehr eine Professur; die Schweiz nahm ihn schließlich auf. Es sind wohl die Imperative der Aufklärung, die Günter Mühlpfordt leiten, - die Imperative „Du sollst selbst denken", „Du sollst selbst sehen" und „Du sollst selbst herrschen". Der erste Imperativ meint die intellektuelle Unabhängigkeit eines jeden von allen Vormündern, mögen sie noch so wohlwollend auftreten. Der zweite Imperativ meint die wissenschaftliche Redlichkeit, nur das auszusagen, was man aufgrund der eigenen Quelleneinsicht zu verantworten hat. Zum „selbst herrschen" gehört auch der Mut, die staatlichen und gesellschaftlichen Geschicke in die Hände einer aufgeklärten Bürgergesellschaft zu legen. Ich wünsche diesem Kolloquium und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern einen guten Verlauf.

H E L M U T REINALTER, INNSBRUCK

Die Aufklärung zwischen Moderne und Postmoderne

Die Innsbrucker Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen", die im Jahre 1981 an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck errichtet wurde, befaßt sich schon seit mehreren Jahren schwerpunktmäßig mit der historischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts aus sozial- und ideengeschichtlicher Perspektive. Dazu sind in den letzten Jahren in der Schriftenreihe der Forschungsstelle auch einige Publikationen erschienen. Seit zwei Jahren untersuchen mehrere Mitarbeiter der Forschungsstelle im Rahmen eines längerfristigen Projekts Aufklärungsprozesse nach der historischen Aufklärung. Dabei geht es vorrangig um den Wandel des Aufklärungsbegriffes, um neue Formen der Rationalität und um das Problemfeld der Gegenaufklärung. Als Abschluß des ersten Teiles dieses Projekts befaßte sich eine wissenschaftliche Tagung im November 1995 mit dem Thema „Die neue Aufklärung". Bei dieser Tagung ging es vor allem um das Aufklärungsverständnis heute, um Aufklärungskritik und um neue Ansätze zu einer differenzierteren Betrachtungsweise der Aufklärung im Spannungsfeld zwischen Moderne und Postmoderne. Die folgenden Uberlegungen sind in Rahmen dieses Projekts entstanden und verfeinert worden.

Ist die Aufklärung (sind Aufklärungsideen) noch ein tragfähiges Prinzip? Immer mehr Menschen unserer Zeit stellen die Lebensformen der modernen Kultur, den Staat, die Wirtschaft und die Wissenschaft, wie sie sich in Europa seit der Aufklärung herausgebildet haben, radikal in Frage. So werden gerade in den Kernländern der europäischen Kultur geistige Strömungen stärker, die den Rechts- und Verfassungsstaat der Neuzeit, die auf Privateigentum gegründete Marktwirtschaft und die moderne Wissenschaft mit ihren rationalen Problemlösungen überwinden wollen. Ein postmodernes Zeitalter soll dem menschlichen Glücksverlangen besser entsprechen als die europäische Moderne mit ihrem Hang zur Rationalität. Für nicht wenige kritische Menschen unserer Zeit ist das Produkt aus neuzeitlichem Aufklärungsoptimismus, wissenschaftlich-technischem Fortschritt und Machbarkeitsüberzeugung in eine Art „Endzeit" geraten. Unter dem Begriff „Postmoderne" gruppiert sich eine kulturelle Avantgarde, bei der für den Ausgang des 20. Jahrhunderts das „Bewußtsein der Nachträglichkeit" gegenüber den Grundproblemen der späten Neuzeit hervorgehoben wird. Die Vertreter der Postmoderne konzentrieren ihre Kritik besonders auf das Erbe der Moderne, wozu sie nahezu alle Errungenschaften der Neuzeit und des neuzeitlichen Rationalismus von der Aufklärung bis zur modernen Industriegesellschaft verstehen. Kritik und Protest gibt es überall dort, wo die Ansprüche und Instrumente ökonomischer, wissenschaftlicher und administrativer „Vernunft" über die Grenzen des Marktes, des Labors und der Verwaltung hinaus erweitert werden. In solchen Fällen kommt es tatsächlich vor, daß sich ökonomische Produktivkräfte in ökologische Destruktivkräfte und bürokratische Planungskapazitäten in lebensweltliche Störpotentiale verwandeln. Wo aus diesen Gefahren bereits vielfach Realität wurde, sprechen triftige Gründe für eine rasche Kurskorrektur, um den Problemen zu entgehen, die sich aus einer ungehemmten Fortsetzung dieser Entwicklung ergeben könnten. Vor dem Hintergrund eines solchen Krisenszenarios verwundert es kaum, daß heute besonders jene Theorien an Bedeutung

2

Helmut Reinalter

und Einfluß gewinnen, die verdeutlichen wollen, daß die Kräfte zur Steigerung der Verfügungsgewalt des Menschen über seine Welt Autonomie in Abhängigkeit, Emanzipation in Unterdrückung und Rationalität in Unvernunft bzw. Aufklärung in Gegenaufklärung verwandeln. Dementsprechend komplex sind auch die Ausdrucksformen der postmodernen Modernitätskritik. Sie reichen von einer Fortschreibung der Dialektik der Aufklärung über eine völlige Destruktion der Leitkategorien neuzeitlichen Denkens bis zur New AgeBewegung und Esoterik. Obwohl das Meinungsspektrum der Postmoderne sehr breit angelegt ist, so sind sich die meisten ihrer Vertreter doch einig in der Kritik an den Verengungen und Einseitigkeiten, an den Usurpationen und Verabsolutierungen der neuzeitlichen instrumenteil eingesetzten Vernunft. Mit der Absage an die moderne Technik und ihren zweifelhaften Fortschritten wird die Ästhetik neu aufgewertet. Sie wird als Wirklichkeitserfahrung empfunden, die auf Dimensionen und Instanzen der Erkenntnis abzielt, in denen Geltungsanspruch, Eigenart und Ernst der diskursiven Vernunft suspendiert werden - wie Mythos, Okkultismus, Gnosis und Esoterik. Trotz dieser ζ. T. berechtigten Angriffe gegen den neuzeitlichen Rationalismus und die Aufklärung kann jedoch das unvollendete Projekt der Moderne (J. Habermas) sinnvoll weitergeführt werden. Dazu ist es notwendig, sich der fundamentalen Bedeutung der historischen Aufklärung zuzuwenden und ihre Grundlagen zu betonen. Das 18. Jahrhundert wird heute als das „Zeitalter der Aufklärung" bezeichnet. Diese Kennzeichnung geht auf das Selbstverständnis einer geistigen und gesellschaftlichen Reformbewegung zurück, die sich selber als Aufklärung beschrieben hat. Etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts spricht man aufgrund des Erfolgs der Aufklärung von „aufgeklärten Zeiten". Kant hat dann deutlicher zwischen einem „aufgeklärten Zeitalter" und einem „Zeitalter der Aufklärung" differenziert. Natürlich kann man diese Epochencharakterisierung wie andere Epochenbegriffe auch kritisch betrachten. Dennoch gibt es eine Reihe von Argumenten, den Begriff eines Zeitalters der Aufklärung nicht leichtfertig über Bord zu werfen. Denn die damit gekennzeichnete Epoche unterscheidet sich von der vorhergehenden, dem sogenannten Barock, und der nachfolgenden, der sogenannten Romantik (bzw. Klassik oder des Idealismus) deutlich: „durch eine betont nüchterne und rationale Einstellung zur Welt, durch typische Problemstellungen und Problemlösungen, durch zentrale Begriffe und Metaphern. Nicht zuletzt aber ist die Aufklärung durch ihr Selbstbewußtsein charakterisiert, mit dem sie sich von allen vorangegangenen Zeiten unterscheidet und aufgrund dessen sie sich selbst ihren Namen gegeben hat. Damit ist nicht gesagt, daß die Aufklärung sich selbst zureichend verstanden habe, aber dieses Selbstverständnis läßt sich ebensowenig wie die mehr oder weniger ausgeprägten Strukturen dieser Aufklärung als irrelevant beiseite schieben. Im übrigen kann und muß auch das Zeitalter der Aufklärung in größere Epochenzusammenhänge gestellt werden (Frühe Neuzeit, Emanzipation des Bürgertums), die allerdings meist nicht weniger problematisch sind" (Werner Schneiders). Im 18. Jahrhundert gab es eine Reihe signifikanter Reformbestrebungen, genauer gesagt, zahlreiche Menschen, die sich selbst als Reformer verstanden, weil sie Neuerungen und Veränderungen anstrebten und sich zugleich als Aufklärer begriffen, weil sie praktische Veränderungen durch geistigen Wandel erreichen wollten. Vor allem verstand sich Aufklärung zunächst als eine bewußte, reflektierte, ja sogar programmatische Aktion zur „Verbesserung des Verstandes" oder zur Beförderung der Vernunft auf allen Gebieten. Zu diesem Zwecke sollten Vorurteile und Aberglauben, Schwärmerei und Fanatismus bekämpft, also die herrschende Unvernunft nach Möglichkeit ausgerottet werden. Die Aufklärung lebte von der „Hoffnung auf Vernunft", ja sie war Wille zur Vernunft. Die Wirklichkeit ist nach ihrer Ansicht unvernünftig, und sie kann und soll vernünftig werden. Von einer Herrschaft der Vernunft

Aufklärung zwischen Moderne und Postmoderne

3

erwartete man sich auch eine bessere Moral sowie Glück und Freiheit. Verstand und Tugend sollten die Welt regieren, damit glückliche und freie Menschen in ihr leben können. Dieser Wunsch war zwar nicht neu, aber die Form, in der er sich darstellte, und das Engagement, mit dem er auftrat, heben das Zeitalter der Aufklärung unverkennbar von anderen Epochen ab. Der Begriff „Aufklärung" hat allerdings in den letzten Jahrzehnten im Zuge der Postmoderne-Diskussion an Ansehen verloren. Im Zusammenhang mit der heute wieder aktuellen Diskussion über die Bedeutung und gesellschaftliche Relevanz der Geisteswissenschaften und ihrer Neupositionierung ist u. a. auch der Vorschlag gemacht worden, sie „Aufklärungswissenschaften" zu nennen, eine Bezeichnung, die davon ausgeht, die Geisteswissenschaften könnten einen wesentlichen Beitrag zur Kultivierung von Intellektualität und Rationalität im kulturellen Prozeß leisten. Diese starke Akzentuierung der Aufklärung in ihrer emanzipatorischen und ideologiekritischen Funktion geht von der Vorstellung aus, daß die Aufklärung als Denkprinzip eine unabschließbare Aufgabe darstellt. Geisteswissenschaften sind Disziplinen der Selbstreflexion. Ihre Interpretation der verschiedenen Aufgabenbereiche orientiert sich vorwiegend an der Idee von Emanzipation durch Aufklärung. Die Vorgabe bestimmter kultureller Leiterfahrungen wird bei diesem Ansatz durch ein breites Angebot an kulturellen Erfahrungsmöglichkeiten ersetzt. Geisteswissenschaften als „Aufklärungswissenschaften" verstehen sich als „Selbstaufklärung". Geisteswissenschaften können aber, an zeitgemäß formulierten Ideen der Aufklärung ausgerichtet, ein rationales Orientierungswissen zur Verfügung stellen, sie können auf Leistungen und Grenzen menschlichen Handelns hinweisen, das Gefühl für restriktive Bedingungen schärfen, Maßstäbe des Urteils und Urteilens verfeinern und mit sachlichen Argumenten für unverzichtbare Werte und Normen eintreten, die für das Uberleben der Menschen entscheidend sind. Dabei kann auf Rationalität und Ästhetik nicht verzichtet werden. „ D i e besondere kulturelle Bedeutung der in Geisteswissenschaften kultivierten Formen von Rationalität liegt darin, daß sie sich auf den U m g a n g mit Gegenständen beziehen, mit denen es nicht nur die Wissenschaft zu tun hat, sondern auch die Träger des kulturellen Prozesses selbst, wenn sie sich mit Angelegenheiten ihres kulturellen Lebens beschäftigen . . . " (Wolfgang Prinz). Wie die Aufklärung ist heute auch die neuzeitliche Rationalität starker Kritik ausgesetzt, die rigoros und umfassend erscheint. Der Vernunft werden repressive Züge und zerstörerische Wirkungen zugeschrieben. In einer solchen Situation sollten sich die Geisteswissenschaften verstärkt der Frage zuwenden, wie Vernunft neben der Kritik neu konzipiert werden kann. Ansätze dazu liefern Überlegungen zu einer „transversalen Vernunft" (Vernunft der Ubergänge). Die Formen der Rationalität sind in der Moderne plural geworden und darüber hinaus konstitutiv durch Verflechtungen bestimmt, so daß die Rationalität zunehmend Züge rationaler Unordentlichkeit aufweist. Die „transversale Vernunft" (Wolfgang Welsch) geht reflektierend von einer Sinnkonfiguration und Realitätsdimension zur anderen über, berücksichtigt divergierende Ansprüche und erlaubt zudem begründete Entscheidungen zwischen alternativen Optionen. Es ist heute angesichts der Verwirrung stiftenden pluralen Vernunftformen eine wichtige Aufgabe der Geisteswissenschaften als „Aufklärungswissenschaften", ein Konzept der Vernunft zu entwickeln, das inmitten dieser Pluralität tragfähig ist. Das Konzept der „transversalen Vernunft" hat ein nicht nur vernunfttheoretisches Motiv, sondern kann auch z u m elementaren M o d u s von Lebensformen werden. Dies ist besonders stark zu beachten, weil die geisteswissenschaftlichen Disziplinen lebensweltlich orientiert sind.

4

Helmut Reinalter

Was ist eigentlich Aufklärung? Aufklärung ist für unser historisches Bewußtsein eng mit dem 18. Jahrhundert verbunden. Aufklärung als Denkvorgang auf andere Epochen, auch auf unsere Gegenwart zu erweitern, ruft Bedenken und Zweifel hervor. „Wird damit nicht geschichtlich Einmaliges unzulässig in andere Zeiten projeziert", und „gehört Aufklärung ihrem Wesen nach nicht allerhöchstens in den Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus?" (J. Schmidt). Der im 18. Jahrhundert häufig verwendete systematische Begriff der Aufklärung im materialen Sinn eines „Zuwachses an Wissen und einer Verbreiterung von Kenntnissen sowie im formalen Sinne eines daraus entstandenen geistigen Habitus, unabhängig von historischen Epochengrenzen", kann heute - wenn auch in Modifikationen - weitgehend problemlos verwendet werden. Als methodische Hypothese bewährt sich am besten die These von einer, wenn auch graduell abzuhebenden, so doch strukturell erkennbaren Analogie zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Obwohl ein weitgehender Konsens darüber besteht, daß die Aufklärungsepoche einen ganzen Komplex von unterschiedlichen Tendenzen bildet, lassen sich doch einige Hauptbestimmungen festmachen: - Aufklärung ist Entfaltung eines Denkens, das kritisch überkommene Autoritäten in Frage stellt, darunter insbesondere die tradierten religiösen Vorstellungen, Dogmen und Institutionen, weiters - die Legitimation der politischen Herrschaft und, im Reifestadium, ihren eigenen Anspruch, ihr eigenes Verfahren und ihre eigene Legitimität; - die Aufklärung verlangt (religiöse) Toleranz, rechtliche Gleichstellung aller Menschen, persönliche Freiheit und freie wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit für alle, Meinungs- und Pressefreiheit und damit die Herstellung von Öffentlichkeit. - Die Aufklärung fordert politische Selbstbestimmung und - intendiert eine an einer grundsätzlich positiven Diesseitsgestaltung orientierte Humanität. In einer Zeit, in der gegenaufklärerische Tendenzen wieder an Bedeutung gewinnen, sollte man an diese positiven Wertsetzungen und Wirkungen der Aufklärung erinnern. Daß nun seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und von ihr ausgehend neue und weiterführende Aufklärungsprozesse entstanden sind, läßt sich historisch genau nachweisen. D a z u zählen auf weiten Strecken die ζ. T. vorromantische, nachromantische und nachidealistische Epoche, der Liberalismus und die Anfänge der Demokratie. In vielen Bereichen ist diese zweite Aufklärung oder „Aufklärung nach der Aufklärung" ein „ N a c h holphänomen", wenn man sie mit den von der französischen Aufklärung schon im 19. Jahrhundert erreichten Positionen vergleicht. Dabei zeigt sich deutlich, daß nicht jede Zeit ihre Aufklärung hat, aber jede Aufklärung in den Grenzen ihrer Zeit und auf dem erreichten Zivilisationsniveau stattfindet. „ D a ß sie wesentlich von geschichtlichen Erfahrungen mitbestimmt und keineswegs bloß von einem linearen Fortschritt der Zivilisation oder gar von einer überzeitlichen und abstrakten Rationalität determiniert ist, läßt sich, wie an deren Epochen, auch am 18. Jahrhundert erkennen" (f. Schmidt). Sicher ist Aufklärung nicht bloß eine Haltung und ein Engagement, sondern ein konstitutives Element der Moderne gewesen. Durch den Aufklärungsprozeß selbst hervorgerufene Reaktionen führten zu „ k o m plizierten Verwerfungen und Uberlagerungen". In diesen komplexen Ereigniszusammenhang gehört auch die Gegenaufklärung mit ihren Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Kritik der Aufklärung am religiösen Dogmatismus, am Fanatismus, am kirchlichen Machtanspruch und an totalitären Herr-

Aufklärung zwischen M o d e r n e und Postmoderne

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schaftsstrukturen sowie andererseits das aufklärerische Ideal der Toleranz und Religionsfreiheit sind geprägt von der Erfahrung der vorhergehenden Religionskriege und der Zeit der Ketzer und Hexenverfolgungen. Es ist nicht einfach, von einem systematischen Aufklärungsbegriff ausgehend, Aufklärung und Gegenaufklärung voneinander abzugrenzen. Wie schon im 18.Jahrhundert die Debatte um die „wahre" oder „falsche" Aufklärung ergab, beanspruchen sowohl die Anhänger wie die Gegner der Vernunftaufklärung für sich die „wahre Aufklärung" (W. Schneiders). Bis in die Romantik hinein zeigt sich der Anspruch einer Uber-Aufklärung, die Aufklärung über die Aufklärung intendiert. So gesehen lassen sich die Begriffe scheinbar mühelos in ihr Gegenteil verkehren. D e r systematisch-abstrakte Begriff von Aufklärung und Gegenaufklärung läßt sich aber dort festmachen, wo die naturwissenschaftliche Forschung zur „Aufklärung" wird, indem sie eine bisher gültige weltanschauliche Position widerlegt und „wo im Gegenzug eine Machtinstanz diese nun überholte weltanschauliche Position zu retten versucht, indem sie das naturwissenschaftlich Erkannte unterdrückt" (Siegfried J . Schmidt), womit die Gegenaufklärung ihre reine F o r m erreicht. Historisch konkretisiert sich der Begriff der Gegenaufklärung in den vielen Formen der auftretenden Gegnerschaft zu den Positionen und Errungenschaften der historischen Aufklärung. In der historischen Entwicklung und unter dem Gesichtspunkt vielfältiger Formen von Aufklärung und Gegenaufklärung entfalteten sich zahlreiche Einzelkonstellationen, aber auch antagonistische Gruppen, Ideologien und Parteibildungen. Konstellationen der Gegenaufklärung bildeten sich auch durch Versuche direkter Kritik an der Aufklärung heraus, eine Tendenz, die besonders heute stark zum Ausdruck kommt. Dabei scheint es, daß diese Kritik einerseits die Aufklärung im Ganzen unter isolierten Detailaspekten subsumierte, den Aufklärungsbegriff verkürzte und einengte, vereinzelte neudogmatische Tendenzen verallgemeinerte und verschiedene Klischees ausbildete. Diese Kritik an der Aufklärung, auch wenn sie ζ. T. inadäquat verfährt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen und führte zu Bemühungen der Aufklärung, sich selbst aufzuklären, sich selbst aus einem größeren Vermittlungszusammenhang heraus zu regulieren, um Einseitigkeit und Dogmatismus auszuschließen und den „Despotismus der Vernunft" zu überwinden. Heute ist nicht nur die Aufklärung, sondern die Rationalität an sich einer tiefgreifenden Infragestellung ausgesetzt. Dabei handelt es sich nicht nur um eine wieder einmal fällige Anerkennung des Irrationalen als eines philosophischen Grenzproblems, sondern um die Infragestellung jener Grundeinstellung abendländischer Rationalität, die das Grenzproblem des Irrationalen überhaupt erst als solches entdecken konnte. Vor dem Hintergrund dieser Entdeckung sind ja in der abendländischen Neuzeit Gott, die Welt und die menschliche Seele als das niemals präzis lösbare Grenzproblem der philosophisch-wissenschaftlichen Erkenntnis bestimmt worden. Die gegenwärtige Infragestellung der Rationalität bewegt sich indessen nicht mehr darin, vom Irrationalen als dem Grenzproblem der philosophisch-wissenschaftlichen Erkenntnis fasziniert oder beunruhigt zu sein, sondern sie scheint das Irrationale, die eigentlichen Lebensprobleme (Leid, Tod und Glück) neu zu entdecken. Natürlich ist der Verlust des statisch substantiellen Vernunftbegriffes und des dynamischen Begriffs einer auf Fortschritt programmierten vernünftigen Weltgeschichte nicht zu übersehen, der fragwürdig geworden ist. Insofern hat die Aufklärung ihre optimistische Haltung zwar eingebüßt, sie ist aber damit nicht überflüssig geworden. Im Gegenteil: unsere derzeitige geistige Situation ist ein Ergebnis von Aufklärung, von Aufklärung über die historische Aufklärung. Zur Zeit gibt es drei Antworten auf die Infragestellung der Aufklärung:

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1. Die aus konservativer Tradition kommende Haltung einer „stoischen Gelassenheit" angesichts der revolutionären und raschen Entwicklung des naturwissenschaftlichtechnischen Fortschritts. 2. Eine „postmoderne" Antwort, wie sie hier zu Beginn bereits skizziert wurde und 3. eine „objektiv gesicherte Fortschrittsperspektive", wie sie von der kritischen Theorie gesucht und in der „Diskursethik" konkretisiert wurde. Jürgen Habermas charakterisierte seine Antwort als einen Versuch, „in Fortsetzung der Kantischen Tradition, einen skeptischen und nachmetaphysischen, aber nicht-defätistischen Vernunftbegriff sprachphilosophisch zu retten" (I. Fetscher). Die Vernunft, die sich in der Diskursethik artikuliert, besteht in der Bereitschaft, „sich auf eine symmetrische Diskursteilhabe an der auf diesem Wege erreichbaren konsensuellen Findung von Normen einzulassen" (J. Habermas). In der Diskursethik geht es letztlich um Ermittlung verbindlicher Normen des menschlichen Zusammenlebens. Die Reflexion auf die soziale und kulturelle Angewiesenheit der Menschen auf Mitmenschen und kulturelle Uberlieferung bietet die Motivation dafür, sich einer solchen Diskursethik anzuschließen und den Weg einzuschlagen, „auf dem verbindliche Normen ohne Vergewaltigung Einzelner gefunden werden können". Dies ist wohl eine der wesentlichen Zielsetzungen der Aufklärung nach der Aufklärung. Aufklärung war und ist ihrem Wesen nach Emanzipation, Befreiung von überlieferten, die Erkenntnis einschränkenden Traditionen. Aufklärung über die Aufklärung, kritische Reflexion über die an unser „biologisches und kulturelles Dasein gebundene Vernunft", stellt zugleich auch Aufklärung über die unübersteigbaren Grenzen von Emanzipation dar. Der Mensch ist ein Lebewesen, das durch den Prozeß der Sozialisation, des Erlernens von Sprachkompetenz und Denkfähigkeit Vernunft erwirbt und sich mit Hilfe dieser Vernunft in der Welt besser zu orientieren versucht. Ich meine, daß durch solche Erkenntnisse der Bedingungen und Grenzen des individuellen Daseins und durch ein Reflexivwerden der Vernunft Aufklärung nicht überwunden, sondern kritisch weiterentwickelt wird. Was dringend erforderlich erscheint, ist heute die Konzipierung einer „neuen", „reflexiven" Aufklärung, die die unverzichtbaren Grundlagen der historischen Aufklärung kritisch weiterentwickelt. Die Aufklärung als nie abschließbare Aufgabe und als Denkprinzip versteht sich als Selbstaufklärung, als Selbstwerden durch freies Denken, aber auch als Sachaufklärung im Sinne von Wegräumen geistiger und realer Hindernisse der Selbstaufklärung. Aufklärung richtet sich als Selbstdenken (I. Kant) gegen angemaßte Autorität und Vorurteile, als Richtdenken gegen Irrtümer, Irrationalismus und Aberglauben, gegen Verabsolutierungen und Ideologien, gegen Dogmen und absolute Wahrheiten. Die bleibende Aktualität der Aufklärung resultiert aus dem permanenten Aufklärungsbedürfnis. Sie ist ein stets erneuerter Versuch, die immer neu wuchernde Pseudowahrheit zu überwinden und ideologiekritisch zu arbeiten. Aufklärung als Denkmodell darf allerdings Aufklärung über sich selbst nicht vernachlässigen, sonst degeneriert sie zur Pseudoaufklärung oder Ideologie und zerstört sich selber. Die Kritik an der Aufklärung setzt dort an, w o behauptet wird, sie habe in naiver Weise unterstellt, daß der Mensch „ g u t " sei und daß sich durch Herstellung geeigneter politischer und sozialer Verhältnisse dieser Vorzug deutlich zeigen würde. Dieser naive Glaube sei durch den Stalinismus und Nationalsozialismus widerlegt worden. Alle Fortschrittsideologien hätten sich im Laufe der Geschichte als verhängnisvoll erwiesen und trügen Schuld am krisenhaften Charakter der zeitgenössischen Welt. Gegen diese Auffassung muß m. E. eingewendet werden, daß das Projekt der Aufklärung durchaus positiv gesehen werden kann, wenn man auf den zentralen Gedanken der Aufklärungsphilosophie zurückgeht und die Verbindung mit einem „naiven Rationalismus" und

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einem optimistischen Menschenbild, das nicht alle Aufklärer vertraten, und einer zu optimistischen Geschichtsphilosophie aufgibt. Die Forderung, wie sie Kant formulierte, selbst zu denken, besagt noch keineswegs, daß Menschen nur „res cogitandes" sind. Kant selbst betonte, daß zum Selbstdenken „Mut gehöre", eine Eigenschaft, die nicht die der reinen Vernunft sei. Aufklärung hat es letztlich mit dem konkreten Menschen zu tun, auch wenn sie seinen Verstand und die Vernunft als besondere Eigenschaft hervorhebt. Aufklärung heißt, sich seiner Vernunft zu bedienen und sich von Vorurteilen und autoritären Bevormundungen zu befreien. Hier steht Kants Konzept einer Kritik der Vernunft im Zentrum. Da Kritik eine negativ-destruktive und eine positiv-konstruktive Seite hat, erwartet Kant auch von der Vernunft „Aufklärung" in doppelter Weise: destruktiv und konstruktiv.

1. Kritik als Selbstbeschränkung der Vernunft Kant versteht unter Kritik der Vernunft Selbstkritik der Vernunft und meint damit, daß es keine übergeordnete, auch keine göttliche Instanz gibt, vor der menschlicher Vernunftgebrauch zur Verantwortung gezogen werden könnte. Aus der Sicht der Anthropologie ist hier vor allem das Problem des menschlichen Selbstverständnisses angesprochen. Die alte Definition des Menschen als Vernunftwesen erhält durch die Aufklärung eine neue D i mension. In der Unendlichkeit der sich dem Menschen erschließenden Möglichkeiten liegt zugleich das Potential seiner Selbstgefährdung. Vernunfttheoretisch geht es hier um Selbstkritik der Vernunft, die zerbrechlich ist und die sich durch Selbstbeschränkung als kritische Vernunft erhält.

2. Selbstdenken In Form von Selbstkritik ist Vernunftkritik eine exemplarische Weise des Selbstdenkens. „Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist Aufklärung" (I. Kant). Diese Maxime gilt für den theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch. Das Selbstdenken hat sich allerdings heute aufgrund der ungeheuren Komplexität der Lebensverhältnisse in vielen Fällen als psychische und soziale Uberforderung erwiesen. Kant bemüht sich um eine rein rationale, in der Vernunft gegründete Fundierung des moralischen Wissens. In der heutigen Situation der Ethik konkretisiert sich Vernunftgebrauch bzw. Selbstbehauptung in der Anwendung von Urteilskraft. Kritik wird nicht an der Selbstbehauptung philosophischen Denkens, sondern an einem philosophischen Ethos festgemacht. Aus der Perspektive Kants wäre dieses Ethos als die aufgeklärte bzw. aufklärerische Haltung des Selbstdenkens zu bestimmen. Parallel mit dem Wandel des Selbstverständnisses des Menschen und mit der Erweiterung des Wissens über den Menschen ändert sich auch die Aufgabe von Aufklärung und Selbstdenken. Die Reflexion auf das eigene Unbewußte geschieht im Aufklärungsdenken nicht, um emanzipiertes Verhalten zu begrenzen, sondern führt zur Erweiterung, wobei die neugewonnene Erkenntnis auch eine Erkenntnis der Grenzen des Bewußtseins und der Bestimmung unseres Verhaltens durch Vernunft miteinbezieht. Interessant ist in diesem Kontext auch das Aufklärungs- und Vernunftverständnis im kritischen Rationalismus. Drei Aspekte sind hier bestimmend: das Selbstverständnis und das ideologiekritische Potential des kritischen Rationalismus. Die Idee von der Selbstbefreiung durch Wissen ist ein programmatischer Topos in der Tradition der Aufklärung. Im kritisch-rationalistischen Aufklärungkonzept werden besonders drei Forderungen hervorgehoben:

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1. daß prinzipiell kein Lebensbereich, keine gesellschaftlich-politische Instanz, keine traditionelle Autorität der kritischen Prüfung durch Empirie und Vernunft entzogen werden darf; 2. daß die kritische Reflexion vor den Implikationen und Folgen aufklärerischer Denkbemühungen nicht Halt machen darf; 3. daß der Prozeß der kritischen Reflexion und Selbstreflexion als unabschließbare Aufgabe zu sehen ist. Im Zentrum des Vernunftverständnisses des kritischen Rationalismus steht die Fallibilitätsthese von der prinzipiellen Fehlbarkeit und Irrtumsanfälligkeit des menschlichen Erkenntnis· und Vernunftvermögens. Letzte Instanzen, die die Wahrheit von Erkenntnissen gleichsam offenbar machen und absolut garantieren können, werden im kritischen Rationalismus entschieden abgelehnt. Der kritische Rationalismus richtet sich gegen eine Dogmatisierung von Erkenntnissen und gegen eine Beeinträchtigung des Erkenntnisfortschritts. Der kritisch-rationalistische Standpunkt in Wertfragen wird der aufklärerischen Grundidee von der Selbstbefreiung durch Wissen sehr gerecht, weil er die Möglichkeit betont, sich durch das Aneignen von Sachwissen von bisher unbefragten Wertautoritäten auch im ethischen Bereich zu emanzipieren, ohne das Engagement für ein ethisches Prinzip auszuschließen. Die Aufklärungsinstitution des kritischen Rationalismus umfaßt auch ein ideologiekritisches Potential, das Weltanschauungen und Ideologien kritisch prüft. Dabei spielt die kritisch-rationalistische These von der prinzipiellen Fehlbarkeit und Irrtumsanfälligkeit der Vernunft eine entscheidende Rolle. Die Denkströmung des kritischen Rationalismus ist - wie die hier dargelegten Möglichkeiten zeigen - gut geeignet, gegenaufklärerischen Tendenzen, die heute stärker werden, wirksam entgegenzutreten. Sicher sucht der Mensch angesichts der Probleme unserer komplexen Gesellschaft nach einem Gegengewicht, nach der Erfahrung des Ganzen, daß die Welt nicht nur durchrationalisiert ist. Auch hier zeigt sich die Bedeutung des Aufklärungsdenkens im Sinne einer Uberwindung der in manchem falsch gelaufenen historischen Aufklärung und einer Aufklärung über Aufklärung. Es besteht heute durchaus die Möglichkeit, Aufklärung im Sinne einer kritischen Aufklärung weiterzuentwickeln, einer Vernünftigkeit, die nicht im technischen Kalkül aufgeht, sondern sich ihrer Grenzen bewußt wird und gleichzeitig ihre Möglichkeiten prüft, wie wissenschaftliche Welterkenntnis und ethisches Handeln zusammengedacht und praktiziert werden können. Selbstverständlich ist die Idee von der Vernunft zerbrechlich, und die kritische Aufklärung wandelt sich daher auch zur Kritik an jener Rationalität, die Freiheit durch Naturbeherrschung zu sichern vorgibt. Gemeint ist hier vor allem die „Herrschaftsvernunft" oder „instrumenteile Vernunft", wo die Hoffnung, vernünftige Verhältnisse könnten verwirklicht werden, in der „gewaltigen Hermetik totalitärer Mechanismen" versiegt. Allerdings übertreiben manche Philosophen und Soziologen heute, wenn sie für den Prozeß der Aufklärung und ihrer Dialektik nur noch die „instrumentelle Vernunft" wahrnehmen wollen. Angesichts globaler Bedrohungen und der Krise der modernen Industriegesellschaften scheint es notwendiger denn je, die Bemühungen im Sinne einer kritischen Aufklärung fortzusetzen und aus der Einsicht der unauflöslichen Verschränkung von Vernunft und Herrschaft, Macht und Subjektivität an der Realisierung einer vernünftigen Emanzipation weiterzuarbeiten, zumal es heute um die Sicherung dessen geht, was man mit dem „vernünftigen Gehalt der gesellschaftlichen kulturellen Moderne" bezeichnen könnte. Die Aufklärung hat aufgrund einseitiger Auslegungen, eines extrem egozentrischen Individualismus und durch die politischen Ideologien des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts das großartige Emanzipationsprojekt gehemmt und z.T sogar pervertiert. Gewiß hat sie aber auch einen gewaltigen Erfolg erzielt, obwohl heute das „Humane" und der technische Fortschritt immer

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weiter auseinanderzulaufen scheinen. Damals wie heute geht es der Aufklärung darum, die Hemmnisse aus dem Weg zu räumen, die die Ausbreitung der kritischen Erkenntnis und Vernunft stören. Eine „neue", „reflexive" Aufklärung erkennt die Fehlentwicklungen und Grenzen dieses Projekts und kann daher korrigierend und weiterführend eingreifen.

Literatur (Auswahl) K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt/M.1988. K.-O. v. Aretin (Hg.), Der Aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974. P. Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/M. 1995. U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M.1986. U. Beck, Die Erfindung des Politischen, Frankfurt/M.1993. K. v. Beyme, Die politischen Thorien der Gegenwart, München 1986. H. Böckerstette, Aporien der Freiheit und ihre Aufklärung durch Kant, Stuttgart-Bad Cannstadt 1982. P. Burg, Kant und die Französische Revolution, Berlin 1974. H.-G. Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, Stuttgart-Bad Cannstadt 1983. H.-P. Dürr - W.Ch. Zimmerli (Hg.), Geist und Natur. Uber den Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung, Bern-München-Wien 1989. I. Fetscher, Überlebensbedingungen der Menschheit. Ist der Fortschritt noch zu retten?, München 1985. I. Fetscher, Die Demokratie. Grundfragen und Erscheinungsformen, Stuttgart 1970. I. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Frankfurt/M. 1975. P. Feyerabend, Irrwege der Vernunft, Frankfurt/M. 1989. M. Frank, Conditio moderna, Leipzig 1993. C. J. Friedrich, Demokratie als Herrschafts-und Lebensform, Heidelberg 1959. H. F. Fulda - R. P. Horstmann (Hg.), Vernunftbegriffe in der Moderne, Stuttgart 1994. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M.1988. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2Bde., Frankfurt/M. 1981. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1988. J. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/Main 1985. J. Habermas, Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, Leipzig 1994. W. Hennis, Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffs, Köln-Opladen 1970. A. Honneth u. a. (Hg.), Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geb., Frankfurt/M. 1989. M. Horkheimer-Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1969. A. Huyssen - K. R. Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek b . Hamburg 1986. D. Kamper - W. v. Reijen (Hg.), Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, Frankfurt/M. 1987. P. Kemper (Hg.), „Postmoderne" oder Der Kampf um die Zukunft, Frankfurt/M. 1988. J. Keulartz, Die verkehrte Welt des Jürgen Habermas, Hamburg 1995. C. Klinger, Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München 1995. P. Koslowski u. a. (Hg.), Moderne oder Postmoderne ? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeitalters, Weinheim 1986. A. Kuhlmann (Hg.), Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt/M. 1994. H. Kunnemann-H. de Vries (Hg.), Die Aktualität der „Dialektik der Aufklärung". Zwischen Moderne und Postmoderne, Frankfurt/M.-New York 1989.

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Η . Lübbe, Aufklärung und Gegenaufklärung, in: Michael Zöller (Hg.), Aufklärung heute, Zürich 1980, S . l l f f . 0 . Marquard, Zeitalter der Weltfremdheit? Beitrag zur Analyse der Gegenwart, in: ders., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S. 76 ff. 1. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts-und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt/M. 1992. F.-J. Meissner, Demokratie. Entstehung und Verbreitung eines internationalen Hochwertwortes mit bes. Berücksichtigung der Romania, Stuttgart 1988. K . Michalski (Hg.), Aufklärung heute, Stuttgart 1997. R. Münch, Die Kultur der Moderne, 2 Bde., Frankfurt/M. 1993. R. Münch, Die Struktur der Moderne, Frankfurt/M. 1992. E. Pestel, Jenseits der Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1988. K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., München 1980. W. Prinz, Die sogenannten Geisteswissenschaften, in: Vernetztes Denken. Gemeinsames Handeln. Interdisziplinarität in Theorie und Praxis, hg. von Helmut Reinalter, Thaur-Wien-München 1993, S. 22 I f f . Η. Reinalter, Die Aufklärung nach der Aufklärung, in: Gespräche der Fakultäten. Interdisziplinarität, Innsbruck 1990, S. 19ff. H . Reinalter, Aufgeklärter Absolutismus und Revolution, Wien 1980. H . Reinalter, Immanuel Kant und die Französische Revolution, in: ders., Die Französische Revolution und Mitteleuropa, Frankfurt/M. 1988, S. 185 ff. H . Reinalter (Hg.), Lexikon zu Demokratie und Liberalismus 1750-1848/49, Frankfurt/M. 1993. H . Reinalter (Hg.), Der Josephinismus, Frankfurt/M. Bern-New York-Paris-Wien 1993. H . Reinalter, Aufklärung und Demokratie, in: Bedrohte Demokratie, hg. von K.Weinke und M.W. Fischer, G r a z 1995, S. 120 ff. H . Reinalter (Hg.), Die neue Aufklärung, Thaur - Wien - München 1997. H . Reinalter, Die Aufklärung nach der Aufklärung, in: Impulse für Europa, hg. von Heiner Timmermann, Berlin 1996, S. 273 ff. H . Reinalter - R. Benedikter (Hg.), Geisteswissenschaften wozu?, Thaur - München Wien 1997. H . Reinalter - R. Benedikter (Hg.), Geisteswissenschaften im Spannungsfeld zwischen Moderne und Postmoderne, Wien 1998. J. Rüsen u. a. (Hg.), Die Zukunft der Aufklärung, Frankfurt/M. 1988. R. Saage, Absolutismus und Aufklärung, in: ders., Vertragsdenken und Utopie, Frankfurt/M. 1989, S. 93 ff. Th. Schäfer, Aufklärung und Kritik. Foucaults Geschichte des Denkens als Alternative zur Dialektik der Aufklärung, in: E. Erdmann, R. Forst und A. Honneth (Hg.), Ethos und M o derne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1990. W. Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt/M. 1991. J. Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur. Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989. W. Schneiders, Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990. W. Schneiders (Hg.), Lexikon der Aufklärung, München 1995. P. Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bde., Frankfurt/M.1983. J. L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln-Opladen 1961. R. Vierhaus, Was war Aufklärung?, Göttingen 1995. A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/M. 1985. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987. W. Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt/M. 1995.

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Aufklärungsgesellschaften in neuen Perspektiven Anknüpfend an den Beitrag „,Freie Associationen', ,thätiger Gemeingeist' und Aufklärung" im vierten Band der Festschrift für Günter Mühlpfordt 1 , sollen im folgenden einige Überlegungen zur weiteren Erforschung der Aufklärungsgesellschaften zur Diskussion gestellt werden. Vorweg ist darauf hinzuweisen, daß in den Jahren 1996 und 1997 in jeder Hinsicht gewichtige neue Forschungen zur Sozietätsbewegung und zum Vereinswesen erschienen sind. Dies gilt für die von Klaus Garber und Heinz Wissmann unter Mitwirkung von Winfried Siebers herausgegebenen Bände zur Geschichte von Sozietäten und Akademien im Europa der Frühen Neuzeit 2 , den ersten Band der begriffs- und sozialgeschichtlichen Analysen von Wolfgang Hardtwig zu „Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland" 3 , nicht zuletzt für die Günter Mühlpfordt gewidmete Festgabe mit ihren vielen neuen und weiterführenden Erkenntnissen und Ergebnissen auch zu den Kommunikations- und Organisationsstrukturen der Aufklärung 4 und für neue Studien zur Freimaurerei. 5 All diese Publikationen bestätigen einmal mehr, daß die Erforschung des Vereinswesens eine lohnende interdisziplinäre Aufgabe ist und von Historikern insbesondere dann mit Gewinn vorangebracht werden kann, wenn sie ihr Fach als Sozial- und Kulturwissenschaft verstehen. Die aktuellen Diskussionen über Methoden und Gegenstände der Geschichtswissenschaft wie über ihr Verhältnis zu Nachbardisziplinen lassen sich vertiefen und bereichern durch den Blick auf Vorläufer einerseits und die internationale Perspektive andererseits. Bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen erschienen 1911 die Verhandlungen des im Jahr zuvor in Frankfurt am Main abgehaltenen ersten deutschen Soziologentages. Den Eröffnungsvortrag hatte Georg Simmel gehalten - über die „Soziologie der Geselligkeit". 6 Seine Beobachtungen über den Geselligkeitstrieb der Menschen, die Formen und Inhalte von Geselligkeit und schließlich das Gespräch, den „breitesten Träger aller menschlichen Gemeinsamkeit" 7 , sind Bausteine für eine „Historische Anthropologie der Moderne" 8 und

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Franklin Kopitzsch, „Freie Associationen", „thätiger Gemeingeist" und Aufklärung. In: Erich Donnert (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 4. Deutsche Aufklärung. Weimar, Köln, Wien 1997, S. 661-678. Klaus Garber und Heinz Wissmann unt. Mitwirk, von Winfried Siebers (Hg.), Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. D i e europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. 2 Bde. Tübingen 1996. (= Frühe Neuzeit, 26 und 27). Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1. Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. München 1997. Donnert (Anm. 1), 4 Bde. Weimar, Köln, Wien 1997, exemplarisch seien daraus genannt Helmut Reinalter, Die europäische Aufklärung als Gegenstand der Sozialgeschichtsforschung. N e u e Fragen, Perspektiven und Tendenzen. In: Bd. 2. Friihmoderne, S. 657-663, und Franz Dumont, L o g e und Klub. Zur Bedeutung aufgeklärter Sozietäten für die Mainzer Republik von 1792/93. In: Bd. 4. Deutsche Aufklärung, S. 557-578. Neben D u m o n t (Anm. 4) Monika Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1995. (= Kleine Schriften zur Aufklärung, 8). Georg Simmel, Soziologie der Geselligkeit. In: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.-22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Tübingen 1911, S. 1-16. Ebd.,S.ll. D a z u jetzt Paul Nolte, G e o r g Simmeis Historische Anthropologie der Moderne. Rekonstruktion eines Forschungsprogramms. In: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 225-247.

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können auch die Aufklärungsforschung anregen und befruchten. Zwei Jahre nach den Verhandlungen des Frankfurter Soziologentages verlegte Eugen Diederichs in Jena als ersten Band der von Alfred Weber herausgegebenen „Schriften zur Soziologie der Kultur" die Dissertation von Haus Staudinger über „Individuum und Gemeinschaft in der Kulturorganisation des Vereins" 9 . Staudingers Heidelberger Doktorarbeit untersuchte zunächst „Formen und Schichten dargestellt am Werdegang der musikalisch-geselligen Organisation" und wandte sich im zweiten Teil „Schichten und Welten heutiger Zeit" zu. Sie verband so historische Analyse mit teilnehmender Betrachtung der Gegenwart. Staudingers viel zu selten gewürdigter und genutzter Studie 10 geht es um die Verbindung, die Wechselwirkung der produktiven, dynamischen und der rezeptiven „Seite" und „Sphäre" der Kultur 11 . „Die konkrete Aufgabe ist, dieses Gehäuse Verein in seinem Wesen, was es ist und was es kulturell bedeutet, zu erfassen." 12 Zu diesem „Gehäuse" erklärte Staudinger: „Der Verein ist nicht bloß eine Akkumulation von Menschen zur Erreichung eines ihm vorschwebenden Zweckes. Er ist schon in seinem Werden aus der momentanen Sphäre der Einzelnen entrückt, er hat, geworden, seine Geschichte, seine Tradition, sein Gründungsjahr, sein Jubiläum, ganz ebenso wie jedes historische Gebilde, das man Gemeinwesen nennt. Er ist eine kleine Republik, hat seine gewählten Auserlesenen, seine Gesetze bei Strafe, hat seine Parteien, und auch - seine Revolutionen dabei. Nur ist er zeitlicher, leichter geschürzt und leichter vergangen. Er hat feinere Nerven und trotz aller Tradition gewandtere Bewegungen. So prägen sich in ihm die Zeitströme und Verhältnisse klar und einhellig aus. Bald ist dieses überindividuelle Gebilde, der Verein, eine sehr enge Allgemeinheit, die an die Verfolgung des Zweckes in ihrem Gehäuse Nebenbedingungen knüpft; bald ist es ein loseres Band um alle nur möglichen Kräfte, einem einzigen Zwecke zu dienen. Das ist das soziologische Verhältnis des Vereins: das Eingestelltsein der einzelnen Menschen mit ihrer intimen persönlichen Sphäre in den allgemeinen Kreis des Vereins. Das ist das Wechselspiel der beiden Faktoren, des Intimen und Allgemeinen, das die verschiedensten Typen zeitigt." 13 Nicht minder anregend sind Staudingers Ausführungen über „Publikum und gebildete Gesellschaft" im späten 18. Jahrhundert: „Dieses gleichzeitige Zusammenfallen des Publikums und der historisch gewordenen Persönlichkeit ergibt eine wunderbar demokratische Kulturepoche. Jedem Einzelnen ist, als Glied des Publikums, die Gelegenheit geboten, an den Kulturmitteln teilzunehmen. Die Auswirkung dieser Möglichkeit liegt allerdings bei ihm allein. So stellt sich nun die Rezeptionssphäre als Ganzes genommen im größten Umkreis als das Publikum dar, dessen innerster Kern und kleinster Kreis die Gruppe derer bildet, die aus der mehr äußeren zerstreuten Interessiertheit in sich die innere, also einheitliche Interessiertheit gestaltet haben: die gebildete Gesellschaft." 14 Diese Thesen eignen sich nach wie vor, um Möglichkeiten und Grenzen aufgeklärter Sozietäten, ihre Trägerschichten und Reichweiten, ihre Formen und Inhalte zu erhellen.15

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Hans Staudinger, Individuum und Gemeinschaft in der Kulturorganisation des Vereins. Jena 1913. (= Schriften zur Soziologie der Kultur, 1). Auf Staudinger bezieht sich mehrfach U t z Jeggle, Bemerkungen zur deutschen Geselligkeit. In: Etienne Franfois (Hg.): Sociabilite et societe bourgoise en France, en Allemagne et en Suisse, 1750-1850. Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, 1750-1850. Paris 1986, S. 223-235. Staudinger (Anm. 9), S. 1. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 52 ff., ZitatS. 54. In diesem Zusammenhang besonders wichtig und anregend Hans Erich Bödeker, Die „gebildeten Stände" im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert: Zugehörigkeit und Abgrenzungen. Mentalitäten und Hand-

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Wer sich dieser Pionierstudie erinnert und sie für heutige Fragen zu nutzen sucht, sollte den Lebensweg des Verfassers kennen: Staudinger prägte als politischer Beamter in der Weimarer Republik die Wirtschaftspolitik des Reiches und Preußens mit, war Gründer der VEB Α und vertrat als sozialdemokratischer Abgeordneter 1932/33 Hamburg im Reichstag. Er wurde nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten inhaftiert, konnte emigrieren und lehrte Wirtschaftspolitik an der N e w Yorker N e w School for Social Research. 16 Neben Vorläufern und Anregern moderner Forschung gilt es die internationale Perspektive zu beachten. Dies bezieht sich vor allem auf das bereits 1986 veröffentlichte, gleichwohl unverändert aktuelle Beispiel eines fruchtbaren Dialogs von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz 1 7 . Die Beiträge von Maurice Agulhon, 1 8 Rolf Reichardt 1 9 und Otto Dann 2 0 zur „Sociabilite" und „Soziabilität" waren und sind richtungsweisend. Reichardt faßt unter diesen Begriffen „die konkreten Formen und Vorgänge, Strukturen und Prozesse gesellschaftlicher Vergemeinschaftung im ganzen sozialen Bereich zwischen der Familie einerseits, dem Staat und etablierten politischen Körperschaften (Parteien) andererseits" 21 , Dann die „gesellschaftlichen Lebensformen in ihrer Gesamtheit" 22 , „das kommunikative Verhalten des von den ständischen Bindungen sich befreienden Subjekts" 23 . Dies schließt Sozietäten und Vereine ein und darüberhinaus auch die für Freunde, Bekannte und Gäste offene häusliche Geselligkeit, die Teetische und Salons, die Gärten und Landsitze, die Kaffeehäuser, Konzertsäle, Theater und Badeorte als Stätten der Begegnung und des Austausches von Gedanken und Meinungen. Ein solcher Ansatz erlaubt auch, den Anteil von Frauen an der Soziabilität angemessen zu beschreiben und zu bewerten, wie zuletzt am Hamburger Beispiel von Anne-Charlott Trepp und Brigitte Tolkemitt gezeigt wurde. 2 4 Für die weitere Erforschung lungspotentiale. In: Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil IV. Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation. Stuttgart 1989. (= Industrielle Welt, Bd. 48, Τ. IV), S. 21-52; ders., Aufklärung als Kommunikationsprozeß. In: Aufklärung 2 (1987), H. 2, S. 89-111; Rudolf Vierhaus, Aufklärung als Prozeß - der Prozeß der Aufklärung. In: ebd., S. 3-7; ders., Aufklärung als Emanzipationsprozeß. In: ebd., S. 9-18. 16

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Hagen Schulze, Einleitung. In: Hans Staudinger: Wirtschaftspolitik im Weimarer Staat. Lebenserinnerungen eines politischen Beamten im Reich und in Preußen 1889 bis 1934. Hg. und eingel. von Hagen Schulze. Bonn 1982. (= Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 10), S. XI-XXV. Zur Dissertation S. XIII f. Staudinger (1889-1980) beschreibt seine Studienjahre auf S. 4—15. Vgl. auch Werner Jochmann, Hans Staudinger. In: Hamburger Kurs, Nr. 3, Mai 1980, S. 17. Fran?ois (Anm. 10). Anknüpfend und weiterführend jetzt Hans Erich Bödeker, Etienne F r a n c i s (Hg.): Aufklärung/Lumieres und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung. Leipzig 1996. (= Deutsch-Französische Kulturbibliothek, 5). Aus der englischen Forschung anregend John Money, Experience and Identity. Birmingham and the West Midlands 1760-1800. Manchester 1977 und R . J . Morris, Voluntary Societies and British Urban Elites, 1780-1850: An Analysis. In: The Historical Journal 26, 1 (1983), S. 95-118. Maurice Agulhon, La sociabilite est-elle objet d'histoire? In: Franfois (Anm. 10), S. 13-23. Rolf Reichardt, Zur Soziabilität in Frankreich beim Übergang vom Ancien Regime zur Moderne: neuere Forschungen und Probleme. In: Ebd., S. 27-42. Otto Dann, Sociabilite und Vereinsbildung. In: Ebd., S. 313-319. Vgl. auch Fred E. Schräder, Soziabilitätsgeschichte der Aufklärung. Zu einem europäischen Forschungsproblem. In: Francia 19/2 (1992), S. 177-194. Reichardt (Anm. 19), S. 29. Dann (Anm. 20), S. 313. Ebd., S. 314. Anne-Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840. Göttingen 1996. (= Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, 123), bes. S. 370-398; Brigitte Tolkemitt, Knotenpunkte im Beziehungsnetz der Gebildeten: Die gemischte Geselligkeit in den offenen Häusern der Hamburger Familien Reimarus und

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Franklin Kopitzsch

des Vereinswesens hat Reichardt mit Recht die Notwendigkeit unterstrichen, „die häufigen sozialen, räumlichen und zeitlichen Überschneidungen und Zusammenhänge verschiedener Gesellungsformen, die erst gemeinsam die Soziabilität' einer spezifischen Gesellschaft bilden" 25 , zu erforschen. Er hat einen „Perspektivenwechsel weg von der Institutionengeschichte und Sozialstruktur der Vereine hin zu deren Soziabilität' und gesellschaftlicher Wirkung" 2 6 , mithin die „anthropologische Perspektive" 27 vorgeschlagen. Aufgrund der Erfahrungen aus den letzten Jahrzehnten und weiterer neuer Beiträge 28 bleibt der regionalgeschichtliche Ansatz wichtig. Er ermöglicht die Zusammenschau der „Soziabilität", der Sozietätsbildung und des Vereinswesens in bestimmten Räumen und schafft damit Grundlagen für Vergleiche wie für umfassende Handbücher in der A r t des von Emil Eme für die Schweiz erarbeiteten Bandes. 29 Auf diese Weise lassen sich Verflechtungen von Geselligkeits- und Vereinsformen, zentrale Gestalten, Reformfelder, Anregungen und Ausstrahlungen im Prozeß der Aufklärung erhellen. Besonderes Augenmerk sollte den Zusammenhängen von „Reformdiskurs und sozialer Realität", der „Reformpolitik" gelten. Dazu haben Rolf Graber 3 0 und Hans-Werner Hahn 3 1 wertvolle Beiträge geliefert. Der regionalgeschichtliche Ansatz ermöglicht auch, zeitlich unterschiedlichen Ausprägungen und Wirkungen von Aufklärung gezielt nachzugehen, ihre Verbindungen mit politischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts in personeller und organisatorischer Hinsicht präziser zu bestimmen. Dieter Langewiesche hat dazu weiterführende Überlegungen beigesteuert. 32 Auch für die Teilhabe von Frauen an der Soziabilität und dem Vereinswesen ist der Blick vom 18. in das frühe 19. Jahrhundert unumgänglich. Dies gilt insbesondere für die frühen Frauen- und Wohltätigkeitsgesellschaften, die Vereinsbild-

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Sieveking. In: Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert. Hg. von Ulrike Weckel, Claudia Opitz, Brigitte Tolkemitt und Olivia Hochstrasser. Göttingen 1998. (= Das achtzehnte Jahrhundert, Supplementa, 6), S. 167-202. Reichardt (Anm. 19), S. 39. Ebd., S. 40. Ebd., S. 41. Neben den bei Kopitzsch (Anm. 1) genannten Arbeiten seien genannt: Susanne Schepp, Nürnbergs Lesegesellschaften an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 17 (1992), S. 109-151; Martina Graf, Buch- und Lesekultur in der Residenzstadt Braunschweig zur Zeit der Spätaufklärung unter Herzog Karl Wilhelm Ferdinand (1770-1806). In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 42 (1994), S. 1-318; Jens Riederer, Aufgeklärte Sozietäten und absolutistischer Staat im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Zur politischen Kultur eines Kleinstaates. In: Jürgen John (Hg.), Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20.Jahrhundert. Weimar, Köln, Wien 1994, S.233-256; Wilhelm Kreutz, Von der höfischen Institution zur bürgerlichen Sozietät-Das regionale Netzwerk der kurpfälzischen Aufklärung. In: Mannheimer Geschichtsblätter N. F. 3 (1996), S. 235-254. Emil Eme, Die schweizerischen Sozietäten. Lexikalische Darstellung der Reformgesellschaften des 18. Jahrhunderts in der Schweiz. Zürich 1988. Rolf Graber, Bürgerliche Öffentlichkeit und spätabsolutistischer Staat. Sozietätenbewegung und Konfliktkonjunktur in Zürich 1746-1780. Zürich 1993; ders., Reformdiskurs und soziale Realität: Die Naturforschende Gesellschaft in Zürich als Medium der Volksaufklärung. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997), S. 129-150. Hans-Werner Hahn, Lesegesellschaften und städtische Reformpolitik an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Bernhard Kirchgässner und Hans-Peter Becht (Hg.), Stadt und Bildung. Sigmaringen 1997. (= Stadt in der Geschichte, 24), S. 75-93. Neben diesem vergleichenden Uberblick s. auch ders., Altständisches Bürgertum zwischen Beharrung und Wandel. Wetzlar 1689-1870. München 1991. (= Stadt und Bürgertum, 2), S. 197-214, 269 ff., 475^178. Dieter Langewiesche, Spätaufklärung und Frühliberalismus in Deutschland. In: Eberhard Müller (Hg.), „ . . . aus der anmuthigen Gelehrsamkeit". Tübinger Studien zum 18.Jahrhundert. Dietrich Geyer zum 60. Geburtstag. Tübingen 1988, S. 67-80.

Aufklärungsgesellschaften in neuen Perspektiven

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ungen im religiös-kirchlichen und diakonischen Bereich und das „Netzwerk der Frauenvereine" vor, in und nach der Revolution von 1848/49. 33 Erfolgversprechend bleiben weiterhin der biographische und der kollektivbiographische Ansatz. Motive für die Wahl von einzelnen oder mehreren Formen der Geselligkeit, Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften, beibehaltene und wechselnde Schwerpunkte von Aktivitäten, die Bedeutung von Verwandtschaft, Freundschaft, Konfession und Profession, geschlechts- und generationsspezifische Ausprägungen lassen sich so erforschen, die Vielfalt der „Soziabilität" und „Bürgerkultur" 4 kann anschaulich dargestellt werden. Ein aufschlußreiches Exempel hat jüngst Susanne Asche mit ihrem Porträt des Karlsruher Kaufmanns, Unternehmers, Oberbürgermeisters und badischen Landtagsabgeordneten Christian Griesbach (1772-1838) gegeben. Er war Mitglied der „Gesellschaft zum Haarenen Ring", einer freundschaftlichen Vereinigung von Ehepaaren zur Lektüre, zum Spiel und zur Unterhaltung, und einer Lesegesellschaft, die sich zu einem Klub („Museum") entwickelte. Dieser Verein „suchte ,nicht nur schöne Bildung des Geistes und Geschmackes, sondern auch den guten Ton gebildeter Freunde zu befördern, und beydes im Kreise der Gebildeten zu genießen"'. In einer Stadt von rund 10 000 Einwohnern hatte er 340 Mitglieder, davon 93 Adlige, 77 Offiziere, 163 H o f - und Staatsbeamte, einige Fabrikanten, Kaufleute, Bankiers, Buch- und Weinhändler. 35 Auch und gerade unter vergleichenden Aspekten sind weitere Untersuchungen zu den Arbeitsfeldern der Aufklärungsgesellschaften sinnvoll, zu ihren Bibliotheksbeständen, um Einflüsse, Strömungen und Moden erfassen zu können, zu ihren Verbindungen mit Zeitungen und Zeitschriften, zu ihren eigenen Veröffentlichungen, um ihre Ausstrahlungen und Wirkungen zu bestimmen, zu ihrem Verständnis von Volksaufklärung, auch im Zusammenhang der Stadt-Land-Beziehungen, des patriarchalischen Wirkens von aufgeklärten Städtern auf dem und für das Land bis zu eigenständiger Aufklärung in solchen Gebieten. Auch dazu bietet Rolf Graber für Zürich wertvolle Hinweise. 36 Einen außerordentlich ergiebigen Quellenfundus stellen die - gedruckten wie ungedruckten - Vorlesungen, Vorträge und Abhandlungen von Aufklärungsgesellschaften dar, wie sie sich beispielsweise in Görlitz, Halberstadt und Lübeck erhalten haben. Mit den Korrespondenzen der Sozietäten vermitteln sie Aufschlüsse über Theorie und Praxis, Diskurs und Handeln der Aufklärer. 37 Ein zentrales Thema, das durch regionale und biographische Studien klarere Konturen erhalten kann, bleibt der Anteil der Aufklärungssozietäten an den Prozessen der Modernisierung, Politisierung und Demokratisierung. 8 Die „freien Associationen" als Förderer und Motoren fundamentaler Wandlungsvorgänge auf dem Weg von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft dürfen nicht unterschätzt oder gar übersehen werden. Sie boten in weitgehend noch ständisch geprägter Umgebung Möglichkeiten der Einübung demokratischer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung, trugen zur Verbreitung von Bürgersinn und Gemeingeist entscheidend bei, waren oft auch Wegbereiter der Toleranz und

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Zu letzteren am Hamburger Beispiel Ingeborg Grolle, Demokratie ohne Frauen? In Hamburg um 1848. Hamburg 1988. (= Geschichte - Schauplatz Hamburg), bes. S. 32: „Netzwerk der Hamburger Frauenvereine um 1848". Dieter Hein, Andreas Schulz (Hg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt. München 1996. Susanne Asche, Bildung, Wirtschaft und Politik. Der erste Karlsruher Oberbürgermeister Christian Griesbach (1772-1838) als Vertreter des neuen Bürgertums. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 144 (1996), S. 355-379, hier: S. 365 f., Zitat und Zahlen S. 366. Graber, Reformdiskurs (Anm. 30), bes. S. 149 f. Dazu Kopitzsch (Anm. 1), S. 667 f. mit Quellen- und Literaturhinweisen. Ebd., S. 675-678, auch zum folgenden.

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Franklin Kopitzsch

insgesamt, um ein Wort von Theodor Heuss aufzugreifen, „Formkräfte einer politischen Stilbildung" 3 9 . Daß Aufklärungsgesellschaften auf vielen Feldern - dem Armenwesen, dem Schulwesen, der Berufsbildung, der Gesundheitsvor- und -fürsorge, der Förderung von Landwirtschaft und Gewerbe, der Kunst und Kultur, überhaupt der Hilfe zur Selbsthilfe, nicht zuletzt durch Sparkassen - Reformen initiierten und oft auch selbst durchführten, wird zunehmend deutlicher und bestätigt eindrucksvoll den badischen Liberalen Carl Theodor Welcker, der in den Vereinen „die stets frische Lebensquelle von Thätigkeit und Bildung, von Wohlstand und Kraft der Bürger und des Staates" erkannte 40 . Die historische Würdigung der Aufklärungsgesellschaften vermag sich mit aktuellen Diskussionen über Aufgaben, Möglichkeiten und Perspektiven heutiger „Bürgergesellschaft" verbinden, Beispiele und Vorbilder für heutigen Bürgersinn und tätigen Gemeingeist zu geben.

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Theodor Heuss, Formkräfte einer politischen Stilbildung. Vortrag gehalten am 2. Mai 1952 vor der „Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik", am 10. Juni 1952 vor der „Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität B o n n " . Berlin 1952. (= Schriftenreihe der Deutschen Hochschule für Politik Berlin/Politeia Bonner Universitätsreden). Auch in: Ders., Die großen Reden. Der Staatsmann. Tübingen 1965, S. 184-223. (Carl Theodor) Welcker, Association, Verein, Gesellschaft, Volksversammlung (Reden aus Volk und collective Petitionen), Associationsrecht. In: Carl von Rotteck und Carl Welcker (Hg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften. 2. Bd. Altona 1835, S. 21-53, hier: S. 23. Vgl. dazu ausführlicher Kopitzsch (Anm. 1), S. 664-675.

DETLEF DÖRING, LEIPZIG

Die Leipziger gelehrten Sozietäten in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts und das Auftreten Johann Christoph Gottscheds Es ist allgemein bekannt, daß Gottscheds Wirken in Leipzig und sein Einfluß auf das geistig-wissenschaftliche Leben bis weit über die Grenzen dieser Stadt hinaus aufs engste mit der Existenz gelehrter Sozietäten in Verbindung zu bringen ist, die entweder von ihm gegründet wurden oder deren Leitung er übernahm. Zumindest die „Deutsche Gesellschaft" ist dem an der Literaturgeschichte Interessierten ein Begriff; mitunter weiß man noch von der „Gesellschaft der freien K ü n s t e " ; die Kunde vom Wirken weiterer von Gottsched beeinflußter Sozietäten zählt dagegen eher zum Wissen einiger Spezialisten. Was jedoch, soweit ich sehe, in der bisherigen Forschung ganz unbeachtet geblieben ist, das sind die spezifischen Bedingungen, die die Stadt Leipzig dem Auftreten Gottscheds in dieser Beziehung bot. D e r Literatur- und Sprachreformator schuf bzw. reformierte seine Gesellschaften nicht aus dem Ungefähren oder kraft seines Genius, vielmehr konnte er an Traditionen anknüpfen, die rund einhundert Jahre zurückreichten. Als Gottsched auf seiner Flucht vor den preußischen Werbern im Februar 1724 die Messestadt erreichte, betrat er einen Ort, der in geistig-kultureller Hinsicht sich nicht allein durch seine Universität und durch seine Rolle als mitteleuropäisches Zentrum des Verlagswesens auszeichnete, sondern auch durch eine bemerkenswerte große, für Deutschland vielleicht einmalige Zahl von gelehrten Sozietäten. 1 Es sei im „cultivirten Leipzig nichts neues", schreibt Christoph Ernst Sicul 1719, „daß bald diese, bald eine andere Societät, auf die Bahne und zu Stande gebracht wird . . . In diesem Stücke giebt unser Leipzig auch den größten Städten in Europa nichts zuvor." Der Unterschied bestehe nur darin, daß die Sozietäten im Ausland die wohlklingende Bezeichnung „Akademien" tragen würden, während in Leipzig diese Gesellschaften bescheidener sich Kollegien nennen. 2 Mit dem Begriff Kollegien fällt ein Stichwort, das für die Charakterisierung wohl aller Leipziger Gründungen von Gelehrtengesellschaften im 17./ frühen 18. Jh. (und sogar noch darüber hinaus) zentrale Bedeutung besitzt. 3 Bei den von Sicul als Akademien verstandenen Kolle-

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D e n umfangreichsten Ü b e r b l i c k über die Leipziger Sozietäten vermittelt J o h a n n Daniel Schulze: A b r i ß einer Geschichte der Leipziger Universität im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1810, S. 1 7 7 - 2 7 5 . Kaum über Schulzes Ausführungen hinaus geht C . C . C . Gretschel: D i e Universität Leipzig in der Vergangenheit und Gegenwart. Dresden 1830, S. 164—183. Alle diese Sozietäten gehören auch zur Vorgeschichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Das verkennt die ansonsten gründliche Arbeit von Elisabeth L e a / Gerald Wiemers: Planung und Entstehung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 1704— 1846. Göttingen 1996 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil-hist. Klasse. 3. Folge, Nr. 217).

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Christoph Ernst Sicul: Leipziger Jahr-Geschichte, I, S. F 2 V . (Dieses Jahrbuch, das insbesondere die Vorgänge an der Universität berücksichtigt, erschien unter wechselnden Titeln zwischen 1715 und 1731. Vgl. die genaueren bibliographischen Angaben in: Karl-Marx-Universität Leipzig. Bibliographie zur Universitätsgeschichte 1 4 0 9 - 1 9 5 9 . Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Sächsischen Akademie der Wiss. Leipzig 1961 [Bibliographie zur Geschichte der Stadt Leipzig. Sonderband II], S. 15. Es handelt sich insgesamt um vier Bände. Zitiert wird nach B a n d n u m m e r und Seite).

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Vgl. zu den Kollegien die weit ausführlichere Darstellung bei Detlef Döring: D e r junge Leibniz und die Gelehrtengesellschaften in Leipzig und Jena. In: Wissenschaft und Weltgestaltung. Leibniz-Symposion in Leipzig 1996. Hildesheim 1998 (im D r u c k ) . Ich gebe im folgenden jedoch auch einige neue Feststellungen und Beobachtungen wieder.

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Detlef Döring

gien, 4 die i m z w e i t e n D r i t t e l des 1 7 . J h . in L e i p z i g erstmals n a c h z u w e i s e n sind, h a n d e l t e es sich u m p r i v a t e V e r b i n d u n g e n , d e n e n eher j u n g e L e u t e beitraten - Magister, o f t a b e r a u c h S t u d e n t e n . S c h o n d a d u r c h ist eine N ä h e dieser S o z i e t ä t e n z u r U n i v e r s i t ä t gegeben. 5 I h r Z w e c k b e s t a n d in erster Linie in d e r D u r c h f ü h r u n g r e g e l m ä ß i g e r Z u s a m m e n k ü n f t e , die n a c h b e s t i m m t e n S a t z u n g e n gestaltet w u r d e n u n d bei d e n e n f r e m d e o d e r eigene Texte u n t e r schiedlichen C h a r a k t e r s z u r D i s k u s s i o n gelangten. J e nach K o l l e g i u m oszillierte diese Tätigkeit in u n t e r s c h i e d l i c h e m M a ß e z w i s c h e n F o r s c h u n g u n d L e h r e . W i c h t i g u n d s i g n i f i k a n t ist das d a m i t v e r b u n d e n e Bestreben, sich in d e r R h e t o r i k u n d i m G e b r a u c h d e r lateinischen, später a u c h d e r d e u t s c h e n S p r a c h e z u ü b e n . D i e e r w ä h n t e n S a t z u n g e n legten O r d n u n g u n d F o r m dieser V o r t r ä g e b z w . D i s k u s s i o n e n fest, t r a f e n B e s t i m m u n g e n ü b e r ein ä u ß e r e s R e g l e m e n t , einschließlich d e r E r h e b u n g v o n S t r a f g e l d e r n f ü r u n e n t s c h u l d i g t e s Fehlen, z u spätes Erscheinen, u n g e b ü h r l i c h e s A u f t r e t e n u s w . G e m ä ß i h r e r D e v i s e , das N ü t z l i c h e (utile) m i t d e m A n g e n e h m e n (dulci) z u v e r b i n d e n , 6 w a r es bei allen diesen K o l l e g i e n üblich, gelegentlich f e u c h t - f r ö h l i c h e F e i e r n ( o f t z u m G r ü n d u n g s j u b i l ä u m ) z u v e r a n s t a l t e n u n d das d a m a l s w e i t h i n v e r b r e i t e t e V e r f a s s e n v o n K a s u a l l y r i k z u ü b e n , meist z u E h r e n e i n z e l n e r M i t g l i e d e r (anläßlich v o n P r o m o t i o n e n , H o c h z e i t e n , E r l a n g u n g eines A m t e s usw.). D i e s e d e n M i t g l i e d e r n d e r K o l l e g i e n genau v o r g e s c h r i e b e n e n G e s e t z e u n d O r d n u n g e n m a c h e n in erster L i n i e d e n U n t e r s c h i e d z u sonstigen l o s e n Z u s a m m e n k ü n f t e n v o n G e l e h r t e n aus. 7 M e r k w ü r d i g e r w e i s e h a b e n diese K o l l e g i e n , die sich a u c h an a n d e r e n

Universitäten

n a c h w e i s e n lassen, 8 seitens d e r F o r s c h u n g z u r S o z i e t ä t s b e w e g u n g d e r A u f k l ä r u n g m . E .

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Es gilt, diese Kollegien vom Collegium publicum, d.h. der öffentlichen Lehrveranstaltung an der Universität, zu unterscheiden. Ein Kollegium im Sinne einer Sozietät ist der zahlenmäßig meist beschränkte Zusammenschluß von Privatpersonen, die sich regelmäßig zusammenfinden, um im Rahmen statuarisch festgelegter Regeln über bestimmte Themen zu diskutieren. Es gibt, wie wir noch sehen werden, allerdings auch Beispiele, w o sich der Unterschied zwischen einer Sozietät und einem Collegium publicum verwischt. Angefangen vom Collegium Gellianum und vom Collegium Anthologicum bildet die Beschäftigung mit Büchern ein zentrales Anliegen der Kollegien. Die Bücher werden von einzelnen Mitgliedern gelesen, der gesamten Gesellschaft vorgestellt und beurteilt, das Ergebnis schriftlich festgehalten; einige Kollegien denken sogar an eine Veröffentlichung der Papiere, wenn auch nach meinem Wissen daraus nie etwas geworden ist. Es ist wohl aus dieser Tatsache abzuleiten, daß der Herausgeberkreis der ersten gelehrten Zeitschriften, die Ende des 17./ Anfang 18. Jh. zu erscheinen begannen, sich ebenfalls als Kollegien verstanden. Im übrigen gehörten viele der Mitarbeiter an den Acta Eruditorum und den anderen in Leipzig erscheinenden Zeitschriften einem oder mehreren Gelehrtenkollegien an. In einem Schreiben der Universität (s. Anm. 11) werden alle Kollegien unter dem Begriff „Collegium privatum Academicum" zusammengefaßt. Zugleich wird festgestellt, daß die jeweiligen Fakultäten eine „Inspection" über die Kollegien führen würden. In der zeitgenössischen Literatur werden im übrigen auch Zusammenschlüsse außerhalb des gelehrten Milieus (Zünfte, Begräbnisbruderschaften u. a.) als Kollegien oder Sozietäten bezeichnet. Gleiches gilt für Witwen- und Waisenkassen. Diese Verbindungen bilden kein Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. So heißt es in den Statuten des Collegium Anthologicum: „Utile dulci qui miscuerit, applausum merebitur" (s. Döring, Samuel Pufendorf [s. Anm. 35], S. 34). Vgl. einein Gottscheds „Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit" (Jg. 1760, S. 797 ff.) veröffentlichte Rezension der „Nachricht von einer alten gelehrten Gesellschaft zu Nürnberg". Dort heißt es, Joachim Camerarius habe in Nürnberg „ein gelehrtes Kränzlein" (bzw. ein „sog. Kränzchen") gestiftet. Zwar habe es dort zuvor auch schon „gelehrte Versammlungen", gegeben, aber eben keine „durch Gesetze und Ordnungen gebundene Gesellschaften". Merkwürdig ist allerdings der hier verwendete Begriff „Kränzchen", der ansonsten eher die nicht durch „Gesetze und Ordnungen" geregelten Zusammenkünfte von Personen meint (s. S. 33). Ich nenne hier nur folgende mir bekannte Sozietäten (unter Ausklammerung der in Abhängigkeit zur Leipziger Deutschen Gesellschaft stehenden verwandten Sozietäten in Deutschland): Societas Disquirentium (Jena, gegründet 1672; authentischste Nachrichten in: Historia Societas Disquirentium ad virum nobilissimum atque consultissimum Iohannem Christianum Schroeterum . . . ascripta a collegis. Jena 1683);

Gottsched und die Leipziger gelehrten Sozietäten

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keinerlei Beachtung gefunden. 9 Sie gehören jedoch zur unmittelbaren Vorgeschichte der wissenschaftlichen Akademien, wenn es auch nirgends zur Gründung einer Akademie aus dem Schöße eines Kollegiums gekommen ist. Jedoch sind wesentliche Elemente, die später die Tätigkeit der Akademien ausmachen werden, hier bereits präfiguriert: die arbeitsteilige Beschäftigung mit wissenschaftlichen Themen, Austausch und Diskussion der gewonnenen Ergebnisse, deren schriftliche Fixierung zum Zwecke einer späteren Veröffentlichung. Die gleiche Feststellung gilt für die äußeren Formen: begrenzte Mitgliederzahl, Zuwahlen Societas latina (Jena, gegründet 1734, gab heraus: Exercitationes Societatis Latinae Jenensis. 1741-43); Societas Latina Halensis (Halle, gegründet 1734, gab heraus: Pieredes sive Latium literatum, continens selectum elaborantium a membris societatis Latinae exhibitarum, ad omnigenam eruditionum facientium. 1736f. Dort werden z . B . als Themen behandelt: Tractatus de Terra conceptionis Caroli Magni; Historia Waldensium). A b 1739 tritt eine „prüfende Gesellschaft zu H a l l e " in Erscheinung, „welche allerhand wichtige in alle Theile der Gelehrsamkeit lauffende Materien zu erörtern sich angelegen seyn lasset." Über einen Band scheint diese Publikation jedoch nicht hinausgegangen zu sein. Weiterhin zu nennen sind: Societas Scrutantium (Kiel, 1697 von Johann Burchard Majus gegründet, 1699 eingegangen. Gehandelt wurde über die historischen Fächer, in deutscher Sprache, oft auf Grundlage von Buchbesprechungen. Vgl. Carl Rodenberg: Die Anfänge der Christian-Albrechts Universität Kiel. Überarbeitet u. Hrsg. von Volquart Pauls. Neumünster 1955 [Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 31, S. 334 f., dort weitere Literaturangaben]); Societas Conantium (1699-1701 in Hannover, 1711 in Helmstädt durch den Philosophieprofessor Cornelius Dietrich Koch mit der Ermutigung durch Leibniz' neu gegründet. Vgl. Annales Academiae Juliae. Semestre Primum. Helmstädt 1722, S. 159-192 [Ex actis Societatis Conantium excerpta]. Abgedruckt werden u.a. zwei Briefe Kochs an die Mitglieder und mehrere Schreiben Leibniz'); Tresenreuterische philologische Gesellschaft (1740-1754 in Altdorf, von Christoph Friedrich Tresenreuter nach dem Vorbild einer [mir unbekannten] Societas Φιλομαθουντων zu Leipzig gegründet. Vgl. G e o r g Andreas Wills: Geschichte und Beschreibung der Nürnberger Universität Altdorf. Altdorf 1795, S. 149 f., dort auch Angaben zu weiteren Gesellschaften der 2. Hälfte des 18. Jh.s). A m Coburger Casimirianum, einem zeitweise zur Erhebung in den Rang einer Universität vorgesehenen Gymnasium, ist 1701 durch Ernst Salomo Cyprian eine wöchentliche Diskussionsveranstaltung, benannt „ N o c t e s Casimirianae", gegründet worden. D a s Vorbild ist offenkundig, wie schon beim Leipziger Collegium Gellianum, Gellianus' 'Noctes Atticae". Als Vorgänger nennt Cyprian einige italienische Akademien und die eben erst gegründete Berliner Sozietät. Als Ziel dieser Akademie, der sich auch die Coburger Neugründung verpflichtet fühle, formuliert Cyprian: „Igitur viri docti, ut munerum suorum molestias, utili tarnen, emollirent, et quiescentes conferrent aliquid ad vitae humanae commoditatem, amicos congressus instituerunt, atque de rebus iucundis collocuti sunt." (E. S. Cyprian: Invitatio ad Noctes Casimirianas. In: ders.: Selecta programmata. C o b u r g 1708, S. 14— 21, Zitat S. 18). Als Interessenbereiche der Gesellschaft werden genannt: Theologie, Literaturgeschichte, Numismatik „aliasque res investigatione dignas pertinentia." Vgl. Herbert Oppel: D . Ernst Cyprian, Direktor des Casimirianums von 1700 bis 1713, und die Noctes Casimirianae. In: Gymnasium Casimirianum Coburg. Bericht über das Schuljahr 1975/76. C o b u r g 1976, S. 5-9. Es ist wohl mit Sicherheit davon auszugehen, daß intensivere Forschungen zu diesem Thema noch eine Reihe weiterer solcher Sozietäten bekannt machen würde. 9

Ich nenne stellvertretend für die entsprechende Literatur hier nur Richard van Dülmens verbreitetes Buch „ D i e Gesellschaft der Aufklärer" (Frankfurt/M. 1986, 2. Aufl. 1996). Erwähnt werden zur Frühgeschichte des Sozietätswesens allein die Sprachgesellschaften, die Societas ereunetica, die Leopoldina und Leibniz' Pläne. Eine Fehlanzeige hinsichtlich unseres Themas bietet auch das neueste, sehr umfangreiche Werk zu den Sozietäten: Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Hrsg. von K. Garber und H.Wismann. Tübingen 1996. Eine erst kürzlich erschienene Arbeit von Wolfgang Hardtwig (Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Bd. 1. Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. München 1997) erwähnt zwar im Zusammenhang mit der Gründung der Collegia pietatis einige Leipziger Kollegien als Beispiele eines „universitären Collegium" (u.a. das Collegium Anthologicum und das Collegium Gellianum), das als ein Vorbild des Collegium philobiblicum August Hermann Franckes gedient habe, geht aber nicht näher auf das Thema ein. Etwas vage wird lediglich auf „lehrreformerische Bestrebungen innerhalb der Universität" als Hintergrund dieser Kollegien verwiesen (S. 177 f.). Dabei handelt es sich jedoch um eine reine Vermutung, die m.E. quellenmäßig nicht belegbar ist. Schließlich meint Hardtwig, diese Kollegien sollten „in sozietätsgeschichtlicher Sicht größere Aufmerksamkeit" finden.

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auf der Grundlage von Vorschlägen aus den eigenen Reihen, regelmäßige Zusammenkünfte, genaue Reglung des Verlaufs der Sitzungen. Wir wenden uns jetzt der Entwicklung der Leipziger Kollegien bis zum Auftreten Gottscheds zu. Es versteht sich, daß im Rahmen eines Vortrages nur eine Skizze geboten werden kann. Zur Zeit des Eintreffens von Gottsched in der Messestadt lassen sich drei Arten von Kollegien ausmachen, je nach Hinsicht der von ihnen verfolgten Interessen. An erster Stelle stehen, was Alter und Anzahl betrifft, die Predigerkollegien. Die Predigt bildet das Herzstück der Tätigkeit des damaligen Geistlichen und als entsprechend wichtig erscheint das gründliche Einüben der notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten. 1 0 Die Grundlage des Predigens bildet zwar die traditionelle schon an den Schulen intensiv vermittelte Rhetorik, wir kommen auf sie noch zurück, jedoch mußten deren Techniken den Belangen der geistlichen Beredsamkeit angepaßt werden; die Predigerkollegien mochten hier ein gutes Übungsfeld bieten. Leipzig wirkte mit der Entwicklung einer eigenen Predigtmethode (Leipziger Methode) zudem geradezu schulbildend auf die Kanzelrhetorik im protestantischen Bereich. Es ist daher nicht überraschend, daß wir hier homiletische Gesellschaften in besonders hoher Zahl antreffen. 11 Die Tätigkeit der Mitglieder aller dieser Kollegien bestand im Vortragen von Predigten, die anschließend diskutiert und bewertet wurden. Im übrigen finden wir hier bereits alle Wesenszüge, die für die Leipziger Kollegien insgesamt typisch sind: Zuwahl neuer Mitglieder allein durch das Kollegium, das Erheben von Strafgeldern, das Verbot von Zank und unlauterem Streit, 12 das Zirkulieren der Predigttexte unter den Mitgliedern, das Verfassen von Gratulationsgedichten. Die frühste Gründung dieser Art, das Montägige oder Große Prediger-Kollegium, geht auf das Jahr 1624 zurück. 1 Schon allein diese Verbindung kann bei der lOOjahrfeier ihres Bestehens insgesamt 500 Mitglieder (seit der Gründung des Kollegs) vorweisen. 1640 folgt die Bildung des Donnerstägigen großen Prediger-Kollegiums. In den zwanziger Jahren des 18. Jh. existieren neben

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I m Durchschnitt mußte ein damaliger Geistlicher pro J a h r ca. 200 Predigten ( 1 - 3 Stunden Länge) halten; dazu kamen noch die Kasualpredigten (vgl. Theologische Realenzyklöpädie, Bd. X X V I I , S. 300).

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In einem an das Leipziger Konsistorium bzw. an den K ö n i g und Kurfürsten gerichteten Bericht wird von der Universität ausdrücklich festgestellt, daß es in den Predigergesellschaft allein darum ginge, daß die Mitglieder „durch sothane U e b u n g die ihnen als zukünftigen Candidatis Ministerii nöthige Fertigkeit und G e schicklichkeit in Predigen erlangen m ö g e n . " (Schulze [s. A n m . 1], S. 186). D e n Hintergrund dieses Schreibens bildet der Versuch des Leipziger Konsistoriums, eine Oberaufsicht über das Montägige Predigerkolleg zu erlangen.

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B ö h m e l (s. A n m . 13) berichtet, daß er im Mitgliederverzeichnis bei einem kurz nach der Gründung beigetretenen Mitglied folgende N o t i z gefunden habe: „ob rixositatem exclusus est." D i e Bemerkung „exclusus e s t " sei auch bei anderen N a m e n notiert worden.

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Vgl. Sicul, I, S. 203 ff.; Schulze [s. A n m . 1], S. 177 ff. Zu den Mitgliedern der ersten einhundert Jahres ihres Bestehens vgl. N o m i n a sociorum qui Collegio concionatorio maiori, atque antiquiori . . . interfuerunt. Leipzig 1725. I m Vorwort werden alle Mitglieder darum gebeten, Nachrichten über das Leben und die Schriften der angeführten Mitglieder zu übermitteln (an den Leipziger Buchhändler J o h a n n Christian Martini). D i e versprochene Veröffentlichung dieser Materialien ist nicht zustandegekommen. Zu den M i t glieder zählten zahlreiche bekannte N a m e n , ζ. B.: Adam Olearius, Christian Friedrich Franckenstein, J o h a n n Benedikt und Samuel Benedikt Carpzov, J o h a n n Heinrich H o r b , J o h a n n J a c o b Mascov, O t t o Mencke, Johannes Lyser, August H e r m a n n Francke. E i n fortgeführtes Mitgliederverzeichnis und einige knappe Mitteilungen zur Geschichte des Kollegiums bietet die anonyme (von Karl August B ö h m e l verfaßte) Schrift: Einladung zur zweiten Säcularfeier des älteren Mondtägigen Predigercollegiums in Leipzig. Leipzig 1824. Eine „eigentliche Geschichte der A n s t a l t " , meint B ö h m e l , sei aus „Mangel aller dahin einschlagenden N a c h r i c h t e n " nicht möglich (S. IV). B ö h m e l meint, die Gründung des Kollegiums auf die den Protestantismus bedrohenden politischen Verhältnisse um 1620 zurückführen zu können; es wäre dem Kollegium um die Verteidigung des Glaubens gegangen. O b diese Behauptung eine Spekulation darstellt oder quellenmäßig abgesichert war, kann ich nicht sagen.

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diesen schon auf eine lange Entwicklung zurückblickenden Sozietäten noch eine große Zahl ähnlicher Einrichtungen, die allesamt in den ersten beiden Jahrzehnten des Säkulums ins Leben gerufen worden waren. Bemerkenswert ist die Existenz zweier Kollegien, die ausdrücklich der Übung des Predigens in slawischen Sprachen, in Sorbisch und Polnisch, verpflichtet sind: das polnische Prediger-Kollegium 1 4 und das wendische Kollegium (Collegium Homiletico-Practico-Vandalicum oder Wendische Predigergesellschaft). 15 Zum Einüben in die deutsche Predigt stehen neben den alten Gründungen des 17. Jh. eine ganze Reihe von Kollegien zur Verfügung. Meist sind sie um eine Person, die ein Theologieprofessor sein kann aber nicht muß, konzentriert; entsprechend rasch können sie auch wieder eingehen. 16 Als Beispiel sei auf das Collegium Dispositorio-Practicum verwiesen, dessen Entstehen (1719) auf die Initiative Christian Gottlieb Jöchers zurückzuführen ist, der heute noch am ehesten durch sein verbreitetes Gelehrtenlexikon bekannt ist. Die Disposition der Predigt muß von den Teilnehmern an Jöcher zu einer ersten Beurteilung eingereicht werden, in Anwesenheit aller Mitglieder wird der Text besprochen, am folgenden Sonnabend kommt die Predigt in der Pauliner-Kirche zum Vortrag, anschließend erfolgt eine erneute Diskussion. Den Predigergesellschaften nahe stehen einige Verbindungen, die sich der Übung des katechetischen Unterrichtes widmen. Die dabei gepflogene Praxis ist - gleiches gilt in modifizierter Form für die Predigergesellschaften - bis heute in der Theologenausbildung lebendig: Die Eltern („theil erbarn theils geringerer Extraction") schicken ihre Kinder in den Unterricht, damit sie „im Christentum unterrichtet und erbauet werden mögen." N a c h Beendigung des Unterrichts wird die Leistung „des iedesmaligen Ca-

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Vgl. Sicul I, S. 889-892. D i e Gründung des Kollegiums wird hier mit der Notwendigkeit begründet, nicht allein die Wissenschaften selbst zu lernen, sondern auch die Fähigkeit zu erwerben, „das Erlernte wieder an den Mann zu bringen". Ein Polnisches Predigerkolleg sei schon vor ungefähr 12 Jahren (also ca. 1706) gegründet worden, sei dann aber wieder eingegangen.

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Vgl. Kurzer Entwurf einer Oberlausitz-wendischen Kirchenhistorie, abgefaßt von einigen Oberlausitzischen wendischen Predigern. Budißin 1767, S. 131-216 (nach handschriftlicher N o t i z auf dem Titelblatt des Exemplars der U B Leipzig von Peter Pannach und Friedrich Lange): Vom Leipziger Seminario zur Oberlausitzischen wendischen Priesterschaft, darunter Mitgliederverzeichnis, S. 140-216. Weitgehend davon abhängig Schulze (s. Anm. 1), S. 206; vgl. aber auch Sicul (s. Anm. 2) I, S. 52 ff. Rainer Haas: Die Lausitzer Prediger-Gesellschaft zu Leipzig (Sorabia). In: Zeitschr. f. Religions- und Geistesgeschichte, 24 (1972), S. 46-56 (mit weiteren Literaturhinweisen). Zur Bedeutung des Kollegiums für die Geschichte der Slawistik vgl. Hubert Rösel: Beiträge zur Geschichte der Slawistik an den Universitäten Halle und Leipzig im 18. und 19. Jahrhundert. Heidelberg 1964 (Annales Universitatis Saraviensis. Reihe: Phil. Fak., Bd. 3), S. 41 ff. Gerhard Graf: Zur Geschichte der Lausitzer Predigergesellschaft zu Leipzig. Ein Nachtrag. In: Herbergen der Christenheit, Bd. X I I (1979/80), S. 101-112. Graf, dessen Aufsatz ansonsten einen sehr soliden Eindruck vermittelt, meint der Gesellschaft einen pietistischen Charakter zuschreiben zu können (S. 105). Dies läßt sich jedoch m.E. nicht belegen. Die bloße Bezeichnung als Collegium muß nicht, wie Graf meint, die Verwandschaft zum Collegium Philobiblicum belegen, da die Tradition der Kollegien weit über die Gründungszeit jener pietistischen Verbindung zurückgeht. 1716 war das Collegium philobiblicum im übrigen längst nicht mehr eine Sammelstätte der Leipziger Pietisten (vgl die Ausführungen im vorliegenden Beitrag, S. 26). Zu dieser Gesellschaft hat sich ein größerer Bestand an archivalischen Material erhalten. Vgl. Graf, S. 108, Anm. 4 (Evangel.-Luth. Landeskirchenamt Dresden); Gunda Heyder: Die Korrespondenz der Wendischen Predigergesellschaft zu Leipzig in den Jahren 1778-1782. In: Letopis. Jahresschrift des Instituts für sorbische Volksforschung. Reihe B, Nr. 36 (1989), S. 47-67 (Staatsarchiv Leipzig). Bemerkenswert ist, daß die Wendische Predigergesellschaft in ihrer späteren Zeit (Mitte des 18. Jh.s) eine Entwicklung zu einer im Ansatz wissenschaftlichen Einrichtung zur Beschäftigung mit der sorbischen Sprache und Kultur vollzog.

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Ich nenne einige Beispiele: Collegium Concionatorium Sabbathicum (S. Sicul II, S. 260 f., 1694 von F. Werner gegründetes Predigerkollegium), Collegium Homiletico-Practicum Kregelianum (Sicul II, S. 261 f.), Collegium Homiletico-Practicum Deylingianum (Sicul III, S. 49 f.).

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techetae" besprochen und vom Präses benotet. 1 7 Für die Geschichte der Predigt sowie überhaupt für die Kulturgeschichte wäre die Beschäftigung mit den in jenen Kollegien gehaltenen Übungspredigten sicher von einigem Interesse, leider scheint es jedoch ganz und gar an überlieferten Texten zu fehlen. 18 Immerhin verfügen wir wenigstens über ein, allerdings wenig günstiges Zeugnis zur Tätigkeit der Predigerkollegien, das aus berufenem Munde stammt. Gottsched selbst war Mitglied des Montägigen Predigerkollegs und urteilt im Rückblick sehr scharf über seine dort gewonnenen Erfahrungen. Danach muß zumindest im größten und bekanntesten Kolleg die aus Reformation und Barock überkommene und jetzt als völlig zeitfremd empfundene Methode des Predigens noch sehr lebendig gewesen sein. Gerade die so sehr in Ansehen stehende Leipziger Predigermethode erscheint Gottsched als künstlich, unverständlich und widervernünftig, weit- und lebensfremd, dem Ansehen der christlichen Religion geradezu verderblich. 1 9 Daß sich diese „sogenannte Homiletik" auf allen Kanzeln des Landes verbreitet hat, sei nicht zuletzt dem Wirken der Predigergesellschaften 20 zuzuschreiben, das Gottsched in den schwärzesten Farben malt: „In Wahrheit Μ. H . es ist lächerlich, wenn man in Predigergesellschaften die Censuren über gehaltene Reden anhöret. Man fragt da nicht ob die Predigt deutlich, gründlich, erbaulich und anständig gewesen. Man untersucht nicht die Erklärungen, die Beweise, die Bewegungsgründe, die Schreibart und den Vortrag. Nein, man bekümmert sich, ob der Prediger synthetisch oder analytisch geprediget; ob er methodo naturali oder schematica disponiret; ob das Thema und die Partition recht kunstmäßig abgefasset worden; ob das genus Didascalium oder Elenchticum gewesen; ob man das praedicatum oder den actum oder die formam zu erklären vergessen? U n d wer kan alle die Subtilitäten behalten, die in solchen sonst gelehrten Gesellschaften vorkommen. Allein was ist das Wunder, daß man sich bey solchen Kleinigkeiten aufhält, und das wichtigste in der Lehrart versäumet, Mücken säuget und Camele verschlucket?" 2 1 In eine Nähe zu den Predigerkollegien sind die Rednergesellschaften anzusiedeln. Bekanntlich bildete die Rhetorik im Barockzeitalter nicht ein Fach unter vielen, sondern hatte den Rang einer Art Leitwissenschaft inne. 22 Als eine bereits in der Antike voll ausgeformte Disziplin genoß sie größte Anerkennung, verfügte an der Universität über einen eigenen Lehrstuhl, bildete aber darüberhinaus für alle wissenschaftlichen Disziplinen eine gar nicht wegzudenkende Grundlage. Die Rhetorik besaß übrigens eine ausgesprochen praxisnahe Orientierung, denn Anlässe zum Abhalten von Reden gab es bei einer uns kaum noch vorstellbaren Anzahl von Gelegenheiten: Festveranstaltungen an den Schulen und Universitäten, Gedenkreden, Reden bei Hochzeiten, Begräbnissen und Amtseinführungen, häufige Disputationsübungen an den Hochschulen, Reden bei den unterschiedlichsten Ereig17

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Ζ. B. Collegium Catechetico-Practicum, gegründet von Johann Adam Gehr (s. Sicul I, S. 646-48); Collegium Catechetico-Practicum, von Johann G e o r g H o f f m a n n 1712 gegründet (s. Sicul I, S. 428 f.). So berichtet Böhmel (s. Anm. 13), daß es im Archiv der Montägigen Gesellschaft keinerlei Predigertexte gäbe. Bei der völlig unzulänglichen bibliographischen Erfassung gerade auch der gedruckten Predigten halte ich es aber für möglich, daß sich dieser oder jener Text noch ermitteln läßt. J . Chr. Gottsched: Ausführliche Redekunst, N a c h Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neuern Ausländer; Geistlichen und weltlichen Rednern zu gut, in zween Theilen verfasset. Leipzig 1736, S. 575 f. (auch enthalten in: AW, 7. B d . ) In seiner „ R e d e k u n s t " fragt Gottsched, ob Paulus ein „Collegium Homileticum resolutorio-dispositoriovariatorio-analytico-schematicum" besucht habe. Er dürfte mit dieser karikierenden Bezeichnung die Leipziger Verhältnisse im Auge haben. Redekunst (s. Anm. 19), S. 518 f. Vgl. den Artikel „ B a r o c k " in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 1. Tübingen 1992, Sp. 1285-1366. Gert Ueding/ Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Stuttgart, Weimar 1994, S. 74-99.

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nissen des Hoflebens usw. usf. Bei dieser zentralen Bedeutung der Beherrschung der rhetorischen Techniken mußte das Bedürfnis entstehen, Gelegenheiten zu schaffen, die Kunst der Rede auch über die an der Universität regulär gebotenen Möglichkeiten hinaus zu üben. Dieses Anliegen bildet den Hintergrund für die Bildung besonderer Gesellschaften zur Pflege der Rhetorik. Als frühste entsprechende Gründung muß hier wohl das Oratorium Schmidianum bezeichnet werden. 3 1682 wurde es ins Leben gerufen und existierte mindestens bis zum Tode ihres Stifters, des Professors der Eloquenz, Johann Schmidt (1649-1731). 2 4 Der Einfluß des Oratoriums auf weite Kreise der Gebildeten innerund außerhalb Sachsens muß groß gewesen sein, heißt es doch 1720, daß das Verzeichnis der Mitglieder „verschiedene von Adel, Königl. Chur- und Fürstl. Räthe, Doctores und Professores, ja fast die Helffte der itztlebenden hiesigen Professorum, und nicht weniger auswärtige Superintendenten und Pastores aufweiset." 2 5 Auch diese Rednergesellschaft ist nach Regeln konzipiert, die dann bei allen ähnlichen Verbindungen immer wieder anzutreffen sind: Jedes Mitglied muß einen Antritts- und einen Abschiedssermon halten; der Präses erwidert dann mit einer Gegenrede. Die Dispositionen der bei den Zusammenkünften zu haltenden Reden müssen zuvor den einzelnen Mitgliedern schriftlich mitgeteilt werden, „damit die Censuren desto glücklicher gerathen können." Bei besonderen biographischen Ereignissen werden für die betreffenden Mitglieder Gedichte verfaßt. Die Gesellschaft finanziert sich über die üblichen Wege, d. h. insbesondere über die Erhebung von Strafgeldern. Aus diesem Topf wird dann auch gelegentlich ein „ansehnliches Schmäußgen" bestritten. Aufschlußreich in Hinsicht auf die innerhalb der Rednergesellschaften verfolgten Intentionen ist die von dem Theologen und Juristen Christian Weidling 1694 gegründete „Gelehrte Redner-Societät." 2 6 Weitling will hier die Hörer seiner an der Universität gebotenen „Collegia Oratoria theoretico-practica" durch „reiffe Elaborationes" unterhalten und sie „zum Extemporanisiren in allerhand aus dem Stegreiff geforderten Complimenten" führen. Anfangs wird sonnabends von den Adligen eine Hofrede, von den Bürgerlichen eine Ratsrede gehalten; mittwochs tritt das gesamte Collegium zusammen. Als dann immer mehr Adlige der Sozietät beitraten, wurde sie sozusagen in zwei Gesellschaften getrennt die eine für Adlige, die andere für Bürgerliche. Diese Unterscheidung zwischen Hofrede und Ratsrede entspricht den unterschiedlichen sozialen Orten, an denen die Entfaltung oratorischer Fähigkeiten notwendig werden konnten. Eine Rede im Rahmen einer Hofgesellschaft erforderte einen anderen Stil, andere rhetorische Mittel, eine andere Form des

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Vgl. Sicul II, S. 50 ff. (ausführliche Beschreibung der Tätigkeit), Sicul II, S. 141 (Verzeichnis der Mitglieder); Schulze (s. Anm. 1), S. 267. Auf ihn hat Gottsched eine Funeralrede gehalten. Auch abgedruckt in: Ausführliche Redekunst. Leipzig 1736, S. 606-615 (Lebens-Lauf eines academischen Gottesgelehrten). Vgl. auch: Elogium Schmidii. In: Nova Acta Eruditorum, Jg. 1732, S. 388-392, zur Rednergesellschaft s. S. 391. Auch hier wird auf die große Zahl derjenigen verwiesen, deren Rednergaben durch diese Gesellschaft geformt worden sind. Sicul II, S. 50. Gottsched urteilt über Schmidts Gesellschaft (s. Anm. 24): „Daraus denn, als aus einer Pflanzschule der Beredsamkeit fast alle berühmte Redner unserer Zeiten ihr erstes Wachsthum gezogen." (S. 613). Nach Sicul umfaßtedie Mitgliederliste zu Beginn der zwanziger Jahre bereits über 200 Namen (seit Gründung der Gesellschaft). Weniger enthusiastisch beurteilt der Theologe Johann Gottlob Carpzov die Rednergesellschaft. In einem Brief an einen Vater, der seinen Sohn in Leipzig studieren lassen möchte, rät er: „ . . . wolte Er (der Sohn, D.D.) aber in H. D. Schmidts Collegium Oratorium practicum tretten, könte es nicht schaden, wiewohl auch der Nutzen so groß eben nicht seyn wird." (Brief vom 15.8.1715 an Johann Georg Wilcke, UB Halle, Mise. 2° 9, Bl. 48v). Vgl. Sicul II, S. 253-255 und III, S. 48 f.

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Vortrags, ein anderes äußeres Auftreten usw. als bei Ansprachen im Rahmen des bürgerlichen Lebens. 27 Die bedeutendste Rednergesellschaft in Leipzig war jedoch zweifellos die „Teutsche Rednergesellschaft" 2 8 1 673 wird sie von Quirinus Septimius Rivinus gegründet, fünfmal gerät sie im Laufe der nächsten Zeiten in Verfall, wird jedoch immer wieder erneuert, zuletzt im Jahre 1723. Ihre Mitgliederliste (bis zum Beginn der zwanziger Jahre mehr als 200 Mitglieder) kann sich durchaus sehen lassen: Christian Thomasius, August Hermann Francke, Heinrich Pipping, Roman Teller, Johann Burkhard Mencke, Erdmann Neumeister, Julius Bernhard von Rohr. Zur Zeit Gottscheds gehörten ihr u. a. an: Johann Friedrich May, Karl Günther Ludovici, Johann August Ernesti. 29 Leider wissen wir weder bei der Teutschen Rednergesellschaft noch bei allen anderen entsprechenden Sozietäten, welche Themen in ihren Redeübungen behandelt worden sind. 30 Erst über Gottscheds Gesellschaften liegt ein relativ umfangreiches Material vor, das jedoch nur sehr bedingt Rückschlüsse auf die Inhalte der Ansprachen der früheren bzw. anderen Sozietäten zuläßt. 31 Aus dem Jahre 1729 hat sich immerhin eine Rede auf den im Jahr zuvor gestorbenen Christian Thomasius erhalten. 32 Die phrasenreiche bombastische Ansprache, die im übrigen nichts zur Biographie und nur wenig zum konkreten Werk des Thomasius bringt, mag noch an den Charakter der Barockrhetorik erinnern, inhaltlich entspricht sie aber ganz der Vorstellungswelt der Frühaufklärung, die hier in etwas hausbackener Umsetzung dargeboten wird: Thomasius sei in einer Zeit aufgetreten, in der die Weltweisheit durch die „schädlichsten Vorurteile... auf das abscheulichste verunstaltet war" und nur aus leeren und dunklen Worten bestand. Dann wird die in der Aufklärung beliebte Metapher des Sonnenlichtes angeführt, zu dem sich Thomasius „als ein munterer Adler" emporschwingt: „Nunmehro bestritte Er mit fast unüberwindlichen Waffen, die in der Vernunfft-Lehre eingerissenen Irrthümer." 33 Ein dritter Typ von Kollegien ist weniger mit der Pflege formaler Fertigkeiten beschäftigt, sondern besitzt eine stärkere inhaltliche Orientierung auf bestimmte Themen aus den

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Vgl. zu den Anforderungen an den höfischen Redner die detailierten Ausführungen bei Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremonialwissenschafft der Privat-Personen. Berlin 1728 (Reprint Leipzig 1990), S. 301-321 (Von Ablegung öffentlicher Reden). Vgl. Sicul II, S. 255-260. Im übrigen folgt auch diese Gesellschaft in ihrer äußeren Organisation den bekannten Regeln: gedruckte Gratulationen, alle Reden werden in ein Buch geschrieben, Jahresfest usw. Vgl. jedoch die folgenden Ausführungen zu Birnbaums Rede. Dieser Fall läßt vermuten, daß auch diese oder jene andere Rede im Druck erschienen sein kann. Die höchst mangelhafte bibliographische Erfassung des im Zusammenhang mit der Universität stehenden Kleinschriftgutes verhindert hier nähere Forschungen. In der gleich zu erwähnenden Rede Birnbaums wird bedauert, daß die früheren Mitglieder der Gesellschaft, die das Glück hatten, Thomasius im Kollegium „öffters zu hören", nicht sorgfältig genug waren, „ihre gelehrten Blätter aufzubehalten." (S. 17) Dies deutet darauf, daß schon 1729 die Quellenüberlieferung zur Geschichte der Gesellschaft eher dürftig war. J. A. Birnbaum: Den hohen Geist des erblaßten Thomasius bewundert in der Leipziger vertrauten RednerGesellschaft. Leipzig 1729. Birnbaum, S. 9 ff. Auch auf Thomasius* Verdienste um die Redekunst, eine angesichts des konkreten Publikums zu berücksichtigende Frage, geht Birnbaum ein. Der Verstorbene sei gegen die „Schulfüchsische Rhethorick" als „Ursache des Verderbs der Nützlichen Beredsamkeit" zu Felde gezogen und habe sich gegen die „unrechtmäßige Verachtung der deutschen Sprach" gewandt. Gottsched erwähnt übrigens in einer vor der gleichen Rednergesellschaft gehaltenen Ansprache, daß Thomasius, den er in Halle besucht hatte, „ b e g i e r i g . . . nach dieser Rednergesellschaft f r a g t e . . . Wie lieb und angenehm war es ihm, als er vernahm, daß dieselbe noch itzo im Flore wäre! Wie groß war sein Vergnügen, als er sich der vorigen Zeiten erinnerte, da er noch selbst ein Mitglied derselben gewesen!" (Akademische Rede, zum Abschiede aus der vertrauten Rednergesellschaft zu Leipzig im Jahr 1728 den 20. Aug. gehalten. In: G W IX, 2. Bearbeitet von R. Scholl. Berlin, N e w York 1976, S. 519-533, hier S. 531).

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Bereichen der Wissenschaften, was das Bemühen um rhetorische Fähigkeiten keineswegs ausschloß.34 Hinausgehend über die schon erwähnten äußeren Parallelen zwischen der Organisation der Kollegien und der Einrichtung der späteren wissenschaftlichen Akademien sind bei diesen Sozietäten auch deutlich erkennbare Entsprechungen zu der bis heute üblichen inhaltlichen Tätigkeit der Wissenschaftsakademien gegeben. Eine schon fast ehrwürdige Vergangenheit hatte bei Gottscheds Ankunft das Collegium Anthologicum aufzuweisen, dessen Geschichte sich bis zum Jahre 1655 zurückverfolgen läßt. 35 Gegründet wurde es damals nach dem Vorbild einer noch älteren Gesellschaft, dem Collegium Gellianum, das mitten in den schlimmsten Wirren des Dreißigjährigen Krieges ins Leben gerufen worden war (1641,1673 eingegangen). In beiden Sozietäten beschäftigte man sich in der Hauptsache mit Fragen der Interpretation antiker (einschließlich patristischer) und biblischer Texte.36 Dabei spielten auch historische, kultur- und sprachgeschichtliche Themen eine Rolle. Besondere Aufmerksamkeit fanden kontroverstheologische Fragen und Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und Logik. Wie fast alle langlebigeren Leipziger Sozietäten durchschritt auch das Collegium Anthologicum manches Tief, d. h. es erfuhr eine zeitweilige weitgehende oder völlige Einstellung seiner Tätigkeit. Immer wieder kam es jedoch zu Neubelebungen durch engagierte Mitglieder, zuletzt im Jahre 1715, so daß Sicul noch im gleichen Jahr meint, das Collegium überträfe die kleinen italienischen Akademien an „Splendeur und Ruhm." 37 Der Gesellschaft gehörten zu diesem Zeitpunkt eine Reihe von wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamen Persönlichkeiten an, ζ. B. Johann Jakob Mascow, Heinrich von Bünau, Georg Christian Gebauer, Gottfried Polycarp Müller, Karl Friedrich Pezold (Herausgeber der „Miscellanea Lipsiensia"). Auch J. B. Mencke, der Förderer Gottscheds in dessen ersten Leipziger Jahren, zählte zu den Mitgliedern der Gesellschaft.38 Auch unter den Theologen kommt es um 1700 neben den reinen Prediger- und Katechetengesellschaften zur Einrichtung von Kollegien, die sich der Diskussion eigentlicher theologischer Themen widmen. Vorbild dieser Gründungen ist das berühmte Collegium Philobiblicum, 39 dessen Bedeutung für die Frühgeschichte des Pietismus allgemein be34

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Ein Anliegen der im folgenden genannten Kollegien bildete ausgesprochenermaßen auch die Pflege der lateinischen Sprache. Bei späteren Gründungen tritt die deutsche Sprache in der Vordergrund. Vgl. zu dieser Gesellschaft G. Chr. Gebauer: Collegiorum Lipsiensium Gelliani et Anthologie! historia. In: ders.: Anthologicarum Dissertationum Liber. Leipzig 1733, S. IX-CXXVIII. Detlef Döring: Samuel Pufendorf und die Leipziger Gelehrtengesellschaften in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Berlin 1989 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Bd. 129, Heft 2). Dort und in der Publikation von Pufendorfs Schriften (s. Anm. 36) weitere Literatur. Da sich die Protokollbücher beider Gesellschaften erhalten haben (UB Leipzig), sind wir allein bei ihnen in der Lage, uns ein ziemlich genaues Bild über Tätigkeit einer Leipziger Gelehrten Sozietät der Frühen Neuzeit zu verschaffen. Die Vorträge Samuel Pufendorfs, des bekanntesten Mitglieds des Collegium Anthologicum, sind veröffentlicht worden und bieten somit einen gewissen repräsentativen Einblick in jene Vortragstätigkeit (Samuel von Pufendorf: Kleine Vorträge und Schriften. Hrsg. von Detlef Döring. Frankfurt/M. 1995 [Ius Commune, Sonderhefte, 72], S. 1-86). Sicul I, S. 189. Für die damals keineswegs selbstverständliche konfessionelle Offenheit zeugt die Mitgliedschaft des Pfarrers der französischen reformierten Gemeinde in Leipzig. Aus dem Kreis der Gottsched näher stehenden Personen gehörte der u. a. als Leibnizübersetzer bekannte Georg Friedrich Richter der Gesellschaft an. Gottsched selbst ist ihr nicht beigetreten. Aus dieser Spätzeit des Kollegiums sind uns keine Protokolle erhalten. Allerdings befinden sich in der UB Leipzig eine Reihe von Briefen an das Kollegium (Ms 0339). Hier geht es jedoch in Regel um Aufnahmegesuche. Vgl. Schulze (s.Anm. 1), S.222-237 (mit Mitgliederverzeichnis); Sicul I, S. 191-193, 727, 881; Sicul II, S. 137 f.; Sicul III, S.38f., 295-302 (Darstellung des Geschichte des Collegium Philobiblicum). Die ausführlichste Darstellung der Geschichte des Kollegiums von den Anfängen bis zur Auflösung (im Jahre 1822) gibt Friedrich Illgen: Historiae Collegii Philobiblici Lipsiensis. Leipzig 1736 ff. (hier auch ausführliche

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kannt ist. 40 Daß die schon bestehenden Leipziger Kollegien - genannt werden die Predigerkollegien, Schmidts Oratorium sowie das Collegium Anthologicum und das Collegium Gellianum - bei jener Gründung in einem gewissen Sinne Pate standen, berichtet August Hermann Francke selbst: Es seien solche Collegia in Leipzig nicht neu oder ungewöhnlich gewesen. „Denn man wol über funfftzig Jahr zurück solche collegia zehlen kan, welche die Magistri unter sich angefangen, sich über gewisse leges darinnen vereiniget . . . " ; das Collegium Philobiblicum sei daher keine Neuerung gewesen. 41 Zur Zeit der Ankunft Gottscheds in Leipzig ist das Kollegium freilich längst nicht mehr mit der so revolutionär wirkenden Einrichtung aus den Tagen von Francke und Paul Anton vergleichbar. Nach der Neugründung des Kollegiums durch den Pietismusgegner Valentin Alberti hatte man schon durch die Veränderung der Statuten tunlichst alles zu vermeiden gesucht, was an die pietistische Vergangenheit erinnern könnte. 4 2 Heißt es z . B . 1686 in der Präambel der Statuten programmatisch, man verfolge das Studium der Heiligen Schrift „in novi hominis, piae eruditionis theologiaeque exegeticae Incrementum", so wird bezeichnenderweise dieser zentrale Passus in der Neufassung der Statuten aus dem Jahre 1691 ersatzlos gestrichen. Wenn auch das Collegium Philobiblicum bekannt und beachtet blieb, so verlor es doch deutlich an Wirksamkeit und innerer Lebendigkeit. 43 Neugeschaffene theologische Kollegien orientieren sich in ihrem Wirken an dem Programm des späteren Collegium Philobiblicum. Die im Hinblick auf den Gründer vielleicht interessanteste Gesellschaft ist das Collegium Disputatorium Privato-Publicum Carpzovianum, das von Johann Gottlob Carpzov, vor allem auf dem Gebiet der Exegese des Alten Testaments einer der letzten Hüter der strengen Orthodoxie, 4 4 ins Leben gerufen wurde. 4 5 Carpzov hatte erst eine theologische Disputiergesellschaft (Disputatorium privatum) geleitet, geht jedoch 1719 dazu über, ein Collegium publicum, also eine jedermann zugängliMitgliederverzeichnisse). Heranzuziehen ist hier der Pars II (Leipzig 1737), der die Entwicklung zwischen 1691 und 1742 behandelt. Meine folgenden Bemerkungen stützen sich auf Illgens Ausführungen. Zur Frühgeschichte vgl. auch H a n s Leube: D i e Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig. In: ders.: O r t h o d o x i e und Pietismus. Gesammelte Studien. Hrsg von D . Blaufuß. Bielefeld 1975 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, B d . 13), S. 1 5 3 - 2 6 7 , hier S. 174 ff. 40

D a ß sich das Collegium in der Tradition anderer an der Universität bestehenden Sozietäten sieht, zeigt die Bemerkung in der Präambel der Statuten, man sei den N a c h k o m m e n ein Beispiel „aliarum in hac Universitäre societatum".

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August H e r m a n n Francke: Werke in Auswahl. Hrsg. von Erhard Peschke. Berlin 1969, S. 17 f. (aus Franckes autobiographischen Aufzeichnungen aus den Jahren 1690/91). Das Collegium Philobiblicum habe sich, heißt es weiter, „gewisse leges" gegeben, „wie in oben erwehnten andern collegiis bräuchlich" (S. 19). I m Collegium habe man das „Studium textuale" betrieben (also ähnlich wie im Collegium Gellianum bzw. Anthologicum), aber in Ausrichtung auf die Praxis, so daß aus dieser Beschäftigung „Lehren, Ermahnungen und T r o s t " geschöpft wurden (S. 20).

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„ I n ipso autem Collegio restaurando socios omnia vitare studuisse, quae Pietismum redolere vel huius suscipionem adversariis iniicere p o s s e n t . . . " (Illgen [s. A n m . 39], S. 8). So wird ζ. B . der Hinweis auf Speners Anregung zur Gründung des Kollegiums gestrichen.

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„Tanta sane dignitate, vigore atque efficacitate, quanta pristinum, restauratum Collegium Philobiblicum per hanc periodum non floruit." (Illgen [S. A n m . 39], S. 17). D e n n o c h sei eine Reihe bedeutender Exegeten aus dem Collegium hervorgegangen. Auch hätten sich die früheren Mitglieder gerne an ihre Zeit im Kollegium erinnert, was wieder dazu beigetragen habe, dessen Bekanntheitsgrad zu erhalten. Aufzeichnungen über die im Kollegium betriebenen exegetischen Arbeiten waren übrigens schon zu Illgens Zeiten nicht mehr vorhanden.

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Vgl. Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste. Hrsg. von J . Ersch und J . G . Gruber. Leipzig 1 8 1 8 - 1 8 8 9 , 1 . Abteilung, 15. Band, S. 216 f. (zahlreiche Hinweise zur Sekundärliteratur). Heinrich Döring: D i e gelehrten Theologen Deutschlands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Neustadt/Orla 1831. I. B d . S. 2 3 9 - 2 4 2 (mit Verzeichnis der Schriften Carpzovs).

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Vgl. Sicul II, S. 5 2 - 5 5 und S. 142 (Verzeichnis der Mitglieder).

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che Lehrveranstaltung anzubieten. Im Anschluß daran wird über den behandelten Stoff opponiert und respondiert. Daran dürfen jedoch nur die eigentlichen Mitglieder des Kollegiums teilnehmen. So sei, meint Sicul, „dieses Collegium beydes eine ordentliche Societät" als auch ein „Collegium publicum"; daher habe er zu der Bezeichnung eines Collegium privato-publicum gegriffen. Behandelt wird in Carpzovs Collegium ein Werk des heute völlig vergessenen Dänen Johann Friedrich Wandalin: ,,'υποτύπωσις sanorum verborum seu brevis expositio theologiae in thesi et antithesi." 46 Die Hauptaufmerksamkeit gilt dabei denjenigen „streitigen Fragen/ welche der belobte Autor denen Locis Theologicis beygefüget"; zwei Jahre später (1721) ist das Kollegium immer noch mit Wandalins Buch beschäftigt. 47 Neben das Collegium Anthologicum und die theologischen Sozietäten treten bald auch Gesellschaften, die sich anderen wissenschaftlichen Disziplinen widmen. Im Blick auf die sich im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jh. gerade auch in Leipzig zuspitzenden Auseinandersetzungen um die neue Philosophie von Leibniz und Wolff, deren große Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Aufklärung allgemein bekannt ist, besitzt die Frage besonderes Interesse, ob sich innerhalb der Sozietäten dieses Geschehen wiederspiegelt. 48 Bei den Mitgliedern dieser Verbindungen handelte es sich meist um junge Magister, unter denen die neuen Ideen nachweislich auf eine nicht geringe Beachtung stießen. Leider lassen sich zur Zeit nur dürftige Hinweise ausmachen. Wenig weiß man über die wohl auch nur kurzlebige 1716 gegründete Schweidnitz-Jauersche Gesellschaft (Collegium Disputatorium Svidnicio-Javraviense). 49 In dieser von schlesischen Studenten ins Leben gerufenen Gesellschaft sollen wöchentlich „quaestiones recentioris Philosophiae" besprochen worden sein. 50 Dabei handelt es sich um philosophische „Meditationes", die vom Autor drei Tage zuvor eingereicht werden mußten, um sie dann gegen zwei Opponenten zu verteidigen. Das erste Kollegium, in dem für uns nachweisbar die Philosophie von Leibniz und Wolff diskutiert wurde, ist in den zwanziger Jahren von dem bereits in anderem Zusammenhang erwähnten Christian Gottlieb Jöcher gegründet worden. Neben seiner Vorlesung zur Wölfischen Philosophie, die im übrigen „starcken Zulauf" fand, veranstaltete er jeweils mittwochs und sonnabends Disputationen zu dieser Philosophie und zugleich zu Themen der allgemeinen Philosophiegeschichte. 51 Wir werden uns diese Sozietät 46

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Johann Friedrich Wandalin (1686-1717), 1709 Prof. der Metaphysik. Das Werk erschien in Leipzig in mindestens drei Auflagen (1708,1722,1750), muß sich hier also einiger Beliebtheit erfreut haben. Erwähnt sei noch das „Collegium Exegetico-Practicum", das 1719 von dem für die Theologiegeschichte nicht unbedeutenden Professor Christian Friedrich Börner gegründet wurde. Sicul urteilt, es sei mit dem Collegium Philobiblicum „gleichen Schlags und Gehalts" (Sicul II, S. 138). Man versammelt sich hier zur gemeinsamen Lektüre einzelner Kapitel der Bibel, um anschließend darüber„Logice" zu „disponieren" und „Observationes Philologico-exegeticas darüber" anzustellen. Schulze (s. Anm. 1) meint allerdings, „philosophische DisputirUebungen scheinen in Leipzig nie recht gedeihen zu wollen" und verweist dann nur auf Jöcher (S. 271). Die einzige Quelle zu diesem Collegium bildet, soweit ich sehe, Sicul II, S. 148 f. (mit Mitgliederverzeichnis). Vgl. auch Wilhelm Krämer: Das Leben des schlesischen Dichters Johann Christian Günther 1695-1723. Stuttgart 21980, S.130f. So nach einem Bericht des späteren Zwickauer Schulrektor Christian Clodius. Interessant ist die Bemerkung über seine Veranlassung zur Teilnahme am Leben jenes Kreises (zu Beginn der zwanziger Jahre): „Sensu veri et falsi in Collegio Mulleriano, quod vocant, practico, illustratus" sei er zu dieser Gesellschaft gekommen (vgl. Sub discessum suum ad almam Cygneam ultimum vale dicturus... Christianus Clodius. Annaberg o.J). Ein Buch „De sensu veri et falsi" ist 1722 von A. F. Müllers Lehrer Andreas Rüdiger veröffentlicht worden. Im übrigen ist auch hier das übliche Gedichteschmieden angesagt: „Anbey haben sie ausgemacht, daß ein ieder derselben bey erster vorfallender Gelegenheit mit einem Carmine beehret wird." Vgl. Gabriel Wilhelm Gotten: Jetzt-lebendes Gelehrtes Europa, 2. Aufl., 2. Bd. (1736), S. 498 f. Die Vorlesungen zu Wolffs Philosophie brachte Jöcher „allezeit in einem Jahr ganz zu Ende." Gotten berichtet dann,

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wohl als eine Mischform von Collegium publicum und Collegium privatum vorzustellen haben. Noch vor der Philosophie kommt es im Bereich der Geschichtswissenschaft zur Gründung eigener Gesellschaften. Dies ist schon deshalb nicht überraschend, da historische Themen in den Diskussionen des Collegium Gellianum und des Collegium Anthologicum bereits einen bevorzugten Platz innehatten. Bemerkenswert ist, daß die erste derartige Sozietät vom Vertreter einer Disziplin ins Leben gerufen wurde, die wir heute den Historischen Hilfswissenschaften zuordnen, der Heraldik. 1712 gründete Johann Wolfgang Trier ( 1 6 8 6 - u m 1750),52 der 1711 als erster Professor der Heraldik an die Leipziger Universität berufen worden war, das Collegium Heraldicum. 53 Die Wappenkunst war nach Auffassung der Zeit erst durch Philipp Jakob Spener zu einer, freilich noch nicht ganz unumstrittenen Wissenschaft ausgebildet worden. 4 Jedenfalls war ihr praktischer Wert nicht gering, bildeten doch Erbauseinandersetzungen und konträre Territorialansprüche ein permantes juristisches und politisches Streitthema der Zeit. Anläßlich dieser Gründung veröffentlichte Trier, der als Leiter der Gesellschaft die Bezeichnung Direktor führte, ein Programm, das uns den einzigen dokumentierbaren Einblick in die Tätigkeit der Sozietät bietet: Ein Mensch allein sei nicht in der Lage, auch nur die wichtigen Bücher zur Wappenkunst zu lesen. Darum hätten sich einige Interessenten zusammengeschlossen, „daß wir die curieusesten Historien-Bücher, Chronicken, Memoiren, Scripta Juris publici und andere Bücher und Uhrkunden nach und nach durchgehen, die merckwürdigsten Passagen excerpiren, und dieselben in den Donnerstags Vormittags von eilff biß zwölff Uhr anzustellenden Zusammenkünfften einander communiciren wollen." Dabei ordnet Trier der Heraldik ein bemerkenswert breites Spektrum an Aufgaben zu. Es handele sich dabei nicht allein um die „Blaßnirungs-Kunst (ars Blasonica), sondern vornemlich (um) das Studium Genealogicum, Politicum und Jus Publicum". 55 Besonderes Interesse finden Notizen zu den „Arcanis domus, von der Gemüths- und Leibs-Beschaffenheit der berühmtesten Regenten, von dero geheimen Absichten und gebrauchten Mitteln zum Zwecke zu gelangen, von ihren sehr merckwürdigen Reden, von demjenigen, was in den gemeinen Systematibus falsch oder anders erzehlet w i r d . . ." 56 Auf Grundlage der Genealogie und unter Heranziehung des Jus Publicum werden die Ansprüche der Regenten untersucht: „Nach der Genealogie wird

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Jöcher hätte auch nach Übernahme der Professur für Geschichte (1732) „die ihm so angenehmen Philosophischen Collegia beyzubehalten" gedacht. Dies sei ihm aber angesichts der ihn bedrängenden Arbeitsbelastung nicht möglich gewesen. Vgl. ADB, XXXVIII, S. 605 f. und Gustav A. Seyler: Geschichte der Heraldik. Nürnberg 1885-89 (Abteilung A. des Siebmacher'schen Wappenbuches), S. 664 über Trier. Nach Seyler ist Leipzig nach Jena die zweite Universität, an der Heraldik unterrichtet wurde (zuvor nur an Ritterakademien). Zum Collegium Heraldicum s. S. 640 f. (hauptsächlich Zitate aus dem Programm). Trier ging 1724 als Prof. der Jurisprudenz nach Frankfurt/O. Seine Professur wurde nicht wieder besetzt (s. Schulze, S. 79). Sicul I, S. 193 ff.; Gelehrte Fama, 22. Teil, S. 761-62. Beide Texte stützen sich hauptsächlich auf Triers Programmschrift, die in folgender Publikation nachgedruckt wurde: J. W. Trier: Einleitung zu der WapenKunst. Leipzig 1714 (weitere Auflagen 1729 und 1744), S. 10-16 (Einrichtung des Collegii der HeroldWissenschaft, welches unter der Direction D. Joh. Wolffgang Triers von einigen guten Freunden auffgerichtet worden). Vgl. Zedier, Bd. 52 (1747), Sp.2081 f. Im Gegensatz zu Trier klammert der Verfasser des Lexikonartikels das Jus publicum und die Genealogie aus der Heraldik aus. Zu Spener vgl. auch Gert Oswald: Lexikon der Heraldik. Leipzig 1985, S. 372. Sicul I, S. 193. Vgl. auch einen Bericht über Triers Antrittsrede. Die Heraldik sei „scientia rerum ad insignium originem indolem et jura, nec non ad genus titulos et jura generaliora Nobilitatis tarn superioris quam inferioris pertinent ium." (Gelehrte Fama, 10. Teil, S. 734 f.). Im „Vorbericht" zu Seiner „WapenKunst" nennt Trier als Teile der Wappenkunst: Wapenkunst, Genealogie, Geographie, Heroldsrecht. Ich zitiere das Programm nach dem Abdruck in Triers Wapen-Kunst. Vgl. Anm. 53.

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man vornehmlich die hohe Gerechtsame der Regenten, insonderheit die biß dato noch nicht beygelegten Streitigkeiten und Praetensionen, und was sonsten in Jure publico merckwürdig ist, remarquiren . . . " . Weiterhin findet die Macht und Beschaffenheit der Länder und Einwohner Berücksichtigung. Zeitlich beschränkt man sich bei den kleineren deutschen und bei den ausländischen Regenten auf das 16./17. Jh. Bei mächtigeren Fürsten und besonders bei den Wettinern bezieht man auch das Mittelalter ein. Das Collegium sieht sich, wie die angeführten Zielstellungen bereits belegen, nicht nicht so sehr als eine der reinen Wissenschaft verpflichtete Einrichtung, sondern will sich in seiner Tätigkeit praktischen Aufgaben verschreiben. Seine Gedanken sollen sich „vornemlich auf den Nutzen unsers Vaterlandes richten, und dannenhero die Teutschen Reichs-Sachen, und unter den mächtigen Ständen insonderheit dasjenige, was das glorwürdigste Hauß Sachsen angehet, mit besonderer Application zu excoliren trachten." Den Wert der Wappenkunst sieht Trier für alle diejenigen gegeben, die sich mit den öffentlichen Händeln in Deutschland und Europa beschäftigen, Zeitungen lesen oder Gespräche über Politik führen. Insbesondere wird dabei an den Adel gedacht. 5 7 Jedem Mitglied werden ein oder mehrere Staaten zur Bearbeitung zugeteilt. 58 Bei der Beschaffung der notwendigen Literatur hofft man auf die Hilfe anderer Gelehrter. In den wöchentlichen Versammlungen werden die Exzerpte vorgestellt und diskutiert. 5 9 Dies geschieht ganz nach den uns schon verschiedentlich begegneten Regeln und Methoden. 6 0 Die Literaturexzerpte samt der über jene Titel gefällten „Judicia" sollen durch den Direktor gesammelt werden. Mit der Zeit könne so ein „ansehnlicher Schatz" an „Merckwürdigkeiten" Zustandekommen, „dessen man sich in Special-Ausführungen, welche in die Historie, Genealogie, Jus publicum und dergleichen gehören, wohl wird bedienen können." Folgt man der von Trier nach zweijähriger Tätigkeit der Gesellschaft gezogenen Zwischenbilanz, war ihr Beginn durchaus verheißungsvoll: „ E s hat auch dieses Vorhaben weit mehrern Success und Gunst gefunden, als man anfangs vermuthet, inmassen viele vornehme und gelehrte Gönner und Freunde nicht allein in Leipzig, sondern auch an entlegenen Orten allerhand rare Bücher und Memoiren darzu einzuschicken sich freywillig erboten .. ," 6 1 Über diese nach Triers Mitteilungen vielversprechenden Anfänge scheint das Collegium jedoch nicht hinausgekommen zu sein. Bald berichtet Sicul, daß das Collegium einzugehen scheine, „nachdem die meisten Membra nicht mehr hier in Leipzig .. ,". 6 2 Wenig später wird das völlige Aussetzen der Tätigkeit der Gesellschaft gemeldet (cessiren), so daß seiner „nicht mehr gedacht werden" solle. 6 3 Zur Gründung von Kollegien zu

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Vorrede zur Wapen-Kunst, S. 9. „Von diesen neuen Gesellschaftern nun hat ein ieder ein besonder Stuck von denen zur Herolds Kunst gehörigen Wissenschafften vor sich genommen, und pfleget aus bewährten Historicis der neuern Zeit, aus Chronicis, Genealogisten, Publicisten, und andern Memoiren das beste vor sich privato studio zu excerpiren." „Darauf versammeln sich die sämmtlichen Membra alle Wochen einmal, nemlich Donnerstags von 11 biß 12 Uhr, in des Herrn Directoris Wohnung, und communiciren allda einander ihre Annotata, Meditationes und Excerpta." „ D a s Buch welches zu dessen Behuff durchlesen worden" müsse „sofort am Ende beurtheilet werden . . . wobey einem ieden in dem Conventu frey stehet, wider eines und des andern Recension, was ihm beliebet, zu erinnern." So Trier in seiner Vorrede zur „Wapen-Kunst". Sicul I, S. 728. Parallel zu Collegium Heraldicum und mit verwandter Ausrichtung bestand ein von dem später berühmt gewordenen Johann G e o r g Walch gegründetes „Collegium Historiae literariae" (s. Sicul I, S. 208 f., Schulze, S.215f.). D a s Kollegium interessierte sich insbesondere für die Bildungsgeschichte, u.a. auch über die Geschichte gelehrter Gesellschaften. Es ist zusammen mit dem Collegium Heraldicum eingegangen. Walchs

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weiteren Disziplinen aus dem Bereich der Philosophischen Fakultät sind uns nur Überlegungen und Vorschläge bekannt. 64 Als einzige heute noch in breiteren Kreisen bekannte Sozietät ist in diesem Zusammenhang schließlich die Deutsche Gesellschaft zu nennen. 65 Daß sie berühmt geworden ist, muß ohne Zweifel dem Wirken Gottscheds zugeschrieben werden, der nicht lange nach seiner Ankunft in Leipzig ihre Leitung übernahm. Den Tatsachen widerspricht allerdings die bis auf den heutigen Tag als opinio communis vertretene Auffassung, Gottsched habe aus einem unbeachteten, in Existenznot stehenden Winkelverein allein kraft seiner Persönlichkeit eine vielbewunderte Quasiakademie der Literatur und Sprache geschaffen. 66 Es war jedoch nicht so, daß Gottsched die Sozietät als sozusagen leeres Gehäuse antraf, dem er einen neuen, seinen Geist einhauchte. Die wesentlichsten Ideen, die die Grundlage für den Aufstieg der Gesellschaft in den Folgejahren bieten sollten, waren bereits vorhanden und mußten von Gottsched nur aufgegriffen werden. 6 7 Zu dem Zeitpunkt, als er von seinem Gönner Johann Burkhard Mencke in die Deutschübende Gesellschaft eingeführt wurde, hatte diese bereits eine mehr als ein Vierteljahrhundert umfassende Entwicklung hinter sich gelegt und dabei manche Wandlung durchlebt. Gegründet wurde sie als „Das vertraute Görlitzer Collegium poeticum" im Jahre 1697 und zwar nicht, wie oft behauptet, als Sprachgesellschaft, 68 sondern als landsmännische Verbindung Oberlausitzer Studenten zur Pflege der Konversation zum Zwecke der Aufrichtung „wahrer Freundschafft", da die „Gleicheit der Tugenden und Sitten" als der Grundlage der Freundschaft nur durch „fleißige Conversation" zur Wirkung gelangen könnten: „In Erwegung dessen haben vor einigen Jahren etliche Academische Freunde gesorget, wie Sie nicht nur ihre auf Schulen gemachte Freundschafft durch eine beständige Conversatio . . . fortsetzen, sondern auch mit andern, so sie auf dem Weltberühmten Görlitzischen Gymnasio in der Freundschaffts-

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anläßlich der Gründung seiner Sozietät veröffentlichten Programmschrift „De Germania, historiae literariae splendore, nostra inprimis aetate, inluminata" bin ich nicht habhaft geworden. So klagt J. Bernhard von Rohr in einer Dissertation „De excolendo Studio Oeconomico" über die Vernachlässigung der Ökonomie an den Universitäten und fordert u. a. die Gründung einer „Societas Oeconomica", „quae statum Oeconomicum regionis promoveat." (Gelehrte Fama, 14. Teil [1712], S. 167 f.). Schon Ende des 17. Jh.s hatte der in Leipzig lebende Astronom Gottfried Kirch die Gründung einer „Astronomischen Societät" angeregt, darin alle Astronomi in der gantzen Welt auffgenommen würden, ohne Unterscheid der Religion. Und das ein bequemer Ort erwehlet würde, dahin alle Observationes könten geschickt und daselbst alsbald gedruckt werden . . . " Als geeignetesten Ort für eine solche Gründung nennt Kirch allerdings Frankfurt/M. (vgl. Detlef Döring: Der Briefwechsel zwischen Gottfried Kirch und Adam A. Kochanski 1680-1694. Ein Beitrag zur Astronomiegeschichte in Leipzig und zu den deutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen. Berlin 1997 [Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Klasse, Bd. 74, Heft 5], S. 37 f.) Ich verzichte hier auf eine Auflistung der einschlägigen Literatur und verweise nur auf Ernst Kroker: Zweihundert Jahre Deutscher Gesellschaft. In: Beiträge zur Deutschen Bildungsgeschichte. Festschrift zur Zweihundertjahrfeier der Deutschen Gesellschaft in Leipzig 1727-1927 (Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung Vaterländischer Sprache und Altertümer in Leipzig, 12. Bd.), S. 7-27. Vgl. zuletzt P. M. Mitchell: Johann Christoph Gottsched (1700-1766). Harbinger of German Classicism. Drawer 1995). Danach bekam Gottsched „the nearly moribund ,Deutsch-übende Gesellschaft' in hand and rejuvenated it by injecting a new i d e a . . ( S . 19) Ich kann hier nur thesenhafte Zusammenfassungen ausführlicherer Forschungen vorlegen, deren Ergebnisse ein Buch über die Geschichte der Deutschen Gesellschaft vorstellen wird. Diese Legende ist noch vor Gottsched von der Gesellschaft selbst kultiviert worden. Ich stütze mich in meiner Beurteilung auf die Vorreden zu den Gedichtbänden der Gesellschaft, die an das Görlitzer Gymnasium gesandt wurden. Sie bilden die mit Abstand frühste und daher authentischste Quelle zur Entstehungsgeschichte (heute in der UB Leipzig, Rep. VI, 16 b [8 Bde.] vgl. Robert Naumann: Catalogus librorum manuscriptorum qui in bibliotheca senatoria civitatis Lipsiensis asservantur. Grimma 1838, S. 227 (Nr. D C C C V I - D C C C C X I I I des Kataloges).

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Probe bewahrt erfunden, unterhalten mögten." 6 9 Außer der Pflege von Freundschaft und Geselligkeit ist es die Beschäftigung mit der Poesie, die den Sinn und Nutzen der Gesellschaft stiftet. N u r sind es nicht die späteren hehren Ziele Gottscheds zur allgemeinen Verbesserung von Sprache und Dichtung, die das Wirken der Verbindung bestimmen, sondern die Bestrebungen der einzelnen jeweiligen Mitglieder, ihre Fertigkeiten im Versesetzen zu üben und über eine gegenseitig gebotene Hilfe zu verbessern. 7 Das Verfassen von Gedichten anläßlich der verschiedensten Gelegenheiten 71 war, wie allgemein bekannt, eine unabdingbare Fähigkeit, die jeder Akademiker beherrschen mußte. Daß in allen bisher erwähnten Kollegien eifrig getextet und gedichtet wurde, haben wir schon mehrfach registriert. Was dort jedoch eine an bestimmte Anläße gebundene Nebenbeschäftigung bildet, das ist in der Görlitzer Poetischen Gesellschaft Hauptthema der Zusammenkünfte. So wird also im Laufe der Jahrzehnte Gedicht auf Gedicht geschrieben, immer wieder zu den gleichen Ereignissen des menschlichen Lebens: Hochzeit, Amtseinführung, Promotion, Begräbnis usw. Wenn auch Poesie und Sprache als Thema nicht fehlen, prägt doch für lange Zeit eher das Streben nach einer moralisch reinen, religiös geprägten Lebensführung den Inhalt der Gedichte. 7 2 Im Jahre 1717 setzt nun die entscheidende Umwandlung des Collegium Poeticum Gorlicense ein, an deren Ende die wesentlich anders orientierte Deutsche Gesellschaft stehen wird. Aus einer studentischen Verbindung zum Zwecke der Freundschaftspflege und des Erlernens und Deklamierens von Versen wird eine Sozietät, die schließlich keinen geringeren Anspruch erheben wird als ein Parallelunternehmen zur Academie Fran^aise zu bilden. Es ist dies vor allem das Verdienst von Christian Clodius, der prägenden Figur innerhalb der Gesellschaft vor Gottscheds Auftreten. 7 3 Die von ihm eingebrachten neuen 69

Vorrede zum 1. Band. (S. Anm. 68). Daß sich das Collegium als Freundschaftsbund empfand, ließe sich aus vielen der überlieferten Dichtungen belegen. So textet ζ. B. Heinrich Günther zum Abschied des aus Leipzig scheidenden Friedrich Lauer: „ U n d traun was hätten die wohl bessers stifften wollen,/ D i e zur Societät den ersten Grund gelegt?/ Als dies, daß wir bemüht den Freunden zeigen sollen,/ Was man vor Gunst und Pflicht vor Sie in Hertzen hegt./ Das heißt: Wir sollen stets beym Antritt und beym letzten/ Die Pietät zum Grund der wahren Freundschafft setzen. (II. B d . , Bl. 13r-v). In diesem Anspruch, einen Freundschaftsbund zu bilden, ähnelt das Collegium den studentischen Landsmannschaften. Vgl. W. Hardtwig (s. Anm. 9), S. 44 ff. (dort auch kurze Erwähnung der Schulbekanntschaften als Hintergrund mancher studentischer Verbindungen).

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Das Vorlegen der eigenen Dichtungen zur Begutachtung bei Lehrern oder Freunden zählte zu den Gepflogenheiten der Zeit und ist in einem Zusammenhang zu der als selbstverständlich betrachteten Auffassung zu sehen, daß das Dichten in erster Linie ein didaktisches Problem bildet. Vor allem in den obligatorischen Antrittsgedichten wird das Motiv, durch die Hilfe der Gesellschaft die Fähigkeiten im Dichten zu vervollkommnen, betont: „Ihr habt schon durch Euren Fleiß den Parnassum überstiegen/ Aber seht ich muß zur Zeit noch vor diesem Berge liegen./ Darum führt mich Werthe Freunde diesen hohen Berg hinauf,/ Zeiget mir die schönste Straße lehret mich den besten Lauff " (V. Band, Bl. 45r-46r, Christian Gleditsch).

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Zur Kasuallyrik vgl. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 5/II. Tübingen 1991, S. 55-67. So heißt es ζ. B.: „ D r u m nur weg verdammte Sünden!/ Eure Lust ist mein Ruin!/ Nichts soll meine Brust entzünden/ Als der helle Tugend-Schein./ Himmlisch Leben sucht mein Sinn./ Wo ich recht vergnüget bin." (I. Bd. VI, Bl. 18v-19r, verfaßt v o n j . C . Friedrich). Dieses Trachten nach einem tugendhaften Lebenswandel verbindet im übrigen auf dieser Ebene die Deutsche Gesellschaft mit den Sprachgesellschaften. Auch die Studentenverbindungen besitzen oft einen „bruderschaftlich-christlichen Charakter" (Hardtwig [S. Anm. 9], S. 49).

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Gottfried Leberecht Richter: Allgemeines biographisches Lexikon alter und neuer geistlicher Liederdichter. Leipzig 1804, S. 40 (ganz knappe Informationen, jedoch Hinweis auf Clodius' Kirchenlieder); Johann G e o r g Meusel: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen Teutschen Schriftsteller, Bd. 2, S. 146 f. (mit Bibliographie). Sicul bezeichnet Clodius geradezu als „primum mobile" der Gesellschaft, „welcher so wohl an. 1718 die damahls auf schwachen Fuße stehende Societät mittelst allerhand rühmlicher Anstalten und

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Grundsätze und Programmpunkte sind folgende: Endgültige Aufhebung der Beschränkung der Mitgliedschaft auf Oberlausitzer oder Schlesier. Neben der Abfassung von Gedichten erhält jetzt auch die Prosa einen Platz innerhalb der Tätigkeit der Gesellschaft. Es wird eine Bibliothek gegründet, die die deutsche Dichtung der letzten beiden Jahrhunderte möglichst umfassend sammeln soll. Durch Clodius' großes Engagement kann schon in den ersten Jahren ein ansehnlicher Grundstock für die dann berühmte „Bibliotheca Societatis Teutonicae" 7 4 gelegt werden. Man plant ein „Lexicon Historico-Critico-Poeticum" und will eine Auswahl der bisher von den Mitgliedern verfaßten Gedichte veröffentlichen. Schließlich möchte man Erdmann Neumeisters Dissertatio „ D e Poetis Germanicis" in modernisierter Fassung herausbringen. 7 5 So entwickelt Anfang der zwanziger Jahre die Gesellschaft ein Selbstbewußtsein ihrer Bedeutung für die deutsche Sprache und Dichtung, das sich auch in ihrer schriftstellerischen Produktion niederschlägt. Gelobt wird jetzt nicht nur das Vermögen der „ M u senjünger" zum Reimen und Texten, sondern der über die engere Region weit hinausweisende Ruhm der Gesellschaft und die von ihr beanspruchte Funktion innerhalb des literarischen Lebens. Schon 1723, also ein Jahr vor Gottscheds Ankunft in Leipzig, meint man, daß die Gesellschaft bei den hohen Häusern, bei den Königen und beim Kaiser bekannt sei; Wer ihre Verdienste um die „Reinligkeit der Deutschen Sprache" verkenne, „der muß ein Hottentot und nicht ein Deutscher seyn." 7 6 Im gleichen Jahr bringt ein Autor den sich wandelnden Görlitzer Poetenverein gar in eine Parallele zur Academie Frangaise: „ D a s prangende Pariß hat nun nichts mehr zuvor,/ Denn was dort Ludewig im Louvre angeleget,/ Das steigt durch Menckens Witz in Leipzig auch empor,/ daß D I E S E R gleichen Ruhm mit jenem Printzen träget./ Denn beyder Absicht ist hierinnen einerley,/ Der Mutter-Sprache Zier und Reinligkeit zu hegen,/ U n d was dieselbe kränckt mit Eyffer abzulegen,/ Drum legt man Euch mit Recht auch j ene Losung bey,/ Die man im Louvre führt: D I E D A U R U N G E U R E R Z E I T E N / MUß, W I E D E R L O R B E E R - Z W E I G , D I E E W I G K E I T B E S T R E I T E N . " 7 7 Im folgenden Jahr, 1724, steht die Sozietät nach Siculs Bericht „in beständigen Flore": 7 8 Sie arbeitet an der Vergrößerung der Bibliothek und an der„HistoriaCritica"; 9 auch wird sie bald mit einer Lieferung der eigenen Sammlungen ans Licht treten. Sie verschmause, betont Sicul eigens, ihre Gelder nicht, sondern kaufe dafür Bücher. So sei unermüdeter Correspondence von deren Zerfall gerettet, insonderheit aber durch Aufrichtung einer Poetischen Bibliothec glücklich befestiget und erhalten" Clodius selbst behauptet von sich: „ . . . instruere coepi Societatem T e u t o n i c a m . . . " (Ultimum V a l e . . S . Anm. 50). Unter seiner Leitung habe die Sozietät erstmals das Interesse „etiam exterorum" gefunden. Nicht unwichtig dürfte gewesen sein, daß Clodius mehreren der Leipziger Kollegien angehörte: Montägige Predigergesellschaft, Schweidnitzer Gesellschaft, Ternsche Rednergesellschaft. N a c h Clodius ist unbedingt auch das Wirken Johann Georg Hamanns innerhalb der Gesellschaft zu berücksichtigen. 74

Clodius gibt später die Zahl der unter seiner Leitung gesammelten Bücher mit 1500 an (Brief an Gottsched, 11.2.1755, U B Leipzig, M s 0342, Bd. X X , Bl. 87). Auch ist unter seiner Federführung ein Katalog der Schriften erschienen (Verzeichniß Aller Teutschen Poetischen Schrifften, Welche die . . . In Leipzig florirende Teutsch-übende Poetische Gesellschafft, vom Jahre 1719. biß Ii ... gesammlet hat. Leipzig 1724)

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Clodius entwickelt diese ehrgeizigen Ziele in seiner zum 25. Jubiläum der Gesellschaft publizierten Schrift „Schediasma de instituto Societatis philoteutonico-poeticae, quae sub praesidio . . . Johann, Burchardi M e n c k e n i i . . . Lipsiae congregatur, anno 1722." Leipzig 1722, S. 48 f.

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Verfaßt von B. Hoffmann. Vgl. Anm. 68. VII. B d . , Bl. 8r-9r, (Antrittsgedicht vom 20.2.1723). Im gleichen Jahr läßt ein Gedicht den aus Griechenland von den Barabaren vertriebenen Apollo in Deutschland leben, wo er sein besonderes Gefallen an der Leipziger Gesellschaft findet. (VII. B d . , Bl. 4r-5r, 12.1.1723) Vgl. Anm. 68. VII. B d . , Bl. 59v-60r, 24.11.1723. Der Verfasser heißt A d a m Kreutz. Sicul III, S. 389-393 Gemeint ist damit das auch in der Vorrede zum „Verzeichniß aller Teutschen Schrifften . . . " erwähnte „Lexicon Historico-Critico-Poeticum".

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ein „ V o r r a t h v o n S c h r i f f t e n " z u s a m m e n g e t r a g e n w o r d e n , d e r „ i n d e r T e u t s c h e n W e l t s c h w e r l i c h b e y s a m m e n " . J e d o c h w ü n s c h e sich d i e G e s e l l s c h a f t m e h r f i n a n z i e l l e u n d ideelle U n t e r s t ü t z u n g d u r c h die L i e b h a b e r d e r d e u t s c h e n S p r a c h e . A m S c h l u ß u n s e r e s R u n d b l i c k e s sei n o c h auf eine F o r m g e s e l l s c h a f t l i c h e r Z u s a m m e n k ü n f t e v e r w i e s e n , auf d i e die B e z e i c h n u n g C o l l e g i u m i m S i n n e e i n e r S o z i e t ä t n u r n o c h b e s c h r ä n k t p a ß t , d i e a b e r w o h l e i n e g e w i s s e R o l l e gespielt hat, o h n e d a ß w i r h i e r ü b e r e i n g e h e n d e r e K e n n t n i s s e v e r f ü g e n . A l s g e e i g n e t e r e r s c h e i n t in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g d e r B e g r i f f d e s K r ä n z c h e n . 8 0 Es h a n d e l t sich dabei u m g a n z z w a n g l o s e , k e i n e n R e g e l n u n t e r l i e g e n d e Z u s a m m e n k ü n f t e eines i m P r i n z i p o f f e n e n P e r s o n e n k r e i s e s . I m M i t t e l p u n k t s t e h t h i e r die l o c k e r e U n t e r h a l t u n g u n d Z e r s t r e u u n g ; d e r k u l i n a r i s c h e A s p e k t b e s i t z t ein g r ö ß e res G e w i c h t . 8 1 In L e i p z i g lassen sich s o l c h e V e r b i n d u n g e n m i t g r o ß e r K o n t i n u i t ä t v o m 1 7 . bis z u m 2 0 . J a h r h u n d e r t n a c h w e i s e n . W e n n sich das d o r t i g e G e s c h e h e n a u c h aus M a n g e l an Q u e l l e n k a u m n a c h z e i c h n e n läßt, so ist d o c h s i c h e r d a v o n a u s z u g e h e n , d a ß d i e „ K r ä n z c h e n " f ü r d i e K o m m u n i k a t i o n i n n e r h a l b d e r L e i p z i g e r g e l e h r t e n W e l t eine e r h e b l i c h e R o l l e gespielt h a b e n d ü r f t e n . 8 2 Z u s a m m e n f a s s e n d l ä ß t sich f e s t s t e l l e n , d a ß z u d e m Z e i t p u n k t d e r A n k u n f t G o t t s c h e d s in L e i p z i g d i e S t a d t auf eine l a n g e u n d r e i c h e G e s c h i c h t e g e l e h r t e r S o z i e t ä t e n z u r ü c k b l i c k e n k o n n t e . J e d o c h w a r e n die b e s t e h e n d e n G e s e l l s c h a f t e n j e t z t o f f e n k u n d i g i n die P h a s e e i n e r gewissen Stagnation eingetreten. D i e Predigerkollegien w a r e n w o h l in der Regel n o c h sehr d e n t r a d i t i o n e l l e n h o m i l e t i s c h e n M e t h o d e n v e r p f l i c h t e t ; d i e auf d i e s e r G r u n d l a g e g e b o t e n e n P r e d i g t e n k o n n t e n w e d e r i m Stil n o c h i m I n h a l t angesichts d e r n e u e n Z e i t t e n d e n z e n ü b e r z e u g e n . O h n e h i n v e r l o r die T h e o l o g i e u n d m i t i h r d i e P r e d i g t i m w a c h s e n d e n M a ß e d i e f r ü h e r e s i n n s t i f t e n d e B e d e u t u n g . U b e r die R e d n e r g e s e l l s c h a f t e n w i s s e n w i r a m w e n i g s t e n , 80

Zedlers Lexikon definiert folgendermaßen: „Kräntzlein heisset man eine vertrauliche Gesellschafft, die zu bestimmten Zeiten zusammen kommet, einen fröhlichen Abend zu halten." (Bd. 15 (1737), Sp. 1639). Vgl. auch J. u. W. Grimm: Deutsche Wörterbuch, 11. Bd., Sp. 2057 f. Im heutigen Deutsch wird unter einem Kränzchen nur noch eine aus Damen bestehende Kaffeerunde verstanden (vgl. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Berlin 6 1984.3. Bd., S. 2221). Schon Leibniz verwendet diesen deutschen Begriff in seinem um 1665 vor dem Collegium Conferentium gehaltenen Vortrag „De collegiis" (G. W. Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe VI. Reihe, 2. Bd., S.4-13 [Erstveröffentlichung], zum „Kränzgen" [lat. Collegium Confabulatorium] S. 8). Zu einem Beispiel eines Kränzchen im 17. Jh. vgl. meine in Anm. 3 genannte Arbeit.

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Vielleicht ist ein von Sicul erwähntes „Collegium curiosum" hier einzuordnen. Auf die dort betriebene Beschäftigung deutet die Mitteilung Siculs, eines der Mitglieder hätte in 21 Anagrammen das Leben von Robinson Crusoe dargestellt. Der Text wird dann in voller Länge abgedruckt (Sicul II, S. 150-155). Bei entsprechender intensiver Forschung ließe sich jedoch sicher einiges Material zu den Kränzchen zusammentragen. Oft scheinen sie auf Initiative einzelner Persönlichkeiten zustandegekommen zu sein. Bekannt war Ende des 18. Jh.s z.B. der Kreis um Christian Felix Weiße, der sich immer Sonnabends zusammenfand, wobei auch manches Glas Punsch getrunken wurde (so die Schilderung Weißes in einem Brief an Johann Christoph Adelung, 8.3.1788, UB Leipzig, Autographensammlung). Im 19. Jh. war vor allem das Kränzchen um Gustav Theodor Fechner bekannt (hier bilden Fechners Tagebücher [UB Leipzig] eine aufschlußreiche Quelle). Ein anderes „philosophisches Kränzchen" um den Leipziger Philosophen Christian Hermann Weiße schildert Fechner folgendermaßen: „Wir versammelten uns alle 14 Tage einmal . . . in einem Reastaurationslocal, wo ein kleines Stübchen für uns besonders dazu geheizt wird, im Sommer in einem öffentlichen Garten . . . Die Einrichtung ist die, daß, nachdem erst eine Weile eine allgemeine Unterhaltung gepflogen worden, eins der Mitglieder . . . einen Vortrag über ein ihm selbst beliebiges philosophisches Thema hält, welches geeignet ist, eine Discussion hervorzurufen . . Z u einer Übereinkunft der Meinungen gelange man niemals, jedoch „so wenig positive Frucht aus diesen Unterhaltungen herauskommt; ist es doch eben eine Unterhaltung und eine Art Exercitium des Geistes, so daß ich nicht ungern daran Theil nehme." (Eintrag zum 7.11.1862, U B Leipzig, Nachlaß 38, Bl. 268 ff. Ich übernehme hier mit Dank die Transkription von Frau Irene Altmann, die die Edition der Tagebücher Fechners vorbereitet.)

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obwohl gerade ihr Einfluß nach allen zeitgenössischen Mitteilungen groß gewesen sein muß. Immerhin läßt sich vermuten, gerade auch im Blick auf die N a m e n mancher Mitglieder, daß Gedankengut der Aufklärung hier wenigstens im Ansatz ein Podium finden konnte. Die Fachkollegien waren meist nur kurzlebiger Natur, ihre weitgesteckten Ziele ließen sich auch nicht im entferntesten erfüllen. Das Collegium Anthologicum als einzige auf eine lange Vergangenheit blickende Einrichtung war doch zu sehr dem Stil des 17. Jh. verhaftet, um innovativ wirken zu können. Einzig und allein die Deutschübende Gesellschaft versprach in der von ihr eingeschlagenen Entwicklung den Sprung zu einer neuen Qualität. Jedoch auch sie sollte in der Mitte der zwanziger Jahre in eine Krise geraten. In dieser Situation ist das Auftreten Gottscheds von entscheidender Bedeutung geworden. Was er mitbrachte, das war nicht die Idee zur Gründung gelehrter Sozietäten, vielmehr traf er die entsprechenden organisatorischen Vorbilder in Leipzig bereits an; zumindest in der Deutschübenden Gesellschaft waren sogar schon Vorstellungen und Ansätze zur Herausbildung einer Akademie in der Diskussion. Was Gottsched jedoch auszeichnete, das war zuerst sein großes Organisations- und Durchsetzungsvermögen. N a c h allen Seiten, insbesondere auch zu den Kreisen des in den politischen Machtpositionen sitzenden Adels knüpfte er seine Verbindungen. Die Kollegien, die gewiß lange schon mehr oder weniger einen N a m e n gewonnen hatten, aber doch wohl eher ein introvertiertes Vereinsleben führten, wendeten sich erst jetzt wirklich nach außen; Buch- und Zeitschriftenpublikationen, öffentliche Veranstaltungen und Preisvergaben machten sie zu anerkannten Größen des kulturellen Lebens. Schließlich und vor allem dringt erst durch Gottscheds Wirken mit ganzer Kraft eine Zeitströmung in die Leipziger Kollegien ein, die die Entwicklung der Wissenschaften im wachsenden Maße zu bestimmen begann - die Aufklärungsbewegung. Indem die Gesellschaften sich mit dieser Macht verbinden, gewinnen sie eine Bedeutung, die sie weit über das bisherige Niveau der mehr auf studentische Übungen und dilettierenden Beschäftigungen ausgerichteten Kollegien hinweghob. Wir können im folgenden dem in seiner Bedeutung eben umrissenen Wirken Gottscheds innerhalb der verschiedensten Leipziger Sozitäten nicht im einzelnen nachgehen. Dies würde eine eigenständige Untersuchung erfordern, zu der die notwendigen Vorarbeiten noch weithin ausstehen. 83 Was folgt ist also als kursorischer Überblick zu verstehen, der sich auf Gottscheds Wirken als Aufklärer konzentriert. Gottsched nimmt sogleich nach seiner Ankunft in Leipzig intensiven Anteil am Leben aller drei der von uns geschilderten Formen der Kollegien. 8 4 Verschiedene Gründe könnten ihn zu diesem Engagement veranlaßt haben: die Möglichkeit, rasch Kontakt zur Leipziger Respublica litteraria zu gewinnen; sein großes Interesse an der Rhetorik bzw. an deren Erneuerung; die Hoffnung, seine Reformvorstellungen zum Bereich der Sprache und Literatur hier umsetzen zu können; sein Bestreben, die Propagierung der von ihm in eine populäre Form gefaßten Wölfischen Philosophie wirkungsvoll zu betreiben; schließlich dürften die Möglichkeiten der Selbstdarstellung, die Sozietäten ja schon immer bieten, bei 83

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Eine gewisse Ausnahme bildet die Deutsche Gesellschaft, zu der verschiedene Arbeiten vorliegen. Aber auch hier ist das vorhandene Quellenmaterial noch bei weitem nicht vollständig ausgewertet worden. D e m vielleicht ersten Kollegium, dem Gottsched merkwürdigerweise beitrat, war die „Confraternitas notariorum et literatorum" (gegründet 1624), eine Art von Begräbnisbruderschaft, die aber auch den Kranken und Sterbenden beistehen sollte. N a c h Siculs Urteil sei jedoch in „jüngerer Zeit" die Beteiligung an Bestattungen zurückgegangen, um „ d e m uralten Deutschen Herkommen gemäß" die Brüderschaft durch „gewöhnliche Schmäuse" zu befestigen (Sicul I, S. 903, zur Confraternitas s. S. 893-908 und Sicul III, S. 702708. Gottsched verfaßte ein Gedicht auf das 100. Jubelfest der Bruderschaft (Gesammelte Gedichte, S. 326 ff.). Zu den Bruderschaften vgl. Hardtwig (s. Anm. 9), S. 70 ff. Unverständlich ist Hardtwigs Festellung, es habe nach Luther im protestantischen Bereich keine Bruderschaften mehr gegeben (S. 74).

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einem Mann wie Gottsched auch eine Rolle gespielt haben. Bei der Verfolgung seines Zieles boten sich ihm zwei Möglichkeiten: 1. D e r Anschluß an bestehende Sozietäten mit der Intention, sie im gewünschten Sinne beeinflussen zu können. 2. Die Gründung neuer Gesellschaften, die dann in ihrem Programm und in ihrer äußeren Gestalt von vornherein seinen Vorstellungen entsprechend orientiert werden konnten. Gottsched hat beide Wege beschritten; zuerst, aus naheliegenden Gründen, den ersten. Im März 1724, also wenige Wochen nach seiner Ankunft in Leipzig, trat Gottsched in die Montägige Predigergesellschaft ein. In Königsberg hatte Gottsched auf Wunsch seines Vaters Theologie studiert, 8 5 und es ist ihm später, gerade auch in der Auseinandersetzung mit den ihm nicht gerade freundlich gesonnenen Theologen, diese Tatsache immer wichtig gewesen, vor allem aber der Hinweis, daß er „über Hundert Predigten gehalten" habe. 8 6 D a ß Gottsched alsbald den Versuch unternahm, seine Vorstellungen über eine an der Vernunft orientierten Homiletik innerhalb der Predigergesellschaft zu verbreiten, belegt ein anläßlich der Jubelfeier zum 100. Gründungstag der Gesellschaft von ihm verfaßtes Gedicht. In Kontrast zu Predigtweisen, die widervernünftig, auf Zank und Streit oder auf platten Spaß gerichtet sind, werden Luthers Predigten als „herrlich Muster" aufgestellt. Danach ist ein Prediger ein „kluger Lehrer", frei von „Phantasey", Fabeln und „leeren Grillen". D e r „Weise von Stagir" (Aristoteles) muß hier vom „Pulte weichen". Seine Stelle nehmen die „geschickten Redner" ein, die heranzubilden eine Aufgabe der Hochschulen ist. O b nun Gottsched die Predigergesellschaft als Pflanzstätte solcher geistlichen Rednerkunst betrachtet, ist wohl eher fraglich, folgt man dem weiteren (nur noch knappen) Text des Gedichtes. Gelobt werden die hier gepflegte Rednergabe und Tugend, der die Gesellschaft umgebende Ruhm, ihre bekannten Mitglieder, die Wertschätzung durch den Kurfürsten. Davon, daß die „geschickte Rednerkunst" hier eine Heimstatt hat, wird nur lapidar N o t i z genommen. 8 7 Diese Zurückhaltung kann freilich nicht weiter verwundern, haben wir doch bereits davon gehört, daß Gottsched an der Tätigkeit der Predigergesellschaften wenig Gefallen finden konnte; die von ihm intentierte aufklärerische Kanzelrhetorik, 8 8 die die „Kunstgriffe einer vernünftigen Beredsamkeit" anwendet 8 9 und „die Vernunft und ihre Beweisgründe mit zu H ü l f e " n i m m t " , 9 0 war hier sicher nicht gefragt. Wir hören auch nichts mehr über eine Beteiligung Gottscheds am Leben der Predigergesellschaft. 91 Seine wiederholt for-

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Vgl. zu diesem Studium Gustav Waniek: G o t t s c h e d und die deutsche Litteratur seiner Zeit. Leipzig 1897 (Reprint Leipzig 1972), S. 8 ff. Vgl. auch Gottsched: Redekunst, S. 510 (eigentlich 610). D u r c h einen Paginierungsfehler wird die Seite 6 0 9 als S. 509 gezählt. D i e falsche Seitenzählung setzt sich dann bis zum Schluß des Buches fort.

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E r könne, schreibt Gottsched in seiner Redekunst, seine theoretische Predigtanleitung auch durch praktische Beispiele untermauern, da er „mehr als hundertmal und zwar auf den ansehnlichsten Kanzeln in Königsberg, Danzig und Leipzig gepredigt h a b e . " (S. 334)

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J o h a n n Christoph Gottsched: Gedichte. Gesammlet und herausgegeb von Johann J o a c h i m Schwabe. Leip-

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Vgl. zur Predigt in der Zeit der Aufklärung Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 1. B d . , Sp. 1 2 3 5 - 1 2 3 9

zig 1736, S. 5 8 8 - 5 9 1 . (mit weiterführender Literatur). Insbesondere heranzuziehen ist auch: Christian-Erdmann Schott: A k komodation - Das Homiletische Programm der Aufklärung. In: Beiträge zur Geschichte der Predigt. Hrsg. von H e i m o Reinitzer. H a m b u r g 1981 (Vestigia Biblia, Bd. 3), S. 4 9 - 6 9 . Schott erwähnt zwar Gottsched nicht, jedoch entspricht der von ihm geschilderte Charakter der Aufklärungspredigt durchaus der Zielstellung, die der Leipziger Professor bei der von ihm versuchten R e f o r m der H o m i l e t i k verfolgte. m

Redekunst (s. A n m . 19), S. 523.

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Redekunst (s. A n m . 19), S. 531.

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N a c h einem Bericht Gottscheds an den Grafen Manteuffel muß er zusammen mit dem D e k a n der Philosophischen Fakultät in seiner Eigenschaft als R e k t o r 1740 an der Jubelfeier des Donnerstäglichen Predige-

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mulierten scharfen Angriffe gegen die „gekünstelte Predigermethode" und gegen die Leipziger Predigtpraxis verwickelten ihn vielmehr in heftige Auseinandersetzungen mit den Leipziger und Dresdner Geistlichen, was ihm beinahe den Lehrstuhl kostete. 92 Eher als bei den fest in der Hand der Theologischen Fakultät befindlichen Predigergesellschaften konnte Gottsched hoffen, in den weltlichen Rednersozietäten eine Plattform für seine intentierte Reform der Rhetorik zu finden. Bald wird er Mitglied der Teutschen Rednergesellschaft. 1728 verläßt er sie jedoch, da ihm, wie Sicul meint, die Deutsche Gesellschaft mehr „angelegen" sei. Allerdings tritt er der Rednergesellschaft im nächsten Jahr wieder bei. 93 Uber sein weiteres dortiges Wirken, ja überhaupt über die späteren Geschicke der Teutschen Rednergesellschaft ist nichts bekannt. Welches inhaltliche Programm sie nach Gottscheds Vorstellung verfolgen sollte, läßt seine anläßlich des 1728 vollzogenen Austritts gehaltene Rede erkennen. Genannt wird zuerst die Pflege der deutschen Sprache, der die Gesellschaft verpflichtet sei, wobei dieses Wirken klar von den als künstlich und lebensfremd abgelehnten Bestrebungen der früheren Sprachgesellschaften abgegrenzt wird. Der Gebrauch der reinen deutschen Sprache in Rede und Schrift für sich gesehen sei jedoch „nichts, wenn man nicht zugleich vernünftig redet." Statt allein der menschlichen Vernunft Folge zu leisten, habe man in Deutschland bis vor kurzem einen gestelzten, spitzfindigen, schwülstigen und unnatürlichen Sprachtstil gepflegt. Allein die Leipziger Rednergesellschaft habe, so nach Gottscheds Darstellung, diesem Beispiel nicht entsprochen, sondern die „vernünftige Einfalt des Ausdruckes" gesucht und das nicht in der Erörterung „fruchtlosen Materien", sondern „in den wichtigsten philosophischen Wahrheiten, in tiefen Sittenlehren, in nachdenklichen Lehrsätzen". Warum Gottsched aus dieser Sozietät, die nach seinen Ausführungen alle die Ziele verfolgt, die er einer der Vernunft verpflichteten Rhetorik zumißt, eigentlich ausgetreten ist, wird jedoch nicht deutlich. Die von ihm selbst gegebene Begründung wirkt merkwürdig konstruiert und unglaubwürdig: Die Statuten der Gesellschaft forderten keine lebenslange Mitgliedschaft, und schließlich seien alle Dinge dem Wandel unterworfen: „Warum soll ich mich denn betrüben, daß ich bey der allgemeinen Unbeständigkeit keine Ausnahme abgeben, und die unverbrüchlichen Regeln der Veränderung nicht übertreten kann." 9 4

rkollegiums teilnehmen: „ . . . Da es denn von uns, unter sovielen Kollers, Ueberschlägen und schwarzen Röcken wohl recht hieß: Quid Saul inter Prophetas?" Es sei dann jedoch der Glückwunsch eines früheren Mitgliedes des Kollegs ausgeteilt worden, den Gottsched rühmt, da er nach den Grundsätzen seiner Redekunst verfaßt worden sei. Man solle doch einen Artikel publizieren und „etwa die Glückseligkeit unserer Zeiten" preisen, „darinn die Regeln der wahren Beredsamkeit auch schon in einer solchen Gesellschaft als dieses Prediger-Collegium ist, und zwar in Leipzig Beyfall fänden, wo man ihnen doch noch vor kurzem widersprochen hätte." (22.10.1740, UB Leipzig, Ms 0342, Bd. Via, Bl. 38 lr) 92

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Die verschiedenen entsprechenden Texte sind von Gottsched in seiner „Redekunst" zusammenfassend veröffentlicht worden. Sicul IV., S. 955 ff. über die Deutsche Rednergesellschaft. Gottsched bezeichnet sie in seiner gleich zuerwähnenden Rede als „Vertraute Rednergesellschaft". Sicul urteilt anläßlich des Austritts Gottscheds: „Es ist aber beyden (der Rednergesellschaft und der Deutschen Gesellschaft, D.D.) zu wünschen, daß sie die Aufnahme der Deutschen Sprache noch ferner hin zu ihrer Reinligkeit immer höher treiben mögen!" (S. 790) Akademische Rede, Zum Abschiede aus der vertrauten Rednergesellschaft zu Leipzig im Jahr 1728 den 20. August gehalten. In: J. Chr. Gottsched: Gesammlete Reden. Leipzig 1749 (hier zitiert nach: AW, 9. Bd., 2. Teil, [hrsg. von Rosemary Scholl], S. 519-533). Nach Gottscheds eigener Darstellung war er ein sehr eifriges Mitglied der Gesellschaft. Er habe „alle Gelegenheiten ergriffen", hier als Redner aufzutreten. Von diesen Reden ist jedoch kaum etwas erhalten geblieben. Auch hat die Gesellschaft Gottscheds Rat nicht befolgt, ihre „Proben einer wahrhaften Beredesamkeit der gelehrten Welt vor Augen" zu legen (S. 531).

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Es mag daher die Vermutung nicht ganz abwegig sein, daß die „Teutsche Rednergesellschaft" in ihren weit in das 17. Jh. zurückreichenden Traditionen doch nicht so recht die Plattform für Gottscheds Reformbestrebungen abzugeben vermochte. Dies könnte den Grund für die Entstehung mehrere Zusammenschlüsse von Studenten zum Zwecke der gemeinsamen Übung der Beredsamkeit gebildet haben, die von Gottsched geleitet wurden. Uber diese Sozietäten sind wir durch Drucke und handschriftliche Uberlieferung relativ gut informiert. 9 5 Die erste, 1728 ins Leben gerufene Verbindung bezeichnet sich später als Nachmittägliche Rednergesellschaft, 96 eine zweite, in den dreißiger Jahren gegründete Sozietät trägt den Namen der Vormittägigen Rednergesellschaft. Die frühere Gründung scheint noch unabhängig von Gottsched zustandegekommen zu sein; 97 erst dann wählten sie sich „also diesen gelehrten Mann zu ihrem Anführer und Aufseher". Da die Zahl der Mitglieder auf 12, dann auf 16 Personen beschränkt bleibt, der Andrang an Interessenten jedoch zunimmt, ruft Gottsched dann jene Vormittägige Gesellschaft ins Leben. In diesen sich aus jungen Leuten, d. h. aus seinem eigenen Schülerkreis rekrutierenden Gesellschaften kann Gottsched ganz seine Vorstellungen einer aufklärerischen Rhetorik in die Tat umsetzen. Mitglied der Vormittägigen Gesellschaft kann überhaupt nur derjenige werden, der zuvor Gottscheds Vorlesungen zur Redekunst besucht hat. Dieser werde dann erkennen können, „was meine Regeln für Früchte tragen". 9 8 Gottscheds Rhetorik ist auf das engste mit seinem Bestreben verbunden, die Philosophie, d. h. nach der Terminologie der Zeit die Weltweisheit den Menschen nahezubringen, da doch „ein jeder begierig wird",

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Die folgenden Angaben stützen sich auf die Vorreden der folgenden von den Gesellschaften edierten Bände: Proben der Beredsamkeit, welche in einer Gesellschaft guter Freunde, unter der Aufsicht Sr. Hochedl. Herrn Prof. Gottscheds, sind abgelegt worden. Leipzig 1738 (Nachmittägliche Rednergesellschaft). Sammlung einiger Uebungsreden, welche unter der Aufsicht Sr. Hochedelgeb. des Herrn Profess. Gottscheds, in der vormittägigen Rednergesellschaft sind gehalten worden. Hrsg. von J o h . Christoph Löschenkohl. Leipzig 1743 (Vormittägige Regnergesellschaft). Ein 1748 von der Nachmittäglichen Gesellschaft veröffentlichter Band „ N e u e Proben der Beredsamkeit" stand mir nicht zur Verfügung. Vgl. auch Gottscheds eigene Angaben zu den beiden Gesellschaften in der Vorrede zur 2. Auflage seiner „Ausführlichen R e d n e r k u n s t " (Leipzig 1739). Es gilt, alle diese unter Gottscheds Einfluß stehenden Gesellschaften auseinanderzuhalten, was in der bisherigen Literatur nicht geschehen ist; allerdings haben die Rednergesellschaften bis jetzt kaum Beachtung gefunden. Z u m Verwechseln der Sozietäten scheinen jedoch schon die Mitglieder selbst Anlaß gegeben zu haben. Manche „ B r ü d e r " , heißt es in der Vorrede zum 1738iger Band, hätten durch ihren Ehrgeiz verleitet sich für Mitglieder der Deutschen Gesellschaft oder der Vertrauten Rednergesellschaft ausgegeben. Mit jenen „ansehnlichen Gesellschaften" könne man sich jedoch nicht vergleichen, denn dort würden nur Meister der Sprache und Literatur aufgenommen; sie seien jedoch nur Lehrlinge.

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Deren prominentestes Mitglied war wohl Abraham Gotthelf Kästner. N o c h 1778 erinnert er sich an das L e b e n und Treiben jener Gesellschaft. Auch hier herrschte, wie wohl bei allen Leipziger Sozietäten, die Sitte, die eingelaufenen Strafgelder in Festmähler umzusetzen: „In der Rednergesellschaft die wir in L . unter Gottscheds Aufsicht hatten, verschmausten wir jährlich die Strafgelder. Sie waren ansehnlich und wir trugen noch was jeder dazu bey also gab es ein prächtiges Tractamente w o b e y wir gewöhnlich Musik und T r o m peten u. Pauken hatten." D a Gottsched sich einmal weigert, an dieser Feier teilzunehmen, Pauken und Trompeten jedoch nur bei Anwesenheit von Personen mit akademischen G r a d gestattet war, drohte die Musikbegleitung auszufallen. Man besorgt sich einen „ D o c t o r Medicinä" und rettet so die Veranstaltung: „Wir waren von Herzen lustig, und über den Ausgebliebenen ging es weidlich her. Auf den Abend sagte ich: Wir müssen doch G . zeigen, daß wir ohne ihn lustig gewesen sind, wir wollen hingehen und ihm ein Vivat rufen . . . " , was dan auch geschieht (Kästner an Friederike Baldinger, 2 9 . 3 . 1 7 7 8 , U B Göttingen, M s philos. 166, Bl. 1 5 5 - 1 5 7 ) .

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Man habe sich zusammengeschlossen, heißt es, weil man mit der bisherigen Ü b u n g der Rhetorik unzufrieden war. Ziel sei es gewesen, im Deutschen die Beredsamkeit der Griechen und R ö m e r und der Ausländer zu entwickeln. Gottscheds eben erschienener „Grundriß einer vernünftigen Beredsamkeit" (daher auch die Datierung der Gründung auf das J a h r 1728) habe sie in ihrem Vorhaben bestärkt.

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Vorrede zur 2. Auflage der „ R e d e k u n s t " .

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diese zu fassen, „wenn er höret: daß dieselbe die Mittel sich glücklich zu machen, anweist." 9 9 Dabei ist für Gottsched die zu vermittelnde Weltweisheit nichts anderes, als die von ihm eifrig propagierte sogenannte Leibniz-Wolffsche Philosophie. Diese Weltweisheit sei keine abgestandene, weltfremde Schulphilosophie, sondern stehe im Dienste der Erlangung der menschlichen Glückseligkeit: Die möglichst perfekte Beherrschung der Methoden der Beredsamkeit ist eine Voraussetzung, um den Hörer über sich selbst, über seine Bestimmung, über die ihn umgebende Welt aufzuklären. 1 0 0 Philosophie und Wissenschaft, die nicht in die Öffentlichkeit getragen werden, bringen keinen Nutzen; erst ihre rhetorische Vermittlung verschafft ihnen Wirksamkeit. 1 0 1 Eine dementsprechende Rede muß nun bestimmten Regeln folgen, deren Aneignung in den Rednergesellschaften geübt wird: Der Inhalt einer Ansprache hat sich an wahre und nützliche Themen als Gegenstand zu orientieren. Der Hörer muß von diesen Wahrheiten intellektuell überzeugt und emotional für sie gewonnen werden. 1 0 2 Die Argumentation muß über klare, verständliche, natürliche und das Problem gründlich darlegende Sätze erfolgen. 1 0 3 An welchen Themen diese Fähigkeiten in den Gottschedschen Gesellschaften geübt wurden, zeigt das Inhaltsverzeichnis der veröffentlichten Bände. Ich nenne einige Beispiele: „Rede, daß das Vergnügen, welches wir in uns selbst über unsere Vollkommenheiten empfinden, die allersicherste Belohnung sey; Rede, daß es höchst thöricht sey, eine Sache aus bloßen Vorurtheilen lächerlich und verächtlich zu machen; Rede, daß derjenige allezeit glücklich ist, der andere glücklich machet; L o b der Weltweisheit." Von besonderer Brisanz sind freilich die Beiträge, die die Distanz der neuen Philosophie Leibniz' und Wolffs zur überlieferten Religion verdeutlichen. Dabei ist zu vermuten, daß solche Reden, die mit ihrem Inhalt in einem besonderen Maße Angriffsflächen boten, der Öffentlichkeit nicht gerade aufgedrängt worden sind. Schließlich hatte sich Gottsched selbst mit mehreren später publizierten Reden, die er gegen die Predigtmethoden der lutherischen Orthodoxie gehalten hatte, großen Arger eingehandelt, dessen Wiederholung er tunlichst zu meiden suchte. Greifen wir zu einem Band nur handschriftlich überlieferter Vorträge einer der Rednergesellschaften, so stoßen wir bald auf die Behandlung durchaus heikler Themen. 1 0 4 Was 99 100

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Vorrede, d a r i n n . . . c 3v. D a s Verhältnis zwischen Philosophie und Rhetorik wird in der Widmung der „ P r o b e n " an Gottsched klar formuliert: „Wir sind größtentheils Ew. Hochedlen Zuhörer gewesen, und haben in Dero philosophischen Lehrstunden die Sachen, in Dero oratorischen Vorlesungen aber die Einkleidung derselben gelernet." „ U n d durch was kann ein Gelehrter sich wohl mehr Ehre zuwege bringen, als wenn er seine Gedanken auf eine vernünftige Art vorzubringen weis? Es ist nicht genug, daß er vernünftig denket; nein, er muß auch verständig reden können. U n d wenn er auch alle menschliche Weißheit besäße, und alle Wissenschaften von Grund aus gelernet hätte, dabey aber den Ueberfluß seiner Gelehrsamkeit bey sich, wie einen Schatz, verborgen hielte", so könne er „für den unwissendsten Menschen" gehalten werden. Ein Gelehrter könne nur dann Achtung fordern, wenn er die Menschen „von derjenigen Geschicklichkeit, die er besitzet, überführet"; dazu bedarf es der Kunst der Rede (Übungsreden, Vorrede). Bei ihren Reden, heißt es bei der Beschreibung der Tätigkeit der vormittägigen Gesellschaft, komme es darauf an, „daß wir einen wahren und nützlichen Satz durch bündige Beweise auszuführen, den Zuhörern allen Zweifel dabey zu benehmen, und das H e r z derselben auf das lebhafteste zu rühren suchen." (Übungsreden, Vorrede). Im Vorwort zu den „ P r o b e n " wird dieses Bestreben in Abgrenzung zur barocken Rhetorik folgendermaßen charakterisiert: „ M a n findet hier gar nichts gekünsteltes, und weithergeholtes, sondern ist bey demjenigen geblieben, was für jedermans Verstand ist. Die Schreibart selbst hat an diesen Proben eben so wenig Glänzendes, als die Materien darinnen wunderbar sind. Man hat sich bey derselben nach weiter nichts bestreben wollen, als daß man sie denen Sachen gemäß machen möchte, die man abhandelte." Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden, Μ 271 (70 BD. Vgl. Katalog der Handschriften der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Dresden, bearbeitet von Franz Schnorr von Carolsfeld. 2. Bd. Leipzig 1883, S. 515 [Reprint Dresden 1981]). U m welche der beiden Rednergesellschaften es sich handelt,

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ζ. B. konnte wichtiger erscheinen, als die Beantwortung der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele. Das Christentum steht und fällt mit einer positiven Antwort. Die für das Religionsverständnis jener Zeit ganz zentrale Paradieses- vor allem aber Höllenvorstellung verliert alle Grundlage, rüttelt man an der Annahme, daß die Seele nach dem Tode des Menschen dem Gericht unterworfen wird: Alle Menschen müssen sterben und je nach ihrem Leben erfährt ihre Seele Belohnung oder Bestrafung. Tod und Gericht, Hölle und Teufel sind nun allerdings die Dinge nicht, die in der Sicht des aufgeklärten Menschen der besonderen Aufmerksamkeit wert sind, ja deren Existenz überhaupt anzunehmen ist. Selbst der ja nun offenkundig einen jeden erwartende Tod ist in der Sicht eines der Vortragenden keineswegs eine so ausgemachte Sache. Nur das, was aus „hellen Gründen" hergeleitet werden kann, das könne auch nicht bestritten werden. D e r Tod zähle dazu nicht; G o t t könne das Ende der Welt eintreten lassen, dann würden die zu jenem Zeitpunkt lebenden Menschen nicht sterben und folglich auch nicht auferstehen. Ernsthafter ist eine andere, wohl vom gleichen Redner entfaltete Argumentation, die belegen soll, daß der Mensch aufhöre, ein Mensch zu sein, wenn er stirbt. 1 0 5 Die Darlegung geht, ganz verkürzt gesagt, davon aus, daß es zum Wesen des Menschen gehöre, über Leib und Seele zu verfügen. Wird aber nun „die Menschheit von dem Tode verschlungen, so muß auch die Seele und der Leib nothwendig sterben. Was den Tod geschmecket hat, das kann keine Handlungen mehr verrichten. Kann also etwas gewisser seyn, als das die Seele und der Leib, die mit dem Tode des Menschen abgestorben sind, nach demselben nicht mehr können thätig s e y n . " 1 0 6 Das bedeutet insbesondere auch, daß die Seele keineswegs „auf der Schaubühne der Gespenster ihre R o l l e " spielen könnte. Gericht, Jenseits, die Existenz von Engeln und Geistern, die ganze Welt der Wunder ist mit einem Schlag beseitigt. Dennoch bestreitet der Redner unbedingt, und hier folgt er nur seinem Lehrer und dessen ganzen Schule, damit der Lehre der Kirche entgegenzutreten. N u r scheinbar weiche er von den Glaubenslehren ab, man werde vielmehr erkennen, „daß ich hiermit keiner Glaubenslehre unserer göttlichen Religion zu nahe getreten bin, . . . sondern daß ich da, wo ich von ihr abgegangen zu seyn scheine, nur denen Sachen ihre eigenen und richtigen Nahmen gegeben habe, weil ich mir habe angelegen seyn laßen, dieselben so zu benennen wie es ihr Wesen erfordert." So ist die Seele nicht annihiliert, sie schläft nur, sie ist untätig, sie wird zum Geist, der bei der Auferstehung wieder mit dem früheren Leib vereinigt wird. So sei er, lautet des Autors Auffassung, mit denen, die die Unsterblichkeit der Seele lehren, in der Sache einig, nur nicht in den Worten. Zahlenmäßig überwiegen in den Gottschedschen Rednergesellschaften die L o b - und Gedenkreden auf zeitgenössische Persönlichkeiten. Aber auch diese Texte stehen im Dienste der Vermittlung der aufklärerischen Ideen des Gottsched-Kreises. So wird Leibniz, der gefeierte Bahnbrecher moderner Philosophie und Wissenschaft, in einer Rede des jungen Johann Gottlob Immanuel Breitkopf alles das als Verdienst zugerechnet, was sich in der Popularaufklärung mit dem Namen Leibniz verbindet: „Unser Leibniz" war ein wahrer und überzeugender Verteidiger der Religion (im Gegensatz zu seinen orthodoxen Gegnern), ein Entdecker neuer wichtiger Wahrheiten, ein Zertrümmerer des Glaubens an übernatürliche Kräfte (was den Menschen erst zum Menschen macht), der Künder einer

läßt sich dem Band nicht entnehmen. D i e im folgenden berücksichtigten Vorträge finden sich auf den Bll. 12v-19v (Datum: 1 7 . 3 . 1 7 4 5 ) und 2 8 v - 4 0 v (Datum: 1 8 . 8 . 1 7 4 5 ) . Beide Texte sind vermutlich vom gleichen Autor. 105

D e r Brisanz einer solchen Behauptung ist sich der Redner durchaus bewußt. Man könne denken, daß er jener „schändlichen R o t t e " der„Freygeister" angehöre, die die Religion über den Haufen werfen wolle.

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Vgl. A n m . 104, Bl. 37v.

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Detlef D ö r i n g

optimistischen Weltanschauung. So habe Leibniz der Verbesserung des Verstandes den höchsten Dienst erwiesen und damit den Menschen „den allerwichtigsten Dienst" geleistet. N i c h t allen Teilnehmern an Gottscheds studentischen Rednerzirkeln erschien später der in theologisch-philosophischer Hinsicht freie Ton der dort gehaltenen Vorträge als E m p fehlung für ihre Karriere. So beschwert sich der Gottschedanhänger und später als Mathematiker berühmt gewordene Abraham Gotthelf Kästner am 7 . 1 0 . 1 7 4 8 , daß ohne seine Zustimmung mehrere seiner in der Rednergesellschaft gehaltenen Vorträge in den „Neuesten Proben der Beredsamkeit" veröffentlicht worden sind; weder dem Herausgeber Heller, noch Gottsched selbst habe er dies gestattet. Konkret geht es Kästner um zwei Reden „ L o b der Freygeisterey" und „Erweis, daß ein Redner kein Wolfianer seyn sollte". E r würde jetzt in diesen Fragen „in den meisten Stücken anders" denken und „bescheidener und bedachtsamer reden". Jenes als Schüler Gottscheds vorgetragene „ G e w ä s c h " würde ihn jetzt nur beschimpfen und Verdruß bereiten. 1 0 7 Neben diesen Rednergesellschaften kommt es zu einer weiteren ebenfalls von Gottsched initiierten Sozietätsgründung, die unmittelbar der Diskussion der neuen Philosophie verpflichtet ist. Bemerkenswerterweise knüpft Gottsched hier an eine Tradition an, die auf Leibniz selbst zurückgeht. Dieser war während seiner Leipziger Studienzeit Mitglied des „Collegium Conferentium", von dessen konkreten Wirken wir allerdings kaum etwas wissen. Gottsched war das (heute nicht mehr vorhandene) Statutenbuch dieser Gesellschaft in die Hände gekommen, 1 0 8 und vielleicht mag ihn dieser Zufall dazu veranlaßt haben, gleichsam eine „leibnizische Gesellschaft" ins Leben zu rufen, eben zur Propagierung der neuen Philosophie. Als Mitglieder von Gottscheds „philosophischer Gesellschaft" werden genannt: Johann Georg Lotter, Wolf Balthasar Adolph v. Steinwehr, Friedrich Wilhelm Stübner, Johann Friedrich May, Johann Heinrich Winkler und Johann August Ernesti. 1 0 9 Einen Einblick in die Arbeitsweise der Gesellschaft gewährt das innerhalb der 2. Auflage von Gottscheds „Weltweisheit" abgedruckte „Philosophische Gespräch über die Frage: O b mehr als ein unendliches Wesen seyn k ö n n e ? " 1 1 0 Dieses Gespräch sei durch die Veröffentlichung eines Buches angeregt worden, in dem die bisherigen Beweise für die „Einigkeit G o t t e s " untersucht und als unzulänglich befunden worden sind. Man habe daher versucht, gründlichere Belege zu entwickeln. D e r Entwurf des Textes sei in einer „philosophischen Gesellschaft", unter der wir uns eben das erneuerte Collegium Conferentium vorzustellen haben, immer wieder diskutiert worden, da ständig neue Schwierigkeiten auftauchten, „die alle Beweise entkräfteten". Erst die fünfte Fassung des Textes schien dann „die Probe zu halten"; diese gelange nunmehr zum Abdruck. Man übergebe damit das „Gespräch" der Diskussion unter den Gelehrten, hoffe jedoch besonders auf eine Reaktion des Verfassers 107

Vgl. Fritz Winter: A. G . Kästner und Gottsched. In: Vierteljahrsschrift für Litteraturgeschichte. l . B d . (1888), S. 4 8 8 - 4 9 1 . D e r Verfasser stützt sich auf ein in der Nr. 180 des „Hamburgischen C o r r e s p o n d e n t e n " von 1748 abgedruckten Schreiben Kästners.

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Darüber berichtet er in einer Anmerkung in seiner 1744 erschienenen Übersetzung d e r T h e o d i z e e Leibniz' (Anmerkung 1 zur Ubersetzung der Eloge Fontenelles auf Leibniz, die der Theodizee vorangestellt ist). Vgl. Herrn Gottfried Wilhelms Freiherrn von Leibnitz Theodicee. N a c h der 1744 erschienenen, mit Zusätzen und Anmerkungen von Johann Christoph Gottsched ergänzten, vierten Ausgabe herausgegeben, von H u b e r t Horstmann. Berlin 1996, S. 11 f.

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So eine N o t i z Gottscheds zum „Anhang einiger Philosophischen Abhandlungen", 5. Auflage der Weltweisheit, 2. B d . , S. 442. May, Winkler und Ernesti werden erst in der 6. Auflage der „Weltweisheit" genannt. Vgl. auch Gottscheds Mitteilungen über die Tätigkeit der Gesellschaft auf S . 6 1 6 der 2. Auflage, 1. B d . , S. 616 (im Zusammenhang mit dem A b d r u c k des „Gesprächs von der Einigkeit G o t t e s " auf den vorangehenden Seiten).

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2. Auflage, 1. B d . , S. 5 9 3 - 6 1 5 . D i e folgende Darstellung stützt sich auf einen kurzen Bericht Gottscheds auf S. 616 (datiert auf O s t e r n 1737).

Gottsched und die Leipziger gelehrten Sozietäten

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jenes Buches, das den Anstoß zur Abfassung der literarischen Arbeit gegeben habe. Im Kreis des Collegium Conferentium wird dann auch das ganze umfangreiche Manuskript von Gottscheds „Weltweisheit" erstmals gelesen und diskutiert. 1 1 1 Über die sonst in jener Societas behandelten Themen erfahren wir etwas aus einigen in der 5. Auflage der „Weltweisheit" abgedruckten, von der Leibniz-Wölfischen Philosophie geprägten Abhandlungen, die Gottsched als „Früchte derselben Gesellschaft" bezeichnet: Beweis, daß diese Welt die beste sey; O b man die geoffenbarte Theologie in mathematischer Lehrart vortragen könne; Gedanken vom Zustande der abgeschiedenen Seelen u.a. 1 1 2 Ein, wenn nicht das Thema aller dieser Abhandlungen ist das Verhältnis zwischen Vernunft und Glaube, Philosophie und Offenbarung. Wenn auch die Möglichkeit einer mathematischen Demonstration der Glaubenssätze bestritten wird, so betont man doch andererseits die Harmonie zwischen der Weltweisheit und der Offenbarung 1 1 3 sowie den Nutzen der Philosophie für das Gedeihen eines christlichen Gemeinwesens. 1 1 4 1736 ist die Societas, wie Gottsched formuliert, „verschiedener Ursachen halber geendigt" worden. 1 1 5 Nur spekulativ läßt sich vermuten, daß der auf Gottsched ausgeübte wachsende Druck der Theologen, er solle die Verbreitung der „verderblichen Philosophie" beenden, zur Auflösung der Sozietät beigetragen hat. 1 1 6 In diesem Zusammenhang ist noch eine andere Verbindung zu nennen, deren Gründung zwar nicht auf Gottsched zurückzuführen ist, die aber für einige Jahre einen Mittelpunkt der Leipziger Wolffianer bildete. Noch in Berlin hatte der frühere Diplomat Graf Ernst Christoph von Manteuffel, ein entschiedener Förderer Wolffs und der modernen Wissenschaften, einen Kreis der sogenannten Alethophilen ins Leben gerufen, der sich die Verbreitung der Wahrheit zur Aufgabe machte, d. h. die Propagierung der Leibniz-Wolffischen Philosophie. Nach des Grafen Ubersiedlung in die Nähe von Leipzig (1740) findet der Kreis hier seinen Mittelpunkt. 1 1 7 Manteuffel bleibt bis zu seinem Tod der spiritus rector der

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Vorrede zur 5. Auflage der Weltweisheit: „Ich las diese meine Einleitung zur Philosophie überhaupt, in einer philosophischen Gesellschaft, die ich in diesem Jahre, auf den Grund einer alten, von Leibnizen allhier gestifteten Gesellschaft (Societas disquirentium) erneuert hatte . . . Und nach geschehener Prüfung derselben, trug ich kein Bedenken, sie dem Drucke zu übergeben." Leibniz war im übrigen nicht der Gründer der genannten Gesellschaft, sondern trat ihr erst später bei. J. Chr. Gottsched: Weltweisheit. 5. Auflage, Leipzig 1756, S. 442 ff. Daß Gottsched diese Texte schon lange vor ihrer Veröffentlichung zumindest an engere Vertraute weitergab, belegt eine aus dem Jahr 1739 stammende Mitteilung des Grafen Manteuffel an den Probst Reinbeck: Gottsched habe ihm zwei seiner „jolies harangues" gegeben, die „Philosophischen Mutmaßungen vom Aufenthalte der abgeschiedenen Seelen" und „Weltweise ohne Offenbarung" (Brief vom 15.5.1739, UB Leipzig, Ms 0344, Bl. 81v). Dies bezieht sich vor allem auf die behauptete Identität zwischen den Aussagen der natürlichen Theologie und den Sätzen der Philosophie: „So lange also eine philosophische Meynung die Unsterblichkeit der Seelen, und die Belohnungen und Strafen nach dem Tode, nicht aufhebt; auch nicht, was den Vollkommenheiten Gottes, oder der menschlichen Natur zuwider läuft, in sich hält: so lange kann dieselbe aus der Schrift nicht widerlegt, noch schlechterdings verdammt werden." (s. Anm. 112, S. 499). So werde es ζ. B. geschehen, wenn die Menschen die Welt als die beste Welt anerkennen, „daß sie mit Lust und Vergnügen alles, was in der Welt geschieht, ansehen; selbst aber nicht widerspenstige Rebellen, sondern gute Bürger in der Stadt Gottes abgeben, und sich also hier und dort glücklich machen werden." (s. Anm. 112, S.481). Theodicee (s. Anm. 108), S. 12. Die erwähnten im Collegium erarbeiteten Abhandlungen sind von Gottsched in der 6. Auflage seiner „Weltweisheit" (1762) in überarbeiteter Fassung neu herausgegeben worden. Dabei wird das Gewicht der Vernunft im Verhätltnis zum Glauben nochmals verstärkt. Eine eingehende Darstellung der Geschichte dieser Gesellschaft existiert nicht. Unmittelbaren Quellenwert besitzt der in Zedlers Universallexikon veröffentlichte Artikel über die Alethophilen, da er von einem ihrer Mitglieder, Ludovici, verfaßt worden ist (52. Bd. [1747], Sp. 947-954). Relativ ausführlich und unter

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Detlef Döring

Alethophilen; Gottsched und seine Frau sind jedoch die wohl eifrigsten Mitglieder. Das Ziel ihres Wirkens ist, so der Graf, die Wahrheit zu fördern, vor allem in einem Land wie Sachsen, „wo die orthodoxen Theologen noch so oben auf sind." 1 1 8 Neben die Diskussion philosophischer Fragen und Schriften tritt hier interessanterweise auch die Durchführung naturwissenschaftlicher Experimente. Im übrigen betreiben die Alethophilen ein recht lockeres, sich scherzhafterweise in militärischen Formen abspielendes Gesellschaftsleben, das weniger in Verbindung zu den schon erwähnten Feiern der Leipziger Kollegien zu sehen ist, als vielmehr in der Tradition bestimmter Gesellschaftsgründungen des Adels, denen Manteuffel angehörte und von denen er sich offenkundig anregen ließ. Gottscheds wichtigste Tat auf dem Gebiet des Sozietätswesens, sein auch von den schärfsten Kritikern anerkannter Verdienst, ist freilich die Umgestaltung der Deutschübenden Gesellschaft zur Deutschen Gesellschaft, die er dann gut zehn Jahre leitete und zu einer Verbindung von gesamtnationaler Bedeutung emporführte. Es ist ein relativ gut erforschtes Thema; ich kann mich hier ganz kurz fassen. Die Krise, in die die Gesellschaft Mitte der zwanziger Jahre geraten war - mitbedingt sicher durch die Abreise von Clodius wird von Gottsched in Gemeinschaft mit anderen Mitgliedern, wobei besonders auf Johann Friedrich May zu verweisen ist, aufgefangen. Dabei stützt sich das neue Programm, wie schon angedeutet, durchaus auf Intentionen, die bereits in der Zeit vor Gottsched ins Auge gefaßt worden waren. Der Schwerpunkt der Tätigkeit der Gesellschaft verlagert sich vom Verfassen von Gedichten zur Produktion von Prosa-Texten. Zahlreiche Publikationen dokumentieren der Öffentlichkeit die Ziele und die Tätigkeit der Sozietät. In den verschiedensten Orten Deutschlands kommt es zur Gründung von Tochtergesellschaften. Den Höhepunkt bildet in dieser Beziehung die Herausgabe der ersten germanistischen Fachzeitschrift überhaupt, der „Beyträge zur kritischen Historie der deutschen Sprache". Der Versuch freilich, alle diese Bestrebungen in die Umwandlung der Gesellschaft zu einer staatlich anerkannten Akademie nach dem Vorbild der Academie frangaise münden zu lassen, scheitert letztendlich, welche Anstrengungen Gottsched und andere Mitglieder auch immer unternehmen. Daß bei aller bisher zu wenig beachteten Rolle der Mitgliederbasis der Sozietät Gottsched doch ihr unbedingter Spiritus rector gewesen ist, zeigt der rasche Niedergang der Gesellschaft nach Gottscheds Austritt im Jahre 1738. Zwar besteht die Sozietät noch über mehrere Jahrzehnte hin fort, ihre gleichsam gesamtnationale Bedeutung, die sie in den dreißiger Jahren ausüben konnte, hat sie jedoch nicht einmal im Ansatz behaupten bzw. wieder erlangen können. 1 1 9

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Benutzung des Briefmaterials der Leipziger UB behandelt Eugen Wolff die Geschichte der Alethophilen: Gottscheds Stellung im deutschen Bildungsleben. 2. Bd. Kiel und Leipzig 1897, S. 215-230. Vgl. auch Detlef Döring: Beiträge zur Geschichte der Gesellschaft der Alethophilen in Leipzig. In: Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650-1820). Wissenschaftliche Tagung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 20. und 21. Februar 1998. Leipzig 1999 (Druck in Vorbereitung). „ . . . sont tres propres ä avancer la Verite, sur tout dans un pays, comme la Saxe, oü les ortodoxes tiennent encore le haut bout" (Manteuffel an Reinbeck, 10.2.1741. Zitiert nach: Anton Friedrich Büsching: Beyträge zu der Lebensgeschichte denkwürdiger Personen, insonderheit gelehrter Männer. 1. Teil. Halle 1783, S. 125, Kursivsetzung durch D. D.). Hier ist allerdings zu beachten, daß für die Zeit nach Gottscheds Austritt die Quellenlage zur Geschichte der Deutschen Gesellschaft äußerst dürftig ist. Entsprechende Quellenfunde könnten das obige Urteil vielleicht modifizieren, sicher jedoch nicht aufheben.

HOLGER ZAUNSTÖCK, HALLE

Die halleschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert. Eine Strukturanalyse Seit langem ist bekannt, daß die aufgeklärte Sozietätsbewegung im Alten Reich des 18. Jahrhunderts ihre Kristallisationspunkte in städtischen Zentren hatte; Universitäts-, Handels· und Residenzstädte bildeten das geeignete Umfeld für die Entstehung verschiedener Formen aufgeklärter Organisation. Daher ist es bemerkenswert, daß die einschlägige Forschung städtische Untersuchungen, die alle Formen der Aufklärungsgesellschaften einbeziehen - also das gesamte Spektrum aufgeklärter Assoziation thematisieren - , bislang lediglich vereinzelt hervorgebracht hat. Eine sozietätstypologisch umfassende Analyse der Aufklärungsgesellschaften, d. h. der Akademien, Gelehrten Gesellschaften, Deutschen und Literarischen Sozietäten, Freimaurerlogen, Akademischen Logen, Patriotisch-gemeinnützigen und Ökonomischen Gesellschaften, Lesegesellschaften, Geheimbünde sowie von Jakobinerklubs,1 im spezifisch Urbanen Kontext haben bislang Franklin Kopitzsch in seinen Studien zu Hamburg und Altona sowie jüngst Jens Riederer zu den aufgeklärten Sozietäten in Jena und Weimar vorgelegt.2 Dagegen sind andere Zentren der Aufklärung im Alten Reich wie etwa Leipzig und Halle nicht zufriedenstellend auf die Gesamtstruktur der in ihnen tätigen aufgeklärten Sozietäten hin untersucht worden. Bedenkt man außerdem, daß Halle auch europaweit als städtischer Kristallisationspunkt der Aufklärungsbewegung gilt, wird das bestehende Defizit einer sozialgeschichtlichen Analyse ihrer Trägerschaft besonders anschaulich. Deshalb soll im folgenden nun die Lücke hinsichtlich des halleschen Sozietätswesens im 18. Jahrhundert geschlossen werden.3

1

Ulrich Im H o f , Das gesellige J a h r h u n d e n . Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München 1982, S. 1 1 2 - 1 7 5 , ders., Das Europa der Aufklärung. München 1993, S. 9 5 - 1 3 4 , Horst Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1986 (Neue H i s t o rische Bibliothek, edition suhrkamp, Neue Folge Bd. 269), S. 212 ff., Richard van Dülmen, D i e Aufklärungsgesellschaften als Forschungsproblem, in: Francia, 5 (1977), S. 2 5 1 - 2 7 5 , ders., D i e Gesellschaft der Aufklärer. Z u r bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland. Frankfurt/Main 1986 [ 2 1996, unveränderte Neuauflage] sowie H e l m u t Reinalter (Hg.), Aufklärungsgesellschaften. Frankfurt/ Main u. a. 1993 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in M i t teleuropa 1 7 7 0 - 1 8 5 0 " , Bd. 10). Z u r Diskussion (u. a. zur Definition Gelehrter Gesellschaften) sowie Ergänzung des Spektrums der Aufklärungsgesellschaften (Einbeziehung der bislang nicht beachteten Akademischen L o g e n ) vgl. A n m . 8.

2

Franklin Kopitzsch, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. Hamburg 1 9 8 2 , 2 Teile (zu den Hamburger Sozietäten siehe Teil 1, S. 2 6 0 - 4 5 2 und Teil 2, S. 5 2 2 - 5 9 6 , sowie für Altona Teil 2, S. 7 3 8 - 7 8 6 ) und Jens Riederer, Aufgeklärte Sozietäten und gesellige Vereine in J e n a und Weimar zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit 1 7 3 0 - 1 8 3 0 . Sozialstrukturelle Untersuchungen und ein Beitrag zur politischen Kultur eines Kleinstaates. Phil. Diss. J e n a 1994. Siehe in diesem K o n t e x t auch Hans Erich Bödeker, Strukturen der Aufklärungsgesellschaft in der Residenzstadt Kassel, in: Ernst Hinrichs u. a. (Hg.), Mentalitäten und Lebensverhältnisse: Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag. Göttingen 1982, S. 5 5 - 7 6 sowie die sich allerdings hauptsächlich auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts beziehende Studie von Eberhard Iiiner, Bürgerliche Organisierung in Elberfeld 1 7 7 5 - 1 8 5 0 . Neustadt an der Aisch 1982.

3

Monika Neugebauer-Wölk, D e r K a m p f um die Aufklärung. D i e Universität Halle 1 7 3 0 - 1 8 0 6 , in: MartinLuther-Universität. Von der Gründung bis zur Neugestaltung nach zwei Diktaturen, hg. von Gunnar Berg und H a n s - H e r m a n n Hartwich. Opladen 1994, S. 2 7 - 5 5 , N o r b e r t Hinske (Hg.), Zentren der Aufklärung I. Halle. Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung Bd. 15), Wolfgang Martens (Hg.), Zentren der Aufklärung I I I . Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit. Heidelberg 1990

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Holger Zaunstöck

Hierfür werden die Aufklärungsgesellschaften zunächst in zwei Großgruppen unterteilt: in arkane Sozietäten, wozu Logen, Geheimbünde und Jakobinerklubs zählen, 4 und in nichtarkane Gesellschaften, wozu Gelehrte, Deutsche, Literarische, Patriotisch-gemeinnützige, Ökonomische und Lesegesellschaften zu rechnen sind. Im Hinblick auf diese Grundeinteilung ist forschungsgeschichtlich festzuhalten, daß die Formen arkaner Vergesellschaftung in der Saalestadt das Interesse der Historiker gefunden haben, während die nichtarkanen Sozietäten lediglich rudimentär behandelt worden sind.5 Besonders eingehend ist der von Karl Friedrich Bahrdt 1787 gegründete Geheimbund Deutsche Union durch Günter Mühlpfordt analysiert worden. 6 Auch die Freimaurerlogen der Saalestadt sind ereignisgeschichtlich gut erforscht bzw. im Spannungsfeld von Aufklärung, Universität und preußischer Bildungspolitik behandelt worden. 7 Darüber hinausreichende Untersuchungen gesellschaftstypologisch übergreifender Sozietätsstrukturen allerdings, d. h. der Sozietäts- und Mitgliedschaftszahlen, der Sozial- und Berufsstruktur sowie der Verbindungen der einzelnen Gruppen über ihre Mitglieder untereinander, sind bislang nicht geleistet. Im folgenden nun soll mittels einer quantitativ-strukturellen Analyse in drei Abschnitten diesen Gegebenheiten nachgegangen werden. Dabei wird zunächst chronologisch die Genese des halleschen Sozietätswesens (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung Bd. 17) sowie R o b e r t Darnton, George Washingtons falsche Zähne oder noch einmal: Was ist Aufklärung? Princeton N e w Jersey 1996, S. 7. Eine Bibliographie zur Stadt- und Universitätsgeschichte findet sich bei: Halle, alte Musenstadt . . . Streifzüge durch die Geschichte einer Universität. Zusammengestellt, kommentiert und mit einer Einleitung versehen von Werner Piechocki. Halle 1994, S. 2 7 4 - 2 7 7 . 4

Zur Funktion des Geheimnisses (Arkanum) in der Freimaurerei bzw. den geheimen Gesellschaften siehe einführend: M o n i k a Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1995 (Kleine Schriften zur Aufklärung 8), dies., D i e Geheimnisse der Maurer. Plädoyer für die Akzeptanz des Esoterischen in der historischen Aufklärungsforschung, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, Jg. 21 (1997), Heft 1, S. 1 5 - 3 2 , Manfred Agethen, D i e Geheimgesellschaften, in: Jürgen Ziechmann (Hg.), Panorama der Fridericianischen Zeit. B r e m e n 1985, S. 5 7 1 - 5 8 0 , ders., Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung. M ü n c h e n 2 1 9 8 7 (Ancien Regime, Aufklärung und Revolution, Bd. 11), S. 127 ff. sowie Wolfgang Hardtwig, G e n o s senschaft, Sekte, Verein in Deutschland. 2 Bde., Bd. 1: V o m Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. München 1997, S. 304 ff.

5

Eine Ausnahme ist: Reinhard Aulich, D i e Anfänge der Naturforschenden Gesellschaft zu Halle. Ü b e r die Gründung und das erste Jahrzehnt einer vergessenen patriotischen Aufklärungsgesellschaft', in: Erich D o n n e r t (Hg.), Europa in der frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Band 4: Deutsche A u f klärung. Weimar, Köln, Wien 1997, S. 1 5 5 - 1 6 5 ; zu den halleschen Sozietäten (arkan und nichtarkan) siehe auch: H e i n z Käthe, Geist und M a c h t im absolutistischen Preußen. Zur Geschichte der Universität Halle von 1740 bis 1806. Halle 1980, Diss. Β , Ms., 2 Teile, Teil 2, S. 1 3 3 - 1 3 6 , 1 9 1 - 1 9 3 , 1 8 4 - 2 0 1 sowie 282 f.

6

Günter Mühlpfordt, Lesegesellschaften und bürgerliche Umgestaltung. Ein Organisationsversuch des deutschen Aufklärers Bahrdt vor der Französischen Revolution, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 28 (1980), S. 7 3 0 - 7 5 1 , ders., Ein radikaler Geheimbund vor der Französischen Revolution. D i e . U n i o n ' K . F. Bahrdts, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus, 5 (1981), S. 3 7 9 - 4 1 3 , ders., Europarepublik im D u o dezformat. Die internationale Geheimgesellschaft U n i o n - ein radikalaufklärerischer Bund der Intelligenz ( 1 7 8 6 - 1 7 9 6 ) , in: Helmut Reinalter (Hg.), Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa. Frankfurt/Main 1983, S. 3 1 9 - 3 6 4 sowie ders., Radikale Aufklärung und nationale Leseorganisation. D i e Deutsche U n i o n von Karl Friedrich Bahrdt, in: O t t o D a n n (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. München 1981, S. 1 0 3 - 1 2 2 ; außerdem: Gerhard Sauder/Christoph Weiß (Hg.), Carl Friedrich Bahrdt ( 1 7 4 0 - 1 7 9 2 ) . St. Ingbert 1992.

7

Friedrich August Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge im Orient von Halle. Halle 1844, Werner Piechocki, D i e Anfänge der Freimaurerei in Halle. Studenten- und Professorenlogen, in: D o n n e r t , Europa in der frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Band 4 (wie A n m . 5), S. 4 7 9 - 4 8 6 sowie NeugebauerWölk, D e r K a m p f u m die Aufklärung (wie A n m . 3).

Hallesche Aufklärungsgesellschaften

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im vergleichenden Blick auf die Entwicklung im mitteldeutschen Raum bzw. im gesamten Reich - aufgezeigt: Wann entstanden welche Gesellschaften? Daran schließt sich die U n tersuchung der Frage, wieviele Mitgliedschaften in diesen Sozietäten während des 18. Jahrhunderts bestanden haben und wie diese sozial- und berufsstrukturell zusammengesetzt waren. Diese Resultate bilden die Grundlage für die Analyse der Binnenstruktur der halleschen Aufklärungsgesellschaften: Waren die einzelnen Sozietäten über individuelle Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften untereinander vernetzt? Die so ermittelte Verflechtungsintensität der Gesellschaftsstrukturen wird dann abschließend mit entsprechenden Ergebnissen anderer mitteldeutscher Städte verglichen. Dies dient nicht allein dem Zweck der Positionierung Halles in einer - noch zu erarbeitenden - Aufklärungstopographie des Reiches, sondern ist notwendig um prüfen zu können, ob die Gesellschaft der Aufklärer überstädtisch (d. h. landschaftlich) einen anderen Vernetzungsgrad aufwies. Die Quellenbasis für die folgenden strukturellen Untersuchungen bilden die Sozietätszahlen sowie die dazugehörigen, prosopographisch in einer Datenbank archivierten Mitgliedschaften im Rahmen einer Landschaftsstudie zu den mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert. 8 Die daraus ausgekoppelte Prosopographie des halleschen Sozietätswesens ermöglichte sowohl die Analyse aller Mitgliedschaften in den differenten Gesellschaften als auch die der daraus hervorgegangenen Doppelmitgliedschaften sowie Sozietätskarrieren - diese umfaßten jeweils mehr als zwei Mitgliedschaften. Aufgrund der notwendigen chronologischen Abgrenzung im Zuge der Datenerhebung um ein geschlossenes Aggregat zu erhalten - behandelt die vorliegende Studie zeitlich exakt das 18. Jahrhundert. 9

I. Die Sozietäten Im 18. Jahrhundert bestanden nach jetzigem Forschungsstand in Halle insgesamt 43 Aufklärungsgesellschaften sowie zwei Sozietäten, die ihren Sitz zwar in Halle hatten, jedoch ausdrücklich auch auf den Saalkreis als Wirkungsgebiet ausgerichtet waren. 1 0 Das aufgeklärte Sozietätswesen in Halle hat sich seit ca. 1730 kontinuierlich entwickelt. 1 1 Die Initialzündung zur Gründung - zunächst gelehrter - Assoziationen war offensichtlich die 1729/ 30 vom Kanzler der Universität Johann Peter von Ludewig angeregte Gesellschaft der Gelehrten in Halle.12 Auch wenn diese Sozietät ihre eigentliche Arbeit wohl nicht auf8

Holger Zaunstöck, Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert. Phil. Diss. Halle-Wittenberg 1997; zum Spektrum der Aufklärungsgesellschaften S. 43-110, zur Methode der Prosopographie sowie zur Struktur der Mitgliedschaftsdatenbank S. 26-30, zum quantitativen Umfang der Datenbank S. 171 ff.

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Zur Unterscheidung der Begriffe .Sozietätskarriere' und .Doppelmitgliedschaft' vgl. ebd., bes. S. 269 ff. sowie zur chronologischen Begrenzung S. 115-117. Vgl. die Sozietätenliste ebd., S. 330 ff. Die einzige zuvor tätige Gesellschaft war eine von 1701 bis 1703 bestehende Literarische Gesellschaft; Dülmen, Gesellschaft der Aufklärer (wie Anm. 1), S. 151. Johann Heinrich Zedier, Grosses vollstaendiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Kuenste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, [...]. Halle und Leipzig 1732 ff., Bd. 1, Sp. 243, Johann Friedrich Stiebritz, Diplomatisch-historische Beschreibung des SaalCreyses [...]. Halle 1773, 2. Teil [Dreyhaupt, Johann Christoph von, . . . diplomatisch-historische Beschreibung des Saal-Creyses und aller darin befindlichen Städte, Schlösser, Aemter, Rittergüther..., in einen Auszug gebracht, verbessert, bis auf unsere Zeiten fortgesetzt, . . . von Johann Friedrich Stiebritz, Halle 1773], S. 191 f. sowie [Uber die von Johann Peter von Ludewig in Halle geplante Gelehrte Gesellschaft], in: Johann Peter von Ludewigs [...] Gelehrte Anzeigen in allen Wissenschaften, [...], welche vormals denen

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nahm, 13 so hatte doch Ludewig augenscheinlich das Vergesellschaftungsbedürfnis der Gelehrten und einschlägig Interessierten erkannt: In den folgenden Jahren entstanden die Gesellschaft zur Beförderung der deutschen Sprache und Beredsamkeit (1733), die Societas Latina Halensis und eine Prüfende Gesellschaft (beide 1736) sowie schließlich 1738 eine sogenannte literarische Freimaurer-Gesellschaft,14 Der Impuls zur Sozietätsbildung ist also - und dies war für eine Universitätsstadt auch nicht anders zu erwarten - vom gelehrten Milieu ausgegangen. Die Arbeit in den Verbindungen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde in vielen Fällen durch die Beschäftigung mit literarischen Themen sowie der Reform und Pflege der deutschen Sprache bestimmt. Beginnend mit der Deutschen Gesellschaft in Leipzig unter Gottsched ab 1727 ist dieses Interesse im gesamten Reich institutionalisiert worden. 1 5 Insofern ist Halle ein Spiegelbild dieser Entwicklung. Auch die Lateinische Sozietät war keine singuläre Gründung; seit 1733 war in Jena die Societas Latina tätig. 16 Halle befand sich demnach im Einklang mit den Anfängen der Sozietätsbildung im Reich. Auch die sich daran anschließende prinzipielle Wandlung im Gründungsverhalten hin zu einer Dominanz an Sozietäten arkaner Provenienz, die seit 1737 durch das Ausbreiten der Freimaurerei ausgelöst wurde, ist in Halle vollzogen worden. Und nicht nur dies: Hier ist seit der Initiation der ersten Freimaurerloge 1743 {Zu den drei goldenen Schlüsseln17) diese Entwicklung besonders markant und langfristig zu Tage getreten. Während im mitteldeutschen Raum (ebenso wie reichsweit) die ab ca. 1760 verbreitet einsetzenden Gründungen von Lesegesellschaften diesen Trend zunächst flankieren und ab Ende der 1770er Jahre wandeln, entsteht in Halle überhaupt erst 1777 die erste Lesegesellschaft. Diese ist zudem eher ungewöhnlich im Vergleich zu anderen Gesellschaften mit dem Wöchentlichen Halleschen Anzeigen einverleibet worden, N u n m e h r o aber zusammen gedruckt [ . . . ] . Halle 1743 (1729/39)—1745 (1740/43), 1 7 2 9 , 6 . St., S. 4 0 - 4 2 . Zu J o h a n n Peter von Ludewig siehe R o l f Lieberwirth, D i e Gründung der Universität Halle aus dem Geist des Naturrechts: D i e Frühzeit, in: Martin-LutherUniversität. Von der Gründung bis zur Neugestaltung nach zwei Diktaturen, hg. von Gunnar Berg und H a n s - H e r m a n n Hartwich. Opladen 1994, S. 9 - 2 5 , S. 2 0 f., Albrecht T i m m , Universität Halle-Wittenberg. Herrschaft und Wissenschaft im Spiegel ihrer Geschichte. Frankfurt/Main 1960 (Mitteldeutsche H o c h schulen B d . 5), S. 46 sowie Halle, alte M u s e n s t a d t . . . (wie A n m . 3), S. 2 7 f . 13

Stiebritz, Beschreibung des Saal-Creyses (wie A n m . 12), S. 191 f.; siehe auch Wilhelm Schräder, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. 2 Teile. Berlin 1894, Teil 1, S. 161: „ D i e v o m Könige für 1730 angeregte Stiftung einer Sozietät der Wissenschaften kam nicht zustande [ . . . ] " .

14

Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie A n m . 8), S. 5 5 - 5 7 , Käthe, Geist und M a c h t (wie A n m . 5), Teil 2, S. 133 f., J o h a n n Andreas Fabricius, A b r i ß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit. J e n a 1 7 5 2 - 1 7 5 4 , 3 Bde., Bd. 1, S. 783 sowie Bd. 3, S. 780 und 783, Zedier, Universal-Lexicon (wie A n m . 12), Bd. 38, Sp. 178 sowie [ U b e r die Lateinische Sozietät Halle], in: N e u e Zeitungen von gelehrten Sachen, 1736, S. 9 1 7 - 9 1 9 sowie 1738, S. 79, D e r Prüfenden Gesellschaft zu Halle Herausgegebene Schriften. Halle 1741, Stiebritz, Beschreibung des Saal-Creyses (wie A n m . 12), S. 193 f. sowie [ U b e r die Prüfende Gesellschaft in Halle], in: N e u e Zeitungen von gelehrten Sachen, 1738, S. 8 5 2 - 8 5 4 und 1740, S. 135.

15

Siehe dazu: Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung Vaterländischer Sprache und A l terthümer in Leipzig, 6. B d . , S. 3 - 2 7 (Leipzig 1877), Ernst Krocker, Zweihundert Jahre Deutscher Gesellschaft, in: Beiträge zur deutschen Bildungsgeschichte. Festschrift zur Zweihundertjahrfeier der Deutschen Gesellschaft in Leipzig 1 7 2 7 - 1 9 2 7 . Leipzig 1927 (Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung Vaterländischer Sprache und Altertümer in Leipzig, B d . 12), S. 7 - 2 7 , Werner Rieck, J o h a n n Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes. Berlin 1972, S. 92, D ü l m e n , Gesellschaft der Aufklärer (wie A n m . 1), S. 48 sowie Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland (wie A n m . 4), S. 226.

16

Felicitas Marwinski, J o h a n n Andreas Fabricius und die Jenaer gelehrten Gesellschaften des 18. Jahrhunderts. J e n a 1989, S. 8 2 - 8 4 und Riederer, Aufgeklärte Sozietäten (wie A n m . 2), S. 158 ff.

17

Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie A n m . 7), S. 1 ff. sowie H e i n z Ischreyt, Streiflichter über die Freimaurerei in Kurland, in: Eva H . Baläzs u. a. (Hg.), Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs. Berlin 1979 (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittelund Osteuropa 5), S. 2 1 3 - 2 4 2 , S. 227 ff.

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Z w e c k gemeinsamer Lektüre, da sie sich aus einem Studentenorden ( D e f e n s i o n s o r d e n ) heraus entwickelt hat. 1 8 Das hallesche Sozietätswesen ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, daß sich die Gesellschaft der Aufklärer in den D e z e n n i e n zwischen 1740 und 1780 primär in arkanen Gesellschaftsformen manifestierte. 1 9 In diesen vierzig J a h r e n entstanden in der Saalestadt insgesamt 22 aufgeklärte Sozietäten. D a v o n entfielen allein auf den arkanen Gesellschaftsbereich sechzehn Gründungen (sieben Freimaurerlogen, vier Winkellogen, d. h. L o g e n , die nicht durch eine G r o ß l o g e anerkannt waren, sowie fünf Akademische Logen); lediglich sechs Gesellschaften waren nichtarkaner Provenienz (vier Gelehrte G e sellschaften, eine D e u t s c h e Gesellschaft und die bereits erwähnte Lesegesellschaft). 2 0 E i n e Veränderung dieses Organisationsverhaltens setzte - ebenso wie reichsweit - u m 1780 mit einer beginnenden Zunahme nichtarkaner Gesellschaftsgründungen ein. A b e r auch hier unterscheidet sich das hallesche Sozietätswesen von der mitteldeutschen und reichsweiten Bewegung. N i c h t die nun überall im R e i c h entstehenden Lesegesellschaften bewirken die Änderung, 2 1 sondern die Gelehrten Gesellschaften. N e b e n der Errichtung der Naturforschenden Gesellschaft Halle 1 7 7 9 2 2 arbeiteten in diesen J a h r e n drei weitere Sozietäten dieses Gesellschaftstyps: die 1780 gegründete Μontagsgesellschaft, ein Gelehrter Kreis sowie eine Gesellschaft, deren N a m e n nicht bekannt ist. 2 3 A u c h die folgende G r ü n dung entstammte diesem Sozietätsbereich: 1782 entstand eine Sprachgesellschaft, die den Mitgliedern Gelegenheit verschaffte, außer dem Lateinischen die „ihnen bekannten lebenden Sprachen, besonders die französische" zu üben. Das Besondere an dieser Gesellschaft ist der U m s t a n d , daß die Mitglieder,,von beiderley G e s c h l e c h t " sein k o n n t e n . 2 4 W i e überall im R e i c h , war weibliche Partizipation auch in den halleschen Aufklärungsgesellschaften die Ausnahme. D i e aufgeklärten Assoziationen des 18. Jahrhunderts waren eine D o m ä n e der Männer, die sich in der Regel gegenüber den Frauen abgrenzte, hier und da jedoch Partizipationsmöglichkeiten eröffnete. 5 In den beiden letzten D e k a d e n des Jahrhunderts dominierten dann wieder nichtarkane Gesellschaftsgründungen, wobei nun auch ab 1786 die Lesegesellschaften dazu beitrugen: In diesem J a h r entstand eine Theologische Lesegesellschaft, 1788 wurde eine SchullehrerLesegesellschaft gegründet. Beide hatten ihren Einzugsbereich auf das Halle umgebende 18

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Universitätsarchiv Halle, Rep. 5 Universitätsgericht Nr. 32, Acta die Untersuchung des Defensions-Ordens betr., 1777. Zur Genese der Sozietätsbewegung in Mitteldeutschland im Vergleich zum gesamten Reich siehe Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie Anm. 8), S. 153-170. Zu den Quellen für diese Gesellschaften - und ebenso für die im folgenden numerisch zusammengefallen Sozietäten - siehe die Sozietätenliste ebd., S. 330 ff. Zu Winkellogen siehe Eugen Lennhoff/Oskar Posner, Internationales Freimaurer-Lexikon. München 1992 [' 1932, unveränderter Nachdruck der Originalausgabe], Sp. 1712, Stichwort „Winkelmaurerei". Siehe die Liste der Lesegesellschaften im Alten Reich bei Dülmen, Gesellschaft der Aufklärer (wie Anm. 1), S. 165-171. Aulich, Die Anfänge der Naturforschenden Gesellschaft zu Halle (wie Anm. 5) sowie Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie Anm. 8), S. 52 f. Käthe, Geist und Macht (wie Anm. 5), Teil 2, S. 135 und 193 sowie Maren Ballerstedt, Die Mittwochsgesellschaft in Magdeburg. Ein Stück Magdeburger Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: Magdeburger Zeitung am Wochenende, Nr. 20, 19.5.1988, S. 10 und Nr. 21, 26.5.1988, S. 7, hier Nr. 21, S. 7. Möglicherweise bestanden die beiden zuletzt genannten Zusammenschlüsse bereits Ende der 1770er Jahre. [Über die Sprachgesellschaft Halle], in: Wöchentliche Hallesche Anzeigen, Halle 1782, Nr. VXII, 29. April 1782, Sp. 257-261, Zitate Sp. 259 f. Vgl. dazu den auf Mitteldeutschland ausgerichteten Überblick bei: Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie Anm. 8), S. 225-240. Wie auch bei Freimaurerlogen in anderen Städten des Reiches konnten in Halle Frauen an Feierlichkeiten zu Fest- oder Jubiläumstagen der Loge teilnehmen (Loge Zu den drei Degen); siehe Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie Anm. 7),S. 101,112f. und 120.

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ländliche Umfeld ausgeweitet. 26 Insgesamt wurden in diesen zwanzig Jahren lediglich fünf arkane Gesellschaften errichtet (eine Freimaurerloge, zwei Winkellogen, die Deutsche Union sowie möglicherweise ein Jakobinerklub). Parallel dazu entstanden zwölf nichtarkane Sozietäten (sieben Gelehrte Gesellschaften und fünf Lesegesellschaften). 27 Im chronologischen Uberblick ist also festzuhalten, daß die Sozietätsbewegung nach ersten Gründungen während der dreißiger Jahre des Jahrhunderts in den folgenden Dekaden bis 1780 prosperierte, hauptsächlich getragen durch arkane Gesellschaftsformen. In den verbleibenden zwanzig Jahren bis zur Jahrhundertwende entstanden dann zwar immer noch deutlich mehr Gesellschaften als in den ersten vier Jahrzehnten des Jahrhunderts, jedoch waren dies wiederum weniger als in der Zeit von 1743 bis 1780. Auch aus diesem chronologischen Durchlauf ist ein Unterschied im Vergleich zwischen den halleschen und den mitteldeutschen Sozietäten ablesbar. Während in Halle ab ca. 1780 das Interesse an Sozietätsgründungen allmählich abnimmt, prosperierte es dagegen in Mitteldeutschland bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Dies ist in der Hauptsache auf Gründungen von Lesegesellschaften zurückzuführen, die in Halle nur vergleichsweise wenig anzutreffen waren. Aber nicht nur hinsichtlich des chronologischen Ablaufs differierte die hallesche Gesellschaftsbewegung von ihrem regionalen Umfeld, sondern ebenso auch in bezug auf die Zahlen der einzelnen Sozietätstypen. Während im Reich wie in Mitteldeutschland numerisch die Freimaurerlogen und Lesegesellschaften am häufigsten anzutreffen waren, bestimmten dagegen in Halle neben den Logen der Freimaurer die Gelehrten Gesellschaften die Szenerie. Hier kommt ganz offensichtlich das universitäre Umfeld zum Tragen: In Halle (und dies ebenso wie in Leipzig; in Jena war das Verhältnis in etwa ausgeglichen) bestand ein deutlich größeres Interesse an Gelehrten Sozietäten als an Lesegesellschaften (vierzehn Gelehrte Gesellschaften; sechs Lesegesellschaften, von denen zwei zudem auf den ländlichen Saalkreis ausgerichtet waren). Aber ebenso charakteristisch für die aufgeklärte Gesellschaftsbewegung in Universitätsstädten ist offensichtlich außerdem die erhebliche Stärke arkaner Gesellschaften; neben der Freimaurerei sind hier zudem für die 1750er und 1760er Jahre die Akademischen Logen zu nennen. Dies trifft neben Halle auch auf Leipzig und Jena zu 2 8 Insgesamt betrachtet, hat es im 18. Jahrhundert in Halle annähernd eine Parität zwischen arkanen (21) und nichtarkanen (24) Gesellschaftsgründungen gegeben. In der Zusammenschau sind vier prägende Komponenten der halleschen Gesellschaftsbewegung hervorzuheben, die jeweils im Kontext der spezifischen Struktur einer Universitätsstadt zu sehen sind und die das aufgeklärte Sozietätswesen maßgeblich gefördert haben. 2 9 Die Gründungen während der Auftaktphase der Vergesellschaftung im 18. Jahr26

Holger Zaunstöck, Schullehrerlesegesellschaften im mitteldeutschen R a u m am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte, Bd. 3 (1996), S. 1 2 7 - 1 3 6 , S. 128 und 131 ff. sowie J o h a n n G e o r g Krünitz, Oekonomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der StatsStadt- Haus- und Land-Wirthschaft, und der Kunst-Geschichte in alphabetischer Ordnung. Teil 61, Berlin 1793, S. 744 und 746 f.

27

Hinsichtlich der Gelehrten Gesellschaften ist nocheinmal darauf zu verweisen, daß zwei von diesen möglicherweise bereits Ende der 70er Jahre errichtet wurden (vgl. A n m . 23).

28

Zu diesem Komplex siehe: Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie A n m . 8), bes. S. 137 ff.; einführend auch ders., Aufklärungssozietäten in Mitteldeutschland im 18. Jahrhundert. Eine Projektskizze, demnächst in: Aufklärung-Vormärz-Revolution. J a h r b u c h der internationalen Forschungsstelle „Demokratische B e w e gungen in Mitteleuropa 1 7 7 0 - 1 8 5 0 " an der Universität Innsbruck, hg. von H e l m u t Reinalter, 16 (1998), 10 S . , sowie zum Spannungsverhältnis von Freimaurerei und Universität: Neugebauer-Wölk, D e r K a m p f um die Aufklärung (wie A n m . 3), bes. S. 37 ff.

29

N e b e n den Aufklärungsgesellschaften hat es im gesamten Alten R e i c h eine Reihe weiterer Zusammenschlüsse gegeben - so auch in Halle; darunter mehr als ein Dutzend Studentenorden in den 1770er und

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h u n d e r t e n t s p r a c h e n der r e i c h s w e i t e n E n t w i c k l u n g ; d. h. es gab S o z i e t ä t e n m i t gelehrten u n d literarischen A u s r i c h t u n g e n . D i e z w e i t e G r ü n d u n g s p h a s e w a r a u c h hier e n t s c h e i d e n d d u r c h das a r k a n e Gesellschaftsmilieu b e s t i m m t . Schließlich ist n a c h 1 7 8 0 ein A b f l a u e n d e r G r ü n d u n g s t ä t i g k e i t z u registrieren, w a s auf das e i n g e s c h r ä n k t e Interesse an der O r g a n i s a t i o n s f o r m Lesegesellschaft z u r ü c k z u f ü h r e n i s t . 3 0 Prinzipiell ist festzuhalten, daß die A u f klärungsgesellschaften in der Saalestadt v o n F r e i m a u r e r l o g e n u n d G e l e h r t e n S o z i e t ä t e n dominiert wurden.

II. Die Mitgliedschaften F ü r die 4 5 halleschen A u f k l ä r u n g s g e s e l l s c h a f t e n sind i n s g e s a m t 9 7 7 M i t g l i e d s c h a f t e n namentlich

b e k a n n t ; die betreffenden P e r s o n e n lebten z u k n a p p z w e i D r i t t e l n in d e r S t a d t . 3 1

Dieses M i t g l i e d s c h a f t s a g g r e g a t soll i m folgenden u n t e r z w e i A s p e k t e n ausgeleuchtet w e r den. Z u m einen - a n k n ü p f e n d an die v o r a n g e g a n g e n e P r ä s e n t a t i o n d e r S o z i e t ä t e n - w i r d u n t e r s u c h t , in w e l c h e m S o z i e t ä t s t y p wieviele M i t g l i e d s c h a f t e n b e s t a n d e n haben: W a r e n die laut S o z i e t ä t s z a h l e n d o m i n i e r e n d e n a r k a n e n Gesellschaften u n d G e l e h r t e n S o z i e t ä t e n a u c h die a m häufigsten f r e q u e n t i e r t e n ? Z u m z w e i t e n soll die soziale u n d berufskategoriale Z u s a m m e n s e t z u n g d e r M i t g l i e d s c h a f t e n gezeigt w e r d e n , u m die S t r u k t u r der T r ä g e r s c h a f t aufgeklärter O r g a n i s a t i o n d a n n mit der e n t s p r e c h e n d e n städtischen Z u s a m m e n s e t z u n g z u vergleichen. D i e s e V e r f a h r e n s w e i s e dient z u r U b e r p r ü f u n g d e r F r a g e , o b sich das R e krutierungsfeld der aufgeklärten S o z i e t ä t e n h a u p t s ä c h l i c h - w a s die U n t e r s u c h u n g d e r 1780er Jahren, der 1783/84 errichtete Rosenorden des Franz Matthäus Grossing(er) sowie im nichtarkanen Bereich Versicherungsgesellschaften und eine Musikalische Gesellschaft (1735/1757); siehe dazu Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie Anm. 8), S. 79 ff. und 101-110 sowie die zahlreichen Akten zu den Studentenorden im Universitätsarchiv Halle, u.a.: Rep. 5 Universitätsgericht Nr.27, Acta die Untersuchung des Ordens Inviolable ingleichen des Amicitien Ordens betr., 1768, Rep. 5 Universitätsgericht Nr. 29, Acta die Untersuchung des [...] Inviolable Ordens betr., 1774, Rep. 5 Universitätsgericht Nr. 35, Acta die Untersuchung des [. ..] Confidentisten Ordens [.. .]betr., 1781 sowie Rep. 5 Universitätsgericht Nr. 38, Akte über die Untersuchung und Aufhebung des Konstantistenordens, 1783. Einen Überblick zum studentischen Organisationswesen bieten: Fritz König, Aus zwei Jahrhunderten. Geschichte der Studentenschaft und des studentischen Organisationswesens auf der Universität Halle. Halle an der Saale 1894, S. 102 ff. und Schräder, Friedrichs-Universität (wie Anm. 13), Teil 1, S. 374 und 597-599. 30

Auch über nicht fest organisierte Zusammenschlüsse zur Lektüre (Lesezirkel) bzw. kommerziell motivierte Einrichtungen zur Bücherverleihung (Leihbibliotheken) ist bisher vergleichsweise wenig bekannt. Sehr früh existierte z.B. um 1750 ein Lesezirkel zur Haltung der Wochenschrift „Der Gesellige", die in der Saalestadt von 1748 bis 1750 erschien; Wolfgang Martens, Formen bürgerlichen Lesens im Spiegel der deutschen moralischen Wochenschriften, in: Otto Dann (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. München 1981, S. 55-70, S. 67. Eine erste Einrichtung zur Bücherverleihung unterhielt 1777 der „Antiquarius" Christian Friedrich Ernst; Heinz Käthe, Die halleschen Universitätsbürger und Freimeister im 18. Jahrhundert, in: Erich Donnen (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Band 2: Frühmoderne. Weimar, Köln, Wien 1997, S. 181-189, S. 188. Käthe weist an dieser Stelle daraufhin, daß „ein Teil der hallischen Leihbibliotheken von Antiquaren betrieben" wurde. Zu den verschiedenen Formen gemeinschaftlichen Lesens siehe Marlies Stützel-Prüsener, Lesegesellschaften, in: Reinalter, Aufklärungsgesellschaften (wie Anm. 1), S. 39-59; zu Leihbibliotheken siehe Thomas Sirges, Die Bedeutung der Leihbibliothek für die Lesekultur in Hessen-Kassel 1753-1866. Tübingen 1994 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 42).

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Die verschiedenen Formen von Sozietätsmitgliedschaften, d. h. .ordentliche' und .auswärtige' Mitgliedschaften sowie ,Ehrenmitgliedschaften' werden in der folgenden Analyse als eine Kategorie betrachtet, da methodisch in der vorliegenden Untersuchung quantitativ-strukturell vorgegangen wird; dazu Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie Anm. 8), S. 173 sowie zu den Quellen für diese Mitgliedschaften das Quellen- und Literaturverzeichnis S. 361 ff. bzw. die im einzelnen angeführten Nachweise im folgenden Text.

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Sozietäten vermuten läßt - auf die Universität und ihr Umfeld erstreckte, oder aber darüber hinaus auch andere städtische Gruppen erfaßte. Beginnen wir also mit den Zahlen für die einzelnen Gesellschaftsformen. Hier ist zunächst festzuhalten, daß von 37 der 45 Aufklärungsgesellschaften Halles Mitgliedschaften ermittelbar waren, wobei allerdings diese Sozietäten nicht in gleicher Weise eingehend dokumentiert werden konnten. Einerseits sind die fünf großen Hallenser Aufklärungsgesellschaften, die Freimaurerlogen Zu den drei goldenen Schlüsseln (ab 1743; 109 Mitglieder), Philadelphia (ab 1756; 145) und Zu den drei Degen (ab 1765; 384), die Naturforschende Gesellschaft Halle (ab 1779; 179) sowie die Deutsche Union (ab 1787/88; 20 3 2 ) in ihren Mitgliedschaften für das 18. Jahrhundert sehr gut dokumentiert. Eben diese über die halleschen Stadtgrenzen hinaus bekannten Sozietäten vereinigten auch nahezu alle nicht in Halle ansässigen Sozietätsmitglieder: In den Logen Zu den drei goldenen Schlüsseln sowie Zu den drei Degen gab es knapp zwanzig, in der Loge Philadelphia sogar knapp dreißig Prozent Auswärtige. Die überlokal jedoch mit Abstand aktivste Sozietät war die hallesche Naturforschende Gesellschaft. Lediglich ca. zwanzig Prozent der Mitglieder hatten ihren Wohnsitz in Halle. Die größte Gelehrte Gesellschaft der Stadt war eine reichsweit bekannte und in ihrer Mitgliederzusammensetzung entsprechend strukturierte Assoziation - etwa 140 (bei einigen Mitgliedern ist der Wohnort nicht eindeutig) kamen aus den verschiedensten Territorien des Reiches sowie auch in einigen Fällen aus anderen europäischen Staaten; so u. a. aus Amsterdam, Berlin, Breslau, Dresden, Erlangen, Göttingen, Prag und Zürich. Die Gesellschaft ist durch ihr weitgreifendes Rekrutierungsfeld ein typisches Beispiel für den überterritorialen, übernationalen Aktionsradius der Vergesellschaftungsformen der Aufklärung. 33 Die verbleibenden Mitgliedschaften verteilten sich auf die große Zahl der kleineren Sozietäten. Deren Einzugsbereich war im Gegensatz dazu ausschließlich die Saalestadt selbst: Hier stammten ca. 94 Prozent aller Mitgliedschaften aus Halle. Diese Gesellschaften waren also offensichtlich lokal ausgerichtet. Auch für einige dieser kleineren Sozietäten sind die Mitglieder namentlich bekannt, so ζ. B. für die Lateinische Sozietät (ab 1736; 9), 32

Diese zwanzig Mitglieder der Union sind jene, die vor Ort in Halle wohnten (einer davon in unmittelbarer Nähe in Giebichenstein). Demgegenüber hatte der Bund nach Angaben von Günter Mühlpfordt insgesamt (d.h. europaweit) 650 Mitglieder; Günter Mühlpfordt, Deutsche Union, Einheit Europas, Glück der Menschheit. Ideen und Ideale des Aufklärers K. F. Bahrdt, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 40 (1992), S. 1138-1149, S. 1146. Im mitteldeutschen Raum waren davon wiederum 102 Mitglieder angesiedelt; Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie Anm. 8), S. 192. Die Vorgehensweise, nur hallesche Mitgliedschaften in die Untersuchung einzubeziehen, folgt der Überlegung, daß eine Aufnahme aller Unionsmitglieder die Ergebnisse in der hier verfolgten städtischen Analyse unzulässig und in erheblichem Maß verzerrt hätte.

33

Zu den Mitgliedschaftszahlen siehe: Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie Anm. 7), passim, [Johann Joachim Bode], Mehr Noten als Text oder die Deutsche Union der Zwey und Zwanziger eines neuen geheimen Ordens zum Besten der Menschheit. Aus einem Packet gefundener Papiere zur öffentlichen Schau gestellt durch einen ehrlichen Buchhändler. Leipzig 1789, S. 59-67, Degenhard Pott, Briefe angesehener Gelehrten, Staatsmänner, und anderer, an den berühmten Märtyrer D. Karl Friedrich Bahrdt, seit seinem Hinweggange von Leipzig 1769 bis zu seiner Gefangenschaft 1789. Leipzig 1798, 5 Bde., hier Bd. 5: Pragmatische Geschichte und endlicher Aufschluß der Deutschen Union oder der Zwey und Zwanziger, aus ihren Urkunden entwickelt, nebst dem vorzüglichsten Briefwechsel derselben. Leipzig 1798, S. 334-360 sowie Carl Christoph Schmieder, Geschichte der Entstehung und neuern Einrichtung der Naturforschenden Gesellschaft in Halle. Halle 1809 (Schriften der Naturforschenden Gesellschaft zu Halle 1,1), S. 33 ff. Zum übergreifenden Charakter der Aufklärung siehe exemplarisch: Werner Schneiders, Das Zeitalter der Aufklärung. München 1997 (Reihe C.H. Beck Wissen), Peter-Andre Alt, Aufklärung. Stuttgart und Weimar 1996 (Lehrbuch Germanistik) sowie Ulrich Im Hof, Das Europa der Aufklärung. München 1993; zur Naturforschenden Gesellschaft Halle in diesem Kontext siehe: Aulich, Die Anfänge der Naturforschenden Gesellschaft zu Halle (wie Anm. 5), S. 163 f.

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eine Akademische L o g e in der Sozietät der ewigen Freundschaft ( 1 7 5 0 / 5 1 ; 17), die Juristische Gesellschaft (ab 1797; 8 ) . 3 4 Andererseits kennen wir von 25 aufgeklärten Sozietäten nur die oder den G r ü n d e r bzw. einen sehr kleinen Mitgliederkreis. D a h e r besteht hier ein nicht zu kalkulierendes D e f i z i t , besonders hinsichtlich der nicht abschätzbaren G r ö ß e von Akademischen L o g e n und Lesegesellschaften. 3 5 D a es sich j e d o c h dabei u m je eine Gesellschaftsform aus einem der beiden großen Organisationsbereiche (arkan/nichtarkan) handelt, dürfte sich das D e f i z i t in diesem K o n t e x t neutralisieren. Dieses relativiert sich in seiner Bedeutung zudem dadurch, daß es sich bei den lediglich rudimentär erfaßten Gesellschaften vermutlich in der M e h r z a h l um Vereinigungen gehandelt hat, die insgesamt ein geringes Mitgliederaufkommen besaßen (ζ. B . vier Winkellogen). D i e folgenden Zahlen sind also prinzipiell aussagefähig. D i e mit Abstand meisten Mitgliedschaften sind für die hallesche Freimaurerei nachweisbar: I m 18. Jahrhundert waren in den Listen der L o g e n 673 Mitgliedschaften eingeschrieben. Ihnen folgten in deutlicher Distanz die Gelehrten Gesellschaften mit 222 M i t gliedschaften. Addiert man zu den maurerischen die darüber hinaus bekannten 54 Mitgliedschaften in weiteren arkanen Gesellschaften hinzu, ergibt sich eine S u m m e von 727, d. h. drei Viertel aller namentlich bekannten Mitgliedschaften entstammten dem arkanen Organisationsbereich. Dagegen bestand lediglich ein Viertel, d. h. neben den 222 in den Gelehrten Gesellschaften weitere 2 8 Mitgliedschaften, in nichtarkanen Sozietäten. Diese Mitgliedschaftszahlen bestätigen nicht nur die Ergebnisse aus der Sozietätenanalyse, sondern spezifizieren sie zudem. Es wird im Zusammenspiel beider Untersuchungen deutlich, daß die Freimaurerei auf der einen sowie die Gelehrten Gesellschaften auf der anderen Seite das Sozietätsgefüge in Halle während des 18. Jahrhunderts beherrschten. Alle anderen F o r m e n aufgeklärter Organisation (sieht man einmal von der reichs- und europaweit agierenden Deutschen Union ab) spielten in der Universitätsstadt eine untergeordnete, ergänzende Rolle. Anhand der Mitgliedschaftszahlen der einzelnen Sozietäten wird aber zugleich deutlich, daß die hinsichtlich der Gesellschaften notierte ungefähre Parität zwischen arkanen und nichtarkanen Gründungen jetzt keinesfalls mehr gegeben ist: E s ist evident, daß das bestimmende M o m e n t der halleschen Gesellschaftsbewegung die M a u r e rei war. Dieses Ergebnis wird schließlich auch durch die chronologische A b f o l g e der Entstehung der Mitgliedschaften bestätigt. 3 6 D i e hallesche Sozietätsbewegung hat während des 18.

34

Wilhelm Christian Justus Chrysander, Oratio de sortibus [Rede, gehalten in der Halleschen Lateinischen Gesellschaft anläßlich des Scheidens von Gottlob Ernst Müller aus Halle, 28. August 1740]. Halle 1740, Käthe, Geist und Macht (wie Anm. 5), Teil 2, S. 133 f., Fabricius, Gelehrsamkeit (wie Anm. 14), Bd. 3, S. 783, Zedier, Universal-Lexicon (wie Anm. 12), Bd. 38, Sp. 178, [Über die Lateinische Sozietät Halle], in: Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, 1736, S. 917-919 sowie 1738, S. 79, Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie Anm. 8), S. 92 ff. (zur Sozietät der ewigen Freundschaft), Universitätsarchiv Halle, Rep. 3, Nr. 592, Die juristische Gesellschaft zu Halle betr., 1789,1797.

35

Zur durchschnittlichen Mitgliederstärke von Lesegesellschaften im Reich siehe: Felicitas Marwinski, Lesen in Gesellschaft. Gelehrte, literarische und Lesegesellschaften in Thüringen vom Anfang des 18. Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte, 12 (1985), S. 116-140, S. 127, Marlies Priisener, Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Frankfurter Ausgabe, 28 (1972), S. 189-301, S. 212 und Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie Anm. 8), S. 185 f., bzw. zu den Akademischen Logen ebd., S. 190 f. sowie Riederer, Aufgeklärte Sozietäten (wie Anm. 2), S. 106 ff.

36

Die folgenden Zahlen sind errechnet nach den Eintrittsjahren bzw. nach der Zuordnung einer Mitgliedschaft zu einem Jahrzehnt, in dem diese zustande gekommen ist; 46 Mitgliedschaften konnten jedoch nach diesem Verfahren nicht zugeordnet werden, da die jeweiligen Angaben zu ungenau bzw. keine Datierung vorhanden war.

52

Holger Zaunstöck

Jahrhunderts drei zeitlich eingrenzbare Eintrittsschübe erlebt, die sich entsprechend in die aufgezeigte Struktur einpassen. Zum einen waren dies die Jahre von 1743 bis 1746/47, in denen der überwiegende Teil der 109 Mitgliedschaften der ersten halleschen Loge Zu den drei goldenen Schlüsseln zustande kam. Zum zweiten wurden in den zehn Jahren von 1756 bis ca. 1766 243 neue Mitgliedschaften in den Matrikeln der Sozietäten verzeichnet. Diese kamen zum Großteil in der Freimaurerloge Philadelphia (1756 bis 1764) sowie in den ersten beiden Jahren der Tätigkeit der Loge Zu den drei Degen (1765/66) zustande. Der dritte Zuwachsschub schließlich umfaßte die Jahre von 1779 bis zum Jahrhundertende, in denen die Gesellschaftsbewegung der Saalestadt beständig expandierte. 37 Getragen wurde diese Entwicklung zum einen durch die seit der Gründung 1779 bis zum Ende des Jahrhunderts entstandenen 179 Mitgliedschaften in der Naturforschenden Gesellschaft sowie durch eine erhebliche Mitgliederzunahme der Loge Zu den drei Degen-, knapp drei Viertel aller Mitgliedschaften in der Loge während des 18. Jahrhunderts kamen in diesen beiden Jahrzehnten zustande. Im Anschluß an die Präsentation der quantitativen Strukturen ist nun zu fragen, welche Gruppen aus dem sozialen Gefüge der Stadt die berufsstrukturelle Zusammensetzung der Gesellschaften bestimmten: Rekrutierten sich die Sozietätsmitglieder vornehmlich aus dem universitären bzw. gelehrten Milieu? U m dies zu beantworten, muß zunächst nach der städtischen Berufsstruktur gefragt werden, um diese dann als Vergleichsrahmen für eine entsprechende Analyse der aufgeklärten Sozietäten heranziehen zu können. In Halle lebten vor Beginn des Siebenjährigen Krieges und nach der Jahrhundertwende ca. 16 000 Menschen; 38 die Stadt war mit diesem Einwohneraufkommen eine Großstadt des 18. Jahrhunderts. 39 Ihr Stadtbild bzw. die Wirtschaftsstruktur wurden durch drei Faktoren bestimmt: Zum einen durch das Personal sowie die Studierenden an der 1694 gegründeten Friedrichs-Universität, zum zweiten durch die 1717 nach der Verlegung der Povinzialregierung von Halle nach Magdeburg (1714) erfolgte Etablierung der Garnison (bis 1806) sowie zum dritten durch die gewerbliche Produktion, die in der ersten Jahrhunderthälfte entscheidend durch das Handwerk getragen wurde und in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend durch Manufakturproduktion und Textilindustrie abgelöst wurde; in diesen Bereich ist auch der für Halle zunächst bedeutende, im Laufe des 18. Jahrhunderts jedoch stetig abnehmende (überlokale) Handel zu sehen. Prinzipiell setzte seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges ein „Sinken des ökonomischen Wirkungsgrades" ein; davon hart getroffen wurde auch das traditionell starke Salinewesen. 40 Alles in allem ist Halle im 18.

37

38

39

40

Dazu die entsprechenden Zahlen in chronologischer Abfolge von 1779 bis 1799:22/43/29/32/19/16/19/14/ 33/21/22/34/15/17/29/20/18/29/40/22/10, sowie 21 nicht exakt datierbare Mitgliedschaften; gesamt: 525. Die Zahlen beinhalten nicht die selbständigen Amtsstädte Glaucha und Neumarkt (mit ihnen waren es ca. 20000 bzw. 21 000 Personen); Ernst Heinecke, Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Halle unter brandenburg-preußischer Wirtschaftspolitik von 1680-1806. Halberstadt 1926 (Beiträge zur mitteldeutschen Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftskunde, 10), S. 100 und 171, Gustav Ferdinand Hertzberg, Geschichte der Stadt Halle an der Saale von den Anfängen bis zur Neuzeit. 3 Bde., Halle 1889-1893, Bd. 3: Halle während des 18.und 19.Jahrhunderts(1717bis 1892). Halle 1893, S. 293, Erich Neuss, Entstehungund Entwicklung der Klasse der besitzlosen Lohnarbeiter in Halle. Eine Grundlegung. Berlin 1958 (Abhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Bd. 51, Heft 1), S. 167 f. und Erich Keyser (Hg.), Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte. Band II: Mitteldeutschland. Stuttgart-Berlin 1941, S. 530. Die Einstufung nach der Kategorisierung bei: Heinz Schilling, Die Stadt in der Frühen Neuzeit. München 1993 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte Bd. 24), S. 4 und 8. Heinecke, Halle (wie Anm. 38), S. 50 ff., 97,134 ff. und 170 ff., Zitat S. 176, Siegfried Streeck, Verfassung und Verwaltung der Stadt Halle (Saale) in der Zeit von 1478-1807. Phil. Diss. Halle-Wittenberg 1953 [1954],

Hallesche Aufklärungsgesellschaften

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Jahrhundert als .Universitätsstadt' nur unvollständig charakterisiert - ebenso korrekt ist es, die Saalestadt als .Industrie- und Garnisonsstadt' zu bezeichnen. 41 Es stellt sich demnach die Frage, wie zahlenmäßig stark diese drei Großbereiche gewesen sind; welchen Anteil sie an der gesamten Bevölkerungszahl hatten? Einer solchen Uberblicksdarstellung sind naturgemäß Ungenauigkeiten inhärent, da wir uns ja mit dem 18. Jahrhundert noch weitestgehend im ,vorstatistischen' Zeitalter befinden. Es kommt an dieser Stelle auch nicht auf eine exakte Darstellung der Berufsstruktur Halles im 18. Jahrhundert an. Vielmehr genügen für die Zwecke des hier angestrebten Vergleichs die ungefähren Größenordnungen. Und diese lassen sich aus der einschlägigen (wirtschaftshistorischen) Literatur ablesen. Die folgenden Zahlen, Prozentangaben und Relationen beziehen sich immer auf die Gesamtstärke der Stadt, d. h. neben der städtischen Bevölkerung sind in die Grundgröße auch die Studenten und das Militär eingerechnet. Demnach ist anzunehmen, daß der Anteil der in Gewerbe, Manufaktur und Industrie Beschäftigten (inklusive ihrer Familien) wohl in etwa bei zwei Dritteln der Stadtbevölkerung gelegen hat. Rein quantitativ betrachtet, bestimmte also dieser Bereich das soziale Gefüge. Die nächst folgende Gruppe war das Militär. Die hallesche Garnison war in Friedenszeiten ca. 2 500 Mann stark (etatmäßige Größe: 3 452), wobei die tatsächliche Stärke wohl tendenziell eher über als unter dieser Zahl lag; ζ. B. 1748 2 604 und 1798 3 103 Militärangehörige. Berücksichtigt man hier außerdem die dazugehörigen Familien (z.B. 1738: 702 und 1748: 738 Frauen), wird man den Anteil des Militärs an der städtischen Bevölkerung auf über fünfzehn, jedoch unter zwanzig Prozent schätzen dürfen. Die dritte Gruppe schließlich, die der Universität und ihrem Umfeld zugehörigen Personen, dürfte zusammen mit den Berufen, für die eine hohe Bildung Voraussetzung war (Arzte, Apotheker, Juristen, Prediger etc.) sowie den städtischen und landesherrlichen Amtsträgern unter zehn Prozent der halleschen Einwohner betragen haben. Innerhalb dieser Gruppe bildeten die Studenten das mit Abstand größte Segment. Die durchschnittliche jährliche Studentenzahl der Friedrichs-Universität lag bis ca. 1790 - mit Ausnahme der Zeit des Siebenjährigen Krieges - bei knapp über 1 000 Studierenden, oft auch deutlich darüber. Erst in der letzten Dekade des Jahrhunderts setzte ein spürbares Absinken ein. Neben den Studenten finden sich in dieser Gruppe auch die Universitätsbürger und Freimeister der Universität (von 1732 bis 1808 sind 1136 immatrikulierte Universitätsbürger verzeichnet) und natürlich die Dozenten und Professoren. So lehrten ζ. B. 1796 25 und 1803 24 ordentliche Professoren (die .außerordentlichen' bzw. Sprachlehrer und Exerzitienmeister hinzugerechnet, waren es 1800 45 und 1803 40). 42

41

42

S.48-59, Halle, alte Musenstadt . . . (wie Anm.3), S. 10f. sowie auch Käthe, Universitätsbürger (wie Anm. 30), S. 181. Vgl. Streeck, Verfassung und Verwaltung (wie Anm. 40), S. 53; dazu auch Neuss, Lohnarbeiter in Halle (wie Anm. 38), S. 166 und Käthe, Universitätsbürger (wie Anm. 30), S. 183 und 185. Komplettiert wird diese Strukturübersicht durch die Gruppe der städtischen Armen, die in etwa zehn Prozent betragen haben dürfte. Vgl. zu den vorangegangenen Ausführungen: Streeck, Verfassung und Verwaltung (wie Anm. 40), S. 21 ff. und 48 ff., Neuss, Lohnarbeiter in Halle (wie Anm. 38), S. 156 ff., Halle, alte Musenstadt... (wie Anm. 3), S. 10,44-46 und 182, Käthe, Universitätsbürger (wie Anm. 30), ders., Halle - Eine mittlere Universität der Provinz? Das 19. Jahrhundert, in: Martin-Luther-Universität. Von der Gründung bis zur Neugestaltung nach zwei Diktaturen, hg. von Gunnar Berg und Hans-Hermann Hartwich. Opladen 1994, S.57-79, S.59, Hertzberg, Halle (wie Anm.38), u.a. S.242 und 283ff., Schräder, Friedrichs-Universität (wie Anm. 13), Teil 1, S. 635 f. (hier Anm. 4) und Franz Zimmermann, Materialien zur Herkunft der Studenten der Universität Halle in der Zeit von 1696-1730, in: 450 Jahre Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, hg. von Leo Stern. 3 Bde., Bd. 2: Halle 1694-1817. Halle-Wittenberg 18171945. Halle 1952, S. 95-100.

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Holger Zaunstöck

Anschließend ist nun entsprechend nach der Berufsstruktur der Gesellschaften zu fragen, wobei ebenso der Adelsanteil der Mitgliedschaften - die soziale Grundkategorie in der Sozietätsforschung - ermittelt wird. Die im folgenden gewählte Kategorisierung bezieht sich im wesentlichen auf die in der Sozietätsliteratur gängige Berufsgliederung. 43 Bei der Datenaufnahme galt (soweit dies in den Quellen angegeben bzw. ermittelbar war) die entsprechende Angabe bei Eintritt in die jeweilige Gesellschaft als Maßstab dafür, daß die soziale Position des Einzelnen aus der Sicht der Sozietät für eine Mitgliedschaft als ausreichend akzeptiert wurde. Eine Person konnte auf diese Weise in unterschiedlichen Berufskategorien erfaßt werden, wenn sie denn zu unterschiedlichen Lebenszeiten mit differenten Professionen in Sozietäten eingetreten ist. Um den angestrebten Vergleich durchführen zu können, ist zunächst allerdings ein Zwischenschritt nötig. Für die folgende Berufsstrukturanalyse wird das Datenaggregat aller Mitgliedschaften in zwei Segmente unterteilt: in auswärtig Wohnende sowie in hallesche Gesellschaftsmitglieder. Unter den 339 Mitgliedschaften, bei denen der Wohn- nicht mit dem Sozietätsort identisch war, befanden sich knapp 24 Prozent Adelige. Dies entspricht nahezu exakt dem Adelsanteil an der Gesellschaft der Aufklärer, der für überlokale Strukturen ermittelt worden ist. 44 Die beiden größten Gruppen im Segment der Auswärtigen' waren zum einen die Bildungsberufe, d. h. diejenigen die entweder an Universitäten, Gymnasien oder Schulen arbeiteten, bzw. Berufe ausübten, für die eine hohe Bildung notwendig war (118 Mitgliedschaften), und zum anderen die städtischen und landesherrlichen Beamten verschiedener Ebenen (hohe, mittlere, niedere Verwaltung; d. h. vom Hofrat und Amtmann bis zum Stadt- und Kabinettssekretär; 67) - beide Gruppen zusammen umfaßten ca. 55 Prozent (für etwa 25 Prozent war keine Berufsangabe zu ermitteln). Daneben sind außerdem die etwa gleichstarken militärischen und geistlichen Berufe zu nennen, die zusammen gut dreizehn Prozent ausmachten. Die wenigen verbleibenden Mitgliedschaften entstammten aus verschiedenen Berufsgruppen, u. a. dem Gewerbe und der Land - und Forstwirtschaft, so etwa der Nordhäuser Bürger und Bäckermeister Gottfried Erich Rosenthal oder der Züricher Buchhändler Johann Caspar Fueßly (seit 1781 bzw. 1785 Mitglieder der Natur for sehenden Gesellschaft).45 Die genuin halleschen Mitgliedschaften (insgesamt 638, davon 78 ohne Berufsangabe; d. h. ca. 12 Prozent) waren ebenso zu ca. drei Vierteln bürgerlich. Etwas über 25 Prozent der Aufklärer Halles kamen aus dem Adel - dies war also identisch mit den, Auswärtigen' sowie auch mit der überlokalen Gesellschaft der Aufklärer insgesamt. Die berufliche Zusammensetzung allerdings weist eine erheblich differente Struktur auf. Die ,Gebildeten' (99 Mitgliedschaften; über 15 Prozent) und das Militär (35; 5,5 Prozent) waren hier das zweitbzw. drittgrößte Segment. Ihnen folgten an der vierten Position die in Regierung und Verwaltung tätigen Personen (26; vier Prozent). Die am Schluß der Skala befindlichen Gruppen waren nur marginal vertreten, so ζ. B. die Bedienten, die zumeist in Verbindung mit ihren Dienstherren als dienende Brüder Mitglied einer Loge wurden. Dazu zählen ζ. B. Johann Christian Morhardt, Diener des Leutnants August Wilhelm von Viettinghoff, der seit 1760 dienender Bruder der Loge Philadelphia war oder Johann Andreas Fese, Gärtner

43

Vgl. u. a. I m H o f , Das gesellige Jahrhundert (wie A n m . 1), S. 1 7 - 6 8 , D ü l m e n , Gesellschaft der Aufklärer (wie A n m . 1), passim,

Riederer,

Aufgeklärte

Sozietäten

(wie

A n m . 2), passim

sowie Zaunstöck,

Mit-

gliederstrukturen (wie A n m . 8), S. 205 f. 44

Vgl. Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie A n m . 8), S. 198. D e r Adelsanteil schwankte jedoch zwischen den unterschiedlichen Sozietätstypen; siehe dazu ebd., S. 198 ff. und Dülmen, Gesellschaft der Aufklärer (wie A n m . 1), S. 125 f. sowie passim.

45

Schmieder, Geschichte (wie A n m . 33), S. 36 und 39.

Hallesche Aufklärungsgesellschaften

55

und Bedienter des halleschen Kriegsrats und Postmeisters Matthäus Wilhelm von Madeweis, seit 1793 dienender Bruder der Loge Zu den drei Degen.46 Außerdem stehen am unteren Ende der Berufsgliederung die Geistlichen, die Künstler und die gewerblich Tätigen. In dieser Gruppe finden wir ζ. B. den halleschen Maler und Wirt der „Ressource" Johann Christoph Fehr, seit 1785 dienender Bruder der Loge Zu den drei Degen, die Buchhändler Carl Christian August Kümmel und Jacob Heinrich Schiff (beide seit 1797 Mitglied der Loge Zu den drei Degen) oder Philipp Sebastian Ludwig Keferstein, Papierhändler und Pächter der Cröllwitzer Papiermühle, ebenfalls (seit 1786) Maurer in der Loge Zu den drei Degen.*7 Insgesamt können vierzehn Mitgliedschaften dem halleschen Gewerbe zugerechnet werden; zumeist Buchhändler, Kaufmänner und Fabrikanten, aber auch je ein Perückenmacher und Glaser. Alles in allem aber steht dieses geringe Mitgliedschaftsaufkommen gewerblicher Berufe in keinem Vergleich zum entsprechenden städtischen Anteil. Das größte Bevölkerungssegment spielte in der halleschen Sozietätsbewegung quantitativ keine nennenswerte Rolle. Wer also war der Hauptträger der Vergesellschaftung in der Saalestadt? Alle aufgezählten Berufsgruppen zusammen (inklusive des unbekannten Anteils) umfaßten knapp 41 Prozent. Die überwiegende Mehrheit - fast sechzig Prozent - wurde demgegenüber durch die Studentenschaft der halleschen Friedrichs-Universität getragen, d. h. deutlich mehr als die Hälfte (378) aller Mitgliedschaften waren studentischer Herkunft! Es wäre demnach unzulässig verkürzt, die hallesche Gesellschaftsbewegung im 18. Jahrhundert in der Hauptsache als prinzipiell,akademisch' und .gebildet' zu bezeichnen. Vielmehr waren die Studenten das bestimmende Segment - die hallesche Sozietätsbewegung war also in erheblichem Maß eine studentische Organisationsbewegung. Unter den Studenten war das Verhältnis zwischen adeliger und bürgerlicher Herkunft in ähnlicher Weise verteilt, wie es aus den vorangegangenen Untersuchungen bekannt ist: Gut ein Viertel der studentischen Mitgliedschaften (28,6 Prozent) war adelig. Dies steht auffallend der sozialen Grundstruktur in der Studentenschaft der Friedrichs-Universität im 18. Jahrhundert entgegen, wonach die adeligen Studenten unterrepräsentiert waren. 48 Allerdings ist das prozentual deutlich höhere Aufkommen von Adeligen unter den Gesellschaftsmitgliedschaften die konsequente Fortführung sozietätsspezifischen Verhaltens. Wie generell in den Aufklärungsgesellschaften des 18. Jahrhunderts - und dies ist eine grundlegende Erkenntnis der Forschung, die sich auf alle Gesellschaftsformen bezieht war eben auch unter den Studenten der Adelsanteil erheblich höher als im gesamtgesellschaftlichen Gefüge. Blickt man auf die einschlägige Literatur, so bleibt festzuhalten, daß das Phänomen einer solchen Verdichtung studentischen Engagements in aufgeklärten Sozietäten bislang kaum reflektiert worden ist. Versuchen wir daher im folgenden in dieser Perspektive ansatzweise über die halleschen Stadtgrenzen hinauszublicken. In Halle selbst waren es die Logen der Freimaurer, die das Interesse der Studenten weckten. In den drei großen Logen der Stadt bestanden im 18. Jahrhundert insgesamt 287

46

Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie A n m . 7), S. 64 und 249 sowie Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, 5 . 2 . Η 18 Nr. 29, Verzeichnis aller Mitglieder der Loge zu den drey Degen in Halle. 1 7 9 1 , 1 7 9 3 und 1794, Bl. 8' und 12'.

47

Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie A n m . 7), S. 101, 237 und 261 sowie Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, 5 . 2 . Η 18 Nr. 29, Verzeichnis (wie A n m . 46), Bl. 1', 5' und 9'; zu Keferstein siehe auch Heinecke, Halle (wie A n m . 38), S. 162 f.

48

Neugebauer-Wölk, D e r K a m p f um die Aufklärung (wie A n m . 3), S. 28. Siehe auch: Halle, alte M u s e n s t a d t . . . (wie A n m . 3), S. 10 und 44—46, der studentische Anteil lag demzufolge in der ersten Jahrhunderthälfte zwischen ca. fünf und unter zehn Prozent.

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Holger Zaunstöck

studentische Mitgliedschaften. 4 9 Die verbleibenden Mitgliedschaften dieser Provenienz verteilten sich auf weitere sechzehn Sozietäten; die Gelehrten Gesellschaften sowie die Akademischen L o g e n waren unter diesen aus typologischer Sicht die am häufigsten frequentierten (jeweils 28; wobei hinsichtlich der Akademischen Logen ein erhebliches Defizit an nicht bekannten Mitgliedschaften bestehen dürfte). Auf das starke maurerische Engagement der Studenten war Jens Riederer bereits bei der Analyse der Jenaer Freimaurerloge 7.u den drei Rosen gestoßen. Dies hatte ihn zu der Feststellung geführt, daß eine Untersuchung des studentischen Beitrags zur Maurerei des 18. Jahrhunderts fehlt; besonders in der Ausbreitungsphase der Logen um die Mitte des Jahrhunderts kam den Studenten in den Universitätsstädten eine herausragende Rolle z u . 5 0 Aufgrund dieser Ergebnisse ist es an der Zeit, Aussagen zu revidieren, die diesen Umstand negieren. So hatte beispielsweise H e l m u t Asmus noch 1995 formuliert: „Studenten traten in den Universitätsorten selten den (allgemeinen) Freimaurerlogen bei, bildeten dagegen mit Professoren besondere A k a d e mische L o g e n ' . " 5 1 Es ist zwar begrüßenswert, daß die Forschung zu registrieren beginnt, daß es um die Jahrhundertmitte neben der Freimaurerei auch die alternative Organisationsform Akademische L o g e gegeben hat. 5 2 Grundsätzlich falsch allerdings ist die Behauptung, daß die Studenten „selten" Mitglied der Freimaurerlogen in Universitätsstädten geworden sind. Das Gegenteil ist richtig: Sie waren hier, und möglicherweise auch im gesamten Reich, entscheidend an der Genese der Freimaurerei beteiligt. Was hinsichtlich der Maurerei evident ist, muß mit der gleichen Intensität für die aufgeklärte Sozietätsbewegung des 18. Jahrhunderts im Alten Reich insgesamt betont werden. Wenn auch die Logen der Maurer ein erhebliches Betätigungsfeld der Studenten innerhalb der Gesellschaft der Aufklärer darstellten, fanden doch ebenso andere Sozietätsformen in einem M a ß ihr Interesse, daß es für die Vergesellschaftung der Aufklärung von eminenter

49

Vgl. dazu auch Neugebauer-Wölk, Der Kampf um die Aufklärung (wie Anm. 3), S. 38 ff. Ein hoher studentischer Mitgliederanteil ist ebenfalls für die Bahrdtsche Winkelloge 1786/S7 (die Keimzelle der Deutschen Union) bekannt: Von den 22 Beteiligten waren wohl sechzehn studentischer Herkunft: siehe u. a. Günter Mühlpfordt, August Gottlob Weber, Professor der Universität Rostock: Das zweite Haupt des demokratischen Aufklärerbundes Deutsche Union 1786-1789, in: Modernisierung und Freiheit. Beiträge zur Demokratiegeschichte in Mecklenburg-Vorpommern, Red. Michael Heinrichs/Klaus Lüders. Schwerin 1995, S. 85-124, S. 99 f. sowie ders., Duodezformat (wie Anm. 6), S. 326; zur Deutschen Union in diesem Kontext siehe ebd., S. 349.

50

Vgl. zu Halle und Jena: Riederer, Aufgeklärte Sozietäten (wie Anm. 2), S. 80-94, Joachim Bauer, Freimaurerei, Geheimgesellschaften und Studenten in Jena zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: ders./Jens Riederer, Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit. Jenaer Freimaurerei und studentische Geheimgesellschaften. Erlangen und Jena 1991 (Schriften zur Stadt-, Universitäts- und Studentengeschichte Jenas; 1), S. 10—41, S. 18-21, Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie Anm. 7), bes. S. 1-31 sowie Emst Friedrich Germar, Geschichte der Loge zu den drei Degen, in: Maurerhalle 3 (1844), S. 197-219, S. 198-210. Auch für die Loge Zum aufrichtigen Herzen in Frankfurt/Oder (ab 1776) ist ein beherrschender studentischer Mitgliederanteil ermittelt worden; Karlheinz Gerlach, Freimaurer und Rosenkreuzer in Frankfurt an der Oder (1776-1806), in: Donnert, Europa in der frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Band 4 (wie Anm. 5), S. 455—477, S. 467, 473 und 476. In den Überblicksdarstellungen zur Sozialstruktur der Freimaurerei spielen die Studenten dagegen keine oder lediglich eine marginale Rolle; so etwa bei: Dülmen, Gesellschaft der Aufklärer (wie Anm. 1), S. 58 f., Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland (wie Anm. 4), S. 306 f., Möller, Vernunft und Kritik (wie Anm. 1), S. 224-226 sowie Winfried Dotzauer, Zur Sozialstruktur der Freimaurerei in Deutschland, in: Helmut Reinalter (Hg.), Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion und Sozialstruktur der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert. München 1989 (Ancien Rέgime, Aufklärung, Revolution, Bd. 16), S. 109-149, bes. S. 129-134 und 141.

51

Helmut Asmus, Das Wartburgfest. Studentische Reformbewegungen 1770-1819. Magdeburg 1995, S. 47 f.; Hervorhebung H.Z. Zu den Akademischen Logen siehe: Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie Anm. 8), S. 79 ff.

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Hallesche Aufklärungsgesellschaften

57

Bedeutung war. I m mitteldeutschen K o n t e x t läßt sich beispielsweise ein starkes Engagement von Studenten in Deutschen und Literarischen Gesellschaften sowie in A k a d e m i schen L o g e n , besonders aber in Gelehrten Sozietäten nachweisen: In den Listen dieser Sozietätsform waren im 18. Jahrhundert im geographischen R a u m zwischen Thüringer Wald und Magdeburger B ö r d e 6 6 9 Studenten eingeschrieben. U n d auch aus städtischer, sozietätstypologisch umfassender Sicht läßt sich dieses Resultat unterstreichen: In den Aufklärungsgesellschaften Halles bestanden über 350 studentische Mitgliedschaften - in Leipzig waren es über 5 0 0 und in J e n a über 8 0 0 . 5 3 Insgesamt bleibt festzuhalten, daß der spezifisch studentische Beitrag zur Organisation der Aufklärung im Ancien Regime für alle Sozietätsformen und in reichsweiter Ausrichtung ein Forschungsdefizit darstellt.

III. Die Verflechtungen D i e einzelnen Aufklärungsgesellschaften des 18. Jahrhunderts waren in unterschiedlicher Intensität auf individueller E b e n e über doppelte und mehrfache Mitgliedschaften miteinander verknüpft. F ü r die folgende Analyse dieser Vernetzungen zwischen den halleschen Sozietäten, wird nun wieder auf alle 9 7 7 Mitgliedschaften zurückgegriffen, da es auch für eine außerhalb Halles wohnende Person durchaus möglich war, sich am Gesellschaftsleben zweier oder auch mehrerer Assoziationen zu beteiligen. D e m n a c h waren innerhalb der Sozietätswelt Halles 122 der 9 7 7 Mitgliedschaften in Doppelmitgliedschaften und Sozietätskarrieren eingebunden, d. h. 12,5 Prozent. Getragen wurden diese Verflechtungen von 55 Aufklärern, die zumeist vor O r t lebten: 105 M i t gliedschaften stammten aus der Saalestadt, 17 von außerhalb. Wie nicht anders zu erwarten, finden wir zunächst auch hier unter den am intensivsten beteiligten Gesellschaften die mitgliederstärksten Sozietäten: D i e L o g e n Philadelphia und Zu den drei Degen, die mit 2 8 bzw. 3 0 Mitgliedschaften am Beziehungsgeflecht beteiligt waren, sowie die Naturforschende Gesellschaft (14). Ergänzend k o m m e n jetzt allerdings die Deutsche Union (7) sowie das 1759 unter der Ägide von Philipp Samuel R o s a errichtete maurerische Capitel von Jerusalem hinzu (für 17 von 18 Maurern des Kapitels sind weitere Mitgliedschaften bekannt). 5 4 Eine weitere Variation stellt innerstädtisch die erste L o g e Zu den drei goldenen Schlüsseln (1743) dar. Z u den während der vierziger J a h r e arbeitenden Gesellschaften, die im J a h r z e h n t zuvor errichtet worden waren, bestanden offensichtlich keine persönlichen Beziehungen: Weder zur Prüfenden Gesellschaft, die w o h l 1748 ihre Aktivitäten eingestellt

hat, noch zur Gesellschaft zur Beförderung der deutschen Sprache, Poesie und

Beredsam-

keit, die ein J a h r zuvor aufgelöst worden war, 5 5 hatte die L o g e direkte Verbindungen durch Doppelmitgliedschaften. 5 6 Lediglich drei Freimaurer (von insgesamt 109) waren auch in 53 54

55

56

Vgl. hierzu ebd., S. 221-225. Zum Capitel von Jerusalem siehe: Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie Anm. 7), S. 52-56 und Germar, Geschichte der Loge (wie Anm. 30), S. 203. Zu Philipp Samuel Rosa siehe: Riederer, Aufgeklärte Sozietäten (wie Anm. 2), S. 95 mit weiterführenden Literaturhinweisen und Lennhoff/Posner, Internationales Freimaurer-Lexikon (wie Anm. 20), Sp. 1328 f. Gustav Waniek, Gottsched und die deutsche Literatur seiner Zeit. Leipzig 1897, S. 586 sowie Stiebritz, Beschreibung des Saal-Creyses (wie Anm. 12), S. 193 f. Allerdings ist hier einschränkend hinzuzufügen, daß die Mitglieder dieser beiden Gesellschaften nicht vollständig überliefert sind. Hier ist zu berücksichtigen, daß für die beiden neben der Loge in dieser Zeit errichteten Sozietäten keine Mitgliederlisten vorliegen: 1743 wurde eine Gelehrte Gesellschaft, 1746 die Schottenloge De la Concorde/ Eintracht gegründet; siehe Fabricius, Gelehrsamkeit (wie Anm. 14), Bd. 3, S. 780 sowie Rudolf Maennel, Ein Gedenktag aus der Hallischen Logengeschichte, in: Bundesblatt, 1 (1887), Heft 11, S. 258-263, S.258 bzw. auch Dülmen, Gesellschaft der Aufklärer (wie Anm. 1), S. 155 (gibt 1745 als Gründungsjahr an).

58

H o l g e r Zaunstöck

anderen Sozietäten aktiv. Bezeichnend ist, daß diese drei Männer erst in weiteren Gesellschaften aktiv wurden, als die Loge Zu den drei goldenen Schlüsseln bereits ihre Arbeit eingestellt hatte: Es waren Philipp Samuel Rosa (dazu unten im Text), der Jurist und 1746 zum ordentlichen Professor ernannte Daniel Nettelblatt, der - nachdem er 1744 Mitglied der Loge geworden war - sich erst 1781 wieder der Loge Zu den drei Degen anschloß, 5 7 sowie schließlich der Magister Gottlob Samuel Nicolai, der nach seinen maurerischen

Aktivitäten (ab 1744) um 1750 die Gesellschaft

der Freunde der schönen

Wissenschaften

gegründet hatte. 5 8 Die Auflistung der Sozietäten mit der intensivsten Teilnahme am halleschen Mitgliedschaftsnetz zeigt, 5 9 daß sich dieses erst in der zweiten Jahrhunderthälfte entwickelte, und zwar nennenswert ab 1759. In diesem Jahr kam das bereits erwähnte Capitel von Jerusalem zustande. Dieser maurerische Zusammenschluß war die Keimzelle übersozietärer Verflechtungen in Halle. Die Verknüpfungen - bis 1765 dehnte sich das Netz aus - verliefen fast ausschließlich im maurerischen Bereich. In dieser ersten Verflechtungsperiode war die gegenseitige Kontaktaufnahme also im wesentlichen auf den arkanen Gesellschaftsbereich beschränkt. Von den insgesamt 122 Mitgliedschaften entstanden in diesen Jahren siebzig: Lediglich drei davon entfielen auf nichtarkane Sozietäten. Nach 1765 ist dann ein Bruch in dieser Entwicklung zu verzeichnen. Bis zum Ende der 1770er Jahre kam nun keine einzige Mitgliedschaft mehr zustande, die im Kontext bereits bestehender Gesellschaftsaktivitäten aufgenommen wurde. Dies ist vermutlich damit zu erklären, daß sich das arkane Gesellschaftsleben in Halle während dieser Jahre wohl hauptsächlich auf die Loge Zu den drei Degen beschränkte. Zwar entstanden in dieser Zeit weitere arkane Sozietäten, vier (Winkel)Logen und eine Akademische Loge, aber zwischen ihnen und der,regulären' halleschen Maurerei in den Drei Degen bestand augenscheinlich kein Kontaktinteresse. Eine von zwei chronologisch späten Ausnahmen, die bereits am Beginn einer neuen Verflechtungsperiode standen, war Johann Christian Bathe. Als Kandidat der Rechte war er zunächst (vor) 1778 in einer der halleschen Winkellogen Mitglied geworden, bevor er im gleichen Jahr zur Degen-Loge stieß, in der er dann bis über die Jahrhundertwende hinaus ζ. T. als Logenbibliothekar aktiv blieb; 6 0 Bathe war also von einer konkurrierenden arkanen Gesellschaft zur maurerisch anerkannten halleschen Loge gewechselt. 6 1 Aber auch die ebenfalls gegründeten zwei Gelehrten Gesellschaften (und die Lesegesellschaft Defensionsorden) schafften es nach 1765 nicht, das Mitgliedschaftsnetz auf nichtarkane Bereiche auszudehnen. 62 Erst ab Ende der 1770er Jahre begann in der halleschen Sozietätswelt (wie bereits angedeutet) eine zweite Verflechtungsphase, die dann kontinuierlich bis zum Jahrhundertende fortdauerte. Deren Beginn ist identisch mit einem Einschnitt im halleschen Sozietätswesen 57

Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie A n m . 7), S. 29 und 2 3 6 sowie Neugebauer-Wölk, D e r K a m p f um die Aufklärung (wie A n m . 3), S. 43; jeweils auch mit biographischen Angaben.

58

Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie A n m . 8), S. 56 f. sowie auch Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge

59

Insgesamt waren 21 Aufklärungsgesellschaften an diesem N e t z beteiligt, die meisten von ihnen (15) mit 1 bis

(wie A n m . 7), S. 29; hier jeweils auch biographische Angaben. 3 Mitgliedschaften, wobei ausdrücklich darauf hinzuweisen ist, daß von einigen dieser Sozietäten nur rudimentär Mitglieder überliefert sind. 60

Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie A n m . 7), S. 2 2 7 und Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, 5 . 2 . Η 18 N r . 2 9 , Verzeichnis (wie A n m . 4 6 ) , Bl. 1, 5 und 9. Bathe wurde später Privatdozent und ordentlicher Professor der Rechte.

61

Dasselbe Verhaltensmuster ist auch bei dem Postsekretär Heinrich Gottlieb Friedrich Bertram zu beob-

62

Zu den einzelnen Sozietäten vgl. oben im Text bzw. ebd., S. 342 ff. Zu beachten ist auch hier, daß die

achten; vgl. Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie A n m . 8), S. 278. Mitglieder der beiden Gelehrten Sozietäten nur unvollständig bekannt sind.

Hallesche Aufklärungsgesellschaften

59

insgesamt: Um 1780 entstanden mehrere Gelehrte Gesellschaften in der Saalestadt, die eben auch das Zustandekommen einer zweiten Periode von Vernetzungen ermöglichten. Besondere Bedeutung kam dabei der Gründung der Naturforschenden Gesellschaft zu; aber auch die Montagsgesellschaft ist in diesem Kontext zu nennen. Der Advokat, Stadtsyndikus und Justizkommissar Gabriel Wilhelm Keferstein wurde beispielsweise 1781 Mitglied der Loge Zu den drei Degen. Parallel dazu engagierte er sich in der Montagsgesellschaft.bi Ebenfalls Mitglied der Montagsgesellschaft war der Privatgelehrte und Schriftsteller Karl Spazier. Spazier betätigte sich zudem in der Deutschen Union - er war einer der Werber des Geheimbundes.64 Ein weiteres Beispiel ist der Solgas-Fabrikant Matthäus Wucherer. 1780 trat er der Naturforschenden Gesellschaft bei; einige Jahre später wurde er dann auch Mitglied der Deutschen Union.65 Jetzt war also die Vernetzung nicht mehr auf den arkanen Gesellschaftssektor beschränkt: Nun erfaßte sie beide Bereiche aufgeklärter Vergesellschaftung. In der zweiten Verflechtungsphase waren 52 Mitgliedschaften zustande gekommen, die in das Mitgliedschaftsnetz eingebunden waren; 21 davon entfielen auf nichtarkane Sozietäten. Diese Überschneidung der beiden grundlegenden Organisationsvarianten führt zu der Frage, welche Formen von Doppelmitgliedschaften und Sozietätskarrieren es in welcher Anzahl gegeben hat. Prinzipiell ist hier festzuhalten, daß die Doppelmitgliedschaften dominierten: 44 von 55 Aufklärern, die in mehr als einer Sozietät eingeschrieben waren, wählten diese Form übersozietärer Betätigung. Insgesamt bestanden neunzehn sozietätstypologisch unterschiedlich zusammengesetzte Doppelmitgliedschaftsvarianten. Am häufigsten frequentiert wurden dabei die Kombinationen zwischen der Loge Philadelphia und dem maurerischen Capitel von Jerusalem bzw. zwischen der Loge Zu den drei Degen und der Naturforschenden Gesellschaft-, jeweils bei neun Personen. Relativ oft gab es auch eine Verbindung aus Mitgliedschaften der Logen Philadelphia und Zu den drei Degen (fünfmal). Die verbleibenden Varianten von Doppelmitgliedschaften traten demgegenüber zumeist nur einmal auf. Eine singulare Doppelmitgliedschaftskombination unterhielt beispielsweise der Student der Jurisprudenz Johann Karl Költsch: 1789 war er Mitglied der gelehrten Juristischen Gesellschaft geworden. Ein Jahr später ist er zudem als Maurer in die Loge Zu den drei Degen aufgenommen worden, die er jedoch bereits 1791 wieder verließ. 66 Ebenfalls zwei Sozietätsmitgliedschaften unterhielt der Professor der Medizin und Botanik Curt Sprengel: 1792 wurde er Mitglied der Naturforschenden Gesellschaft. Einige Jahre später errichtete er dann selber eine Gesellschaft, deren erster Direktor er wurde: die Societas Sydenhamiana (1797). 67 63

64

65

66

67

Käthe, Geist und Macht (wie Anm. 5), Teil 2, S. 135 sowie Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie Anm. 7), S. 109 und Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, 5.2. Η 18 Nr. 29, Verzeichnis (wie Anm. 46), Bl. 1' und 5. Mühlpfordt, Weber (wie Anm. 49), S. 102, Bode, Mehr Noten als Text (wie Anm. 33), S. 62, Pott, Briefe (wie Anm. 33), S. 355, Leopold Alois Hoffmann, Actenmäßige Darstellung der Deutschen Union und ihrer Verbindung mit dem Illuminaten-, Freimaurer und Rosenkreutzer-Orden. Wien 1796, S. 95 sowie Käthe, Geist und Macht (wie Anm. 5), Teil 2, S. 193. Schmieder, Geschichte (wie Anm. 33), S. 34, Bode, Mehr Noten als Text (wie Anm. 33), S. 62, Pott, Briefe (wie Anm. 33), S. 359 sowie Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie Anm. 7), S. 123. Universitätsarchiv Halle, Rep. 3, Nr. 592, Die juristische Gesellschaft (wie Anm. 34), Bl. 29, Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie Anm. 7), S. 245 und Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, 5.2. Η 18 Nr. 29, Verzeichnis (wie Anm. 46), Bl. 4'. Schmieder, Geschichte (wie Anm. 33), S. 42 sowie Universitätsarchiv Halle, Rep. 3 Nr. 193, Anzeige des Prof. Curt Sprengel über die Errichtung einer privaten medizinischen Gesellschaft, 1797; zur Societas Sydenhamiana siehe auch Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie Anm. 8), S. 54. Zu Sprengel siehe außerdem Johann Christoph Hoffbauer, Geschichte der Universität Halle bis zum Jahre 1805. Halle 1805, S.444f.,

60

Holger Zaunstöck

Im Vergleich zu den Doppelmitgliedschaften gab es deutlich weniger Sozietätskarrieren. Zehn Aufklärer waren in drei Sozietäten, einer in vier Gesellschaften Mitglied. Die mit Abstand häufigste Zusammensetzung war eine dreifache Karriere (sie ist für sechs Aufklärer bekannt), die aus Mitgliedschaften in den Logen Philadelphia und Zu den drei Degen sowie dem Capitel von Jerusalem aufgebaut war. Einer dieser sechs war Johann Christoph Rühlmann. Als Student der Jurisprudenz war er 1756 der Loge Philadelphia beigetreten. Wenige Jahre später fungierte er dann als Subprior des Capitels von Jerusalem unter Philipp Samuel Rosa. Schließlich wurde Rühlmann außerdem 1765, jetzt in der Position eines Musikdirektors, Maurer in der Loge Zu den drei Degen.68 Die anderen vier Kombinationen gab es jeweils einmal. Eine dieser dreifachen Karrieren durchlief Johann Reinhold Forster, Professor für Naturgeschichte und Mineralogie. Forster war Mitglied der Loge Zu den drei Degen von ca. 1780-1792. Parallel dazu gehörte er auch der gelehrten Montagsgesellschaft sowie der Naturforschenden Gesellschaft an. 69 Die einzige vierfache Gesellschaftskarriere innerhalb Halles schließlich unterhielt der bereits genannte ehemalige Köthener Superintendent Philipp Samuel Rosa, der in den Jahren zwischen 1759 und 1763 Halle zum Sprungbrett seiner reichsweiten maurerischen Ambitionen gemacht hatte. Nachdem er bereits in den vierziger Jahren (1743-1745) der ersten halleschen Loge Zu den drei goldenen Schlüsseln angehört hatte, war Rosa wohl der die masonische Szenerie der Saalestadt beherrschende Maurer in dieser Zeit: Rosa wurde nicht nur („Zugeordneter") Meister vom Stuhl der Loge Philadelphia (1760 bis 1763), sondern zugleich Prior des Capitels von Jerusalem (wahrscheinlich ebenfalls bis 1763) und außerdem 1760 Meister vom Stuhl der Schottenloge Salem.70 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß die Verflechtung der Aufklärungsgesellschaften in Halle in zwei Phasen verlief (1759 bis ca. 1765 sowie ab Ende der siebziger Jahre bis zur Jahrhundertwende), wobei sie entscheidend vom arkanen Sozietätsbereich geprägt war - erst in der zweiten Periode spielte der nichtarkane Gesellschaftssektor eine Rolle. Dies spiegelt auch die entsprechende Zusammensetzung der Doppelmitgliedschaften und Gesellschaftskarrieren auf der personenbezogenen Ebene wider: 32 der 55 hier versammelten Aufklärer organisierten sich ausschließlich in arkanen Gesellschaften; nur 21 dagegen unterhielten arkane und nichtarkane Sozietätsmitgliedschaften und lediglich zwei Männer traten ausschließlich nichtarkanen Assoziationen bei. 71 Nach der sozietätsspezifischen, chronologischen und zuletzt individuellen Betrachtung der doppelten und mehrfachen Mitgliedschaften soll nun abschließend der Blick auf deren soziale und berufliche Zusammensetzung gerichtet werden. In einem Vergleich zur entsprechenden Struktur aller halleschen Sozietätsmitgliedschaften wird so erneut auch das Verhältnis zwischen Gesellschaftsbewegung und Stadt betrachtet. Die berufsstrukturelle

Schräder, Friedrichs-Universität (wie A n m . 13), Teil 1, S. 401 und 419 sowie Halle, alte M u s e n s t a d t . . . (wie A n m . 3), S. 76. 68

Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie Anm. 7), S. 52, 59 und 83.

69

Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie A n m . 7), S. 109 und 231, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, 5 . 2 . Η 18 Nr. 29, Verzeichnis (wie A n m . 46), Bl. 1, Neugebauer-Wölk, D e r K a m p f um die Aufklärung (wie A n m . 3), u. a. S. 44, Käthe, Geist und Macht (wie A n m . 5), Teil 2, S. 135 sowie Schmieder, Geschichte (wie A n m . 33), S. 38.

70

Eckstein, Geschichte der Freimaurerloge (wie A n m . 7), S. 21, 35, 37, 4 8 - 5 7 und 63, Riederer, Aufgeklärte Sozietäten (wie A n m . 2), S. 95, E . Harmening, A b r i ß der Geschichte der ersten zwei Logen im O r i e n t Jena, in: D i e Bauhütte, 24 (1881), Nr. 48 v o m 26. N o v e m b e r 1881 und Nr. 49 v o m 3. D e z e m b e r 1881, S. 3 7 7 - 3 7 9 bzw. S. 3 8 8 - 3 9 0 , S. 388, Piechocki, Anfänge (wie A n m . 7), S. 482 sowie Lennhoff/Posner, Internationales Freimaurer-Lexikon (wie A n m . 20), Sp. 1328.

71

Vgl. auch Zaunstöck, Aufklärungssozietäten (wie A n m . 28).

Hallesche Aufklärungsgesellschaften

61

Verteilung im Segment der Doppelmitgliedschaften und Sozietätskarrieren ist im Gegensatz zu allen Mitgliedschaften in einem, jedoch entscheidenden Punkt erheblich anders gewichtet. Prinzipiell ist zunächst auch hier festzuhalten, daß der Adelsanteil ähnlich groß wie bei den vorangegangenen Analysen war. Knapp zwanzig Prozent der Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften in Halle waren adeliger Herkunft; graduell ist hier also ein leicht rückläufiger Trend adeliger gegenüber bürgerlichen Mitgliedschaften erkennbar. Aus einer berufstypologisch, quantitativ ausgerichteten, numerisch aufsteigenden Perspektive, ist zunächst festzuhalten, daß hier keine Bedienten mehr anzutreffen sind; sie blieben demnach bei ihren Einzelmitgliedschaften, die mit dem (Logen-)Engagement ihrer Dienstherren eng verknüpft waren. Die kleinsten Gruppen waren künstlerische und geistliche (je 2) sowie gewerbliche (4) Berufe. Danach folgten die in der städtischen bzw. landesherrlichen Verwaltung und Regierung Tätigen als viertstärkstes Segment (12); an dritter Position stand das Militär (13). Die Abfolge dieser Gruppen ist also das exakte Spiegelbild aller halleschen Gesellschaftsmitgliedschaften. An der Spitze der Berufstruktur bei den mehrfachen Mitgliedschaften allerdings vollzog sich ein Wechsel. Die hinsichtlich des gesamten Sozietätswesens in Halle absolut vorherrschende Studentenschaft fällt nun in drastischer Weise auf die zweite Position zurück: Lediglich 33 von 378 studentischen Mitgliedschaften finden wir noch in der Gruppe der Doppelmitgliedschaften und Gesellschaftskarrieren. Die Studenten waren zwar prinzipiell unersetzlich für die Genese der halleschen Aufklärungsgesellschaften insgesamt. Für die Mobilität und Verflechtung zwischen den Sozietäten allerdings waren sie weit weniger bedeutend, obwohl sie auch hier noch mit 27 Prozent das zweitstärkste Segment bildeten. Diese Funktion übernahmen die ,Gebildeten' im definierten Verständnis. Im Netz der halleschen aufgeklärten Gesellschaften entfielen 40 Mitgliedschaften (d. h. jede dritte 7 2 ) auf diese Gruppe. Anders formuliert: Fast jede zweite aller .gebildeten' Mitgliedschaften (99) ist unter den Doppelmitgliedschaften und Karrieren zu finden. Trotz dieser veränderten Gewichtung ist zu konstatieren, daß sich der Charakter der gesamten Sozietätsstruktur auch aus ihren Vernetzungen ablesen läßt: D i e aufgeklärte Gesellschaftsbewegung der Saalestadt wurde durch Studenten, Universitätsangehörige und Träger .gebildeter' Berufe beherrscht.

IV. Fazit und Ausblick Die hallesche aufgeklärte Gesellschaftsbewegung war also weitestgehend eine „akademische[n] Veranstaltung", 7 3 die sich ab ca. 1730, überwiegend jedoch in der zweiten Jahrhunderthälfte entwickelt hat, und in der die Studenten der Friedrichs-Universität eine herausragende Rolle gespielt haben. O b w o h l Halle im 18. Jahrhundert neben der Charakterisierung als ,Universitätsstad' auch als ,Gewerbe- oder Industriestad' bzw. ,Garnisonsstad' treffend gekennzeichnet werden kann, ist im Kontext aufgeklärter Vergesellschaftung das universitäre Milieu das Bestimmende. Alle anderen Sozial- und Berufsgruppen der Stadt spielten lediglich eine ergänzende bzw. keine Rolle. Karlheinz Gerlach hatte in seiner Analyse der Freimaurer im mittleren Brandenburg-Preußen (wobei er auch Halle behandelte) geschrieben, daß die Logen „ein Spiegelbild der Bevölkerungs-

72

Von 96 der insgesamt 122 Mitgliedschaften war eine sicher belegte Berufsangabe zu ermitteln. Bezieht man die 40 Mitgliedschaften auf die .bekannten' 96, ist der Anteil entsprechend höher.

73

Neugebauer-Wölk, D e r K a m p f um die Aufklärung (wie A n m . 3), S. 40.

62

Holger Zaunstöck

struktur ihrer Stadt" bieten würden.74 Eben dies trifft für Halle nicht zu. Die Professoren und besonders die Studenten kamen in der Universitätsstadt nicht einfach zum sonst üblicherweise anzutreffenden Berufspektrum, bestehend aus städtischen und landesherrlichen Beamten, Geistlichen, Lehrern, Juristen und Ärzten, „hinzu". 75 Die Gewichtung war genau entgegengesetzt: In Halle waren sie das beherrschende Segment. Es scheint also, daß es im Alten Reich keineswegs ein Grundmuster der berufskategorialen Zusammensetzung aufgeklärter Assoziationen gegeben hat, das je nach Stadttyp leicht variierte bzw. ergänzt wurde. Vielmehr ist es wohl so gewesen, daß es in einzelnen Städten gravierende Abweichungen von dieser - hier am Beispiel der Freimaurerei ausgeführten - Struktur gegeben hat. Hinsichtlich der quantitativen Stärke der Aufklärungsgesellschaften wurde die Saalestadt augenscheinlich ihrer Rolle als Mitinitiatorin und später dann Trägerin der reichs- und europaweiten Aufklärungsbewegung gerecht: Nahezu eintausend Mitgliedschaften (ohne die über 600,Auswärtigen' der Deutschen Unionl) verteilten sich auf 45 Sozietäten aus dem gesamten Spektrum aufgeklärter Organisation, die nicht isoliert von einander existierten. Etwa jede achte Mitgliedschaft war in ein Beziehungsgeflecht zwischen den Gesellschaften eingebunden. Im Fazit der vorliegenden Analyse sind damit die innerstädtischen Strukturen des Sozietätswesens in Halle beschrieben - dieses erschöpft sich darin allerdings nicht. Dem überlokalen, transnationalen Charakter der Aufklärung folgend, finden sich aus der Saalestadt heraus sowie in sie hinein sozietätsspezifische Verbindungen vielfältiger Natur. Eine große Anzahl Hallenser wurde auch in Aufklärungsgesellschaften in anderen Städten und Territorien Mitglied. Umgekehrt schrieben sich ebenso zahlreich Aufklärer, die nicht in Halle ansässig waren, in die Mitgliederlisten der halleschen Sozietäten ein. Und diese Beobachtung gilt keineswegs ausschließlich für die europaweit organisierte Deutsche Union, sondern in gleicher Weise auch für die einzelnen Gesellschaften anderer Sozietätstypen, wobei hier wiederum die halleschen Freimaurerlogen sowie die Naturforschende Gesellschaft zu nennen sind. Dieses überstädtische Eingebundensein ist möglicherweise die Erklärung dafür, daß die landschaftsweite Vernetzung der Sozietäten gegenüber der innerstädtischen Verflechtung (12,5 Prozent) höher war: Im mitteldeutschen Kontext etwa war jede vierte Mitgliedschaft Teil eines überstädtischen, landschaftsweiten Netzes aufgeklärter Vergesellschaftung.76 Diese Hypothese scheint jedoch nur bedingt die Wechselwirkungen der Gesellschaft der Aufklärer zwischen der lokalen und überlokalen Ebene widerzuspiegeln. Auch für weitere Städte Mitteldeutschlands ist im Vergleich zur sie umgebenden Landschaft eine deutlich geringere - mit den halleschen Gegebenheiten vergleichbare - Vernetzung festzuhalten. So waren etwa die Sozietäten Leipzigs innerstädtisch zu 13,4 Prozent der Mitgliedschaften miteinander verflochten; in Erfurt lag die entsprechende Quote sogar nur bei 10,2 Prozent. In anderen Städten des mitteldeutschen Raumes allerdings entsprach die landschaftsweite Vernetzung den innerstädtischen Verflechtungen. Kann man den Quotienten für Magdeburg mit 18,6 Prozent noch als Ubergangsgröße einstufen, trifft diese Feststellung etwa für Jena, Gotha und Weimar in vollem Umfang zu: Deren Quoten lagen bei 21,1 und 23,6 sowie 26,6 Prozent. 77 Es ist also offensichtlich, daß es im Alten Reich zwei unterschiedliche 74

75 76

77

Karlheinz Gerlach, Die Freimaurer im mittleren Brandenburg-Preußen 1775-1806 - Geschichte und Sozialstruktur, in: Fridericianische Miniaturen, 3 (1993), hg. von Jürgen Ziechmann (Forschungen und Studien zur Fridericianischen Zeit, Bd. 4), S. 39-64, S. 59. Zitat ebd. Vgl. zur landschaftsweiten Vernetzung Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie Anm. 8), bes. S. 251 sowie die einzelnen (halleschen) Beispiele S. 275 ff.; zur Deutschen Union siehe: Mühlpfordt, Duodezformat (wie Anm. 6), S. 346-348. Die Prozentangaben beruhen auf einer entsprechenden Auswertung der bereits erwähnten Prosopographie der Aufklärungsgesellschaften Mitteldeutschlands (siehe Anm. 8). Die hier einzig heranzuziehende Studie

Hallesche Aufklärungsgesellschaften

63

Stadttypen gegeben hat, die sich nach dem Rekrutierungsraum ihrer Mitgliedschaften definierten. Einerseits waren dies Städte wie Halle (hier hauptsächlich die Deutsche Union, die Naturforschende Gesellschaft und die drei großen Freimaurerlogen der Stadt), Leipzig (hier ist besonders an die Leipziger Ökonomische Sozietät, die Freimaurerloge Minerva zu den drei Palmen und die gelehrte Linneische Gesellschaft zu denken 78 ) und Erfurt (hier hauptsächlich die Akademie gemeinnütziger Wissenschaften79), die mit ihren überlokal aktiven Aufklärungsgesellschaften stark auf landschafts-, reichs- und auch europaweite Kontakte und Beziehungen ausgerichtet waren. Diese Städte waren Sammelpunkte nationaler und internationaler Vergesellschaftungsbestrebungen der Aufklärung. Andererseits hat es offensichtlich aber auch Städte gegeben, deren Sozietätswelt in größerem Maß auf sich selbst gerichtet war (Magdeburg, Jena, Gotha, Weimar). 80 Eine weitere Vertiefung der - hier am Beispiel Halles und anderer mitteldeutscher Städte - ausgeführten Überlegungen scheitert jedoch an der defizitären Forschungslage. Es liegen für eine vergleichende Strukturanalyse weder entsprechende Stadtuntersuchungen noch Landschaftsanalysen anderer Regionen vor. Dies schließt notwendiger Weise ebenso ein, daß die Wechselwirkungen beider Ebenen aufgeklärter Organisation (lokal und überlokal) zueinander über das Fallbeispiel Mitteldeutschland hinaus nicht weiter thematisiert werden können. Hier hat die einschlägige Forschung erheblichen Nachholbedarf. Und dies gilt nicht allein für den in der vorliegenden Studie verfolgten quantitativ-strukturellen Ansatz. Auch über die qualitativen Funktionsweisen des Mitgliedschaftsnetzes weiß die Aufklärungshistoriographie so gut wie nichts. Was waren die Motive der Aufklärer, sich in unterschiedlichen, ζ. T. geographisch weit voneinander entfernten Orten zu engagieren; warum also entstanden Sozietätskarrieren? In den bekannten Ursachen, wie etwa jenen, innerhalb der Gelehrtenwelt mehrere Mitgliedschaften in wissenschaftlich einschlägigen Sozietäten zur Hebung der eigenen Reputation anzuhäufen, bzw. den Austausch von Wissensbeständen zu betreiben, dürfte sich das Spektrum der möglichen Motive hinsichtlich aller Formen der Aufklärungsgesellschaften wohl nicht erschöpfen. Schließlich gilt es darüber hinaus außerdem, das ,Warum' mit dem ,Wie' zu verknüpfen. Denn auch über die differenten Möglichkeiten und Wege, das geographisch und zeitlich weitgestreckte Mitgliedernetz zu aktivieren (Briefverkehr, Austausch von Traktaten, praktische Umsetzung neuer Erkenntnisse etc.), ist die Forschung nur ansatzweise im Bilde. Wie also funktionierte die Verflechtung der Gesellschaftsbewegung? Schließlich ist außerdem zu fragen, wie sich die Tätigkeit der Mitglieder in den aufgeklärten Sozietäten auf ihr alltägliches Leben ausgewirkt hat? Diese und weitere Fragen gilt es nicht nur zu beantworten, um ein umfassendes Bild der Gesellschaft der Aufklärer, ihrer Vernetzung und Wirkung, entwerfen zu können, sondern ebenso, um zur Beantwortung der Frage beizutragen, in welcher Weise .Aufklärung' gesamtgesellschaftlich Einfluß genommen hat.

ist: Riederer, Aufgeklärte Sozietäten (wie A n m . 2), S. 2 3 1 - 2 3 8 (die Darstellung von Vernetzungen innerhalb des Jenaer Sozietätswesens). 78

Zu Literatur und Quellen für diese Gesellschaften siehe die entsprechenden Angaben in der Sozietätenliste bei: Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie A n m . 8), S. 3 3 4 , 3 4 2 und 354.

79

Z u m Mitgliederbestand der Akademie siehe: Jürgen Kiefer (unter Mitarbeit von H o r s t - R u d o l f Abe), Mitgliederverzeichnis der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften 1 7 5 4 - 1 9 4 5 , in: Beiträge zur H o c h schul- und Wissenschaftsgeschichte Erfurts, Bd. 23 ( 1 9 9 1 - 1 9 9 4 ) , S. 9 9 - 1 7 7 ; zur Geschichte der Akademie: ders., Z u r Geschichte der Akademie nützlicher (gemeinnütziger) Wissenschaften zu Erfurt in den Jahren 1 7 5 4 - 1 9 9 1 , in: Ulman Weiß (Hg.), Erfurt 7 4 2 - 1 9 9 2 . Stadtgeschichte/Universitätsgeschichte. Weimar 1992, S. 441—459.

80

Vgl. dazu auch die überlokalen, landschaftsweiten Verflechtungen bei: Zaunstöck, Mitgliederstrukturen (wie A n m . 8), S. 2 5 4 - 2 5 8 .

ALOYS HENNING, BERLIN

Eine frühe Loge des 18. Jahrhunderts: Die „Hocherleuchtete Oculisten-Gesellschafft" in Wolfenbüttel""

Am 12. Juni 1745 wurde in No. L X X der Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen ein „Gesetz-Buch der hocherleuchteten Oculisten Gesellschaft" angekündigt zum Preis von 4 gr. (etwa 6 DM), „enthaltend einige allgemeine Verordnungen, Pflichten, und Absichten derselben. Herausgegeben auf Special-Befehl der grossen Loge von einem treuen und ehrliebenden Bruder und Meister". Bibliographische Recherchen von Mitarbeitern der Bibliothek der Freien Universität Berlin trugen dem Autor noch zu DDR-Zeiten aus der Zentralbibliothek der deutschen Klassik in Weimar die 28 Textseiten dieses „Gesetzbuches" als Kopien ein1 mit Ausnahme der Titelrückseite und der ersten Textseite. So fehlte der Textanfang; die vorenthaltene Titelrückseite zeigt das Siegel der „Oculisten-Gesellschafft", das im Dokument sonst nirgendwo aufscheint. Heute gehört zum geschichtlichen Wissen über den wissenschaftlichen Verkehr der D D R mit dem Ausland, daß die Benutzung von Archivalien in der D D R zentral genehmigt werden mußte, wobei Wissenschaftlern aus dem „kapitalistischen Ausland" Quellenmaterial bewußt partiell vorenthalten werden sollte.2 Dem Bibliothekar der Großen Landesloge der Freimaurer in Berlin, Herrn Thierbach, dankt der Autor besonders für den Zugang zum Mecklenburgischen Logenblatt, in welchem der Freimaurer Otto Dreyer-Wolfenbüttel 19223 anhand dokumentarischen Materials die Existenz einer solchen Oculisten-Gesellschaft in Wolfenbüttel beschrieb von womöglich 1742 bis wenigstens 1753, anscheinend aufgrund einer Veröffentlichung von P. Zimmermann aus dem gleichen Jahr.4 Dies ermöglichte die autoptische Untersuchung von Schriftstücken und Gegenständen dieser Loge, die im Niedersächsischen Staatsarchiv in Wolfenbüttel archiviert sind unter den Signaturen VI Hs 15 Nr. 143 und 10 Slg 6—13.

Zu Geschichte und Zielsetzungen der Oculisten-Gesellschaft Der Dirigierende Meister der Loge, Graf Friedrich August Veltheim (1709-1775), Erbherr auf Harbke (bei Helmstedt), Hofrichter in Braunschweig, seit 1747 Präsident des Hofgerichts in Wolfenbüttel, hatte seinen Sohn August Ferdinand von Veltheim informiert, „daß er die Haupt-Nachrichten, von dem Oculisten-Orden in ein versiegeltes Kästgen zusammengepacket habe," und den Sohn „umständigst ersucht haben wolle: wenn er * erweiterte Wiedergabe eines Redebeitrags „ D i e .Hocherleuchtet Oculisten-Gesellschaft' - eine Loge des 18. Jahrhunderts" zur 8. Zusammenkunft der Julius-Hirschberg-Gesellschaft, Deutschsprachige Gesellschaft für Geschichte der Augenheilkunde, Sitz: Wien, in Potsdam am 3. Juni 1994. 1

G e s e t z - B u c h D e r Hocherleuchteten Oculisten-Gesellschafft. Enthaltend Einige allgemeine Verordnungen, Pflichten und Absichten derselben. Herausgegeben Auf Special-Befehl der Grossen Loge Von einem treuen und ehrliebenden Bruder Meister, o. O . o. D . [Frankfurt (am Main) 1745]

2

Marianne Doerfel, Das eingesperrte Gedächtnis der Nation. Z u m Archivwesen der ehemaligen D D R , Das Parlament Nr. (1991) vom 11./lg. Januar, S. 12.

3

O t t o Dreyer-Wolfenbüttel, Ein freimaurerischer Geheimorden in Wolfenbüttel um 1740, Mecklenburgisches Logenblatt, 51. Jahrgang (beginnend im August) Nr. 7/8 vom 18. O k t o b e r 1922, S. 58 f.

4

Paul Zimmermann, D e r O c u l i s t e n - O r d e n in Wolfenbüttel, in: Braunschweigisches Magazin 1922, S. 3 1 - 3 4 .

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Aloys Henning

nemlich unverhoft und schleunig versterbe:" daß er dieses Kästchen zu sich nehmen „und nach der darauf gesiegelten Anweisung aus liefern möge." 5 Die Anweisung lautete: 6 „Nach meinem unverhoften Hintritte, ist dieses mit braunen Leder überzogene Kästgen Sr Excellence dem Herzogl. Braunschweigischen Herrn Ober-Stall-Meister v. Hammer, oder bey deßen ebenfalls unvermutheten Abgange, dem Herzogl. Braunschw. Herrn General Major v. Hammer 7 auf Westorff, oder wenn auch dieser fehlen solte, dem Königl. Preußischen Oberhauptmann Herrn v. Schulenburg auf Betzendorff an Sieglen unversehrt aus zu liefern. Friedrich August von Veltheim." Die Wiedergabe der schriftlichen Anweisung Friedrich August von Veltheims als Zitat erfolgt aus der Überlegung, die Personen seines Vertrauens - neben seinem Sohn - für die sichere Weitergabe des Logennachlasses waren womöglich selber frühere Mitglieder des offenkundig 1775 nicht mehr existenten Okulisten-Ordens. Als F. A. von Veltheim am 19. April 1775 nach dem Oberstallmeister von Hammer starb, übergab sein Sohn August Ferdinand von Veltheim mit Genehmigung des Bruders des Oberstallmeisters, Generalmajor Eccard Heinrich von Hammer, 8 den vom Vater versiegelten Nachlaß Geheimrat von Praun, der als Mitglied der ehemaligen Loge 9 darum gebeten hatte. Neben dem Namen des Dirigierenden Meisters sind außer den vier hier genannten nur fünf weitere in Dokumenten dieser Loge angeführt, davon drei auf Aufnahmegesuchen (siehe dort). Praun händigte den Nachlaß am 2. Mai 1776 dem Herzoglichen Landes-Hauptarchiv in Wolfenbüttel aus mit der Maßgabe: „Dieses Kästgen betrifft den Oculisten Orden u. ist ohne es zu eröffnen zu laßen, biß deß halben von Ser[enissi]mo Specialer befehl ergehet, d. 30. Oct. 1775. [Unterschrift:] Praun (Siegel)" 10 . Die herzogliche Genehmigung lag seit dem Frühjahr 1918 vor. 11 1922 besichtigte O. Dreyer den Logen-Nachlaß, der sich im Aktenbestand der Universität befand. Nach Dreyers Angaben 12 erwähnt das 1746 in Leipzig edierte Buch „Der neu-aufgesteckte brennende Leuchter des Freymäurer-Ordens" als einzige alte Quelle einen zu jener Zeit bestehenden Geheimorden, die „Oculisten" 13 , der seinen Hauptsitz in Berlin gehabt habe: Ein nicht signierter Brief der „Hocherleuchteten Oculisten-Gesellschaft" in Berlin gehört zum Wolfenbütteler Bestand. Mit diesem wurde Friedrich August Veltheim zu Harbke als Mitglied der Berliner Okulisten-Loge ausgewiesen und ermächtigt, eigene Logen zu gründen: 14 „Wir Meister und Meisterinnen der Oculisten-Loge in Berlin entbieten allen und jeden, dem dieser Brief zu Gesichte kommen soll, unsern Gruß und Oculisten-Freundschafft, und bekennen anbey, daß wir unserm sehr Geliebten Bruder Veltheim von Harbecke, Mitgliede

5 6 7 8

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Niedersächsisches Staatsarchiv [StA] Wolfenbüttel, VI Hs 15 Nr. 143, Bl. 5v. Ebd. Schreibweise nach autoptischem Befund, bei Zimmermann 1922 (wie Anm. 4) als „Stammer" angegeben Vornamen nach Zimmermann 1922 (wie Anm. 4), S. 31, zitiert; Nachname nach autoptischem Befund (siehe Anm. 7) angepaßt. Zimmermann 1922 (wie Anm. 4) S. 31. Nieders. StA Wolfenbüttel (wie Anm. 5) Bl. 1. Zimmermann 1922 (wie Anm. 4) S. 31. Dreyer-Wolfenbüttel 1922 (wie Anm. 3) S. 58. Der neu-aufgesteckte Brennende Leuchter des Freymäurer-Ordens, oder Eine sonderbare Historie dieser sonderbaren Brüderschafft bis auf unsere Zeiten. Nebst Ihren innern und äussern Verfassungen, Statuten, Religion und Ordnungen, wie auch Einen zulänglichen Kern und Auszug aller darzu gehörigen Schrifften und gesammleten Reden etc. Leipzig, bey Michael Blochberger, 1746, S. 444 f. Niedersächs. StA Wolfenbüttel (wie Anm. 5) Bl. 9.

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und Meister hiesiger Loge, nach einer unserm Eyde und Pflicht gemäßen Untersuchung seines bisherigen Bezeigens gegen unsre Gesellschafft, wie auch seiner Wissenschafft und Geschicklichkeit im arbeiten, wohlbedächtig die Macht ertheilet haben, Lehrlinge aufzunehmen, Gesellen zu schlagen, den Meister-Huth aufzusetzen, und Logen aufzurichten; dies alles solcher und dergestalt, daß wir alle von ihm aufgenommene Personen für eben so gute Oculisten erkennen, und sie eben so lieben wollen, als wenn sie ihre Wissenschafft und Kunst in einer Englischen Loge oder selbst in der Unsrigen erlernt hätten. Zu mehrerer Versicherung dessen ist hier das Innsiegel unserer Loge beygefüget worden. Berlin den 10 Mart. A. 1742." Das Gründungsdatum der Wolfenbütteler Oculisten-Gesellschaft ist nicht dokumentiert. Bereits 1740 hatte Friedrich August von Veltheim auf Harbke mit seinem Vetter Georg Philipp von Veltheim auf Destedt den geheimen „Orden des goldenen Pudels" gegründet zur Pflege der waidgerechten Schnepfenjagd und der Geselligkeit.15 P. Zimmer vermutete 16 , der Orden sei außer im Fischerhaus am Weddeler Teich bei Destedt, das als Ordensschloß galt, auch im Gasthaus zu Harbke zusammengekommen, das noch 1922 den Namen „zum goldenen Pudel" führte. Friedrich August von Veltheim gehörte außerdem dem auf Geselligkeit beschränkten „Argonautenorden" an und der „Deutschen Gesellschaft" in Helmstedt. Am 12. Februar 1744, dem Gründungstag der Braunschweiger Loge ,Jonathan", wurde er als Mitglied Nr. 10 auch in diese aufgenommen. 17 Diese Daten sind dem 6. September 1737 zuzuordnen, an welchem in Hamburg auf Betreiben englischer Logen zum ersten Mal eine freimaurerische Arbeit auf deutschem Boden stattfand. 18 Am 14. August 1738 wurde der preußische Kronprinz Friedrich von Hamburger Freimaurern im Haus Nr. 772 der Breiten Straße in Braunschweig als Logenbruder aufgenommen. Friedrich gründete in Rheinsberg eine Loge du roi, 19 die nach seiner Regierungsübernahme 1740 publik gemacht wurde, jedoch als Hofloge zu existieren aufhörte. Ihre Mitglieder schlossen sich der am 29. September 1740 gegründeten Stadtloge „Aux trois Globes" - „Zu den drei Weltkugeln" an. Sie wurde zum eigentlichen Ausgangspunkt der Freimaurerei in Preußen. Der König stellte seine Logenarbeit mit Beginn des ersten Schlesischen Krieges im Herbst 1740 ein.20 Von ihm lassen sich keine Verbindungslinien zur Wolfenbütteler Okulisten-Loge ziehen, obwohl für Friedrichs II. frühe Regierungszeit ein besonderes Interesse des Königs an der Augenheilkunde bekannt ist.21 1742 ist der Antrag des Hugenotten Rene Vincent dokumentiert, sich in Berlin als Okulist niederlassen zu dürfen, dem anscheinend nicht

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Mechthild Wiswe, Wolfgang Kelsch, Freimaurer in ihrer Zeit, Begleitpublikation zur Ausstellung des Braunschweigischen Landesmuseums zum 250jährigen Bestehen der Braunschweiger Freimauererlogen. Veröffentlichungen des Braunschweigischen Landesmuseums 75, hg. Gerd Biegel, Braunschweig 1994, S. 48. 16 Zimmer 1922 (wie Anm. 4) S. 17 Wiswe, Kelsch 1994 (wie Anm. 15) S. 50. 18 Rolf Hagen, Wolfgang Kelsch, Wolfgang Scherpe, Hans-Heinrich Solf, Mechthild Wiswe, Freimaurer in Deutschland. Freimaurerei in Braunschweig, Ausstellungskatalog zur Sonderausstellung vom 2 5 . 6 2.10.1978, Braunschweigisches Landesmuseum für Geschichte und Volkstum, Veröffentlichungen des Braunschweigischen Landesmuseums, Bd 16, Braunschweig 1978, S. 22. " Ebd. S. 32. 20 Karlheinz Gerlach, Die Freimaurer im mittleren Brandenburg-Preußen 1775-1806 - Geschichte und Sozialstruktur, in: Fridiericiansiche Miniaturen 3, hg. Jürgen Ziechmann, Oldenburg 1993 (= Forschungen und Studien zur Fridericianischen Zeit, Bd 4) S. 39-64, hier: 41. 21 Aloys Henning, Joseph Hillmer - Okulist, Professor, Scharlatan im friderizianischen Berlin, Berlin 1989 (= Ophthalmothek, Hg. Dr. Mann Pharma, Bd 9).

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stattgegeben wurde. 22 Von 1715 bis 1741 hatte der hugenottische Okulist Jean (Le) Blanc (um 1763-1741) im Haus des Bäckers Nöthe Unter den Linden praktiziert. 23 Der arme soziale Status beider Okulisten schließt aus, daß Jean Blanc unabhängig davon, daß er bereits am 14. Juni 1741 gestorben war, irgendetwas hätte mit einem geheimen OkulistenOrden in Berlin zu tun haben können. Der Wolfenbütteler Oculisten-Gesellschaft gehörten anscheinend durchweg Adlige an. Ihre Existenz nach 1742 belegen einige Sitzungsprotokolle. Das älteste vom 24. September 1747 dokumentiert „In Gegenwart des Dirigirenden" die Anwesenheit „dreyer Meister und dreyer Meisterinnen": 2 „actum Wolffenbüttel d: 24' 9br 1747 bey versammleter Meister-Loge Einer hocherleuchteten Oculisten Gesellschafft, u. nach geschehenen Vortrage des dirigierenden Meisters wurde wegen Anmeldung einer sicheren Mann's Persohn förmliche Umfrage gehalten, u. diese durch die Mehrheit der Stimmen, zu 4. gegen 3. vorerst verworffen..." Aktivitäten der Loge zwischen 1742 und 1747 sind derartig nicht dokumentiert. Gesuche um Aufnahme in die Oculisten-Gesellschaft erfolgten auf nachgezeichneten oval geschnittenen Spielkarten, von denen sich drei im Wolfenbütteler Nachlaß befinden. 25 Ihre ovale Form ist der Augenform nachempfunden. Von diesen Karten erfahren wir die Namen der Logen-Mitglieder Gottlob Friedrich von Döhring (Karo 10), Graf Emil von Dohna (Karte ohne Spielkartenbild) und Baron Achatz Ferdinand D'Assebourg (Kreuz 3) - vorausgesetzt, den im Nachlaß aufbewahrten Gesuchen wurde stattgegeben. Der Name von Dohna weist seinen Träger als preußischen Adligen aus; sein Gesuch ist in Breslau datiert unter dem 20. Januar 1746 und mit dem Zusatz „Fiat d. 25 t e n Januar 1746" und der Unterschrift des Sekretärs „Asseburg" versehen. Die Datierungen belegen womöglich die Reisezeit der Post von Breslau bis Wolfenbüttel, wenn von Dohna um den Termin der nächsten Logensitzung gewußt hat. M. Wiswe gibt wohl anhand dieses Aufnahmegesuchs das Gründungsdatum der Loge „um . . . 1746" an. 26 Ihre Datierung korrespondiert mit dem bibliographisch angegebenen Publikationsjahr 1745 mit dem Erscheinungsort Frankfurt (ohne die Angabe „am Main") des Gesetz-Buches der Oculisten-Gesellschaft. Sein Titelblatt ohne Angabe von Verlagsort und Erscheinungsjahr ähnelt nach Lay out und Formulierungen (vgl. Anm. 1) der zweiten Auflage der „Verordnungen . . . d e r e r . . . Frey-Mäurer" 2 7 von 1743: „Neues Constitutionen-Buch Der . . . Frey-Maurer . . . Auf Befehl der Grossen L o g e . . . Verfasset Von Jacob Anderson... Zweyte vermehrte Auflage .. . " 2 S James Anderson war der Autor der „Constitutions of the Free-Masons" von 1723 9 , dem ersten derartigen Dokument der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts. Die „Grosse Loge", 22

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Aloys Henning, Reisende und seßhafte Okulisten im 18. Jahrhundert, Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde 202 (1993) S. 329-341, hier: 332 f. Ebd. S. 333. Niedersächs. StA Wolfenbüttel (wie Anm. 5) Bl. 10. Ebd. Bl. 2-4. Wiswe, Kelsch 1994 (wie Anm. 15) S. 48. Verordnungen, Geschichte, Gesetze, Pflichten, Satzungen, und Gebräuche, Der Hochlöblichen Brüderschafft derer Angenommenen Frey-Mäurer, Aus ihren eignen glaubwürdigen Urkunden, und sichern mündlichen Nachrichten von vielen Jahrhunderten gezogen, und aus dem Englischen übersetzt von Johann Kuenen, Abgeordneten Ober-Meister der ordentlichen Logen in Holland, Wie solche bey Aufnahme eines Bruders, nach des Meisters, oder seiner Ober-Aufseher Verordnung, verlesen werden sollen, Franckfurt und Leipzig, Bey Michael Blochbergern, 1741. Neues Constitutionen-Buch Der Alten Ehrwürdigen Brüderschafft der Frey-Maurer, Worin Die Geschichte, Pflichten, Reguln etc. derselben, Auf Befehl der Grossen Loge / Aus ihren Alten Urkunden, glaubwürdigen Traditionen und Loge-Büchern, Zum Gebrauch der Logen verfasset worden, Von Jacob

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Grand Lodge, war 1717 aus dem Zusammenschluß mehrerer Londoner Logen entstanden. Auf die Qualifizierung „in einer Englischen Loge" berief sich die Berliner Ermächtigungsurkunde für F. A. von Veltheim (wie Anrn. 14) wie auf den „Special-Befehl der Grossen Loge" der Herausgeber (wie Anm. 1) - mutmaßlich derselbe von Veltheim - des Gesetz-Buches der Oculisten-Gesellschaft, die durch ein abgeordnetes Mitglied vergeblich versucht haben soll, mit dieser „Grossen Loge" in England in Verbindung zu treten.30 Das Gesetz-Buch erwähnt, „daß schon seit langer Zeit in Engelland einer dem anderen diejenige Wissenschafft und Kunst unter der Hand beygebracht hat, womit die Oculisten-Gesellschafft umgehet... Nur dürffen" Ausländer „niemals jemanden von der Englischen Loge anzeigen: Denn diese will vorerst noch unbekannt bleiben." 31 Im Nachlaß einer 1747 verstorbenen Meisterin soll sich die Kopie eines englischen Protokolls befunden haben.32 Nach O. Dreyer habe es sich dabei „wohl um die Londoner Großloge unsrer Freimaurerei" gehandelt, „denn daß dort eine OkulistenGroßloge bestanden habe, scheint mir nicht glaublich." 33 Die Unschärfen in den Angaben des Okulisten-Ordens zu einer möglichen englischen Mutterloge sind anscheinend der Intention ihrer Urheber zu verdanken, der Oculisten-Gesellschaft eine Legitimation vom Range der Londoner Großloge der Freimaurer zu verschaffen und gleichzeitig die zu vermutende Nichtexistenz einer solchen Mutterloge, für die es außer den zitierten Hinweisen keine weiteren gibt, zu verschleiern. 1741 hatte M. Blochberger die erste deutsche Ausgabe der „Verordnungen" in Frankfurt und Leipzig verlegt; er edierte 1746 in Leipzig den ,,Neu-aufgesteckten[n] brennenden Leuchter des Freymäurer-Ordens". Die zweite Ausgabe „Neues Constitutionen-Buch . . . " ist an der zweiten Auflage der„Constitutions" J. Andersons von 173834 orientiert und wurde in Frankfurt am Main von der„Andreäischen Buchandlung" vertrieben. Demnach gehört das Gesetzbuch der Oculisten-Gesellschaft zu den frühesten deutschen Druckerzeugnissen zur Logen-Geschichte. Sein Editionsjahr 1745 stützt M. Wiswes Angabe zum Gründungszeitpunkt der Wolfenbütteler Okulisten-Loge. Diese scheint nur wenige Jahre existiert zu haben. Vom 16. Juli 1753 datiert Ferdinand von Asseburgs Aufnahmegesuch aus Hannover. Dies ist das jüngste Datum zur Geschichte dieser Loge, das die Wolfenbütteler Archivalien aufweisen. Mit der Verlegung der Hofhaltung der Residenz der braunschweigischen Herzöge von Wolfenbüttel nach Braunschweig 1753/54 hat anscheinend dieser OkulistenOrden aufgehört zu existieren. 35 Falls auch Ferdinand von Asseburg 1753 Mitglied der Gesellschaft wurde, in der ein Verwandter von ihm schon Sekretär war, wären zusammen mit dem dirigierenden Logenmeister Veltheim wenigstens neun Logenmitglieder belegt, unter Einschluß der im Protokoll genannten drei Meisterinnen, insgesamt sogar zwölf, wenn die eingangs benannten drei Gewährspersonen für den sicheren Verbleib des Logennachlasses hinzuzurechnen sind. Die Frage, wie groß die maximale Zahl der Mitglieder zu

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Anderson, D. D. Aus dem Englischen Übersetzt. Zweyte vermehrte Auflage. Franckfurt am Mayn, In der Andreäischen Buchhandlung. 1743. [James Anderson] The Constitutions of the Free-Masons. Containing the History, Charges, Regulations, &c. ofthat most Ancient and Right Worshipful Fraternity. For the Use of the Lodges, London 1723. Dreyer-Wolfenbüttel 1922 (wie Anm. 3) S. 59. Gesetz-Buch der Hocherleuchteten Oculisten-Gesellschafft (wie Anm. 1) S. 3. Zimmermann 1922 (wie Anm. 4) S. 32. Dreyer-Wolfenbüttel 1922 (wie Anm. 3) S. 59. James Anderson, The N e w Book of Constitutions of the Antient [sic] and Honourable Fraternity of Free and Accepted Masons. Containing their History, Charges, Regulations &c. Collected and Digested By Order of the Grand Lodge from their old Records, faithful Traditions and Lodge-Books, For the Use of the Lodges, London 1738. Hagen, Kelsch, Scherpe, Solf, Wiswe 1978 (wie Anm. 18) S. 26.

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einem bestimmten Zeitpunkt war, ist anhand der vorliegenden Dokumente nicht zu beantworten. Daß und warum die Okulisten-Loge gleichberechtigt weibliche Mitglieder aufnahm, deren Namen der Nachlaß nicht verrät, bekundet das erwähnte „Gesetz-Buch der Hocherleuchteten Oculisten-Gesellschafft", von dem sich ein Exemplar im Wolfenbütteler Staatsarchiv befindet 3 6 : „Da auch viele des männlichen Geschlechts dem Frauenzimmer Schuld geben, daß es zu Verschweigung wichtiger Geheimnisse nicht fähig sey, so wollen wir durch Beweisung des Gegentheils, die Ehre des schönen Geschlechts gegen diese Verläumder retten, und zugleich beyderley Geschlecht Nutzen und Ruhe verschaffen." D o c h wurden an weibliche Mitglieder höhere Anforderungen vor der Aufnahme überhaupt gestellt: 37 „11). Von weiblichen Geschlecht sollen keine aufgenommen werden, die nicht alle Qualitäten zum Meisterthum besitzen. Und unverheyrathete sollen dazu nicht änderst, als mit grosser Behutsamkeit, und nach reiffer Überlegung gewählet werden." Demnach sind unter den nicht mit Namen genannten Meisterinnen Ehefrauen von namentlich angeführten Logenmitgliedern zu vermuten. P. Zimmermann weiß um den Namen einer Meisterin von Veltheim. 38 Nach M. Wiswe 3 9 gab es in Braunschweig-Wolfenbüttel mehrere solcher „gemischten Logen", deren Zeremonien und rituelle Kleidung der Freimaurerei entlehnt waren. Sie dienten der Geselligkeit und selbst gestellten sozialen Aufgaben. Ihre Mitglieder waren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts überwiegend oder ausschließlich Adlige. Nach der Satzung erfolgte die Aufnahme in die OculistenGesellschaft als Lehrling, wozu ein Bewerber von anderen Mitgliedern in Vorschlag gebracht werden mußte. Das zum Gesellen schlagen und die Verleihung des Meister-Rechts oder des Meister-Huths sollte nach längerer Bewährung des Mitglieds als Lehrling bzw. als Geselle geschehen. 40 Vorausgesetzt wurde für die Mitgliedschaft, daß die sich bewerbende „Person mündig sey. 7). Und von solchen Stande, daß man auch ihres Umgangs ausser der Loge sich nicht schämen dürfe. 8). Daß man nichts gegen ihre Verschwiegenheit zu sagen habe. 9). Daß sie in guten Ruff ihrer Sitten, ehrliebend, und durchaus nicht verschwenderisch sey. 10). Daß sie einen gewissen Grad von Verstand besitze, damit sie der Gesellschafft Nutzen und Ehre bringe." 41 Als wichtigste Voraussetzung vor allen anderen ist durch Fettdruck und mit größeren Lettern an sechs verschiedenen Stellen des „Gesetz-Buches" 4 2 zweifach hervorgehoben 4 3 : „2). Daß untersucht wird, ob die in Vorschlag gebrachte Person E i n e leichte H a n d habe, deren Erklärung allein unsern Meistern und Meisterinnen bekannt i s t . . . 5). Betrifft aber das Beschliessen einen Fremdling, so richtet man sich nach den Nachrichten, die ein oder der andere Bruder von der Beschaffenheit seiner Hand, und zugleich von seinen Gemüths36 37 38 39 40

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Gesetz-Buch der Hocherleuchteten Oculisten-Gesellschafft (wie Anm. 1)S. 19 f. Ebd. S. 24. Zimmermann 1922 (wie Anm. 4) S. 32. Wiswe, Kelsch 1994 (wie Anm. 15) S. 48. Die spätere Entwicklung von sogenannten Hochgradlogen mit bis zu 33 abgestuften Graden der Mitgliedschaft ist hier nicht zu erörtern, weil die Oculisten-Gesellschaft vor dieser Entwicklung zu existieren aufhörte. Gesetz-Buch der Hocherleuchteten Oculisten-Gesellschafft (wie Anm. 1) S. 23 f. Ebd. S. 9.10.21.22.25.27. Ebd. S. 22 f.

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Gaben hat. Sind aber dergleichen Nachrichten ungewiß, oder doch nicht zulänglich genung, so wird das Beschliessen bis auf eine andere Zeit aufgeschoben." Vor allem mußten Bewerber um den Meistergrad der Oculisten-Gesellschaft eine leichte Hand haben und zum Erreichen dieses Grades ein „Meisterstück ablegen". 4 4 Als „Generale Absichten der Oculisten", die im Vergleich weit weniger Druckseiten als die opthalmiatrischen Zielsetzungen im „ G e s e t z - B u c h " beanspruchen und dort diesen nachgeordnet sind, ist zu lesen 4 5 : „Unsere Gesellschafft suchet es . . . in der Ausübung vieler Tugenden ungleich höher zu treiben, als es uns ausserhalb unserer Brüderschafft wäre möglich gewesen . . . durch das Innere unserer Gesellschafft ist dafür gesorget, daß einer doch allemahl neue BewegungsGründe zur Tugend bekommt, so starcke und so viele er auch schon vorhero gehabt." Diese Intention verband den Okulisten-Geheimbund mit der sogenannten „spekulativen" Freimaurerei, die in der vorgeblichen geistigen Tradition der mittelalterlichen D o m bauhütten um 1717 von England ausging, nach 1730 auf das europäische Festland übergriff und über Frankreich und die Niederlande auch Preußen erreichte.

Ophthalmiatrica D e r Sinn der Unabdingbarkeit der leichten Hand für ein Mitglied der Okulisten-Loge blieb dem Freimaurer O . Dreyer und P.Zimmer 1922 verborgen. Heutigen augenärztlichen Nachfahren ihrer okulistischen Kollegen des 18. Jahrhunderts fällt es leichter, dahinter die Voraussetzung für ophthalmiatrische Manipulationen zu erkennen. Die Technik des Starstichs erforderte vorrangig die leichte Hand. 1922 haben Zimmermann 4 6 und Dreyer ausgeschlossen, daß die Mitglieder der Okulisten-Loge sich wirklich zum Heile Augenkranker der Augenheilkunde gewidmet hätten: „ D e m widersprechen die damaligen Verhältnisse dieser ärztlichen Spezial-Wissenschaft und der adlige Stand der bekannten Mitglieder". 4 7 Aus medizingeschichtlich-fachlicher Sicht trifft dies so nicht zu. D i e zeitgenössischen ophthalmologischen Fachkenntnisse nach dem letzten Forschungsstand waren wenigen Spezialisten bekannt. D o c h bot eine nicht unerhebliche Zahl zum Teil dürftig medizinisch Gebildeter außerhalb der vorhandenen Medizinalordnungen augenärztliche Hilfe als fahrende Okulisten an, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, wobei Mißbräuche und Scharlatanerie eine erhebliche Rolle spielten. D a ß die Okulisten-Loge auch weibliche Mitglieder als Meisterinnen aufnahm, ist kein Argument für Dreyers Überlegungen, weil die okulistische Praxis auch von Frauen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dokumentiert ist. 4 8 O . Dreyer unterstellte der Wolfenbütteler Loge, sie hätte ähnlich wenig mit der Augenheilkunde in praxi zu tun gehabt, wie die spekulative Freimauerei mit den Maurerarbeiten Angehöriger mittelalterlicher Dombauhütten, von denen sich die Freimaurer des 18. Jahr-

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Ebd. S. 27.

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Ebd. S. 19.

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Zimmermann 1922 (wie A n m . 4) S. 32.

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Dreyer-Wolfenbüttel 1922 (wie A n m . 3) S. 58; dieser Beurteilung folgten Wiswe, Kelsch 1994 (wie A n m . 15) S. 48.

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Vgl. Henning 1993 (wie A n m . 22) S. 332, sowie H e r m a n Kaau Boerhaave, Cancellariae Medicae Acta cum oculista Iosepho H i l l m e r o / Medicinskoj Kanceljarii Postupki s okulistom Iosifom G i l ' m e r o m , Petropoli/ Sanktpeterburg 1751, S. 21 f.

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hunderte u. a. herleiteten. Demnach sei das ophthalmiatrische Arbeiten in der OkulistenLoge nur symbolisch zu verstehen, wobei das Therapieren von Beeinträchtigungen des Sehvermögens im übertragenen Sinne vermehrte Erkenntnis oder Erleuchtung zur Folge hatte. Zu dieser symbolischen, geheim zu haltenden Logen-Arbeit enthält das „Gesetzbuch" kaum Hinweise. Unter ophthalmologischen Aspekten spiegelt es für heutige Leser scheinbar obskure medizinische Vorstellungen wider, die noch dazu anscheinend als Arcana abgehandelt werden: „alle, so mit Augen-Kranckheiten behaftet sind... können versichert seyn, daß wir sie nicht ohne Hülffe lassen... Es soll ihnen noch dazu geholffen werden, ohne daß sie selbst wissen sollen, von wem solche Hülffe kommen ist. Denn, wir curiren alle Kranckheiten des Auges, den Staar ausgenommen, auf eine solche Art, daß unsere Cur weder andern in die Augen fällt, noch von dem Patienten selbst wahrgenommen wird. Bey der Cataracta aber, muß sich einer allerdings eine schmerzhafte Operation gefallen lassen. Wie wir aber alle andere Oculisten in dem Stück übertreffen, daß wir alle Arten des Staars zu stechen wissen, sie mögen nun zur Reiffe kommen seyn oder nicht; Also haben wir auch unter uns eine besondere Art, den Stich solchergestalt anzubringen, daß der humor crystallinus jederzeit der Nadel gehorchen muß, die Cataracta mag auch beschaffen seyn wie sie nur kan und mag." 4 9 Der Text belegt die von dem Militärarzt am Königlichen Hospital in Tournai im seinerzeit französischen Hennegau, Michel Brisseau (1676-1743), seit 1705 durchgesetzte Kenntnis von der Augenlinse („humor crystallinus") als wahrem Ort der Katarakt (Grauer Star) 5 0 und, daß deren Operation in der Entfernung der getrübten Linse von ihrem anatomischen Ort mittels der Starnadel besteht, um den Durchblick durch die Pupille wieder frei zu machen. „Vieleicht wird dieses nicht so sehr befremden, als wir von unseren unsichtbaren Curen der übrigen Augen-Kranckheiten haben erinnern müssen. Das menschliche Auge bestehet ja in unzählig vielen Theilgen von unterschiedener Art; Sind nun alle diese Theilgen vorhanden, und in der gehörigen Ordnung zusammengefügt, auch unter ihnen keine particulae heterogenic befindlich, so ist unser Auge gesund, da es hingegen kranck ist, sobald die Theilgen nicht in gehörger Menge verhanden [sie] sind, oder sich nicht in gehöriger Ordnung befinden, oder auch, sobald sich etwas fremdes, so die Structur des Auges nicht erfodert [sie], hineingeschlichen hat. Siehet man aber nicht hieraus, daß einer Kranckheit kann abgeholfen werden, wenn man nach Erfoderung [sie] der Umstände entweder gewisse Theilgen herausbringet, oder selbige hinzusetztet, oder denen darinnen befindlichen, ihren gehörigen Ort und Platz anweiset. Wie es aber möglich ist, solches unvermerckt ins Werck zu setzen, davon müssen wir nun noch einiges Licht geben. Man erwege zu dem Ende, daß man etwas in den Mund bringen, solches daselbst modificiren, und mit dem Athem so weit fortschicken kan, daß es unvermerckt ein oder andern Theil derjenigen Person, so wir vor uns haben, berühren, sich

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Gesetz-Buch der Hocherleuchteten Oculisten-Gesellschafft (wie Anm. 1) S. 5 £. Michel Brisseau, Premieres Observations sur la Cataracte, Lües ä l'Academie Royale des Sciences, Ie 18 Novembre 1705. Imprimees ä Tournay au commencement de 1706, in: Michel Brisseau, Traite de La Cataracte et du Glaucoma, Paris 1709, S. 33-94; vgl. Aloys Henning, Zum Paradigmenwechsel bei der operativen Starbehandlung um 1750, in: Vom Augendienst zur modernen Ophthalmologie, Symposium an der Augenklinik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 22.-23. Oktober 1994 (300 Jahre Universität Halle 1694-1994), Hg. Manfred Tost, Halle 1994, S. 259-281; ders., Vom Starstich zur Kataraktextraktion, Zur Frühgeschichte der Intraokularlinse, der Augenspiegel, Forum der Augenärzte in Deutschland, Österreich und der Schweiz 42 (1997) 12, S. 33-37.

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daselbst einschleichen, und nothwendiger Weise eine Veränderung würcken muß, massen auch die allerkleinsten Theilgen noch Cörpergen sind, welche sich nach den Regeln der Bewegung richten." In Berlin verrieb der Okulist Joseph Hillmer 1748 nach dem Starstich 8 bis 10 Tropfen seines Augengeistes in seinen Händen und hielt diese vor das operierte Auge. „Bey ganz armen Leuten habe observirt, daß er nicht seinen Augen-Geist gebraucht, sondern nur das operirte Auge mit gekauten Nelken anhauchen läßt." 5 1 In beiden Zitaten, im Gesetzbuch wie über Hillmer, wurde der Lufttransport wirksamer Arzneibestandteile (analog Aerosolen oder Dämpfen) als Teil des therapeutischen Konzepts unterstellt, dessen iatrochemische Vorstellungen sich seit Paracelsus (1493-1541) entwickelt hatten. Demnach scheint die Loge die Absicht gehabt zu haben, ophthalmiatrische Bildung (d. h. augenärztliche im Verständnis vor der Etablierung der wissenschaftlichen Augenheilkunde im heutigen Sinne - Ophthalmologie) weiter zu geben und womöglich im Starstechen auch die praktische Anwendung ihrer Kenntnisse zu vermitteln. Das würde das sechsmal durch größere Lettern in Fettdruck hervorgehobene Erfordernis der leichten H a n d plausibel machen. Für einen Ophthalmologen ist denkbar: Das Meisterstück z u m Erreichen des Meistergrades in der Oculisten-Gesellschaft habe in der Demonstration eines Starstichs am Modellauge, das die Loge besaß (siehe dort), bestanden. Dabei sollte die Geheimhaltung dieser okulistischen Kunst ausdrücklich deren Mißbrauch durch Scharlatane vorbeugen helfen. O b in der Wolfenbütteler Oculisten-Gesellschaft tatsächlich ophthalmiatrische Behandlungen vorgenommen wurden, insbesondere chirurgische, ist unklar. Die einzige zeitgenössische Quelle zitiert das Gesetzbuch in dieser Hinsicht wie selbstverständlich 52 und ohne Kritik so, daß der Eindruck entsteht, augenärztliche Behandlungen durch die Loge wurden für möglich gehalten. Doch enthält die Leipziger Veröffentlichung von 1746 nur einen Bruchteil der Informationen, den die nachgelassenen Gegenstände und Schriften dieser Wolfenbütteler Loge noch heute dem fachlich und speziell dem ophthalmologisch Interessierten bieten. Zu den Instrumenten des Logen-Nachlasses 5 3 zählt eine eiserne Starnadel nach Saint Yves mit lanzettförmiger Spitze. Diese hat aber statt des bei Michel Brisseau (1676-1743), Lorenz Heister (1683-1715) und später üblichen sechs- bis achteckigen Griffes mit tastbarer Griffflächenkennzeichnung einen beinernen Ziergriff und eine aufschraubbare Hülse aus gleichem Material zum Schutz der Nadel bei Nichtgebrauch oder Transport. Mit dem Ziergriff ließen sich unterschiedliche Lagen der schneidenden Kanten der Spitze der seitwärts in das Auge eingestochenen Starnadel hinter der getrübten Linse, d. h. ohne Sicht, kaum bzw. sehr schlecht taktil durch den Operateur kontrollieren. Diese Kontrolle war erforderlich wenigstens f ü r die Boutonniere (frz. für Knopfloch): die Entfernung des getrübten Linsenkerns von seinem anatomischen O r t durch die aufgeschlitzte hintere Linsenkapsel in den hinteren, unteren Augenbereich (unter den Glaskörper). Die Boutonniere nach Antoine Ferrein (1693-1769), der dieser Methode den N a m e n gab, und Frangois Pourfour du Petit (1664-1741) war ab 1720 state of the art der Staroperation. Sie wurde 1750

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Balthasar Heinrich Klinge [= Johann Carl Wilhelm Moehsen], Sendschreiben, an einen alten erfahrenen Chirurgum in Strasburg, worin von dem berühmten Augen-Artzt, Herrn Hillmer, aus Wien, der sich ietzt zu Berlin aufhält, eine unpartheyische Nachricht gegeben wird. Leipzig 1748 S. 6. Vgl. Aloys Henning, Aufklärung versus absolutistische Raison: ZuJ. C. W. Moehsens Sendschreiben an einen - Chirurgum von 1748 und J. O. de La Mettries L e t t r e . . . A Emanuel Koniqe, in: Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 5, hg. von Erich Donnert, Weimar, Köln, Wien, S. 393-419. Der neu-aufgesteckte Brennende Leuchter des Freymäurer-Ordens (wie Anm. 13) S. 446 f. Niedersächs. StA Wolfenbüttel (wie Anm. 5) 10 Slg 10,12-13.

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von Jacques Daviels (1696-1762) Starextraktion methodisch überholt, der prinzipiell noch heute gültigen Ausziehung des getrübten Linsenkerns aus der Linsenkapsel durch deren eröffnete vordere Kapselwand nach vorheriger Eröffnung des Augapfels durch einen Hornhautschnitt. Für Daviels Vorgehen kamen Starnadeln wie die Wolfenbütteler überhaupt nicht mehr in Frage. Das Agieren hinter der getrübten Linse ohne Sichtkontrolle scheint in der Wolfenbütteler Loge kaum ein Problem gewesen zu sein. Dies geht aus ihren nachgelassenen medizinischen Manuskripten hervor, nach denen die Boutonniere dort unbekannt war oder als Methode nicht rezipiert worden ist. In Europa haben seinerzeit etwa ein halbes Dutzend Staroperateure in dieser subtilen Weise den Grauen Star operiert, darunter der Berliner Chirurg Joachim Friedrich Henckel (1712-1779). Die Starnadel des Wolfenbütteler LogenNachlasses war mit ihren schneidenden Kanten der lanzett- oder myrtenblattiörmigen Starnadelspitze ohne Griffmarkierung nur bei der Stardepression nach Charles de SaintYves (1667-1736) handhabbar. Dabei wurde die waagerecht gehaltene Starnadelspitze d. h. mit horizontal ausgerichteten schneidenden Kanten - von seitwärts in den Augapfel eingestochen und hinter der Linse nach oben geführt unter strenger Beibehaltung der horizontalen Ausrichtung, um jede schneidende Verletzung innerer Augenstrukturen zu vermeiden. 5 4 Die Wolfenbütteler Starnadel anhand von womöglich noch nachweisbaren, für das Auge spezifischen Geweberesten auf Gebrauchsspuren untersuchen zu lassen, muß nach Auskunft von entsprechend spezialisierten Kollegen eine reizvolle Überlegung bleiben. D e r Autor dankt f ü r ihre Bemühungen hier besonders H e r r n Priv. D o z . Dr. Jens Martin Rohrbach von der Augenklinik und H e r r n Prof. Dr. Ulrich Weser 55 vom Physiologisch-chemischen Institut der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Als weiteres chirurgisches Instrument findet sich im Wolfenbütteler Nachlaß eine grobe zweiseitig zu gebrauchenden Pinzette aus Eisen: Die längeren Schenkel sind wie eine chirurgische Kornzange gestaltet, die kürzeren dienen als Epilationspinzette der TrichiasisBehandlung, d . h . zum Auszupfen von Wimpern in Fehlstellung, die deshalb auf der H o r n h a u t bzw. Bindehaut scheuern. In einem mit grünem Leder bespannten Behälter befindet sich ein zerlegbares Modell zur Demonstration der Augenanatomie 5 6 , gedrechselt aus H o r n und Schildpatt. Die auch durch die handwerkliche Herstellung stilisierten Teile sind anatomisch ungenau, geben aber die zeitgenössischen Kenntnisse typisiert wieder. Desweiteren findet sich eine stark vergrößernde Lupe von etwa 40 D und eine Lesebrille.

54

Carl de Saintyves: Tractat Von denen Kranckheiten der Augen, Zu welchem Die dazu dienliche HülffsMittel wie auch die chirurgischen Operationes, so zu derselben Genesung erforderlich sind, gründlich gezeiget werden; Alles mit neuen Erfindungen über die Structur des Auges versehen, welche das unmittelbare Werckzeug des Gesichts beweisen, Aus dem Frantzösischen ins Deutsche übersetzt Von J. A. Mischel, Johann Andreas Rüdiger, Berlin 1730. S. 234 f.; Originalausgabe: Charles de Saint-Yves, Nouveau traite des maladies des yeux, les remedes qui y conviennent, & les operations de Chirurgie que leurs guerisons exigent. Avec de nouvelles decouvertes sur la structure de l'oeil, qui prouvent l'organe immediate de la v u e . . . Paris 1722.

55

U. Weser hat an einer ägyptischen Mumie aus ptolemäischer Zeit 2300 Jahre alte, biologisch noch aktive alkalische Phosphatase nachgewiesen; vgl. Ulrich Weser, Konserviertes Leben - Aktive Enzyme in Mumien. Molekulare Archäologie und die Frage nach dem Tod, in; forschung - Mitteilungen der DFG, Hg. Deutsche Forschungsgemeinschaft, Nr. 4 (1994) S. 11-13. Im ersten Lehrbuch der Augenheilkunde in einer europäischen Landessprache des sächsischen Hofokulisten Georg Bartisch (1535-1607) - ΟΦΘΑΛΜΟΔΟΥΛΕΙΑ, Das ist Augendienst, Dresden 1583, S. 8v. - ist die Topographie der Augenanatomie in einer Abbildung mit fünf übereinandergeklebten Schnittbildern durch den Augapfel bzw. die Augenhöhle (Orbita) verdeutlicht; für die gesamte Anatomie des Menschen hat diese Methode der Paracelsus-Schüler und brandenburgische Hofarzt Leonhard Thurneysser (1531-1596) angewandt in: Βεβαίωσις άγωνίσμσυ. Das ist Confirmatio concertationis... Berlin 1576.

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Die medizinischen Manuskripte des Okulisten-Ordens bestehen aus einer achtseitigen einfachen anatomischen „Beschreibung des Augs, Aus des H. Canzlers Wolff Physica gezogen" 5 7 und einem dreiseitigen Manuskript „Vom Staar Stechen aus des H. Prfo. Heisters Chirurgie 5 8 gezogen". Beide hat nach P. Zimmermann 5 9 Geheimrat von Praun verfaßt, woraus sich die Mitgliedschaft von Prauns in der Okulisten-Loge ergibt. „Canzlers Wolff Physica" meint anscheinend den „3ten Theil der Naturlehre" 6 Christian Wolffs ( 1 6 7 9 1754): „Vernünfftige Gedancken von dem Gebrauche der Theile in Menschen, Thieren und Pflantzen . . " 6 1 Der an der Universität Halle lehrende Philosoph und Mathematiker war nach pietistischen Denunziationen unter Beteiligung August Hermann Franckes ( 1 6 6 3 1727) vom preußischen König Friedrich Wilhelm I. 1723 unter Lebensbedrohung des Landes verwiesen, jedoch nach Friedrichs II. Thronbesteigung 1740 erneut an die Hallische Universität berufen worden, deren Kanzler er wurde. Das zweitgenannte Manuskript vermittelt eine gute Vorstellung vom ophthalmologischen Allgemeinwissen Gebildeter jener Zeit und bietet für heutige Interessierte exakte Definitionen des zeitgenössischen Verständnisses der drei Arten von Star - grau, grün und schwarz:62 „Der Staar (Cataracta) ist eine kranckheit, so dadurch entstehet daß der augapfel, welcher natürl. schwartz seyn soll, trüb wird, u. entweder in demselben, oder doch ganz nah dahinter eine andere meistens Perlen- auch sonst wol grau-gelb- blaulichte oder eysenfarbige färbe sich zeiget, wodurch das sehen anfängl. vermindert u. endl. gar verlohren wird. Die ordentliche u. frequenteste Ursache deßelben ist die trübigkeit des humoris crystallini; bißweilen aber auch ist es ein widernatürl. häutlein welches den Staar verursachet. Dieses ist der weiße oder graue staar, der durch eine operation curiret werden kan; dahingegen es auch einen schwarzen staar (gutta Serena) gibt, welcher durch eine operation nicht kan curiret werden, weil der fehler nicht im augapffel, sondern entweder in der retina, oder im nervo optico oder im gehirn selbsten stecket, indrine der augapfel schwartz u. klar, auch das gantze aug gesund u. gut zu seyn scheinet, doch aber das aug nicht siehet: Ein glaucoma oder grüner staar aber ist, so in verdunckelung oder trübheit des humoris vitrei bestehet und ganz incurable ist, weil so weder, wie der graue Staar mit der Nadel operiret, noch wie der schwartze staar, mit medicamenten curiret werden kan: Es gibt flecken u. feile in den Augen, so nicht von dem grauen staar herkommen; als nemlich wenn die flecken in der tunica cornae, nicht aber hinter derselben oder der tunica uvea sind; oder wenn ein widernatürl. häutlein außer der cornea ist. Der graue Staar ist entweder neu oder alt, anfangend oder vollkommen, zeitig oder unzeitig; die ursach der verdunckelung des humoris crystallini, so denselben verursachet, ist eine Stockung widernatürl. feuchtigkeiten in demselben, oder eine austrocknung u. zusammenwachsung seiner aederlein, als wodurch derselbe seine durchsichtigkeit verliert. Einen zeitigen Staar erkennet man, wenn der Augapffel seine natürl. schwärze ganz verlohren, u. der patient nur noch licht u. dunckel, aber keine färben noch gestalt mehr erkennen 57 58

59 60

61

62

Niedersächs. StA (wie Anm. 5) Bl. 12-15. Lorenz Heister, Chirurgie, in welcher Alles, was zur Wund-Artzney gehöret, Nach der neuesten und besten Art/ gründlich abgehandelt, und In vielen Kupffer-Tafeln die neu erfundene und dienlichste Instrumenten, nebst den bequemsten Handgriffen der Chirurgischen Operationen und Bandagen deutlich vorgestellet werden (Nürnberg 1719) 2. verbesserte Aufl. Nürnberg 1724 (3. Aufl. 1731). Zimmermann 1922 (wie Anm. 4) S. 32. Johann Georg Meusel, Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen Teutschen Schriftsteller, Bd 15, Leipzig 1816, S.280. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken Von dem Gebrauche Der Theile In Menschen, Thieren und Pflantzen, Den Liebhabern der Wahrheit Mitgetheilet von Christian Wolffen . . . Franckfurt und Leipzig 1725,4. Aufl. 1736. Niedersächs. StA (wie Anm. 5) Bl. 16-17.

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kan. Ein unzeitiger wird erkannt wenn der augapffel noch nicht recht verdunckelt, u. der patient noch etwas siehet. Wenn der patient licht u. finsterniß gar nicht mehr scheiden kan, ist der mangel im nervo optico oder der retina, u. heißt es sodenn der schwarze Staar. Die operation bey dem grauen Staar geschiehet mit der Staar Nadel, wodurch der staar, es sey derselbe ein häutlein, oder aber der fehler im humore crystallino, abgedrücket wird, daß er nicht mehr in die höhe steigen könne." Hier sei angemerkt, daß in diesem Manuskript der Begriff Augapffel die Pupille meint, wie noch im Grimmschen Wörterbuch 1889 angegeben. 63 Dies ist semantisch bedeutsam, weil sich in europäischen Sprachen vielfach Gleichsetzungen von Augapfel und Pupille finden, vor allem im Griechischen: ή κόρη bedeutet Mädchen, Augapfel, Pupille; Kore ist der ältere, aus minoischer Zeit stammende Name der Tochter der Göttin der Feldfrüchte, Demeter, die von Hades in die Unterwelt entführt wird und als Persephone bekannter ist. 64 Sie verkörpert den Jungfrau- und damit Frühlingsaspekt einer triadischen weiblichen Gottheit. Das kompilierte anatomische Manuskript enthält die um 1745 bekannten anatomischen Termini, die weitgehend den uns heute geläufigen entsprechen. An weiteren Schriften enthält der Nachlaß neun vierseitige handschriftliche Exemplare gleichen Inhalts in einer Geheimschrift zur Unterweisung in Rechenoperationen mit kabbalistischen Zusätzen 65 , dazu einen „Leichter Entwurf zu einer politischklugen W i r t schaft" mit Rechenpositionen in Geheimzahlen 66 und ein gebundenes Manuskript von 72 Seiten ausschließlich in Geheimschrift. Zum Inhalt des letztgenannten gibt es bisher keinerlei Hinweise. Die Anzahl neun der Anweisungen zu Rechenoperationen entspricht womöglich einer seinerzeit konkreten Mitgliederzahl des Wolfenbütteler Okulisten-Ordens. Aus Geheimhaltungsgründen sind die chiffrierten Schriften für die gemeinsame Logen-Arbeit wohl am Versammlungsort der Loge aufbewahrt worden. Die Geheimhaltungsintention stützt auch die eingangs zitierte Anweisung von Prauns bei Übergabe des versiegelten Nachlasses an das Wolfenbütteler Archiv.

Zu Ritualen und Symbolen der Oculisten-Gesellschaft Die medizinischen Geräte der Okulisten-Loge - Starnadel, Epilationspinzette/Kornzange, Vergrößerungslupe, anatomisches Augenmodell, Lesebrille - haben bei ihrer im Einzelfall, wie bei der Starnadel, eingeschränkten ophthalmiatrischen Zweckmäßigkeit mutmaßlich vorrangig rituellen Zwecken der Logenarbeit gedient. M. Wiswe berichtet vom AufnahmeRitual der Freimaurer: 67 „Nachdem der „Suchende" sich in der „dunklen Kammer" noch einmal einer Selbstprüfung unterzogen... hat, wird er in einer rituellen Handlung mit den wesentlichen Symbolen des Lehrlingsgrades vertraut gemacht: Zirkel, Winkelmaß, Wasserwaage, Spitzhammer und 63

64

65 66 67

Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd 13, Leipzig 1889, Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe Deutscher Taschenbuch Verlag: München 1984, Sp. 2243: „2) die pupille, der augapfel, so genannt von dem spiegelbildchen (püppchen), das man von sich im auge des andern wahrnimmt [...]" Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung. Deutsche Ubersetzung nach der amerikanischen Ausgabe „The Greek Myths" 1955 von Hugo Seinfeld und Boris von Borresholm, 3 9 42. Tsd. Reinbek 1993 (= rowohlts enzyklopädie re 404), S. 97. Nieders. StA (wie Anm. 5) Bl. 18-35. Ebd. Bl. 73 f. Wiswe, Kelsch 1994 (wie Anm. 15) S. 23.

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auslotendes Senkblei sowie als Sinnbild der Arbeit an sich selbst dem „unbehauenen Stein". Es folgt die maurerische Einkleidung, zu der im 18. Jahrhundert die damals modische Festkleidung mit Zweispitz und Degen durch einen stilisierten Maurerschurz, das Logenbijou [Logenabzeichen] und weiße Handschuhe ergänzt wurde." Bei der Vorstellung eines Okulisten-Rituals fällt das zerlegbare Augenmodell als Sinnbild okulistischer Arbeit analog dem „unbehauenen Stein" unschwer ins Auge. Wegen der ophthalmologischen und aufklärerischen Intentionen des Geheimbundes verwundert nicht, daß das Auge als Symbol im Mittelpunkt steht, so vielfach auf dem Siegel, das als Typar 6 8 während der Logen-Sitzungen als Zeremonialgerät diente. 6 9 Das Typar aus Messing zeigt mittig einen geteilten Schild, dessen obere Hälfte eine Katze mit Mäusen ziert. Die Anordnung zweier auf ihren Hinterpfoten stehenden Katzen als Stützen des Wappenschildes entspricht analog angeordneten Löwinnen auf einem Frontispiz (wiedergegeben bei K. C. F. Feddersen 7 0 ) der zweiten Ausgabe von J . Andersons Constitutions, dem „ N e w B o o k of Constitutions" von 1738 7 1 . Α. F. von Veltheim hat für seine Logengründung 1740 mutmaßlich J . Andersons Constitutions von 1738 zu Rate gezogen, von deren Erstausgabe die deutsche Ubersetzung erst 1741 vorlag. Sie konnte auch die Vorlage zur Abfassung des Gesetzbuches der Oculisten-Gesellschaft abgeben. Das untere linke Viertel des Schildes auf dem Typar zeigt einen K o p f mit nach links gewandten verbundenen Augen (Verband beider Augen), das untere rechte eine Starnadel mit myrtenblattförmiger Spitze. Im Zentrum des Wappens befindet sich ein kleiner Schild mit einem linken Auge, das noch einmal in einem senkrechten Oval unterhalb des Wappenschilds erscheint. Als Helmzier über dem Wappen dient eine Adelskrone (gräflich mit drei Zacken) mit einer Brille (Kneifer). U m das Wappen verläuft die französische Inschrift „Heureux qui voit sans etre vu". A m Rande des Typars befindet sich in Großbuchstaben die Umschrift D E R O C U L I S T E N G E S E L L S C H A F T G R O S S E S I N S I E G E L mit einer fünfblättrigen Blüte bei 12 U h r als Teiler von Umschriftbeginn und -ende. Besonders auffällig ist die naturalistische, farbig emaillierte Abbildung je eines linken Auges auf grünem Untergrund auf insgesamt fünf hohlen senkrecht-ovalen Medaillons aus Messingblech (Bronze?), die während der Sitzungen alle Meister und Meisterinnen am „weiß gewässerten und mit einem grünen Rande versehenen . . . Gesellschaffts-Bande um den H a l s " trugen, „die ersteren aber überdem den Meister-Huth auf dem K o p f e " . 7 2 Die Sitzungen der Loge fanden an einem ovalen mit grünem Tuch bezogenen Tisch statt. Die vielfach verwendete Farbe Grün, die physiologisch das Sehen unterstützt, vor allem im Nahbereich - mit Ausnahme bestimmter Fehlsichtigkeiten - , und schon anfangs des 19. Jahrhunderts bei optischen Hilfsmitteln Verwendung fand, korrespondiert als Frühlingsfarbe u. a. mit der mythologischen Jungfrau Kore/Persephone. 7 3 Die goldene Inschrift auf

68

Nieders. S t A Wolfenbüttel (wie A n m . 47) 10 Slg 9.

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G e s e t z - B u c h der Hocherleuchteten Oculisten-Gesellschafft (wie A n m . 1) S. 13.

70

Klaus C . F. Feddersen, Constitutionen: Statuten und Ordensregeln der Freimaurer in England, Frankreich, Deutschland und Skandinavien. Eine historische Quellenstudie aus den Constitutionen der freimaurerischen Systeme, insbesondere zur religiösen und christlichen Tradition in der Freimaurerei. Herausgegeben von der freimaurerischen Forschungsvereinigung Frederik der G r o ß e n Landesloge der Freimaurer von Deutschland, Wiesbaden o. D . [1992?], S. 106.

71

Anderson 1738 (wie A n m . 30) Frontispiz.

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G e s e t z - B u c h der Hocherleuchteten Oculisten-Gesellschafft (wie A n m . 1) S. 12 f.

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Sie spielt als Viriditas, Grünkraft, eine hervorragende Rolle bei Hildegard von Bingen als positive, von G o t t verliehene kreative Eigenschaft der Sexualität; vgl. Aloys Henning, V o m Starstich zur Kataraktextraktion, Fakten und symbolische Paradigmen, in: Maria Teresa M o n t i (Hg.), Teorie della visione e problemi di percezione visiva nell'eta moderna, Milano 1995, S. 5 3 - 8 7 , hier S. 65 f.71.

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der weißen Medaillonrückseite „Heureux qui voit sans etre vu" - Glücklich, wer sieht, ohne gesehen zu werden, die gleiche, die auch den Wappenschild auf dem Typar umrandet, entspricht der Geheimhaltungstendenz des Ordens. Sie illustriert als Motto u. a. die Angabe, Augenkranken würde Hilfe geleistet, ohne daß diese der Kur gewahr würden 7 4 , so daß auch der Helfer ungesehen bliebe. Unklar ist, ob eine ledergefaßte, maskenähnliche Brille mit Fensterglas, die zum Wolfenbütteler Bestand gehört, 75 bei ophthalmiatrischen Manipulationen den Therapeuten für den Patienten unkenntlich machen (vgl. Seite 5) oder nur den uns unbekannten Zeremonien des Okulisten-Ordens dienen sollte. Das zitierte Motto auf der Rückseite des mutmaßlichen Medaillons des dirigierenden Meisters von Veltheim es ist etwas größer als die übrigen vier in Wolfenbüttel aufbewahrten 76 - ist fast unleserlich, weil durch häufigen Gebrauch abgewetzt. Die anderen können mangels (häufigerer) Benutzung neuwertig sein; mutmaßlich sind sie unbenutzt, weil sie für neue Mitglieder vorgesehen waren. „Betreffend die äusserliche Verfassung der Gesellschaft" unterscheidet das „Gesetzbuch" vier verschiedene Logen (Zusammenkünfte): 7 7 „Die ordinaire Loge bestehet aus Einen dirigirenden Meister, aus Einem Secretario, der die auswärtige Corrspondenz und allemahl das Protocoll führet, auch ein richtiges Verzeichniß aller Mitglieder solcher Loge hält, und das Archiv wie auch auch das Siegel in Verwahrung hat, Einen Ceremonien-Meister, der die Operation verrichtet, Einen Schaffner, der die Casse hat, und die Oeconomie besorget, auch die jungen Brüder belehret; Und diese müssen alle würckliche Meister oder Meisterinnen seyn. Ausser diesen werden auch noch 2. Gesellen und 2. Lehrlinge dazu erfodert [sie], welche letztere die Thür-Hüter sind, die Sicherheit der Loge besorgen, und die Fremden examiniren müssen. Die sämtlichen Aemter werden durch die meisten Stimmen gewählet. Des dirigirenden Meisters Ornat bestehet in einer Cocarde von dem weiß gewässerten und mit einem grünen Rande versehenen Gesellschafts-Bande, so er am Huthe trägt. Der Secretarius führet eine dergleichen Rose auf der lincken Brust. Der Ceremonien-Meister kleine Ermein von weissen Taffend mit grünen Tafft-Bande zusammen gebunden.78 Der Schaffner einen grünen seidenen kurzen Schurz mit weissen Tafft gefüttert und eingefaßt;79 Die ThürHüter haben Achsel-Bänder vom Gesellschafts-Bande. Und wie alle Meister und Meisterinnen in der Loge durchgehends das emaillirte Auge am Gesellschafts-Bande um den Hals, die ersteren aber überdem den Meister-Huth auf dem Kopfe tragen, also führen die Gesellen das Band um beyde Armen, und die Lehrlinge um den rechten Arm allein." Neben der „ordinairen" waren „Gesellen-Logen" laut „Gesetzbuch" vorgesehen, bei denen keine Lehrlinge zugelassen wurden, und „Meister-Logen" ohne Teilnahme von Gesellen. „Die grosse Loge" versammelte die „Meister und Meisterinnen" aller (Okulisten-) Logen an einen Ort. Sie sollte unter anderem die Gründung neuer Logen genehmigen. „Der Secretarius derselben fertiget das Diploma aus, so allemahl besiegelt seyn, und nur dieses zur Unterschrifft haben soll: Auf Special-Befehl der grossen L o g e . " 8 0 Die Zahlen Vier der Meister einer ordinären Loge bzw. Acht unter Einschluß der Gesellen und Lehrlinge widerspiegeln Mondsymbolik: Die Vier als Zahl der vier Mondphasen -

74 75 76 77 78 79 80

Gesetz-Buch der Hocherleuchteten Oculisten-Gesellschafft (wie Anm. 1) S. 5 f. Nieders. StA Wolfenbüttel (wie Anm. 53) 10 Slg 11. Ebd. 10 Slg 8. Gesetz-Buch der Hocherleuchteten Oculisten-Gesellschafft (wie Anm. 1) S. 12-16. Nieders. StA Wolfenbüttel (wie Anm. 53) 10 Slg 7. Ebd. 10 Slg 6. Gesetz-Buch der Hocherleuchteten Oculisten-Gesellschafft (wie Anm. 1) S. 15 f.

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Neumond, Vollmond, zu- und abnehmender Halbmond - beinhaltet (an den Grenzen der Schriftentstehung unseres Kulturkreises) als eine Art Staatswappen das sumerische Schriftzeichen N A M 2 - ähnlich einer senkrechten viersprossigen Leiter - vor Erfindung der Keilschrift auf Tontafeln aus Uruk III um 3300 v. Chr.; 8 1 es repräsentiert augenscheinlich die sumerische Mondgöttin und mächtige Muttergottheit Inanna, Vorläuferin der Astarte/Istar und der ägyptischen Isis. Sie ist als NAM 2 -gleiche Chiffre im Sistrum, der „Isisklapper" aus dem Isiskult des pharaonischen Ägyptens, verkörpert, das heute noch mit eindeutigem Mondbezug als Rhythmusinstrument „Sanasil" in der liturgischen Musik der äthiopischen Kirche verwendet wird. 8 2 Das Schriftzeichen N A M 2 ist zeichengleich mit dem chinesischen „mü" für Auge. Die Zahl Acht war bzw. ist als (doppelte) Mondzahl (Vier) vor allem in China hochgeschätzt als Zahl besonderer Harmonie. Im Buch der Wandlungen „I Ging" (Yijing, um 750 v. Chr.) wird der Mondzyklus in acht Phasen gegliedert, die mit acht nach binären Regeln zusammengesetzten Trigrammen gekennzeichnet sind 83 , von denen die vier für Voll- Neu- und beide Halbmonde in der südkoreaischen Fahne enthalten sind. In unserem Kulturkreis wurde im Mittelalter die Mondzahl Vier als halbierte Acht geschrieben, wobei das senkrecht gestellte Unendlichkeitssymbol unterhalb der Mitte durchtrennt ist, solcherart die halbe 8 von einer 0 unterscheidend. Dabei entsteht eine Schlaufe mit nach unten gerichtetem Knoten; sie wird aktuell als roter Anstecker aus Solidarität mit AIDS-Kranken getragen als (weibliches) Lebenssymbol bzw. als weißer in Spanien gegen die schwarze Destruktivität der mörderischen baskischen ETA-Separatisten. Auffällt, daß in allen Dokumenten dieser Gesellschaft das von den Freimaurern gewohnte ,männliche', nach oben weisende Dreieck, das die Zahl Drei als Sonnenzahl beinhaltet, in Verbindung mit der vielfachen Wiedergabe des symbolischen Monoculus fehlt. 8 4 Das Einauge verkörpert im androgynen göttlichen Symbol des barocken „Gottesauges" im ,trinitarischen' männlichen (Sonnen-)Dreieck 8 5 den weiblichen Aspekt. 8 6 Nach symbolgeschichtlichen Kriterien ist für das Entfallen des Dreiecks die Aufnahme weiblicher Mitglieder in die „Hocherleuchtete Oculisten-Gesellschafft" als ikonographischer Beweggrund anzunehmen, der den Schöpfern der Insignien des Okulisten-Ordens vermutlich nicht bewußt war. Die Okulisten-Loge unterschied sich so grundsätzlich von den Freimaurer-Bruderschaften.* 7 Derartige unbewußte ikonographische Veränderungen von

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Hans J . Nissen, Peter Damerow, R o b e r t K . Englund, Frühe Schrift und Techniken der Wirtschaftsverwaltung im alten Vorderen Orient, Informationsspeicherung und -Verarbeitung vor 5 000 Jahren, 2. Aufl. Bad Salzdetfurth 1991, S. 156.

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Aloys Henning, D e r männliche Blick? Zur weiblichen Metaphorik des Auges als Angst-Chiffre in der abendländischen Geschichte (ungedrucktes Manuskript). Das Sistrum liegt augenscheinlich auch unseren Kinderklappern zugrunde als Schutzamulett einer Muttergottheit für Säuglinge.

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Frank Fiedeler, Y i n und Yang. Das kosmische Grundmuster in den Kulturformen Chinas, 2. Aufl. Köln 1995 ( = Außereuropäische Kunst und Kultur, D u M o n t Taschenbücher 301) S. 7 6 - 1 0 5 .

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D a ß nach Dreyer-Wolfenbüttel 1922 (wie A n m . 3), S. 58, während der Sitzungen vom Meisterhut des Dirigierenden Meisters „das Ordenszeichen des Auges herabstrahlte", läßt ein solches Dreieck imaginieren, dessen E c k p u n k t e die realen Augen des Trägers dieses Meisterhuts mit dem Ordenszeichen am H u t bilden. D o c h befand sich dort kein Augenemblem, sondern eine „ C o c a r d e von dem weiß gewässerten und mit einem grünen Rande versehenen Gesellschaffts-Bande, so er am H u t h e trägt." Vgl. A n m . 76, S. 12 f. Dreyers Angabe beruht auf einer unkorrekten Wiedergabe dieses Zitats in: D e r neu-aufgesteckte Brennende Leuchter des Freymäurer-Ordens (wie A n m . 13) S. 448.

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gebildet aus Aufgangs-, Zenit- und Untergangspunkt der Sonne.

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Henning 1995 (wie A n m . 73) S. 67.

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Das dreieckig gefaßte „ G o t t e s a u g e " ziert auch die Erklärung der Menschenrechte in der französischen Revolution, die bekanntlich bei der Egalite die Gleichberechtigung der Frau weitgehend vergaß.

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Aloys Henning

komplexen Symbolen, bei denen die Bedeutung der einzelnen Chiffren, wie Dreieck und Auge, seit Jahrtausenden stabil ist, sind mit entsprechender Aufmerksamkeit vielfach zu beobachten. Sie sind in der Regel sichere Indikatoren für verdeckte und offenkundige Zusammenhänge, gut geeignet als Werkzeug für Historiographen.88 Die durch die ikonographische Freisetzung des Einauges vom umschließenden ,männlichen' Dreieck auf den Medaillons akzentuierte Gleichberechtigung von Frauen in der Okulisten-Loge macht die vom Freimaurer O. Dreyer-Wolfenbüttel gewählte Uberschrift „Ein freimaurerischer Geheimorden in Wolfenbüttel . . . " zu seinem Beitrag von 1922 (siehe Anm. 3) vollends zu einer irreführenden Vereinnahmung. Symbolisch ist die Oculisten-Gesellschaft mit ihrem Auge/Vier-Bezug das weibliche Pendant zur männlichen Sonne/Drei-Symbolik des Winkelmaßes der Freimaurer. Im monokularen Augen-Medaillon der „Oculisten-Gesellschafft" begegnet uns ein Prototyp der in der Kunstgeschichte bekannten „Augen-Porträts", deren Blütezeit von A.Schmidt-Burkhardt von 1780 bis 1830 datiert wird. Im Zeitalter der Empfindsamkeit waren Augen-Porträts vor allem bei Damen als Memorialbildnisse beliebt, die sie als Liebespfand ihren Freunden schenkten.89 Dabei wäre nach symbolgeschichtlichen Kriterien zwischen linken und rechten Augen zu unterscheiden. Die Medaillons der OkulistenLoge sind mit linken Augen versehen, während die Memorialbildnisse des Biedermeiers Porträts sowohl linker wie rechter Augen wiedergeben. Sie lösen beim Betrachter unterschiedliche Empfindungen aus.90 Die Symbolik von rechts und links ergibt unterschiedliche Wertungen des Symbols Auge, wobei links weniger,gesittet', aber auch auch weniger freundlich sein kann.91 Mit Blick auf die ethische Zielsetzung Selbsterziehung der Okulisten-Loge läßt sich „links" hier als Ausdruck moralischer Selbstkontrolle interpretieren. Zusamenfassend ist angesichts der Geschichte der Augenheilkunde im 18. Jahrhundert das Anliegen der Wolfenbütteler Oculisten-Gesellschaft ernstzunehmen92: durch Vermittlung von ophthalmiatrischem bzw. ophthalmologischem Fachwissen an moralisch verantwortungsbewußte Eingeweihte okulistischen Scharlatanerien zu Lasten von Augenkranken entgegenzuwirken und letzteren zu einer qualifizierten Behandlung zu verhelfen. Ob diese wirklich innerhalb der Loge vorgenommen werden sollte oder sogar wurde, ist aufgrund der vorgestellten Materialien nicht zu beantworten und eher unwahrscheinlich. Der mehrfache Verweis auf die leichte Hand (des Staroperateurs?) legt die Annahme nahe, daß Logenmitglieder selbst die Technik des Starstichs anwenden wollten, deren traditionelle Technik leicht manuell zu erlernen war. Sie war nur zu Zeiten der Wolfenbütteler Loge bereits medizinisch überholt. Die Veränderungen der Staroperation waren im Fluß. Welches Operationskonzept in der Oculisten-Gesellschaft bevorzugt wurde, ist nicht bekannt, u. a. deshalb, weil dies bewußt als Arcanum behandelt wurde. Die 88

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zu ,,fächerübergreifende[m] Vorgehen" für Historiker vgl. Caroline Walker Bynum, Fragmentierung und Erlösung, Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Große, Frankfurt am Main 1996 (= Gender Studies, Vom Unterschied der Geschlechter, edition suhrkamp, Neue Folge, Bd 731) S. 10. Astrit Schmidt-Burkhardt, Sehende Bilder. Die Geschichte des Augenmotivs seit dem 19. Jahrhundert, Berlin 1992, S. 19-45.26. Astrit Schmidt-Burkhardt, Blickkontakte. Eine kurze Kunstgeschichte des Auges, Hg. Christian Hartmann, Germering 1996. Vgl. Henning 1995 (wie Anm. 73) S. 67f.81; ders., Zu Auge und Geschlecht im Werk Pablo Picassos, in: 10 Jahre Julius-Hirschberg-Gesellschaft, Deutschsprachige Vereinigung für Geschichte der Augenheilkunde, Sitz: Wien, Gemeinsames Symposium mit der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft Heidelberg in Mannheim am 21. September 1996, Hg. Gert Struck, Manfred Tost, Halle 1996, S. 216-231, hier: 219-224. Die Ernsthaftigkeit ihrer ophthalmiatrischen Bemühungen, wenn auch nur im spekulativen Sinne, hat auch O . Dreyer (wie Anm. 3), S. 59, betont.

.Oculisten-Gesellschafft" zu Wolfenbüttel

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Arkandisziplin des opthalmiatrischen Wissensvorbehalts für die Mitglieder der OkulistenLoge entsprach freimaurerischen Denkmustern des 18. Jahrhunderts, die sich auf mittelalterliche Praktiken beriefen, welche im alchimistischen Zeitalter vor allem als hermetische Vorstellungen imponierten, bis sie u. a. mit der Entwicklung der Iatrochemie durch Paracelsus und seine Nachfolger von neuzeitlichen empirischen Erkenntnisprinzipien der N a turwissenschaften ersetzt wurden. Im 18. Jahrhundert verkörpern Vorstellungen von Arkandisziplin den überlebten Geist des alchimistischen Zeitalters, wie ebenso die absolutistische Raison fürstlicher Wissensvorbehalte, die der Wohlfahrt von Untertanen dienen sollte. Zur Unterbindung von Mißbrauch taugten beide nicht. 93 Unter den ,Heilkünstlern' kennzeichnete und kennzeichnet noch immer medizinische Scharlatane wesentlich die Beschränkung auf fachliche Halbbildung. 9 4 Sie .erleichtert' ihre Unternehmungen. Der rasche Wandel der Staroperationstechnik zwischen 1705 und 1750 95 und die damit einhergehende zunehmende Nachfrage nach qualifizierter ophthalmiatrischer Hilfe ermunterte nicht allein okulistische Konjukturritter zu ihrem überwiegend fahrenden Gewerbe, sondern anscheinend ebenso die Gründer der Okulisten-Loge, ophthalmiatrischen Mißbräuchen entgegen zu steuern. Eben dieser rasche Wandel machte mutmaßlich auch die opthalmiatrischen Ziele der Oculisten-Gesellschaft rasch gegenstandslos. Das praktische Arbeiten des „den Stein behauen" im Sinne der mittelalterlichen Dombauhütten spielte im 18. Jahrhundert für die Freimaurer keine Rolle mehr, auch nicht in ihren Konstitutionen. Im Unterschied dazu war das okulistische Thema, vor allem die Behandlung des Grauen Stars, zwischen 1700 und 1750 in praxi hoch aktuell. D a ophthalmiatrische „Arbeiten" für den Okulisten-Orden eine wesentliche konkrete Rolle spielten, wenigstens in seinem „GesetzBuch", war seiner Existenzberechtigung bald weitgehend der Boden entzogen. Die Jahresangabe 1753 im jüngstdatierten Dokument aus der Logenarbeit der Oculisten-Gesellschaft, ist das Erscheinungsjahr von J. Daviels Veröffentlichung zur neuartigen Kataraktextraktion. 96 Das neue opthalmologische Zeitalter war angebrochen. In Wolfenbüttel scheint vor allem das Logen-Interesse Veltheims auf Harbke, belegt durch vielfache Logen-Mitgliedschaften, für die Gründung und Existenz der OculistenGesellschaft ausschlaggebend gewesen zu sein. Veltheims frühere Gründung einer Loge zur waidgerechten Schnepfenjagd entzieht sich der Bewertung durch den Autor, der dafür über keine seinen augenärztlichen Kenntnissen vergleichbare Kriterien verfügt. Wesentlich ist, daß das Ermächtigungsschreiben der Berliner Oculisten-Gesellschaft für Veltheim zur Gründung der Wolfenbütteler Tochter-Loge außer einem Mehlsiegel mit den Insignien, die auch der Wolfenbütteler Oculisten-Gesellschaft dienten, keinerlei namentliche Unterschrift trägt. (Das Gesetzbuch der Oculisten-Gesellschaft sah wegen der selbstauferlegten Geheimhaltung auf Dokumenten zur Neugründung von Tochterlogen als beglaubigende Unterschrift ausdrücklich nur die anonyme „Auf Special-Befehl der grossen L o g e " vor. 9 7 ) Bei der Ausstellung zum 250jährigen Bestehen der Braunschweiger Logen 1995 im Braunschweiger Landesmuseum waren alle dort ausgestellten vergleichbaren Dokumente von Logen mit namentlichen Unterschriften versehen. 98 93

94 95 96

97 98

Vgl. Aloys Henning, Zu den Augenoperationen am Kantor und am Archidiakon von St. Thomas in Leipzig, Johann Sebastian Bach und Christoph Wolle, Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 17 (1998). Ebd. Henning 1994 und 1997 (wie Anm. 50). Jacques Daviel, Sur une nouvelle methode de guerir la Cataracte par l'extraction du Cristalin, in: Memoires de l'Academie Royale de Chirurgie, Bd 2, Paris 1753, S. 337-355. wie Anm. 80. Vgl. Wiswe, Kelsch 1994 (wie Anm. 15).

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A l o y s Henning

Daß sich bisher außer dem Berliner Ermächtigungsschreiben im Wolfenbütteler LogenNachlaß kein weiterer Hinweis auf die wirkliche Existenz einer Berliner Oculisten-Gesellschaft finden ließ, legt die Annahme nahe: Die Berliner Mutterloge zur Wolfenbütteler war eine Fiktion zur Legitimation der Veltheimschen Logengründung, es sei denn, die Berliner Oculisten-Gesellschaft hat bei realer Existenz noch weniger Bedeutung erlangt als die Wolfenbütteler und entsprechend keine Spur hinterlassen. Doch gilt mutmaßlich für das nicht unterzeichnete Berliner Ermächtigungsschreiben für Friedrich August von Veltheim: Ipse fecit. Bei insgesamt 15 für Berlin im 18. Jahrhundert ermittelten Okulisten", darunter der schon genannte, seit 1715 in Berlin niedergelassene Jean Blanc, fanden sich keinerlei Hinweise auf die Mitgliedschaft in einer „Oculisten-Gesellschafft", wohl aber Mitgliedschaften von Okulisten in Freimaurerlogen. So wurden am 2. Juni 1781 die Okulisten JeanFrancois und Denis Nicolas Pellier (geb. 1748 bzw. 1753 in Bar-le-Duc), Brüder des bekannten Okulisten Guillaume Pellier de Quengsy (1751-1835) 1 0 0 , bei ihrem BerlinAufenthalt der Loge „Royale York d'amitie" affiliert, der ältere als Meister, der jüngere als Geselle. Jean-Fran^ois war seit 1774 Mitglied der Loge „De la constance" in Arras. Denis wurde 1780, bei einer Rußlandreise der beiden Brüder, in Königsberg Mitglied der Loge „Drei Kronen", einer Tochterloge der Berliner Loge „Zu den drei Weltkugeln". 101 Der Vater der drei Brüder Pellier, Jean-Henri Pellier, ein Schüler Jacques Daviels, war Chirurg und Okulist in Bar-le-Duc und Metz. 1 0 2 In der gesamten Literatur zur Geschichte der Ophthalmologie im 18.Jahrhundert scheint neben der Wolfenbütteler Loge keine weitere derartige dokumentiert zu sein. Dazu finden sich die Namen der Mitglieder der Wolfenbütteler Oculisten-Gesellschaft ihrerseits in keinem medizinhistorisch bekannten ophthalmiatrischen Zusammenhang.

99 100

Henning 1993 (wie A n m . 22) S. 3 2 9 - 3 4 1 . Guillaume de Pellier schuf die erste moderne Operationslehre der Augenheilkunde: Precis ou Cours d'Operations sur la Chirurgie des Yeux, Paris 1789. Sie enthielt bereits die Idee des Hornhautersatzes durch eine Keratoprothese, die nach Angaben H . R e m k y s (vgl. A n m . 102) Denis Pellier als in Erlangen ansässiger Okulist 1792 erfolglos zu realisieren versuchte.

101

nach einer persönlichen Mitteilung von Karlheinz Gerlach v o m 1 6 . 4 . 1 9 9 6 . D i e Forschungen von K . Gerlach zur Geschichte der Freimauer in Preußen haben H . R e m k y (siehe A n m . 102) die Identifizierung von Denis Pellier ermöglicht; vgl. A l o y s Henning, Französische Okulisten in Deutschland: Le Blanc, Goullet, Daviel, Taverne, freres Pellier, in: 33 Beiträge zur Geschichte der Augenheilkunde/ 33 C o n t r i b u tions

a l'histoire

de l'ophtalmologie,

Hrsg. Julius-Hirschberg-Gesellschaft,

Societe

Francophone

d'Histoire de ^Ophthalmologie, Wien 1991, S. 3 - 1 4 , hier: 8 - 1 1 . 102

Vgl. Hans Remky, Les Freres Pellier et la Keratoprothese, C o m m u n i c a t i o n presentee ä la S F H O (Societe Francophone d'Histoire de l'Ophtalmologie) Reunion de Troyes, le 25 avril 1997 (ungedruckt, zitiert mit freundlicher Genehmigung des Autors).

P I E R R E - A N D R E BOIS, REIMS

Geheimbünde und Menschenrechte: die deutsche Freimaurerei im 18. Jahrhundert am Scheideweg zwischen Reaktion und Fortschritt I

Daß die Freimaurerei neue Freiräume eröffnet hat, wodurch ihr Standort in der Aufklärung als bürgerlicher Emanzipationsbewegung dokumentiert ist, ist seit langem bekannt 1 . Die neuere Forschung hat sie darüber hinaus ergänzend als einen der Hauptschauplätze der Debatte der Aufklärung 2 ausgewiesen. Innerhalb der Logen wütete die Schlacht zwischen „ L i c h t " und „Schatten", zwischen Rationalismus und irrationalistischen Tendenzen 3 , und diese oft äußerst scharfen Auseinandersetzungen wurden auch durch die Flut freimaurerischer Schriften an die Öffentlichkeit getragen. In diesem Sinne war der Gegensatz von „wahrer" und „falscher" Maurerei eine Expansion der Auseinandersetzung zwischen „wahrer" und „falscher" Aufklärung. Zentral waren in dieser Problematik zwei Grundfragen: was heißt Vernunft? Inwiefern ist „Aufklärung" auch für das „Volk" bestimmt 4 ? Die Gegensätzlichkeit der diesbezüglichen Positionen der deutschen Freimaurerei läßt sich nicht nur an der Vielfalt von Geheimbünden, die einander regelrecht bekriegten (wie ζ. B. die Rosenkreuzer und der Illuminatenorden) ablesen, sondern ist auch innerhalb eines jeden Geheimbundes nachzuvollziehen. D i e Goldenen Rosenkreuzer und die Deutsche Union sind vielleicht die einzigen geheimen Gesellschaften, denen man ohne Vorbehalt eine einheitliche ideologische Position zusprechen kann 5 . Was aber die Ideologie z . B . der Strikten Observanz 6 im Grunde war, läßt sich gar nicht eindeutig sagen. Selbst der als „radikalaufklärerisch" bezeichnete Illuminatenorden 7 wies mehr Gegensätze auf als oft wahrgenommen worden ist. Ein allgemeiner Abriß der Bedeutung der Geheimbünde in den Kämpfen der deutschen Aufklärung würde, sollte er nicht zu schematisch und pauschal ausfallen, mehr Zeit erfordern als der Rahmen eines Kolloquiumreferats es zuläßt. Ich werde von drei Fragen

1

S. R e i n h a n Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/ München 1959 (Neuauflagen Frankfurt/M.).

2

Vgl. u. a. Wolfgang Albrecht (Hg.), U m Menschenwohl und Staatsentwicklung. Textdokumentation zur deutschen Aufklärungsdebatte zwischen 1770 und 1850, Stuttgart 1995, S. 1 4 9 - 1 7 0 .

3

Pierre-Andre Bois, Geheimbünde im 18. Jahrhundert. D i e Aufklärung zwischen Licht und Schatten (im Druck).

4

Knigge schreibt ζ. B.: „Zu viel Aufklärung taugt nicht für niedre Stände": Ü b e r den Umgang mit Menschen, 1. Auflage, Hannover 1788 (Inhalt des zweyten Theils, 2. Kapitel, § 8).

5

Ü b e r die Rosenkreuzer s. Horst Möller, D i e G o l d - und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer antiaufklärerischen Geheimgesellschaft, in: Helmut Reinalter (Hg.), Freimaurerei und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa, Frankfurt/M. 1983, 4. Auflage 1993, S. 199-239. Ü b e r die Deutsche U n i o n s. Günter Mühlpfordt, u. a. Europarepublik im Duodezformat. Die internationale Geheimgesellschaft „ U n i o n " . Ein radikalaufklärerischer Bund der Intelligenz (1786-1796), in: Reinalter (wie oben, S. 3 1 9 - 3 6 4 ) und Radikale Aufklärung und nationale Leseorganisation. D i e Deutsche U n i o n von Karl Friedrich Bahrdt, in: O t t o Dann, Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981, S. 103-122.

6

Ü b e r die Strikte Observanz immer noch grundlegend R[ene] L e Forestier, La franc-ma^onnerie templiere et occultiste aux X V I I I ' et X I X e siecles, publie par Antoine Faivre, Paris/Louvain 1970 (Neudruck 1983). S. auch Antoine Faivre, L'esoterisme au X V I I I e siecle en France et en Allemagne, Paris 1973.

7

S. Richard Van Dülmen, D e r Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Stuttgart-Bad Cannstatt 1975 ( 2 1 9 7 7 ) .

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Pierre-Andre Bois

ausgehen, die Knigge, der 1786 die Geschichte der Freimaurerei verfaßte, wie folgt formulierte: „Was für Geheimnisse, was für Wahrheiten lehrt die Freymaurerey, und wie lehrt sie dieselben? Zweytens: was würkt sie in der Welt, und wie würkt sie es? Drittens: Wie alt ist sie? Welches ist die wahre Geschichte ihrer Entstehung?"8 Hiermit werden drei wesentliche Aspekte einer Grundfrage angesprochen: die Legitimation der Führungsinstanzen, die Kommunikationsverfahren und der Wirkungsbereich der geheimen Gesellschaften. Die These, die ich vorschlagen möchte, ist die Möglichkeit einer politischen Extrapolierung dieser Fragestellung: bei den internen Ordensdebatten ging es um die Beziehungen zwischen den Oberen und den anderen Brüdern und um die Aufgabe der geheimen Gesellschaften als vermittelnder Instanzen in einem Kommunikationsprozeß, der auch politisch interpretiert werden kann. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: als Franz Dietrich von Ditfurth auf dem Wilhelmsbader Konvent dem Herzog von Braunschweig offen ins Gesicht sagte, die Brüder könnten sich nicht länger mit einem bloßen Machtspruch über seine Legitimität als Chef der Strikten Observanz abspeisen lassen, steht viel mehr auf dem Spiel als die Frage, ob der Herzog weiterhin befugt sei, sich hochtrabend als Magnus Superior Ordinisper Germanium zu bezeichnen 9 . Das Problem der Macht und ihrer Ausübung bildet den eigentlichen Kern der Problematik der Menschenrechte. Die Aufklärung ist der Exponent einer Krise der Autorität, jedoch nicht ihres Prinzips, sondern ihrer Erscheinungsmerkmale in all ihren traditionellen Bereichen: Kirche, Staat, Schule u. a. m. Es ging nicht um die Frage, ob Autorität illegitim sei, sondern wie sie sich legitimierte. Und der Kampf um eine neue Legitimierung der Autorität ist nicht zu trennen von dem Anspruch der Menschen auf eine neue Bestimmung ihrer Rechte.

II Der Einbruch der sog. „schottischen" Hochgradsysteme in die deutsche Maurerei war von der Übernahme der sog. „Tempelherrnlegende" begleitet worden, die den Hintergrund der angeblichen Ordensgeschichte mehrerer Systeme bildete. Diese Legende war eine Neubelebung, d. h. im Grunde genommen eine Anpassung der Geschichte des ursprünglichen, im 14. Jahrhundert zerstörten Ordens der Tempelherren. Als der Großmeister des Ordens Jacques Molay in Paris auf dem Scheiterhaufen starb, habe er noch gerade genug Zeit gehabt, seinem Neffen „Geheimnisse" ins Ohr zu flüstern, die dann von Generation zu Generation weiter übermittelt worden seien. Was sie beinhalteten, wußte eigentlich niemand - es waren ja eben „Geheimnisse", aber jeder wollte wissen, daß sie Zugang zu „höheren Kenntnissen" verschafften, unter der Bedingung eines absoluten Gehorsams gegen „Unbekannte Obere", die keiner sehen konnte (sie waren ja „unbekannt") und deshalb aber renitenten Brüdern um so fürchterlicher erschienen. „Höhere Kenntnisse", „Unbekannte Obere", „blinder Gehorsam": Es ist kein Zufall, daß die Rosenkreuzer, die sich die Bekämpfung des Rationalismus zur Hauptaufgabe 8

9

Adolph von Knigge, Beitrag zur neuesten Geschichte des Freymaurerordens in neun Gesprächen, mit Erlaubnis meiner Obern herausgegeben, Berlin 1786, S. 160. Ditfurths Bericht, zit. in: Ludwig Hammermayer, Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782. Ein Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte der deutschen und europäischen Geheimgesellschaften, Heidelberg 1980, S. 119 f.

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gemacht hatten, mit der Tempelherrnlegende über ein vorzügliches Herrschaftsmittel verfügten. Was die „höheren Kenntnisse" seien, konnte nicht präzisiert werden, wohl aber gegen welche Art von Kenntnissen sie gerichtet waren. Kant mußte es persönlich erfahren, als er auf das vom Rosenkreuzer Wöllner erlassene Religionsedikt verwiesen wurde und das Verbot erhielt, über Religion anders zu schreiben, als die kirchliche Orthodoxie es für richtig hielt. Die Legende der „Unbekannten Oberen" wurde also als Druckmittel auf einen leichtgläubigen König angewandt, um ihm einen Beschluß gegen das Recht auf freie Äußerung über Religionsfragen abzuringen. Die Tempelherrnlegende war auch von der Strikten Observanz übernommen worden. Die Strikte Observanz dominierte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahezu die Gesamtheit der deutschen Maurerei, obwohl sie nicht als „reguläre" Obedienz entstanden war. Wenn dieser Orden auch nicht die antiaufklärerischen Ziele der Rosenkreuzer verfolgte, so bildete diese Fabel jedoch, zusammen mit dem versprochenen Zugang zu „höheren Kenntnissen", den Sockel seiner Herrschafts- und Führungsstruktur. Knigge hat diese Geschichte in einem Buch aufgezeigt, das heute noch als eine der besten Darstellungen über die Strikte Observanz (der er selber angehörte) gelten kann 10 . Er sah in der Übernahme der Tempelherrnlegende einen der wichtigen Gründe für den Verfall der deutschen Maurerei in den achtziger Jahren und hob auch hervor, daß die Oberen, dadurch, daß sie „unbekannt" seien, sich jeder Kontrolle entziehen konnten und immer wieder versucht waren, „eigennützige" oder gar gefährliche Zwecke zu verfolgen. Auf diesen Vorwurf wird er immer wieder zurückkommen". Die Strikte Observanz war zu Beginn der achtziger Jahre in einem desolaten Zustand. Die Brüder wußten weder, woher sie kam noch wohin sie gehen sollte. Um diese Grundfragen zu klären, trat im Sommer 1782 ein Konvent in Wilhelmsbad zusammen 12 . Eingeladen wurden auch Vertreter anderer Systeme. Ohnehin waren mehrere Mitglieder der Strikten Observanz auch Mitglieder anderer Geheimbünde, so Ditfurth, der auch dem Illuminatenorden angehörte (was man aber in der Strikten Observanz nicht wußte). Seine oben zitierte Antwort an den Herzog von Braunschweig bezog sich auf eine der Fragen, die der Konvent zu lösen hatte: die Frage nach dem tatsächlichen Ursprung des Ordens, eng verbunden mit der Frage nach der Legitimation der Macht der Oberen. Daß die Strikte Observanz erst um 1750 gegründet worden war, war den Brüdern unbekannt, und sie verlangten von Ferdinand von Braunschweig eine Legitimierungsurkunde - und schließlich mußte dieser zugeben, daß er keine besaß. Das Interessante an der Antwort Ditfurths ist, daß sie den Herzog nicht nur als einen Lügner bezeichnet, sondern als jemand entlarvt, der seine Lügen hinter seiner ständischen Herkunft maskiert. Der Kern der Debatte betraf also nicht so sehr das Alter des Ordens wie die Frage, ob die Freimaurerei eine „Fürstenmaurerei" bleiben solle oder nicht. Dies war auch der Vorwurf Knigges gegen die Strikte Observanz, und es war auch der Vorwurf Lessings in dem vierten Gespräch für Freimaurer - weshalb es auch vorerst nicht im Druck erscheinen durfte.

10 11

12

Knigge, Beitrag (wie Anm. 8). U.a. in Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg, Frankfurt/M. 1787, in Philo's endliche Erklärung und Antwort, auf verschiedene Anforderungen und Fragen, die an ihn ergangen, seine Verbindung mit dem Orden der Illuminaten betreffend, Hanover 1788 und in Über den Umgang mit Menschen (wie Anm. 4). Über Knigges freimaurerische Laufbahn S. Pierre-Andre Bois, Adolph Freiherr Knigge (1752-1796). De la „nouvelle religion" aux Droits de l'Homme. L'itineraire politique d'un aristocrate allemand franc-ma9on ä la fin du dix-huitieme siede, Wiesbaden 1990 (Wolfenbutteier Forschungen, Bd. 50). S. Hammermayer (wie Anm. 9).

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Daß der Konvent von Wilhelmsbad über die Aufgaben der Maurerei zu keiner Einigung kommen konnte, ist nicht eigentlich das Wichtigste. Von größerer Bedeutung ist, daß die Freimaurerei einer der Orte war, wo man über die Legitimation der fürstlichen Macht debattierte. Nicht dem Fürsten als solchem wurde von einigen Maurern der Prozeß gemacht, sondern dem Ursprung ihrer Macht. In diesem Sinne wurde eine Frage angesprochen, die einen zentralen Platz in der Diskussion um die Menschenrechte einnahm. Man möchte meinen, daß der Illuminatenorden in diesem Punkt „fortschrittliche" Positionen vertrat. Jedoch muß man einräumen, daß die Struktur des Ordens die Anonymität ihrer Chefs weitgehend wahrte. Daß hiermit eine Schutzfunktion verbunden war, liegt auf der Hand. Es ermöglichte aber auch, die Macht der führenden Brüder innerhalb des Ordens zu schützen: man braucht nur die Formulare und die Fragebögen zu studieren, die die angehenden Illuminaten zu lesen und auszufüllen hatten, um davon überzeugt zu sein. Aber der Illuminatenorden darf nicht als eine abseits von der übrigen Maurerei stehende Gesellschaft betrachtet werden. In allen Systemen war Debatte wichtiger als Einigkeit. Die Uneinigkeit des Konvents widerspiegelte eigentlich die Uneinigkeit der gesamten deutschen Freimaurerei, die selbst ein Aspekt der Aufklärungsdebatte war.

III Ein wesentliches Element in der Vorstellung der geheimen Gesellschaften von dem K o m munikationsprozeß war das Geheimnis. Es erfüllte nicht nur eine Schutzfunktion nach außen und im Inneren der Orden. Es sollte darüber hinaus dem elitären Charakter der Ordenslehre und ihrer Verbreitung Rechnung tragen. Nicht alle Freimaurer (und schon gar nicht alle Illuminaten) wurden über die letzten Ziele ihrer Gesellschaft unterrichtet 13 . U n d die Leser eines „maurerischen" Romans, waren sie mit der Symbolsprache nicht vertraut, konnten seine Botschaft auch nicht verstehen. Elitär waren die Geheimbünde schon durch ihre soziale Zusammensetzung. Weder Handwerker, geschweige denn Bauern waren darin vertreten, dafür aber viele regierende Fürsten und aufgeklärte Adlige, Gelehrte, Kaufleute und Offiziere. Diese Sozialstruktur entsprach dem Aufklärungsprojekt, insbesondere seine Einbindung in die Belange des spätabsolutistischen Staates. Aufklärung war auch ein Projekt der Fürsten, was nicht vergessen werden darf. N u n kennzeichnet sich die Aufklärung durch ihr Mißtrauen gegen den sog. „Pöbel". Die Illuminaten und die Deutsche Union sind die einzigen Geheimbünde, die für eine Aufklärung des Volkes plädierten. Die aufgeklärten Elemente der Strikten Observanz gaben sich mit einer Beratungsfunktion zufrieden. U n d die maurerischen Ideale wurden oft genug in ein esoterisches Gewand gehüllt - siehe Goethe und siehe Mozart. Sie wurden als „Geheimnisse" vorgeschlagen, die nicht jedem zugänglich sein sollten. Die Frage nach dem Stellenwert des maurerischen Geheimnisses entfernt uns nicht von unserem Thema. Das Problem der Menschenrechte involviert auch das Problem ihrer Verkündung. Der Ausdruck „Menschenrechte" bzw. „Rechte der Menschheit" findet sich erstmals in den Heften der Illuminaten 14 . Gerade die Tatsache, daß der eine Chef des 13

14

In dieser Hinsicht ist die These einer „Verschwörung der Illuminaten gegen Throne und Religion" besonders widersinnig: wenige Brüder wurden in die höheren Grade aufgenommen, wo man - zur N o t - Ansätze zu einer „Beschuldigung" finden könnte, unter der Voraussetzung, einige Formeln aus ihrem Kontext zu lösen. Vgl. die Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminatos Dirigentes, in: Nachtrag von weiteren Originalschriften, welche die Illuminatensekte überhaupt, sonderbar aber den Stifter derselben A d a m Weishaupt, gewesenen Professor zu Ingolstadt betreffen, und bey der auf dem Baron Bassusischen Schloß zu Sanders-

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Illuminatenordens, Knigge, sich einige Jahre nach seinem Austritt aus dem Orden zur offenen Verteidigung der Menchenrechte bekannte, wirft die Frage der Politisierung des freimaurerischen Engagements auf. Und die Poltisierung geht einher mit einer Absage an das Geheimnis als Vermittlungsverfahren. Am Ende seines Lebens (1796) wollte Knigge eine „öffentliche Verbindung" schaffen, welche sich für die Verbreitung eines politischen Modells einsetzen sollte. Als er sein Manifest einer nicht geheimen, sondern sehr öffentlichen Verbindung [...] an ihre Zeitgenossen15 veröffentlichte, bildete der „geheime" Charakter der freimaurerischen Gesellschaften den Kernpunkt der von der reaktionären Publizistik verbreiteten „Verschwörungstheorie". Durch die Anwendung des Wortes „Verbindung'' bindet Knigge seine Absicht in sein früheres Engagement als Geheimbündler ein. Er bezeichnet seine neue „Verbindung" als „öffentlich" und bekennt damit, daß der Adressat seiner Botschaft nicht mehr aus einer engen Schicht Eingeweihter bestehen soll. Sein Adressat ist das „Volk" auch wenn die Ideale, die er öffentlich verteidigen will - „Wahrheit" und „Rechtschaffenheit" - in der moralisch-aufgeklärten Sprache des Zeitalters eingekleidet sind. Daß sie für ihn politische Relevanz besitzen, wird durch den Zusatz „ächter Freunde der bürgerlichen Ordnung" ausgedrückt: Knigge hebt ihre politische Aussagekraft hervor, insofern als die Geheimbündler gerade als feinde der bürgerlichen Ordnung" dargestellt wurden, ζ. B. in Hoffmanns Zeitschrift Eudämonia. Das Manifest kam einer offenen politischen Kampfansage gleich - ungeachtet dessen, daß das Buch jedoch anonym erschien und, wie Frau Reimarus, an die Knigge ein Exemplar geschickt hatte, notierte, nur den „Eingeweihten" verständlich sein könne 16 . Hier ist die äußere Schutzfunktion evident. Die „ ö f f e n t l i c h e " Verbindung mußte sich vor dem Zugriff der Behörde schützen, in diesem Sinne sollten nur einige in ihre Konstituierung „eingeweiht" werden. Aber ihre Botschaft sollte für alle sein. Übrigens vermochte es die Wiener Hofpolizeistelle ziemlich schnell, den Autor zu eruieren. Daß man sich im fernen Osterreich für Knigge interessierte, zeigt wohl die Furcht vor der Tragweite seiner Absichten. Knigges Manifest brach also mit dem freimaurerischen Tabu des Geheimnisses als esoterisch gekleideter Vermittlung17. Knigges Buch war nicht mehr in einer symbolischen Sprache abgefaßt, sondern knüpfte in einer für jeden Leser unmißverständlichen Weise an die politischen Grundthemen der Zeit an - d. h. an Themen, die ihre Aktualität aus den Debatten um die Französische Revolution bezogen. Höchst aktuelle und politische Themen also. Und Knigge bekannte Farbe. Er entwickelte den Gedanken eines auf dem Sozialvertrag aufgebauten Staates. Das Gesetz gehe aus Volkssouveränität und Mehrheits-

dorf, einem bekannten Illuminatenn-Neste, vorgenommenen Visitation entdeckt, sofort auf Churfürstlich höchsten Befehl gedruckt, und zum geheimen Archiv genommen worden sind, um solche jedermann auf Verlangen vorlegen zu lassen, 2 Abtheilungen, München 1787, II, S. 4 4 - 1 2 1 . S. auch Allgemeine Ordensstatuten, nach einem heute verlorenen Original zit. von Leopold Engel, Geschichte des Illuminaten-Ordens. Ein Beitrag zur Geschichte Bayerns, M ü n c h e n 1906. 15

[Adolph von Knigge], Manifest einer nicht geheimen, sondern sehr öffentlichen Verbindung ächter Freunde der Wahrheit, Rechtschaffenheit und bürgerlichen Ordnung an ihre Zeitgenossen, Wien [=Braunschweig] 1796.

16

Sophie Reimarus an Knigge, 4. D e z e m b e r 1795, zit. in: H[ermann] Klencke, Aus einer alten Kiste. O r i g i nalbriefe, Handschriften und D o c u m e n t e aus dem Nachlaß eines bekannten Mannes, Leipzig 1853, S. 149.

17

Johannes Rogalla von Biberstein, Geheime Gesellschaften als Vorläufer politischer Parteien, in: Peter Christian L u d z (Hg.), G e h e i m e Gesellschaften, Heidelberg 1979 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung V / 1 ) , S. 433 f.

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prinzip hervor. Jeder Leser konnte sich an die Geschichte der Aufklärung in Ahyssinien18 erinnern, in der er sie zum ersten Mal öffentlich vorgetragen hatte, und an Wurmbrands politisches Glaubensbekenntnis^, das er 1792 sogar unter seinem eigenen Namen veröffentlicht hatte. Knigge stellte auch eine Analyse des „unseligen Despotismus" 20 vor, die in manchem Punkt diejenige widerspiegelte, die in der Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminatos Dirigentes21, einem Grunddokument der illuminatischen Ideologie, enthalten war. Dort konnte man lesen: „Die Freiheit hat den Despotismus hervorgebracht, der Despotismus führt zur Freiheit zurück"22. „Despotismus" bezeichnet aber nicht ein System, sondern eine Praxis. Die Illuminaten stellten sich zwar die Möglichkeit eines Staates ohne Fürsten vor, für sie war aber dieser ideale Zustand noch in weiter Ferne. Ihre Taten beschränkten sich auf den Versuch einer Durchsetzung des Staatsapparats (ζ. B. des Münchner Zensurkollegiums), um den Idealen der Aufklärung zum Durchbruch zu verhelfen. Sie haben nie „konspieriert", sie haben am spätabsolutistischen Reformprojekt mitwirken wollen.

IV Denkt man an das Gleichnis des Tempelbaus in den Wahlverwandtschaften, so muß man also eine bedeutende Wandlung des Stellenwertes des Geheimnisses feststellen. Goethe ging es um die persönliche Bildung des Menschen in einem eng abgesteckten bürgerlichen Rahmen. In dieser Hinsicht ist Knigge kaum fortschrittlicher. Auch er haßt den „Pöbel", den er mit Schrecken am Werk bei den Septembermorden von 1792 sieht. Aber die Verantwortung für dieses „Abgleiten" trägt nicht das Volk (auch nicht der „Pöbel"), sondern tragen die Fürsten und die Aristokraten. Erstere haben die Revolution notwendig gemacht, letztere tragen die Schuld an der Abweichung ihres wünschenswerten Kurses. Man vergißt übrigens zu leicht, daß Goethe auch den Fürsten eine gewisse Schuld am Ausbruch der Revolution gab - obwohl er dies erst später eindeutig formulierte. Die soziale und politische Funktion des Bildungsprozesses ist bei ihm ζ. B. in den Lehrjahren auch vorhanden, aber sie wird nicht in der Form eines politischen Kampfes vorgetragen. Knigge hingegen führt einen Kampf. Dabei bleibt er dem Kern seines früheren Engagements in der Freimaurerei treu. Er hatte sie zwar angeblich 1787 verlassen, ohne jedoch vollständig mit ihr zu brechen. In der Französischen Revolution hatte er die konkrete gesellschaftliche Veränderung erkannt, die die Freimaurerei nicht hatte durchsetzen können. Daß er dabei die monarchische Staatsordnung akzeptiert, liegt nicht nur an seiner Stellung als hoher hannoverscher Beamter, wie ihm gelegentlich (auch in der neueren Forschung) unterstellt wird. Die Erfahrung der revolutionären Ereignisse (Schreckensherrschaft und Krieg) haben ihn realistischer gestimmt. Er träumt nicht von einer „königslosen" Zukunft, er gibt sich mit einer konstitutionellen Staatsordnung zufrieden23. Aber der Kern seiner Überzeugung blieb dabei erhalten: die Zeiten einer unkontrollierten Fürstenmacht sind vorbei. Diese 18

Adolph von Knigge, Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien, oder Nachricht von seinem und seines Herrn Vetters Aufenthalte an dem Hofe des großen Negus, oder Priester Johannes, 2 Theile, Göttingen 1791.

19

Adolph von Knigge, Josephs von Wurmbrand, kaiserlich-abyssinischen Ex-Ministers, jetzigen Notarii Caesarii publici in der Reichsstadt Bopfingen, politisches Glaubensbekenntnis, mit Hinsicht auf die Französische Revolution und deren Folgen, Frankfurt und Leipzig [=Hannover] 1792.

20

Manifest (wie Anm. 15), S. 19.

21

Anrede (wie Anm. 14).

22

Anrede (wie Anm. 14), 11,61.

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Position muß als fortschrittlich angesehen werden - sollte doch Deutschland erst im 19. Jahrhundert seine ersten Verfassungen erhalten, und sie waren ohnehin alles andere als „demokratisch". Hier ist der Ort, ein Miß Verständnis auszuräumen. Knigge wurde in den sechziger Jahren und zu Beginn der siebziger Jahre als „Jakobiner" bezeichnet. Hiermit sollte als bewiesen gelten, daß er eine Revolution in Deutschland wünschte. Die Forschung hat sich heute von der Anwendung des Jakobinerbegriffs auf Deutschland zu Recht weitgehend distanziert. Knigge hat nicht eine Revolution in Deutschland gewünscht, er hat ganz im Gegenteil die deutschen Fürsten davor gewarnt. Im Manifest spricht er von den Zuständen im revolutionären Frankreich als von einer „fürchterlichen Anarchie" 2 4 . Aber anstatt die Ideale der Revolution (die er immer in der ersten französischen Verfassung verkörpert sah) zu verurteilen, hat er versucht, die Fürsten und das gebildete Bürgertum zur Mitwirkung an einer fälligen Modernisierung des staatlichen Kommunikationsprozesses zu bewegen. Der Kampf gegen den „unseligen Despotismus" ist kein Kampf gegen die Fürsten, sondern ein Kampf gegen eine unkontrollierte Macht. Es war der Kampf, den einige Maurer schon innerhalb ihrer Gesellschaften führten. Knigges Beispiel zeigt, daß die Freimaurerei am Ende des 18. Jahrhunderts an einem Scheideweg stand. Einerseits Wöllner, der Reaktionär, andererseits Knigge - wir hätten auch Bahrdt erwähnen können, der ζ. B. in der Frage der Beziehungen zwischen Staat und Kirche viel weiter ging als die meisten Aufklärer 2 5 , und der eben als Wöllners Opfer starb. Schließlich ging die Freimaurerei einen Mittelweg, der der Reaktion näher stand als dem Fortschritt, ohne daß man jedoch behaupten kann, daß die Fortschrittsidee von ihr völlig vergessen wurde. In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts erfolgte die sog. „Schrödersche Reform", die sich zwar an die Ideale einer toleranten Freimaurerei hielt, jedoch gleichzeitig dem Zugriff der fürstlichen Macht freie Bahn ließ. So konnten ζ. B. die H o henzollern in Preußen die Freimaurerei unter ihren Schutz stellen: damit ist viel gesagt. Aber das ist eine andere G e s c h i c h t e . . .

23

Vgl. Knigges Artikel: U e b e r die Ursachen, warum wir vorerst in Teutschland wohl keine gefährliche politische Haupt-Revolution zu erwarten haben, in: Schleswigsches Journal, Bd. 2 , 1 7 9 3 , S. 2 7 3 - 2 9 0 .

24

Manifest (wie A n m . 15), S. 28.

25

Ü b e r ihn die grundlegenden Forschungen Mühlpfordts, u.a. Bahrdt und die radikale Aufklärung, in: J a h r b u c h des Instituts für deutsche Geschichte, Tel Aviv 5 / 1 9 7 6 , S. 4 9 - 1 0 0 und Karl Friedrich Bahrdt als radikaler Aufklärer, in: J a h r b u c h für Geschichte des Feudalismus, Berlin 1/1977, S. 4 0 2 - 4 4 0 ; s. auch D e u t sche Präjakobiner. K . F. Bahrdt und die beiden Forster, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 16/1980, S. 9 7 0 - 9 8 9 .

WOLFGANG ALBRECHT, WEIMAR

Illuminatismus redivivus? Revolutionsfeindliche Publizistik im Bann überkommener Verschwörungsphantasmen Die Politisierung der deutschsprachigen Literatur im Vormärz führte bei Ausbruch der Bürgerlichen Revolution des Jahres 1848 folgerichtig zu einem Höhepunkt kontroverser publizistischer Auseinandersetzungen. Seitens der Revolutionsgegner trat schärfer als zuvor ein Phänomen hervor, das bislang kaum wissenschaftliches Augenmerk gefunden hat. Sie bedienten sich, statt aktualitätsgerichtete Analyse zu betreiben, altüberkommener konterrevolutionärer und gegenaufklärerischer Erklärungsschemata aus dem Zeitalter der Französischen Revolution. Vornehmlich aufgegriffen wurden Verschwörungs- und Drahtziehertheoreme, denen zufolge geheimbündnerisch - besonders im Illuminatenorden und in Freimaurerlogen - organisierte Aufklärer weltweit miteinander gegen die Throne und Altäre konspirierten und um egozentrischen Herrschaftsbestrebens willen die Französische Revolution herbeigeführt hätten. 1 Erweckt wurde der Anschein, das vorgeblich alle Staatsfeinde bis hin zu den Kommunisten einende Freimaurertum sei eine Art Illuminatismus redivivus. Exemplarisch für die Wiederaufnahme und Neubelebung solch unzulänglicher Deutungsstereotype für politisch-soziale Gesellschaftsprozesse und Krisenerscheinungen seit dem späten 18. Jahrhundert ist eine Heftreihe, bestehend aus Einbogendrucken des Titels „Zur Aufklärung der großen Freimaurer-Lüge: daß in den Logen weder Politik noch Religion betrieben werde". Die Reihe begann im Juli 1848 ohne Ortsangabe zu erscheinen und endete 1852 mit Nummer 29. Der nicht genau zu ermittelnde Herausgeber und Verfasser 2 reaktivierte nahezu alle geläufigen gegenaufklärerischen Argumentationen und Strategien aus dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts; das heißt aus den Jahrzehnten, während denen die deutsche Gegenaufklärung sich als eine neuartige Gegenbewegung zur (europäischen) Aufklärungsbewegung formiert hatte. 3 Angewandt wurde das erprobte pseudo-objektive Verfahren, Dokumente sprechen zu lassen. Dies bedeutete aber, mehr oder weniger vom Kontext isolierte Zitate sowie Textauszüge vorzulegen und tendenziös zu kommentieren. Auswahl und Kommentare folgten 1

Grundlegend darüber Johannes Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776-1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Flensburg 1992 (zuerst: Bern, Frankfurt/M. 1976). An wichtiger Spezialliteratur seither ist zu nennen: Hans-Wolf Jäger, Die These von der rhetorischen Verschwörung zur Zeit der Französischen Revolution. In: Text & Kontext 9,1981, Η. 1, S. 47-55; Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hg.): Geheimgesellschaften und der Mythos der Weltverschwörung, München 1987; A m o s H o f m a n , The origins of the theory of the philosophe conspiracy. In: French History 2,1988, S. 152-172.

2

Genannt wird der N a m e Didier bei Bernhard Beyer (Hg.), Bibliographie der freimaurerischen Literatur. Ergänzungsbd. 1, Leipzig 1926, S. 348, Nr. 7990. Dort auch die Angabe, daß die Heftreihe ab N u m m e r X I I I (1848) ohne Ortsnennung in Berlin erschien. Meine nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Hefte I—XII (im fortlaufenden Text zitiert mit römischer Heft- und arabischer Seitenangabe), die ungefähr während des Revolutionszeitsraumes herauskamen.

3

Vgl. Wolfgang Albrecht und Christoph Weiß, Einleitende Bemerkungen zur Beantwortung der Frage: Was heißt Gegenaufklärung? In: Christoph Weiß und Wolfgang Albrecht (Hg.): Von ,Obscuranten' und ,Eudämonisten'. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997, S. 7-34. Auf der Einleitung und den weiteren Beiträgen dieses Sammelbandes beruhen die Ausführungen zur Gegenaufklärung im vorliegenden Aufsatz.

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Wolfgang Albrecht

sämtlich der erklärten Grundabsicht: „Wir wünschen durch solche Früchte der FreimaurerBundesglieder die Aufmerksamkeit aller Biedermänner auf diese neben den Thronen wuchernde geheim-verschworene Macht hinzurichten." (III, 1) Und zwar mit dem Endziel, diese Macht zu vernichten. Dementsprechend wurde sie genuin gegenaufklärerisch sittlich diskreditiert und des schlimmsten staatsbürgerlichen Vergehens, des umstürzlerischen Hochverrats geziehen vermittelst der Behauptung: „Daß der Freimaurer-Bund das größte und fluchwürdigste Lügensystem ist, welches die Welt je gesehen! und [...] daß die erste französische Revolution nur von den Freimaurern gemacht wurde, in welcher Schilderung Sie [die angeredeten Leser - W. Α.] die Revolution von 1848 wie in einem Spiegel sehen werden." (1,16) So wie 1789 sollten die Verschwörungslegenden und die ostentativ gutmeinenden Warnungen der Gegenaufklärer oder Konservativisten durch den Revolutionsausbruch bestätigt sein. Und mehr noch. So wie einst eine 1787 erfolgte Reise deutscher Illuminaten, mit Johann Joachim Christoph Bode 4 an der Spitze, wurde nunmehr ein Treffen französischer und deutscher Freimaurer ausgedeutet, die „im Mai 1847 den europäischen FreimaurerCongreß in Straßburg besucht und dort die Revolution von 1848 berathen haben eben so wie auf 2 Congressen 1785 u. 1788 die erste französ. Revol. in Paris berathen wurde" (II, 16). Zum Beweis herangezogen wurden einerseits unter anderem Ausführungen des französischen Verschwörungstheoretikers Augustin Barruel 5 (in Heft II) und aufklärerische Kritiken am Aufklärungsbund Deutsche Union 6 (in Heft IX und X); andererseits beispielsweise Verse von Ferdinand Freiligrath, über die es sinnverkürzend heißt: „Der Dichter verflucht im Eingange unsern König und Herrn, wünscht seinem Haupte ein Blutgerüst zum letzten Athemzuge [...] und läßt endlich alle Throne in Flammen aufgehen!" (III, 2) Ausgangspunkt von Freiligraths Gedicht „Die Toten an die Lebenden" ist aber die brutale militärische Konterrevolution: Die Kugel mitten in der Brust, die Stirne breit gespalten, So habt ihr uns auf blut'gem Brett hoch in die Luft gehalten! Hoch in die Luft mit wildem Schrei, daß unsre Schmerzgebärde Dem, der zu töten uns befahl, ein Fluch auf ewig werde! Diesem Verantwortlichen der Massaker, dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV., werden die Ermordeten als Ankläger und Mahner noch im Tode erscheinen,

4

Bode (1730-1793) war einer der führenden Illuminaten in Thüringen, wo sich - konzentriert auf Weimar und Gotha - der Illuminatenorden nach seiner Zwangsauflösung in Bayern (1785) noch einige Jahre forterhielt; vgl. W. Daniel Wilson, Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars, Stuttgart 1991. Bodes Reisetagebuch liegt inzwischen im Erstdruck vor; Johann Joachim Christoph Bode, Journal von einer Reise von Weimar nach Frankreich. I m J a h r l 7 8 7 . H g . sowie mit einer Einleitung, Anmerkungen, einem Register und einem dokumentarischen Anhang versehen von Hermann Schüttler, München 1994. Der Zweck der Reise war, wie nun außer Zweifel steht, die Anwerbung französischer Freimaurer für die Illuminaten, nicht aber die Vorbereitung eines revolutionären Umsturzes.

5

Augustin Barruel, Memoires pour servir ä l'Histoire du Jacobinisme, Bd. 1-4, London 1797-98. Weitere Drucke und Ubersetzungen verzeichnet Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung (wie Anm. 1), S. 194 f., Darlegungen zu dem Buch ebd, S. 75-79. Vgl. auch Sylva Schaeper-Wimmer, Augustin Barruel, S. J. (1741-1820). Studien zu Biographie und Werk, Frankfurt/M., Bern, New York 1985. [Johann Joachim Christoph Bode und Georg Joachim Göschen], Mehr Noten als Text oder die Deutsche Union der Zwey und Zwanziger eines neuen geheimen Ordens zum Besten der Menschheit. Aus einem Packet gefundener Papiere zur öffentlichen Schau gestellt durch einen ehrlichen Buchhändler, Leipzig 1789.

6

Revolutionsfeindliche Publizistik und Verschwörungsphantasmen

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Mög' er das Haupt nun auf ein Bett, wie andre Leute pflegen, Mög' er es auf ein Blutgerüst zum letzten Atmen legen!7 Es klingt eine Erinnerung an die Hinrichtungen Karls I. von England und Ludwigs XVI. von Frankreich an, jedoch keine unmittelbare Bedrohung des Preußenkönigs. Unmißverständlich allerdings bekennt sich Freiligrath zum Republikanismus und zur Volkssouveränität, insgesamt zum Recht eines unterdrückten Volkes auf revolutionäre Gesellschaftsveränderung. Dem Herausgeber der Heftreihe hingegen, der wie seine Vorgänger vor fünfzig Jahren staatspolitische Ursachen der Revolution geflissentlich übersah oder bagatellisierte, erschien das Gedicht „als das bedauernswürdige Produkt eines der Hölle verfallenen Herzens und einer teuflischen Einbildungskraft" (III, 1 f.). Noch immer waren somit Praktiken früherer, besonders klerikaler Gegenaufklärer lebendig, die ihre Widersacher nach dem Muster der Ketzerverfolgungen regelrecht verteufelt und über den Arm weltlicher Gerichtsbarkeit verdammt bzw. zur Hölle gewünscht hatten. Auch sonst führte der Anonymus gegenaufklärerische Strategien aus dem 18. Jahrhundert weiter, indem er - an sich kritisierte - Publikationsformen der (aufklärerischen, freimaurerischen) Widersacher nutzte, nämlich Kleindrucke „Als Manuscript für Brüder gedruckt zum Gratis-Vertheilen auf Kosten,eines Eingeweihten'". So steht es auf den ersten Heften der Reihe, dann nicht mehr. War sich der Herausgeber einer überzogenen Parallelisierung bewußt geworden? Denn wer sollten die „Brüder" sein? Logenbrüder doch wohl nicht, da sie in der Heftreihe vehement bekämpft wurden. Und inwiefern verlautbarte sich hier ein Eingeweihter, ein ins Maurer-Arkanum Initiierter? Handelte es sich gar um einen Exfreimaurer, der aus mehr oder weniger persönlichen Motiven (verhinderte Geheimbundkarriere, enttäuschte Erwartungen usw.) renegatenhaft eifernd auftrat wie weiland viele Exilluminaten? Haßvoll genug gebärderte er sich allenthalben, und jedenfalls beherrschte er das probate Vorgehen, noch öffentlich selbstkritische Reflexionen der Gegenseite zu ihren Ungunsten auszulegen. Zum Beispiel meinte er: „Die Freimaurerei äußert stets Furcht, daß sie von dem revolutionären Gemeingeist der Volksmassen, den sie ihnen eingeimpft, überflügelt werde. Aber es ist natürlich, daß sie ihren großen Plan der Weltrepublik in allen den unzähligen Erneuten und Ex[z]essen im Volke eher behindert als gefördert sieht." (VIII, 9) Analog hatte man den Volksaufklärern nach 1789 pauschal vorgehalten, ihren immer mehr vergrößerten Adressatenkreis erst revolutioniert und dann aus der Kontrolle verloren zu haben, während sie doch überwiegend - schon vor dem verstörenden Eindruck der Französischen Revolution - am energischsten davor gewarnt hatten, (Volks)Aufklärung zu übereilen und zu politisieren. Ineins mit den Strategien der früheren Gegenaufklärung wurden ihre aus den Verschwörungslegenden erwachsenen Hauptargumente oder Argumentationsstereotype übernommen und teilweise aktualisierend modifiziert. „Parallel zum Aufstieg der sozialistischen Bewegung erfuhr die Verschwörungsthese eine dezidiert antisozialistische Ausprägung." 8 Der ehemaligen völlig undifferenzierten Identifikation von Illuminaten und Jakobinern korrespondierte nunmehr die von Freimaurern und Kommunisten/Sozialisten. Neu hinzu kamen antisemitische Unterstellungen. Beweislos behauptet wurde, „ d a ß bei den republikanischen Bestrebungen des Freimaurerbundes die Juden überall die Haupt-

7

8

Ferdinand Freiligraths sämtliche Werke in zehn Bänden. Hg. von Ludwig Schröder. Bd. 6, Leipzig o.J. [1907], S. 33. Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung (wie Anm. 1), S. 127.

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Wolfgang Albrecht

triebkraft bilden" (XI, 3) - was im übrigen auch Friedrich Wilhelm IV. höchstselbst glaubte. 9 Wie einst „das U n w e s e n " der Aufklärung und vor allem des Illuminatismus/ Jakobinismus sollte dasjenige der kommunistisch-jüdisch gelenkten Freimaurerei, als des „einzigen und wahren Urquells aller mit so unbezähmbarer Macht hereinbrechenden Völkerverderbniss und Sittenverwilderung", durch „die von Gott eingesetzten Mächte" beseitigt werden (VIII, 1). Insofern ergingen wiederum Apelle an weltliche und kirchliche Herrscher, sich vereint einem gemeinsamen Gegner zu widersetzen, der durch das Medium verschiedenster Literaturformen die öffentliche Meinung mit uneingeschränkter Willkür steuere. Der im ausgehenden 18. Jahrhundert entstandene (deutsche) literarische Markt 1 0 hatte inzwischen sein fest etabliertes Zentrum, das sich dementsprechend attackieren ließ: „Leipzig, dieser literarische Weltmarkt, dieser Packhof der Gelehrsamkeit, bildet den eigentlichen Mittelpunkt unserer religiösen, socialen und politischen Bewegungen, von welchem aus ganz Deutschland mit Weisheitskrämern und deren Waaren überschwemmt wird. Hier ist es, wo der usurpirende Sophisten-Dünkel politischer Lichtfreunde seit langer Zeit das große Wort führt." (VIII, 2) N u r zeigte der Anonymus - seinen Vorläufern auch darin gleichend - nirgends eine Alternative zu diesen „Bewegungen" auf. Die seit dem späten 18. Jahrhundert, im Zuge der Kapitalisierung, unablässig verschärften gesellschaftlich-sozialen Probleme ignorierte oder verkannte er. U n d dies um so mehr, da er analog zu gegenaufklärerischen Entstellungen der Zusammenhänge von (Spät)Aufklärung und überwiegendem Reformertum sowie vereinzelter Revolutionsbereitschaft 1 1 verfuhr. Denunziatorisch zitierte er 1 2 ein Freimaurerbekenntnis zu neuem aufklärerischem Sozialengagement: „,Wir können doch nicht umhin, den Sozialismus als einen vortrefflichen Bundesgenossen der Maurerei in Veredelung der Menschheit, in dem Streben, Menschenwohl zu fördern, wie und wo dieselbe es nur kann, zu betrachten und als solchen zu begrüßen."' (XII, 12) Ablehnend und anscheinend verständnislos wurde ferner eine wesentliche Unterscheidung angeführt: ,„Socialismus und Maurerei, mit dem Communismus aus gleicher Quelle entsprungen, wollen dem materiellen wie geistigen Pauperismus möglichst steuern, beabsichtigen weder Ertödtung der Persönlichkeit in geistiger noch materieller Hinsicht, aber der Weg, den Beide einschlagen, ist ein ganz anderer; während der Socialismus durch Organisation der Arbeit den materiellen Pauperismus und mittelbar auch den geistigen möglichst zu heben beabsichtigt; stellt sich die Maurerei zur Aufgabe, dem geistigen Pauperismus mit aller Energie, neben, mittelst und durch diesen Socialismus auch ganz vorzüglich dem materiellen zu steuern."' (Ebd.) Der zitierte Freimaurerautor knüpfte unverkennbar an den verbreiteten aufklärerischen Leitgedanken aus der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts an, die Humanisierung des 9

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12

Vgl. John Weiss, D e r lange Weg zum Holocaust. Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und Österreich. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz, H a m b u r g 1997, S. 114. U b e r ihn letzthin resümierend: Siegfried J. Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1989. Vgl. auch, mit weiteren Literaturangaben: Wolfgang Albrecht, D a s Angehme und das Nützliche. Fallstudien zur literarischen Spätaufklärung in Deutschland, Tübingen 1997, S. 1-28: Die Literatur im Ensemble der Spätaufklärung; eine einleitende Problemskizze. Näheres dazu bei Wolfgang Albrecht, Aufklärung, Reform, Revolution oder „Bewirkt Aufklärung Revolutionen?". Über ein Zentralproblem der Aufklärungsdebatte in Deutschland. In: Lessing Yearbook X X I I / 1990,1991, S. 1-75. N a c h eigener Angabe aus: Latomia, 12,1849, S. 237.

Revolutionsfeindliche Publizistik und Verschwörungsphantasmen

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Menschen müsse der Verbesserung seiner gesellschaftlich bedingten Lebensumstände vorhergehen. Der Zitierende hingegen sah überhaupt keine Notwendigkeit für gesellschaftliche Veränderungen, sondern vertrat das - entwicklungsgeschichtlich offenkundig fragwürdig gewordene - Doppelprinzip gottgewollter monarchischer Obrigkeit und frommer ergebener Untertänigkeit. In der Verteidigung dieses Prinzips kamen antifreimaurerisches und religiöses Gegenaufklärertum im Umfeld der 48er Revolution überein, wie sich exemplarisch zeigt an dem Pamphlet „Deutsche Entartung in der lichtfreundlichen und modernen Lebensart". Es stammte von dem angehenden, bald erfolgreichen Schriftsteller Bogumil Goltz (18011870) und richtete sich gegen die Bewegung der „Lichtfreunde". 1 3 Sie schlossen sich, zum Schutz freier kirchlicher Lehre und wissenschaftlicher Forschung, seit Beginn der vierziger Jahre in religiösen Gemeinschaften (Freien Gemeinden) zusammen; das heißt seit dem Zeitpunkt, zu dem eine wiedererstarkte Orthodoxie unter Friedrich Wilhelm IV. aufklärerischer Vernunftgläubigkeit den offenen Kampf ansagte. Für Goltz waren die Freien Gemeinden kurzweg Organisationen „der Allerweltsmenschen, der flachen Allwißlinge, der abgeschmackten Vereinsmenschen, der aufgewärmten Voltairianer und Illuminaten, der Prometheus-Affen, der socialistisch-verblümten Rebeller" (S. 15). Und er befand: „Diese modernen Illuminaten führen aber ihre Namen wie lucus a non lucendo, denn sie haben an ihrem Kunstfeuerwerk nur die uralte Nacht sichtbar gemacht." (S. 16) Solch verderbliche Modernität konterkarierte er mit lutherischer Altgläubigkeit, oder genauer: mit voraufklärerischem Protestantismus. Derart verstandene christliche Religion, so heißt es ausdrücklich, „akomodirt sich keinem Zeitbedürfniß, keinem Zeitbewußtsein, keiner Mode" (S. 4). Träfe das zu, dann hätte Luther wohl sehr verfehlt gehandelt, dann wäre durch die Reformation nur ein religiöser Allgültigkeitsanspruch durch einen anderen ersetzt worden. Goltz jedenfalls gab seine Glaubensauffassung für „die Religion" aus (ebd.). Gleich dem antifreimaurerischen Anonymus ignorierte er die Entwicklungen und Folgen der Industriellen Revolution und war nur bedacht auf die Abwehr drohender Volksrevolutionen, für die er ebenfalls Illuminaten verantwortlich machte - obschon nicht schlechthin ,die Freimaurer', sondern konkret die Lichtfreunde. Reformertum gestand er zwar zu, indessen nur widerwillig und in einer sehr reduzierten sowie strikt entpolitisierten Variante: „Wenn sich die Welt reformiren, wenn sie sich absolut fortbilden will [sic! - W. Α.], so geschieht das [...] nicht allein von der Form zum Substrat, von dem Societätsverstande zum persönlichen und Familienleben hin, sondern auch umgekehrt aus [...] dem Familienkreise und aus Jedermanns Privatleben heraus zur Form der Kirche und des Staats. Laßt uns besser werden, dann wird's besser sein!" (S. 141) Antimoderne „Lebensart" (vgl. den Buchtitel), will sagen: altgläubige Frömmigkeit und Ergebenheit, hieß das Heilskonzept, mit dem Goltz das vernunftgläubige soziokulturelle Bestreben der Lichtfreunde und erst recht den zeitgenössischen Sozialismus überflüssig machen bzw. verdrängen wollte. Den Anhängern beider Richtungen riet er sarkastisch, „zur Freimaurerei" zu schwören, denn dort hätten sie „Spielfreiheit für eine heidnische Symbolik" (S. 58 f.). Mithin rechnete auch er Freimaurer unter die Feinde von Staat und Kirche.

13

Bogumil Goltz, Deutsche Entartung in der lichtfreundlichen und modernen Lebensart. An den modernen Stichwörtern gezeigt, Frankfurt a. M. 1847. Zitatnachweise hieraus im fortlaufenden Text mit bloßer Seitenzahl.

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Wolfgang Albrecht

Was Goltz und vor allem der Anonymus (neben manch anderen noch) kurz vor oder bei dem Ausbruch der 48er Revolution an Beschuldigungen und Unterstellungen vorgebracht hatten, wurde wenig später systematisiert von dem Dresdener Advokaten Eduard Emil Eckert (gest. 1866). Obwohl gerade nach der Niederschlagung der europaweiten Erhebungen vorerst kaum noch jemand auf gesellschaftliche Veränderungen mittels revolutionärer Gewalt setzte, veröffentlichte Eckert eine den alten Verschwörungsphantasmen folgende förmliche Anklage, programmatisch betitelt: „Der Freimaurer-Orden in seiner wahren Bedeutung, das heißt als ein Weltorden, in dem und mittelst dessen, vermöge seines feinen Organismus, ein Geheimbund die Revolutionen gegen alle bestehende Kirchen und Monarchien, sowie die Zerstörung des Eigenthums, der Stände und Innungen zum Zweck einer theokratisch-sozialen Ordensrepublik, seit drei Jahrhunderten vorbereitet, vollführt und geleitet hat. In zwei Schriften den sächsischen Criminal-Gerichten und der Ständeversammlung nachgewiesen aus der Geschichte, aus den Statuten und aus den Bekenntnissen des Ordens in seinen Geheimschriften zur Motivirung des damit verbundenen Antrags auf Aufhebung des Ordens." 1 4 Das Muster dieser Anklageschrift lieferte Barruel, den Eckert zugleich in den Rang eines Kronzeugen erhob. Anregend waren ferner deutsche Gesinnungsfreunde Barruels wie der Eudämonist Johann August Starck (1741-1816) 1 5 , der in Deutschland eine nicht unbeträchtliche Nachwirkung hatte. 16 Unter dem Eindruck Barruels und Starcks mißdeutete Eckert schon die bloße Fortexistenz der Freimaurer als Erscheinungsform von - jüdisch gelenkter - Revolution: „In Deutschland erhielt [ . . . ] die Revolution einen Zuwachs rüstiger Werkzeuge an den Israeliten [...]; allein das Revolutions)ahr 1848 zeigte einen jüdischen Literaten-Reichthum, den man kaum ahnen konnte, und alle Zeitungen der ministeriellen, der s. g. constitutionellen und der rothen Presse wurden ausschließlich sofort von Juden redigirt und bearbeitet." (S. 242) Analog wertete Eckert, über Goltz hinausgehend, die Entstehung der Freien Gemeinden: „Unter dem Namen der Lichtfreunde trat zu Halle die Revolution gegen das positive Kirchenthum öffentlich in die Welt und verbreitete sie von da weiter." (Ebd.) So wie Barruel und Starck das aufklärerische Sozietäts- und Erziehungswesen nahm Eckert das nachherige Vereinswesen und Volksbildungsbestreben zum Beleg für eine allumfassende Subversion: „Wir sahen überall Lesezirkel in's Leben rufen, Turn-, Gesang-, Gewerbe- und RedeVereine, sowie Sonntagsschulen bilden. [ . . . ] die spätere Zeit zeigte klar, daß sie in ihrer großen Mehrheit für den geheimen Revolutionszweck gebildet waren. Ja, die Erfahrung der letzten Jahre stellte sogar heraus, daß die Revolution die Volkserziehung für sich schon bei den Kindern beginnen ließ, die noch nicht schulfähig waren, wofür sie die s. g. Kindergärten geschaffen hatte." (S. 244)

14 15

16

Dresden 1852. [Johann August Starck], Der Triumph der Philosophie im Achtzehnten Jahrhunderte. Theil 1-2, [Augsburg] 1803. - Vgl. Wilhelm Kreutz: „L'inscription qu'on pourra mettre sur les ruines des trones, [ . . . ] peut etre c o ^ u e dans ces deux mots: >L'ouvrage de Illuminatisme!u foUt nicf)t t>ret)ffen reel)t ttocl) gut,

Ijacty auf beut berg S i n a i ,

an tnaf @ a t t feI6f rebt itnb ö)ut.

fitjriolct)!· btyn alle))n betpt ® o t t ber fein gotter faQtu (|aben ntel)r, ® u foCIt mtjr g a n t j oertratoen biel), » o n fyertjen grutib Heben mici). Sttjriolctjf. ® u fallt et)m unb gel)arfam Jet)n bem b a t e t unb ber mutter betjn,

St)rioIet)f. S u foUt Ijcl)Igen ben fiebenb t a g , baf bu unb betjn (|auf ragen m a g , font ban bctjtn tftun laffen ab, baf Wort fetjn toeref t)nn btyv ή ab. ftljrio. u fallt nicljt tobten jorttiglicl),

ftljrilctjf. ® u fodt betjnf neljften toetyb uttb ((auf

nicl|t Raffen naelj f d b f rechen bid),

begehen nicljt twd) ettoaf bvanf,

Webult ljaben unb fanfften mut

S u fallt t)f|ut tounbfclicn allef gut,

unb aue1) bem fetjitb tljun baf gut.

toie btjr betjn Ijcrt^ fclbcr tljut.

fttjri. S>et)n tff foUtu betoaren reljn, baf aucl) bet)n Ijertj fet)n anber metjn,

Stjria. 5>ie gebatt all unf geben ftnb, baf bu bet)n finb C mcnfd)cn finb

Unb batten feufd) baf leben betjn

( f r f e n n e n foUt unb lernen tool,

mit jucljt unb meffiefeit fein,

täte man f u r S t a t t leben fol.

ftljriolctjf. S>u faOt nicljt f t d e n gellt noci| gut,

fttjriolcl)?. $ a f ftelff unf ber (jerr g i j e f u Onjrift,

triebt t e u e r e m t)emanbf fc^toctjf unb blut,

ber unf emittier toarben ift.

S u follt auf tf|un betjn ntttbe f|anb

@f ift mit uttfertn tl)itn tier lorn,

ben armen tjitn bequem lanb.

öerbienen bod) e^ttel j o r o .

fttjrioletjf.

3

S>u follft triebt füren j u uitciirti

bie intf g a b uttfer £>erre Wott

SHjrioletf.'

Dies ist das Lied Nr. 6 in der Kritischen Gesamtausgabe, Werke, Bd. 35, Weimar 1923, S. 426-28, im Text als Weimarer Ausgabe bezeichnet.

103

Luther und Bach

Sief finb tie IjeU'gen jci|ti @ebot. α) 3n Wottef Warnen fahren tow. •JJocti Iii (miter XBeglaffung iter iter p o i s o n füttttioUen fSaufentafte). IHmT •

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b u t $ Siefen fernen bitntr treto ^οφ auf ban b a g 6tnat. Ä$«xi.o»Ul)». Auch in Luthers kürzerem Lied über die zehn Gebote endet jede der fünf Strophen mit dem Kyrieeleison. Die Vertonung wird etwas später im vorliegenden Aufsatz aus der amerikanischen Ausgabe, die auch eine englische Ubersetzung einschließt, zitiert. 9Renfd) toilfti leben (diglici) unb bei) ©ott bleiben etoiglid), 3oÜu galten bie jcljη gebot, bie unf gebeut unfer ®ott. föjrtoletyf. Iet|n ®ott allctjn unb ©err bt)n id}, (ct)n anber ott foil t)rrcn bid), icawcn fall mtjr baf Ifertje betju, metjn etjgen rtirf) folltn fein. S^riole^f. I i i fodt tnetyn namen e^ren fcljon unb tjitn ber nott mid)raffenan. ®u foUt bet) (gen ben Zabbottt tag, baf ic() t)tm bie toirefen mag. ftt)riokt)f. $em »ater mtb ber mutter bet)n foOtu nad) mt)r ge^orfam fet)n, 9tiemanb totbten nod| jornig feljn unb beljn ctyc galten rct)n. ftt)rioIel)f. I n fodt et|tn anbern ftelen nid)t, auff niemanb falfeljef jeugeu ief|t, letjnef neltften toet)6 nidjt begern unb all fetjnf gnttf gern entyern. Jftljr. Neben der englischen Ubersetzung ist in der amerikanischen Ausgabe eine modernisierte deutsche Fassung enthalten. Dem Leser wird nicht entgehen, daß der Ubersetzer die erste

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Paul G. Kuntz

Zeile des kürzeren Liedes übernahm und nicht jene des längeren. Die Ausgabe stammt aus dem Jahr 1942 und wurde in St. Louis verlegt. Sie beantwortet damit auch die Frage, ob auf Luthers Kirchenlied noch immer zurückgegriffen wird. Ein Lied mit zwölf Strophen wird sicherlich nicht mehr so häufig gesungen, und sollte ein Geistlicher oder ein Chorleiter vielleicht das eine oder andere Gebot weglassen, könnte dies zu falschen Vermutungen führen. Die vorliegende englische Ubersetzung adaptiert die Fassung von Richard Massie in „Martin Luther's spiritual songs" (1854).

That Man a Godly Life Might Live 1. That man a godly life might live, G o d did these Ten Commandments give B y His true servant Moses, high U p o n the Mount Sinai. Have mercy. Lord!

Dies sind die heil'gen Zehn Gebot', Die uns gab unser Herre Gott Durch Moses seinen Diener treu, H o c h auf dem Berg Sinai. Kyrieleis!

2. I am thy G o d and Lord alone, N o other G o d beside Me own; Put thy whole confidence In M e And love Me e'er cordially. Have mercy, Lord!

Ich bin allein dein Gott, der Herr. Kein' Götter sollst du haben mehr; D u sollst mir ganz vertrauen dich. Von Herzensgrund lieben mich. Kyrieleis!

3. B y idle word and speech profane Take not M y holy name in vain And praise but that as good and true Which I Myself say and do. Have mercy. Lord!

D u sollst nicht führen zu Unehr'n D e n N a m e n Gottes, deines Herrn; D u sollst nicht preisen recht noch gut, Ohn' was Gott selbst red't und tut. Kyrieleis!

4. Hallow the day which G o d hath blest That thou and all thy house may rest; Keep hand and heart from labor free That G o d may so work in thee. Have mercy. Lord!

D u sollst heil'gen den Feiertag, Dass du und dein Haus ruhen mag; D u sollst von dein'm Tun lassen ab, Dass Gott sein Werk in dir hab'. Kyrieleis!

5. Give to thy parents honor due, Be dutiful, end loving, too, And help them when their strength decays, So shalt thou have length of days. Have mercy. Lord!

D u sollstt ehr'n und gehorsam sein D e m Vater und der Mutter dein, U n d wo dein' Hand ihn'n dienen kann, So wirst du lang's Leben hab'n. Kyrieleis!

6. In sinful wrath thou shalt not kill N o r hate nor render ill for ill; Be patient and of gentle mood, And to thy foe do thou good. Have mercy, Lord!

D u sollst nicht töten zorniglich, Nicht hassen noch selbst rächen dich, Geduld haben und sanften Mut U n d auch dem Feind tun das Gut'. Kyrieleis!

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Luther und Bach

7. Be faithful to thy marriage vows, Thy heart give only to thy spouse; Thy life keep pure, and lest thou sin, Use temperance and discipline. Have mercy, Lord!

Dein Eh' sollst du bewahren rein, Dass auch dein Herz kein' andre mein', Und halten keusch das Leben dein Mit Zucht und Mässigkeit fein. Kyrieleis!

8. Steal not; all usury abhor Nor wring their life-blood from the poor. But open wide thy loving hand To all the poor in the land. Have mercy. Lord!

Du sollst nicht stehlen Geld noch Gut, Nicht wuchern jemands Schweiss und Blut; Du sollst auftun dein' milde Hand Den Armen in deinem Land. Kyrieleis!

9. Bear not false witness nor belie Thy neighbor by foul calumny. Defend his innocence from blame; With charity hide his shame. Have mercy, Lord!

Du sollst kein falscher Zeuge sein, Nicht lügen auf den Nächstten dein; Sein Unschuld sollst auch retten du Und seine Schand' decken zu. Kyrieleis!

10. Thy neighbors house desire thou not. His wife, nor aught that he hath got, But wish that his such good may be As thy heart doth wish for thee. Have mercy. Lord!

Du sollst dein's Nächsten Weib und Haus Begehren nicht noch etwas draus; Du sollst ihm wünschen alles Gut', Wie dir dein Herz selber tut. Kyrieleis!

11. God these commandments gave therein Die Gebot all' uns geben sind, Dass du dein' Sünd', ο Menschenkind, To show thee, child of man, thy sin Erkennen sollst und lernen wohl, And make thee also well perceive Wie man vor Gott leben soll. How man unto God should live. Kyrieleis! Have mercy, Lord! 12. Help us, Lord Jesus Christ, for we A Mediator have in Thee: Our works cannot salvation gain; They bring but endless pain. Have mercy, Lord!

Das helf' uns der Herr Jesus Christ, Der unser Mittler worden ist; Er ist mit unserm Tun verlor'n, Verdienen doch eitel Zorn. Kyrieleis! 4

Können Luthers Choräle über die Zehn Gebote also durch den Einfluß des späten Mittelalters auf den Reformator des 16. Jahrhunderts erklärt werden? Diese Frage dominiert die Kommentare in der großen Weimarer Ausgabe der Werke Luthers. Oder aber, wie können wir sie einem Menschen des 20. Jahrhunderts verständlich machen, der ihnen, geprägt durch die Bilder- und Verssprache des modernen Kirchenlieds, gegenübertritt.

4

W.G. Polack, T h e H a n d b o o k to the Lutheran H y m n a l , St. Louis 1942. Es existiert auch eine Ausgabe des Northwestern Publishing H o u s e in Milwaukee, Wisconsin von 1975, S. 2 0 8 - 0 9 . Dieses Gesangbuch wird von der Synode von Missouri herausgegeben, andere Lutherische Kirchen benutzen es unter Umständen nicht. D e r Herausgeber des Handbuchs hat einen Index mit anderen Liedern über die Zehn G e b o t e angefügt, es finden sich jedoch nur solche zum 2., 5., 6. 7., 8., 9. und 10. G e b o t . D e r Schluß daraus könnte sein, daß Lieder mit ausgesprochen moralischem Inhalt selten sind. G i b t es einen Unterschied oder gar Gegensatz zwischen der musikalischen Lobpreisung und der didaktisch moralischen?

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Paul G. Kuntz

Diese Frage bestimmt die Kommentare in der vortrefflichen Ausgabe von Luthers Werken durch amerikanische Lutheraner. Beide Herangehensweisen sind legitim, und wir sollten den amerikanischen Herausgebern besonders dankbar sein, daß wir mit ihrer Hilfe die deutschen Texte Luthers in englischer Sprache zur Verfügung haben und sie uns so auch ermöglichen, die Ubersetzer und ihre Arbeit einzuschätzen. Ein Absatz über das Scheitern der zeitgenössischen Bemühungen, die Lyrik zu erfassen, die die Zehn Gebote zum Gegenstand hat, ist eine herausragende Rechtfertigung der historischen Methode. Luther „sah es als sehr wichtig für die Kirche an, Choräle über die Zehn Gebote zu haben. Diese Haltung erfordert ein Wort der Erklärung; denn für modernes Denken erscheint der Gedanke, ein Kirchenlied über die Zehn Gebote zu schreiben, unsinnig. Wir sind so gewohnt, Dichtung als Ausdruck persönlicher Gefühle des Verfassers zu werten, daß wir einen nur .nützlichen' Gebrauch von Dichtkunst nicht verstehen können. Das Kirchenlied unserer Zeit ist als ,lyrische Religion' definiert worden. Es fällt schwer, uns ein rein didaktisches Kirchenlied ohne gefühlsmäßige Obertöne vorzustellen. Aber Luther ging von anderen Voraussetzungen aus. Sehr nüchtern hielt er das Kirchenlied für ein Mittel, dem Volk das Wort Gottes einzuflößen. Während einige seiner Kirchenlieder aus seiner höchstpersönlichen Erfahrung geboren sind und die Kämpfe und Siege seines eigenen Glaubens widerspiegeln, sind andere nur Verse über den Katechismus. Es überrascht kaum, daß die Forderungen des Gesetzes in den Zehn Geboten ihn nicht zu so hoher Freude inspirierten wie das Evangelium und die Rechtfertigung durch den Glauben. Trotzdem wünschte er, daß Gesetz und Evangelium in Versen ausgedrückt wurden, um das einfache Volk zu unterweisen und gründlich im ganzen Heilsplan zu unterrichten. Seit 1525 wurden diese Choräle in den Wochentags-Gottesdiensten zur Fastenzeit gesungen, bei Predigten über den Katechismus. Die Wittenberger Kirchenordnung von 1533 setzte voraus, daß die Chorknaben das eine Lied vor den Katechismuspredigten sangen und das andere über die Zehn Gebote danach. Auch der Genfer Psalter und die frühen englischen Psalter enthalten Lieder über die Zehn Gebote." 5 Die amerikanischen Herausgeber glauben seltsamerweise, daß selbst wenn Luther die Fassungen seiner Vorgänger gekannt hätte, er sie nicht benutzte. Offenbar sind sie mehr daran interessiert, Luthers Originalität zu verteidigen, als daß sie anerkennen, daß sein Verständnis der Zehn Gebote und ihre Auslegung in starkem Maße vom Mittelalter geprägt waren, wie wir in unserer Untersuchung seiner Predigten und Katechismen nachgewiesen haben. Die Übersetzung in das Englische unterschlägt zum Beispiel, daß in Strophe 8 Luther mit „ D u sollst nicht stehlen" es auch verurteilte, Zinsen für verliehenes Geld zu nehmen. Ist es dann völlig korrekt, zu übersetzen „nor profit by his sweat or b l o o d " ? „Wucher" heißt auf Englisch „ u s u r y " , und nur für einen Sozialisten würde dem Wort „ p r o f i t " einen Ton heftiger Mißbilligung anhaften. Trotzdem ist George MacDonalds Englisch im großen und ganzen eine außergewöhnlich gelungene Übertragung eines einfachen Deutsch in ein einfaches Englisch, was auch ganz in seiner Absicht lag.

5

Luther's Works, hrsg. von Jaroslav Pelikan and Helmut T. Lehman, Bd. 53 „Liturgy and H y m n s " , hrsg. von Ulrich S. Leopold unter Mitwirkung von Paul Zeller Strodach u. a., Philadelphia 1965, im Text als „Amerikanische A u s g a b e " bezeichnet.

Luther und Bach

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"These Are the Holy Ten Commands" ERFURT 1524 «

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Si - nai's high hül. Ky - rio - leis.

2 I am the Lord thy God alone; Of gods besides thou shalt have none; Thou shalt thyself trust all to me, And Love me right heartily. Kyrioleis. 3 Thou shalt not speak like idle word The name of God w h o is thy Lord; As right or good thou shalt not praise Except what God does and says. Kyrioleis. 4 Thou shalt keep holy the seventh day, That rest thou and thy househld may; From thine own work thou must be free, That God his work have in thee. Kyrioleis. 5 H o n o r thou shalt and shalt obey Thy father and [thy] mother alway; To serve them ready be thy hand, That thou live long in the land. Kyrioleis. 6 In wrathfulness thou shalt not kill, N o r hate, nor take revenge for ill, but patience keep and gentle mood, And e'en to thy foe do good. Kyrioleis.

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Paul G . Kuntz

7 Thy marriage bond thou shalt keep clean, That even thy heart not other mean; Thy life thou must keep pure and free, Temperate, with fine chastity. Kyrioleis. 8 Steal not thy neighbor's goods or gold, Nor profit by his sweat or blood, Open thou wide thy kindly hand To the poor man in thy land. Kyrioleis. 9 Thou shalt not lying stories bear, Nor,gainst thy neighbor falsely swear; His innocence thou shalt rescue, And hide his shame from man's view. Kyrioleis. 10 Thy neighbor's wife or house to win Thou shalt not seek, nor aught within; But wish that his such good may be As thine own heart wish for thee. Kyrioleis. 11 To us come these commands, that so Thou, son of man, thy sins mayst know, And make thee also well perceive How before God man should live. Kyrioleis. 12 May Christ our Lord help us in this, For he our mediator is; Our own work is a hopeless thing, Tis wrath alone it can bring. Kyrioleis.

Die amerikanischen Herausgeber liefern eine hervorragende Einführung zu Luthers „Mensch wiltu leben seliglich": „Dies ist der kürzere von Luthers zwei Chorälen über die Zehn Gebote. Er hat fünf Strophen. Während der andere Choral jedem Gebot eine Strophe zugestand, dazu Eröffnung und zwei Schlußstrophen, hat dies Kirchenlied eine eigenartig gestaffelte Anordnung. Nach der einführenden ersten Strophe befaßt sich die zweite mit dem Ersten Gebot, die dritte mit dem Zweiten und Dritten, die vierte mit dem Vierten, Fünften und Sechsten und die fünfte mit dem Siebenten bis Zehnten. So hat jede Strophe ein Gebot mehr als die vorhergehende. Die früheste Quelle für dies Kirchenlied ist Walters Wittenberger Gesangbuch von 1524, und die dort verwendete phrygische Melodie blieb seine einzige. Sie zeigt bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit einigen anderen Weisen Luthers. Die zweite Zeile erinnert an die zweite von ,Vom Himmel hoch', die dritte und vierte sind ein umgekehrtes

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Luther und Bach

Spiegelbild der ersten und zweiten von ,Aus tiefer N o t ' . Vielleicht wurde auch das vom Reformator gestaltet." (S. 280) Wir müssen allerdings die Bemerkung „eine eigenartig gestaffelte A n o r d n u n g " kommentieren. Die Zehn kann als Muster in einem gleichschenkligen Dreieck, als Tetrakis, angeordnet werden:

Diese Anordnung wird jeden mit musischer Bildung daran erinnern, daß die Zehn bei Pythagoras die vollkommene Zahl ist. Diese Art der Anordnung der Zehn Gebote ist deshalb dem Gesetz Gottes am angemessensten. 6

"Man, Woiddst Thou Live All Blissfully" WALTO 1524

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2 Thy God and Lord I am alway; N o other god shall make thee stray; Thy heart must ever trust in me; Mine own kingdom shalt thou be. Kyrioleis.

6

Zu dem Tetrakys oder Quatenarius vgl. Kenneth Sylvan Guthrie, in: The Pythagorean Sourcebook, hrsg. von David R. Fideler, Grand Rapids, MI: Phanes Press, 1987, S. 28-30.

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Paul G. Kuntz

3 My name to honor thou shalt heed And call on me in time of need. Thou shalt hallow the sabbath day So in thee I work alway. Kyrioleis. 4 Father and mother thou shalt hold In honor next to me, thy Lord. None kill nor yield to anger wild, And keep thy wedlock undefiled. Kyrioleis. 5 From any one to steal beware; Gainst none thou shalt false witness bear; Thy neighbor's wife thou shalt not eye Let his be his willingly. Kyrioleis. Wenden wir uns jetzt dem historischen Hintergrund zu, wie er in der Kritischen Ausgabe der Werke Luthers zum Vorschein kommt.

III. Die Choräle über die Zehn Gebote; die Predigt, die Liturgie Uber nahezu vierhundert Jahre wurden seit dem Hochmittelalter Versfassungen der Zehn Gebote in deutscher Sprache angefertigt. Die Fassungen, die erhalten geblieben sind und für zahlreich gelten, zeigen, daß jedes Jahrhundert neue Formen entwickelte. (Weimarer Ausgabe, S. 135) Wir konnten bereits Anklänge davon in Luthers Chorälen über die Zehn Gebote entdecken. Ein Aspekt der „konservativen Reformation" Luthers war die Fortführung bewährter Traditionen. Eine von ihnen sah er im Singen der Zehn Gebote. Es war deshalb auch völlig selbstverständlich für ihn, als Melodie die eines Pilgerliedes zu wählen. (Weimarer Ausgabe, S. 495-96) Es gibt parallele Fassungen in späteren katholischen Gesangbüchern. Luthers Einfluß kann in einigen von ihnen nachgewiesen werden. (S. 135) Da Luther zwischen 1516 und 1524 häufig sowohl in Latein als auch in Deutsch über die Zehn Gebote schrieb, war es später ein interessantes Problem wissenschaftlicher Schürfarbeit, jene Verse zu finden, die zu den Texten passen, so daß die Frage beantwortet werden kann, ob die Choräle über die Zehn Gebote relativ früh, vor 1520, oder kurz danach geschrieben wurden, wenn sie nicht gar erst 1524, dem Jahr ihrer ersten Veröffentlichung, entstanden sind. Sowohl Luther, der fromme Mönch, als auch Luther, der exkommunizierte häretische Reformator, nahm die Zehn Gebote sehr ernst. Daß einige Gelehrte in den Versen Spuren des frühen Luther entdecken und andere Gelehrte solche des späten Luther, war zu erwarten. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die berühmte Antwort des Katechismus „Wir sollen Gott fürchten und lieben und gerne tun nach seinen Geboten" bereits in Luthers frühen lateinischen Abhandlungen auftaucht. Deshalb scheinen die Vergleiche der Liedtexte mit den Manuskripten von 1518,1520,1524,1525 - wie geistvoll sie auch scheinen mögen - wenig sinnvoll. Die Diskussion ist aber trotzdem nützlich, da sie uns zwingt, der Aussage der Lieder größere Aufmerksamkeit zu schenken. Der erste wichtige Punkt ist, daß der Sabbat aus geistlicher Sicht als Möglichkeit gesehen wird, daß Gott sein Werk am Menschen tun kann - vier Zeilen werden gereimt:

Luther und Bach

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Du solit heyigen den siebend tag, das du und deyn haus rügen mag, Du sollt von deym thun lassen ab, das Gott seyn werck ynn dyr hab. In einer der Ubersetzungen in das Englische wird aus der letzten Zeile sehr wortgetreu „that God may so work in thee", in der anderen „that God his work have in thee". Dieser Sinn des Sabbats findet sich auch in Luthers wichtigem Kommentar zu dem „Brief des Paulus an die Galater". (S. 138) Der andere wichtige Punkt in Luthers langem Choral über die Zehn Gebote ist das Gebot, den Nachbarn zu lieben, und der innere Zusammenhang der Gebote 6 und 7 über Ehebruch und Diebstahl mit den Geboten 9 und 10, nicht des Nächsten Weib oder Haus zu begehren. Die Zusammenfassung der kürzeren Liedversion enthält in sechs Zeilen sechs Gebote und betont die nachbarschaftlichen Pflichten gegenüber dem Nächsten. Beide Lieder heben den guten Willen und die Zufriedenheit hervor, die sich aus dem Glück des Nächsten speisen („und all seyns gutts gern empern" wird im Englischen zu „Let his be his willingly" - eine Haltung, die im Gegensatz zu Eifersucht und Neid steht). Die längere Liedfassung macht aus dem Gebot, nicht zu begehren, was des Nächsten ist, ein explizit positives Gebot: „Du sollt yhm wundschen alles gut, wie dyr deyn hertz selber thut." Im amerikanischen Lutherischen Gesangbuch wird daraus: „But wish that his such good may be as thy heart doth wish for thee." George MacDonalds Fassung ist rhythmisch besser: „As thine own heart wish for thee." Ein interessanter Aspekt der Frömmigkeit, die jedes Gebot trägt, ist der Bezug auf Gott und die Bitte um Vergebung, wahrscheinlich weil die Menschen wissen, daß sie alle Gebote gebrochen haben. Die einzigen, offensichtlich bereits zu diesem Zeitpunkt sehr alten griechischen Worte „kyrie elieson" - Gott sei uns gnädig" - in der lateinischen Messe verbinden moralische Belehrung mit liturgischer Anbetung. Einige Liturgiker meinen, dies sei ein Gebet für die Gemeinde. Luthers zwei Choräle über die Zehn Gebote benutzen die Kurzform des Kyrie elieson, „kyrioleys". Die lateinische Kirche trug so das Griechische hinüber in die protestantischen Kirchenlieder, ebenso wie das Halleluja aus dem Hebräischen die moderne Kirche mit ihren frühen Wurzeln verbindet. Hat nun die Einbindung der Gebote in die normale Liturgie der heiligen Eucharistie die Ausübung des Abendmahlgottesdienstes auf der Grundlage des „Book of Common Prayer" beeinflußt? Ich kann weder in den liturgischen Büchern von Protestanten noch in jenen der Anglikaner Belege dafür finden. Gibt es irgendeine Beziehung zwischen der Partitur von Luthers „Dies sind die heiigen zehn Gebot" und dem musikalischen Satz der Antworten auf das Verlesen jedes einzelnen Gebots durch den Priester? Der große anglikanische Komponist Thomas Tallis wird unter Umständen Luthers Choräle gekannt haben, seine Vertonung verrät jedoch keine Beeinflussung: 8

7

8

Vgl. den Beitrag „Kyrie elieson", in: New Catholic Encyclopedia., New York: McGraw-Hill, vol. VIII, 1967, S. 273-74. Das dreifache „Herr, sei uns gnädig", dem ein dreifaches „Christus, sei uns gnädig" und dann einem „Herr, sei uns gnädig" folgt, alternierend von den Messezelebranten und der Gemeinde gesungen, hat seinen Ursprung in der Antiochisch-Jerusalemischen Liturgie und blieb über Jahrhunderte Teil des griechischen und lateinischen Ritus. Es bot sich in seinen Erweiterungen für eine bemerkenswerte Vielfalt von Vertonungen an. Aus der Zeit vor Luther ist kein Beispiel eines gesungenen Kirchenliedes zu den Zehn Geboten bekannt. Samuel Pearsall, The Hymns of the Church, Pointed As They Are To Be Sung or Chanted, with Versicles, Creed of S. Athanasius, litany, Commandments, etc., As Set to Music by Thomas Tallis, Arranged for the Use of Churches Generally, Rugeley 1843, S. 57-58.

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Paul G. Kuntz

(So/t.)

COMMANDMENTS.

Lord, have mcr-cy up - ·ιι

cline our kuaru

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Lord,

to

keep

ui, and in-

Uiii law.

i

22: 23C

lure

mer · cy

up · on -βί-