Aufklärung, Band 7/1: Kant und die Aufklärung 9783787334933, 9783787341818

Gegenstand des Jahrbuches Aufklärung« ist die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Der Gedank

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Aufklärung, Band 7/1: Kant und die Aufklärung
 9783787334933, 9783787341818

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AUFKLÄRUNG Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Günter Birtsch, Karl Eibl, Norbert Hinske, Rudolf Vierhaus

Jahrgang 7, Heft 1, 1992

Thema: Kant und die Aufklärung Herausgegeben von Norbert Hinske

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M B U RG

Unverändertes eBook der 1. Aufl. von 1993. ISBN 978-3-7873-1109-5·  ISBN eBook 978-3-7873-3493-3  ·  ISSN 0178-7128

© Felix Meiner Verlag 1993. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber­ rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.  www.meiner.de/aufklaerung

INHALT

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Norbert Hinske: "kants Vernunftkritik - Frucht der Aufklärung und/ oder Wurzel des Deutschen Idealismus? „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ •• „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „...

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Abhandlungen

Rudolf Malter: Königsberger Gesprächskultur im Zeitalter der Aufklärung: Kant und sein Kreis . . .. . . .. .. . . . . . . .. . . . .. . . . . .. . . . . . . .. . . . .. . . . . .. . .. . . .. . . . .. . . . . . . . .. . . . .. . . . . .. . . . . Luigi Cataldi Madonna: Kant und der Probabilismus der Aufklärung Fumiyasu lshikawa: Das Gerichtshofmodell des Gewissens

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7 25

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Norbert Hinske: Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. Die philosophische Bedeutung des Kantschen Logikcorpus „ „ „ „ „ . „ „ „ „ „ . „ . „ „ „ „ „ „ „ . „ . „ „ . „ „ .

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Kurzbiographie

Horst Schröpfer: Carl Christian Erhard Schmid (1761 - 1812)

73

Diskussionen und Berichte

Takuji Kadowaki: Zur Wiedereinsetzung des unendlichen Urteils

75

Horst Schröpfer: Danovius und Kant . „

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„ „. „ „ „ „ „ „. „ „. „ „ „ „ „ „ „ „ „ • • „ „ „. „

Norbert Hinske: Ein kantischer Studienführer der Universität Jena aus dem Jahre 1785. Über eine für verschollen gehaltene Quelle der frühen Kantrezeption „...

85

Birgit Nehren: Eine Dokumentation zum Streit über den Tod M. Mendelssohns

93

Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

AUFKLÄRUNG ISSN 0178-7128, Jahrgang 7, Heft 1, 1992. ISBN 3-7873-1109-2 lnterdisziplinlre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhundens und seiner Wirkungsgeschichte. In Verbindung mit der Deucschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhundens herausgegeben von GOnter Binsch, Karl Eibl , Klaus Geneis. Norben Hioske, Rudolf Vierhaus Redaktion: Prof. Dr. Klaus Geneis, Universilät Trier, Fachbereich lll - Geschichte, Postfach 3825, 5500 Trier, Telefon (0651) 201 -2200

o Felix Meiner Verlag GmbH , Hamburg 1993. Printed in Gernany . - Gedruckt mit Unterstütz.ung der Oeucsche n Forschungsgemeinschaft. Oie Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich g=h0121 . Jede Verwenung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetz.es ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetz.u.ngen, Milcroverfümungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

EINLEITUNG

NORBERT HINSKE

Kants Vernunftkritik - Frucht der Aufklärung und/ oder Wurzel des Deutschen Idealismus?

Am 28. Oktober 1794 schreibt Schiller aus Jena an Goethe: „Ich erwarte auch von den Gegnern der neuen Philosophie die Duldung nicht, die man einem jeden andern System[ .. .] sonst widerfahren laßen möchte; denn die Kantische Philosophie übt in den Hauptpunkten selbst keine Duldung aus (... ]" ; „so, wie sie ihre Nachbarn behandelt, will sie wieder behandelt seyn" 1• In diesen Sätzen klingt etwas von der Wirkung an, die die Philosophie Kants sehr bald in Jena entfaltet hat und die dann schließlich in die Philosophie des Deutschen Idealis- · mus umgeschlagen ist. Aber diese Sätze werfen zugleich auch die Frage nach der Legitimität der idealistischen Kantaneignung auf: „die Kantische Philosophie übt in den Hauptpunkten selbst keine Duldung aus" , das steht in einem eigentümlichen Kontrast zu dem, was Kant selbst insbesondere in seinen Vorlesungen immer wieder eingeschärft hat. So heißt es Anfang der achtziger Jahre in der Wiener Logik2 : „Wir können auf 2fache Art streiten, entweder weil wir verschiedenes lntereße haben, und dann streiten wir als Feinde, oder wir haben ein gemeinschaftliches Intereße, stimmen aber in der Art es zu befördern nicht überein, und dann streiten wir als Freunde. Alle Menschen haben bey Untersuchung der Wahrheit ein gemeinschaftliches Intereße, und daher müßen wir in solchem Streit Theilnehmende seyn, indem wir uns nicht dabey aufhalten zu zeigen, wo der andere geirret hat, sondern wo er Recht hat. " 3 Ganz auf dieser Linie unterscheidet Kant noch 1798 im „Streit der Facultäten", um das gemeinschaftliche

1 Schillers Werke, Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen und Hermann Schneider, Bd. 27, Weimar 1958, 74. 2 Zur Datierung der Wiener Logik vgl. Norben Hinske, Kant-Index, Bd. 14: Personenindex zum Logikcorpus. Erstellt in Zusammenarbeit mit Heinrich P. Delfosse und Elfriede Reinardt. Unter Mitwirkung von Terry Boswell, Sabine Ganz, Birgit Krier, Birgit Nehren und Susanne Schoenau (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung, Abt. ill, Bd. 18), Stuttgan-Bad Cannstatt 1991, XXff. 3 Kant 's gesammelte Schriften, hg . von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 24, Berlin 1966, 828. Die Authentizität des Textes wird durch die Reflexion 2213 gesichen: "Aller unser Streit über Warheit hat ein gemeinschaftlich interesse wie zwischen Freunden (Mann und Frau), soll also theilnehmend, nicht ausschließend, selbstsüchtig und egoistisch seyn. Ich muß davon anfangen, zu bemerken, worin der andere Recht habe" (Kant's gesammelte Schriften , bg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 16, Berlin u. Leipzig 21924 [11914]. 273).

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Norbert Hinske

Ringen um Wahrheit vom bloßen Interessenkonflikt abzuheben, zwischen Streit und Krieg: „Dieser Antagonism, d. i. Streit zweier mit einander zu einem gemeinschaftlichen Endzweck vereinigter Parteien (concordia discors, discordia concors), ist[ ... ] kein Krieg, d. i. keine Zwietracht aus der Entgegensetzung der Endabsichten" 4 • Zahllose andere Äußerungen Kants zu diesem Thema, die in dieser oder jener Form denselben Grundgedanken zum Ausdruck bringen, ließen sieb anfügen. 5 Hinter ihnen allen steht die Grundüberzeugung der deutschen Aufklärung von der „allgemeinen Menschenvernµnft, worin ein jeder seine Stimme hat"6. In den Sätzen Schillers und Kants scheint sich, und zwar an zentraler Stelle, eine grundverschiedene Einstellung und Gesinnung zu artikulieren. Hat also Popper recht, wenn er schreibt: Kant „war dazu verurteilt, als Urheber des 'Deutschen Idealismus' in die Geschichte einzugehen. Es ist hohe Zeit, dieses Urteil zu revidieren" 7 ? „Kant glaubte an die Aufklärung; er war ihr letzter großer Vorkämpfer. Ich weiß wohl: dies ist nicht die heute übliche Ansicht. Während ich in Kant den letzten Vorkämpfer der Aufklärung sehe, wird er öfter als der Gründer jener Schule angesehen, die die Aufklärung vernichtete - der romantischen Schule des 'Deutschen Idealismus', der Schule von Fichte, Schelling und Hegel. Ich behaupte, daß diese beiden Ansichten unvereinbar sind. " 8 Aber auch an dieser Stelle erweist sich Popper bei näherem Hinsehen als der große Vereinfacher schwieriger philosophiegeschichtlicher Zusammenhänge. Denn es gibt auch ganz andersgeartete Äußerungen Kants. Von besonderem Interesse ist dabei vielleicht Kants Brief an Carl Leonhard Reinhold vom 12. Mai 1789 (ein Brief, den Schiller gekannt haben mag). Er betrifft Kants Streit mit Johann August Eberhard. Kant schreibt: „Die Delicatesse, die Sie sich bei ihrer vorhabenden Arbeit vorsetzen und die ihrem bescheidenen Character so gemäß ist, könnte indessen gegen diesen Mann nicht allein unverdient, sondern auch nachtheilig seyn, wenn sie zu weit getrieben würde. " 9 Denn bei Eberhard handele es sich um einen Mann, der „jede Gelindigkeit als Schwäche vorzustellen geneigt ist, mithin nicht anders als so, daß ihm Ungereimtheit und Verdrehungen,

4 Immanuel Kant, Der Streit der Facultäten, A 43 (Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 6, Darmstadt 11964 (41983], 300). s Vgl. Norbert Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, Freiburg u. München 1980, 31 ff.: Kant und die Aufklärung. Kants Theorie von der Unmöglichkeit des totalen Irrtums. 6 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 780 (Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hg . von Wilhelm Weischedel, Bd. 2, Darmstadt ll956 lS1983], 640). Zur Idee der allgemeinen Menschenvernunft vgl. Norbert Hinske, Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie. ln erweiterter Fassung jeut in: Raffaele Ciafardone, Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung. Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinske und Rainer Specht, Stuttgart 1990, 435 f. 7 Karl R. Popper, Der Zauber Platons (The Open Society and lts Enemies, J. The Spell of Plato), Bern u. München 21970 (11957), 14. s Ebd., 10. 9 Kant's gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 11, Berlin u. Leipzig 21922 (11900) , 39.

Einleitung

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als solche, klar vorgerückt werden, in Schranken gehalten werden könne" 10 • Man vergegenwärtige sich die konkreten Umstände der Situation: Der fünfundsechzigjährige Kant, der in Königsberg wegen seiner Delikatesse gerühmt wird 11 , ermahnt hier den einunddreißigjährigen Reinhold, es mit der Delikatesse nur ja nicht zu weit zu treiben - ein melancholisch stimmendes Bild. Und wer sind die Personen des Dramas, das da gespielt wird? Eberhard, der Verfasser der „Neuen Apologie des Sokrates" 12 und Nachfolger Wolffs und Meiers in Halle, ist einer der prominenten Vertreter der deutschen Spätaufklärung. Reinhold aber ist einer der Initiatoren des Deutschen Idealismus. Die Züge des Eigensinns, wenn nicht der Rechthaberei, die sich bei dem alternden Kant - der, so Hamann, wie jeder echte Systematiker „von seinem System wie ein römisch Katholischer von seiner einzigen Kirche denkt" 13 - beobachten lassen, sind von den Zeitgenossen und in der Literatur oft diskutiert worden. Aber es wäre ein Mißverständnis, in ihnen nur eine private Marotte Kants zu sehen. Sie sind vielmehr eine nahezu unvermeidliche Konsequenz bestimmter Momente seiner kritischen Philosophie. So mußte die Umdeutung der alten, typologischen Begriffe des Dogmatismus und Skeptizismus, die von der Antike 14 bis hinein ins 18. Jahrhundert rein deskriptiv verstanden worden waren, in die geschichtsphilosophischen Grundkategorien des Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus 15 fast zwangsläufig zu einem prinzipiellen Überlegenheitsgefühl führen, das eine ernsthafte Diskussion mit 'überholten' Positionen kaum noch erlaubte. Die langfristigen Folgen sind alles andere als harmlos: An die Stelle des „Streits" um Wahrheit tritt mehr und mehr der Überholungswettlauf in Permanenz. Eben jenes grundsätzliche Superioritätsgefühl aber ist dann auch eines der wesentlichen Elemente des Deutschen Idealismus - aber darüber hinaus auch weiter Teile der nachkantischen Philosophie überhaupt. In dem erwähnten Brief Hamanns finden sich aber auch die Sätze: „Ich habe schon manchen harten Strauß mit ihm [Kant], und bisweilen offenbar Unrecht gehabt; er ist darum immer mein Freund geblieben, und Sie werden ihn auch nicht zum Feinde machen, wenn Sie der Wahrheit die Ehre geben, die Sie schuldig sind u ihr angelobt haben. " 16 Alles in allem wird man daher sagen müssen, daß die Frage nach Kants Verhältnis zur Aufklärung nicht einfach auf eine griffige Formel zu bringen ist. Ihre Beantwortung verlangt vielmehr zahlreiche detail-

10

Ebd.

Vgl. Reinhold Bernhard Jachmann, Immanuel Kant geschilden in Briefen an einen Freund, Königsberg 1804 [Neudruck Brüssel 1968), 86 und 90. 12 Johann August Eberhard, Neue Apologie des Sokrates, oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden, 2 Bde., Berlin u . Stettin 21776 -1778 (11772) [Neudruck Brüssel 1968). 13 Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 9. April 1786, in: Johann Georg Hamann. Briefwechsel, hg. von Anhur Henkel, Bd. 6, Frankfun am Main 1975, 350. '' Vgl. Diogenes Laenios, De clarorum philosophorum vitis, dogmatibus et apophthegmatibus libri decem, Prooemium 11, 16; hg. von Carl Gabriel Cobet, Paris 1850, 4. 1s Vgl. Yeop Lee, Vom Typologie- zum Kampfbegriff. Zur Untersuchung des Begriffs 'Dogmatisch' bei Kant. In: Akten des Siebenten Internationalen Kant-Kongresses. Mainz 1990, hg . von Gerhard Funke, Bonn u. Berlin 1991, Bd. 11.2, 481 ff. 16 Johann Georg Hamann , Briefwechsel, Bd. 6 (wie Anm . 13), 350. II

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Norbert Hinske

lierte Einzelunterschungen in den verschiedensten Themenfeldern der Philosophie wie der Kantpbilologie. Einige Untersuchungen dieser Art möchte das vorliegende Zeitschriftenbeft - zweihundert Jahre nach Zöllners folgenreicher Frage: „ Was ist Aujk/11.rung?" 17 - zur Diskussion beisteuern.

17 Johann Friedrich Zöllner, Ist es rathsam, das Ehebilndniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren?, in: Berlinische Monatsschrift 2 (1783), 516. Wiederabgedruclct in: Was ist Auflclärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. In Zusammenarbeit mit Michael Albrecht ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Norbert Hinslce, Darmstadt 41990 (11973), 115. Vgl. ebd„ XXXVIlff.: Die Frage Zöllners.

ABHANDLUNGEN

RUDOLF MALTER

Königsberger Gesprächskultur im Zeitalter der Aufklärung: Kant und sein Kreis

/. Aujkltirung in Königsberg

Ginge es nach denen, die Platons ironische Bemerkung, der echte Philosoph wisse nicht, ob neben ihm ein Mensch wohne oder ein Hund, so ernst nehmen, daß sie den Philosophen am liebsten für immer ins Gehäus des Heiligen Hieronymus verpflanzten, so müßte Immanuel Kant zeitlebens nicht nur einsam gedacht, sondern auch allein gegessen und getrunken, womöglich auch noch mit sich selbst gesprochen haben oder höchstens mit seinem Diener Lampe, der ihn eh nicht verstand . Immanuel Kant aber lebte gesellig und fand Freude in der Unterhaltung bei Tisch 1, wenn sich einige wenige ausgewählte Freunde bei ihm mittags versammelten, weltkundig-verständige Mitbürger seiner Stadt oder auch schon einmal ein Weithergereister oder einfach ein treuer Amanuensis. Trotz Heinrich Heine und Kuno Fischer: Kant führte kein uhrengleiches, ödes Dasein, er unterhielt sich lebhaft und war in geselligen Zirkeln ein gern gesehener Gast. Wenn die von Kant gepflegte Gesprächskultur auch ihre primäre Gestalt von der Individualität des Philosophen empfing , so wird sie in ihrer Ganzheit doch erst vor dem Hintergrund des damaligen geistigen Lebens in Königsberg verständlich .2 Das 18. Jahrhundert hatte der Stadt und dem gesamten Land „Preußen" entscheidende Neuerungen gebracht: Am 18. Januar 1701 setzt sich der brandenburgische Kurfürst Friedrich m. in der Königsberger Schloßkirche die Königskrone aufs Haupt, um von da an als „Friedrich 1„ König in Preußen" zu regieren; in Kants Geburtsjahr 1724 vereinigen sich die drei Städte Königsbergs - Altstadt, Kneiphofund Löbenicht - auf königliche Anordnung hin zu der einen Stadt Königsberg; 1758-1762 okkupieren die Russen die Stadt und bringen auch kulturell wesentliche Veränderungen mit; die Universität blüht auf, neben Kant geben Namen wie Hamann, Hippe!, Herder, Kraus, E.T.A. Hoffmann und Zacharias Werner, Reichardt und die Gräfin Keyserling der Stadt ein vielfarbiges Gepräge. 1 Kants Gespräche werden im folgenden (abgelcürzt .GM) nach der Ausgabe zitiert: Immanuel Kant in Rede und Gespräch , hg . v. Rudolf Malter, Hamburg 1990. 2 Vgl. hierzu: Fritz Gause, Die Geschichte der Stadt Königsberg io Preußen. Bd. II: Von der Königskrönung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Köln-Graz 1968 (mit umfassender Bibliographie).

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Rudolf Malter

Der Aufschwung des Königsberger geistigen Lebens beginnt etwa mit der Jahrhundertmitte. Zu dieser Zeit lehren zwei (auch für Kant bedeutsame) Professoren an der Universität, die mehr Bekanntheit verdienten, als ihnen bislang zuteil geworden ist: der Theologe Franz Albert Schultz und der Philosoph Martin Knutzen; in den vierziger Jahren werden die erste Freimaurerloge und die "Königlich Teutsche Gesellschaft" gegründet; in den fünfziger Jahren erhält die Stadt das erste Schauspielhaus (nachdem es vorher nur Wandertruppen gestattet war, in Königsberg zu spielen); Buchhändler und Verleger sorgen mit eigenen Wochenschriften und Zeitungen sowie mit selbst verlegten Büchern für aktuelle Publikationsmöglichkeiten. Wie unscheinbar dagegen das Königsberg der dreißiger Jahre sich noch ausnahm, hört man aus den bitter-ironischen Bemerkungen des preußischen Kronprinzen Friedrich, der 1739 im Auftrag seines königlichen Vaters Friedrich Wilhelm 1. die Provinz "Preußen" bereiste. Drei Zeugnisse mögen das Urteil des vom Geist der französischen Aufklärung und des aufstrebenden Berlin geprägten Thronanwärters belegen. Friedrich schreibt an Jordan: "Da wäre ich denn in der Hauptstadt eines Landes, wo man im Sommer gebraten wird und wo im Winter die Welt vor Kälte springen möchte. Es kann besser Bären aufziehen, als zu einem Schauplatz der Wissenschaft dienen" 3 (3. Aug. 1739); „Müssiggang und Langeweile sind, wenn ich nicht irre, die Schutzgötter von Königsberg; denn die Leute, die man hier sieht und die Luft, die man hier einathmet, scheinen einem nichts anders einzuflössen etc. Und jetzt eile ich eben nach den Stutereien hin etc. Wären Sie hier, so liesse ich Ihnen die Wahl zwischen dem artigsten littauischen Mädchen und der schönsten Stute von meiner Zucht. Ihre Ehrbarkeit ärgere sich hieran nicht; denn hier zu Lande ist ein Mädchen nur dadurch von einer Stute unterschieden, dass es auf zwei und diese auf vier Füssen geht" (8. Aug. 1739)4 und: „Dies Land, das so fruchtbar an Pferden, so gut angebaut und bevölkert ist, bringt nicht ein einziges denkendes Wesen hervor. Ich versichere Sie, bliebe ich lange hier, so verlöre ich noch die wenige gesunde Vernunft, die ich etwa haben mag etc. Ebenso gern wäre ich todt, als ich hier bliebe. Ein gewisses, ich weiss nicht was, hat meine Dichterader erstarrt. Ich kann nicht sagen, ob sich dieses Land nicht mit dem Denken verträgt, oder ob es der Gott der Dichtkunst nie mit einem günstigen Auge angesehen hat; aber dass hier die Materie stark über den Geist herrscht, das fühle ich wohl. "S (10. August 1739). Auch wenn in diesen Äußerungen der Ton ärgerlicher Einseitigkeit herrscht, so mag der Gesamteindruck eines aus einer geographisch zentraleren Stadt nach Königsberg Kommenden nicht ganz zu Unrecht bestehen. Bezeichnend für die kulturelle Situation Königsbergs in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist der Text eines Reiseführers aus dem Jahre 1729, in welchem es über die Stadt heißt: 3 Zitiert nach: Otto van Baren, Der Zorn Friedrichs des Großen über Ostpreussen, in: Altpreußische Monatsschrift (Königsberg) 22 (1885), 188. 4 Ebd „ 188. s Ebd „ 188f.

Königsberger Gesprächskultur

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Königsberg, ist die Haupt-Stadt in dem neuen Königreich Preussen, eine ehemalige Hansee-Stadt, wird ausser denen grossen Vor-Städten in drey Theile, Alte Stadt, Kniephof und Löbenick getheilet, deren jeder seinen eigenen Rath und Gerichte hat. Liegt am Einfluss des Pregels in dem frischen Haff, und hat die Ehre gehabt, dass Ao. 1701 Churfürst Fridrich III. zu Brandenburg, sich allda, als seiner Geburts-Stadt, die Könige. Krone von Preussen aufgesetzet. Im ersteren siehet man ein magnifiques Schloss auf einer Höhe, so vortrefflich und künstlich von 1584 bis 1594 durch MarggrafGeorg Fridrichen erbauet worden, worinnen das herrliche Zeug-Hauss, und oberhalb selben eine wohl eingerichtete Bibliotheque, in welcher unter andern ein Repositorium mit einigen Folianten und Quartanten mit Silber eingefasset, nebenst andern Curieusitäten und Antiquitäten zu besehen seyn. Ueber der Kirche ist der grosse Moscowitische Saal, 166 Schritte lang, 30 breit; mit Schwibbögen sonder Pfeiler und auf solchen ein acbteckigter Tisch, wohl 40 000 Thlr. wehrt; neben diesem noch die Alt-Städter Kirche. Der Kniephof liegt gleichsam in einer Insel, so der Fluss Pregel da machet, ist der vornehmste Tbeil, und daher sehr bequem zur Handlung. Hier finden sich vortreffliche Gebäude, worunter sonderlich die Langen-Gasse pranget. Das Wäysen-Hauss ist auch sehenswert. Der Kirchen sind 18, 1 Katholische 3 Reformirte und 14 Lutherische. Und vor allem ist der köstliche Dohm zu betrachten, worinnen der Hoch-Meister oder Marggrafen zu Brandenburg, wie auch anderer Fürsten und Herren vortreffliche Begräbnisse zu besehen. Auch bemercke man darin des berühmten Fürstl. Preuss. Rahts und Professoris D. Ambrosii Lobwassers ihm selbst verfertigte Grab-Schrift: Expertus mundi vanas res esse, nihilque, Hie quoque nunc iaceo, pulvis et umbra', nihil. Sed qui de nihilo coelum terramque creavit, Me cum carne mea non sinet esse nihil. Hac spe nil mortem feci, Nihil omnia feci , Nil nihili vermes posse nocere scio. In dieser Kirche kan man wöchentlich auch zweymahl die vortrefflichen Wallenrodischen Bibliotheque zu sehen bekommen. In den übrigen Kirchen gibts auch noch viel zu bemerken. Zugleich florirt die Academie, so Anno 1544 gestifftet, in diesem Theile, immassen 19 Professores mit guten Exercitien-Meistern beständig unterhalten, auch in der Communitaet 12 Tische gespeiset werden, daher der Numerus der Studenten leicht zu ermessen, zumahlen da es auch durchgehends wohlfeil zu leben. Im übrigen Theile ist nichts remarquables. Die Handlung ist wegen der bequemen Schiffahrt considerabel, und ist was besonders, dass auf dem Pregel, einem Fluss von etwan 60 Schub breit, die grossen Schiffe nächst an die Stadt und Brücke kommen können. Die Waage, Pack-Hauss und Börse kan man bey solcher Gelegenheit auch nicht vorbey. Die Portification ist nicht sonderlich, und nur zur Nothwendigkeit gemacht. In dem König!. Garten muss man die prächtige Linde bewundern, so unten herum bey die 30 Schritte in Umkreiss hat. Die Einwohner sind Lutherischer, Reformirter und katholischer Religion. Auch finden sich hier Juden und andere Secten. Hier ist auch die König!. Regierung, so aus einem Präsidenten, als zugleich Stadthaltern, 4 Ober-Rähten, 2 Ober-Secretarien, und 12 Land-Rähten etc. bestehe!. - Wirths-Häusem finden sich überflüssig, insonderheit sind zu recommendiren der Polnische Krug in der alten Stadt, im Löbenicht der Palm-Baum, im Kniephof sind das weisse Ross, der Bären- und Löwen-Krug die besten. Königsberg, bat die Festung und den Haven Pillau, zur lincken Hand, auf 6 Meilen.6

6 Zit. nach: Königsberg in alten und neuen Reisebeschreibungen. Ausgewählt von Birgina Kluge, Düsseldorf 1989, 33 f.

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Rud olf Malter

Was vor allem auffällt, ist die Tatsache, daß der Besucher keinen Hinweis auf die Institution erhält, um die sich auch in Königsberg später ein gutes Teil Kulturleben zentrieren sollte: das Theater. In Königsberg gab es zu dieser Zeit kein festes Domizil für Schauspiel- oder Konzertaufführungen, ja, wie aus einem bemerkenswerten Zeugnis hervorgeht, der König mußte sogar um die Erlaubnis dafür gebeten werden, daß die Hilferdingsche Truppe überhaupt in Königsberg spielen durfte. So schreibt der Gouverneur, Herzog von Holstein-Beck, 1736 das folgende Bittgesuch an den König: „Wenn Ew . K. Maj . erlauben wollten, daß solche [die Schauspieler eines Prinzipals Hilferding) uns ein Bischen was vorspielten, so würden Allerhöchst dieselben uns dadurch eine große Gnade thun, weil es ohnehin allhier was triste ist. Die Sünde, so man mir davon machen dürfte, will ich alle auf mich nehmen. " 7 Der König war bekanntlich kein Freund des Theaters. Aber daß im Zusammenhang des Bittgesuchs von „Sünde" die Rede ist, weist auf einen Umstand hin, der für Königsberg, auch ohne des Königs Theaterabneigung, ein reges Theaterleben lange Zeit ausschloß: die Herrschaft des Pietismus und der Orthodoxie - zweier einander feindlicher Richtungen, die aber selber wieder einen gemeinsamen Feind hatten: den Rationalismus der Aufklärung. s Zeitweise existierten die heterogenen Richtungen nebeneinander, in Kämpfe verstrickt und in sich zerstritten. Aber dabei blieb es nicht, es bildete sich vielmehr sowohl nach der Seite der Theologie als auch nach der Seite der Philosophie hin eine Synthese vor allem zwischen Pietismus und Rationalismus Wolffscher Provenienz, wie es sie in dieser charakteristischen Form an anderen Orten kaum gegeben haben dürfte. Die Schlüsselfigur bei dieser Amalgamierung von pietistischer Religiosität und Aufklärungsgeist wurde Franz Albert Schultz, Kants Förderer und Lehrer. Seiner intellektuellen und organisatorischen Tatkraft als Direktor des Collegium Fridericianum, der „Pietistenherberge", und als Professor der Theologie an der Universität verdankte das geistige Leben der Stadt erste Initiativen, die das Aufblühen der Königsberger Kultur in der zweiten Jahrhunderthälfte vorbereiteten.9 Kant wollte Schultz 10 ein literarisches Denkmal setzen, er kam nicht dazu. Sein Tischfreund Hippel hat in seiner humoristisch-verschlungenen Art den merkwürdigen Theologen aus Pietismus und Wolffianismus in seiner Autobiographie mit deutlicher Spitze gegen den fragwürdigen Aufklärer Friedrich II. gewürdigt: Die Theologie hörte ich bey einem Philosophen, dem größten Wolfianer, den Wolf erzeugt hat; wenigstens soll Bar. Wolf immer gesagt haben: Hat mich je jemand verstanden, so ists Schultz in Königsberg. Aller seiner unzubestreitenden Philosophie, die Kant sehr benutzt hat, unerachtet, war dieser Schultz dennoch ein großer Pietist, der sich sehr viele Mühe gab, Schulen in Litthauen zu errichten, in Königsberg das Coll. Fridericianum, dessen Director er war, zu pietisiren, und durch Armenschulen armen Studenten und

7 8 9 10

Zit. nach: Königsberg (Merian-Reihe), München 1955, 80. Vgl. u. a. Erich Riedesel , Pietismus und Onhodoxie in Ostpreußen, Königsberg-Berlin 1937. Vgl. Altpreußische Biographie, Bd. 2 , 643 f. Zu Kant-Schultz vgl. G, 12, 21 , 46f„ 115, 194, 204, 214.

Königsberger Gesprächskultur

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armen Kindern zu helfen. Nachdem er aber sehr viele Jahre geglaubt hatte, er würde durch die Pietisterey, nach welcher man durch tägliche Reue und Buße den alten Menschen aus = und den neuen anziehen zu können glaubt, eine förmliche Revolution bewirken und das Gute herrschend machen: so fand er, daß, da er von der orthodoxen Seite die schrecklichsten unerhörtesten Verfolgungen erlitten, die meisten seiner Anhänger Heuchler gewesen waren und ihn betrogen hatten. Da Friedrich Wilhelm I. seine Seite und die Seite der Pietisten überhaupt hielt, die Königin hingegen zur Fahne der Orthodoxen sich geschlagen hatte: so war es denn wohl natürlich, daß das Muttersöhnchen Friedrich II. den guten Schultz beym Antritt seiner Regierung aus dem Consistorio setzte, und ihm so sehr als möglich die Flügel beschnitt; indeß ließ er ihm die Professur und Predigerstelle bis an sein Lebensende. - War es dein Ernst, guter Friedrich, die Menschen moralisch besser zu machen: so hättest du diesen Versuch nicht unterbrechen, sondern befördern sollen, einen Versuch, der auf Vernunft gebaut war, und der mindestens so viel bewirkt hat, daß im Preußischen unter den gemeinen Leuten weit mehrere, als irgend wo anders, England und Frankreich nicht ausgenommen, lesen und schreiben können! War es indeß blos königlicher Scherz mit deinem Aufklärungswu.nsche: alsdann mußte Schultz freylich ohne Red und Recht seine Flügel verlieren und seinen Aufklärungsbemühungen Zaum und Gebiß angelegt werden! Dieser gewiß gelehrte Mann lehrte mich die Theologie von einer andern Seite kennen, indem er in selbige so viel Philosophie brachte, daß man glauben mußte, Christus und seine Apostel hätten alle in Halle unter Wolf studirt. Und so ist allemal der Lauf der theologischen Welt gewesen, daß man nämlich anfänglich die neue philosophische Secte aus christtheologischer Liebe bis aufs Blut verfolgt, nachmals aber ihr als seiner beschützenden Macht huldigt. Wie viel Weisheit muß in der Lehre Jesu liegen, da bey aller ihrer Einfachheit sie sich doch zu allen Vemunftsanstrengungen paßt!1 1

Die andere Schlüsselfigur, ebenfalls eine Persönlichkeit, die Pietismus und Wolffianismus auf originelle Art vereinigte, war Kants Hauptlehrer Martin Knutzen.12 Wie Schultz hätte auch ihm ein „Denkmal" aus der Feder Kants gehört. Gerühmt hat er ihn immer - und dies mit Recht. Benno Erdmann hat seine philosophische Leistung in einer noch immer unüberholten Monographie 13 gewürdigt und die „wunderliche Verkettung der feindlich gesinnten Ueberzeugungen" 14, nämlich des Wolffianismus, also des Hauptzweiges der deutschen Aufklärungsphilosophie, mit dem Pietismus an den einzelnen Teilen des Knutzenschen Lebenswerkes aufgezeigt. Besonderes Interesse hinsichtlich der Vermittlung von Rationalismus und Pietismus verdient Knutzens 1740 ( 4 1747) in Königsberg bei Johann Heinrich Hartung erschienenes religionsphilosophisches Werk, dessen Titel hier ganz zitiert sei, weil er die Intention des Buches programmatisch ausführlich angibt: "Philosophischer Beweiß / von der /Wahrheit der Christlichen Religion, / darinnen / die Nothwendigkeit einer geoffen / barten Religion insgemein, / und / die Wahrheit oder Gewißheit der I Christlichen

11 Theodor Gottlieb von Hippe!, Biographie. Zum Theil von ihm selbst verfaßt. Mit einem Nachwon von Ralph Reiner Wuthenow, Hildesheim 1977 (Repr. Ndr. der Ausgabe von 1801). 12 Vgl. Altpreußische Biographie, Bd. 1, 346. 13 Vgl. Benno Erdmann, Martin Knutzen und seine Zeit. Ein Beitrag zur Gesc.hichte der Wolfischen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kant' s, Hildesheim 1973 (Repr. Ndr. der Ausgabe von 1876). 14

Bbd., 9.

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insbesondere, /aus ungezweiffelten /Gründen der Vernunft / nach / Mathematischer Lehr-Art / dargethan und behauptet wird". Erdmann charakterisiert dieses Werk vor dem spezifisch Königsberger Hintergrund der Aufklärungsrezeption auf pietistischem Boden: „Das Buch ist eins der seltsamsten, die je erschienen sind. Denn die wunderliche Art der Vermischung zwischen Pietismus und Rationalismus, die Schultz' Standpunkt[ ... ] repräsentirt, tritt hier mit vollster Klarheit zu Tage. Nach mathematischer Lehrart, sogar mit Beibehaltung ihrer äusseren Form, der Entwicklung durch Definitionen, Lehrsätze, Lemmata u.s. w. wird uns ein Beweis von der Notwendigkeit und den Kennzeichen einer göttlichen Offenbarung nach pietistischer Auffassung gegeben. Auch hier[... ] zeigen sich die Eigentümlichkeiten, dass nämlich der Glaubensgehalt durch die rationalistische Behandlung durchaus unberührt erscheint, welche Knutzen wie Schultz nicht als Anhänger, sondern nur als Vorgänger des aufklärerischen, theologischen Rationalismus der unmittelbar folgenden Periode kennzeichnen." u Erdmanns Rede von „ Vorgänger[n]" trifft die Sache genau; schematisch könnte man, um die Erdmannsche Unterscheidung von „Anhänger" und „ Vorgänger" auf einen Punkt zu bringen, sagen: Der Materie nach sind beide weitgehend Pietisten, der Form nach Rationalisten - und wenn sie auch bloß der Form nach Rationalisten sind, so haben sie damit der Aufklärung an der Königsberger Universität in Philosophie und Theologie so weit die Tür geöffnet, daß unaufhaltsam deren spezifisches Gedankengut in sie einströmen konnte und Immanuel Kant an seiner Universität bereits als Student die Möglichkeit hatte, aufklärerische Ideen und Denkmethoden sich anzueignen. Was sein wichtigster Lehrer, Martin Knutzen, mehr war: Pietist oder Aufklärer, ist, wenn man die Form-MaterieSchematik zuhilfe nimmt, eine müßige Frage; gleichwohl ist zu vermuten, daß auf die Leser, wenn sie nicht unreflektiert im bloßen Pietismus staken, das rationalistisch-aufklärerische Moment des religionsphilosophischen Werkes einen starken, vielleicht sogar den stärkeren Eindruck als das pietistische Moment machen mußte. Die Vorrede zumindest legt ihren Akzent auf das formale Moment; in ihm verkörpert sich die eigentliche Intention des Werkes, die ja schon der barock-umständliche, aber aufschlußreiche Titel angibt und die gleichsam suggestiv der Ausdruck „Beweis" ankündigt. Fühlt man sich nicht schon teilweise mitten hinein versetzt ins spezifisch aufklärerische Bewußtsein, wenn man u.a. liest: Vernunft und Weltweisheit sind bey jetzigem Zustande der Menschen nicht zureichend uns zum Besitz der wahren Glückseligkeit zu bringen. Sie geben uns aber eine erwünschte Handleitung zu dem höheren Liebte, womit die göttliche Güte dem Unvermögen unserer natürlichen Einsicht zu Hülfe gekommen, um unserem unsterblichen Geiste eine ünbetrügliche Bahn zu seinem ewigen Wohl zu entdecken. Gleichwol fehlet es zu unsern Zeiten an Leuten nicht, die Thorheit und Dünkel genug besitzen, die obenhin erkannte philosophische Wahrheiten zu Bestreitung dieses höheren Lichtes der christlichen Religion zu mißbrauchen, und gleichsam mit eben der Hand, welche uns zu demselbigen hinweisen sollte, es zu bedecken und zu verdunkeln bemüht sind [... ] Die Gründe der christli-

IS

Ebd. , l!6.

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chen Religion, die nicht das Licht zu scheuen Ursache haben, durch einen philosophischen Beweiß in ihrer Klarheit darzustellen, schiene mir ein Vornehmen zu seyn, so weder der Absicht dieser weisen Anstalt entgegen, noch ohne allen Nutzen seyn würde[ ... ] Die Göttliche Vorsehung hat gewiß zu unsern Zeiten mehr, als jemals die größten Männer erwecket, die Vernunftmäßigkeit und tiefe Weisheit der christlichen Lehre in den herrlichsten Schriften darzuthun und zu erweisen. Vor andern ist man den engelländischen Gottesgelehrten für die gottseligen und mit besonderer Stärke der Vernunft ausgeführten Abhandelungen in in diesem Stücke verbunden. Es fehlet uns auch nicht an vortreflichen Schriften von dieser Art, die in französischer, teutscher und andern Sprachen verfertiget worden. Meine Absicht ist dabero keinesweges durch gegenwärtigen Philosophischen Beweis meine Leser von der Erwegung derselbigen abzuhalten; ich werde zufrieden seyn, ja es wird mir eine wahrhafte Freude verursachen, wenn man meinen kurzen Beweis als eine überzeugende Einleitung brauchen wird, dasjenige was in großen und weitläuftigen Büchern schönes und bündiges von der Wahrheit der christlichen Religion zu finden ist, deutlicher zu verstehen und einzusehen? 16

Auch im Blick auf Kants philosophisch-religiöse Entwicklung ist es bedeutsam, daß Knutzen in dieser Schrift das Fenster zu apologetischen Aufklärungsautoren aufmacht und so die eigenen Gedanken einbettet in den epochebestimmenden Strom rationalistischen Philosophierens. Schultz und Knutzen bleiben indes immer noch, wie erwähnt, dem Pietismus verbunden. Daß dieser ebenso wie die Orthodoxie schon Mitte der dreißiger Jahre in Königsberg seitens des literarischen Aufklärungsgeistes einen empfindlichen Schlag erhielt, zeigt die Tatsache, daß das Buch, in welchem er geführt wird, auf den preußischen Index gesetzt wurde: Es handelt sich um das von der Gottschedin verfaßte, anonym 1736 erschienene Stück „Die / Pietisterey / im / Fischbein-Rocke; / Oder / Die Doctormäßige Frau, / in einem / Lust-Spiele / vorgestellet" . 17 Wie Kant später gegen Swedenborg das Verlachen als Instrument der reductio ad absurdum wählen wird, so verfährt die Autorin mit Pietismus und Orthodoxie - unter dem Motto aus Horaz: "Ridiculum acri / Fortius et melius medias plerumque secat res. " 18 Die Verfasserin ist sich der Gefährlichkeit ihres Unterfangens bewußt, aber sie kann sich laut „Brief des [fingierten?] Herausgebers" auf einen Kreis Gleichgesinnter berufen, auf deren Anregung hin das Lustspiel an die Öffentlichkeit übergeben wurde. Der „Herausgeber" schreibt: Ich habe die gröste Ursache von der Welt I E.H. für das neulich übersandte Manuscript verbunden zu seyn. Es ist nicht nöthig I daß ich mit vielen Worten bezeuge / wie unvergleichlich es Denenselben gerathen; da dieses ohnedem das gewöhnliche Urtheil ist / welches die Welt von Dero Schrifften zu fällen pflegt. Wenn ich davor nur die ungemeine Freude beschreiben könnte I welche dadurch in einer grossen und aufgeweckten Gesellschafft neulich entstanden I wo ich dasselbe von Anfang bis zum Ende vorzulesen mir die Freiheit genommen. Dieses aber mit Worten zu beschreiben wird mir gantz unmöglich fallen. Und ich will nur so viel sagen I daß auch die alleremsthafftesten Leute mehr

Vorrede, 1 ff. Vgl. zum Werk der Luise Adelgunde Gousched geb. Kulmus : Helmut Motekat, Ostpreußische Literaturgeschichte mit Danzig und Westpreußen, München 1977, 129f. 18 Das Horaz·Zitat findet sieb auf dem Titelblatt der Ausgabe (Rostock / Auf Kosten guter Freunde I 1736). 16

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als hundert mal überlaut zu lachen genöthiget worden/und daß ich vor dem unzähligen Händeklatschen der übrigen wohl mehr als hundert mal im Lesen inne halten müssen. Das ist aber noch nicht alles. Die gescheidesten Köpffe in dieser Gesellschafft traten alsobald zusammen I und beschlossen mit einhelligen Stimmen I daß man der Welt dieses vortreffliche Lust-Spiel nicht mißgünnen müste. 19

In der Vorahnung der Polemik der in dem Stück lächerlich gemachten Pietisten und Orthodoxen bekennt sich der Herausgeber ausdrücklich zur Karikatur als kritischer Waffe und er kann sich dabei sogar auf den Kampf der Königsberger Fakultätstheologen gegen den Pietismus beziehen. Daß die Gottschedin mit den Pietisten auch die Orthodoxen persiflierte, übergeht der Herausgeber geflissentlich. Der Titel des Lustspiels richtet sich ja bloß gegen die Pietisten - offensichtlich gehörte auch in Königsberg die eigentliche Macht immer noch der Orthodoxie, selbst wenn die Grenzen zwischen den Parteien auch hier ineinanderflossen. Herausgeber (und Autorin, beide wohl personalidentisch) verstehen in dem betreffenden Textpassus sicher ohne Ironie - ihr Geschäft apologetisch. Unter Berufung auf Luthers aggressiven Stil werden auch die satirischen Invektiven des „Lust-Spiels" als Akte der Glaubensbewahrung hingestellt: Ist es etwan eine Sünde / lächerliche Leute auszulachen? Warum haben sie in unzehlichen Schrifften sich selbst der klugen Welt zum Gelächter gemacht? Man hat lange genug emsthafft mit diesen Leuten gestritten: Aber was hats geholffen? Sie sind selber dadurch in dem Wahne bestärcket worden I als ob ihre Neuerungen und Mystische Fantasien was recht wichtiges seyn mußten: Indem sich auch die grösten Gottes-Gelehrten I ja wohl gar gantze Theologische Facultäten die Mühe gegeben / wider sie zu Felde zu ziehen. In diesem Kriege aber ist es gegangen I wie dort bey dem Drachen in der Fabel I dem an statt eines abgehauenen Kopffs allemal drey andere wieder wuchsen. Daher haben schon längst verständige Männer geurtheilet I man müsse solchen Schwärmern die Ehre nicht mehr anthun / ernstlich wider sie zu streiten; und würde besser thun I wann man sie mit Satyrischen Waffen zu erlegen bemühet seyn würde. Dieses haben nun E.H. mit so glücklichem Erfolg ins Werck gerichtet I daß dadurch nothwendig einer unzehlbaren Menge verführter Seelen die Augen geöffnet werden können. Wollte man sagen: Daß gleichwohl die Heil.Schrifft und viele Glaubens-Artickel mit dabey etwas leyden I und so zum Gelächter werden würden; so wird doch ein Unpartheyischer leicht sehen I daß nicht die Scbrifft selbst, auch nicht die Glaubens-Lehren / sondern nur die einfältigste Art I selbige zu mißbrauchen I gemeynet sey. Wäre dieses nicht; so müßte man auch behaupten I der theure Lutberus hätte sieb an den Geheimnissen der Religion vergriffen I weil er den Mißbrauch der Papisten lächerlich und verächtlich zu machen gesucht I ja wol gar die Mönche und Pfaffen vor Ochsen und Esel gescholten / und die Bullen der Päbste Drecketen geheissen. Wem ist es al so zu verargen I wenn er nach Notbdurfft dieser Zeiten in die gesegneten Spuren dieses theuren Rüstzeugs Gottes tr itt?20

Inwiefern auch der von Schultz und später von Knutzen rationalistisch durchformte Pietismus sachlich (oder hinsichtlich Schultz: direkt) von der satirischen Kritik der Gottschedin getroffen sind, läßt sich schwer entscheiden. Wenn diese Modifikation des Pietismus getroffen wurde, so doch mehr am Rande. Denn was

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Pieüsterey, Vorrede, 2f. Ebd., 4 ff.

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positiv hinter der komischen Abrechnung des Pietisterei-Lustspieles steht, steht auch hinter dem rationalisierten Pietismus der Schultz und Knutzen: die Absicht, mit der Vernunft der Religion zu dienen. Dies gehört zur Substanz der in Königsberg in der Jugendzeit Kants einsetzenden Aufldärungsbewegung. Daß Kant selber hinsichtlich der Religion, auch im Rahmen des Kritizismus, indirekt (teilweise sogar direkt) dem apologetischen Impetus der deutschen Aufklärungsphilosophie treu blieb, beweist seine Religionsschrift von 1793. Auch die von seinen Zeitgenossen aufgezeichneten Gespräche berühren zumindest den von seinen Lehrern Schultz und Knutzen propagierten Gedanken einer Verträglichkeit von aufgeklärter Vernunft und Religion.

II. Aujkllirerische Themen in Kants Gesprlichskreis Nach Josef Nadler bilden „Kants Tafelrunde und Hamanns Freundeskreis [„.] die eigentlichen Pflanzstätten des Königsberger Geistes im achtzehnten Jahrhundert. " 21 In der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefaßt", Kants Summe reflektierter Lebenserfahrung, kommt Kant explizit auf die sowohl allgemein-kulturell als auch individuell-moralische Bedeutsamkeit des Gesprächs in der geselligen Tischrunde zu sprechen. 22 Seine Überlegungen zur Gesprächsund Tischgeselligkeit haben einen fundamentalen Begriff aufldärerischer Weltsicht, den der Humanitlit, zum Zentrum. 23 „Humanität", definiert Kant, ist „die Denkungsart der Vereinigung des Wohllebens mit der Tugend im Umgange"24 oder wie man mit einem anderen seiner Ausdrücke sagen kann: „gesittete Glückseligkeit"25 oder wie wir auch sagen können: sinnlich-gesellschaftlich gelebtes Bewußtsein der Freiheit. Was Kant an dieser Stelle der „Anthropologie" besonders interessiert, ist das Moment des „ Wohllebens". Welche Art von Wohlleben, fragt Kant, ist erfordert, damit diejenige Verbindung mit der Tugend entstehen kann, die in der Idee der Humanität liegt? Es ist nicht die sprachlose Gesellschaft mit „Musik, Tanz und Spiel" 26 , denn vor allem im Spiel herrscht ein „ völliger Egoism" 27 , wogegen zur Humanität die wechselseitige Beachtung 21 Josef Nadler, Geistes Leben von der Krönung Friedrich 1. bis zum Tode Kants , in: Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenlande. Hg. vom Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen. Königsberg 1931, 320. 22 Es handelt sich um den § 88 des Werkes; er trägt di.e Überschrift "Von dem höchsten moralisch-physischen Gut" (Akademie-Ausgabe, Bd. 7, 277 ff.); vgl. zum .gesellschaftlichen Discours" ebd., 176f. (Fußnote). 23 Vgl. für die folgenden Ausführungen zur Anthropologiestelle: Rudolf Malter, Formen des Gesprächs - Formen der Humanität. Mit besonderem Blick auf Sokrates und Kant, in: Areopag 1981 , hg. von Gottfried Edel, Pfullingen 1981 , 204ff.; vgl. weiter: Emil Berthold, Kants Regeln eines geschmackvollen Gastmahls und seine Umgangstugenden, in: Altpreußische Monatsschrift 32 (1 895), 189-204 und vor allem: Norbert Hinske: Kants .höchstes moralisch-physisches Gut". Essen und allgemeine Menschenvernunft, in: Aufklärung 5 (1990), 49 -58. 24 Akademie-Ausgabe, 277. 2s Ebd., 277. 26 Ebd ., 277. 21 Ebd., 278.

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der Personen, das Eingehen auf andere - die Achtung ihrer Freiheit gehört. Der Ort, an dem „die Vereinigung des geselligen Wohllebens mit der Kultur und hiermit die wahre Humanität" 28 sich einstellt, ist die Tischgesellschaft, speziell die einer kleinen Gruppe von drei bis zehn Männern (wobei Frauen prinzipiell auch Aufnahme finden). Die Konversation, die in der Tischgesellschaft den Geist der Humanität ausdrücken soll, hat als treibende Kraft nicht bloß den Geschmack, es müssen auch „Grundsätze" die Unterhaltung leiten, die „dem offenen Verkehr der Menschen mit ihren Gedanken im Umgange zur einschränkenden Bedingung ihrer Freiheit dienen sollen. " 29 Dem Gedanken entsprechend, daß wahrhafte, im Gespräch sich konkretisierende Humanität gegenseitige Einschränkung der Freiheit fordert, stellt Kant einige Regeln auf, die die Durchführung intellektuell-geselliger Kommunikation im Rahmen gemeinsamen Essens und Trinkens ermöglichen sollen: 1. das Gesprächsthema soll allgemein interessieren: 2. Pausen sind einzuhalten, tödliche Stille ist zu vermeiden; 3. unnötiger Themenwechsel soll unterbleiben; 4. Rechthaberei darf auf keinen Fall aufkommen; 5. es ist zu beachten, daß auch im Wortgefecht die gegenseitige Achtung nicht verletzt wird: „In dem ernstlichen Streit, der gleichwohl nicht zu vermeiden ist, sich selbst und seinen Affekt sorgfältig so in Disziplin zu erhalten, daß wechselseitige Achtung und Wohlwollen immer hervorleuchte; wobei es mehr auf den Ton (der nicht schreihälsig oder arrogant sein muß), als auf den Inhalt des Gesprächs ankommt: damit keiner der Mitgäste mit dem anderen entzweiet aus der Gesellschaft in die Häuslichkeit zurückkehre "30 , gilt als besonders wichtige Regel. Der Gesprächstyp, der Kant vor Augen schwebt, gibt alle Themen prinzipiell frei und vertritt die Idee der Duldung aller Standpunkte. Die wechselseitige Achtung der Freiheit jedes Gesprächsteilnehmers ist die Basis, auf der eine optimale Freizügigkeit der Rede möglich ist. Die Berichte, die Kants Unterredner speziell von Kants Tischrunde überliefert haben, lassen erkennen, daß die theoretische Reflexion der „Anthropologie" ihr Pendant im Gesprächsalltag des Königsberger Kantkreises hat. Die in der theoretischen Überlegung zur gelebten Humanität bei Tisch angegebenen formalen Hauptmerkmale tauchen bei den verschiedenen Referenten immer wieder auf: Sie rühmen an Kants Unterhaltungsstil Offenheit, Lebendigkeit, Themenvielfalt, Anekdotenreichtum, Witz und Satire, dazu stets das Bestreben, mit deutlicher Vorliebe für das Praktische allgemein interessierende Gegenstände zu behandeln und populär zu reden. Am deutlichsten kommen die dem Urbanitäts- und Humanitätsideal entsprechenden Züge in Jachmanns Biographie zum Ausdruck: Kant besaß die große Kunst, über eine jede Sache in der Welt auf eine interessante Art zu sprechen. Eine umfassende Gelehrsamkeit, welche sich bis auf die kleinsten Gegenstände des gemeinen Lebens erstreckte, lieferte ihm den mannigfaltigsten Stoff zur Unterhaltung und sein origineller Geist, der alles aus einem eigenen Gesichtspunkte ansah, kleidete diesen Stoff in eine neue, ihm eigentümliche Form. Es gibt keinen Gegenstand im menschlichen Leben, über den nicht Kant gelegentlich sprach; aber durch seine Behand-

2s Ebd., 278. 29 Ebd. , 279. 30 Ebd. , 281.

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lung gewann auch der gemeinste Gegenstand eine interessante Gestalt. Er wußte von allen Dingen die merkwürdigste und lehrreichste Seite aufzufassen; er besaß die Geschicklichkeit, ein jedes Ding durch den Kontrast zu heben; er verstand es, auch die kleinste Sache, ihrem vielseitigen Nutzen und den entferntesten Wirkungen nach darzustellen, unter seinen Händen war das Kleinste groß, das Unbedeutendste wichtig. Daher konnte er sich auch mit jedermann in der Gesellschaft unterhalten und seine Unterhaltung fand allgemeines Interesse. Er sprach mit dem Frauenzimmer über weibliche Geschäfte ebenso lehrreich und angenehm, als mit dem Gelehrten über wissenschaftliche Objekte. In seiner Gesellschaft stockte das Gespräch nie. Er durfte nur aus seiner reichen Kenntnisfülle irgend einen beliebigen Gegenstand auswählen, um an ihn den Faden zu einem unterhaltenden Gespräch zu knüpfen. Kant vermied in großen Gesellschaften, selbst unter Gelehrten, Gespräche über eigentliche Schulgelehrsamkeit; am wenigsten hörte man ihn über Gegenstände seiner Philosophie argumentieren. leb erinnere mich nicht, daß er je in der Gesellschaft eine von seinen Schriften angeführt oder sich auf ihren Inhalt bezogen hätte. Sein gesellschaftliches Gespräch, selbst wenn wissenschaftliche und philosophische Objekte der Gegenstand desselben waren, enthielt bloß faßliche Resultate, welche er aufs Leben anwandte. So wie er es verstand, geringfügige Dinge durch den Gesichtspunkt, in welchem er sie aufhellte, zu heben, so verstand er es auch, erhabene Vernunftideen durch ihre Anwendung aufs Leben zu dem gemeinen Menschenverstande herabzuziehen. Es ist merkwürdig, daß der Mann, welcher sich so dunkel ausdrückte, wenn er philosophische Beweise aus den ersten Prinzipien herleitete, so lichtvoll in seinem Ausdrucke war, wenn er sich mit Anwendung philosophischer Resultate beschäftigte. In der Gesellschaft war der dunkle kritische Weltweise ein lichtvoller, populärer Philosoph. Er vermied ganz die Sprache der Schule und kleidete alle seine Gedanken in die Sprache des gemeinen Lebens. Er führte nicht schulgerechte Beweise, sondern sein Gespräch war ein Lustwandeln, das sich bald länger, bald kürzer bei verschiedenen Gegenständen verweilte, je nachdem er selbst und die Gesellschaft an ihrem Anblick Vergnügen fand. Er war in seiner Unterhaltung besonders bei Tische ganz unerschöpflich. War die Gesellschaft nicht viel über die Zahl der Musen, so daß nur ein Gespräch am ganzen Tische herrschte, so führte er gewöhnlich das Wort, welches er aber sich nicht anmaßte, sondern welches ihm die Gesellschaft sehr gern überließ. Aber er machte bei Tische keineswegs den Professor, der einen zusammenhängenden Vortrag hielt, sondern er dirigierte gleichsam nur die wechselseitige Mitteilung der ganzen Gesellschaft. Einwendungen und Zweifel belebten sein Gespräch so sehr, daß es dadurch bisweilen bis zur größten Lebhaftigkeit erhoben wurde. Nur eigensinnige Widersprecher konnte er ebensowenig als gedankenlose Jaherrn ertragen. Er liebte muntere, aufgeweckte, gesprächige Gesellschafter, welche durch verständige Bemerkungen und Einwürfe ihm Gelegenheit gaben, seine Ideen zu entwickeln und befriedigend dac+ustellen. Die Art seiner gesellschaftlichen Unterhaltung war teils disputierend, teils erzählend und belehrend. Bei letzterer wurde er bisweilen durch den Andrang seiner Ideen von dem interessanten Hauptgegenstande abgezogen und dann sah er gern, wenn man ihn durch eine Frage oder durch eine Bemerkung von einer solchen Digression wieder auf den Hauptgegenstand zurückführte. Wer ihm dieses abgemerkt hatte und den Faden des Gesprächs festhielt, den schien er in der Gesellschaft gern in seiner Nähe zu haben. Wenigstens ist mein Bruder, so wie ich selbst, sehr oft in der Gesellschaft von ihm aus diesem Grunde aufgefordert worden, in seiner Nähe am Tische Platz zu nehmen. Seine gesellschaftlichen Gespräche aber wurden besonders anziehend durch die muntere Laune, mit welcher er sie führte, durch die witzigen Einfälle, mit welchen er sie ausschmückte, und durch die passenden Anekdoten, welche er dabei einstreute. In der Gesellschaft, wo Kant war, herrschte eine geschmackvolle Fröhlichkeit. Jedermann ver-

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ließ sie bereichert mit Kenntnissen und neuen Ideen, zufrieden mit sich selbst und mit der Menschheit, gestärkt zu neuen Geschäften und gestimmt zur Beglückung seiner Mitmenschen. Wieviel wir in seinen gesellschaftlichen Unterhaltungen für Herz und Kopf fanden, das können Sie schon daraus schließen, daß mehrere mir bekannte Männer seine Tischgespräche jedesmal ebenso wie vormals seine Vorlesungen, zu Hause aufzeichneten und ausarbeiteten. So viel ich weiß, urteilen auch alle seine Freunde ganz einstimmig, daß sie nie einen interessanteren Gesellschafter gekannt haben als ihn (G, 4-6).

Im Blick auf häufig wiederholte Klischees über Kants Verhältnis zu Frauen bestätigt Jachmanns Bericht, daß Kant - den Ausführungen in der „Anthropologie" gemäß - durchaus an die Teilnahme von Frauen an seinen Gesprächen dachte und daß er in der Tat gern mit Frauen sich unterhielt: Merkwürdig ist, daß Kant sich nicht bloß durch seine Unterhaltungskunst, sondern auch durch sein feines Betragen in der Gesellschaft auszeichnete. Er hatte einen edlen freien Anstand und eine geschmackvolle Leichtigkeit in seinem Benehmen. Er war in keiner Gesellschaft verlegen und man sah es seinem ganzen Wesen an, daß er sich in und für Gesellschaft ausgebildet hatte. Sprache und Gebärden verrieten ein feines Gefühl für das Schickliche und Anständige. Er besaß ganz die gesellige Biegsamkeit und wußte sich in den passenden Ton einer jeden besondern Gesellschaft zu stimmen. Gegen das Frauenzimmer bewies er eine zuvorkommende Artigkeit, ohne dabei das mindeste Affektierte und Gezwungene zu äußern. Er ließ sich gern mit gebildeten Frauenzimmern in ein Gespräch ein und konnte sich mit ihnen auf eine sehr feine und gefällige Art unterhalten (G, 6).

In einer Anmerkung der „Anthropologie" kommt Kant sogar selber auf eine Szene aus seinen geselligen Unterhaltungen mit einer geistvollen Frau, der Gräfin Keyserling, zu sprechen. 31 Doch entspräche es nicht den Tatsachen, wenn man in der Teilnahme von Frauen an Kants Gesprächen mehr als eine Ausnahme sähe. Soweit die überlieferten Texte reichen, bestand die Tischgesellschaft in Kants eigenem Haus durchweg aus Männern. Sie wurden vom Diener am Morgen des Tages, für den eingeladen wurde, eingeladen, „weil er [Kant, R.M.] dann sicher zu sein glaubte, daß sie so spät kein anderes Engagement mehr bekommen würden und weil er wünschte, daß niemand seinetwegen eine andere Einladung ausschlagen möchte" (G, 8). Bei der Auswahl der Personen befolgte Kant zwar kein strenges Prinzip, aber es läßt sich doch leicht eine deutliche Tendenz erkennen, nämlich: die Personen so auszuwählen, daß eine thematisch möglichst breite Basis für das Tischgespräch garantiert wurde. So finden sich unter seinen Gesprächspartnern Kaufleute, Verwaltungsbeamte, Theologen, Juristen, Mediziner, Militärs, auch Professoren, aber aus ihrer Gruppe nur wenige ihm persönlich nahestehende Kollegen. Das Interesse, in einem Freundeskreis zu verkehren, der sich weder auf die Professorenschaft noch auf irgend eine andere Berufsgruppe beschränkte, wird nach dem Zeugnis der Biographen schon beim jungen Kant sichtbar. 32 Aus Jachmanns Bericht geht hervor, daß Kant schon lange vor Einrichtung eines eigenen Haus-

Vgl. ebd„ 262f. (Fußnote). Zu Kants Vorliebe für Kaufleute vgl. Fritz Gause, Kants Freunde in der Königsberger Kaufmannschaft, in: Jahrbuch der Albertus-Universität Königsberg 9 (1959), 49-67. 31

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standes sich in einer Gesellschaft bewegte, in der nicht bloß die unterschiedlichsten Berufszweige vertreten waren, sondern auch die Schranke zwischen Adel und Bürgertum eine zwanglose Gesprächsgeselligkeit nicht hinderte: Am öftesten besuchte er die Mittagsgesellschaften bei dem jetzigen Staatsminister v. Schrötter; bei den Gouverneurs von Preußen, Grafen Henkel von Donnersmark und General der Infanterie v. Brünneck; bei dem Herzoge von Holstein-Beck; bei dem Grafen v. Kaiserlingk; Kammerpräsident von Wagner; Geheimen Rat v. Hippe!; Kriegsrat Scheffner; Bancodirektor Ruffmann und Kaufmann Motherby, bei welchem letztem er regelmäßig alle Sonntage aß (G, 7).

Geht man die von Norbert Hinske edierten Texte aus der Berlinischen Monatsschrift33 durch und vergleicht man die dort in repräsentativer Auswahl dargebotenen typisch aufklärerischen Themenkomplexe mit dem Gehalt der uns überlieferten Kant-Gespräche, so mag sich Enttäuschung einstellen: Die Gespräche liefern auf den ersten Blick recht wenig Material, aus dem etwas über das genuin aufklärerische Themenfeld in den Kantischen Gesprächen zu entnehmen wäre. Dieser Eindruck besteht zu Recht. Aber seinen Ursprung sollte man weniger in der Dürftigkeit von Kants Unterhaltungen suchen als vielmehr in der Dürftigkeit der Überlieferung. Zwar wird berichtet, daß sich Gesprächsteilnehmer zuhause Gedächtnisprotokolle angefertigt hätten - so sicher Hippe! - , aber das tradierte Material, auch die ausführlicheren Berichte der Biographen und der auswärtigen Besucher, deuten den Reichtum der von Kant geführten Unterhaltungen weitgehend bloß an. Kant hat - im Unterschied etwa zu Goethe - keinen Gesprächsreferenten gefunden, der auch nur entfernt an Eckennann, Riemer, Falle, v. Müller u.a. herankommen würde. Wahrscheinlich sind die meisten der bislang bekannt gewordenen Gesprächsberichte mehr marginal aufgeschrieben worden; wahrscheinlich bilden die Aufzeichnungen von Reisenden, die Kant besucht haben und die die einmalige Gelegenheit einer Unterhaltung mit ihm besonders zu schätzen wußten, besonders authentische Zeugnisse - vorausgesetzt, sie haben es unterlassen, im nachhinein Kant Aussagen in den Mund zu legen, die sie erfunden oder aus der Fama übernommen haben. Fällt so das Kant-Gesprächecorpus im ganzen thematisch recht spröde aus, so gilt dies in verstärktem Maße für das Thema „Aufklärung" . Daß in Kants Gesellschaft häufig von den Gegenständen gesprochen wurde, die in einem weiten (über die Philos.~phie hinausführenden) Sinn zu diesem Themenkomplex gehören, dürfte aus dem Uberlieferten, das als Spitze eines Eisberges zu nehmen ist, mit großer Wahrscheinlichkeit zu schließen sein. Dafür gibt es eine Reihe von Anhaltspunkten: 1. Direkt zu Aujkltirung und zur Auseinandersetzung mit ihr finden sich einige zerstreute Bemerkungen: Kant plant eine Auseinandersetzung mit Mendelssohn (G, 270f„ 272f.) und beschäftigt sich mit Hamanns Übersetzung von Hume's „Dialogues" (G, 164); der KampfHamanns gegen den aufklärerischen Rationa-

33 Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. In Zusammenarbeit mit Michael Albrecht ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Norben Hinske, viene, um ein Nachwon erweitene Auflage , Darmstadt 1990.

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lismus, für Hamann sich verkörpernd in Kant und literarisch sich niederschlagend in den „Sokratischen Denkwürdigkeiten", geht zumindest auf ein Gespräch zwischen Kant, Berens und Hamann zurück (G, 49f.); nach Borowski wußte Kant wenig von der zeitgenössischen Aufklärungstheologie (G, 24f.); Kant interessiert sich jedoch für den Stand der Aufklärung bei den katholischen Geistlichen (G, 421); er unterscheidet hinsichtlich der Religion generell zwischen mehr oder weniger Aufgeklärten (G, 403f.); er liest Dichter der Aufklärungsepoche (an erster Stelle rangiert Liscow, er schätzt Pope, Haller, Wieland, G, 203). Unmittelbar mit aufklärerischen Bestrebungen hängt Kants Interesse an der Erziehungsfrage (G, 111 f.) zusammen - hier kommt auch in den Gesprächen sein Eintreten für das Dessauer Philanthropin zum Ausdruck (G, 141); in diesem Zusammenhang muß sein - gegen Hippel gewendetes - Plädoyer für ein freiheitlich gestaltetes Studium an der Universität genannt werden (G, 95 f., 132 f.) und schließlich fügt sich in das aufklärerische pädagogische Bestreben Kants in Gesprächen mit Hamann erörtertes Projekt einer „Kinderphysik" ein (G, 52 f.). 2. Ein großes Thema der deutschen Aufklärung lautet „Bestimmung des Menschen" .34 Da Kant in die Frage „Was ist der Mensch?" alle anderen philosophischen Fragen einmünden läßt, kann sein eigenes Philosophieren als Weg zur Erkenntnis der menschlichen Bestimmung angesehen werden. Analog zu den vielfaltigen Erörterungen dieses Themas im speziellen Rahmen von Moral- und Religionsphilsophie enthalten die Gespräche einen Passus, der in gewissem Sinne über das hinausführt, was sich sonst bei Kant über Tod und Unsterblichkeit findet. Jachmann hat folgende Unterhaltung aufgezeichnet: Da aus seinem Moralsystem auch der Glaube an eine ewige Fortdauer fließt, in welcher wir uns der unerreichbaren Idee der Heiligkeit in einem unendlichen Fortschritte nähern können, so könnte ich diesen Glauben Kants mit Stillschweigen übergehen, wenn ich Dmen nicht noch eine sehr merkwürdige Äußerung des großen Mannes hierüber mitzuteilen hätte. Wir kamen eines Tages in einem venrauten Gespräche auf diesen Gegenstand, und Kant legte mir die Frage vor: was ein vernünftiger Mensch mit voller Besonnenheit und reifer Überlegung wohl wählen sollte, wenn ihm vor seinem Lebensende ein Engel vom Himmel, mit aller Macht über sein künftiges Schicksal ausgerüstet, erschiene und ihm die unwiderrufliche Wahl vorlegte und es in seinen Willen stellte, ob er eine Ewigkeit hindurch existieren oder mit seinem Lebensende gänzlich aufhören wolle? und er war der Meinung, daß es höchst gewagt wäre, sich für einen völlig unbekannten und doch ewig dauernden Zustand zu entscheiden und sich willkürlich einem ungewissen Schicksal zu übergeben, das ungeachtet aller Reue über die getroffene Wahl, ungeachtet alles Überdrusses über das endlose Einerlei und ungeachtet aller Sehnsucht nach einem Wechsel dennoch unabänderlich und ewig wäre. Sie sehen wohl ohne mein Bemerken, daß dieses pragmatische Räsonnement mit seinem moralischen Vernunftglauben in gar keinem Widerspruche steht, denn letzteres kann etwas anzunehmen gebieten, was der Mensch selbst nicht wünschen mag. Wahrscheinlich hat der Mann, welcher im „Freimütigen" Kant geradehin den Glauben an Gott und an eine künftige Existenz abspricht, diese oder eine ähnliche Äußerung Kants mißverstanden oder mißgedeutet. Kant war weder Atheist noch Materialist, und ich bin

34 Vgl. ebd., XIX ff.

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gewiß, daß derjenige, welcher dieses behauptet, den großen Mann entweder nicht persönlich gekannt oder doch nicht begriffen hat. Wie oft ließ sich Kant, wenn er mit seinen Freunden über den Bau des Weltgebäudes sprach, mit wahrem Entzücken über Gottes Weisheit, Güte und Macht aus! wie oft sprach er mit Rührung über die Seligkeit eines bessern Lebens! und hier sprach dann das Herz des Weltweisen und Menschen als ein unleugbarer Zeuge des innem Gefühls und der aufrichtigen Überzeugung. Ein einziges solches Gespräch über Astronomie, wobei Kant stets in eine hohe Begeisterung geriet, mußte nicht allein einen jeden überzeugen, daß Kant an einen Gott und an eine Vorsehung glaubte, sondern es hätte selbst den Gottesleugner in einen Gläubigen umwandeln müssen. Daß Kant mit dem eiteln Spiel des irdischen Lebens nicht so zufrieden war, daß er seine Rolle noch einmal zu spielen wünschte, sich nach einem Himmel sehnte, dessen Bewohner sieb nicht wie hier das Leben einander verleiden, sondern durch Rechtschaffenheit beglücken, läßt sieb aus seiner Versicherung schließen, die er einstmals in einer Gesellschaft äußerte, daß er es für kein übles Zeichen seines künftigen Wohnorts ansehen würde, wenn ihm sein damaliger treuer Diener Lampe und andere ihm ähnliche ehrliche Menschen entgegenkämen. Nach einer künftigen Gemeinschaft mit großen Geistern strebte der Mann mit großem Geiste nicht, sondern nach einer Gemeinschaft mit Edeln und Rechtschaffenen. Vielleicht daß er sich mit seiner jetzigen Vemunfteinsicht begnügte; vielleicht daß sein großer Geist durch andere keine Aufschlüsse höherer Erkenntnis zu erhalten hoffte; soviel ist gewiß: Kant suchte seine künftige Seligkeit nicht in der w~hselseitigen Mitteilung höherer Weisheit, sondern in dem Umgange mit reinen, tugendhaften Seelen

(G, 231-233).

Das hier geführte „pragmatische Räsonnement" , das die Unsterblichkeitsidee

im Rahmen des Verhältnisses von moralischem Vernunftglauben und Willen zum ewigen Leben behandelt, dürfte in seiner Art ziemlich singulär bei Kant sein. Ob er auch in anderen Gesprächen ähnliche Auffassungen geäußert hat, läßt sich nicht entscheiden. 3 s Immerhin weist die zumindest in seiner Tendenz überraschende Jachmann-Unterhaltung auf einen besonderen Wert der Gesprächsberichte für die Beurteilung von Kants genereller Stellung zur Religion hin : Einerseits wiederholen sich in den Gesprächen die aus dem Schriftencorpus bekannten religiösen Sympathien (u.a. die zeitlebens bleibende Aufgeschlossenheit für den in der Aufklärungsphilosophie so bedeutsamen teleologischen Gottesbeweis, G, 15, 526 sowie das Festhalten am moralischen Sinn der Bibel, G, 565) und Antipathien, an denen sich besonders gut Kants aufklärerisches Verhältnis zur Religion ablesen läßt (u.a. Antipathie gegenjede Art von Schwärmerei, G, 96, 347, gegen religiöse Heuchelei, G, 526f., gegen Aberglauben, G, 163f„ 339 und gegen jegliche Mystik in der Philosophie, G, 96, 513), andererseits erfährt der Leser der Gespräche - hier hängt allerdings alles von deren (teilweise fragwürdig erscheinenden) Authentizität ab - etwas über die von den Königsbergern und von Besuchern Kant unterstellte Ambivalenz seiner religiösen Haltung, die, auf ihre Substanz hin betrachtet, auch eine Tendenz des Aufklärungszeitalters widerspiegelt: so über seine Gleichgültigkeit gegenüber der kirchlichen Religiosität

3S Zu diesem Gespräch vgl. Rudolf Malter, Königsberg und Kant im .Reisetagebuch" des Theologen Johann Friedrich Abegg (1798), in: Jahrbuch der Albertus-Universität Königsberg 26127 (1986), 5-25.

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(G, 138f.) und über seine Distanzierung vom Christentum (G, 152f., 452); die in dieser Hinsicht radikalste Gesprächsaussage referiert Abegg: Kant soll im Zusammenhang einer Unterredung über die Folgen einschneidender geschichtlicher Ereignisse (speziell der Französischen Revolution) zu Kriegsrat Jensch, der auf die Folgen der Kreuzzüge und der Reformation hinweist, gesagt haben: „Die Religion wird keinen Fortbestand mehr haben, und alles wird nach freyer Überzeugung geschehen. Die Natur, der Text - und von den früheren Religionskenntnissen wird man beibehalten, was man für gut erachtet. Die Bibel wird immer viel Autorität haben, und sie ist auch das beste Buch von dieser Art. Es ist gut, daß auch nicht einmal die theophilen Theologen auf Credit auszeichnend Gottesdienst haben. Nichts Privilegirtes." (G, 461). 3. Aufklärerischer Geist durchzieht auch Kants Gespräche über Politik. Die Idee des Republikanismus, der er in seinen Schriften huldigt und die ihn mit der französischen Aufklärung verbindet, kommt in den Unterhaltungen über konkrete politische Ereignisse immer wieder zur Sprache. Zentrum der Gesprächsaussagen zu dieser Thematik ist die Französische Revolution (G, 6 , 348 ff., 351, 358 f. , 395 , 449). Aus den Gesprächen mit Abegg erfahren wir, daß Kant in Königsberg im Ruf eines Jakobiners stehe {G, 448) ; Abegg berichtet weiter von Kants kritischen Äußerungen anläßlich einer Unterhaltung über das Allgemeine Preußische Landrecht, über seine Forderung, Recht müsse vor Macht gehen (faktisch sei es aber umgekehrt G, 449) und der König solle sich nicht in die Belange von Philosophie und Religion einmischen (G, 454). Besonders aufsschlußreich ist das, was Borowski über Kants Äußerungen zum Wöllnerschen Religions-Edikt schreibt: das Edikt habe keineswegs Kants Billigung gefunden, er habe ihn, Borowski, ermahnt, bei einer verordneten Assessur in der Examinationskommission sich an das vom König sanktionierte Edikt zu halten (G, 328) . Vom Wöllnerschen Edikt ist auch die Rede in einem der höchstwahrscheinlich direkt authentischen Texte der Gesprächesammlung - einer Aufzeichnung Hippels, die zumindest teilweise wörtlich die Dialoge wiedergibt, die bei einer Zusammenkunft am 16.12.1788 im Hause Keyserling stattfanden (vgl. G 336ff.) . Unter den in größerer Zahl versammelten Gästen befanden sich neben Kant und Hippe! die Gräfin Keyserling, Frau von der Recke und Professor Holzhauer, Jurist an der Königsberger Universität. Kant äußert sich zwar nur am Rande zum Religionsedikt (genauer: Hippe! berichtet dies so), aber auch das, was andere Gesprächsteilnehmer über die politischen Hintergründe und über die Auswirkungen des Edikts, vor allem über die Kritik Heinrich Würtzers an ihm, beitragen, vermittelt einen im Gesprächecorpus einmaligen Einblick in die Königsberger Gesprächskultur der Aufklärungszeit - und läßt zudem erkennen, daß wohl zwei Themenkreise auch hier ständig zentral gewesen sein müssen: Religion und Politik. Neben dem Religionsedikt kommt auch die Starksche Fehde zur Sprache, und auf sie bezogen äußert sich auch Kant, doch nur marginal. Instruktiver ist die Bemerkung, die Kant gegenüber der Frau von der Recke über die Dogmatik der natürlichen Religion macht (G, 339) und politisch interessant ist seine (leider nur summarisch referierte) Kritik an der russischen Politik (G , 338). Daß Rußland für Kant ein besonders beliebter Gesprächsgegenstand war, vermerkt auch Abegg, damals (1798) ging es insbesondere um den Zaren Paul (G, 454) ;

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im gleichen Gespräch tadelt Kant die englische Politik (G, 453 , vgl. 393 , 459 f., 518), er tritt ein für die Sache der Iren, Schotten und Amerikaner im Zuge der Entfeudalisierung und Entkolonisierung (G, 234f. , 460) und zeigt sich besonders interessiert an Bonapartes Eroberungszügen (G, 359, 449, 453, 459, 481 , 527). Bedenkt man, daß Kant die berühmteste und einflußreichste Antwort auf die Frage "Was ist Aufklärung?" gegeben und in seinem Oeuvre zahlreiche Ideen reflektiert hat, die in den Kontext der Klärung von „Aufklärung" gehören, so überrascht es, wie bereits angedeutet, daß die überlieferten Gespräche letztlich fast nur marginales Material zum Thema liefern . Doch im Kontext der Königsberger Geisteskultur gelesen, haben sie gleichwohl ihren eigenen Wert, und dies vielleicht nicht so sehr ihres Inhaltes wegen, sondern wegen der Art und Weise, in der sie geführt wurden, und nicht zuletzt auch wegen der Personen, die an ihnen beteiligt waren. Kants Gespräche geben zu erkennen, daß Aufklärung nicht bloß eine von wesentlichen philosophischen Motiven getriebene Strömung war, daß sie auch - und dies zählt vielleicht am meisten - die Kraft hatte, Humanität zu einem Element alltäglichen Lebens zu machen. Kants philosophisches Wirken f

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