Aufklärung, Band 20: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus 9783787324477, 9783787319213

Themenschwerpunkt: Alexander Gottlieb Baumgarten

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Aufklärung, Band 20: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus
 9783787324477, 9783787319213

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AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von Lothar Kreimendahl, Monika Neugebauer-Wölk und Friedrich Vollhardt Redaktion: Marianne Willems

Band 20 · Jg. 2008

Themenschwerpunkt: ALEXANDER GOTTLIEB BAUMGARTEN SINNLICHE ERKENNTNIS IN DER PHILOSOPHIE DES RATIONALISMUS

Herausgegeben von Alexander Aichele und Dagmar Mirbach

FELIX MEINER VERLAG

4

Inhalt

ISSN 0178-7128 Aufklärung. Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. – In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von Lothar Kreimendahl, Monika Neugebauer-Wölk und Friedrich Vollhardt. – Redaktion: Dr. Marianne Willems, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für deutsche Philologie, Schellingstraße 3, 80799 München, E-mail: [email protected]. © Felix Meiner Verlag 2008. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza. Printed in Germany. www.meiner.de

INHALT

Alexander Aichele: Einleitung .......................................................................

5

Siglenverzeichnis ...........................................................................................

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ABHANDLUNGEN

Alexander Aichele: Wahrheit – Gewißheit – Wirklichkeit. Die systematische Ausrichtung von A.G. Baumgartens Philosophie ................

13

Pietro Pimpinella: Veritas aesthetica. Erkenntnis des Individuellen und mögliche Welten ...........................................................................

37

Gottfried Gabriel: Baumgartens Begriff der „perceptio praegnans“ und seine systematische Bedeutung ...........................................................

69

Ursula Franke: Sinnliche Erkenntnis – was sie ist und was sie soll. A.G. Baumgartens Ästhetik-Projekt zwischen Kunstphilosophie und Anthropologie .......................................................................

73

Francesco Piselli: Ästhetik und Metaphysik bei Alexander Gottlieb Baumgarten .........................................................................................

101

Klaus Erich Kaehler: Baumgartens Metaphysik der Erkenntnis zwischen Leibniz und Kant ........................................................................

117

Salvatore Tedesco: A.G. Baumgartens Ästhetik im Kontext der Aufklärung: Metaphysik, Rhetorik, Anthropologie ...................................

137

Stefanie Buchenau: Die Sprache der Sinnlichkeit. Baumgartens poetische Begründung der Ästhetik in den Meditationes philosophicae .....................................................................................................

151

4

Inhalt

Simon Grote: Pietistische Aisthesis und moralische Erziehung bei Alexander Gottlieb Baumgarten ...........................................................

175

Dagmar Mirbach: Ingenium venustum und magnitudo pectoris. Ethische Aspekte von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica ...................................................................................................

199

Clemens Schwaiger: Baumgartens Ansatz einer philosophischen Ethikbegründung ........................................................................................

219

Merio Scattola: Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgartens und das Problem des Prinzips ........................................................

239

KURZBIOGRAPHIE

Jakob Meier: Johann Stephan Pütter (1725−1807) ........................................

267

TEXTEDITIONEN

Alexander Gottlieb Baumgarten: Gedancken vom vernünfftigen Beyfall auf Academien, herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Alexander Aichele ........................................

271

Alexander Gottlieb Baumgarten: Praelectiones Theologiae dogmaticae (Auszüge), herausgegeben von Dagmar Mirbach und Thomas Nisslmüller ...................................................................................

305

Georg Friedrich Meier: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, herausgegeben von Dagmar Mirbach .........................................................

351

E I N L E I TU N G

Ohne Zweifel hat Alexander Gottlieb Baumgarten als der „führende Denker der deutschen Hochaufklärung“1 zu gelten. Schon viele der Zeitgenossen des am 17. Juli 1714 zu Berlin geborenen und am 27. Mai 1762 zu Frankfurt an der Oder im Alter von 48 Jahren früh verstorbenen Philosophen,2 als deren bekannteste vermutlich Immanuel Kant3 und Johann Gottfried Herder4 zu nennen wären, teilten diese Auffassung. Gleichwohl fiel Baumgartens Werk im langen Schatten Kants und des Deutschen Idealismus bzw. deren Nachfolgediskussionen des 19. Jahrhunderts bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert der Vergessenheit anheim und teilte damit das Schicksal der deutschen vorkantischen, genauer: vorkritischen Aufklärungsphilosophie. Erst die Repsychologisierung der Erkenntnistheorie und die damit einhergehende Beanspruchung der Ästhetik und ihrer Geschichte als Wissenschaft durch die aufstrebende und um Emanzipation von der Philosophie, aus der sie hervorgegangen war, bemühte akademische Psychologie rückte Baumgartens Arbeiten zur Ästhetik gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder ins Licht eines allerdings eher ephemer bleibenden Interesses,5 das womöglich auch dem Drang der jungen Wissenschaft Clemens Schwaiger, Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie bis 1785, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, 50. 2 Vgl. zu Baumgartens Biographie die zeitgenössische Lebensbeschreibung von Georg Friedrich Meier in diesem Band und die Kurzbiographie von Ursula Niggli, Einleitung, XVII–XLV, in: Alexander G. Baumgarten, Die Vorreden zur Metaphysik, hg., übers. und kommentiert von Ursula Niggli, Frankfurt am Main 1998. 3 Es bedarf wohl keiner ausführlicheren Erwähnung mehr, daß Kant die Werke des „vortreffliche[n] Analyst[en] Baumgarten“ (Kritik der reinen Vernunft, A 21/B 35, Anm.) über Jahrzehnte hinweg seinen Vorlesungen zur Metaphysik und zur Moralphilosophie zugrundelegte. Zu Kants Betonung des analytischen Charakters von Baumgartens Methode vgl. Kant, Über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. Zur Beantwortung der Frage welche die Köngl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf das Jahr 1763 aufgegeben hat, in: AA, Bd. 2, 273-301. 4 Zu nennen sind etwa folgende Schriften Herders: Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften (1767), in: Johann Gottfried Herder, Werke, hg. von Wolfgang Pross, Bd. 2: Herder und die Anthropologie der Aufklärung, München, Wien 1987, 14–31; und das erste Stück des Vierten kritischen Wäldchens: Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen: Über Riedels Theorie der schönen Künste (1769), in: ebd., 57–240, insb. 66–79. 5 Dies dokumentieren die schon aufgrund ihres Materialreichtums immer noch lesenswerten Arbeiten Karl Heinrich von Steins (Die Entstehung der neueren Ästhetik, Stuttgart 1886) und seines Schülers Robert Sommer (Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller, Würzburg 1892). 1

Aufklärung 20 · © Felix Meiner Verlag 2008 · ISSN 0178-7128

Einleitung

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nach Selbstnobilitierung durch Ahnenforschung geschuldet sein mochte. Das eigentliche Verdienst der Wiederentdeckung Baumgartens, nicht nur für die Geschichte der Ästhetik und die philosophiehistorische Forschung, insbesondere im Blick auf Kant, sondern auch der systematischen Bedeutung seines Werks, gebührt daher Ernst Cassirer. Denn Cassirer betont Baumgartens kritische Abgrenzung von der Schullogik des orthodoxen Wolffianismus aus systematischen erkenntnistheoretischen Gründen, wenn er etwa schreibt: Baumgarten „ist nicht nur einer der Führer der Schullogik gewesen, [...] der sie bis zu ihrer höchsten formalen Vollendung geführt hat; sondern seine eigentliche gedankliche Tat besteht darin, daß er sich in eben dieser Vollendung ihrer inhaltlichen, ihrer systematischen Grenze aufs stärkste bewußt geworden ist“.6 Aus dieser vernunftkritischen Einsicht ergibt sich einerseits die systematische Notwendigkeit, in die Architektonik der theoretischen Philosophie eine Ästhetik zu integrieren und damit diese Architektonik nachhaltig umzugestalten, und andererseits die „Begründung einer neuen ‘philosophischen Anthropologie’“, welche die Sinnlichkeit des Menschen mit seiner Rationalität gleichberechtigt behandelt und damit ein „neues Ideal der Humanität“ fundiert.7 Trotz der von Cassirer niemals aufgegebenen Auffassung, daß der „philosophische Diskurs der Aufklärung [...] in der Philosophie Kants [münde]“,8 traut er damit Baumgartens Denken offenbar ein größeres systematisches Potential zu, als Kant dies tat, der schon unterwegs zu seiner vernunftkritischen, transzendentalphilosophischen Position gerade eine architektonische Schwäche des bloßen Analytikers Baumgarten feststellt.9 Anders jedenfalls als etwa Max Wundt, der zwar immerhin Baumgartens Ontologie eine gewisse Eigenständigkeit innerhalb der wolffianischen Schulphilosophie bescheinigt und ihr „als Brücke zwischen der Scholastik und Kant [...] eine ziemliche Bedeutung“ zugesteht, wobei „das Buch [die Metaphysik] doch nun einmal wegen Kants jahrzehntelangem Umgang mit ihm wichtig geworden ist“,10 ermutigt Cassirers Interpretation sowohl zu einer historischen Erfor-

Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, ND der Ausg. Tübingen 1932 mit einer Einleitung von Gerald Hartung und einer Bibliographie der Rezensionen von Arno Schubbach, Hamburg 1998, 454. 7 Ebd., 471 f. 8 Gerald Hartung, Einleitung, in: Cassirer, Aufklärung (wie Anm. 6), VII–XXIII, hier XVIII. 9 Vgl. die Belege für Kants diesbezügliche Kritik an Baumgarten in: Paul Menzer, Kants Ästhetik in ihrer Entwicklung, Berlin 1952, 208, Anm. 5. Über die Angemessenheit dieser Kritik Kants kann an dieser Stelle freilich nicht entschieden werden, setzte dies doch zunächst einmal eine systemimmanente Analyse der Baumgartenschen Philosophie voraus, die es bislang nicht gibt. Eine monographische Studie des Verf., die dies leisten soll, befindet sich indes in Vorbereitung. 10 Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie der Aufklärung, Hildesheim u.a. 1992 (2. ND 6

Einleitung

7

schung von Baumgartens Philosophie, die nicht allein auf die beherrschende Gestalt Kants fixiert bleibt – so nötig die philosophiehistorische Aufarbeitung der Beziehung Kants zu Baumgarten weiterhin bleibt11 –, als auch zur weiteren, freilich historisch wie analytisch fundierten, systematischen Auseinandersetzung mit ihr.12 Es kann daher kaum verwundern, wenn eine Studie, die wohl wie keine andere neben Ursula Frankes grundlegender Untersuchung zu Baumgartens Ästhetik13 das Bewußtsein der historischen wie systematischen Bedeutung von Baumgartens Werk und das wissenschaftliche Interesse daran auch in der außerphilosophischen Forschung geweckt hat, eine Formulierung Cassirers – „Emanzipation der Sinnlichkeit“14 – im Titel trägt. Es ist deswegen hoffentlich nicht allzu vermessen, den Anspruch zu erheben oder wenigstens der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, daß die in diesem Band versammelten Beiträge in gewisser Weise – wenngleich mit ganz unterschiedlicher Methodik und aus den verschiedensten Blickwinkeln – an den soeben grob skizzierten Geist der Auseinandersetzung mit Baumgartens Philosophie anschließen möchten, wie ihn Cassirer in vorbildlicher und für ihn charakteristischer Offenheit demonstriert hat. Alle Beiträge versuchen demnach auf ihre Weise, das eigenständige Profil eines Denkers herauszuarbeiten, der philosophiehistorisch häufig genug zu einem unter vielen Verfassern von Kompendien eines orthodoxen Wolffianismus mit einem besondern Faible für die ‘unteren Erkenntnisvermögen’ „ab[ge]stempelt“15 wird, ohne ihm von vorneherein die zweifelhafte Würde des der Ausg. Tübingen 1945), 222. Wundt erwähnt übrigens die dreizehn Jahre zuvor im selben Verlag erschienene Arbeit Cassirers mit keinem Wort. 11 Vgl. dazu etwa die Einleitung zu Clemens Schwaigers Beitrag im vorliegenden Band und C. S., Ein „missing link“ auf dem Weg der Ethik von Wolff zu Kant. Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der praktischen Philosophie von Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), 247–261. Es ist hier der geeignete Ort darauf hinzuweisen, daß die schmerzliche Lücke einer Analyse der engen Beziehung, die zwischen Baumgartens Initia und Kants reifer Moralphilosophie, wie er sie in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft ausarbeitet, nicht mehr geschlossen werden konnte: Eine bereits bestehende, feste Zusage zu einem entsprechenden Beitrag wurde derart kurzfristig zurückgezogen, daß kein Ersatz mehr gefunden werden konnte. 12 Gleiches gilt auch für die Untersuchung von Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (1923), Darmstadt 1981 (ND der 2. Aufl. Tübingen 1967), in der Baumgarten ebenfalls eine bedeutende Rolle spielt. 13 Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972 (= Studia leibnitiana, Supplementa, 9). 14 Vgl. Theodor Verweyen, Emanzipation der Sinnlichkeit im Rokoko? Zur ästhetiktheoretischen Grundlegung und funktionsgeschichtlichen Rechtfertigung der deutschen Anakreontik, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 25 (1975), 276–300. Die Formulierung findet sich in Cassirer, Aufklärung (wie Anm. 6), 475. 15 Schwaiger, missing link (wie Anm. 11), 247. Dieser Einordnung scheint auch noch ein so

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Einleitung

Vertreters einer allenfalls historisch bedeutsamen „Schwellentheorie“16 zuzusprechen, die, wie die Metapher erhellt, ihren Wert nur aus dem gewinnt, was vor ihr und hinter ihr liegt. Indes ist sogleich auf eine Beschränkung hinzuweisen, die jedoch selbstgewählt ist: Die Beiträge beschäftigen sich allesamt aus der Perpektive des Faches, das Baumgarten selbst vertreten hat, mit seinem Werk, d.h. aus der Perspektive der Philosophie, obwohl die meisten unter ihnen quasi auf Schritt und Tritt auf die Relevanz von Baumgartens Überlegungen für andere, besonders kunst-, kultur-, religions- oder rechtswissenschaftliche Disziplinen verweisen und entsprechende Verbindungen herstellen. Diese Konzentration auf die Heimatdisziplin des ‘ordentlichen öffentlichen Lehrers der Weltweisheit’ stellt allerdings keineswegs eine Absage an berechtigte interdisziplinäre Interessen dar. Es schien aber vor dem Hintergrund, daß die vorliegende Aufsatzsammlung wie auch die Fachtagung, deren Ertrag sie dokumentiert, die erste überhaupt ist, die sich ganz auf die Erforschung des Werks Alexander Gottlieb Baumgartens konzentriert, zunächst ratsam, der gleichsam unmittelbar zuständigen Disziplin Gelegenheit zu einer Selbstverständigung über diesen Gegenstand zu geben. Dies geschah freilich auch und gerade in der Absicht, weiteren interdisziplinären Forschungsanstrengungen eine verbreiterte fachliche Grundlage zu bieten, aber ebenso in der Hoffnung, solche gar anregen zu können. Weiterhin ermöglicht die fachliche Konzentration, den Blick auf Baumgartens vielgestaltige Beiträge zur philosophischen Diskussion zu eröffnen, die eben nicht nur auf seine epochemachende Begründung der Ästhetik als philosophische bzw. wissenschaftliche Disziplin beschränkt sind. Vielmehr behandelte Baumgarten, wie es die wolffianische Schule lehrte, sein Fach durchaus systematisch in seiner Vollständigkeit von der Logik über die Metaphysik bis hin zu allen Teilen der praktischen Philosophie von der Ethik bis zur Rechtsphilosophie – er verfaßte sogar, wie wenig bekannt ist, eine dogmatische Theologie, die hier erstmals auszugsweise einer breiteren Öffentlichkeit sowohl im Original als auch in Übersetzung zugänglich gemacht wird. Die Frage nach einer Einordnung seiner Ästhetik in dieses komplexe Ganze kann vor diesem Hintergrund kaum umgangen werden und bildet folglich zumindest mittelbar einen gemeinsamen Fragehorizont der vorgelegten Beiträge. Da Baumgarten ganz offenkundig – schon seine berühmte Habilitationsschrift von 1735, die Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, behandelt genauer Kenner der deutschen Aufklärungsphilosophie zuzustimmen wie Norbert Hinske (Wolffs Stellung in der deutschen Aufklärung, in: Werner Schneiders [Hg.], Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der WolffLiteratur, Hamburg 21986, 306–319, hier 310). 16 Egbert Witte, Logik ohne Dornen. Die Rezeption von A.G. Baumgartens Ästhetik im Spannungsfeld von logischem Begriff und ästhetischer Anschauung, Hildesheim u.a. 2000, 39.

Einleitung

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zentrale Aspekte dieser Frage – von Anfang seiner akademischen Karriere an das Problem der Möglichkeit sinnlicher Erkenntnis und ihrer fundamentalen erkenntnistheoretischen wie metaphysischen Bedeutung, aber auch ihrer praktischen Implikationen mehr als intensiv beschäftigte, lag es nahe, die hier vorgelegten Untersuchungen unter demselben Titel zu versammeln, der auch das Thema der ihrer Ausarbeitung vorausgehenden Tagung bildete, nämlich Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus. Die Anordnung der Beiträge ist annähernd gemäß der allgemeinen systematischen Einteilung eingerichtet, der auch Baumgartens philosophisches Werk folgt: Sie beginnt mit den Arbeiten zum logischen bzw. erkenntnistheoretischen und metaphysischen Teil und geht dann zur praktischen Philosophie über.17 Wie jeder weiß, der sich in Forschung oder Lehre mit der Philosophie Alexander Gottlieb Baumgartens beschäftigt oder dies auch nur versucht, ist die Situation, was die Greifbarkeit auch der wichtigsten seiner Texte angeht, nach wie vor immer noch nicht anders als beklagenswert zu nennen: In sorgfältig edierter, vollständiger, kommentierter und übersetzter Form befindet sich derzeit nur die Ästhetik in der von Dagmar Mirbach besorgten Ausgabe auf dem Markt – und auch diese erste vollständige Übersetzung ins Deutsche erschien erst fast genau stolze 250 Jahre, nämlich 2007, nach der Erstausgabe des zweiten Teils 1758.18 Die zweisprachige Edition der Meditationes von Heinz Paetzold von 1983 ist seit langem vergriffen. Alle weiteren Werke Baumgartens sind entweder nur in Nachdrucken oder auszugsweisen Abdrucken erhältlich oder liegen nur in den diversen, oft sehr seltenen Originalausgaben aus dem 18. Jahrhundert vor. Aus diesem Grund wurden dem vorliegenden Band in einem Appendix Editionen zweier besonders schwer zugänglicher Schriften Baumgartens beigegeben: 1. seine Antrittsvorlesung an der Viadrina, die unter dem Titel Gedancken vom vernünfftigen Beyfall auf Academien 1740 und nochmals in deutlich erweiterter Fassung 1741 erschien; 2. in Auszügen samt Übersetzung die 1773 posthum mit einem Vorwort von Johann Salomo Semler herausgegebenen Praelectiones theologiae dogmaticae. Weiterhin findet sich am Ende des Bandes eine Edition des umfangreichsten Nekrologs auf Baumgarten, der von seinem bekanntesten Schüler, Georg Friedrich Meier, unter dem Titel Alexander Gottlieb Baumgartens Leben veröffentlicht wurde und eine Hauptquelle der Biographie bildet.

Auf eine Bibliographie der Forschungsliteratur wurde verzichtet, da auf eine von Dagmar Mirbach betreute und regelmäßig aktualisierte vollständige Bibliographie unter www.alexandergottlieb-baumgarten.de jederzeit zugegriffen werden kann. 18 Dagegen liegen italienische Übersetzungen von Francesco Piselli (Estetica, Milano 1992) und Salvatore Tedesco u.a. (L’Estetica, Palermo 2000) schon etwas länger vor. 17

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Einleitung

Wie bereits erwähnt, sind die in diesem Band gesammelten Aufsätze zum größten Teil aus Vorträgen hervorgegangen, die im Rahmen einer Arbeitstagung mit dem Titel Alexander Gottlieb Baumgarten – Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus vom 23. bis 25. März 2007 an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg in der historischen Bibliothek des Interdisziplinären Zentrums zur Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) auf dem Gelände der Franckeschen Stiftungen stattfand. An der immer noch dort befindlichen Lateinschule erhielt Baumgarten seine Schulausbildung, bevor er zum Studium der Theologie und dann der Philosophie auf die damalige Fridericiana zu Halle wechselte, wo er seit 1737 als Extraordinarius für Philosophie bis zu seiner Berufung nach Frankfurt an der Oder lehrte. Diese Tagung wäre ohne die großzügige Finanzierung durch die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung nicht möglich gewesen: Daher sei ihren Vertretern für die schnelle und unbürokratische Förderung hier an allererster Stelle herzlich gedankt – wer sich in Zeiten knapper Kassen um die Finanzierung wissenschaftlicher Projekte mit nicht unmittelbar erkennbarem ökonomischem Nutzwert bemüht, weiß, was für einen Vorzug es bedeutet, ein solches Projekt mit aus einer einzigen Hand fließender Unterstützung durchführen zu können. Prof. Dr. Lothar Kreimendahl und den Mitherausgebern des Jahrbuchs Aufklärung sei für ihr großzügiges, spontanes Angebot von Herzen gedankt, die Beiträge zu dieser Tagung in diesem außerordentlich anspruchsvollen Rahmen zu publizieren. Auch sei bei dieser Gelegenheit der Redakteurin des Jahrbuchs, Frau Dr. Marianne Willems, und dem Felix Meiner Verlag für die professionelle und unkomplizierte Zusammenarbeit gedankt. Ebenfalls ganz herzlicher Dank gebührt den damaligen Geschäftsführenden Direktoren des IZEA, Prof. Dr. Rainer Enskat und Prof. Dr. Jürgen Stolzenberg, für ihre vorbehaltlose ideelle und organisatorische Unterstützung, die erst die Nutzung der historischen Räumlichkeiten des IZEA für eine Tagung zum Werk ihres ehemaligen Hallenser Kollegen ermöglichte. Nur an numerisch letzter Stelle möchte ich schließlich nicht minder herzlich meiner Mitherausgeberin, Frau Dr. Dagmar Mirbach, danken: Ohne ihr Engagement und ihre Unterstützung bei der Tagungsorganisation wäre weder die Tagung so gelungen verlaufen, wie sie verlaufen ist, noch dieser Band in der Form entstanden, in der er nunmehr vorliegt. Ich spreche gewiß für uns beide, wenn ich der Hoffnung Ausdruck gebe, daß in den Beiträgen ein wenig von dem kollegialen Forschergeist und der jeder Diskussion unentbehrlichen Offenheit der Atmosphäre, wie sie in jenen drei Tagen herrschte, zu spüren sein möge. Hierfür indes sei den Vortragenden und den anderen Teilnehmern an dieser ersten Tagung zu Alexander Gottlieb Baumgarten überhaupt von Herzen gedankt. Alexander Aichele

Siglenverzeichnis der zitierten Ausgaben

I. Werke Baumgartens Ästhetik

Ästhetik (Frankfurt an der Oder 1750/1758), Lateinisch-Deutsch, übers. mit einer Einführung, Anmerkunge und Registern hg. von Dagmar Mirbach, 2 Bde., Hamburg 2007.

Beyfall

Einige Gedancken vom vernünfftigen Beyfall auf Academien (Frankfurt an der Oder 1740), 2. verm. Aufl. Halle 1741, in diesem Band, 283–304.

Briefe

Philosophische Brieffe von Aletheophilus, Frankfurt, Leipzig 1741.

Ethik

Ethica philosophica (Halle 1740), Nachdruck der 3. Aufl. Halle 1763, Hildesheim, New York ²2000.

EthikB

Ethica Philosophica, 2. Aufl. Halle 1751, in: Kant, AA, Bd. 27.2,1, 733–869.

Initia

Initia philosophiae practicae primae, Halle 1760, in: Kant, AA, Bd. 19, 7–91.

Ius naturae

Ius naturae, Halle 1763.

Kollegnachschrift Poppe

Kolleg über Ästhetik, in: Bernhard Poppe, Alexander Gottlieb Baumgarten, Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehung zu Kant, nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens, Borna-Leipzig 1907, 59–258.

Logik

Acroasis Logica in Christianum L.B. de Wolff, Nachdruck der Erstausgabe Halle 1761, Hildesheim, Zürich, New York ²1983, in: Wolff, GW III.5.

Meditationes

Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (Halle 1735), Lateinisch-Deutsch, übers.

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Siglenverzeichnis

und mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983. Metaphysik

Metaphysica (Halle 1739), Nachdruck der 7. Aufl. Halle 1779, Hildesheim, New York ²1982.

MetaphysikA

Metaphysica, Halle 1739.

MetaphysikB

„Praefatio Editionis II“, „Praefatio Editionis III“, „Synopsis“, §§ 1–503, §§ 700–1000 und „Index“ der 4. Aufl. Halle 1757, in: Kant, AA, Bd. 17, 7–226.

Philosophia generalis

Philosophia generalis, ed. cum diss. prooemiali ab Ioh. Christian Foerster, Nachdruck der Erstausgabe Halle 1770, Hildesheim, New York ²2002.

Sciagraphia

Sciagraphia encyclopaediae philosophicae, ed. et praefatus est Ioh. Christian Foerster, Halle 1769.

II. Sonstige Kant, AA

Kants gesammelte Schriften, hg. von der Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. u.ö.

Leibniz, PhS

Gottfried Wilhelm Leibniz, Die philosophischen Schriften, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, Berlin 1885.

Wolff, GW

Christian Wolff, Gesammelte Werke, hg. von Jean Ecole u.a., Hildesheim, New York 1962 ff.

ABHANDLUNGEN

A LEXANDER A ICHELE Wahrheit – Gewißheit – Wirklichkeit Die systematische Ausrichtung von A.G. Baumgartens Philosophie∗

Alexander Gottlieb Baumgartens Übersetzung des Ausdrucks „systema“ folgend, könnte man die folgenden Überlegungen mit einer Bemerkung beginnen, deren gefährliche Nähe zur Trivialität kaum geleugnet werden kann: Die im Titel enthaltene These von der Systematizität des baumgartenschen Denkens ist schon deswegen schlicht unproblematisch, weil sein Urheber das Wort „systema“ kontinuierlich mit „Meinung“ zu übersetzen pflegt, und zumindest den Besitz einer Meinung wird man wohl unschwer einem jeden, auch und gerade Philosophen – Platon und Nietzsche vielleicht ausgenommen – zuschreiben dürfen. Freilich liegt auf der Hand, daß der argumentative und schriftstellerische Aufwand bei der Äußerung solcher „Meinungen“ für diesen Zweck unverhältnismäßig groß erscheint. Doch führt Baumgarten als Beispiele solcher „Meinungen“ immerhin das „systema harmoniae praestabilitae universalis“1 und das „systema caussarum occasionalium universale“2 an, die er beide als „SYSTEMATA EXPLICANDI SVBSTANTIARVM MVNDANARVM COMMERCIVM VNIVERSALIA“ bestimmt, d.h. als „allgemeine Meinungen von der Art und Weise der Verbindung des vor sich bestehenden in einer ganzen Welt“.3 Daraus erhellt bereits wenigstens eine Seite des Meinungscharakters von Systemen: Ein System ist nicht der Zusammenhang der Substanzen untereinander zur Einheit einer Welt, sondern das, was über die Weise, wie diese zu einer solchen Einheit verbunden sind, gedacht wird, und zwar so, daß dies allgemein von der Verbundenheit von Substanzen zu einer Einheit gedacht wird. Systeme sind demnach epistemische Gebilde, denen zwar nicht nur etwas in der ‘vor sich seienden’, d.h. denkunabhängigen, Wirklichkeit, sondern eben ∗

Die vorliegende Untersuchung wurde durch ein von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung für das Jahr 2006 gewährtes, großzügiges Forschungsstipendium ermöglicht. 1 Metaphysik, § 448 pass. 2 Ebd., § 452 pass. 3 Ebd., § 457, vgl. § 448.

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Alexander Aichele

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alles, was in dieser Weise ist, entsprechen kann, aber dies freilich nicht tun muß. Denn es sind ja vorderhand erst einmal mehrere Weisen, deren Einheit zu denken möglich, mithin mehrere Welten denkbar. So zeigt sich die andere Seite des Meinungscharakters von Systemen: Es handelt sich um Möglichkeiten, die Einheit der denkunabhängigen Wirklichkeit zu denken, die folglich allein „subjektive Gewißheit“4 bei sich führen können. Es ist daher ohne eigene Analyse des Realitätsbezuges der in solchen Zusammenhängen auftretenden Aussagen noch nicht ausgemacht, ob eine letztgültige Festlegung des Denkens auf eine einzige solche Möglichkeit gerechtfertigt werden kann oder auch nur zulässig ist, ob diese also etwa in den Status der Notwendigkeit überführt werden könnte. Ein System der Philosophie schiene dann Baumgarten zufolge gar nichts anderes sein zu können als ein Versuch, die Einheit des denkunabhängigen Seienden im Ganzen zu denken. Nun spricht Baumgarten – jedenfalls so weit ich sehe – an keiner Stelle ausdrücklich von seinem eigenen ‘System’ der Philosophie bzw. von seiner Philosophie als ‘System’, wenngleich er freilich den allgemeinen Zusammenhang der Philosophie mit dem System der Gelehrsamkeit überhaupt anerkennt.5 Jene Zurückhaltung ist nun keineswegs der Ungebräuchlichkeit des Ausdrucks geschuldet. Denn einerseits wurde „systema“ schon ab 1600 „zunehmend zum Modewort“6 und andererseits hatte Wolff dessen vorher wenig beachtete Bedeutung definitorisch auf den Begriff gebracht,7 dies auch nicht ohne Stolz für sich reklamiert und ausdrücklich seiner Philosophie zugrundegelegt.8 Demgemäß stellt ein System einen Zusammenhang wahrer Sätze dar, deren Verknüpfung und Wahrheit darin besteht, daß „die Wahrheit eines Satzes durch andere Sätze, die wir als wahr anerkennen, bewiesen wird“.9 Die von Wolff postulierte Identität der mathematischen und der philosophischen Methode10 führt demnach auf den Begriff eines Systems als eines allgemeinen Beweiszusammenhangs von Sätzen, ohne freilich dessen konkrete Bezugnahme auf das denkunabhängige Seiende restlos aufzuklären.11 Vgl. Logik, § 424 pass. Philosophia generalis, § 202: Philosophia cum integro eruditionis systemate est in nexu vniuersali. 6 Christian Strub, Art. System, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Sp.824– 855, hier 828. 7 Vgl. Christian Wolff, De differentia intellectus systematici et non systematici (1729), in: GW II.34.1, 107–154. 8 Christian Wolff, Philosophia rationalis sive logica, in: GW II.1, P. III, § 889. 9 Manfred Baum, Systemform und Selbsterkenntnis der Vernunft bei Kant, in: Hans Friedrich Fulda, Jürgen Stolzenberg (Hg.), Architektonik und System in der Philosophie Kants, Hamburg 2001, 25–40, hier 27. 10 Vgl. Wolff, Philosophia rationalis (wie Anm. 8), P. I, § 139. 11 Darin scheinen auch so unterschiedliche Interpreten wie Baum, Systemform (wie Anm. 9), 4 5

Wahrheit – Gewißheit – Wirklichkeit

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Insbesondere darin und in dem durch die methodische Identität von Mathematik und Philosophie zugunsten der Notwendigkeit eines Systems, des wolffschen nämlich, eliminierten Möglichkeitscharakter von Systemen, deren Anspruch auf Wahrheit und/oder Gewißheit erst eigens zu klären wäre, weil er nicht schon einer konkurrenzlosen und jederzeit allgemein anwendbaren12 Methode entspringt, mag die Ursache von Baumgartens Enthaltsamkeit beim Gebrauch des Systembegriffs liegen. Gerade deswegen ist es geboten, die systematische Ausrichtung seiner Philosophie für sich genommen in den Blick zu nehmen, um zu einem Verständnis dessen zu gelangen, was nach Baumgartens Auffassung ein System der Philosophie zu leisten hätte, und das heißt hier: welche systematischen Probleme es zu bearbeiten hätte. Dies soll in drei Schritten geschehen. Zunächst ist im Ausgang von der „vorläufige[n] Einleitung in die Weltweisheit“,13 welche die Philosophia generalis darstellt, die Definition der Philosophie zu analysieren. Sodann wird der sich daraus ergebende Gegenstand der Philosophie unter Heranziehung der Metaphysica zu erörtern sein. In einem dritten Schritt sind die Bedingungen zu untersuchen, unter denen dieses Ziel erreicht werden kann. Es ist daher im Rückgriff auf die Acroasis logica sowohl der epistemische Status philosophischer Aussagen als auch deren möglicher Realitätsbezug zu klären.

I. Die Definition der Philosophie Baumgartens Philosophia generalis, die von Johann Christian Foerster 1770 posthum herausgegeben wurde, bildet aus mehreren Gründen den geeigneten Ausgangspunkt für die Bearbeitung der vorgelegten Frage: Zum einen enthält sie ausführlichere Darlegungen zum Begriff der Philosophie und ihrer Methode als alle anderen Werke Baumgartens und problematisiert in deren Folge den epistemischen Status, der von philosophischen Aussagen in Anspruch genommen und erwartet werden kann, insofern sie „Verwirrung, Schwanken und Irrtum auf das schwerste behindert“ und „die Grenzen der Vernunft und die Ehrsucht der Gelehrsamkeit zeigt“.14 Zum anderen stellt sie den ersten Teil des baumgartenschen Organon und damit eine unverzichtbare Voraussetzung für ein einheitliches Verständnis der baumgartenschen Philosophie als ganzer dar, d.h. Prolegomena im buchstäblichen Sinne des Wortes, nämlich etwas, das 27 ff., und Hans-Jürgen Engfer, Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiehistorischen Schemas, Paderborn 1996, 278 ff., zumindest implicite übereinzukommen. 12 Vgl. Baum, Systemform (wie Anm. 9), 28. 13 Sciagraphia, § 8. 14 Ebd., § 4.

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vorher zu lesen ist, weil sie die „Wissenschaft von den allgemeinen Prädikaten der Philosophie, die mehreren Teilen derselben gemein sind“,15 enthält, so daß diese Teile erst von dieser Voraussetzung her methodisch entwickelt werden können.16 Baumgarten bestimmt den Begriff der Philosophie wie folgt: Wenn ich Philosophie die Wissenschaft, die Eigenschaften in den Dingen ohne Glauben zu erkennen, nenne, wird deren Nominaldefinition gegeben, eine zwar willkürliche, dennoch gemäß des gemeineren Sprachgebrauchs und der einmal angenommenen Bedeutung,17 bestimmte.18

Bevor auf den Inhalt dieser Definition, die sich auch am Anfang der Acroasis logica19 und in der Antrittsvorlesung20 findet, eingegangen werden kann, ist zunächst ihr logischer Status zu klären. Es handelt sich nach Baumgartens eigener Auskunft um eine Nominaldefinition, d.h. um einen deutlichen Begriff von weder zu vielen noch zu wenigen Merkmalen als zu einem hinlänglichen notwendig sind,21 welcher die Merkmale enthält, die zureichen, um seinen Gegenstand von allem zu unterscheiden,22 aber das Wesen der bestimmten Sache bzw. ihre innere Möglichkeit23 nicht vorstellt.24 Ein solcher Begriff reicht also zu, um eine Sache, etwa Philosophie, zu identifizieren, jedoch weder zum Ausweis der Möglichkeit ihrer Existenz noch ihres Bestandes. Er ist Ebd., § 1. Vgl. ebd., § 2. Den ausführlichen Plan zu einer solchen Propädeutik als „eigene Wissenschafft“ (Beyfall, § 12) stellt Baumgarten bereits in seiner Antrittsvorlesung dar. Vgl. insb. Beyfall, § 12, Anm. **. 17 Vgl. Logik, § 89: VSVS LOQUENDI (Sprachgebrauch) est consensus plurium in communi vita certo termino certum conceptum significandi; hic in disciplinis, RECEPTVS TERMINORVM SIGNIFICATVS (die einmahl angenommene Bedeutung) dicitur. 18 Philosophia generalis, § 21: Si PHILOSOPHIAM scientiam qualitatum in rebus sine fide cognoscendarum dico, datur eius definitio, L. §. 61. nominalis, L. §. 81. arbitraria quidem, secundum vsum loquendi tamen communiorem, receptioremque termini significatium, determiniata, L. §. 90. 19 Logik, § 1: PHILOSOPHIA est scientia qualitatum in rebus sine fide cognoscendarum. 20 Beyfall, § 12, Anm. **: In dem 2. Abschnitt führe [sc. ich] die Erklährung der Philosophie an, daß sie eine Wissenschafft von denen Beschaffenheiten der Dinge sey, die ohne Glauben erkannt werden können. 21 Logik, § 61: Conceptus determinatus s. DEFINITIO (eine Erklärung, oder bestimter Begriff) est conceptus distinctus nec plurium, nec pauciorum notarum, quam quae ad completum sufficiunt. 22 Ebd., § 25: CONCEPTVS notarum ad obiectum ab omnibus distinguendum sufficientium, COMPLETUS (ein hinlänglicher) est; insufficientium, INCOMPLETVS (ein unzulänglicher Begriff). 23 Vgl. Metaphysik, § 40. 24 Logik, § 81: DEFINITIO essentiam rei repraesentans est REALIS s. (genetica,) hanc non repraesentans, NOMINALIS est. 15 16

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unter der Voraussetzung der Definitionsregeln willkürlich gebildet, sofern es mehrere, schon geläufige Bezeichnungen desselben zu bestimmenden Terms geben kann und mehrere Definitionen derselben zu bestimmenden Sache regelgerecht gebildet werden können.25 Die Nützlichkeit von Nominaldefinitionen, die dem gewöhnlichen Sprachgebrauch folgen, in dem im alltäglichen Leben konsensuell bestimmte Ausdrücke bestimmte Begriffe bezeichnen,26 besteht nun in erster Linie darin, daß sie einen Ausgangspunkt zur Bildung von Realdefinitionen bieten.27 Baumgarten zeigt einen solchen Übergang von einer Nominaldefinition zu einer Realdefinition wiederum am Fall der Philosophie: Wenn einer diese Bestimmungen der Dinge, die ohne Hinzuziehung eines Dritten eingesehen, ohne Zeugnisse bewiesen werden können, erweist, wird er Philosophie betreiben. Man hat eine aus der nominalen, § 21, hergeleitete, L. § 89 (sc. recte: 90), Realdefinition, L. § 80 (sc. recte: 81), der Philosophie.28

Die Realdefinition der Philosophie bestünde demnach offensichtlich in nichts anderem als im Vollzug derjenigen Tätigkeit, die in der Nominaldefinition der Philosophie als Philosophie bestimmt worden ist, also in der Wirklichkeit der sprachlich unter Beachtung der einschlägigen Regeln bestimmten Möglichkeit und in der Identifikation dieses Sachverhalts. Dies hätte einerseits zur Folge, daß es Dinge, wie etwa Philosophie, auch dann geben könnte, wenn man nicht oder noch nicht über ihre Definition verfügt. Andererseits aber scheint sich so der begriffliche bzw. erklärende, mithin der definitorische Charakter, der auch für Realdefinitionen gilt, zu verflüchtigen. Denn wenn eine Sache ihre eigene Realdefinition ist, erklärt sie sich auch selbst, und der Nutzen des ganzen philosophischen Unternehmens scheint zuhöchst fragwürdig. So irritierend, ja abstrus dieser Einwand klingen mag: Er ist nicht ganz aus der Luft gegriffen. In der Tat nämlich könnte es sein, daß sich Sachen selbst oder auch durch sich selbst erklären. Sie tun dies jedoch keineswegs auch von selbst. Wie wir bereits gesehen haben, enthält eine Realdefinition die innere Möglichkeit der Sache, auf die sie sich bezieht. Es ist weiterhin klar, daß das Vorliegen einer Sache ihre innere Möglichkeit impliziert. Und ganz offensichtlich kann eine Sache auch vorliegen, wenn sie nicht vermittels einer Nominaldefinition bestimmt Vgl. ebd., § 91. Vgl. ebd., § 89 (siehe Anm. 17). 27 Ebd., § 90: Definitiones nominales, quum ad cognoscendum vsum loquendi receptumque termini significatum, § 89. definitiones reales formandas, § 81. et ea omnia prosint, ad quae resolutio conceptuum in genere, et magis quidem, quam analysis alia quaecunque, sunt vtiles § 32. 28 Philosophia generalis, § 29: Si quis demonstret eas rerum determinationes, quae sine assumto tertio possunt intelligi, sine testimoniis probari, exhibebit philosophiam. Habes definitionem philosophiae realem L. §. 80. ex nominali § 21. deductam L. § 89. 25 26

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und identifizierbar geworden ist oder wenn über ihre innere Möglichkeit nichts ausgesagt wird oder werden kann bis auf dies, daß eine solche schlechterdings gegeben sein muß. Die Sache präsentiert dann durch ihr schlichtes Vorliegen ihre innere Möglichkeit und damit zugleich auch die logische Möglichkeit ihrer Realdefinition, wenngleich damit noch nichts über deren epistemische Möglichkeit entschieden ist. Weil dies so ist und es der Philosophie offensichtlich irgendwie auf die Gewinnung von Realdefinitionen ankommt, deren als problematisch ausgemachte Möglichkeit erkenntnistheoretisch erst gerechtfertigt werden muß, muß sich auch der systematische wie der methodische Schwerpunkt der Philosophie von der Metaphysik in Richtung auf Fragen der Erkenntnistheorie verschieben,29 wie dies bereits die explizite Bezugnahme auf das Thema der Erkenntnis in Baumgartens Philosophiedefinition dokumentiert. Der methodischen Seite dieser Verschiebung trägt Baumgarten Rechnung, indem er die Gewinnung erfolgversprechender Nominaldefinitionen von der analytischen Betrachtung des gewöhnlichen Sprachgebrauchs abhängig macht,30 weil dieser aus dem alltäglichen Leben geschöpft sei.31 Für diesen durchaus modern anmutenden Zugriff führt Baumgarten nämlich den methodischen Grund der Bildung von Realdefinitionen an; der didaktische Vorzug analytischer Übung kann demgegenüber nur die Rolle eines erfreulichen, aber sekundären Nebeneffekts spielen.32 Für die systematische Seite muß gelten, daß der Fokus der philosophischen Aufmerksamkeit auf der Begründung der Möglichkeit der Identifikation einer Sache vermittels der vorab gebildeten Nominaldefinition zu liegen kommt. Und dies ist ein erkenntnistheoretisches Problem, das sich zwar erst vor dem Hintergrund bestimmter metaphysischer Voraussetzungen ergibt, aber nicht allein mit Mitteln der Metaphysik gelöst werden kann.

II. Der Gegenstand der Philosophie Allgemeine Philosophie und Logik stimmen sowohl darin überein, daß der Gegenstand der philosophischen Bemühung die Beschaffenheiten in den Dingen und deren Erkenntnis sind, als auch darin, daß hierzu Nominaldefinitionen nicht zureichen. Es ist demnach zu fragen, was Baumgarten genauerhin unter dem Ausdruck „Realdefinition“ begreift, der offensichtlich als Verwirklichung Dies bemerkt bereits Wilhelm Risse, Die Logik der Neuzeit, 2 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1964 und 1970, hier Bd. 2, 647 f. 30 Vgl. Logik, § 90 (siehe Anm. 27). 31 Vgl. ebd., § 89 (siehe Anm. 17). 32 Vgl. ebd., §§ 90, 91 und 32. 29

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der geforderten Erkenntnis jener Beschaffenheiten zu verstehen ist. Denn bislang ist nur soviel klar, daß sich Nominal- und Realdefinition darin unterscheiden, daß erstere nicht das Wesen – essentia – der Sache vorstellt, auf die sie sich bezieht, während zweitere gerade dies tut. Nun gibt Baumgarten in der Logica noch einen weiteren Hinweis auf den Inhalt von Realdefinitionen, wenn er sie – jedenfalls teilweise – mit „genetischen Definitionen“ gleichsetzt.33 Sie erklären „die Art und Weise, wodurch etwas geschehen kann“ bzw. dessen „Entstehungs-Art“, indem sie dies „für dessen Merkmale zeigen“.34 Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, daß ihr Gegenstand kontingent ist,35 d.h. sowohl sein als auch nicht sein kann.36 Diese Einschränkung bedarf keiner weiteren Erläuterung, da klar ist, daß weder notwendig Seiendes noch unmöglich Seiendes entstehen kann. Die Realdefinition einer kontingenten Sache gibt demnach deren zureichenden Grund an. Obschon ebenfalls klar ist, daß aus verschiedenen zureichenden Gründen verschiedene Wesenheiten hervorgehen,37 bleibt zu fragen: Stellt die Angabe des zureichenden Grundes einer Sache durch eine Realdefinition auch deren Wesen vor, und, wenn ja, wie? Baumgarten bestimmt den Begriff der essentia als „Inbegriff der wesentlichen Bestimmungen in einem Möglichen“ bzw. als „dessen innere Möglichkeit“.38 Diese fällt mit ihrer absoluten, innerlichen Möglichkeit zusammen,39 welche allein die Widerspruchsfreiheit der Bestimmungen einer Sache und daher gerade nicht ihren zureichenden Grund enthält. Wenn es also allein um eine bloße Wesensbestimmung ginge, dann unterschiede sich diese in nichts von einer Nominaldefinition, die allein dem Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs verpflichtet ist. Zu einer Realdefinition, die, wie sich nun zeigt, eine Wesensbestimmung voraussetzt, die der Form nach nicht von einer NomiEbd., § 81 (siehe Anm. 24). Ebd., § 93: Non omnes explicationes §. 28, ne quidem omnes resoluriones, § 29, rationis et modi, (der Art und Weise) quo aliquid fieri potest, s. GENESEOS (der Entstehungs-Art) sunt huius definitiones geneticae §. 63, vel incompletae, vel abundantes § 62. 35 Ebd., § 94: Si DEFINITIO GENETICA dicatur caeteroquin legitima §. 93, definitio, quae modum fiendi, vel quo aliquid fieri potest, pro notis suis exhibens, in contingentibus definitis erit ea quidem realis, neque tamen omnis realis definitio secundum hunc significatum est genetica, §. 81. 36 Vgl. Metaphysik, § 101. 37 Vgl. ebd., § 278. 38 Ebd., § 40: Complexus essentialium in possibili, seu possibilitas eius interna est ESSENTIA (das Wesen) (esse rei, ratio formalis, natura, cf. § 430. quidditas, forma, formale totius, ousia, tinotis, substantia, cf. § 191. conceptus entis primus). 39 Ebd., § 53: Omne possibile determinatum est, qua possibilitatem, § 34, 8. hinc in se possibile, qua possibilitatem internam, § 15, quae quum sit essentia, § 40. omne possibile habet essentiam, determinatum, qua essentiam. Ergo omnimode indeterminatum nihil est, § 7. 33 34

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naldefinition unterschieden werden kann,40 gehört aber die Angabe des zureichenden Grundes. Daraus folgt jedenfalls zweierlei: Zum einen ist von Sachen, deren zureichender Grund nicht angegeben werden kann, gar keine Realdefinition, sondern offensichtlich immer nur eine Nominaldefinition möglich. Und zum anderen muß sich eine Realdefinition stets auf ein Einzelnes beziehen, das nicht nur möglich, sondern auch wirklich ist, da es einen zureichenden Grund besitzt.41 Genau diesen Übergang vom Möglichen zum Wirklichen, das den Gegenstand der Philosophie bildet, begründet nun Baumgartens weitere Argumentation zur Differenz von nominalem Sein und realem Seienden, die durchaus aristotelisch genannt werden kann. Er beginnt, nachdem er von den wesentlichen inneren Bestimmungen eines Möglichen dessen „innere folgende Bestimmungen“,42 die affectiones, unterschieden und für vollständig disjunkt erklärt hat,43 mit einer Erörterung der Möglichkeit des Vorliegens von Wesenheiten. Dabei geht es zunächst um das Verhältnis von essentialia und affectiones. Diese befinden sich in einem wechselseitigen Setzungs- bzw. Aufhebungsverhältnis. Baumgarten schreibt: § 43: Durch ein in einem Möglichen gesetztes Wesen werden affectiones gesetzt. § 44: Durch in einem Möglichen gesetzte affectionibus wird irgendein bestimmtes Wesen gesetzt. § 45: Durch das hinweggenommene Wesen werden irgendwelche bestimmte affectiones hinweggenommen. § 46: Durch die hinweggenommenen affectionibus wird das Wesen hinweggenommen.44 Dies zeigt auch die Reihe von Synonyma des Wesensbegriffs, die Baumgarten angibt; vgl. ebd., § 40. 41 Obwohl dies an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden kann, ist doch zumindest darauf hinzuweisen, daß Baumgarten hier vor dem Hintergrund systematischer Erwägungen zur Metaphysik leibnizischer bzw. monadologischer Provenienz und zur Epistemologie, die durch den Empirismus lockescher Prägung motiviert sind, offensichtlich zumindest zu einer Radikalisierung, vielleicht sogar einer Sprengung der klassischen Unterscheidung zwischen Nominal- und Realdefinition gezwungen ist, wie sie sich in der Logique de Port-Royal findet (vgl. Antoine Arnauld, Pierre Nicole, La Logique ou L’Art de Penser, Hildeshein, New York 1970 [ND d. Ausg. Paris 1662], p. I, chap. X). Vgl. dazu demnächst: Alexander Aichele, Scheinwolffianismus. Quellen und systematische Grundzüge der Philosophie Alexander Gottlieb Baumgartens zwischen Rationalismus und Empirismus. 42 Metaphysik, § 41: Determinationes possibilis internae, rationata essentiae, sunt AFFECTIONES (innere folgende Bestimmungen). 43 Ebd., § 42: Determinatio interna, quae non est essentiale, est rationatum essentiae, §. 39. 40. hinc affectio, § 41. 44 Ebd., § 43: Posita in possibili essentia ponuntur affectiones, §. 41, 30. § 44: Poitis in possibili affectionibus ponitur essentia aliqua § 41, 29. § 45: Sublata essentia tolluntur aliquae affectiones, § 41. 31. § 46: Sublatis affectionibus tollitur essentia, §. 41, 32. 40

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Alle inneren Bestimmungen eines möglichen Seienden also konstituieren dessen Wesen, wenngleich dessen formale Bestimmtheit, mithin die Aussagbarkeit seiner Art, nur in seinen wesentlichen Bestimmungen besteht. Jedoch kann aufgrund des genannten Verhältnisses der wesentlichen und folgenden Bestimmungen von der Bestimmtheit der Affektionen auf das Wesen und umgekehrt geschlossen werden. Weil indes alle inneren Bestimmungen nur dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch unterstehen, kann es sich bei einer solchen Wesensbestimmung lediglich um eine Nominaldefinition handeln, deren Gewinn das Erkenntnisstreben der Philosophie noch nicht erfüllt. Allerdings kommt der Satz vom zureichenden Grunde, der als Bedingung der Möglichkeit eines Übergangs zu einer Realdefinition fungiert, bei der unmittelbar folgenden Unterscheidung verschiedener Arten von Affektionen, die Baumgarten vornimmt, ins Spiel. Er unterscheidet nämlich solche, die ihren zureichenden Grund im Wesen eines Möglichen haben, von solchen, für die dies nicht gilt. Erstere nennt er Eigenschaften oder Attribute, letztere Zufälligkeiten (modi) oder Akzidentien.45 Damit ist klar, daß wegen der Ableitbarkeit der Eigenschaften einer möglichen Sache aus deren Wesen die formalen Voraussetzungen zur Identifikation eines vorliegenden Dinges als zu dieser oder jener Art zugehörig vollständig gegeben sind. Es liegt also ein deutlicher und der Form nach vollständiger Begriff vor, der zureicht, um eine bestimmte Art von allen anderen möglichen Arten zu unterscheiden, mithin eine vollständige Nominaldefinition. Dies genügt jedoch nicht, um auch alle Dinge voneinander unterscheiden zu können, da diese ja ein und derselben Art zugehören können und dies sehr häufig auch tun. Zu diesem Zweck scheint vielmehr auch ein inhaltlich vollständiger oder jedenfalls reichhaltigerer Begriff nötig zu sein, der dann vielleicht als Realdefinition gelten könnte. In einen solchen müßten auch akzidentielle Bestimmungen eingehen, da sich Dinge ein und derselben Art ausschließlich durch solche unterscheiden lassen. Weil logische Gegenstände wie Nominaldefinitionen aber keine akzidentiellen Bestimmungen zulassen, muß von der Betrachtung bloß möglicher Gegenstände zur Untersuchung wirklicher Dinge übergegangen werden. Denn das Mögliche ist durch sein Wesen eben gerade noch nicht hinlänglich bestimmt, um auch in Wirklichkeit vorzuliegen. Baumgarten schreibt: „Über das Wesen hinaus ist ein Mögliches entweder ein Bestimmtes, soweit auch alle affectiones in ihm selbst vereinbar sind, oder nicht. Jenes ist würklich, dieses ein bloß Mögliches“.46 Vgl. ebd., § 50: Affectiones habent rationem in essentia, § 41. hinc aut sufficientem, aut minus, § 21, 10. Illae sunt ATTRIBVTA (Eigenschaften) hae MODI (Zufaelligkeiten) (accidentia praedicabilia, s. logica, cf. § 191. adiuncta, praedicata secundaria). 46 Ebd., § 54: Possibile praeter essentiam §. 53. aut est determinatum, qua omnes affectiones etiam in ipso compossibiles, aut minus §. 34, 10. Illud est ACTVALE (würklich), hoc NON ENS 45

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Weil die Beschäftigung mit dem reinen Wesen von Gegenständen, wie es Nominaldefinitionen angeben, also stets nur im Bereich des bloß logisch Möglichen verharrt, es der Philosophie aber um die Anwendung von Nominaldefinitionen auf Einzeldinge geht, um darin zu Realdefinitionen zu gelangen, ist ihre eigentliche Aufgabe die Untersuchung der Wirklichkeit. Baumgarten definiert sie als Existenz und schreibt: „Würkligkeit (existentia) ist der Inbegriff der vereinbaren Affektionen in irgendetwas, das ist die Ergänzung des Wesens bzw. der inneren Möglichkeit, sofern diese bloß als Inbegriff der Bestimmungen betrachtet wird“.47 Der Begriff der Wirklichkeit geht folglich über den reinen Begriff des Wesens hinaus: Der Inbegriff der zum Wesen einer Sache gehörigen Bestimmungen läßt zwar deren artgemäße Bestimmung zu, sagt aber noch nichts über deren Vorliegen aus. Denn es gibt schlechthin keine wirklichen Dinge, die unter den Satz vom zureichenden Grund fallen und ausschließlich essentielle bzw. davon ableitbare Bestimmungen besitzen. Geht es der Philosophie daher tatsächlich um die Erkenntnis der Wirklichen im Streben nach Realdefinitionen, muß sie auch alle wirklichen Bestimmungen untersuchen, die ein einzelnes Ding zu dem machen, was es in seiner Einzelnheit ist. Dabei besteht keine Konkurrenz zwischen Wesens- und Wirklichkeitsbestimmung, sofern erstere nicht zuungunsten letzterer hypostasiert wird. Es handelt sich vielmehr um verschiedene Betrachtungsweisen, in denen Seiendes einmal als logischer Gegenstand und einmal als reales Ding begriffen wird. Aus der von Baumgarten vollzogenen vollständigen Disjunktion zwischen primären essentiellen Bestimmungen und sekundären Affektionen erhellt nun auch die reine Formalität des Begriffs der essentia: Weil alle möglichen Bestimmungen von Seiendem entweder essentiell oder affektional sind, kann der Wesensbegriff einer Sache nur als negatives Kriterium für deren artgemäße Identifikation dienen. Denn die daraus abgeleiteten und damit für das Vorliegen eines Dinges dieser oder jener Art notwendigen Eigenschaften sind nicht deren wesentliche Eigenschaften selbst, sondern stets deren jeweilige Konkretion im Einzelding, dem als solchem auch zufällige Bestimmungen zukommen müssen. Baumgarten kann daher feststellen: „Jede innere Bestimmung eines Möglichen bezieht sich entweder auf dessen Wesen oder auf dessen Wirklichkeit“.48 Denn erst letztere

(nihil cf. §. 7.) PRIVATIVVM (mere possibile) (das bloss mögliche, ein mögliches Nichts) vocatur. 47 Ebd., § 55: EXISTENTIA (Würkligkeit) (actus cf. §. 210. actualitas) est complexus affectionum in aliquo compossibilium i.e. complementum essentiae siue possibilitatis internae, quatenus haec tantum, vt complexus determinationum spectatur, § 40. 48 Ebd., § 56: Omnis determinatio possibilis interna aut pertinet ad essentiam eius, aut ad exsistentiam, §. 55, 42.

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geht auf Dinge, wie Baumgarten in seiner Definition des Begriffs „ens“ festhält: „Ein bestimmbares Mögliches als Würkligkeit ist ein Ding“.49 Die Bestimmung der Wirklichkeit eines Seienden enthält sonach dessen notwendige und zufällige Bestimmungen, deren Gegebenheitsmöglichkeit durch den Wesensbegriff reguliert wird. Damit ergänzen sich beide Betrachtungsweisen: Während die Bemühung um einen formalen Wesensbegriff, mithin eine korrekt gebildete Nominaldefinition, für die Aussagbarkeit seines Gegenstandes sorgt, gewährleistet die Untersuchung der Bestimmungen der Einzeldinge erst die Anwendbarkeit jener logischen Gegenstände als möglicher Teile von Aussagen durch den Aufweis entsprechender Dinge, die unter dem Prinzip des Satzes vom Grunde stehen, mithin einer Realdefinition, über deren Aussagbarkeit wiederum noch nichts ausgemacht ist, und somit den Realitätsbezug von Wesensbegriffen. Baumgarten kann daher feststellen: „Die Wirklichkeit widerstreitet nicht dem Wesen, sondern ist die mit diesem vereinbare Realität“.50 Daß Baumgarten von der Philosophiedefinition Wolffs nicht viel gehalten hat, kann vor diesem Hintergrund nicht mehr überraschen. Er diskutiert sie nicht ausdrücklich, wenngleich – wie deutlich geworden sein dürfte – sie ihm zumindest implicite als Folie für seinen eigenen Gegenentwurf dienen mag. Er erwähnt – und erledigt – diese berühmte Definition jedoch immerhin in einem Paragraphen der Philosophia generalis im Rahmen einer Übersicht über diverse Bestimmungen der Philosophie, wie sie in deren Geschichte aufgetreten sind. Schon wegen ihrer schier unübertrefflichen Lakonik sei diese Passage hier angeführt: „Weil durch Christian Wolff (sc. die Philosophie) die Wissenschaft von den Möglichen, soweit sie möglich sind, genannt wird, gibt es ein berühmtes Beipiel, was das Vorurteil der Neuartigkeit bei denen, welche die Geschichte nicht kennen, vermöchte“.51 Ohne nun an dieser Stelle en detail auf die Gründe dieser Bewertung eingehen zu können,52 sei doch auf folgende Punkte hingewiesen: Baumgarten schreibt die Erfindung dieser Definition Pythagoras zu, der die Philosophie „Wissenschaft von den Seienden, soweit sie Seiende sind“, genannt habe, dabei aber hinsichtlich des Begriffs des Seienden nicht dem allgemeinen Sprachgebrauch gefolgt sei, da er aus dem Begriff des Seienden jede Veränderung aus-

Ebd., § 61: Possibile, qua existentiam, determinabile est ENS. Ebd., § 66: Existentia non repugnat essentiae, sed est realitas, §. 36. cum ea compossibilis, §. 50, 55. 51 Philosophia generalis, § 28: Christiano Wolfio quum dicatur scientia possibilium, quae sunt possibilia, dat exemplum sat celebre, praeiudicium novitatis quid possit in ignorantibus historiam § 23. 52 Vgl. dazu ausführlich Aichele, Scheinwolffianismus (wie Anm. 41). 49 50

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geschlossen habe.53 Kurz gefaßt, wird damit der Bereich des Seienden auf logische Gegenstände, denen keine Realität entspricht, reduziert, wie dies auch bei der Explikation des Seienden durch den Begriff der bloßen Möglichkeit geschieht, wie sie nach Baumgartens Auffassung Wolff vollzieht. Die pythagoreisch-wolffianische Bestimmung ist damit gleichzeitig zu eng und zu weit und schon deswegen gar keine Definition, sondern bestenfalls eine ‘philosophische Beschreibung’. Dabei mag auf den ersten Blick zwar irritieren, daß als historischer Vorläufer dieser ‘Definition’ Pythagoras und nicht Aristoteles herhalten muß. Diese Irritation verschwindet aber, wenn man das Augenmerk auf die genannte Operation richtet, für die diese Bestimmung steht. Denn gerade Aristoteles hat ja der Differenz zwischen Möglichkeit bzw. formalem und universalem Wesensbegriff und Wirklichkeit bzw. Einzelding durch seine Unterscheidung von tode ti und to ti en einai bzw. Erster und Zweiter Ousia Rechnung getragen.54 Baumgarten erweist sich damit in dieser Hinsicht als Aristoteliker – was um so bemerkenswerter ist, wenn man bedenkt, daß trotz der Rehabilitation der aristotelischen Syllogistik durch Wolff55 Aristoteles damals seit Petrus Ramus und in der thomasianischen Tradition geradezu verteufelt war.

III. Der epistemische Status philosophischer Aussagen und ihr Realitätsbezug Trotz aller Differenzen zu Wolffs Entwurf behauptet aber auch Baumgarten den Wissenschaftscharakter der Philosophie, den er in hergebrachter Weise als „gewisse Erkenntnis aus Gewissem“56 bestimmt. Ebenso differenziert er verschiedene Arten und Grade der Gewißheit. Dennoch zeigt Baumgarten konsequenterweise auch hier sein eigenes Profil, das sich wiederum anhand des

Dazu und zum folgenden: Philosophia generalis, § 23: Pythagoras philosophiam scientiam entium, qua entia sunt, vocauit, et per entia non fluxa et sensibilia volebat intelligi, sed intelligibilia, aeterna, possibilitates rerum, vniuersalia, Deum. Quia tamen haec entium notio non sequitur vsum loquendi communiorem, et definitio aut latior aut angustior est, ipsa philosophiae descriptio, haec non est definitio L. §. 76. 77. So – wiederum unter Betonung des bloßen Beschreibungsstatus – auch Beyfall, § 12, Anm. **: Unter diesen [sc. von den Alten gegebenen Beschreibungen der Philosophie] ist mir eine der merckwürdigsten, wenn schon Pythagoras die Philosophie eine Wissenschafft der Dinge nennt, in so ferne sie Dinge seyen. 54 Vgl. dazu ausführlich, Alexander Aichele, Ontologie des Nicht-Seienden. Aristoteles’ Metaphysik der Bewegung, erscheint vorauss. Göttingen 2009. 55 Vgl. Hans Werner Arndt, Einführung, in: Christian Wolff, Deutsche Logik, GW I.1, 7–102, hier 54 pass. 56 Philosophia generalis, § 31: SCIENTIA est certa cognitio ex certis. 53

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Verhältnisses von Nominal- und Realdefinition bzw. Bestimmung von Wesen und Wirklichkeit verdeutlichen läßt.

1. Objektive und subjektive Gewißheit Zunächst sind jedoch zwei Begriffe der Gewißheit zu unterscheiden, die gleichsam die Grenzen zwischen den philosophischen Disziplinen der Metaphysik und der Erkenntnistheorie bzw. der „Gnoseologie“ markieren, nämlich die certitudo obiectiva und die certitudo subiectiva. Erstere ist eine allgemeine Eigenschaft der Dinge, nämlich „die Vorstellbarkeit der Wahrheit im Dinge“, aufgrund deren „die Wahrheit eines jeden Dinges klar erkennbar ist“.57 Daraus folgt, daß die objektive Gewißheit eines Dinges genau in den Beschaffenheiten eines Einzeldinges liegen muß, nach deren Erkenntnis die Philosophie strebt und die durch Realdefinitionen aufgewiesen werden. Der Begriff der objektiven Gewißheit bezieht sich daher auf die Wirklichkeit des Seienden und nicht auf dessen Möglichkeit, so daß offenkundig auch auf dessen Potenzen nur von deren Verwirklichung aus geschlossen werden darf und daher auch Vermögen strenggenommen nur als logische Gegenstände behandelt werden dürfen. Eine derart strikte Konzentration auf die Wirklichkeit der Dinge hat indes den Vorteil, daß alles, was in diesem Verständnis wirklich ist, also in Raum und Zeit existiert, Gegenstand möglicher Erkenntnis ist. Baumgarten kann daher zu dem Schluß gelangen: „Weil alle Beschaffenheiten der Dinge objektiv gewiß sind, das ist: deren Wahrheit klar erkannt werden kann, hat keine philosophische Ungewißheit den zureichenden Grund in den Erkenntnisgegenständen, sondern in den begrenzten Fähigkeiten des Erkennenden“.58 Umgekehrt ergibt sich daraus für die Erkenntnistheorie: Jede mögliche Erkenntnis ist selbst immer subjektiv gewiß; die Rede von objektiver Gewißheit einer Erkenntnis wäre eine contradictio in adiecto. Also: „Das subjektiv Gewisse ist solches, dessen Wahrheit von bestimmten Subjekten bzw. Erkennenden klar erkannt wird“.59 Und: „Subjektive Gewißheit (Überzeugung) wäre, weil sie bewußte innere Empfindung der Wahrheit ist, in der Philosophie Gewißheit,

Metaphysik, § 93: CERTITVDO OBIECTIVA (cf. §. 531.) (Gewissheit der Dinge) est apperceptibilitas veritatis in ente. Iam omnis entis veritas est clare cognoscibilis, §. 90, 8. Ergo omne ens est obiectiue certum. 58 Philosophia generalis, § 53: Cum omnes qualitates rerum sint OBIECTIVE CERTAE i.e. quarum veritas clare cognosci potest M. § 93 nulla incertitudo philosophica habet rationem sufficientem in cognoscendis §. 52. sed in cognoscendis limitatis viribus L. §. 21. 59 Ebd., § 32: CERTUM SVBIECTIVE tale est, cuius veritas a determinatis subiectis seu cognoscentibus clare cognoscitur L. §. 164. 57

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wenn auch nur ein einziger Mensch die geringste Wahrheit einer einzigen philosophischen Vorstellung im geringsten Grad der Klarheit erkennen würde“.60 Gewißheit in der Erkenntnis und damit wiederum jede mögliche philosophische Erkenntnis, da jede philosophische Erkenntnis einen – allerdings beliebigen – Grad von Gewißheit impliziert, beginnt also mit Klarheit. Klarheit ist eine mögliche Eigenschaft von Begriffen. Ein Begriff ist nach Baumgarten „eine einzelne Vorstellung in einem Denkenden“.61 Er ist dann klar, wenn „dessen Unterscheidungs-Merkmale (die in einen anderen hineinkommen, einem anderen zukommen, in einem anderen enthalten sind) zureichen, sich seinen Gegenstand bewußt vorstellen zu können“,62 mithin sich also eine Beschaffenheit oder einen Gegenstand als bestimmt, d.h. von möglichen anderen unterscheidbar, vorstellen zu können.63 Da klare Begriffe allein von dunklen Begriffen vollständig disjunkt sind,64 besitzen alle anderen Begriffe, d.h. sowohl deutliche als auch verworrene, Gewißheit und ergeben daher auch philosophische Erkenntnis. Klare Begriffe können also sowohl deutlich als auch verworren sein. Verworrene klare Begriffe beinhalten dunkle Merkmale, deutliche klare Begriffe ausschließlich klare Begriffe.65 Ersteres geht aus Baumgartens Unterscheidung objektiver und subjektiver Dunkelheit hervor,66 die impliziert, daß objektiv Dunkles weder unter den Begriff des Wesens noch der Wirklichkeit fallen kann. Letzeres erhellt aus Baumgartens näherer Explikation der Deutlichkeit von Begriffen: „In einen deutlichen Begriff gehen klare Unterscheidungs-Merkmale ein, also können sie bewußt vorgestellt, also von sich untereinander unterschieden werden, also können die Unterscheidungs-

Ebd., § 47: CERTITVDO SVBIECTIVA (cf. §. 32.) (convictio) quum sit conscientia veritatis L. §. 164. si vel vnius philosophicae perceptionis minimam veritatem vnicus homo minimo claritatis gradu cognosceret, esset in philosophia certitudo. 61 Logik, § 16: CONCEPTVS est repraesentatio unius in cogitante. 62 Ebd., § 18: CONCEPTVS, cuius notae (quem ingredientes, cui conuenientes, in quo contenti, § 17.) obiecto illius apperciendo sufficiunt, CLARVS est.. 63 Metaphysik, § 67: Cognitio diuersitatis est DISTINCTIO (Unterscheidung), et ratio distinctionis in distinguendo DISCRIMEN (differentia, character, character distinctiuus latius dictus, cf. § 350. nota, nota characteristica) (Unterscheid, Merkmahl, Kennzeichen, UnterscheidungsZeichen). Iam omnis determinatio entis est id, ex quo cognosci potest, ens illud nec indeterminatum, nec alio modo determinatum esse, §. 36, 34. Ergo omnis determinatio est discrimen entis, § 38, 14. 64 Logik, § 19: CONCEPTVS non clarus OBSCVRVS est. 65 Ebd., § 21: CONCEPTVS clarus clararum notarum DISTINCTVS est, obscurarum CONFVSVS. 66 Ebd., § 20: OBSCVRVM ABSOLVTE ET OBIECTIVE (an und vor sich, schlechterdings) esset, quod per se non potest clare cognosci; RELATIVE ET SVBIECTIVE (diesem oder jenem Dunckel), ad quod cognoscendum cuiusdam cognoscentis vires non sufficiunt. 60

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Merkmale eines deutlichen Begriffs eines nach dem anderen aufgezählt werden“.67 Infolgedessen läßt sich festhalten, daß jedenfalls jede Nominaldefinition, in die genau so viele Merkmale eingehen müssen, wie notwendig sind, um ihren Gegenstand von allen anderen unterscheiden zu können, ein deutlicher Begriff sein muß. Wie steht es nun aber mit der Deutlichkeit von logisch immerhin möglichen Realdefinitionen, welche die Wirklichkeit nominal definierter möglicher Gegenstände ausweisen, deren epistemische Möglichkeit aber bislang noch offengelassen wurde? Um diese erkenntnistheoretische Frage zu beantworten, kann auf Baumgartens allgemeine Unterscheidung verschiedener Arten subjektiver Gewißheit und den Maßstab ihrer Graduierung zurückgegriffen werden. Er schreibt: Gewißheit ist entweder objektiv in den gedachten Dingen oder subjektiv in den Denkenden, und diese [ist] entweder ästhetisch oder logisch oder ästhetico-logisch. Aus dem anderen Grund der Einteilung ist subjektive (Gewißheit) entweder hinlänglich oder unzulänglich, bloße Wahrscheinlichkeit. Zulängliche logische Gewißheit gibt es ausschließlich von Sätzen, die keinen Erweis brauchen,68 und von daher von in strengem Sinne erwiesenen Sätzen69 allein bei jenem, der auch zulängliche Gewißheit der Form hätte, daher führt zu dieser allein die mathematische Methode. In allen übrigen gibt es eine gewisse Ungewißheit der Vernunft, die dennoch nicht alle Gewißheit des Wahrscheinlichen aufhebt.70

Nun kann an dieser Stelle nicht Baumgartens ausführliche Theorie wahrscheinlicher Erkenntnis und die subtilen Grade der dadurch erreichbaren Gewißheit entfaltet werden. Dies ist zur Beantwortung der gestellten Frage auch gar nicht nötig. Dazu reicht es vielmehr zu, die von Baumgarten unterschiedenen Arten subjektiver Gewißheit zu den durch sie erreichbaren Gewißheitsgraden in Beziehung zu setzen und deren Verhältnis zu den Begriffen von Nominal- und Realdefinition zu analysieren. Ebd., § 22: Conceptum distinctum ingrediuntur notae clarae § 17, 21. ergo possunt appercipi §. 18. ergo a se inuicem distingui § 15. ergo notae conceptus distincti possunt vna post alteram enumerari. 68 Ebd., § 168: PROPOSITIO, quae nobis complete certa fit intellectis tantum terminis, est INDEMONSTRABILIS; (ein keinen) de qua vt cvomplete certi reddamur, adhuc plura requiruntur, est DEMONSTRATIVA (ein einen Erweiß brauchender Satz). 69 Vgl. ebd., § 290. 70 Ebd., § 424: Certitudo est vel obiectiua in rebus cogitata, vel subiectiva in cogitantibus, eaque vel aesthetica, vel logica, vel aesthetico-logica. § 164, 9. Subiectiua ex alio fundamento diuisionis § 99. est vel completa, §. 164. vel incompleta, sola probabilitas, §. 350. Certitudo logica completa est solarum propositionum indemonstrabilium et indet stricte demonstratarum apud illum solum, qui completam etiam habuerit formae certitudinem, § 291, 288. hinc ad eam sola deducit methodus mathematica, § 298. In reliquis omnibus est quaedam rationis incertitudo, neque tamen omnem tollens probabilium certitudinem. §. 357, 290. 67

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2. Logische Gewißheit Es wurde bereits gezeigt, daß Nominaldefinitionen allein dem Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs unterstehen und aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch gewonnen werden, der durch sie zur Eindeutigkeit gebracht wird,71 ohne zu ihm in Widerspruch zu stehen. Zugleich sind sie rein logische Gegenstände, die ihre Brauchbarkeit zur Identifikation realer Dinge erst an der Erfahrung bewähren müssen, da die Merkmale, die sie enthalten, im Prozeß der Begriffsbildung nicht aus logischen Prinzipien deduziert werden können, weil sie vom gegebenen Gegenstand, d.h. von einem Einzelding, abstrahiert werden müssen.72 Weil sie infolge dieser Operation nicht alle Beschaffenheiten des Einzeldings enthalten können, erfassen sie auch nicht dessen Wirklichkeit, sondern bestenfalls sein Wesen. Da Nominaldefinitionen vollständig analysierbar sind, weil nur deutliche Merkmale in sie eingehen dürfen, um ihre Funktion zu gewährleisten, können sie auch im Sinne der mathematischen Methode vollständige subjektive Gewißheit beanspruchen,73 so daß aus ihnen weitere Begriffe, Sätze oder Schlüsse gleicher Gewißheit gewonnen werden können. Weil nämlich Nominaldefinitionen prinzipiell Sätze sein müssen, deren Prädikate das Subjekt des Satzes logisch vollständig explizieren sollen, und daher grundsätzlich zusammengesetzte Begriffe definieren, da sie sonst Tautologien darstellten, müssen die in sie eingehenden Teilbegriffe der Unterscheidungsmerkmale entweder selbst einfach sein oder auf einfache Begriffe zurückgeführt werden können. Ist dies der Fall – verfügt man also über deutliche Begriffe der deutlichen Merkmale – ist der Begriff „zwiefach deutlich“ oder adäquat.74 Damit ist auch auf Seiten der Begriffe der höchstmögliche Grad subjektiver Gewißheit erreicht. Diese Gewißheit ist nun zwar absolut, aber zugleich nur rein formaler Natur. Sie enthält daher von sich aus immer noch keinen Bezug auf reale Dinge, sondern ist in ihrem Inhalt beliebig. Daß ein solcher Bezug durch Erfahrung hergestellt werden muß und daher sinnliche Wahrnehmung notwendig voraussetzt, wurde bereits erwähnt. Es muß Ebd., § 76: Definitio non conuenit pluribus praeter definitum §. 65. ergo non est definitio latior, § 75. 72 Ebd., § 33: Conceptum distinctum formaturus/ 1. attendat ad obiectum conceptus,/ 2. reflectat circa notas eius,/ 3. circa quas reflexit, eas comparet,/ 4. a non comparatis abstrahat, § 21./ 5. nexum comparaturum et ordinem attendat. n. 2. 73 Ebd., § 164: CERTITVDO (Gewisheit) est conscientia veritatis, quae si completa fuerit, est CERTITVDO STRICTIVS DICTA; (strengre voellige Gewisheit) (plena, geometrica[,] mathematica) hinc CERTA NOBIS (uns gewiss) sunt, quorum veritatem clare cognoscimus, § 15, 18. STRICTIVS CERTA NOBIS (uns streng gewiss) sunt, quorum veritatem complete cognoscimus, § 25. i.e. sine formidine oppositi. Vgl. auch die Querverweise auf die Begriffslehre. 74 Ebd., § 26: CONCEPTVS distinctus notarum distinctarum, ADAEQUATVS (ein zwiefach deutlicher) est, confusarum INADAEQUATVS (ein nur deutlicher Begriff). 71

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daher gefragt werden, ob es einen Weg gibt, der von der Wahrnehmung realer Dinge oder Beschaffenheiten zu Begriffen ebenderselben von mathematischer Gewißheit führt, so daß eine wissenschaftliche Erkenntnis im strengsten Sinne ‘des vor sich bestehenden in einer ganzen Welt’ möglich wäre, d.h. eine wissenschaftliche Explikation der Realität im Ganzen. Insofern nun Wissenschaft mit dem Gewinn gewisser Sätze aus gewissen Sätzen identifiziert wird, verfährt wissenschaftliche Erkenntnis grundsätzlich diskursiv.75 Davon sind nur oberste Grundsätze, d.i. Axiome, ausgenommen, die subjektive Gewißheit allein durch die verstandenen Termini gewinnen, welche infolgedessen auch nicht demonstriert werden müssen.76 Weil aber Termini „Zeichen von Vorstellungen“ sind, die erst dadurch Bedeutung gewinnen, daß sie Begriffe bezeichnen,77 geht ihnen ebenso ein Prozeß der Begriffsbildung voraus, wie er bereits charakterisiert wurde. Daraus folgt, daß alle Termini, d.h. alle hinsichtlich ihrer Bedeutung bestimmten Vorstellungszeichen, üblicherweise Wörter, ihren Ursprung in der Sinneswahrnehmung bzw. der Empfindung haben. „Was wir von anderen unterscheiden“, – so Baumgarten – „dieses stellen wir uns vor, dessen sind wir uns bewußt. Eine bewußt vorgestellte Empfindung ist ein Gedanke“.78 Offensichtlich also werden Axiome weder diskursiv noch recht eigentlich intuitiv erkannt, da sie einerseits keiner Ableitung bedürfen, andererseits aber doch die Einsicht in die Bedeutung von Zeichen involvieren.79 Formal ergibt sich daraus zunächst ganz schlicht, daß Diskursivität und Intuitivität nicht vollständig disjunkt sein können. Baumgarten behauptet dies auch nicht. Gleichwohl spricht er den Axiomen vollständige logische Gewißheit zu. Dies setzt zumindest zweierlei voraus: Die in Axiomen enthaltenen Termini müssen deutliche Begriffe sein, d.h. sie dürfen keine inexpliziten Teile enthalten, und sie müssen einfache Begriffe sein, da sie untereinander kein Ableitungsverhältnis zulassen dürfen. Daher muß in einem solchen obersten Grundsatz dessen Subjekt- wie dessen Prädikatstelle von ein und demselben Terminus besetzt sein. Als subjektiv vollständig gewiß können folglich nur der Satz der Identität, der Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs und der Satz des ausgeschlosse75 Vgl. ebd., § 166: PROPOSITIO per experientiam nobis complete certa, est INTVITIVA (ein Erfahrungs-Satz), ex aliis vero cognita, DISCVRSIVA (eine Folgerung). 76 Vgl. ebd., §§ 168 und 106. 77 Ebd., § 70: TERMINI sunt signa repraesentationum; conceptus terminis signati eorundem SIGNIFICATVS (Bedeutungen). 78 Ebd., § 15: Quae ab aliis distinguimus, ea APPERCIPIMUS, eorum nobis sumus conscii (das stellen wir uns vor, des sind wir und bewust, das bemerken wir, das nehmen wie wahr). Perceptio appercepta est COGITATIO (ein Gedanke). 79 Vgl. dazu: Johann Peter Reusch, Systema logicum antiquorum atque receptiorum item propria praecepta exhibens, GW III.26 (ND d. Ausg. Jena 1734), § 184, und Logik, § 166 (siehe Anm. 75).

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nen Dritten gelten,80 die somit zugleich als die einzigen möglichen Quellen aller wissenschaftlichen Erkenntnis fungieren und die höchsten Wahrheiten der Philosophie als Wissenschaft darstellen.81 Mathematische Gewißheit ist infolgedessen nur unter Absehung von aller Wirklichkeit möglich. Es führt daher kein direkter Weg von der sinnlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit zu Aussagen über sie, welche vollständige Gewißheit beanspruchen dürften.

3. Ästhetico-logische Gewißheit Trotzdem bleibt es Ziel und Anspruch der Philosophie, wahre, wenngleich nicht vollständig gewisse Aussagen über die Wirklichkeit zu machen. Es muß daher das Problem des Wirklichkeitsbezuges von Aussagen bzw. ihren Teilen gelöst werden. Dies kann weder die Metaphysik leisten, die durch ihre Unterscheidung von formalem Wesen und Wirklichkeit allenfalls die Voraussetzungen liefert, dieses Problem anzugehen, noch die formale Logik. Vielmehr ist dies Aufgabe einer Erkenntnistheorie im engeren Sinne, die als solche das Instrument der formalen Logik zwar voraussetzt, aber nicht mit ihr gleichzusetzen ist. Nachdem mathematische Gewißheit als möglicher Kandidat für Aussagen mit Realitätsbezug ausgeschieden ist, kann dies bloß noch von Seiten der beiden anderen Arten subjektiver Gewißheit gewährt werden, die Baumgarten anführt. Er nennt sie ästhetische und ästhetico-logische Gewißheit, die beide ‘eine gewisse Ungewißheit der Vernunft‘ bei sich und daher auch nur zu Aussagen mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit führen. Zumindest die Bedeutung des Begriffs der ästhetico-logischen Gewißheit erhellt bereits aus ihrem Verhältnis zur logischen Gewißheit: Da ausschließlich deutliche Begriffe Teile von Aussagen sein können, die legitimen Anspruch auf logische Gewißheit erheben dürfen, müssen in Aussagen, die ästhetico-logisch gewiß sind, offensichtlich auch Begriffe eingehen, die nicht deutlich sind, d.h. verworrene Begriffe. Verworrene Begriffe sind solche, die zwar klar sind, d.h. eine Vorstellung des Gegenstandes bzw. des Merkmals ermöglichen, auf den bzw. das sie sich beziehen, aber nicht zureichen, ihn seiner Art nach zu bestimmen, wenngleich – falls es zum Geschäft des Unterscheidens, d.h. der Gewinnung von Nominaldefinitionen, nötig ist – sie stets der Möglichkeit nach bestimmt werden können, da sie ja Vorstellungen objektiv gewisser Beschaffenheiten darstellen. Weil solche ausschließlich durch Sinnesempfindungen erworben werden, muß es sich also bei verworrenen Begriffen stets um sinnli80 81

Vgl. Metaphysik, §§ 7–11. Vgl. Philosophia generalis, § 37.

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che Begriffe handeln. Da diese klare Begriffe objektiv gewisser Beschaffenheiten sind, die bei Bedarf zur Deutlichkeit gebracht werden können, konstituieren sie Erfahrung, weil nach Baumgarten Erfahrung „klare Erkenntnis durch den Sinn“82 darstellt. Ästhetico-logisch gewiß sind also Begriffe bzw. Sätze, die mehr Merkmale enthalten, als zur Bewältigung ihrer determinatorischen Aufgabe notwendig sind, also sowohl aus deutlichen als auch verworrenen bewußten Vorstellungen bestehen. Dieser Überschuß scheint nun endlich den gesuchten Realitätsbezug herzustellen, da Erfahrungen bzw. Erfahrungssätze sich stets auf Einzelnes beziehen und intuitiv gewiß sind.83 Weil allerdings ästheticologische Gewißheit sowohl diskursive Erkenntnis durch deutliche Begriffe als auch intuitive Erkenntnis durch verworrene Begriffe involviert, kommt ihr nur mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit zu. Daraus folgt für den hier verhandelten Zusammenhang zumindest zweierlei: Zum einen können alle Aussagen, die auf Erfahrung rekurrieren, nur wahrscheinlich sein. Es gibt daher keine Aussagen, welche Einzeldinge als solche thematisieren, die Anspruch auf mathematische Gewißheit erheben dürften. Zum anderen erreichen auch bestimmte resp. bestimmende Erfahrungssätze noch nicht die Ebene von Realdefinitionen. Denn jede Bestimmung, die eo ipso stets überhaupt nur zur Unterscheidung von Gegenständen vorgenommen wird, muß, um diesen ihren alleinigen Zweck zu erreichen, solange verworrene Begriffe von Merkmalen in deutliche verwandeln, bis die nötige Differenzierung erreicht ist und ausgesagt werden kann. Der Form nach betrachtet, erfordert also auch die Unterscheidung von Einzeldingen ein und derselben Art die Bildung von Nominaldefinitionen. Auch Sätze von ästhetico-logischer Gewißheit taugen daher nicht zur Erfassung des Wirklichen, wenngleich sie den Bezug auf es voraussetzen. Der geforderte Realitätsbezug ist jedoch auch dadurch noch nicht gesichert.

4. Ästhetische Gewißheit Folgt man Baumgartens Einteilung der Arten von Gewißheit, kann dies nur noch diejenige leisten, die er ästhetisch nennt. Treibt man nun die Analyse der möglichen Bestandteile ästhetischer Vorstellungsverbindungen, denn um Aussagen kann es sich hierbei nicht mehr handeln, konsequent weiter, gelangt man zu dem Ergebnis, daß ästhetisch gewisse Vorstellungen nur verworrene Begriffe enthalten können. Diese ermöglichten dann eine Vorstellung von ihrem Gegenstand, die nicht zum Gegenstand einer logischen Aussage gemacht werden kann. Gerade deswegen aber kann sie auch nicht mehr nur wahrscheinlich 82 83

Metaphysik, § 544: EXPERIENTIA (Erfahrung) sit cognitio sensu clara. Logik, § 166 (siehe Anm. 75).

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sein, da diese, wie Baumgarten betont hatte, allein in einer ‘gewissen Ungewißheit der Vernunft’ besteht, also von vorneherein stets im Verhältnis zu logischer Gewißheit gedacht werden muß. Diese Notwendigkeit besteht jedoch im Falle ästhetischer Vorstellungen keineswegs. Im Gegenteil würde ein derartiges Anlegen logischer Maßstäbe die Eigenheit klarer Erkenntnis durch die Sinne und damit zugleich die Möglichkeit des Realitätsbezugs von Erkenntnis zerstören. Weil nämlich jene Ungewißheit allein im Verhältnis zur Vernunfterkenntnis gegeben wäre, ästhetische Vorstellungen aber eine Erkenntnisart eigenen Rechts darstellen, weil wir uns des Vorliegens eines Dinges auch bewußt sein können, wenn wir weder wissen, was dieses Ding ist, noch über den Begriff eines Dinges verfügen, sind ästhetische Vorstellungen unabhängig von der logischen Verfahrensweise als genauso vollständig gewiß anzusehen wie die Aussagen reiner mathematischer Erkenntnis. Weil sich nämlich ästhetische Vorstellungen notwendig auf einzelne reale Dinge beziehen müssen, da sie keine deutlichen Begriffe enthalten, sind sie intuitiv gewiß. Sie liefern folglich – sofern sie nicht Sinnestäuschungen entspringen84 – vollständige Gewißheit von der Existenz eines Dinges und stellen daher Realdefinitionen dar, wie sie Baumgarten am eingangs angeführten Beispiel des Treibens von Philosophie illustriert. Realdefinitionen sind daher mit derjenigen Art von bewußten Vorstellungen zu identifizieren, die sich allein auf ein Individuum beziehen und allein dies vorstellen. Baumgarten faßt diese Vorstellungen unter den Begriff der Idee.85 Bewußte ästhetische Vorstellungen von Einzeldingen, d.h. Ideen, erfassen demnach die Wirklichkeit, wie sie für sich besteht, und sichern auf diese Weise nun tatsächlich die Möglichkeit des Realitätsbezuges von Aussagen über Dinge. Jeder solchen liegt also ein alogisches Fundament zugrunde, insofern ihr zumindest die Gewißheit über die Existenz ihres Gegenstandes vorausgeht. IV. System und Urteilskraft Nun stellt ein System der Metaphysik die Welt nicht nur als Einheit, sondern auch als Ganzheit des Seienden vor.86 Vollständige subjektive Gewißheit über Existenz und Beschaffenheit der Welt, wie sie für sich besteht, bestünde im Besitz einer Idee der Welt, die sowohl vollständig logisch transparent wie vollständig ästhetisch bewußt wäre und somit auch keine ästhetikologischen Vorstellungsverbindungen einschlösse. Es liegt auf der Hand, daß der Besitz einer Vgl. Metaphysik, § 608. Ebd., § 44: Conceptus singularis vel indiuidui est IDEA; conceptus communis s. eiusdem in pluribus, est notio (ein mehrern gemeiner Begriff). 86 Vgl. Metaphysik §§ 354, 362. 84 85

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solchen Idee für Menschen unmöglich zu gewinnen ist. Denn schon die logische Transparenz eines einzigen beliebigen Dinges fiele aufgrund seiner vollständigen Bestimmtheit mit der Erkenntnis aller Dinge und ihres Zusammenhangs zu der einen und ganzen Welt in eins und ist der Allwissenheit, also Gott, vorbehalten.87 Dieser verfügt aber nicht einmal über ästhetische Vorstellungen, wird also, da er nur unmittelbar und im logischen Sinne erkennt, stets eine logisch vollständig transparente Idee der Welt besitzen,88 die er als von sich zwar nicht unabhängiges, aber doch wesentlich verschiedenes Einzelding betrachten kann, da er zwar deren Grund, aber nicht Teil von ihr ist89 oder in einer sonstigen Identitätsbeziehung zu ihr steht. Diese Überlegung führt zugleich vor Augen, daß dem Menschen auch eine ästhetische Idee der Welt zu bilden nicht möglich ist: Zum einen würde die Einheit und Ganzheit der Welt die Sinneswahrnehmung schlicht überfordern. Zum anderen führt die Überlegung, daß sich ein Teil der Welt, wie ihn der sinnlich vorstellende einzelne Mensch bildet, sich so zu dem Ganzen, dessen Teil er ist, positionieren könnte,90 daß das Ganze durch ihn als eines sinnlich vorgestellt werden könnte, in einen Widerspruch: Die Welt würde dann nämlich weder als die Einheit, die sie ist, vorgestellt, da der sie vorstellende Teil ja aus dieser Einheit herausgetreten wäre, noch als die Ganzheit, die sie ist, da sie dann nicht mehr alles endliche Seiende umfaßte. Denkbar sind infolgedessen ausschließlich ästhetische Ideen von Einzeldingen, und jeder reine Gebrauch der ästhetischen Erkenntnisvermögen, wie er zu ästhetischer Gewißheit führt, bleibt notwendig auf Einzelnes restringiert. Jede Überschreitung dieses aussagefreien epistemischen Bereiches hin zu Aussagen, die Einzeldinge in irgendeiner Weise betreffen oder in deren Geltungsansprüchen auch Einzeldinge überhaupt eingeschlossen sind, erkauft sich diese Aussagemöglichkeit daher mit einem Verlust an subjektiver ästhetischer Gewißheit, ohne zugleich zu vollständiger logischer bzw. mathematischer subjektiver Gewißheit aufsteigen zu können. Denn Aussagen dieses rein logischen epistemischen Bereiches sind ausschließlich unter vollständiger Absehung von der Wirklichkeit, d.h. den Einzeldingen und ihren Veränderungen, möglich. Ein System der Metaphysik bzw. der Philosophie, das gänzlich von der Wirklichkeit absieht, wäre demzufolge zwar vollständig subjektiv gewiß und erwiese wohl die formale Möglichkeit von Seiendem überhaupt, könnte aber genau aufgrund dieses vollständigen Absehens nicht über seine eigene Wahrheit, d.h. darüber entscheiden, ob das Seiende im Ganzen in Wirklichkeit 87 88 89 90

Vgl. Ästhetik, § 557, und Beyfall, § 7, Anm. *. Vgl. Metaphysik, § 870, und Beyfall, § 7, Anm. *. Vgl. Metaphysik, § 853 pass. Vgl. ebd., § 513.

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so und nicht anders eingerichtet ist, wie es das konstruierte formale System behauptet. Die Konstruktion eines solchen rein formalen Systems der Metaphysik, das allenfalls die Möglichkeit seiner Übereinstimmung mit seinem eigenen Gegenstand, aber nicht deren Tatsächlichkeit erweisen kann, erfüllt genau Baumgartens Diagnose der „SPECVLATIO“, die er auf Deutsch mit dem schönen Ausdruck „untaugliches Hirngebaeude“ wiedergibt, da sie zu in vollkommenem Sinne „lebloser Kenntniss“ führt, die nicht einmal der Möglichkeit nach irgendwelche Implikationen für die praktische Bewältigung des menschlichen Lebens haben kann,91 in deren Dienst alle philosophische Bemühung letztendlich steht.92 Ein System der Metaphysik darf daher gerade nicht in diesem Sinne spekulativ verfahren bzw. nicht ausschließlich der Spekulation entspringen. Es hat sich vielmehr an der wirklichen Beschaffenheit der Dinge zu orientieren und muß dafür bereit sein, auf vollständige mathematische Gewißheit zugunsten möglichst hoher Wahrscheinlichkeit zu verzichten, die den Preis für jeden Wirklichkeitsbezug und infolgedessen auch für die Referentialisierbarkeit philosophischer Aussagen darstellt, die sich mit der Ausnahme der obersten formalen Prinzipien der Logik und der Metaphysik, d.h. des principium contradictionis und des principium rationis sufficientis,93 stets ihrer eigenen Vorläufigkeit und Revisionierbarkeit bewußt sein müssen. Soll also ein philosophisches System in Baumgartens Sinn als allgemeine Meinung über die wirkliche Beschaffenheit des Seienden im Ganzen nicht eine Angelegenheit bloßer Spekulation sein, muß die philosophische Forschungsbemühung ihren Anfang bei den Einzeldingen nehmen. Der erkennende Zugang zu Einzelnem wird durch die Sinnlichkeit ermöglicht. Daher ist die Entwicklung einer philosphischen Theorie sinnlicher Erkenntnis methodisch gefordert. Demzufolge wird die Begriffsbildung induktiv im Ausgang von ästhetischen Urteilen über Einzeldinge verlaufen94 und die Verknüpfung der gewonnenen Begriffe und ihre explikative Funktion durch die Beachtung der genannten obersten Prinzipien bzw. der aus ihnen möglichen Ableitungen kontrolliert werden. Aussagen, die sich auf Dinge beziehen, sofern diese in der Welt bereits bestehen oder aber in ihr durch natürliche Prozesse oder durch menschliches Handeln möglich sein sollen, werden daher immer den epistemiEbd., § 669: COGNITIO, quatenus elateres animi continet, MOVENS (afficiens, tangens, ardens, pragmatica, practica & viua latius) [eine rührende, bewegende, thaetige, wircksame Kenntniss], quatenus minus, INERS (theoretica & martua latius) [eine kalte, leblose Kenntniss], & haec caeteroquin satis perfecta, § 515, 531. SPECVLATIO (speculatiua, vana, cassa) [ein untaugliches Hirngebaeude] dicitur. 92 Vgl. etwa Beyfall, § 9, Anm.**; Ethik, § 219 pass. 93 Baumgarten betont schon bei der Einführung des principium rationis sufficientis dessen strikte Bezogenheit auf Einzeldinge, vgl. Metaphysik §§ 21 und 22. 94 Vgl. Logik, § 267. 91

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schen Status ästhetikologischer Gewißheit besitzen und somit die Möglichkeit ihrer Falschheit einschließen. Sie sind demzufolge nicht im mathematischen Sinne demonstrabel. Ihre wahrheitsdifferente Bewertung obliegt sonach der Urteilskraft, die Baumgarten als eigenständiges, d.h. weder mit Verstand noch Sinnlichkeit zu identifizierendes, erkenntnisermöglichendes Seelenvermögen begreift.95 Dies gilt sowohl hinsichtlich ihrer praktischen, d.h. auf zukünftige Zustände der Welt, sofern diese durch den Urteilenden bzw. seine Artgenossen möglich sind, gerichteten96 als auch ihrer theoretischen, d.h. auf alle anderen Urteile über die Welt bezogenen97 Funktion. Demnach ist die Anerkennung der Wahrheit eines philosophischen Systems bzw. nicht rein formaler Aussagen, die möglicher Teil eines solchen sind, nicht mit logischen Mitteln erzwingbar, sondern stets Aufgabe der durch Erfahrung geübter Urteilskraft, die stets die besondere Urteilskraft eines Individuums ist und daher diesem nicht von anderen Individuen abgenommen werden kann, sondern stets authentisch unter größtmöglicher methodischer Kontrolle und Sorgfalt ausgeübt werden muß. Es ist daher nur konsequent, wenn Baumgarten das System der Metaphysik, das er selbst für wahr hält und auch selbst in seiner Wahrheit zu rechtfertigen sucht,98 also das ‘systema harmoniae praestabilitatae universalis’, durchaus zurückhaltend als „vera sententia“99 bezeichnet, d.h. als wahres Denkschema,100 aber eben nicht als Wahrheit im metaphysischen Sinne. Baumgarten dokumentiert damit offensichtlich eine Auffassung, dergemäß die Gewinnung und Rechtfertigung metaphysischer Aussagen oder philosophischer Aussagen im allgemeinen zwar die sorgfältige Einhaltung strenger wissenschaftlicher Methodik erfordert, Metaphysik bzw. Philosophie überhaupt aber nicht als strenge Wissenschaft im Sinne der Mathematik möglich ist. Die berühmten ‘letzten Fragen’ können mithin nicht letztgültig durch die Vernunft und ohne Glauben beantwortet werden. Gleichwohl ermöglicht die philosophische Bemühung allererst die authentische und bewußte Zustimmung und Verwerfung einzelner Aussagen oder ganzer Aussagenzusammenhänge, die Antwortversuche auf jene Fragen darstellen und deren wahrheitsdifferente Bewertung nach Baumgartens Überzeugung für eine gelingende Lebensbewältigung unerläßlich ist. Es ist klar, daß sich vor diesem Hintergrund das systematische Interesse einer weiter ausgreifenden Untersuchung auf eine erkenntnistheoretische DurchVgl. Metaphysik, § 607, und dazu: Alexander Aichele, Urteilskraft, in: Heinz Thoma (Hg.), Handbuch der europäischen Aufklärung, Stuttgart, Weimar 2008. 96 Vgl. Metaphysik, § 595. 97 Vgl. ebd., § 606. 98 Vgl. ebd., §§ 448–465. 99 Ebd., § 463. 100 Vgl. Ästhetik, § 26. 95

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dringung sowohl des Prozesses der Bildung von Nominaldefinitionen als auch von deren Anwendung auf Vorstellungen von Einzeldingen zu richten hätte. Die Ausarbeitung einer damit einhergehenden allgemeinen Theorie des Urteilens kann hier freilich nicht mehr geleistet werden. Der Beitrag untersucht den epistemischen Status, der nach Baumgartens Auffassung philosophischen Aussagen im Verhältnis zu ihrem jeweils möglichen Realitätsbezug zugesprochen werden kann. Zunächst wird im Ausgang von der philosophischen Propädeutik, wie sie die Philosophia generalis bietet, die Definition der Philosophie analysiert, mit der sich Baumgarten vom orthodoxen Wolffianismus absetzt. Sodann wird der sich daraus ergebende Gegenstand der Philosophie, nämlich Einzeldinge unter der Bedingung und den Beschränkungen rationaler Erkenntnis, unter Heranziehung der Metaphysica erörtert. Schließlich wird Baumgartens differenzierter Begriff der ‘subjektiven Gewißheit’ aus der Acroasis logica einer ausführlichen Analyse unterzogen, welche die logischen und erkenntnistheoretischen Bedingungen expliziert, unter denen das Ziel rationaler Erkenntnis der Wirklichkeit erreicht werden kann. Dabei erweist sich sowohl die systematische Notwendigkeit der Einführung ästhetischer Gewißheit zur Gewährleistung des Realitätsbezugs von Erkenntnis als auch die Verwiesenheit einer jeden nicht rein mathematischen Erkenntnis auf die kontingente Tätigkeit der Urteilskraft. The paper discusses the epistemic condition of philosophical propositions in relation to their possible reference to reality according to Baumgarten. The first part analyzes Baumgarten’s definition of philosophy based on the philosophical propaedeutics of the Philosophia generalis. From that results that philosophy has to deal with individual things in the bounds of rational cognition. Therefore, the second part examines the difference between logical and real objects. The last part, on the basis of the Acroasis logica, presents a detailed analysis of Baumgarten’s concept of ‘subjective certitude’ explicating the logical and epistemological conditions which are to be fulfilled to reach rational cognition of reality. This step shows the systematic necessity to introduce aesthetic certitude in order to ensure the cognitions’s reference to reality as well as the dependence of any cognition, which is not strictly mathematical, of the contingent activity of judgment. PD Dr. Alexander Aichele, Martin-Luther-Universiät Halle-Wittenberg, Seminar für Philosophie. Schleiermacherstr. 1, D-06114 Halle an der Saale, E-Mail: [email protected]

P I E T R O P IMPI N E L L A Veritas aesthetica Erkenntnis des Individuellen und mögliche Welten

Der Abschnitt über Veritas aesthetica, der eine zentrale Stellung sowohl in der Einteilung der Aesthetica als auch in ihrer gedanklichen Struktur einnimmt, ist gleichzeitig der Abschnitt, der im ganzen Werk die meisten Probleme aufwirft.1 Baumgarten ringt darin mit Zweifeln, wie dies kaum hinsichtlich anderer Bestandteile seiner Kunsttheorie der Fall ist. Der Abschnitt beginnt mit einer Darstellung der ästhetischen Wahrheit in bezug auf die metaphysische Wahrheit, die zu einer ausführlichen Deutung zwingt, denn wenn man Baumgartens Formulierungen nicht einer sorgfältigen Prüfung unterwürfe, würde man den wahren Sinn und die Tragweite seiner Lehre von der ästhetischen Wahrheit völlig verfehlen. Die letzte Sektion des Abschnittes, Studium veri poeticum, endet mit sechzehn Fragen (quaestiones), welche die das Verhältnis zwischen Erdichtung (fictio) und Wahrheit betreffenden Probleme erneut aufwerfen und peinlich genau erwägen. Seiner Verwicklungen zum Trotz eröffnet der genannte Abschnitt weitreichende Einblicke in das Wesen der Kunst. Aber statt mich auf das faszinierende Thema der Poetologie zu konzentrieren, möchte ich ein logisches und gleichfalls ontologisches Problem analysieren. Die Baumgartensche Lehre der ästhetischen Wahrheit ist eng mit der Theorie der möglichen Welten verbunden. In dieser Theorie findet die Logik der sinnlichen Erkenntnis, also die Logik der Kunst, ihre ontologische Begründung.2 Leibniz’ Theorie der möglichen Welten wird in Wolffs Kosmologie wieder aufgenommen und im Zusammenhang mit einer neuen Auffassung der Transzendentalien, hauptsächlich der Ästhetik, XXVII–XXXVI. Metaphysik, § 533: Scientia sensitiue cognoscendi & proponendi est AESTHETICA, (Logica facultatis cognoscitiuae inferioris, Philosophia gratiarum & musarum, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis); Ästhetik, § 1: AESTHETICA (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis) est scientia cognitionis sensitivae. 1 2

Aufklärung 20 · © Felix Meiner Verlag 2008 · ISSN 0178-7128

Pietro Pimpinella

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transzendentalen Wahrheit (veritas transcendentalis), umgestaltet.3 Meine These ist, daß die ästhetische Wahrheit einen präzisen Sinn bekommt, wenn man sie im Licht der Wolffischen transzendentalen Wahrheit betrachtet. In der Begründung der Logik des analogon rationis durch die Ontologie der möglichen Welten liegt der eigentliche Kern der Lehre der ästhetischen Wahrheit. Dem Begriff der transzendentalen Wahrheit kommt eine weitreichende Bedeutung sowohl in Baumgartens Ästhetik als auch in Wolffs Kosmologie zu. Das Gewicht, das Baumgarten der ästhetischen Wahrheit beimißt, braucht kaum eine Rechfertigung, wenn man bedenkt, daß er die Kunst als Erkenntnis auffaßt.4 Jede Erkenntnis zielt auf Wahrheit. Obwohl das Problem der Wahrheit der Kunst spätestens seit Plato in der Philosophie diskutiert wurde, hatte niemand vor Baumgarten die Eigentümlichkeit der Kunsterkenntnis so entschieden bejaht und abgegrenzt, ihre Logik so sorgfältig ausgearbeitet und so skrupulös nach dem Grund ihrer Wahrheit gefragt. In den Meditationes behandelt Baumgarten die Kunsterkenntnis hauptsächlich unter dem gnoseologischen und logischen Gesichtspunkt, indem er zwei Arten der Erkenntnis, nämlich die sinnliche Erkenntnis (cognitio sensitiva) und die abstrakte Verstandeserkenntnis, kontrastiert, ihre verschiedenen Logiken gegenüberstellt und die Logik der Kunst kurz schildert.5 Wolff folgend, unterscheidet Baumgarten zwischen einem unteren und einem oberen Teil des Seelenvermögens oder, wie er es formuliert, zwischen facultas cognoscitiva inferi-

Benson Mates, Leibniz über mögliche Welten, in: Albert Heinekamp, Franz Schupp (Hg.), Leibniz’ Logik und Metaphysik, Darmstadt 1988, 311–341; Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (Deutsche Metaphysik), in: GW I.2, § 569: „Weil aus demjenigen, was gesaget worden, erhellet, daß noch viel andere Verknüpfungen der Dinge seyn könten, als sich jetzt befindet: eine Reihe aber solcher Dinge, die sowohl dem Raume als der Zeit nach mit einander verknüpft sind, eine Welt machet; so ist mehr als eine Welt möglich, das ist, ausser der Welt, dazu wir gehören, oder die wir empfinden, sind noch andere möglich, die in ihren Begebenheiten von einander sowohl, als von ihr gantz unterschieden sind“. 4 Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des A.G. Baumgarten, Wiesbaden 1972 (Studia leibnitiana, Supplementa, 9). 5 Ästhetik, § 17: COGNITIO SENSITIVA est a potiori desumta denominatione complexus repraesentationum infra distinctionem subsistentium; Metaphysik, § 521: REPRAESENTATIO non distincta SENSITIVA (eine sinnliche Vorstellung) vocatur. Ergo vis animae meae repraesentat per facultarem inferiorem perceptiones sensitiuas, § 520, 513; Meditationes, § CXV: Quum psychologia det firma principia, nulli dubitamus scientiam dari posse facultatem cognoscitivam inferiorem quae dirigat, aut scientiam sensitive quid cognoscendi; ebd., § 116: Sint ergo noht£ cognoscenda facultate superiore obiectum Logices; a„sqht£, ™pist»mj a„sqhtikhj sive AESTHETICAE. Vgl. Hans Rudolf Schweizer, Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, Basel, Stuttgart 1963; Pietro Pimpinella, Ragione e sensibilità nelle poetiche critiche di Gottsched e Breitinger e nell’Estetica di Baumgarten, in: Lexicon philosophicum, 10 (1999), 121– 150. 3

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or und facultas cognoscitiva superior.6 Der untere Teil des Seelenvermögens hat die dunklen, klaren, aber undeutlichen Vorstellungen zum Gegenstand, der obere Teil dagegen die deutlichen und adäquaten. Unter sinnlicher Erkenntnis versteht Baumgarten dann die Gesamtheit jener Wahrnehmungen und Vorstellungen, die durch den unteren Teil des Seelenvermögens erworben werden. Dazu gehören nicht nur die Sinne, sondern auch diejenigen Vermögen, durch die man einen Zusammenhang von Vorstellungen undeutlich vergegenwärtigt, d.h. die Phantasia oder die Einbildungskraft; das ingenium sensitivum oder die Fähigkeit, die Übereinstimmungen der Dinge zu erfassen; das acumen sensitivum, d.h. das Vermögen, die Verschiedenheiten der Dingen zu erfassen; die memoria sensitiva; die facultas fingendi oder das Dichtungsvermögen; die facultas diiudicandi oder iudicium sensitivum oder gustus significato latiori, d.h. der Geschmack; die facultas characteristica oder das Bezeichnungsvermögen; die praesagitio sensitiva oder die Erwartung ähnlicher Fälle.7 Die Fähigkeiten des unteren Seelenvermögens werden von Baumgarten unter den einheitlichen, von Wolff übernommenen Begriff des analogon rationis gebracht.8 In der Aesthetica gibt Baumgarten dem Thema der Kunsterkenntnis eine entschiedene ontologische Wendung, indem er von der metaphysischen Wahrheit ausgeht und aufgrund dieser die ästhetische Wahrheit und die im strikten Sinne logische Wahrheit als die zwei Hauptarten der Erkenntniswahrheit, d.h. der im weiten Sinne logischen oder subjektiven Wahrheit (veritas aestheticologica) unterscheidet.9 Diese Wendung ist keine willkürliche. Sie ist unbedingt notwendig, um die Logik der Kunsterkenntnis durch eine ontologische GrundChristian Wolff, Psychologia Empirica, in: GW II.5, § 54: Facultas cognoscendi pars inferior dicitur, qua ideas et notiones obscuras atque confusas nobis comparamus; § 55: Facultatis cognoscendi pars superior est, qua ideas et notiones distinctas acquirimus. Vgl. Baumgarten, Metaphysik, § 520: Vnde FACULTAS obscure confuseque seu indistincte aliquid cognoscendi COGNOSCITIVA INFERIOR est. Ergo anima mea habet facultatem cognoscitiuam inferiorem, § 57, 216; § 624: Anima mea cognoscit quaedam distincte, § 522. facultas distincte quid cognoscendi est FACULTAS COGNOSCITIVA SUPERIOR, (mens), intellectus, § 402, mihi conveniens, § 216. 7 Vgl. Metaphysik, § 640. 8 Ebd.: Hae omnes [sc. facultates], quatenus in repraesentando rerum nexu rationi similes sunt, constituunt ANALOGON RATIONIS (das der Vernunft aehnlich), § 70. complexum facultatum animae nexum confuse repraesentantium. 9 Ästhetik, § 404: VERITAS AESTHETICOLOGICA, § 424, vel est universalium et notionum, iudiciorumque generalium, vel singularium et idearum, M. § 148. Illa GENERALIS. Haec SINGULARIS esto; Kollegnachschrift Poppe, § 424 (215): Wenn mir meine Vorstellungen wahre Gegenstände zeigen, so sind sie wahre Vorstellungen, entweder streng deutlich, und diese sind in genauerem und engerem Verstande logisch wahr oder mit vieler Sinnlichkeit untermischt und gar nicht streng deutlich, und diese sind ästhetisch wahr, so kommen wir auf die ästhetische Wahrheit, als wann wir sie selbst erfahren. 6

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legung zu rechtfertigen und zu sichern. In der Cosmologia gibt Wolff der Physik eine ontologische Grundlegung; das gleiche tut Baumgarten hinsichtlich der Kunsterkenntnis in der Aesthetica. Die Ontologie ist in beiden Fällen eine Ontologie der möglichen Welten. Die Behandlung der ästhetischen Wahrheit in der Aesthetica bereitet, wie angedeutet, einige Schwierigkeiten und zeigt Verwicklungen, die in den Meditationes kaum zu ahnen sind. An erster Stelle steht das Problem des Verhältnisses zwischen ästhetischer Wahrheit und metaphysischer Wahrheit. Baumgarten stellt die metaphysische Wahrheit (veritas metaphysica), genauer: die metaphysische Wahrheit der Gegenstände (veritas obiectorum metaphysica), der logischen Wahrheit im weiten Sinne des Wortes (veritas logica latius dicta oder veritas aestheticologica) entgegen. Die metaphysische Wahrheit wird auch die objektive metaphysische Wahrheit (metaphysica veritas objectiva) genannt, in Abhebung von der logischen Wahrheit (veritas logica), die auch subjektive Wahrheit (veritas subiectiva) genannt wird. Die logische oder subjektive Wahrheit besteht in der Vorstellung der objektiven metaphysischen Wahrheit durch ein Subjekt, weshalb sie auch veritas mentalis genannt wird. Es ist also völlig klar, worin die logische oder subjektive Wahrheit besteht; sie ist nämlich die Vorstellung des objektiv Wahren in einer Seele.10 Nun ist zu fragen, worin die metaphysische Wahrheit selbst besteht. Baumgarten definiert sie als die Übereinkunft (convenientia) der Gegenstände mit den allgemeinsten Prinzipien. Um diese Definition zu verdeutlichen und zu bekräftigen, nimmt Baumgarten Bezug auf Leibniz, der behauptet, man könne mit Recht sagen, daß die logischen Grundsätze, d.h. der Satz des Widerspruchs und der Satz des zureichenden Grundes, in der Definition des Wahren und des Falschen enthalten seien.11 Ich werde versuchen, ein Weiteres zu zeigen: erstens, daß das, was Baumgarten mit dieser Definition der metaphysischen Wahrheit im Blick hat, eigentlich die transzendentale Wahrheit im Sinne Wolffs ist; zweitens, daß die Baumgartensche Definition der metaphysischen Wahrheit in seiner Metaphysica die Wolffische Definition der transzendentalen Wahrheit enthält; drittens, daß der spezifischere Sinn, den Baumgarten der transzendentalen Wahrheit gleichfalls in diesem Werke zuteilt, als eine Ergänzung und Erklärung seiner Definition der metaphysischen Wahrheit zu lesen ist – es ist bezeichnend, daß er veritas transcendentalis auf deutsch „die notwendige metaphysische Wahrheit“ nennt. Ästhetik, § 424: obiective verorum repraesentatio in data anima. Ebd., § 423: Veritatem obiectorum metaphysicam novimus convenientiam eorundem cum universalibus maxime principiis, M. § 92, et inde Leibnitium intellegimus, qui Theodiceae T. II p. m. 312: Potest, inquit, dici aliqua ratione principium contradictionis et rationis sufficientis inclusum definitioni veri et falsi. 10 11

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In seiner Metaphysica unterscheidet zwar Baumgarten zwischen „metaphysischer Wahrheit“ (veritas metaphysica), näher als „realis, obiectiva, materialis“ charakterisiert, und transzendentaler Wahrheit (veritas transcendentalis), d.h. „die notwendige metaphysische Wahrheit“. Die metaphysische Wahrheit ist eine in der Einheit geordnete Vielheit, während die transzendentale Wahrheit im Wesen des Seins und dessen Attributen besteht: „VERITAS METAPHYSICA (realis, obiectiua, materialis) est ordo plurium in vno, VERITAS in essentialibus et attributis entis, TRANSCENDENTALIS“.12 Als Attribute, würde man denken, versteht Baumgarten diejenigen, die dem Sein als solchem zukommen und herkömmlicherweise Transzendentalien genannt werden. Nun definiert Baumgarten die Ontologie, d.h. die Grundwissenschaft (metaphysica universalis, philosophia prima), als die Wissenschaft der allgemeineren Prädikate des Seins.13 Im Mittelalter wurden die Transzendentalien als „generalissima“ bezeichnet, d.h. als die allgemeinsten Prädikaten des Seins.14 Aber Baumgarten erklärt, die allgemeinsten Prädikate des Seins seien die ersten Prinzipien der Erkenntnis, auf welche er dann die Transzendentalien selbst zurückführt.15 Der Vorrang der ersten Grundsätze vor den Transzendentalien erfolgt in Wolffs Sinne. Aus den ersten Prinzipien hatte Wolff in seiner Ontologia das Wesen des Seins als solches (ens qua ens), d.h. dessen innere Möglichkeit abgeleitet und als transzendentale Wahrheit interpretiert. Ich gehe davon aus, daß Baumgarten der obengenannten Leibnizischen Auffassung der Wahrheit, die prinzipiell eine logische ist – der Wolffischen Auffassung der transzendentalen Wahrheit folgend –, einen ontologischen Sinn beilegt. Wolffs Definition der transzendentalen Wahrheit lautet: „Veritas adeo, quae transcendentalis appellatur, et rebus ipsis inesse intelligitur, est ordo in varietate eorum, quae simul sunt ac se invicem consequuntur, aut, si mavis, ordo eorum, quae enti insunt“.16 Die transzendentale Wahrheit bezeichnet also die Ordnung in der Vielheit des nebeneinander und nacheinander Seienden, d.h. die Regelmäßigkeit, die in der Gleichzeitigkeit und dem Aufeinanderfolgen des Seienden herrscht. Die Regelmäßigkeit der Gleichzeitigkeit und der Folge geht auf die logischen Prinzipien zurück, beziehungsweise auf den Satz des Widerspruchs (principium contradictionis) und den Satz vom zureichenden Grunde (principium rationis sufficientis). Aus beiden Prinzipien und den essentialia werden sowohl das Wesen des Seins als solches (ens qua ens) als auch die

Metaphysik, § 89. Ebd., § 4: scientia praedicatorum entis generaliorum. 14 Jan A. Aersten, Art. Transzendental, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Sp. 1360–1364, hier 1363. 15 Metaphysik, § 1: Metaphysica est scientia primorum in humana cognitione principiorum. 16 Christian Wolff, Philosophia prima sive Ontologia, in: GW II.3, § 495. 12 13

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transzendentale Wahrheit hergeleitet.17 Was das Sein als solches auszeichnet, das ist nicht seine Existenz, sondern seine Möglichkeit. Die Essenz des Seins ist mit seiner inneren Möglichkeit gleichzusetzen: „Patet adeo essentia entis possibilitate ejus intrinseca absolvi“.18 In der Cosmologia zeigt Wolff, daß die Möglichkeit und die Erkennbarkeit der wirklichen Welt auf der transzendentalen Wahrheit beruhen.19 Der gleichzeitige Zusammenhang (nexus) der Weltdinge ist durch den Satz vom Widerspruch verbürgt: „nullis contradictoriis in mundo locus est“; die Folge der Weltereignisse wird durch den Satz vom zureichenden Grunde geregelt.20 Die transzendentale Wahrheit als Ordnung der Simultaneität und der Sukzession wohnt allen möglichen Welten inne, folglich auch der existierenden Welt. Die cosmologia transcendentalis begründet die cosmologia experimentalis, indem sie die Essenz aller möglichen Welten bestimmt und damit Möglichkeit und Struktur der wirklichen Welt ausweist: „Ex eadem [sc. aus der transzendentalen Kosmologie] igitur intelligitur quale ens sit omnis mundus, consequenter etiam is, qui existit et contemplationi nostrae subest.“21 Die transzendentale Wahrheit wohnt also allen möglichen Welten und damit der wirklichen Welt als formale Bedingung ihrer Möglichkeit inne. Die wirkliche Welt kann nur unter der Bedingung existieren, daß sie eine geordnete Welt ist. Aber die Existenz der wirklichen Welt folgt nicht aus ihrer Möglichkeit. Daß die Welt also wahr im transzendentalen Sinne ist, d.h. daß sie geordnet ist, dies steht a priori fest, denn eine unordentliche, traumhafte Welt wäre unmöglich und könnte deshalb überhaupt nicht existieren. Aber daß die Welt existiert, das wissen wir a posteriori, indem wir sie erfahren. Descartes’ Versuch, den Unterschied zwischen Traum und Wahrheit, d.h. zwischen Schein und Wirklichkeit zu beweisen, ist gescheitert: Die wahre Existenz der Welt kann nicht bewiesen werden. Eine wahre Welt läßt sich von einer traumhaften Welt (mundus fabulosus) durch die Ord-

Ausführlich darüber Pietro Pimpinella, Ontologia e Logica in Christian Wolff, in: E. Canone (Hg.), Metafisica Logica Filosofia della Natura, La Spezia 2004, 343–373. 18 Wolff, Ontologia (wie Anm. 16), § 144. 19 Ausführlich zum Folgenden: Pietro Pimpinella, Machina come immagine del mondo in Wolff, in: P. P., Wolff e Baumgarten. Studi di terminologia filosofica, Firenze 2005, 123–148. 20 Christian Wolff, Cosmologia generalis, in: GW II.4, § 76: Datur in mundo ordo tum in simultaneis, tum in successivis. Res successivae in mundo connectuntur, adeoque a se invicem dependent ut causata a suis causis, consequenter ita se invicem consequuntur, ut praecedens contineat in se rationem, cur sequens existat, curque tale existat, adeoque antecedenti insint ea, per quae intelligitur, cur sequens existat et cur tale existat; § 78: Et quia praeterea in eodem res omnes a se invicem dependent quoad existentiam, adeoque unum existit, quia existunt, vel existere, vel extitura sunt caetera; nullis contradictoriis in mundo locus est. In mundo datur igitur veritas, transcendentalis scilicet. 21 Ebd., § 6. 17

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nung a priori unterscheiden: „In veritate ordo est, in somnio confusio“.22 Die mit Bezug auf das Modell (idea exemplaris) der machina neu aufgefaßten Transzendentalien Wahrheit, Einheit und Vollkommenheit werden auf die Ordnung zurückgeführt. Die transzendentale Wahrheit ist also keine faktische Wahrheit, sondern nur eine formale, welche nicht nur die Möglichkeit der wirklichen, erfahrbaren Welt (mundus adspectabilis), sondern auch deren Erkennbarkeit begründet. Denn in einer unordentlichen, chaotischen Welt, wo alles Ausdenkbare und dessen Gegenteil sich ereignen würde, wäre keine logische Wahrheit möglich, weil man keine allgemeingültigen Urteile bilden könnte und auch die singulären Urteile nur momentan (in instanti) wahr wären. Es ist also die transzendentale Wahrheit, welche die logische Wahrheit begründet.23 Der Angleichung der Baumgartenschen metaphysischen Wahrheit an die Wolffische transzendentale Wahrheit, die ich befürworte, stehen manche Formulierungen Baumgartens scheinbar im Wege. Es gibt eine metaphysische Wahrheit, die man „Wahrheit in den Sachen selbst nennen“ könnte: „Die Vorstellung dieser wahren Gegenstände ist die logische Wahrheit“.24 Die logische Wahrheit besteht also aus wahren Vorstellungen, d.h. aus solchen, welche die wahren Gegenstände darstellen.25 Wie kommt die Übereinstimmung der Vorstellungen mit den wahren Objekten zustande? In Baumgartens Antwort taucht die traditionelle Lehre der adaequatio, d.h. der Übereinstimmung der Vorstellungen mit der Sache selbst, wieder auf, obwohl das Wort „adaequatio“ nicht benutzt wird. Baumgarten redet nämlich von „convenientia repraesentationis cum obiectis“; ihm zufolge ist die veritas mentalis eine „veritas afficientiae, correspondentiae et conformitatis“.26 Eine Lehre, die eine metaphysische Wahrheit festsetzt und die subjektive Wahrheit als ihre Widerspiegelung auffaßt, stellt – so möchte man sagen – ein Wolff, Ontologia (wie Anm. 16), § 493. Vgl. Pietro Pimpinella, Veritas logica – Veritas transcendentalis in Christian Wolff, in: H. P. Delfosse, H. R. Yousefi (Hg.), ‘Wer ist der weise? Der gute Lehr von jedem annimmt’, Festschrift für Michael Albrecht, Nordhausen 2005, 83–97. 24 Vgl. Kollegnachschrift Poppe, § 423 (214 f.). Baumgarten fügt aber an dieser Stelle hinzu, daß eine Sache wahr ist, insofern sie einen Grund enthält: „Je mehr in einer Sache Grund, hinreichender Grund usw. ist, desto wahrer ist die Sache nach der Metaphysik und auch nach der Ästhetik betrachtet“. Es ist nicht schwer zu erraten, daß „wahr nach der Metaphysik“ auf die transzendentale Wahrheit und „wahr nach der Ästhetik“ auf die ästhetische Wahrheit hindeutet. 25 Ebd., § 424: Wann mir meine Vorstellungen wahre Gegenstände zeigen, so sind sie wahre Vorstellungen. 26 Ästhetik, § 423: Nam repraesentatio veri in aliquo obiecto metaphysici, quatenus intra animam certi subiecti peragitur, est ea convenientia repraesentationum cum obiectis, quam plerique veritatem logicam nominant, alii mentalem, afficientiae, correspondentiae et conformitatis, dum metaphysicam veritatem materialem appellant. 22 23

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Modell des dogmatischen Denkens dar. Anscheinend setzt Baumgarten die Wahrheit als eine Eigenschaft voraus, die den Sachen selbst zukommt, sofern sie existieren und sich von erkennenden Subjekten nur passiv widerspiegeln läßt. Die Wahrheit einer passiven Widerspiegelung der Sachen selbst läßt sich aber prinzipiell gar nicht überprüfen. Baumgarten würde also ein Beispiel des naiven Dogmatikers verkörpern, da er eine vermeinte metaphysische Wahrheit, d.h. eine Wahrheit der Sachen selbst, voraussetzt, deren Wahrhaftigkeit nicht überprüfbar ist. Ich möchte aber festhalten, daß das, was Baumgarten mit seiner Lehre der metaphysischen Wahrheit eigentlich besagt, mit naivem Dogmatismus nichts zu tun hat. Er spricht damit nicht die Wahrheit der Dinge an, insofern diese existieren, sondern zielt auf die metaphysische Realität, insofern ihr, als dem Zusammenhang der Dinge, die transzendentale Wahrheit innewohnt. Der Anschein des Dogmatismus bzw. des naiven Realismus, entsteht dadurch, daß Baumgarten in seiner Definition der metaphysischen Wahrheit, im oben zitierten Paragraphen 89 der Metaphysica, zwei Gesichtspunkte verdichtet, unter denen man von transzendentaler Wahrheit sprechen kann. In der Tat kann die transzendentale Wahrheit einerseits in abstracto, als die allen möglichen Welten gemeinsame Wahrheit, angesehen und andererseits in concreto, als die in der wirklichen Welt materialisierte transzendentale Wahrheit, betrachtet werden. In Wolffs Cosmologia werden die zwei Gesichtspunkte deutlich auseinandergehalten. Die Baumgartensche Definition der metaphysischen Wahrheit als Ordnung der Vielheit in der Einheit (ordo plurium in uno) entspricht der Wolffischen Definition der transzendentalen Wahrheit als Ordnung der Vielheit des Nebeneinander- und Nacheinanderseienden, die allen möglichen Welten gemeinsam ist. Da Baumgarten die Ordnung unmittelbar auf die materielle, objektive Wirklichkeit bezieht, versteht er eigentlich unter metaphysischer Wahrheit die in der wirklichen Welt realisierte transzendentale Wahrheit. Baumgarten verdichtet also in seiner Definition der metaphysischen Wahrheit die zwei Gesichtspunkte in abstracto und in concreto, unter denen sie betrachtet werden kann. In Abhebung davon versteht er unter der „notwendigen metaphysischen Wahrheit“, wie er die veritas transcendentalis auf deutsch bezeichnet, spezifisch diejenigen Gründe, auf denen die transzendentale Wahrheit aller möglichen Welten beruht, d.h. die essentialia und die ersten Prinzipien. Dadurch entsteht bei Baumgarten eine Verschiebung im Vergleich zu Wolffs Definition, denn Baumgarten bezieht die transzendentale Wahrheit auf die Vorbedingungen, die sie auch in Wolffs Sicht ermöglichen. Wenn man bedenkt, daß auch bei Wolff die essentialia und die ersten Grundsätze die transzendentale Wahrheit bedingen, erkennt man, daß in Baumgartens Definition der metaphysischen und der transzendentalen Wahrheit in gedrängter Formulierung alle Be-

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standteile eingehen, die Wolffs Lehre bilden. Die Baumgartensche Umformulierung der Wolffischen Lehre ändert nichts Wesentliches an deren gedanklichem Gehalt. Am Anfang der Abteilung über ästhetische Wahrheit im Kollegium über die Ästhetik nimmt Baumgarten Bezug auf Leibnizens Perspektivismus, indem er die Welt als Bühne und die erkennenden Menschen als Zuschauer, die von verschiedenen Gesichtspunkten aus auf die Bühne schauen, darstellt.27 Die Tatsache selbst, daß Baumgarten wiederholt auf Leibniz Bezug nimmt, sollte uns stutzig gegenüber der Ansicht machen, daß er zu einem naiven Realismus neige.28 So wie bei Wolff die transzendentale Wahrheit die Bedingung der im strikten Sinne logischen Wahrheit, d.h. der wissenschaftlichen Erkenntnis der Welt, ist, so ist sie bei Baumgarten die Bedingung der veritas aetheticologica, d.h. nicht nur der im strikten Sinne logischen Wahrheit, sondern auch der ästhetischen Wahrheit.29 Vergegenwärtigen wir uns nochmals, worin die metaphysische Wahrheit besteht: Sie ist eine in der Einheit geordnete Vielheit (ordo plurium in uno). In der Ordnung wurzelt die transzendentale Wahrheit. Nun ist zu fragen, woraus sich die Vielheit ergibt. Die Vielheit, diejenige der wirklichen Welt, wie übrigens diejenige aller möglichen Welten, setzt sich aus Individuen zusammen. Darin ist Baumgarten mit Leibniz einig. Baumgarten teilt – im Unterschied zu Wolff – Leibniz’ Monadismus: „Omnis substantia monas est“.30 Die individuelle Substanz ist ein durchgängig bestimmtes Seiendes: „Complexus omnium determinationum in ente compossibilium est OMNIMODA eius DETERMINATIO. Hinc ens aut est omnimode determinatum, aut minus, §. 10. Illud est Kollegnachschrift Poppe, § 427 (215): Die Vorstellungen von der Wahrheit sind unterschieden, aber nicht Wahrheiten selbst. Es bleibt nur eine Wahrheit und eine Vorstellung, aber wer darüber denkt, kann sie sich aus verschiedenen Gesichtspunkten vorstellen. Ein Theater sieht einer gerade in der Mitte, ein anderer von der Seite, und beide haben doch nur ein Theater gesehen. 28 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, [Monadologie], in: PhS, Bd. 6, 607–623, § 57: Et comme une même ville regardée des differens côtés paroist toute autre et est comme multipliée perspectivement, il arrive de même, que par la multitude infinie des substances simples, il y a comme autant de differens univers, qui ne sont pourtant que le perspectives d’un seul selon les differens points de veue de chaque Monade. 29 Ästhetik, § 424: Iam enim reor liquidum esse, VERITATEM, metaphysicam, vel obiectivam quum dixeris, ut lubet, in anima data sic repraesentatam, ut det in eadem veritatem logicam latius dictam, vel mentalem et subiectivam, nunc obversari intellectui potissimum in spiritu, dum est in distincte perceptis ab eodem, LOGICAM STRICTIUS DICTAM, nunc obversari analogo rationis et facultatibus cognoscendi inferioribus, vel unice, vel potissimum, aestheticam, § 423. 30 Metaphysik, § 404. Vgl. § 234: Omnis substantia monas est, § 233, 230. ens compositum strictius dictum non est monas. § 225. Ergo phaenomenon substantiatum, § 193, 201. 27

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SINGULARE, (indiuiduum), hoc UNIVERSALE“.31 Das Individuum, das singuläre Seiende, wird durch die vollständige Gesamtheit seiner Prädikate bestimmt, die unter sich kompatibel (compossibiles) sind.32 Mit metaphysischer Wahrheit bezeichnet Baumgarten also die geordnete Vielheit der individuellen Substanzen, welche die erfahrbare Realität ausmachen. Leibniz zufolge ist das Individuum prinzipiell unerkennbar. Obwohl es paradox klingt, stellt Leibniz fest: „die Erkenntnis der Individuen ist für uns Menschen unmöglich; wir verfügen über kein Mittel, um die Individualität einer Sache exakt zu bestimmen“, d.h. über kein logisches Mittel.33 Denn der vollständige Begriff (notio completa) eines Individuums enthält eine Unendlichkeit von Attributen, weshalb seine Analyse nicht zu Ende gebracht werden kann. In der Tat spiegelt jede Monade, obwohl in verworrener Weise, alles wider, was im Universum vorkommt, das Vergangene, das Anwesende und das Zukünftige.34 Die Ergründung einer individuellen Substanz erhebt also Anspruch auf unendliche Erkenntnis. Folglich bleibt die Erkenntnis der metaphysischen Realität einem endlichen Verstand verschlossen. Man kann verstehen, warum Leibniz diesen Tatbestand als paradox bezeichnet: zwischen der Logik, auf die er als das mächtige Organon der Vernunft so sehr vertraut und deshalb so viel Mühe verwandt hatte, und der metaphysischen Realität öffnet sich eine unüberbrückbare Kluft. Für eine analytische Logik ist die metaphysische Realität unerreichbar.

Ebd., § 148. Zu Leibniz vgl. Mates, Leibniz über mögliche Welten (wie Anm. 3), 331: „Nach der hier vorgeschlagenen Interpretation also sind mögliche Welten maximale Mengen von wechselseitig kompossiblen vollständigen individuellen Begriffen, und ein vollständiger individueller Begriff ist eine maximale Menge von (oder ein ‘maximales’ Attribut, das zusammengesetzt ist aus) kompatiblen einfachen Attributen. [...] er [sc. Leibniz] ist ohne Zweifel der Meinung, daß es unendlich viele mögliche Welten gibt, von denen jede unendlich viele Begriffe enthält. Alle Begriffe einer gegebenen möglichen Welt sind miteinander verflochten; jeder Begriff gehört zu genau einer möglichen Welt“. 32 Über possibilitas, als Abwesenheit des logischen Widerspruchs, und compossibilitas, als Abwesenheit von repugnantia, d.h. von Unverträglichkeit unter den singulären Bestimmungen der individuellen Substanzen, bei Wolff vgl. Pimpinella, Logica e Ontologia in Christian Wolff (wie Anm. 17). 33 Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux Essais sur l’entendement humain, in: PhS, Bd. 5, 39– 509, hier 268: Car (quelque paradoxe que cela paroisse) il est impossible à nous d’avoir la connoissance des individus et de trouver le moyen de determiner exactement l’individualité d’aucune chose, à moins de la garder elle même. 34 Gottfried Wilhelm Leibniz, Principes de la Nature et de la Grace, fondés en raison, in: PhS, Bd. 6, 598–606, § 13: Chaque ame connoit l’infinit, connoit tout, mais confusement; comme en me promenant sur le rivage de la mer, et entendant le grand bruit qu’elle fait, j’entends les bruits particuliers de chaque vague, dont le bruit total est composé, mais sans le discerner; nos perceptions confuses sont le resultat des impressions que tout l’univers fait sur nous. 31

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Baumgarten behauptet, daß nur die Kunst Anspruch darauf erheben kann, die Individuen, woraus sich die metaphysische Realität zusammensetzt, in ihrer Individualität zu erkennen. Die Logik der Kunst, die ihre ontologische Fundierung in der allen möglichen Welten gemeinsamen transzendentalen Wahrheit findet, ist dazu bestimmt, zu erklären, wie die Erkenntnis des Individuellen möglich sei. Die Überwindung des Leibnizischen Paradoxons durch die Logik der Kunst kann in zwei kühnen, eng zusammenhängenden Thesen, die Baumgarten in der Aesthetica voll entwickelt, zusammengefaßt werden. Die Thesen lauten: 1) Die ästhetische Wahrheit enthält mehr metaphysische Wahrheit als die logische Wahrheit, insofern die Kunst Erkenntnis des Individuellen ist. 2) Die Kunst erlangt die Erkenntnis des Individuellen, indem sie eine mögliche Welt erschafft: poeta quasi creator, poema quasi mundus.35 Alle Künstler, nicht nur der Dichter, führen uns in eine neue Welt ein, behauptet Baumgarten in der Aesthetica.36 Der Abschnitt über Veritas aesthetica ist hauptsächlich der Aufgabe gewidmet, die in den Meditationes aufgestellte These zu bekräftigen und zu zeigen, wie die Logik des analogon rationis die Erkenntnis des Individuellen leitet und wie, aufgrund der transzendentalen Wahrheit, die durch den Dichter geschaffene Welt ihre Wahrheit, eben die ästhetische, enthält. Beide Thesen wären überhaupt nicht verständlich, wenn man Baumgartens metaphysische Wahrheit in einem naiv dogmatischen Sinne auslegen würde, d.h. als eine Wahrheit, die den Dingen zukommt, insofern sie existieren, und die passiv in der ästhetischen Wahrheit widergespiegelt werde. Beide Thesen sind weder bei Leibniz noch bei Wolff zu finden, obwohl Baumgarten beiden Philosophen das begriffliche Rüstzeug entnimmt, das zu deren Entwicklung benötigt wird. Baumgarten bringt Leibniz mit Wolff zusammen, und zwar hauptsächlich in zwei Richtungen: hinsichtlich der Errichtung einer neuen Logik und ihrer ontologischen Fundierung in der formalen Ontologie der möglichen Welten. Die Logik des unteren Erkenntnisvermögens wird aufgrund der Wolffischen Psychologie entwickelt. Wolff hat die Leibnizische Ideenlehre hauptsächlich in Meditationes, § LXVIII, Anm.: Dudum observatum, poetam quasi factorem sive creatorem esse, hinc poema esse debet quasi mundus. Hinc kat’¢nalogίan de eodem tenenda, quae de mundo philosophis patent. Vgl. Leibniz, Principes de la Nature et de la Grace (wie Anm. 34); § 14 : L’Esprit n’a pas seulement une perception des ouvrages de Dieu, mais il est même capable de produire quelque chose qui leur ressemble, quoyqu’en petit. […] notre Ame est Architectonique […]. Elle imite dans son departement, et dans son petit Monde où il luy est permis de s’exercer, ce que Dieu fait dans le grand; vgl. Monadologie (wie Anm. 28), § 83. 36 Ästhetik, § 592: […] novus ille mundus, in quem poeta, sive prosaicus scriptor, sive metricus, sive pictor, sive sculptor, e.c. fuerit, nos introducturus est. 35

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der Psychologia empirica und in der Psychologia rationalis zu einer ausführlich gegliederten Gnoseologie durch die Theorie der Fakultäten ausgestaltet. Die Wolffische Unterscheidung zwischen einem unteren und einem oberen Teil des Vorstellungsvermögens ist die Voraussetzung für die Logik des analogon rationis, in Abhebung von der Verstandes- und Vernunftlogik, d.h. für die Unterscheidung zwischen dem logischen Horizont (territorium et sphaera rationis et intellectus) und dem ästhetischen Horizont (territorium et sphaera pulchri rationis analogi).37 Wolff hat dem Leibnizischen Perspektivismus eine psychologische Wendung gegeben, indem er behauptet, jeder Mensch erfahre die Welt je nach der Lage seines Körpers (pro positu corporis sui) und jeder Wechsel des Seelenzustandes gehe auf Sinnesempfindungen zurück: „Omnes mutationes animae a sensatione originem ducunt“.38 Der Kern der Logik der sensitiven Erkenntnis liegt in der Unterscheidung zwischen intensiv klareren und extensiv klareren Vorstellungen, die Baumgartens originellen Beitrag zu Leibnizens und Wolffs Ideenlehre darstellt.39 Die repraesentationes intensive clariores sind durch die größere Klarheit der Merkmale (notae), die repraesentationes extensive clariores durch die grössere Vielheit der Merkmale ausgezeichnet. Die Merkmale der extensiv klareren Vorstellungen sind unmittelbare Merkmale, d.h. Merkmale der Sache selbst, während die mittelbaren Merkmale Bestandteile eines abstrakten Begriffs sind.40 Die extensive Klarheit kennzeichnet jene Erkenntnis, die der Dichtung eigentümlich ist: „Hinc repraesentationes extensive clariores maxime poetiEbd., § 119: HORIZON (sphaera) COGNITIONIS HUMANAE est finitus materiarum ex universitate rerum infinita numerus, quae mediocri ingenio humano latius dicto possunt clarescere, harum quae possunt ab ingenio mediocriter philosophico perfectius concipi, HORIZONTEM LOGICUM (territorium et sphaeram) rationis et intellectus constituunt, quae possunt ingenio mediocriter aesthetico pulcre splendescere, HORIZONTEM AESTHETICUM (territorium et sphaeram pulcri rationis analogi) constituunt. 38 Christian Wolff, Psychologia rationalis, in: GW II.6, § 64; vgl. § 66: Essentia animae consistit in vi repraesentativa universi situ corporis organici in universo materialiter et constitutione organorum sensoriorum formaliter limitata. Etenim haec vis primum est, quod de anima concipitur, et unde pendent cetera, quae eidem insunt. Essentia igitur animae in eodem consistit; und Baumgarten, Metaphysik, § 513 : Anima mea est vis, § 505. repraesentatiua, § 506. vniuersi, § 507. pro positu corporis sui, § 512; dazu Pietro Pimpinella, Sensus e sensatio in Wolff e Baumgarten, in: P. P., Wolff e Baumgarten (wie Anm.19), 41–68. 39 Meditationes, § XVI: Si in repraesentatione A plura repraesentantur quam in B C D etc., sint tamen omnes confusae, A erit reliquis EXTENSIVE CLARIOR; § XVII: In extensive clarissimis repraesentationibus plura repraesentantur sensitive quam in minus claris, § 16, ergo plura faciunt ad perfectionem poematis, § 7. Hinc repraesentationes extensive clariores sunt maxime poeticae, § 11. ; § 41. […] intensiva claritas cognitioni per voces symbolicae concessa prae intuitiva nihil facit ad extensivam claritatem, quae sola poetica. § 17, 14. 40 Metaphysik, § 523: Notae repraesentationis sunt vel mediatae, vel immediatae, § 67, 27. Hae tantum respiciuntur in diiudicatione claritatis in aliqua perceptione. 37

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cae“.41 Durch die Fülle ihrer Mermale besitzen die extensiv klareren Vorstellungen eine besondere Kraft; deshalb werden sie praegnantes (vielsagende Vorstellungen) und weiter vividae (lichtvoll) genannt.42 Je reicher an Merkmalen eine Vorstellung ist, desto mehr ist sie tauglich, das Individuum im Reichtum seiner singulären Bestimmungen zu schildern.43 Die Kunsterkenntnis ist also eine anschauliche Erkenntnis, welche die Individuen in ihrer Einzigkeit erfaßt: „Individua sunt omnimode determinata, ergo repraesentationes singulares sunt admodum poeticae“.44 In den Abschnitten über ubertas aesthetica und magnitudo aesthetica zeigt Baumgarten, was zur extensiven Klarheit der poetischen Materie und ihrer gefühlsmäßigen Dichte beiträgt.45 In der Aesthetica wird die in den Meditationes genannte poetische, lichtvolle Methode (lucida methodus), d.h. die Art und Weise, das Thema des Kunstwerkes „nach und nach extensiv klarer und klarer vorzustellen“, ausgearbeitet und ontologisch begründet.46 41 Meditationes, § XVII: In extensive clarissimis repraesentationibus plura repraesentantur sensitive quam in minus claris, § 16, ergo plura faciunt ad perfectionem poematis, § 7. 42 Metaphysik, § 517: Quo plures notas perceptio complectitur, hoc est fortior, § 23, 515. Hinc obscura perceptio plures notas comprehendens, quam clara, est eadem fortior, confusa plures notas comprehendens, quam distincta, est eadem fortior. PERCEPTIONES plures in se continentes PRAEGANTES vocantur. Ergo perceptiones praegnantes fortiores sunt; § 531: Ergo multitudine notarum augetur claritas, § 162. CLARITAS claritate notarum maior, INTENSIVE, multitudine notarum, EXTENSIVE MAIOR dici potest. Extensiue clarior PERCEPTIO est VIVIDA. Viuiditas COGITATIONUM & ORATIONIS NITOR (splendor) est, cuius oppositum est SICCITAS (spinosum cogitandi genus). Vtraque claritas est PERSPICUITAS. Hinc perspicuitas vel est viuida, vel intellectualis, vel vtraque. In der Aesthetica widmet Baumgarten dem ästhetischen Licht (lux aesthetica) einen ganzen Abschnitt (Sectio XXXVII), der folgendermaßen beginnt (§ 614): Verioris in cogitando, § 18, pulcritudinis, § 17, elegantiarumque studiosus quarto loco, §§ 115, 177, 423, LUCEM, claritatem et perspicuitatem cogitatorum omnium sectetur, M. § 531, sed AESTHETICAM, quae vel analogo rationis ad discrimina rei perspicienda sufficiat, § 22, M. § 531. 43 Meditationes, § XVIII: Quo magis res determinantur hoc repraesentationes earum plura complectuntur; quo vero plura in repraesentatione confusa cumulantur, hoc fit extensive clarior, § 16, magisque poetica, § 17. Ergo in poemate res repraesentandas quantum pote determinari, poeticum, § 11. 44 Ebd., § XIX. Vgl. dazu Alexander Aichele, Die Grundlegung einer Hermeneutik des Kunstwerks. Zum Verhältnis von metaphysischer und ästhetischer Wahrheit bei Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Studia Leibnitiana 31 (1999), 82–90. 45 Ästhetik, § 115: Prima nempe cura sit in rebus cogitandis UBERTAS (copia, abundantia, multitudo, divitiae, opes), M. § 515, sed AESTHETICA, qua datum subiectum, certus cogitaturus, de dato obiecto, certa cogitandi materia, plura pulcre cogitare possit, § 22; § 177: Secunda cura sit in rebus venuste cogitandis, § 115, MAGNITUDO, M. § 515, sed AESTHETICA, quo nomine 1) pondus obiectorum, § 18, et gravitatem, M. § 166, 2) proportionatarum obiectis cogitationum, 3) cum foecunditate utrorumque, M. § 166, complectamur, § 22. 46 Meditationes, § LXXI: Methodi lucidae generalis regula est: ita se excipiant repraesentatio-

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Die Wahrheit ist nur insoweit ästhetisch, als sie sinnlich, d.h. von analogon rationis erkennbar ist.47 Baumgarten nimmt wieder Bezug auf die in seinem Jugendwerk dargestellte Unterscheidung zwischen sinnlicher Erkenntnis (cognitio sensitiva) und abstrakter Verstandeserkenntnis, um zu bekräftigen, daß die ästhetische Wahrheit die Wahrheit der Einzeldinge und der individuellen Vorstellungen ist, denn je allgemeiner die Vorstellungen sind, desto weniger metaphysische Wahrheit enthält ihr Gegenstand: „In einem Gegenstand der allgemeinen Wahrheit wird niemals [...] so viel metaphysische Wahrheit aufgedeckt wie in einem Gegenstand einer einzelnen Wahrheit“.48 Darin liegt der Grund, weshalb der Künstler den allgemeineren, abstrakteren Wahrheiten immer die bestimmteren und individualisierenden vorzieht, individuelle Themen auswählt und sie in möglichst bestimmter Form, d.h. mit einer außerordentlichen Menge von Einzelmerkmalen, darstellt.49 Die singulären Bestimmungen eines Individuums lassen sich nur durch die Sinnlichkeit und das analogon rationis feinfühlig anschauen („sensibus et analogo rationis eleganter intueri“).50 Auch im Falle, wo sich allgemeinere Wahrheiten mit den individuellen Themen verflechten, sind sie sinnlich darzustellen, d.h. nur soweit sie durch das analogon rationis vorgestellt werden können, damit die abstrakteren Vorstellungen einen konkreten (in concretis) Ausdruck finden.51 Das wissenschaftnes poeticae, ut thema extensive clarius sensim clariusque repraesentetur. Quum thema proponendum sensitive, § 9, intenditur eius claritas extensiva, § 17 […]. 47 Ästhetik, § 423: Tertia cura sit in rebus eleganter cogitandis, §§ 115, 177, VERITAS, M. § 515, sed AESTHETICA, § 22, i.e. veritas, quatenus sensitive cognoscenda est; § 747: Quantum analogo rationis decedit intensivae lucis et distinctionis in singulis notis, et partibus, tanto magis numero partium notarumque gaudet extensiva claritate, § 730. 48 Ebd., § 440: Veritatis generalis in obiecto nunquam tantum veritatis metaphysicae detegitur, praesertim sensitive, quantum in obiecto veritatis singularis, M. § 184. Quoque generalior est veritas aestheticologica hoc minus veritatis metaphysicae in eiusdem obiecto, et omnino, et praesertim analogo rationis, repraesentatur, M. §§ 150, 184. 49 Ebd., § 565: Sumat itaque pulcre cogitaturus sibi materiam vel determinatiorem, unam ex generibus inferioribus aut omnino speciebus rerum, vel si altius videatur in genera superiora ascendere, teneatur tamen eadem vestire multis, quas omittit purior scientia, notis et characteribus, vel tandem singularia sibi legat themata. 50 Ebd., § 426: Verum quando nituntur illae distinctam et intellectualem ad harum rerum perspicientiam, hae subsistentes intra suum horizontem, easdem sensibus et analogo rationis eleganter intueri satagunt, § 424; § 428: Hoc unum observamus, veritatem ab aesthetico, quatenus intellectualis est, non directo intendi, si per indirectum ex veritatibus aestheticis pluribus una prodeat, aut cum aesthetice vero coincidat, de illo sibi gratulari aestheticum rationalem. 51 Ebd., § 443: Veritatum aestheticologicarum generalium eae tantum aestheticae sunt, quae et quatenus analogo rationis, salva venustate, sensitive repraesentari possunt […]; Kollegnachschrift Poppe, § 569 (248): Logisch und ästhetisch denken ist der Form nach sehr unterschieden, ob es gleich der Materie nach einerlei sein kann. Der Dichter und Philosoph können beide einen Satz auszuführen haben, z. B. das Lob Gottes aus seinen Vollkommenheiten erweisen. Die Materie ist einerlei, allein ein jeder wird sie auf eine andere Art ausführen; vgl. § 17 (81): Wir nennen zwar

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liche und logische Denken betrachtet selbst die individuellen Objekte „in abstracto“; der Künstler beschaut ihre Gegenstände „in concreto“, d.h. in ihrer möglichst bestimmten, faktischen, singulären Realität, in ihrer „haecceitas“.52 Um die Realität in ihrer Konkretion zu erkennen, braucht man Erfahrung im strengen Sinne, d.h. diejenige, welche aus unmittelbaren Anschauungen, aus Einfühlungen hervorgeht („illa intuitive vere talia, quae immediate sentimus“).53 Die Erfahrung im eigentlichen Sinne genügt aber nicht. Über die sinnlichen Empfindungen hinaus muß sie „mit vielen anderen Vorstellungen der übrigen unteren Vermögen der Seele versehen werden“, hauptsächlich mit denen der Einbildungskraft und des Dichtungsvermögens.54 Um die zur Erkenntnis des Individuellen unerläßlichen Bereicherungen und Erweiterungen seiner Welterfahrung einzuholen, muß der Dichter in „eine andere mögliche Welt eingehen“, uns in eine ganz andere Reihe der Dinge führen, die nicht in dieser Welt geschehen sind, also etwas erdichten, und zwar poetisch: „In diesem Verstande kann man den Dichter einen Schöpfer nennen“; indem sich der Künstler der Erdichtungen bedient, bildet er eine neue Welt.55 Die Erdichtung die Ästhetik eine Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis; allein nicht deshalb, als wann alles sinnlich und gar nichts deutlich darinnen wäre, nein, sondern weil die Hauptbegriffe sinnlich bleiben, so wie man das einen deutlichen und scientifischen Vortrag nennt, wo die Hauptbegriffe deutlich sind. In dem sinnlichen Vortrage sind die deutlichen Begriffe versteckt. Die Schönheit wird hier nicht in die Verwirrung gesetzt, sondern es wird gezeigt, wie verworrene Vorstellungen schön werden sollen. 52 Ästhetik, § 752: Si genus cogitandi logicum et scientificum obiecta sua primaria, ne exceptis ipsis quidem individuis, ubi caetera paria sint, lubentius in abstracto considerat: pulcre cogitaturus analogo rationis suas materias praecipuas non in concreto solum, sed etiam in determinatissimis, in quibus potest, hinc in singularibus, suppositis, personis, factis, quoties datur, lubentissime contempletur, M. § 149; § 755: Hinc, § 752, comparatio descendens [...] praeferet partes in concreto sensibus ipsis observabiles, quales in agris arcifiniis, notas et characteres sentiendo imaginandoque simul probe assequendos, [...] si pulcre cogitari volet, ut barbare loquar, haecceitatis apprime studiosa, M. § 517. 53 Ebd., § 482: Paucissima illa intuitiva vere talia, quae immediate sentimus nullis subreptionum vitiis temerata. Stricte dictam experientiam huc unam voco, non illam late dictam, complexum omnis cognitionis, cui aliquid inest sensationum; vgl. dazu Pietro Pimpinella, Experientia/Erfahrung in Wolff e Baumgarten, in: P. P., Wolff e Baumgarten (wie Anm. 19), 91–121. 54 Ästhetik, § 482: Experientia stricte dicta multis reliquarum animae facultatum inferiorum perceptionibus praeter sensationes aliis est interstinguenda, si pulcrius aliquid excogitare sit animus, § 140. 55 Kollegnachschrift Poppe, § 502 (232): Es gibt Umstände, die wir im Schönen brauchen und die nicht geschehen, oder wann sie geschehen sind, sich nicht in das Schöne schicken. Ich soll z.E. ein besonderes edles Gemüt rühmen und seine Taten sind nicht bekannt, so muß ich sie erfinden, wann ich viel davon sagen soll. In diesem Verstande kann man den Dichter einen Schöpfer nennen, der unter diesem Umständen in eine andere mögliche Welt eingehen muß, und er ist ein Dichter, er mag es nun in einem Silbermaße tun oder nicht; § 511: Wann uns jemand in eine ganz andere Reihe der Dinge führt, die nicht in dieser Welt geschehen sind, so erdichtet er, und

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erfolgt, indem man Vorstellungen assoziiert, verschiedenartig zerlegt und durch neue Gedankenverbindungen neuartig zusammenfügt.56 Die Gedankenverbindungen stellen sich nicht nur unter bewußten Vorstellungen, sondern auch unter diesen und den dunklen Vorstellungen her. Wenn die dunklen Vorstellungen des Grundes der Seele (fundus animae) mit den bewußten Vorstellungen in Berührung kommen, gewinnt die sensitive Erkenntnis an Stärke und erzeugt Rührung.57 Baumgarten zeigt, wie die Gemütsbewegungen dazu beitragen, die individualisierende Wahrnehmung der Realität in Schwung zu bringen.58 Deshalb verlangt er vom Künstler nicht nur ein ingenium venustum et elegans connatum, sondern auch ein temperamentum aestheticum connatum, d.h. dasjenige Verhältnis der Begehrungsvermögen, das leichter zur schönen Erkenntnis führt.59 Dem Künstler gebührt „ein großes Herz“, eine magnitudo pectoris connata, d.h. eine gewisse angeborene Größe der Gesinzwar poetisch; Ästhetik, § 511: [...] tales FICTIONES heterocosmicae, § 441, quia inventor earum, quasi novum creat orbem fingendo, si vel maxime ab historico proferantur, dicuntur POETICAE. 56 Ebd., § 505: Quae non totidem ideis sensimus, quot denuo cogitamus, quaeque tamen sensitive cognoscenda sunt, sunt fingenda, M. § 589. Hinc FICTIONES LATIUS DICTAE, M. § 590, perceptiones combinando praescindendoque phantasmata formatae, longe maximam pulcre cogitandorum partem constituunt; vgl. dazu Pietro Pimpinella, Imaginatio, Phantasia e facultas fingendi in Wolff e Baumgarten, in: P. P., Wolff e Baumgarten (wie Anm. 19), 15–40. Vgl. dazu Dagmar Mirbach, Phantasie, facultas fingendi und phantasmata/fictiones bei Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Slagmark 46 (2006), 33–47. 57 Metaphysik, § 511: Sunt in anima perceptiones obscurae, § 510. Harum complexus FUNDUS ANIMAE (der Grund der Seele) dicitur; Kollegnachschrift Poppe, § 80 (116): Unsere Seele ist so beschaffen (welches man vor der Verbesserung der Psychologie nicht bemerket), daß eine erstauende Menge von Vorstellungen im Grunde derselben dunkel bleiben, daß sie aber oft zu einem geringen Grade der Dunkelheit gelangen und sich gleichsam an das Reich der Klarheit anhängen. Sie werden niemals streng deutlich und sie sollen es auch nicht werden, aber alle Begriffe des schönen Geistes werden lebhafter und es fallen ihm dadurch Sachen ein, die er schon vergessen hatte, oder von denen er es doch wenigstens glaubte. Man denkt sich z.B. nur 10 Kennzeichen von einer Sache und hernach in der Mischung vom Klaren und Dunkeln denkt man die Sache vielleicht in 150 Kennzeichen. Da bei der ersten Vorstellung an keine Träne gedacht wurde, so preßt nunmehr die Menge der Vorstellungen Tränen aus. 58 Vgl. Pietro Pimpinella, La teoria delle passioni in Wolff e Baumgarten, in: Giuseppe Cacciatore u.a. (Hg.), La Filosofia Pratica tra Metafisica e Antropologia nell’età di Wolff e Vico – Praktische Philosophie im Spannungsfeld von Metaphysik und Anthropologie bei Wolff und Vico, Napoli 2001, 251–276; Ursula Franke, Spielarten der Emotionen. Versuch einer Begriffsklärung im Blick auf Diskurse der Ästhetik, in: Klaus Herding, Bernhard Stumphaus (Hg.), Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin, New York 2004, 165–188. 59 Ästhetik, § 44: Ad aestheticum natum, § 28, requiritur 2) indoles dignam et moventem cognitionem pronius sequutura, facultatumque appetitivarum ea proportio, qua in pulcram cognitionem facilius feratur, s. TEMPERAMENTUM AESTHETICUM CONNATUM, M. § 732; vgl. dazu Pietro Pimpinella, Ingegno e teoria dell’arte. Ingenium in Wolff e Baumgarten, in: Wolff e Baumgarten (wie Anm. 19), 69–90.

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nung, ein instinctum in magna potissimum, d.h. ein starker Trieb, sich des Bedeutenden und des Wichtigen zu bemächtigen.60 Damit ist eine andere Begabung, die ästhetische Begeisterung, verbunden: impetus aestheticus, pulchra mentis incitatio, enthousiasmos.61 Die ästhetische Begeisterung ermöglicht es, „den Grund der Seele“, worin unsere tiefere und dunklere Beziehung zur Welt liegt, heraufkommen zu lassen und ans Licht zu bringen.62 In der Tat beruht die intuitive Erkenntnis der Kunst nicht nur auf äußerer, sondern vor allem auf innerer Erfahrung.63 Die conscientia intima ist, um es mit Leibniz auszudrükken, eine Handlung der Seele bezüglich ihrer selbst (agere animae in se ipsam). Die Erkenntnis der Kunst ist Erkenntnis des Individuellen, und gerade deshalb, weil sie eine individuelle Erkenntnis ist. Indem der Künstler aufgrund seiner inneren und äußeren Erfahrung durch sein Werk eine zur wirklichen Welt analoge mögliche Welt erschafft, eröffnet er eine neue Perspektive auf die Realität und erlaubt seinen Mitmenschen, originelle Einblicke in die gemeinsam erfahrbare Welt zu gewinnen. Viele sind der Ansicht, das Kunstwerk stelle gleichzeitig etwas Individuelles und Universelles dar; Baumgarten hat diesen Tatbestand am tiefsten begründet, indem er eine Logik des Individuellen ausgearbeitet und dieser Logik eine ontologische Begründung gegeben hat. Der Künstler darf seine innere und äußere Erfahrung durch Fiktionen erweitern, soweit er die transzendentale Wahrheit nicht verletzt: „Die ästhetische Wahrheit verlangt I) die Möglichkeit der anmutig zu denkenden Gegenstände, und zwar 1) die absolute Möglichkeit, insoweit sie sinnlich zu erkennen ist“,64 und „II) den Zusammenhang der schön zu denkenden Gegenstände mit Gründen und dem Gegründeten, insoweit dieser durch das Analogon der Vernunft sinnlich zu erkennen ist“.65 Wie leicht ersichtlich ist, sind dies zur transzendenVgl. Ästhetik, § 45. Vgl. ebd., § 78. 62 Ebd., § 80: Psychologis patet in tali impetu totam quidem animam vires suas intendere, maxime tamen facultates inferiores, ita, ut omnis quasi fundus animae, M. § 511, surgat nonnihil altius […]; § 95: Durante ™nqousiasmî […] intenditur omnis anima. Vgl. Leibniz, Principes de la Nature et de la Grace (wie Anm. 34), § 13: On pourroit connoitre la beauté de l’univers dans chaque ame, si l’on pouvoit deplier ses replis, qui ne se developpent sensiblement qu’avec le temps. 63 Kollegnachschrift Poppe, § 29 (86): Ein schöner Geist muß scharfe Sinne haben. [...] In ihm selbst muß ein besonderes starkes Gefühl und inneres Bewußtsein, was in ihm vorgeht, herrschen, sonst wird er nur in einer maschinenmäßigen Bewegung stehen und wird nicht imstande sein, schöne Gedanken richtig zu beurteilen. [...] Dieses Gefühl muß mehr tun als alles äußere. Wer pur Ohr und pur Auge ist, wird nie ein schöner Geist werden. 64 Ästhetik, § 431: Veritas aesthetica postulat obiectorum eleganter cogitandorum I) possibilitatem, § 426, 1) absolutam, M. §§ 15, 90, quatenus sensitive cognoscenda est. 65 Ebd., § 437: Veritas aesthetica requirit obiectorum pulcre cogitandorum, II) nexum cum rationibus et rationatis, §§ 426, 431, quatenus ille sensitive cognoscendus est, § 423, M. § 24, per analogon rationis, M. § 640. 60 61

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talen Wahrheit aller möglichen Welten erforderliche Bedingungen. Nur aufgrund der transzendentalen Wahrheit kann man verstehen, wie in einem Kunstwerk die Wahrnehmung der wirklichen Welt mit der Fiktion von möglichen Welten verbunden werden kann und in welchem präzisen Sinne eine Erdichtung als wahr bezeichnet werden darf. Die dichterische Fiktion kann Anspruch auf Wahrheit erheben, indem die möglichen Welten der Dichtung mit der wirklichen Welt die transzendentale Wahrheit teilen. Daraus erklärt sich, warum der Dichter auf keine utopische, d.h. auf keine unmögliche, widersprüchliche Welt, sondern nur auf heterokosmische, d.h. auf mögliche Welten, zurückgreifen darf.66 Schon in den Meditationes unterscheidet Baumgarten zwischen Gegenständen der Erdichtung, die nur in dieser Welt unmöglich sind, aber doch mit einer möglichen Welt kompatibel sind, und denjenigen, die in allen möglichen Welten unmöglich sind. Die ersten nennt er heterokosmisch, die letzteren utopisch.67 Der Künstler darf in andere mögliche Welten („per alios mundos possibiles“) abschweifen, aber nicht in den Regionen einer der transzendentalen Wahrheit ermangelnden Welt („circa regiones mundi fabulosi“) verweilen.68 Da selbst die Suche nach eben der Wahrheit (ipsum veritatis studium), die auf die natürliche und hauptsächlich menschliche Realität im Reichtum ihrer individuellen Beschaffenheit zielt, den Künstler zwingt, über die Erfahrung der wirklichen Welt hinauszugehen und sie durch Erdichtungen zu durchsetzen, nennt man die ästhetische Wahrheit vorzugsweise das Wahrscheinliche oder das Wahrheitsähnliche: „Est ergo veritas aesthetica a potiori dicta Verisimilitudo“.69 Eben in der gemeinsamen transzendentalen Wahrheit besteht die Ähn-

Ebd., § 441: Contingentia non repraesentantur, ut singularia, nisi ut possibilia integri alicuius universi. Hinc veritas singularis de contingentibus aut ea sistit, ut possibilia et partes huius universi, M. § 377, et haec veritas cum veritate absolute necessariorum maxima dicitur STRICTISSIME, popularique sermone simpliciter, VERITAS, aut ut possibilia alterius universi, eiusque partes, cognitioni hominum mediae, M. § 876, VERITAS HETEROCOSMICA. Vgl. zur ‘scientia media’, über die der Mensch – natürlich in beschränktem Maße – ebenfalls verfügt, Metaphysik, § 876: Deus scit omnes determinationes actualium 2) alterius mundi, quam hic, SCIENTIA MEDIA (die mittlere Wissenschaft Gottes, oder dessen Einsicht bloß möglicher Welten). 67 Meditationes, § LI: Repraesentationum talium obiecta vel in mundo existente possibilia vel impossibilia. Has FIGMENTA, illas liceat dicere FIGMENTA VERA; § LII: Figmentorum obiecta vel in existente tantum, vel in omnibus mundis possibilibus impossibilia, haec quae UTOPICA dicemus absolute impossibilia, illa salutabimus HETEROCOSMICA. Ergo utopicorum nulla, hinc nec confusa nec poetica datur repraesentatio. 68 Ästhetik, § 475. 69 Ebd., § 483: Talia autem, de quibus non complete quidem certi sumus, neque tamen falsitatem aliquam in iisdem appercipimus, sunt VERISIMILIA. Est ergo veritas aesthetica, S. XXVII, a potiori dicta VERISIMILITUDO, ille veritatis gradus, qui, etiamsi non evectus sit ad completam certitudinem, tamen nihil contineat falsitatis observabilis. 66

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lichkeit der nur auf der Erfahrung der wirklichen Welt beruhenden Wahrheit mit der erdichteten Wahrheit der möglichen Welten der Dichtung. Um seine Theorie der Kunst auszugestalten, benutzt Baumgarten die Rhetorik, die eine Redekunst und auch eine Kunst oder Technik des Wahrscheinlichen (verisimile, eikos) ist, welche auf Erfahrung ähnlicher Fälle, aber auch auf bloß denkbaren ähnlichen Fällen beruht.70 Baumgarten unterstreicht jedoch den Unterschied zwischen allgemeiner Rhetorik und allgemeiner Poetik und zeigt, wie die rhetorischen Kategorien in der Dichtung einen ganz anderen Stellenwert einnehmen.71 Man denke nur daran, wie Baumgarten das rhetorische argumentum umdeutet: Jede Wahrnehmung, die auf andere Wahrnehmungen verweist, oder allgemeiner jede Erkenntnis, die zu weiterer Erkenntnis hinüberleitet, ist ein argumentum.72 Im übrigen unterscheidet Baumgarten sorgfältig zwischen der logischen, auf deutlichen Begriffen fußenden Wahrscheinlichkeit und der sinnlichen, auf das analogon rationis zurückgehenden ästhetischen Wahrscheinlichkeit.73 In gleicher Weise unterscheidet er zwischen ästhetischer Überzeugung (persuasio aesthetica) und rhetorischer Überredung (persuasio rhetorica).74

Ebd., § 484: Cuius habent spectatores auditoresve intra animum, cum vident audiuntve, quasdam anticipationes, quod plerumque fit, quod fieri solet, quod in opinione positum est, quod habet ad haec in se quandam similitudinem […]: hoc illud est e„kÒj et verisimile, quod Aristotele et Cicerone assentiente, sectetur aestheticus, § 483; Kollegnachschrift Poppe, § 484 (227): Die Alten hießen die schöne Wahrheit e‡koj, sowie die Sitten im Schönen Ãqoj. 71 Meditationes, § CXVII: Iam quum perfecte hoc fieri possit et imperfecte, hoc doceret RHETORICA GENERALIS scientia de imperfecte repraesentationes sensitivas proponendo in genere et illud POETICA GENERALIS scientia de perfecte proponendo repraesentationes sensitivas in genere; Kollegnachschrift Poppe, § 5 (76): Die Ästhetik geht viel weiter als die Rhetorik und Poetik und ist also nicht mit ihr einerlei; ebenso wenig ist sie mit der Kritik einerlei; Ästhetik, § 836: Surgit [sc. Aesthetica] altius, suamque post se trahit rhetoricen, ultra quaestiones civiles in magis sublimia; vgl. dazu Pietro Pimpinella, L’Aesthetica di Baumgarten. Gnoseología leibniziana e retorica antica, in: Lexicon philosophicum, 4 (1989), 101–112. 72 Ästhetik, § 26: Perceptio quatenus est ratio, est ARGUMENTUM. Sunt ergo argumenta locupletantia, nobilitantia, probantia, illustrantia, persuadentia, moventia, § 22, quorum aesthetica non solum poscit vim et efficaciam, M. § 515, sed etiam elegantiam, § 25; vgl. Kollegnachschrift Poppe, § 26 (84): In der Logik bedeutet ein Argument einen strengen Vernunftschluß; oft heißt es der kurze Inhalt einer Fabel oder Historie. In der Ästhetik belegen wir diejenige Kenntnis mit diesem Namen, die den Grund von einer anderen Kenntnis enthält; § 142 (141): Wir haben schon (§ 26) erklärt, was wir ein Argument nennen, nämlich eine Kenntnis, insofern sie zur Verschönerung einer anderen Kenntnis beiträgt. 73 Ästhetik, § 485: PROBABILIA quoniam sunt, quibus ad dandum assensum plus rationis est, quam ad denegandum; et IMPROBABILIA, quibus ad denegandum assensum plus rationis est, quam ad dandum: quando rationes dubitandi et decidendi, pro assensu et contra eundem distincte cognoscuntur, oritur PROBABILITAS LOGICA, si sensitive, AESTHETICA. 74 Zur Beziehung zwischen persuasio aesthetica und veritas aesthetica vgl. Pietro Pimpinella, 70

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Die Menschen bereichern die Erkenntnis ihrer gemeinsamen Realität nicht nur aufgrund neuer, individueller Erfahrungen, sondern auch anhand eines Reservoirs an Mythen und imaginären Gestalten, die in der Welt der Dichter (mundus poetarum) ihren Niederschlag gefunden haben und unsere Einbildungskraft anregen.75 Da die Kunst unsere Wahrnehmung der individuellen Realität mitbestimmt, ist es verständlich, daß Baumgarten den analogischen Fiktionen (figmenta analogica), die auf poetischer Überlieferung beruhen, mehr Anspruch auf Wahrheit als den unbekannten Fiktionen (figmenta ignota), die sich von der Tradition entfernen, beimißt und sie den neuen Dichtern als eine wichtige Quelle der Kunsterkenntnis, nebst der Erfahrung, empfiehlt.76 Vergils Dichtung gewinnt an verisimilitudo, weil er in der Tradition der Dichterwelt Homers steht. Dasselbe, könnten wir hinzufügen, gilt für Dantes Divina Commedia hinsichtlich Vergils, den er „mio maestro e mio autore“ nennt und als Führer in die Unterwelt nimmt.77 Um den Begriff der möglichen Welten zu erklären, hatte Wolff sie mit den „Romainen“, d.h. mit den erdichteten Geschichten verglichen: wenn ein Roman mit Intelligenz konstruiert ist, d.h. keinen Widerspruch aufweist, könnten sich die in ihm erzählten Geschehnisse nie in unserer Welt ereignen und trotzdem mit einem anderen Zusammenhang der Dinge kompatibel sein, d.h. in einer möglichen Welt wahr sein.78 Dieser Wolffischen Eingebung folgend, Truth and Persuasion in Baumgarten’s Aesthetica in relation to Croce’s criticism, in: Lexicon Philosophicum 6 (1993), 22–49. 75 Ästhetik, § 513: Complexum et satis male cohaerens systema fictionum omnis generis iam a pluribus elegantioribus ingeniis adoptatarum et suppositarum synecdochice dicamus MUNDUM POETARUM; vgl. Kollegnachschrift Poppe, § 513 (233 f.): Der ganze Inbegriff aller Vorstellungen von anderen Zusammenhängen, die Dichter und witzige Köpfe schon ausgedacht haben, ist die Welt der Dichter. 76 Ästhetik, § 595: Fictionis poetica verisimilitudo praesertim postulat, ut mundo poetarum in iis, in quibus recedit ab hoc universo, sit adeo similis et consentanea, ac illud pulcritudo totius permittit, quod cogitas, § 484; § 518: FICTIO POETICA novum ita creans orbem, ut eum nec cuidam ex mundo poetico regioni faciat admodum similem, aut conducentem et aptius haerentem, est PRORSUS IGNOTA. Huic quoniam non succurrit iam supponenda in spectatoribus verisimilitudo mundi poetici, § 512, quoniam desunt anticipationes in iisdem bene multae, quas iam reperisset analogica fictio. 77 Baumgarten hätte in Dante den Dichter finden können, der am eindrucksvollsten die verschiedenen Gattungen der Dichtung verkörpert, da er gleichzeitig ‘aestheticodogmaticus’, ‘aestheticohistoricus’, ‘aestheticomanticus’ und – eben als Erzeuger anderer Welten – vor allem ‚poeticus’ ist. Dazu vgl. Pietro Pimpinella, Intorno ai termini Aesthetica, aestheticus e i suoi composti, in: Marta Fattori (Hg.), Il vocabolario della République des lettres. Terminologia filosofica e storia della filosofia. Problemi di metodo, Firenze 1997, 221–234. 78 Wolff, Deutsche Metaphysik (wie Anm. 3), § 571: Man kann solches auch mit den erdichteten Geschichten, die man Romainen zu nennen pfleget, erläutern. Wenn dergleichen Erzehlung mit solchem Verstande eingerichtet ist, daß nichts widersprechendes darinnen anzutreffen; so kann ich nicht anders sagen, als es sey möglich, daß dergleichen geschiehet. Fraget man aber, ob

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kehrt Baumgarten sie um und versteht das Kunstwerk als eine mögliche Welt. Wie er in den Meditationes behauptet, soll für das Kunstwerk dasselbe gelten, was die Philosophen von der Welt aussagen.79 Die gemeinten Philosophen sind natürlich Leibniz und Wolff. Wolff im besonderen sagt von allen möglichen Welten Einheit, Wahrheit und Vollkommenheit aus, d.h. die traditionellen Transzendentalien, die er im Zusammenhang mit seiner Theorie der möglichen Welten neu gestaltet hat. In der Wolffischen Kosmologie spielt die transzendentale Wahrheit eine prominente Rolle, da sie mit der Ordnung gleichgesetzt wird und Einheit und Vollkommenheit auf die Ordnung zurückgeführt werden. In Baumgartens Kunsttheorie spielt die ästhetische Wahrheit eine ähnliche Rolle, und folglich werden in ihrem Rahmen die Einheit und die Vollkommenheit des Kunstwerkes behandelt. Indem sich Baumgarten auf Leibniz und Wolff beruft, führt er Einheit und Vollkommenheit der Kunstwerke auf die transzendentale Wahrheit zurück. In den Meditationes hatte er die Einheit des Gedichtes als Verknüpfung (nexus) zwischen den sinnlichen Ideen und den Einbildungen, die sich zu dessen Thema zusammenfügen, verstanden.80 In der Aesthetica behauptet Baumgarten, daß die ästhetische Wahrheit die Einheit der Gegenstände, soweit diese sinnlich erkannt werden können, erfordert, nämlich die innere Einheit ihrer Bestimmungen und die äußere Einheit ihrer Beziehungen und Umstände, an welche letztere die herkömmliche unitas loci et temporis angeglichen wird.81 Die Erdichtung, d.h. der Zugriff auf Heterokosmisches, ist nötig, um „mehr Einheit der Charaktere, des Ortes und der Zeit“ zu erlangen, d.h. jenen gedrängteren, feinen Zusammenhang, jene Verflochtenheit des poetischen Stoffes, die Baumgarten iucundam unitatem nennt.82 es würklich geschehen sey oder nicht; so wird man freylich finden, daß es der gegenwärtigen Verknüpfung der Dinge widerspricht, und dannenhero in dieser Welt nicht möglich gewesen. Unterdessen bleibet es wahr, daß dasjenige, was noch fehlet, ehe es würklich werden kan, ausser dieser Welt zu suchen, nehmlich in einem anderen Zusammenhange der Dinge, das ist, in einer anderen Welt. Und solchergestalt habe ich eine jede dergleichen Geschichte nicht anders anzusehen als eine Erzehlung von etwas, so in einer andern Welt sich zutragen kan. 79 Vgl. Meditationes, § LXVIII. 80 Ebd., § LXVI: Id cuius repraesentatio aliarum in oratione adhibitarum rationem sufficientem continet, suam vero non habet in aliis, est THEMA; § LXVIII: Ideas sensuales et phantasmata poematis, quae non sunt themata, determinari per thema poeticum, nisi enim determinantur per illud, non connectuntur cum eo, nexus vero est poeticus, § 65. 81 Ästhetik, § 439: Veritas aesthetica poscit possibilitatem obiectorum et absolutam et hypotheticam, qua sensitive perspicitur [...]. Erit haec obiectorum UNITAS, quatenus phaenomenon fit, AESTHETICA, vel determinationum internarum, M. § 37, quo unitas ACTIONIS, si obiectum pulcrae meditationis actio sit, vel externarum et relationum, M. § 37, circumstantium, M. § 323, quo unitas LOCI ET TEMPORIS, M. §§ 325, 281. 82 Vgl. ebd., §§ 585, 607.

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Ferner erfordert die ästhetische Wahrheit Vollkommenheit. Wolff definiert die Vollkommenheit (perfectio, bonum transcendentale) als Eintracht in der Vielfältigkeit und bestimmt sie als die Einheit des angestrebten Zweckes: „Perfectio est consensus in varietate, seu plurium a se invicem differentium in uno. Consensum vero appello tendentiam ad unum aliquod obtinendum“.83 Baumgarten versteht unter der Vollkommenheit eines Gedichtes die tendentia seiner Bestandteile zur einheitlichen, durch sensitive Vorstellungen gewonnenen Erkenntnis: „ORATIO SENSITIVA PERFECTA est cuius varia tendunt ad cognitionem repraesentationum sensitivarum“.84 Wolff bleibt der traditionellen Auffassung des Zweckes der Kunst als delectare et prodesse treu, obwohl er zum Teil die Baumgartensche Auffassung durch seine Theorie der intuitiven dichterischen Darstellung vorwegnimmt und einen reichen Beitrag zur begrifflichen Ausrüstung der Ästhetik leistet.85 Baumgarten aber teilt der Dichtung keinen äußeren, sondern einen inneren, formalen Zweck zu, dessen Erfüllung die wesentliche Aufgabe der Kunst ausmacht, welche in der einheitlichen anschaulichen Darstellung ihrer Gegenstände besteht. In den Meditationes liegt der Grund oder Brennpunkt der Vollkommenheit (focus perfectionis) in der Einheit des Themas.86 Leibniz hatte die Vollkommenheit der Welt als ein optimales Zusammenspiel von Vielheit und Einheit, d.h. von Reichtum an Phänomenen und Einfachheit der Gesetze, aufgefaßt.87 Im Baumgartens Begriff der Vollkommenheit der Welten der Dichtung taucht die Leibnizische Weltauffassung wieder auf. Die vom Dichter geschaffene Welt erfordert gerade eine materielle Vollkommenheit (perfectio materialis), die im Gegensatz zur formalen Vollkommenheit (perfectio formalis) des im strikten Sinne logischen Denkens steht. Die materielle Vollkommenheit ist diejenige der sensitiven, durch das analogon rationis erlangten Erkenntnis des Individuellen. Nur die am genauesten bestimmten individuellen Einzeldinge stellen „die höchste Stufe materialer Voll-

Wolff, Ontologia (wie Anm. 16), § 503. Meditationes, § VII. 85 Vgl. Pietro Pimpinella, La théorie wolffienne des arts à l’origine de l’estétique, in:, Revue Germanique Internationale 4 (2006) (Esthétiques de l’Aufklärung), 5–22. 86 Metaphysik, § 94: Si plura simul sumpta vnius rationem sufficientem constituunt, CONSENTIUNT, consensus ipse est PERFECTIO, et vnum, in quod consentitur, RATIO PERFECTIONIS DETERMINANS (focus perfectionis) (Grund oder Brennpunkt der Vollkommenheit). 87 Gottfried Wilhelm Leibniz, [Discours de metaphysique], in : PhS, Bd. 4, 427–463, hier 431: Ainsi on peut dire que de quelque maniere que Dieu auroit créé le monde, il auroit tousjours esté regulier et dans un certain ordre general. Mais Dieu a choisi celuy qui est le plus parfait, c’est à dire le plus simple en hypotheses et le plus riche en phenomenes. 83 84

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kommenheit“ dar.88 In der wissenschaftlichen Erkenntnis der Welt, die von den individuellen Bestimmungen absieht, geht der Reichtum der in der ästhetischen Wahrheit erhaltenen Erkenntnis des Individuellen verloren: „Denn was bedeutet die Abstraktion anderes als einen Verlust?“89 Im Paragraphen 565 der Aesthetica finden wir die drei Transzendentalien im Zusammenhang mit der extensiven Klarheit der Kunsterkenntnis dargestellt. Der Künstler soll einen höchst determinierten Gegenstand wählen, am besten „individuelle Themen“ (themata singularia), in denen die Vollkommenheit der materiellen, d.h. der metaphysischen Wahrheit (perfectio veritatis materialis) vorherrscht. Die bestimmten, singulären Themen sollen mit einer Fülle von Merkmalen umhüllt werden: „Circumfundantur notarum ingente multitudine“. Die extensiv klare Erkenntnis soll in eine gedrängte, aber fein abgerundete Fülle (brevis, sed eleganter plena rotunditas), d.h. in eine Einheit münden, welche den elegant leuchtenden Glanz, die innere Überzeugungskraft, die auf den Hörer erfreulich und rührend wirkende Lebendigkeit (vita cognitionis) besitzt. Auf dieser Weise wird die Vollkommenheit der Kunstwahrheit erreicht, d.h. die anschauliche Vollkommenheit der Kunsterkenntnis in Abhebung von der formalen Vollkommenheit der logischen Erkenntnis.90 Schon in den Meditationes philosophicae beansprucht Baumgarten für die Kunst eine besondere Art der Erkenntnis, indem er die anschauliche cognitio sensitiva des Individuellen und eine entsprechende Logik vindiziert, die in Abhebung von der Verstandeslogik aesthetica benannt wird. In der Aesthetica gibt Baumgarten der Kunstlogik eine ontologische Begründung auf der Basis der Wolffischen Theorie der möglichen Welten, die auf dem Begriff der transzendentalen Wahrheit beruht. Hauptanliegen des vorliegenden Beitrages ist zweierlei. Zuerst wird gezeigt, daß Baumgarten die metaphysische Wahrheit der sich aus Individuen zusammensetzenden Realität am Licht der transzendentalen Wahrheit auslegt. Dann wird dargelegt, daß die ästhetische Wahrheit der Erkenntnis des Individuellen durch die

Ästhetik, § 561: Iam supponatur veritatis aestheticologicae studium aliquando ferri praesertim in perfectionem eiusdem materialem, § 558, et hinc amplecti obiecta veritatis metaphysicae, quae potest, determinatissimae; § 564: Differentias determinatiores, praesertim autem perfectionem materialem veritatis aestheticologicae maximam exhibentibus singularibus, individuis, et determinatissimis fruitur horizon aestheticus. 89 Ebd., § 560: Equidem arbitror philosophis apertissimum esse iam posse, cum iactura multae magnaeque perfectionis in cognitione et veritate logica materialis emendum fuisse, quicquid ipsi perfectionis formalis inest praecipuae. Quid enim est abstractio, si iactura non est?; § 558: Hinc humanum veritatis studium nunc formalem potissimum intendit, quod fieri non potest sine dispendio materialis, nunc materialem potissimum amplectitur, neque potest idem, nisi cum detrimento formalis, § 557. 90 Ich bedanke mich bei Dr. Dagmar von Wille und Alexander Aichele für die Überprüfung und Verbesserung meines deutschen Textes. 88

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künstlerische Schöpfung von möglichen Welten, die mit der wirklichen Welt die transzendentale Wahrheit teilen, erlangt wird. Already in the Meditationes philosophicae Baumgarten claims for the arts both a special kind of knowledge, namely the intuitive cognitio sensitiva of individuals, and a corresponding logic that it obeys and which in contrast to the logic of the understanding is called aesthetica. In the Aesthetica, Baumgarten provides the logic of the arts with an ontological foundation that derives from Wolff’s theory of possible worlds as based on the concept of transcendental truth. This contribution has two principal aims. First, it wants to show that Baumgarten expounds the metaphysical truth of a reality composed of individuals on the basis of transcendental truth. And secondly it argues that the aesthetic truth of the knowledge of individuals is attained through the artistic creation of possible worlds that have their transcendental truth in common with the real world. Prof. Pietro Pimpinella, Lessico Intelletuale e Storia delle Idee, Università degli Studi di Roma „La Sapienza“, Facoltà di Filosofia, Villa Mirafiori, Via Nomentana, 118, I-00161 Roma, E-Mail: [email protected]

G O T T FR I E D G ABRIEL Baumgartens Begriff der „perceptio praegnans“ und seine systematische Bedeutung

Die Ästhetik ist, wie Alexander Gottlieb Baumgarten es treffend formulierte, die ‘Schwester’ der Logik. Diesen Gedanken fortsetzend, kann man als ‘Mutter’ der beiden ungleichen Schwestern die Theorie der Erkenntnis ausmachen, wobei die Logik als die ‘strenge’ Schwester für die rationale Erkenntnis und die Ästhetik als die ‘schöne’ Schwester für die sinnliche Erkenntnis zuständig ist. Im folgenden möchte ich an Baumgartens Begriff der „perceptio praegnans“ den Zusammenhang zwischen Ästhetik und Erkenntnislehre in historischer Entwicklung und systematischer Bedeutung verdeutlichen. Üblicherweise wird behauptet, daß die Genieästhetik der Klassik die Regelästhetik der Aufklärung nicht nur abgelöst, sondern auch überwunden habe. Diese Sicht scheint mir sowohl historisch als auch systematisch zu einseitig zu sein. Die folgende Untersuchung konzentriert sich deshalb auf einen exemplarischen Vergleich der Konzeptionen Baumgartens und Kants, in dessen Kritik der (ästhetischen) Urteilskraft die Genieästhetik ihre theoretische Ausarbeitung erhalten hat. Es wird insbesondere zu zeigen versucht, daß Kants Begriff der „ästhetischen Idee“ Baumgartens Begriff der „perceptio praegnans“ beerbt und – im Verbund damit – Kants Konzeption der reflektierenden Urteilskraft auf die rationalistische Tradition des Erkenntnisvermögens ‘Witz’ zurückgeht. Systematisch verbinde ich mit dem Nachweis dieser Genealogie die Absicht, die Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis zu verteidigen – in Absetzung von einem zu sehr am Geschmacksurteil und dessen Prädikat der Schönheit orientierten Verständnis der Ästhetik. Es mag sein, daß Kants Explikation des Begriffs der Schönheit im Vergleich mit der Explikation Baumgartens angemessener erscheint, indem die Schönheit an das Gefühl der Lust und Unlust und nicht an die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis gebunden wird. In den Zeiten der nicht mehr schönen Künste ist ‘schön’ aber nicht mehr das zentrale, zumindest nicht das einzige ästhetische Prädikat. So können ‘sinnliche’ Vergegenwärtigungen (z.B. der conditio humana) ästhetisch gelungen sein, ohne des-

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halb auch schön zu sein. Gerade in dieser für die ‘Moderne’ charakteristischen Perspektive hat der kognitivistische Ansatz Baumgartens Gewicht.1 Meine Ausführungen stehen in enger Verbindung mit einem komplementaristischen Verständnis unterschiedlicher Erkenntnisformen, wie dieses bereits Baumgarten für Logik und Ästhetik vertreten hat. Der Komplementarismus besagt, daß es unterschiedliche Weisen oder Modi der Erkenntnis gibt, die einander ergänzen. Dabei widerspricht er der Gleichsetzung von Wahrheit und Erkenntnis, anders gesagt, der Reduktion der Erkenntnis auf propositionale, d.h. aussageartige Erkenntnis.2 Obwohl die folgenden Überlegungen für ästhetische Erkenntnisse insgesamt gelten, seien die Kunstwerke nun sprachlicher oder nicht-sprachlicher Art, konzentrieren sie sich auf die Dichtungstheorie. Die Interpreten sind sich ohnehin einig, daß die in Baumgartens Meditationes entwickelte Poetologie bereits die wesentlichen Gedanken der späteren Aesthetica in nuce enthält.3 Dies gilt freilich gerade nicht für den Begriff der „perceptio praegnans“, der erst in der zwischen den Meditationes (1735) und der Aesthetica (1750/1758) erschienenen Metaphysica (1739) eingeführt wird. Andererseits ist aber gerade dieser Umstand für die Wirkungsgeschichte mit Blick auf Kant bedeutsam, weil dieser die Metaphysik bekanntlich nach Baumgarten gelesen hat.4 Die Dichtungstheorie der Aufklärung ist, wie deren ästhetische Theorie überhaupt, wesentlich durch die philosophische Debatte über das Verhältnis zwischen oberen und unteren Erkenntnisvermögen bestimmt. Das überlieferte Platonische Diktum, daß die Dichter lügen, stellt kein ernsthaftes Problem mehr dar. Unter Zugrundelegung eines Begriffs von Lüge, nach dem nur derjenige lügt, der etwas behauptet, von dem er weiß, daß es nicht wahr ist, ist dieser Vorwurf bereits von Philip Sidney (1595) mit dem Argument zurückgewiesen worden, daß Dichter schon deshalb nicht lügen, weil sie gar nicht behaupten.5 In Frage steht daher nicht mehr die Zulässigkeit der Fiktion, sonDen kognitivistischen Ansatz betont bereits Ursula Franke im Obertitel ihrer grundlegenden Studie: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972 (Studia leibnitiana, Supplementa, 9). 2 Zur Ausarbeitung dieses Komplementarismus vgl. mein Buch: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Paderborn 1997. 3 Vgl. genauer Werner Strube, Baumgartens Ästhetik als Transformation seiner Theorie des Gedichts, in: Ernst Rohmer, Werner Wilhelm Schnabel, Gunther Witting (Hg.), Texte – Bilder – Kontexte. Interdisziplinäre Beiträge zu Literatur, Kunst und Ästhetik, Heidelberg 2000, 21–41. Strube sieht in der Aesthetica eine „Erweiterung und Umgestaltung der Poetik“ (ebd., 41). 4 Zur Wirkungsgeschichte insgesamt vgl. Egbert Witte, Logik ohne Dornen. Die Rezeption von A.G. Baumgartens Ästhetik im Spannungsfeld von logischem Begriff und ästhetischer Anschauung, Hildesheim u.a. 2000. 5 Philip Sidney, A Defence of Poetry, hg. von Jan A. van Dorsten, Oxford 21971, 52. 1

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dern die positive Bestimmung ihrer Funktion in der Verbindung mit dem Poetischen. Wie versteht die Aufklärungsphilosophie die beiden Momente der Dichtung, das Fiktionale und das Poetische, sowie deren Verbindung? Im Anschluß an die rationalistische Erkenntnistheorie von Leibniz und Wolff bestimmt Baumgarten Fiktionen (fictiones, figmenta) als Perzeptionen, die aus sinnlichen Vorstellungen der Phantasie oder Einbildungskraft (facultas imaginandi) gebildet werden, indem sie zu einem Ganzen (unum totum) zusammengefaßt werden.6 Der Einbildungskraft selbst wird lediglich eine reproduktive Funktion zugewiesen. Sie ruft frühere sinnliche Wahrnehmungen als Vorstellungen (repraesentationes) auf: „[N]ihil est in phantasia, quod non ante fuerit in sensu“.7 Wie wir sehen, handelt die Ästhetik des Rationalismus nicht nur von der Sinnlichkeit, sie folgt hier sogar dem Grundsatz des Sensualismus. Das produktive Vermögen oder die Fähigkeit zur Neu- und Umbildung wird als das Vermögen des Erdichtens (facultas fingendi) bestimmt, das durch den Zusatz „poetisch“ (poetica) bereits in die Nähe des Dichtungsvermögens im Sinne der (später so genannten) produktiven oder dichterischen Einbildungskraft gerückt wird.8 Die Doppeldeutigkeit von ‘Dichtung’ – verstanden als Poesie oder als bloße Erdichtung – hält sich bis in die Gegenwart durch. Fiktionen sind für Baumgarten ganz allgemein das Ergebnis einer Poiesis, eines ‘Machens’, das die Gefahr in sich birgt, „Chimären“ als für wahr gehaltene Fiktionen hervorzubringen.9 Im Rahmen seiner Dichtungstheorie nennt Baumgarten dann bereits solche Erdichtungen (figmenta) wahr, die in der bestehenden Welt möglich sind. Die Erdichtungen, die in der bestehenden Welt unmöglich sind, unterteilt er sodann in solche, die nur in dieser Welt unmöglich, in anderen Welten (d.i. „heterokosmisch“) aber möglich sind, und solche, die in allen möglichen Welten unmöglich (d.i. „utopisch“) sind, und er fügt hinzu: „Nur wahre und heterokosmische Erdichtungen sind poetisch“.10 Ein gesunder Wirklichkeitssinn drückt sich in der Feststellung aus, „so ist die Verrücktheit (delirium) der Zustand eines Wachenden, der gewohnheitsmäßig die Einbildungen (imaginationes) für Empfindungen (sensationibus) und die Empfindungen für Einbildungen hält“.11 Zu beachten ist, daß das lateinische Verb „fingere“ ursprünglich (ähnlich wie „facere“) ganz allgemein „machen“ im Sinne der Formung eines Materials bedeutet. Erst im übertragenen Sinne erhält es die Bedeutung eines „Erfindens“ von Dingen, die es möglicherweise gar nicht gibt. Beide Verwendungen sind 6 7 8 9 10 11

Metaphysik, § 590. Ebd., § 559. Vgl. ebd., § 589. Vgl. ebd., § 590. Meditationes, § LIII; vgl. auch §§ LI–LII; ferner Ästhetik, § 441. Metaphysik, § 594.

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bei Baumgarten auseinandergehalten, verschwimmen aber im modernen (oder postmodernen) Fiktionalismus, der das poietische Verständnis der Fiktion im Sinne des „Machens“ übernimmt, aber nicht hinreichend zwischen den beiden Mach-Arten der Konstitution und der Erfindung unterscheidet. Fiktionalität ist zunächst ein bloß negatives Merkmal der Dichtung, das diese als Erdichtung von Wirklichkeit unterscheidet. Bereits Baumgarten erwägt daher die Frage, ob Fiktionalität überhaupt eine notwendige Bedingung, ein „Wesensmerkmal“ der Dichtung ist.12 Eine hinreichende Bedingung ist sie ohnehin nicht. Baumgarten läßt diese prinzipielle Streitfrage offen und beschränkt sich auf „unzweifelhafte Fälle [...], bei denen der Dichter die Erdichtung nicht unterlassen kann“.13 Damit wird Baumgarten bereits der modernen Einsicht gerecht, daß es, wie man heute sagt, nicht nur nicht-fiktionale Literatur, sondern auch nicht-literarische Fiktionen gibt, Fiktionalität also weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für Literarizität ist. Gleichwohl interessiert uns in ästhetischer (poetologischer) Hinsicht in besonderem Maße das Zusammentreffen von Fiktion und Literatur in der Dichtung, verstanden als fiktionale Literatur oder literarische Fiktion. Dabei geht es um die Frage, ob und in welchem Sinne Dichtung trotz ihrer Fiktionalität ein Erkenntniswert zukommen kann. Ganz in diesem Sinne fragt Baumgarten, was aus einer Erdichtung (figmentum, fictio) eine Dichtung bzw. ein Gedicht (poema) macht. Hier kommt Baumgartens Begriff der „perceptio praegnans“ zum Tragen, d.i. die Konzeption einer „vielsagenden“ (so Baumgartens eigene Übersetzung) oder „sinnreichen“ (so die treffende Übersetzung in der Folgezeit), sozusagen ‘bedeutungsschwangeren’ Perzeption. Deren Bedeutungsfülle wird erkenntnistheoretisch auf die ‘Verworrenheit’ zurückgeführt.14 Demgemäß sind gerade verworrene Beschreibungen (descriptiones confusae) von heterokosmischen Erdichtungen „besonders poetisch“.15 Wie ich bereits erwähnt habe, führt Baumgarten den Begriff der „perceptio praegnans“ erst später (in der Metaphysica) ein. Der Sache nach werden dessen Merkmale aber bereits in den Meditationes entfaltet, und zwar im Ausgang von der Definition des Gedichts (poema) als „vollkommene sensitive Rede“.16 Mit ihr vollzieht Baumgarten den ersten Schritt zur Etablierung der Ästhetik als Meditationes, § LVIII, Anm.: an fictio ad essentialia poematis pertineat. Ebd.: certos casus, in quibus fictione poeta supersedere nequeat. 14 Metaphysik, § 517: Quo plures notas perceptio complectitur, hoc est fortior, §. 23, 515. Hinc obscura perceptio plures notas comprehendens, quam clara, est eadem fortior, confusa plures notas comprehendens, quam distincta, est eadem fortior. PERCEPTIONES plures in se continentes PRAEGNANTES vocantur. Ergo perceptiones fortiores sunt. Hinc ideae habent magnum robur, § 148. 15 Meditationes, § LV. 16 Ebd., § IX: Oratio sensitiva perfecta est POEMA. 12 13

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Disziplin der „Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis“.17 Terminologisch folgt Baumgarten dabei weitestgehend den Unterscheidungen von Gottfried Wilhelm Leibniz, der die Verworrenheit als epistemischen Gegenbegriff zur Deutlichkeit faßt und beide Begriffe (Verworrenheit und Deutlichkeit) dem Begriff der Klarheit unterordnet.18 In diesem Sinne korrespondiert der Verbindung ‘klar und deutlich’ die Verbindung ‘klar und verworren’, wobei das ‘und’ nicht als Konjunktion, sondern als Spezifizierung zu lesen ist. Klarheit ist der Dunkelheit gegenübergestellt. Sie verlangt (im Unterschied zur Dunkelheit) die Wiedererkennbarkeit. Etwas wiederzuerkennen bedeutet, daß es aus (oder von) anderen unterschieden hervorgehoben erscheint, ohne daß deshalb die unterscheidenden Eigenschaften oder Merkmale explizit auf den Begriff gebracht werden müßten.19 Betrachten wir als Beispiel das Wiedererkennen von Personen: Dunkel verbleibt die Erkenntnis einer bestimmten Person, wenn ich mich daran erinnere, ihr schon einmal begegnet zu sein, ohne aber in der Lage zu sein, sie bei einer erneuten Begegnung wiederzuerkennen. Verworrenheit ist im Unterschied zur Deutlichkeit eine solche Klarheit (von Erkenntnissen und Begriffen), die nicht ausreicht, die entsprechenden Objekte im genannten begrifflichen Sinne von anderen zu unterscheiden. Diese Objekte sind in extensionaler Deutung die Gegenstände, die unter den jeweiligen Begriff fallen, und in intensionaler Deutung die Bestandteile (Merkmale), aus denen die Begriffe bestehen. Extensional läuft die Deutlichkeit auf die scharfe Begrenzung der Begriffe hinaus, nach der für jeden Gegenstand entscheidbar ist, ob er unter den Begriff fällt oder nicht fällt. Intensional ist die Deutlichkeit durch die Zerlegung eines Begriffs in seine definierenden Merkmale gegeben. Die fortgesetzte Zerlegung der Merkmale, bis man bei einfachen, nicht weiter zerlegbaren Merkmalen angekommen ist, also die vollständige Zerlegung eines Begriffs in seine Merkmale, ergibt nach Leibniz „adäquate“ Begriffe. Für Leibniz sind verworrene Begriffe und Erkenntnisse weniger vollkommen als deutliche. Als verworren gilt ihm insbesondere die sinnliche Wahrnehmung, deren Objekte der Analyse in deutliche Merkmale nicht fähig seien. Christian Wolff übersetzt in seiner Deutschen Metaphysik den Ausdruck ‘confusa’ mit ‘undeutlich’ und vermeidet damit die negative Nebenbedeutung, die dem Ausdruck ‘verworren’ anhaftet.20 Das hierarchische Verhältnis zwischen Ästhetik, § 14. Gottfried Willhelm Leibniz, Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis (1684), in: PhS, Bd. 4, 422–426, hier 422 f. 19 Definitionstheoretisch besagt dies: Es genügt die exemplarische Einführung der Prädikatoren, die Unterscheidbarkeit durch Beispiele und Gegenbeispiele, ohne die Angabe von Prädikatorenregeln oder gar expliziten Definitionen. 20 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (1720, 111751), in: GW I.2., § 275. 17 18

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der Deutlichkeit von Begriffen und der Verworrenheit der Sinnlichkeit bleibt gleichwohl bestehen. Erst Baumgarten hat es in ein komplementäres überführt. Er widerspricht der Auffassung, daß Verworrenheit „die Mutter des Irrtums“ sei. Vielmehr sei sie eine notwendige Bedingung für die Entdeckung der Wahrheit. Da die Natur keinen Sprung aus der Dunkelheit in die Deutlichkeit mache (hier kommt das Leibnizsche Kontinuitätsprinzip zum Tragen), bedürfe es der Verworrenheit als Zwischenstufe: „Aus der Nacht führt der Weg nur über die Morgenröte zum Mittag“.21 Danach hat die sinnlich-verworrene Erkenntnis als ‘cognitio clara et confusa’ ihre eigene Vollkommenheit, die sich nicht nach dem Grad ‘intensiver Klarheit’, d.i. gemäß größerer oder geringerer Deutlichkeit, bemißt, sondern nach dem Grad ‘extensiver Klarheit’, d.i. gemäß größerer oder geringerer ‘Fülle’ an Bestimmungen im Sinne einer anschaulich beschreibenden Vergegenwärtigung.22 ‘Bestimmung’ meint hier die (extensiv klare) anreichernde ‘determinatio’,23 nicht die (intensiv klare = deutliche) abstrahierende ‘definitio’. Daher kann Baumgarten die Einzelvorstellungen (repraesentationes singulares) als Vorstellungen von „durchgängig bestimmten“ Individuen – im Sinne des Grundsatzes „individuum est ineffabile“ – als besonders poetisch auszeichnen.24 Gleiches gilt auch für das Beispiel (exemplum) als „Vorstellung von etwas stärker Bestimmtem, die zur Erklärung einer Vorstellung von weniger Bestimmtem beigebracht wird“.25 Angesprochen ist damit das Besondere in seinen exemplifikatorischen Möglichkeiten. Festzuhalten bleibt zunächst, daß die ästhetische Rehabilitierung verworrener Vorstellungen die Grundlage von Baumgartens Bestimmung der „perceptio praegnans“ bildet. Ich halte Baumgartens Konzeption der ‘perceptio praegnans’ für ein zentrales Lehrstück einer Theorie ästhetischer Bedeutung und ästhetischer Erkenntnis. Diese Einschätzung möchte ich nun in historischer und systematischer

Ästhetik, § 7: Ex nocte per auroram meridies. Vgl. Meditationes, §§ XV ff. 23 Ebd., § XVIII. 24 Ebd., § XIX. Auf der sprachlichen Ebene entspricht dem die Auszeichnung der Eigennamen (§ LXXXIX), die – wie in der modernen ‘Bündeltheorie’ – gewissermaßen als Knotenpunkte der sie bestimmenden Kennzeichnungen aufzufassen sind. Zur hier angesprochenen Logik und Ästhetik der Individualität vgl. Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (1923), repr. Darmstadt 1967; ferner: Steffen Wolfram Groß, Felix Aestheticus. Die Ästhetik als Lehre vom Menschen, Würzburg 2001, 246– 258. 25 Meditationes, § XXI: repraesentatio magis determinati ad declarandam repraesentationem minus determinati suppeditata. Unter den Beispielen werden die „Einzelbeispiele“ (exempla singularia) aufgrund ihrer Verbindung von Individuum und Exempel als die besten (optima) herausgestellt (§ XXII). 21 22

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Perspektive untermauern.26 Die Ablösung der Regelpoetik durch die Genieästhetik hat vergessen lassen, daß die Konzeption der ‘perceptio praegnans’ in Kants Begriff der ästhetischen Idee und damit auch in die Bestimmung des Geniebegriffs Eingang gefunden hat; denn für Kant macht „das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen“ das Genie aus.27 Die ästhetische Idee bestimmt Kant als „diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann [...]“.28 Ergänzend nennt er sie „eine, einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit von Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzudenken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet“. Kant betont, daß der Geist, der hier (produktiv) am Werke ist, nicht willkürlichen Assoziationen folgen darf. Soweit die ästhetische Idee ihm „die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet“,29 ist damit zwar eine unausschöpfbare Quelle an Kreativität angesprochen, gleichzeitig wird aber auch gesagt, daß dieser Reichtum eine sachliche Grundlage in der Verwandtschaft der Vorstellungen hat. Das Vermögen, das mit der Feststellung solcher Verwandtschaften oder Ähnlichkeiten befaßt ist, heißt in der Aufklärungstradition ‘Witz’. Dieser Ausdruck ist die Übersetzung des lateinischen ‘ingenium’. Der Begriff des Witzes stellt sich damit als ein Vorläufer des Kantischen Geniebegriffs dar. Hier haben wir ein weiteres Indiz dafür, daß Kant die Ästhetik des Rationalismus weniger überwunden als vielmehr beerbt hat.30 Eine genauere Betrachtung der Herkunft des für Kant zentralen Begriffs der reflektierenden Urteilskraft bestärkt diese Sicht. Kant faßt seine Unterscheidung zwischen subsumierender Urteilskraft, die er bestimmende nennt, und reflektierender Urteilskraft zunächst ganz allgemein, ohne Beschränkung auf die Ästhetik. So heißt es in der Logik, daß die bestimmende Urteilskraft „vom Allgemeinen zum Besondern“ und die reflek26 Zur Begriffsgeschichte von ‘Prägnanz’ und zum historischen Kontext vgl. Hans Adler, Prägnanz – Eine Denkfigur des 18. Jahrhunderts, in: Karl Menges (Hg.), Literatur und Geschichte. Festschrift für Wulf Koepke zum 70. Geburtstag, Amsterdam, Atlanta 1998 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, 133), 15–34. Sehr treffend mahnt Adler als Ergänzung zur Logik „der rationalen Deutlichkeit“ eine „Epistemologie der Prägnanz“ an (ebd., 32). 27 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, AA, Bd. 5, § 49. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Vgl. zum folgenden ausführlicher Gottfried Gabriel, Der ‘Witz’ der reflektierenden Urteilskraft, in: Fritjof Rodi (Hg.), Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen, Weilerswist 2003, 197–210.

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tierende Urteilskraft umgekehrt „vom Besondern zum Allgemeinen“ gehe.31 Dieser Gegenüberstellung entspricht diejenige zwischen Urteilskraft und Witz in Kants Anthropologie: „So wie das Vermögen zum Allgemeinen (der Regel) das Besondere aufzufinden Urteilskraft, so ist dasjenige zum Besonderen das Allgemeine auszudenken der Witz (ingenium)“.32 Vergleicht man beide Unterscheidungen, so ist unmittelbar zu sehen, daß der Begriff des Witzes durch den Begriff der reflektierenden Urteilskraft ersetzt worden ist. Während Kant in der Anthropologie die ältere Terminologie der Psychologia empirica seiner rationalistischen Vorgänger bewahrt, hat er deren Ersetzung in der Kritik der Urteilskraft konsequent durchgeführt: Die reflektierende Urteilskraft stellt sich danach als das transzendentalphilosophische Substitut des Witzes dar. Hierin kommt der klassische Kunstbegriff zum Tragen, der das Genie gegen den Witz ausspielt. Dagegen hat vor allem Johann Christoph Gottsched protestiert, der den Ausdruck ‘Genie’ als Ersatz für ‘Witz’ ablehnt, dabei aber betont: „Wir sind nur wider das Wort und nicht wider die Sache, die sonst das kluge Deutschland durch Geist und Witz auszudrücken pflegte, welche schönen Wörter man itzo vor dem lieben Genie unter das alte Eisen werfen will“.33 Den Anlaß für die Kontroverse gab die u.a. von Friedrich Gottlieb Klopstock vorgenommene Entgegensetzung von Genie und Witz, nach der letzterer lediglich für den Redeschmuck zuständig sei und damit dem Bereich des Rhetorischen und nicht des Poetischen zugeschlagen wird: „Die höhere Poesie ist ein Werk des Genies; und sie soll nur selten einige Züge des Witzes, zum Ausmalen, anwenden“.34 Dabei gesteht Klopstock durchaus zu, daß es „Werke des Witzes“ gebe, die „Meisterstücke“ sind.35 Gleichwohl führt die Unterscheidung zwischen ‘bloßem’ Witz und wahrem Genie zumindest in der Dichtungstheorie zu einer Abwertung des Witzes. Im Unterschied zum Genie, so Gotthold Ephraim Lessing, gehe der Witz „nicht auf das ineinander Gegründete“,36 sondern stelle nur assoziativ verwirrende Verbindungen zwischen zusammenhanglosen Begebenheiten her. Demgemäß formuliert er pointiert – und nicht ohne Witz: „[D]as Genie

31 32 33

Immanuel Kant, Logik, AA, Bd. 9, § 81. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA, Bd. 7, § 44. Johann Christoph Gottsched, Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 10 (1760),

674. Friedrich Gottlieb Klopstock, Von der heiligen Poesie (1760), in: Sämmtliche Werke, Bd. 10, Leipzig 1855, 226. 35 Ebd. 36 Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 30. Stück, in: Sämmtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann, Franz Muncker, Bd. 9, Berlin 1968 (ND der Ausgabe Stuttgart 1890), 307 ff., hier 308. 34

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liebt Einfalt; der Witz Verwicklung“.37 Lessing diente die Unterscheidung auch zur Abwehr des französischen Einflusses in der deutschen Literatur. Unabhängig davon wird in der nachfolgenden Genie-Debatte diese Unterscheidung häufig bemüht. So betont noch Johann Wolfgang Goethe, daß nur der Dilettant glaube, „mit dem Witz an die Poesie zu reichen“,38 und Friedrich Schiller gibt die Begründung: „Denn der Witz hat mit dem Schönen/Mit dem Hohen nichts gemein!“39 Durch diese gezielte Gegensatzbildung gerät in der klassischen Kunstauffassung die ästhetische Bedeutung des Erkenntnisvermögens ‘Witz’ in Vergessenheit und wird im doppelten Sinne des Wortes geradezu ‘verdrängt’. Kant liefert dafür den besten Beleg. Wie wir gesehen haben, basieren die Kantischen Begriffe der reflektierenden Urteilskraft und der ästhetischen Idee auf den Baumgartenschen Begriffen des Witzes und der „perceptio praegnans“, und zwar in genauer Entsprechung: Aus dem Witz als dem Vermögen der Bildung prägnanter Perzeptionen wird die reflektierende Urteilskraft als Vermögen der Bildung ästhetischer Ideen. Die Gemeinsamkeit ästhetischer Ideen und prägnanter Perzeptionen besteht in ihrer Kraft zur konnotativen Entfaltung von „Nebenvorstellungen“. Die Dichtung nutzt sie zur Gegenstands- und Weltvergegenwärtigung, indem sie statt propositionaler Erkenntnisse über Gegenstände nicht-propositionale Kenntnisse von Gegenständen vermittelt.40 Dichtung unterscheidet sich positiv von bloßer Erdichtung durch ihre Vergegenwärtigungsleistung, die semantisch aus der Bedeutungsfülle ihrer Sprache erwächst. Im Rahmen unserer Frage nach dem Erkenntniswert der Dichtung (und der Kunst) können wir die spezifisch Kantische Frage ausklammern, welche Rolle der reflektierenden Urteilskraft für das ästhetische Urteil als Geschmacksurteil zukommt. Obwohl für Kant das ästhetische Urteil kein Erkenntnisurteil ist, sondern auf das Gefühl der Lust und Unlust bezogen bleibt, zeigen die Ausführungen zum Begriff der ästhetischen Idee doch, daß sich bei Kant auch Ansätze zu einer Theorie der ästhetischen Erkenntnis finden lassen. Kant selbst stimmt dem freilich nicht zu: „Eine ästhetische Idee kann keine Erkenntnis werden, weil sie eine Anschauung (der Einbildungskraft) ist, der niemals ein Begriff adäquat gefunden werden kann“.41 Hier geht Kant aber von einem zu engen Erkenntnisbegriff aus. Die Tatsache, daß eine ästhetische Idee nicht abschlieEbd., 309. In den mit Friedrich Schiller entworfenen Übersichten „Über den Dilettantismus“, in: Johann Wolfgang Goethe, Werke (Sophien-Ausgabe), 1. Abt., Bd. 47, Weimar 1896, 314. 39 Friedrich Schiller, Deutsche Größe, in: Werke (Nationalausgabe), Bd. 2.1, Weimar 1983, 434. 40 Vgl. die traditionelle Unterscheidung von cognitio rei und cognitio circa rem oder auch die Unterscheidung von knowledge by acquaintance und knowledge by description. 41 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 27), § 57, Anm. I. 37 38

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ßend auf den Begriff zu bringen ist, schließt ja nicht aus (auch nach Kant nicht), sie versuchsweise zu ‘verbegrifflichen’. Jedenfalls spricht die begriffliche Unausschöpfbarkeit der ästhetischen Idee nicht gegen deren Erkenntniswert, sofern man diesen nicht, wie Kant das tut, an das propositionale Urteil bindet, sondern auch anschaulichen Vergegenwärtigungsleistungen einen kognitiven Wert zubilligt. Allgemein gilt bis heute als Ziel von wissenschaftlichen Explikationen, verworrene in deutliche Begriffe zu überführen. Komplementär dazu hat aber für den ästhetischen Bereich die positive Deutung Bestand, die in der prägnanten Verworrenheit einen gebündelten konnotativen Bedeutungsüberschuß am Werk sieht. Eine solche Verworrenheit, die in neueren Literaturtheorien (Wolfgang Iser) als Moment der ‚Unbestimmtheit’ charakterisiert wurde, ist nicht als logischer Mangel zu beklagen, sondern als ästhetischer Reichtum zu begrüßen. An diese Tradition, die über Kants Begriff der ästhetischen Idee, Goethes Symbolbegriff und Ernst Cassirers Begriff der „symbolischen Prägnanz“ bis zu Nelson Goodmans Begriff der Exemplifikation führt, läßt sich systematisch anschließen. Erinnert sei hier auch an Theodor W. Adornos Bestimmung des Zwecks des Kunstwerks als „Bestimmtheit des Unbestimmten“.42 Dieser paradox anmutende Sachverhalt besteht, allgemein gesprochen, darin, daß ein Besonderes etwas Allgemeines darstellt, ohne daß genau bestimmt wäre, welches Allgemeine gemeint ist. Das Besondere ist das bedeutsame Einzelne und in diesem Sinne das bestimmte Unbestimmte schlechthin. Mir ist klar, daß Adorno letztlich auf eine Entzugstheorie des Kunstwerks im Sinne negativer Ästhetik hinaus will, aber hier muß man ihm ja nicht folgen. Der Gedanke, daß sich das Kunstwerk jeder ‘bestimmten’ Deutung verweigert, läuft entmystifiziert auf die begriffliche Unausschöpfbarkeit des Kunstwerks hinaus, eine Unausschöpfbarkeit, die ihre semantische Grundlage in der ästhetischen Vergegenwärtigungsleistung des Besonderen, in der Verdichtung durch Prägnanz hat. Weitgehend herrscht die Auffassung vor, daß die Genieästhetik der Klassik die Regelästhetik der Aufklärung nicht nur abgelöst, sondern auch überwunden habe. Dieser Deutung wird hier widersprochen. Anhand der Wirkungsgeschichte von Baumgartens Begriff der „perceptio praegnans“, die von Kants Begriff der ästhetischen Idee über Goethes Symbolbegriff bis zu Goodmans Begriff der Exemplifikation reicht, wird die systematische Bedeutung der Ästhetik Baumgartens verdeutlicht: Der Gedanke der Prägnanz faßt den Erkenntniswert der Kunst als Vergegenwärtigungsleistung des Besonderen, die sich semantisch als begriffliche Unausschöpfbarkeit des Kunstwerks darstellt. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 7, Frankfurt am Main 61996 (11970), 188: „Der Zweck des Kunstwerks ist die Bestimmtheit des Unbestimmten“. 42

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It is commonly assumed that the aesthetics of genius of classical times has not only taken the place of enlightenment’s aesthetics of rules, but has also overcome it. I will argue against this assumption here. On the basis of a consideration of the influence Baumgarten’s concept of the „perceptio praegnans“ had on later thinkers – on Kant’s concept of the aesthetic idea, on Goethe’s conception of the symbol and on Goodman’s concept of exemplification – I will attempt to clarify the systematic significance of Baumgarten’s aesthetics: the idea of the „perceptio praegnans“ identifies the cognitive value of art with the ability of the particular to make things present. This ability semantically corresponds to the indeterminacy and conceptual ineffability of works of art. Prof. Dr. Gottfried Gabriel, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Philosophie, Zwätzengasse 9, 07740 Jena, E-Mail: [email protected]

U RSULA F RANKE Sinnliche Erkenntnis – was sie ist und was sie soll. A.G. Baumgartens Ästhetik-Projekt zwischen Kunstphilosophie und Anthropologie*

Die Baumgarten-Forschung hat in den letzten Jahrzehnten einen außerordentlichen Aufschwung genommen. Lange Zeit war die Epoche zwischen Wolff und Kant eine terra incognita. Die „philosophische Revolution“ seit Kant hatte die Philosophie der deutschen Aufklärung und zumal die rationalistische deutsche Schulphilosophie mehr oder weniger in Vergessenheit geraten lassen. Fragt man nach Gründen für das seit den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts stetig zunehmende Interesse an Baumgartens Ästhetik, so kann die Krise der Ästhetik am Ende des 20. Jahrhunderts geltend gemacht werden, die einen Rückgang auf ihre historischen Voraussetzungen geboten erscheinen ließ.1 Mehr noch stimulierte die kritische Auseinandersetzung mit der „hermeneutischen Situation“ der signifikant rational geprägten Philosophie das Interesse an einem sozusagen alternativen ästhetischen Denken, für das der Begründer der philosophischen Ästhetik nicht ohne Grund in Anspruch genommen wird. Auch Baumgarten erhob „Einspruch gegen einen einseitig rationalistischen Erkenntnisbegriff“, er wollte die Eigenständigkeit der sinnlichen Erkenntnis aufweisen und den rationalistischen Erkenntnisbegriff durch den Begriff einer „kognitiv verfahrenden Sinnlichkeit“ ergänzen.2 Martin Seel, der die philosophische Ästhetik auf der Spur der Zusammenhänge von Sinnlichkeit und Sinnbildung sieht, unterstreicht: „Die Karriere der Ästhetik seit Baumgarten rührt ja nicht zuletzt aus der Notwendigkeit, Bewegungsfreiheit zu gewinnen ange* Für seine Unterstützung bei der Einrichtung und Erstellung des Textes danke ich Niels Barenhoff. 1 Vgl. Brigitte Scheer, Baumgartens Ästhetik und die Krise der von ihm begründeten Disziplin, in: Philosophische Rundschau 22 (1976), 108–119. 2 Zum „kritischen Potential“ der philosophischen Ästhetik und ihrem Angriff auf die „Verabsolutierung“ des „traditionellen logozentrischen Konzepts der Rationalität“ vgl. Brigitte Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik. Darmstadt 1997, bes. 1–5, hier 1.

Aufklärung 20 · © Felix Meiner Verlag 2008 · ISSN 0178-7128

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sichts eines in die Enge geratenen oder als verengend empfundenen Rationalismus der Aufklärung“.3 Galt das wachsende Interesse an Baumgarten bislang vor allem dem Gründungsvater der Ästhetik, wie Baumgarten gern genannt wird, so wendet sich – wie der vorliegende Band zeigt – das Interesse neuerdings auch dem Problemfeld bzw. der Funktion der sinnlichen Erkenntnis im Zusammenhang mit der Ethik,4 dem Naturrecht5 oder der Natürlichen Theologie zu, worüber Baumgarten im Stil seiner Zeit Lehrbücher verfaßte, die er als akademischer Lehrer an der Hallenser Fridericiana und an der Viadrina in Frankfurt an der Oder seinen Vorlesungen zugrunde legte.6 Im folgenden soll die sinnliche Erkenntnis und ihre Funktion im Gesamtzusammenhang der Aesthetica (1750/58)7 thematisiert und die eigentümliche Vorstellungsform der Sinnlichkeit als Quelle der künstlerischen Erkenntnis und ihres Ausdrucks in den Künsten interpretiert werden. In Baumgartens Aesthetica – so meine im Zusammenhang meiner Untersuchung Kunst als Erkenntnis (1972) bereits vertretene These – zeichnet sich schon ein Verständnis der Kunst als Darstellung oder Repräsentation des Absoluten ab, das, mit einem eigenen Wahrheitsanspruch verbunden, dann in den Kunstphilosophien des Deutschen Idealismus ausdrücklich zum Tragen kommt.8 Baumgarten begreift den AusVgl. Martin Seel, Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt am Main 1985, 28, vgl. 172. 4 Dazu Clemens Schwaiger, Ein „missing link“ auf dem Weg der Ethik von Wolff zu Kant. Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der praktischen Philosophie von Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), 247–261, bes. 252 f., 256–259. 5 Vgl. Alexander Aichele, Sive vox naturae sive vox rationis sive vox Dei? Die metaphysische Begründung des Naturrechtsprinzips bei Heinrich Köhler, mit einer abschließenden Bemerkung zu Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), 115–135, und A. A., Die Ungewißheit des Gewissens. Alexander Gottlieb Baumgartens forensische Aufklärung der Aufklärungsethik, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 13 (2005), 3–30. 6 „Die Vielzahl von Fächern, über die Baumgarten damals vortrug, verdeutlicht zunächst, was der Begriff Philosophische Fakultät noch in der Jahrhundertmitte beinhaltete. Zugleich ist gut erkennbar, wie das in Preußen vorgeschriebene Vortragen über bestimmte Lehrbücher im Zusammenhang mit den notwendigen mündlichen Korrekturen eine Schule für selbständiges Denken sein konnte“. So Martin Fontius, Baumgarten und die Literaturbriefe. Ein Brief aus Frankfurt an der Oder an Louis Beausobre in Berlin, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 80 (2006), 553–594, hier 573. – Zur alten Viadrina vgl. Gerd Heinrich, Frankfurt an der Oder, Universität, in: Theologische Realenzyklopädie, Berlin, New York 1983, XI, 335–342. 7 Eine vollständige deutsche Übersetzung liegt erst seit kurzem mit der zweisprachigen Ausgabe der Aesthetica von Dagmar Mirbach vor. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg hatte die Kantgesellschaft den dann aber nicht durchgeführten Plan, eine deutsche Übersetzung der Aesthetica vorzulegen, vgl. Kant-Studien 20 (1915), 137 und Kant-Studien 22 (1918), 201. 8 Zu „Aporien der Wahrheitsästhetik“, die, „vorbereitet durch Baumgartens Lehre von der ‘veritas aesthetica’, zuerst von Schelling und Hegel entwickelt wird“, vgl. Reinold Schmücker, 3

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druck der künstlerischen Erkenntnis als Resultat eines methodischen Verfahrens, das er ein „Schöndenken“, ein pulchre cogitare nennt, ein Denken, das als solches aus den sensitiven Fähigkeiten des Menschen gespeist wird. Der Ausdruck der sinnlichen als einer künstlerischen Erkenntnis vollzieht sich als ein effectus pulchre cogitantis, wie er beispielsweise in einer Dichtung, einem Gemälde oder einer Skulptur zum Ausdruck gelangt. Geprägt durch die eklektische Verbindung der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie mit der rhetorisch-poetologischen Tradition, überschreitet Baumgartens Ästhetik den dichtungstheoretischen Rahmen, wie er z.B. für Johann Christoph Gottscheds Bestimmung von „poetischen Wörtern“, der „poetischen Schreibart“ usw. noch verbindlich ist.9 Man habe – so hat Herder Baumgartens „Denkart“ auf den Punkt gebracht – nichts einander so zuwider geglaubt als philosophisches Nachdenken und Fragen der Kunst, des Geschmacks.10 Baumgarten dürfte nicht zum wenigsten durch seinen Bildungsweg zu dieser Verknüpfung angeregt worden sein, der bekanntlich durch die Verbindung philosophischer Studien mit dem Studium der „schönen Wissenschaften“,11 also der Rhetorik und der Poetik, gekennzeichnet ist. Diese ungewöhnliche Verbindung zeichnete auch seine akademische Lehrtätigkeit aus, seit 1737 zunächst in Halle und dann seit 1740 an der Frankfurter Viadrina, wo Baumgarten bis zu seinem Tode 1762 lebte und arbeitete.12 Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München 1998, 19–46, hier 25. Die moderne Wahrheitsästhetik versteht Wahrheit „weder als adaequatio rerum et intellectus noch als Übereinstimmung eines Urteils mit einem Sachverhalt. Ebenso wenig versteht sie den Wahrheitsbegriff im Sinne der formalen Logik oder der Konsenstheorie. In den Augen der Wahrheitsästhetik kennzeichnet dieser Begriff vielmehr eine metaphysische Idee, deren hervorragende oder sogar einzige Präsenzform Kunstwerke sind“ (ebd.). 9 Vgl. Johann Christoph Gottsched, Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730), Darmstadt 1962 (ND 4. Aufl. Leipzig 1731), VII–XII. Baumgarten bezieht sich auf Georg Bernhard Bilfinger, der in seinen 1725 veröffentlichten Dilucidationes philosophicae, einem weitverbreiteten Lehrbuch der Wolffschen Philosophie, das Desiderat einer Logik der Einbildungskraft angemeldet hatte und nahm ferner den Gedanken einer philosophischen Poetik auf, den die Schweizer Dichtungstheoretiker Bodmer und Breitinger verfolgt hatten. Vgl. zur Problematik des Gegenstandes der Ästhetik Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972 (Studia Leibnitiana Supplementa 9), 3–14. 10 Vgl. Johann Gottfried Herder, Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften, in: Herder, Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, 33 Bde., Berlin 1877–1913, Bd. 32, Berlin 1899, 178–192. 11 Vgl. Werner Strube, Die Geschichte des Begriffs ‘Schöne Wissenschaften’, in: Archiv für Begriffsgeschichte 33 (1990), 136–216. 12 Vgl. Ursula Franke, Baumgarten, Alexander Gottlieb, in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Begründet von Walther Killy, 2., vollständig überarb. Aufl., hg. von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Auernhammer u.a., Berlin, New York 2008 ff., Bd. 1. – Ein „unvergleichliches Portrait“ von Baumgarten, dem „Starphilosophen

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Wenn ich mich also bei meiner Antwort auf die Frage, was sinnliche Erkenntnis heißt und was sie soll, auf den Gesamtzusammenhang der Aesthetica konzentriere und in diesem Kontext die Sinnlichkeit als Quelle der künstlerischen Erkenntnis und ihres Ausdrucks geltend mache, dann verstehe ich Baumgartens ästhetische Theorie in dieser Hinsicht als philosophische Begründung der Kunst als Erkenntnis. Ich werde zeigen, daß im Gesamtzusammenhang der Aesthetica das Verständnis der Sinnlichkeit und der sinnlichen Erkenntnis erst dann seine eigentliche Brisanz erhält, wenn der hervorragende Rang der Dichtung, der Musik und der bildenden Künste als den ausgezeichneten Gegenständen der sinnlichen als einer künstlerischen Erkenntnis berücksichtigt wird. Diese Lesart, die ich der Interpretation der ästhetischen Theorie Baumgartens im Kontext des Verständnisses der Ästhetik als Aisthetik differenzierend entgegenstelle, versteht sich sowohl vor dem Hintergrund des philosophischen Erkenntnisinteresses an der Einheit der Vernunft, das in aller Schärfe in Kants kritischer Philosophie aufgebrochen ist, als auch auf der Folie der neuzeitlichen europäischen Kunstphilosophie und Kunsttheorie, die von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert ausgebildet wurde und einen Wandel des Kunstbegriffs mit sich brachte, dessen Entstehung das zentrale Problem der modernen Ästhetik und ihrer Historiographie darstellt.13 Zunächst nehme ich die sinnliche Erkenntnis im Zusammenhang mit der neueren Baumgartenforschung und dabei auch im Kontext des Verständnisses der Ästhetik als Aisthetik in den Blick (1) und erinnere sodann an Baumgartens Erläuterung des Wortes „Ästhetik“ (2). Nach einer Skizze des kunst- und dichtungstheoretischen Horizonts (3) wird die zeichentheoretische Fundierung und die erkenntnispsychologische Struktur der sinnlichen als einer künstlerischen Erkenntnis dargelegt (4) und im Licht des philosophischen Erkenntnisinteresses an der Einheit der Vernunft die erkenntnistheoretische Funktion, die ihr im Gesamtzusammenhang der Aesthetica zukommt, erörtert, wobei insbesondere auch die metaphysische Rückbindung der ästhetischen Theorie Baumgartens geltend zu machen ist (5). Abschließend wird unter Berücksichtigung aktueller

der Viadrina“, als Lehrer zeichnet Louis de Beausobre, der von 1749 bis 1752 Jura studierte und selbstverständlich auch an den Vorlesungen Baumgartens teilnahm. Beausobre wird übrigens im Littré (Dictionnaire de la langue francais, Paris 1878, 145) der französische Erstbeleg für das Wort „esthétique“ aus dem Jahre 1753 zugeschrieben. Vgl. Fontius, Literaturbriefe (wie Anm. 6), 571 f. und 559, Anm. 18. 13 Vgl. Ursula Franke, Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Roland Posner, Klaus Robering, Thomas A. Sebeok (Hg.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, 2. Teilband, Berlin, New York 1998, 1232–1262, bes. 1232 f. und pass.

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Forschungsergebnisse nach den Konsequenzen für die Interpretation der Aesthetica gefragt (6).

I. Die sinnliche Erkenntnis in der neueren Baumgartenforschung und der Ursprung von „Ästhetik“ Die Baumgartenforschung der letzten Jahrzehnte setzt sich mit der Hinwendung des Gründungsvaters der Ästhetik zur Sinnlichkeit in der interpretatorischen Spannung zwischen Kunstphilosophie, Erkenntnistheorie und Anthropologie auseinander. Während die italienische Forschung, auf deren Boden die ersten, mit dem Namen von Francesco Piselli und Salvatore Tedesco verbundenen neusprachlichen Übersetzungen der Aesthetica entstanden sind,14 außerordentlich facettenreiche philologische und philosophie-historische Untersuchungen aufweist, die den Begriff der sinnlichen Erkenntnis wie auch den Ort der ästhetischen Theorie Baumgartens in der europäischen Geistesgeschichte umkreisen,15 wird hierzulande vor allem aus der Perspektive gegenwärtiger philosophischer Fragestellungen an die Problemgeschichte der Ästhetik angeknüpft und die ästhetische Theorie Baumgartens in aktuelle Fragehorizonte einbezogen. Es geht dabei weniger um eine Baumgartenexegese als um Konsequenzen struktureller Art. „Sie bestehen in einem anderen Verständnis der Verfassung des sinnlichen Erkennens und Darstellens, das Baumgarten nicht mehr als Repräsentation denkt, sondern als Aktivität zu verstehen beginnt“.16 Baumgartens Konzeption der Sinnlichkeit und der sinnlichen Erkenntnis wird dabei nicht zuletzt im Hinblick auf die Transformation der Poetik und Rhetorik thematisiert,17 in deren Gewand Baumgarten seine Ästhetik entfaltet hat. Schon Alfred Baeumler hatte auf das Problem des Verhältnisses der Ästhetik Baumgartens zur Rhetorik und Poetik und auf die Frage ihrer Transformation aufmerksam gemacht, wenn er im Hinblick auf die Funktion der sinnlichen ErVgl. Estetica, hg. von Francesco Piselli, Mailand 1992 (Nachdr. 1993). Siehe auch L’estetica di Alexander Gottlieb Baumgarten, hg. von Salvatore Tedesco (übers. von Francesco Caparrotta, Anna Li Vigni, Salvatore Tedesco, unterstützt von Elisa Romano), Mailand 2000. 15 Vgl. Dagmar Mirbach, Neue Beitrage der italienischen Forschung zu A.G. Baumgarten, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002), 606–621. 16 So Christoph Menke in seiner Einleitung zu: Schwerpunkt: Zur Aktualität der Ästhetik von Alexander G. Baumgarten, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 (2001), 229–232, hier 230. Anders als Menke bin ich allerdings der Auffassung, daß Baumgarten die Verfassung des sinnlichen Erkennens und Darstellens zwar als Aktivität zu verstehen beginnt, aber nach wie vor auch als Repräsentation denkt. 17 Vgl. die im folgenden noch zu berücksichtigenden Beiträge in: Schwerpunkt Baumgarten (wie Anm. 16), 233–298. 14

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kenntnis unterstreicht: Die Frage der Rhetorik, „wie ein Gedanken ausgedrückt werden könne, der die Reichweite des Begriffs überfliegt, beantwortet Baumgartens Ästhetik“.18 Demgegenüber sah Hans Rudolf Schweizer, dem die erste, 1975 erschienene Übersetzung von Teilen der Aesthetica ins Deutsche zu danken ist, seine Aufgabe als Interpret vielmehr darin, Baumgartens Konzeption der Sinnlichkeit und der sinnlichen Erkenntnis möglichst abgelöst von ihrem rhetorischpoetischen Kontext herauszuarbeiten. Schweizer wendet sich gegen die „Einschränkung“ der philosophischen Ästhetik auf das „Phänomen der Kunst“ wie auch gegen die „Identifizierung des Ästhetischen mit dem künstlerischen Empfinden und Schaffen“.19 Auch für Wolfgang Welsch war Ästhetik „zunächst – seit 1750 – der Titel einer philosophischen Disziplin, die ein Wissen vom Sinnenhaften anstrebte und daher von Baumgarten, ihrem Gründungsvater, als episteme aisthetike, kurz als Ästhetik bezeichnet wurde“. Demgegenüber sei es „nachher zu einer Verengung vorwiegend auf die Kunst oder gar aufs Schöne gekommen“. Das wäre „heute rückgängig zu machen“, und zwar zugunsten einer Bestimmung von Ästhetik als Aisthetik, d.h. „als Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen“.20 Auf den ersten Blick scheint Baumgartens Erläuterung des Wortes Ästhetik eine derartige „Entdifferenzierung von Aisthesis und Ästhetik“21 nahezulegen. Vgl. Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (1923), Neudr. Darmstadt 1967, 210. Siehe auch Heinrich Niehues-Pröbsting, Rhetorische und idealistische Kategorien der Ästhetik, in: Willy Ölmüller (Hg.), Ästhetische Erfahrung (Kolloquium Kunst und Philosophie I), Paderborn 1981, 94–110. 19 Vgl. Hans Rudolf Schweizer, Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Eine Interpretation der ‘Aesthetica’ A.G. Baumgartens mit teilweiser Wiedergabe des lateinischen Textes und deutscher Übersetzung, Basel, Stuttgart 1973, 73 f. Vgl. dazu Rez.: Ursula Franke, Ist Baumgartens Ästhetik aktualisierbar? Bemerkungen zur Interpretation von H.R. Schweizer, in: Studia Leibnitiana 6 (1974), 272–278. 20 Vgl. Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, 9–40, hier 9 f. Das Thema einer Aisthetik im Sinne von Wahrnehmungen aller Art hatte Welsch bereits 1987 in seiner Habilitationsschrift anhand der Bedeutung des Begriffs Aisthesis bei Aristoteles behandelt. Auch Karl Heinz Barck und Dieter Kliche (Art. Ästhetik/ästhetisch, in: Karheinz Barck, Martin Fontius u.a. [Hg.], Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart, Weimar 2000– 2005, Bd. 1, 308–400) stellen in ihrem ebenso anregenden wie eigenwilligen Artikel Baumgartens Ästhetik in den Kontext der Aisthetik, verstehen sie also im Kern als Theorie der sinnlichen Wahrnehmung. Vgl. die Rezension von Dimitri Liebsch in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 48 (2003), 135–145, bes. 140 f. 21 Vgl. Yvonne Ehrenspeck, Aisthesis und Ästhetik. Überlegungen zu einer problematischen Entdifferenzierung, in: Klaus Mollenhauer, Christoph Wulf (Hg.), Aisthesis/Ästhetik, Weinheim 1996, 201–229, hier 208. 18

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Den „Ursprung“ des Wortes Ästhetik hat er in seinem Ästhetik-Kollegium, das uns in einer wahrscheinlich 1750 entstandenen Nachschrift überliefert ist, so erläutert: Es [sc. das Wort Ästhetik] kommt eigentlich von aisthanomai her, dieses Wort bezeichnet das, was sentio im Lateinischen bezeichnet, nämlich alle klaren Empfindungen. Da die Empfindungen in äußerliche und innerliche eingeteilt werden, in solche, die in meinem Körper als mir bewußt vorgehen und sich auf alle Sinne beziehen, oder in solche, die nur in meiner Seele vorgehen, so wird dieses Wort, das klare Empfindungen überhaupt bezeichnet, auf beides gehen. Da ferner das Wort sentio etwas sinnlich wahrnehmen bezeichnet, das griechische aber mit ihm völlig einerlei ist, so wird es auch sinnliche Vorstellungen bezeichnen.22

Wenn Baumgarten demnach unter sentire, sentio sowohl innere und äußere Empfindungen der Seele als auch das sinnliche Wahrnehmen versteht,23 so ist festzuhalten, daß Empfinden und Wahrnehmen auch begriffsgeschichtlich nicht eindeutig abgrenzbar sind.24 Tatsächlich rufen „die Äquivokationen unter dem Dach des Ästhetischen auf dem ästhetischen Feld Assoziationen auf, die rhizomartig (das ist die Wittgensteinsche Familienähnlichkeit) miteinander verbunden sind“.25 Die im griechischen aisthanomai, aisthesis angelegte Doppeldeutigkeit von sinnlicher und ästhetischer Wahrnehmung bzw. Empfindung belastet „bis heute die Verständigung über den Gegenstand und die Aufgabe der Ästhetik, insbesondere wenn Ästhetik aufgrund einer reduzierten Aufnahme der Aesthetica Baumgartens als Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung definiert wird“.26 Zu Recht hat Christoph Menke demgegenüber den „Doppelcharakter der Ästhetik als philosophische Disziplin“ seit ihrer „SystematisieKollegnachschrift Poppe, § 1 (65). Ein auf die sinnliche Wahrnehmung bezogenes Ästhetik-Projekt, das er dann aber nicht weiter verfolgt hat, beschreibt er in den Philosophischen Briefen von Aletheophilus (1741). Die Rede ist von einer ästhetischen Erfahrungskunst, sie sollte sich mit den Hilfsmitteln befassen, wodurch die Sinne erweitert werden könnten, durch Waffen der Sinne, Brillen, Ferngläser, aber auch Barometer, Thermometer usw. Vgl. Dieter Kliche, „Ich glaube selbst Engel können nicht ohne Sinnlichkeit sein“. Über einen Fund aus der Frühgeschichte der Ästhetik im Werner-Krauss-Archiv, in: Wolfgang Klein, Ernst Müller (Hg.), Genuß und Egoismus. Zur Kritik ihrer geschichtlichen Verknüpfung, Berlin 2002, 54–65. 24 Vgl. Martin Fontius, Wahrnehmung, in: Achim Trebeß (Hg.), Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Stuttgart, Weimar 2006, 420a–421b. Der Schotte Thomas Reid hatte 1764 Wahrnehmung (perception) und Empfindung (sensation) gegeneinander abgegrenzt und so versucht, dem komplexen Charakter von Wahrnehmung beizukommen (ebd. 420a). 25 So Dieter Kliche, Sinnliche Erkenntnis. Über gemeinsame Gegenstände von Ästhetik und Literaturforschung, in: Eckart Goebel, Wolfgang Klein (Hg.), Literatur-Forschung Heute 56 (1999), 53. Siehe auch D. K., Ästhetik und Aisthesis. Zur Begriffs- und Problemgeschichte des Ästhetischen, in: Weimarer Beiträge 44 (1998), 492 ff. 26 Vgl. Wolfhart Henckmann, Wahrnehmung, ästhetische, in: W.H., Konrad Lotter, Lexikon der Ästhetik, 2. aktualisierte und erweiterte Aufl. München 2004, 385b–389b. 22 23

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rung durch Baumgarten“ unterstrichen: „Die philosophische Ästhetik war seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stets eine Theorie des Schönen von Kunst und Natur und hat darin zugleich immer auch eine allgemeine, darüber hinaus reichende Theorie menschlicher Vollzüge und Praktiken formuliert – zunächst in Begriffen der Sinnlichkeit, dann in denen des Geistes, der Darstellung oder der Sprache“.27 Angesichts des Doppelcharakters der neuen philosophischen Disziplin, der auf ihrem eklektischen Ansatz beruht, und der Äquivokationen unter dem Dach des Ästhetischen ist die Frage nach Baumgartens Verständnis der sinnlichen Erkenntnis ebenso zuzuspitzen, wie die Frage, was im Gesamtzusammenhang der Aesthetica unter sinnlicher Erkenntnis zu verstehen ist. Was heißt bei Baumgarten sinnliche Erkenntnis und was soll sie?

II. Der systematische Ort der sinnlichen Erkenntnis und ihre Funktion in der ‘Aesthetica’ Entscheidend für den Doppelcharakter ist Baumgartens Rückgriff auf die empirische Psychologie für die Begründung der Eigenart und Eigenständigkeit der sinnlichen Erkenntnis. Berücksichtigt man diesen Rückgriff im Blick auf die Aesthetica, so zeichnet sich ein Verständnis der Sinnlichkeit und der sinnlichen Erkenntnis ab, das im Gesamtzusammenhang der Aesthetica in spezifischer Weise zum Tragen kommt.

1. Die sinnliche Erkenntnis im Kontext der empirischen Psychologie Im Rückgriff auf die empirische Psychologie – das ist zunächst festzuhalten – begreift Baumgarten die sinnliche Erkenntnis als ein auf den inneren Empfindungen beruhendes poetisches Denken. Während „die Alten“ zu den inneren Empfindungen sensum communem, phantasiam und memoriam sensitivam zählten, „weil man die Seele noch nicht besser kannte“,28 kann Baumgarten im 18. Jahrhundert auf die empirische Psychologie, die auf dem Boden der LeibnizWolffschen Schulphilosophie ausgebildet worden war, zurückgreifen, um die Sinnlichkeit als Quelle des poetischen Denkens geltend zu machen und so den Vgl. Christoph Menke, Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion. Zu Genese und Dialektik der Ästhetik, in: Andrea Kern, Ruth Sonderegger (Hg.), Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Frankfurt am Main 2002, 39. 28 Kollegnachschrift Poppe, § 1 (65). Baumgarten bezieht sich hier auf David Buchanans Historia animae humanae (1636). 27

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epistemischen Status der neuen philosophischen Disziplin zu legitimieren, ein Rückgriff, den er in der – von Kant bekanntlich für verfehlt gehaltenen – Überzeugung unternahm, daß die Prinzipien der empirischen Psychologie seiner Ästhetik ein sicheres wissenschaftliches Fundament zu bieten in der Lage seien. Mit den Prinzipien sind Witz, Scharfsinn, Einbildungskraft, Urteilskraft, Erfindungskraft, kurz die sensitiven Fähigkeiten, jene „facultates sensitivae inferiores“ gemeint, deren Gesetzmäßigkeit und Operationsweisen Christian Wolff in seiner Psychologia Empirica (1732) untersucht hatte und auf die Baumgarten im Abschnitt über die empirische Psychologie seines Metaphysik-Lehrbuchs seinerseits eingeht.29 Aufgrund von Witz und Scharfsinn ist der Mensch imstande, die Ähnlichkeit der Dinge bzw. ihren Unterschied zu erkennen. Die Einbildungskraft (imaginatio, phantasia) bringt uns vergangene Situationen, Erlebnisse und Begebenheiten ins Gedächtnis zurück, die Dichtungskraft (facultas fingendi), mit der ein Künstler, ein ingenium venustum, in besonderer Weise begabt ist, befähigt dazu, poetische Fiktionen zu erdenken. Die sensitive Urteilsfähigkeit, das judicium sensitivum, herkömmlich auch Geschmack genannt, ist die kritische Fähigkeit, über Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten (perfectiones, imperfectiones) von etwas zu urteilen, und dient dem Künstler zum Überprüfen und zur Korrektur seines Werks.30 Diese Fähigkeiten bindet Baumgarten im Anschluß an Leibnizens Monadologie an die Kraft der Seele, das Universum zu repräsentieren,31 bestimmt und legitimiert sie also metaphysisch: „Cogitat anima mea saltim quasdam [...] par-

Nach Baumgartens schulmäßiger Abhandlung über die empirische Psychologie, die neben Ontologie, Kosmologie und Natürlicher Theologie zum schulphilosophischen Lehrbestand der Metaphysik gehörte, las bekanntlich Kant über Anthropologie. Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), verbesserte Aufl. Königsberg 1800. Vgl. Kants „Apologie der Sinnlichkeit“, die im Zusammenhang mit der Erörterung des Erkenntnisvermögens letztlich Baumgartens Argumentation folgt (ebd., 1. Buch, § 30). 30 Vgl. Metaphysik, §§ 534–623. In diesem Zusammenhang wird auch die Fähigkeit, Zeichen zu bilden und sie auszulegen, ein „Vermögen der Zeichenkunde“ (facultas characteristica, facultas signatrix) (§ 619), erörtert und sowohl auf die intellektuelle Erkenntnis, deren Feld die Wissenschaften sind, als auch auf die ästhetische Erkenntnis (cognitio sensitiva), die in den Künsten vorzüglich Ausdruck findet, bezogen (ebd.). 31 Vgl. Gottlieb Wilhelm Leibniz, Monadologie (1714), § 83. Siehe auch Pietro Pimpinella, Hermeneutik und Ästhetik (wie Anm. 50), 272: „Man fragt sich, was den Zusammenhang der Zeichen, d.h. die Tatsache, daß dem Zeichen eine Bedeutung zukommt, verbürgt. Die Beantwortung dieser Frage nimmt bei Baumgarten eine metaphysische Begründung in Anspruch, die auf Leibniz’ Gedankengut zurückgreift. Die Voraussetzung des Bezeichnendseins für das Zeichen im allgemeinen ist die Anwesenheit eines welthaften Zusammenhanges der Zeichen: ‘Qumque sit in hoc mundo nexus significativus, facultatis characteristicae perceptiones actuantur per vim animae repraesentativum universi’ (Metaphysik, § 619). 29

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tes huius universi. Ergo anima mea est vis repraesentativa huius universi”.32 Die aus den sinnlichen Fähigkeiten gespeiste und durch ihre Operationsweisen gestützte sowie metaphysisch rückgebundene sinnliche Erkenntnis begreift er als ein Analogon der Vernunft (analogon rationis) und in dieser Bestimmung als Komplement der Verstandeserkenntnis.33 Das erkenntnispsychologische Fundament des poetischen Denkens, auf das sich Baumgarten in der Aesthetica im Wege seiner Rückverweise auf die Metaphysica bezieht,34 markiert den systematischen Ort35 seiner ästhetischen Theorie und begründet die erkenntnistheoretisch relevante Bestimmung der Eigenständigkeit der sinnlichen Erkenntnis: Die sinnliche Erkenntnis ist gemäß der von ihrer wesentlichen Bedeutung hergeleiteten Benennung die Gesamtheit der Vorstellungen unterhalb der Schwelle streng logischer Unterscheidung (cognitio sensitiva est a potiori desumpta denominatione complexus repraesentationum infra distinctionem subsistentium).36

Metaphysik, § 507. Menke (Wahrnehmung [wie Anm. 27], 28) nimmt Baumgartens Kraftbegriff zur Kennzeichnung des modernen Subjektbegriffs auf. Die neue Verwendung des Ausdrucks Subjekt, zu der Baumgarten gelange (vgl. Metaphysik, § 344), verstehe das Subjekt „nicht mehr grammatisch als einen Träger von Eigenschaften oder Prädikaten, sondern als einen Akteur, der durch seine Kräfte (vires) oder Vermögen (facultates) etwas verwirklicht“. Allerdings läßt Menke die metaphysische Rückbindung der Ästhetik Baumgartens unberücksichtigt, d.h. es bleibt unbeachtet, daß es sich um Kräfte handelt, die geeignet sind oder denen zugetraut wird, das Universum zu repräsentieren, es zu denken oder vorzustellen (cogitare) gemäß eben jener Bestimmung der Seele als einer vis repraesentativa universi (Metaphysik, § 507). Zur problematischen Trennung der philosophischen Ästhetik von der Metaphysik, deren Fragwürdigkeit z.B. Gerd Wolandt auch im Blick auf neuere Hegelinterpretationen geltend gemacht hat, vgl. Jens Kulenkampff, Metaphysik und Ästhetik. Kant zum Beispiel, in: Falsche Gegensätze (wie Anm. 27), 49– 80. Berücksichtigt man Baumgartens Bestimmung der Seele, ist – Baumgarten weiterdenkend – eine Verbindung des Kraftbegriffs mit dem der Selbstreflexion, um die es Menke im Zusammenhang der Subjektproblematik geht, durchaus möglich, und zwar ausgehend von der grundlegenden Bestimmung der Seele: „Si quid in ente est, quod sibi alicuius potest esse conscium, illud est anima“ (Metaphysik, § 504). An den inneren Sinn, eine selbstreflexiv zu verstehende Selbstempfindung (conscientia intima), sind diejenigen kreativen Kräfte, Einbildungskraft, Dichtungskraft, Urteilskraft etc., gebunden, die ein „felix aestheticus“ im Vollzug des pulchre cogitare sub imperio intellectus besonders ausbildet (Ästhetik, §§ 28–39). Vgl. Franke: Kunst als Erkenntnis (wie Anm. 9), 67–72. 33 Vgl. Ursula Franke, Ein Komplement der Vernunft. Zur Bestimmung des Gefühls im 18. Jahrhundert, in: Ingrid Craemer-Ruegenberg (Hg.), Pathos, Affekt, Gefühl. Philosophische Beiträge, Freiburg, München 1981, 131–148, bes. 140. 34 Vgl. Ästhetik, §§ 28–39, und dazu Franke, Kunst als Erkenntnis (wie Anm. 9), bes. 51–75. 35 So Christoph Menke, Ästhetische Subjektivität. Zu einem Grundbegriff moderner Ästhetik, in: Gerhard von Graevenitz (Hg.), Konzepte der Moderne, Stuttgart, Weimar 1999, 593–611, hier 596. 36 Ästhetik, § 17. 32

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Bereits in seiner dichtungstheoretischen Magisterarbeit bzw. Habilitationsschrift, den 1735 in Halle erschienenen Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus hatte der 21jährige Baumgarten, als es darum ging, die Poetik, also die Theorie des poetischen Denkens und Darstellens, durch eine neu einzurichtende philosophische Disziplin auf ein sicheres Fundament zu stellen, die neue philosophische Disziplin Ästhetik genannt, weil ihr die Aufgabe übertragen wird, die Aistheta, das durch die Sinne Wahrgenommene, zu untersuchen, wie die Noëta, das durch den Verstand Erkannte, von jeher Gegenstand der Logik sind.37 In der Ästhetik-Vorlesung präzisiert er im Blick auf die unterschiedlichen Vorstellungsformen die erkenntnistheoretische Differenz von sinnlicher und intellektueller Erkenntnis: Schon Platon habe die Noetois den Aistheta als deutliche und undeutliche Vorstellungen entgegengesetzt.38 Baumgarten löst die „Vestigkeit“ des Schulbegriffs der Sinnlichkeit, von der Herder spricht,39 auf, wenn er die nicht-deutliche sensitive Vorstellung (repraesentatio non distincta) näherhin durch das gnoseologische Kriterium des Miteinanderverbundenseins von Merkmalen bestimmt. Etwas so denken, daß seine Merkmale nicht unterschieden werden, heißt, es „confuse“ denken,40 also in der Fülle seiner Merkmale, reich denken. Damit wird innerhalb der Triplizität des menschlichen Erkennens, von der mit Wolff auch Baumgarten ausgeht, der Dreiheit von historischer, mathematischer und philosophischer Erkenntnis, die letztere, bis dahin allein auf den Intellekt begründet, um das sinnliche oder sensitive Erkennen bereichert. Erstreckt sich die historische Erkenntnis auf das weite Feld des Tatsächlichen, die Mannigfaltigkeit des Einzelnen, betrachtet die mathematische Erkenntnis die Größenverhältnisse der Dinge, und werden die Dinge im Medium des Intellekts in ihre Bestandteile zerlegt, so bietet das sensitive Erkennen die Ansicht ihrer Fülle.41 Da die Metaphysik lehrt, „daß die Erkenntnis um soviel besser ist, je reicher, edler, richtiger, klarer, gewisser und lebhafter sie ist“, muß die sinnliche Erkenntnis, sei sie nun in den Wissenschaften oder den Künsten virulent, dieselben Kennzeichen haben, „sie muß reich, edel, wahr, voll Licht, gewiß und lebhaft sein“.42 Wenn die sinnliche Erkenntnis mit den genannten KategoVgl. Meditationes, § CXVI. Vgl. die Rezension von Wolfhart Henckmann, Neue Ausgaben von Baumgartens Ästhetischen Schriften, in: Philosophisches Jahrbuch 93 (1986), 420–423, bes. 421 f. 38 Vgl. Kollegnachschrift Poppe, § 1 (65). 39 Vgl. Johann Gottfried Herder, Viertes kritisches Wäldchen, in: Sämtliche Werke (wie Anm. 10), Bd. 4, 133. 40 Vgl. Metaphysik, § 510. 41 Vgl. Franke, Kunst als Erkenntnis (wie Anm. 9), 33–36. 42 Ästhetik, § 22. Erkenntnistheoretisch gesehen bezeichnen diese Kennzeichen Grade der Erkenntnis (gradus cognitionis). Howard Caygill (Erfindung und Neuerfindung der Ästhetik, in: 37

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rien oder Kennzeichen den Rang einer philosophischen Erkenntnis erhält, so betont Baumgarten, nebenbei gesagt, auch deren Nützlichkeit für ein glückliches Leben: „uberior, nobilior, verior, clarior, certior, ardentior cognitio ad vitam felicem est utilis“.43

2. Die Funktion der sinnlichen Erkenntnis in der Aesthetica Als „ars analogi rationis“ – das ist nun weiter festzuhalten – wird die neue philosophische Disziplin in der Metaphysica als „scientia sensitive cognoscendi et proponendi“, also so definiert, daß die Darstellungsebene explizit einbezogen wird,44 wobei ihr Begründer die Künste ausdrücklich vor Augen hat. Warum das proponere in der Aesthetica weggelassen ist,45 dazu hat Baumgarten in seinem Ästhetik-Kolleg Stellung genommen: Man sagt, warum hat man nicht gesetzt scientia de cognitione sensitiva et acquirenda et proponenda [sc. Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, sowohl im Hinblick auf ihren Erwerb wie auch auf ihre Darstellung]. [...] [D]ies [wäre] schon zu enge erkläret und ginge weit näher auf die Beredsamkeit, da die Erklärung auch auf Musik und Malerei gehen muß. Wollte man vorschlagen, anstatt proponenda significanda zu setzen, so hat man das schon in unserer Definition.46

In der Bestimmung einer scientia sensitive cognoscendi et proponendi erweitert die Ästhetik den Kreis der philosophischen Disziplinen (encyclopaedia philosophicae) und tritt als zweite Instrumentalphilosophie neben die Logik.47 Schwerpunkt Baumgarten [wie Anm. 16], 233–242) betont, sinnliche Erkenntnis und Verstandeserkenntnis (cognitio sensitiva, cognitio intellectualis) seien dem Grad, nicht der Art nach verschieden. Caygill sieht die Kontinuität in den Operationsweisen der intellektuellen und sinnlichen Fähigkeiten des Menschen gegeben, deren Verbesserung Baumgartens Ästhetik-Projekt ja nicht zuletzt dienen sollte, denn, so Baumgarten, „ex nocte per auroram meredies“ (Ästhetik, § 7). Diese Kontinuität habe stets und dann auch bei Kant „unter dem Druck kultureller, politischer und philosophischer Kräfte [...] gestanden, die im Namen religiöser, politischer oder philosophischer Askese nach einer streng überwachten Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft suchten“ (a.a.O. 240). Caygill kann sich hier durchaus auf Baumgarten berufen, der bekanntlich dahingehende Einwände seiner Zeitgenossen gegen die Ästhetik ausdrücklich zurückweist (Ästhetik, § 12). 43 Vgl. Logik, § 6. Die Bezugsstelle in Wolffs Deutscher Logik (§ 7) handelt ebenfalls vom „Nutzen der Erkenntnis eines Weltweisen für das Leben der Menschen“. Die Kriterien, mit denen Baumgarten die philosophische Erkenntnis charakterisiert, finden sich so aber nicht bei Wolff. Man darf wohl vermuten, dass Baumgarten diese Kriterien seines spezifischen Erkenntnisinteresses wegen selbst aufgestellt hat. 44 Metaphysik, § 533. 45 Vgl. Ästhetik, § 1. 46 Kollegnachschrift Poppe, § 1 (71). 47 Vgl. Metaphysik, § 533, und Sciagraphia, Cap. I und pass. Den „systematischen Anspruch“, den Baumgarten mit dem Schattenriß verband und der von Johann Gottfried Herder aufgegriffen wurde,

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Die Ästhetik stellt ein Instrument dar, das „durch die Kenntnis des Schönen“ unser Bezeichnungsvermögen „verbessert“, und zwar insoweit, als die Ästhetik das poetische Denken, das aus der eigentümlichen Vorstellungsform der Sinnlichkeit gespeist wird, auf die freien Künste anwendet.48 Zu den freien Künsten – deren Begriff im 18. Jahrhundert schillernd ist – gehören für Baumgarten neben der Rhetorik und Poetik auch die Philologie49, Hermeneutik, Musik, Malerei, Bildhauerkunst usw., d.h. solche Künste, deren gemeinsames Merkmal die Mitteilung durch sinnlich artikulierte Zeichen ist bzw. die der Interpretation solcher Mitteilungen dienen.50 Nutznießer der Ästhetik sind die freien Künste, weil die Ästhetik eine Kenntnis vom Schönen vermittelt, auf die diese Künste, insbesondere aber die sogenannten ästhetischen oder schönen Künste, angewiesen sind, die Hegel später zu einem „Pantheon der Kunst“ zusammengestellt hat, also die Dichtung, die bildenden Künste und die Musik. Baumgarten erklärt: „Wann ich eine besondere Schönheit in den Zeichen anbringe, so mache ich eine Figur im Ausdruck (figuram dictionis); dieses tut sowohl der Maler und Musikus als der Redner“.51 analysiert im Kontext der Schulphilosophie Friedhelm Solms, Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder, Stuttgart 1990, 15–77 und pass. 48 Mit dem Synonym einer theoria liberalium artium für die Ästhetik (vgl. Ästhetik, § 1) greift Baumgarten das schon von Christian Wolff benannte Desiderat einer Theorie der freien Künste auf, vgl. Franke, Kunst als Erkenntnis (wie Anm. 9), 15–25. Siehe auch Solms, Disciplina aesthetica (wie Anm. 47), 163–192. 49 Vgl. Philosophia generalis, § 147; dieser Paragraph findet sich auch in: Baumgarten, Texte zur Grundlegung der Ästhetik, übers. und hg. von Hans Rudolf Schweizer, lateinisch/deutsch, Hamburg 1983, 73–78. Rez. Wolfhart Henckmann, Neue Ausgaben (wie Anm. 37), 420–423, 422 f. Die Semiotik oder Zeichentheorie ist zunächst als ästhetische Charakteristik konzipiert, verstanden als Philologie oder auch – da sie Regeln angibt, die für viele Sprachen Gültigkeit haben – als Grammatik. Ihr werden Orthographie, Etymologie, Syntax, Prosodie wie auch die lexikographische Bedeutung der Wortzeichen und die Schönschreibekunst (Philologia Graphice) zugewiesen. Als Regelkanon der Beredsamkeit (eloquentia) berücksichtigt die ästhetische Charakteristik die prosaische und die gebundene Rede, so daß ihr nicht nur die Rhetorik, sondern auch die Poetik zugeordnet wird. 50 Der Gedanke einer auf der Ästhetik basierenden Hermeneutik, den Baumgarten selbst im Zusammenhang seiner Logikvorlesungen, die er ab 1737 über die Deutsche Logik von Christian Wolff las, im Kapitel De hermeneutica behandelt hat, wurde auch von Georg Friedrich Meier in seinem Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (1757) aufgegriffen. „Sinnlichen Schriften“ ist eine „ästhetische Auslegung“ (interpretatio aesthetica) angemessen. Sie wird von Meier, der darin Baumgarten folgt, erkenntnismetaphysisch aus der Repräsentationskraft der sensitiven Fähigkeiten des Menschen begründet, die als ein Analogon der Vernunft das Auslegen des Sinns einer ästhetischen Rede (sensus orationis sensitivae) gewährleisten. Vgl. Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis (wie Anm. 9), 76 f. Vgl. Pietro Pimpinella, Hermeneutik und Ästhetik bei A.G. Baumgarten, in: Manfred Beetz, Giuseppe Cacciatore (Hg.), Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, Köln,Weimar,Wien 2000, 265–283. 51 Kollegnachschrift Poppe, § 145 (143); vgl. Ästhetik, § 145.

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Daran, daß die Poesie neben den übrigen freien Künsten zu den Nutznießern gehöre, „wird niemand zweifeln und alle Künste, die man schön nennet, werden von der Kenntnis dieser Regeln [sc. des Schönen] den größten Nutzen haben“.52 Die sinnliche als künstlerische Erkenntnis und ihr Ausdruck, verstanden als ein „effectus pulchre cogitantis“, sind also vom Begründer der philosophischen Ästhetik ausdrücklich auf die Künste und ihre Werke bezogen: „Wenn ich sinnlich schön denken will, warum soll ich bloß in Prosa oder in Versen denken? Wo bleibt der Maler und der Musikus“?53 Derart vom Gründungsvater der Ästhetik unterstützt, komme ich im Hinblick auf den Gesamtzusammenhang der Aesthetica zu meiner Lesart der sinnlichen als einer künstlerischen Erkenntnis, eine Lesart, die ich ausgehend von neuzeitlichen dichtungs- und kunsttheoretischen Diskursen entfalte.

III. Der dichtungs- und kunsttheoretische Horizont der „Aesthetica“ Das neuzeitliche Kunstverständnis ist im Kontext eines ästhetischen Diskurses ausgebildet worden, der wesentlich von Italien (14.–16. Jahrhundert) ausging. An diesem Diskurs,54 der mit der Wiederentdeckung und dem Wiederaufleben der antiken Kunst- und Dichtungstheorien und der antiken Philosophie zusammenhängt, waren im Laufe der Jahrhunderte Männer von unterschiedlicher Profession – Humanisten, Philologen, Philosophen, Künstler, Dichter und Kritiker – beteiligt. Ein weiterer Ansatz geht auf die Literatur- und Kunstkritik zurück, die im 17. und 18. Jahrhundert zunächst in Frankreich und England, dann ebenso in Deutschland ausgebildet worden ist.55 Beide Ansätze prägen Baumgartens philosophische Bestimmung der sinnlichen als einer künstlerischen Erkenntnis in der Aesthetica wie auch deren popularisierende Verbreitung durch Moses Mendelssohn oder Johann Georg Sulzer.56 Kollegnachschrift Poppe, § 4 (75); vgl. Ästhetik, § 4. Kollegnachschrift Poppe, § 1 (69). 54 Er ist grundsätzlich geprägt durch die Konnotation von Kunst und Schönheit und am Prinzip der Nachahmung (der Alten bzw. der Natur) orientiert. Nachahmung (µιµησις, imitatio) wird seit Platon und Aristoteles im Sinn von Darstellung, auch von Ausdruck verstanden. Aristoteles beispielsweise (Poetik, 1447 b 25) teilt die Künste nach der Art und Weise ein, in der sie Gegenstände mit Hilfe der Darstellungsmittel, die ihnen jeweils eigentümlich sind – Form, Farbe, Ton, Rhythmus und Wort – ins Werk setzen. Vgl. Wilhelm Perpeet, Das Kunstschöne. Sein Ursprung in der italienischen Renaissance, Freiburg, München 1987, Kap. V. und pass. Siehe auch Hermann Koller, Mimesis, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Sp. 1396–1399. 55 Vgl. Friedrich Braitmaier, Geschichte der poetischen Theorie und Kritik. Von den Diskursen der Maler bis auf Lessing, 2 Bde., Frauenfeld 1888–1889. 56 Kunstphilosophie und Ästhetik werden an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert fortgeführt und differenziert durch die frühromantische Kunst- und Dichtungstheorie, die von der Philosophie des 52 53

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Prinzipiell ist das neuzeitliche Kunstverständnis durch die allmähliche Abgrenzung bzw. die Lösung der ästhetischen oder schönen Künste von den Handwerkskünsten geprägt. Ordneten Antike und Mittelalter die bildenden Künste ebenso wie Musik und Dichtung verschiedenen Wissenschaften sowie handwerklichen und anderen menschlichen Tätigkeiten zu, so wurde unter ‘Kunst’ bekanntlich ein Kanon von Regeln verstanden, der dazu anleiten sollte, etwas herzustellen. Das Handwerk des Schuhmachers, die Kochkunst oder die Kunst des Jongleurs sowie Grammatik und Arithmetik sind im Mittelalter nicht weniger und in keinem anderen Sinn ‘Kunst’ als Malerei und Bildhauerei, Dichtung und Musik, wie Paul Oskar Kristeller in seiner minutiösen Studie The modern system of the fine arts (1951/52) gezeigt hat.57 Die Unterscheidung der bildenden Künste (Architektur, Bildhauerei, Malerei), der Dichtung und der Musik von den Wissenschaften und Handwerkskünsten wird allererst durch die systematische Bindung dieser Künste an das Schöne möglich. Das Schöne benennt die Qualität oder den Wert, durch den Kunstwerke von Gegenständen des Alltags unterschieden sind. Was im Alltag, in der alltäglichen Wahrnehmung verborgen bleibt, macht der Künstler, dem ein besonderes Ingenium, Genie zugesprochen wird58, sichtbar, hörbar, erfahrbar. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert wird zudem in der Bestimmung des Geschmacks (bon goût, taste) eine Empfänglichkeit oder Sensibilität für das Schöne thematisiert, die für die Produktion wie für die Rezeption und auch für eine angemessene Kritik von Kunstwerken unverzichtbar ist.59 Die begriffliche Ausformulierung des neuzeitlichen Kunstverständnisses sowie Kunstbegriffs impliziert – mehr oder weniger ausdrücklich – eine zeichentheoretische, vorzüglich auf die Darstellungsmittel bezogene Grundierung Deutschen Idealismus beeinflußt ist. Außereuropäische Länder, aber auch Skandinavien oder Rußland waren an dieser Entwicklung nicht beteiligt. Doch gibt es beispielsweise in Rußland Untersuchungen zur Ästhetik der Renaissance (vgl. Aleksej F. Losev, Stetika vozro denija [Ästhetik der Renaissance], Moskau 1982); auch nimmt Rußland teil an der europäischen Romantik (vgl. Bodo Zelinsky, Russische Romantik, Köln, Wien 1975). 57 Vgl. Paul Oskar Kristeller, Das System der Künste, übers. von R. Schweyen-Ott, in: Kristeller, Humanismus und Renaissance II, München 1975. 58 Vgl. Eberhard Ortland, Genie, in: Ästhetische Grundbegriffe (wie Anm. 20), Bd. 2, 661– 708. 59 Vgl. Hermann Schümmer, Die Entwicklung des Geschmacksbegriffs in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhundert, in: Archiv für Begriffsgeschichte 1 (1955), 120–141. „Die wechselnde Dominanz der verschiedenen Kunsttheorien, ein viel zu wenig beachtetes Phänomen“, nimmt Martin Fontius (Das Ende einer Denkform. Zur Ablösung des Nachahmungsprinzips im 18. Jahrhundert, in: Literarische Widerspiegelung. Geschichte und theoretische Dimensionen eines Problems, Berlin, Weimar 1981, 189–238, hier 201) als „methodologischen Schlüssel“, um die Ablösung des Nachahmungsprinzips seit dem 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Literaturund Kunsttheorie zu erörtern.

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des Kunstwerks. Dies gilt für die Sprache der Dichtung im Rahmen der Rhetorik ebenso wie für den Disegno oder die kunst- und literaturkritische Unterscheidung zwischen natürlichen und arbiträren Zeichen, die von Popularphilosophen wie Moses Mendelssohn oder Johann Georg Sulzer mit Baumgartens Theorie eines aus der Sinnlichkeit gespeisten „schönen Denkens“ zu einer Theorie des schönen Ausdrucks verbunden worden ist. Diese Theorie verbindet die traditionelle Einteilung der Künste nach der Art und Weise der Bezeichnung mit der philosophischen, genauer metaphysischen Bestimmung des Schönen, die mit Charles Morris gesagt sowohl auf die semantische, als auch auf die syntaktische und pragmatische Dimension von Kunst zu beziehen ist. Das Wort Ausdruck, das – so Sulzer – „bald dem Zeichen, als der Ursache der Vorstellung, bald seiner Wirkung beigelegt“ wird, meint in der „Kunstsprache“ solche Vorstellungen, „die vermittelst äußerlicher Zeichen“, also durch die verschiedenen Darstellungsmittel, durch Wörter und Sätze, Töne und Tonsätze, Gesichtszüge, Gebärden oder – im Tanz – durch Stellung, Gebärden und Bewegung im Gemüt erregt werden.60 Die Erörterung der Entstehung solcher Werke impliziert ihre Beschreibung als Zeichenprozeß. Sprachkunstwerke wie auch Werke der bildenden Künste oder der Musik werden m.a.W., mit Nelson Goodman gesagt, als imitative oder expressive Zeichen bzw., so Jan Mukarovsky, als Ensemble von Werten aufgefaßt. Kunstwerke werden verstanden als ästhetische Zeichen im Sinne von ikonischen Zeichen, deren Designat einen Wert darstellt. Werthaft ist die Eigenschaft des Kunstobjektes, durch einen schönen Ausdruck Gefallen zu erregen.61 Vgl. Johann Georg Sulzer, Ausdruck, in: Allgemeine Theorie der schönen Künste (2 Bde., 1771–1774), 2. Aufl., 4 Bde., Leipzig 1777/78, Neue Ausg., 4 Bde., 1792–1799. Siehe auch Moses Mendelssohn, Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften (1757), in: Mendelssohn, Ästhetische Schriften. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Anne Pollok, Hamburg 2006, 188–215, bes. 204–212. Vgl. Franke, Zeichenkonzeptionen (wie Anm. 13), 1251–1256. Siehe auch dies., Dramaturgische Typik der Affekte. J.J. Engels Beitrag zur Ästhetik der Schauspielkunst, in: Forum für Philosophie, Bad Homburg, Siegfried Blasche u.a. (Hg.), Sorgfalt des Denkens. Festschrift für Brigitte Scheer, Würzburg 1995, 136–159. Zu „Stationen einer Rezeptionsgeschichte“ der Ästhetik Baumgartens vgl. Egbert Witte, Logik ohne Dornen. Die Rezeption von A.G. Baumgartens Ästhetik im Spannungsfeld von logischem Begriff und ästhetischer Anschauung, Hildesheim u.a. 2000, 59–200. 61 Die semiotische Rekonstruktion der ästhetischen Theoriebildung, die erst Ende des 20. Jahrhunderts begonnen hat (vgl. Heinz Paetzold [Hg.], Modelle für eine semiotische Rekonstruktion der Geschichte der Ästhetik, Tübingen 1987; siehe auch Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, Stuttgart 1985, 381ff.), berücksichtigt im Zusammenhang mit dem 18. Jahrhundert auch die Ästhetik Baumgartens (vgl. Tzvetan Todorov, Théories du symbole, Paris 1977, Deutsch von Beat Gyger, Tübingen 1995, bes. Kap. 3–5). Die skizzierte Ausbildung des neuzeitlichen Kunstbegriffs gipfelt in der autonomen Bestimmung der Kunst und ist zeichentheoretisch gleichbedeutend mit dem differenzierenden Schritt vom Verständnis des Kunstwerks als imitatives ästhetisches Zeichen zu seiner Auffassung als selbstreferentielles Zeichen (U. Eco). Vgl. ferner Ernest W.B. Hess60

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Auf dem skizzierten dichtungs- und kunsttheoretischen Hintergrund soll nun die Struktur der sinnlichen als einer künstlerischen Erkenntnis ausgehend von ihrer zeichentheoretischen Fundierung herausgearbeitet werden.

IV. Die zeichentheoretische Grundierung und die Struktur der künstlerischen als einer sinnlichen Erkenntnis Die zeichentheoretische Grundierung der künstlerischen als einer sinnlichen Erkenntnis und ihres Ausdrucks im Sinne der Wirkung des pulchre cogitare unter den aus der Rhetorik entlehnten Gesichtspunkten der Erfindung (inventio), Verknüpfung (dispositio) und des Ausdrucks (elocutio) sinnlicher Vorstellungen (repraesentationes sensitivae), die in der unvollendet gebliebenen Aesthetica Programm bleibt, kann anhand der Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus im Sinne einer dreigliedrigen Semiotik, wie Charles Morris sie entwickelt hat, rekonstruiert werden. Semantisch ist die Bestimmung des Gedichts als eine vollkommene sinnliche Rede (oratio sensitiva perfecta) in Rücksicht auf die sinnlichen bzw. sensitiven Vorstellungen oder Ideen, syntaktisch hinsichtlich ihrer Verknüpfung sowie pragmatisch hinsichtlich der Worte oder artikulierten Laute, die aus Buchstaben als den Zeichen der Worte bestehen, zu beschreiben: „Orationis sensitivae varia sunt repraesentationes sensitivae, nexus earum, voces sive soni articulati litteris constantes earum signa“.62 Die erkenntnispsychologisch in der Metaphysica grundgelegte Bestimmung der sinnlichen Erkenntnis als cognitio clara et confusa begegnet in den Meditationes im Begriff einer perceptio praegnans, mit dem die Eigenart der ästhetischen Bezeichnung (significatio aesthetica), erfaßt wird. Sinnliche Vorstellungen verlangen prägnante, bedeutungsschwangere Ausdrücke (termini significatus praegnantis). Der poetische Ausdruck ist als bildlicher Ausdruck (vox impropria) von vielsagender Bedeutung (significatus improprius), der er auch seine persuasive, ins Gemüt gehende Kraft verdankt.63 Den Tropen, also dichterischen Wendungen, Umschreibungen, wie sie Metapher, Synekdoche Lüttich, Daniel Rellstab, Zeichen/Semiotik der Künste, in: Ästhetische Grundbegriffe (wie Anm. 20), 247–282. 62 In der zeichentheoretischen Grundierung sieht Salvatore Tedesco in seiner grundlegenden und innovativen Untersuchung (L’estetica di Baumgarten, Palermo 2000 [Aestetica Preprint, Supplementa 6], 51–73) ein strukturbildendes Dreierschema (representationes sensitivae, nexus earum, signa earum) analog zur rhetorischen Dreigliederung inventio, dispositio, elocutio in der Aesthetica. Zur dreigliedrigen Semiotik vgl. Charles Morris, Esthetics and the Theory of Science (1939), Foundations of the Theory of Science (1938), deutsch von R. Posner und J. Rehbein, Grundlagen der Zeichentheorie, Ästhetik und Zeichentheorie, 3. Aufl. Frankfurt am Main, Wien, Berlin 1979. 63 Vgl. Metaphysik, § 517.

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oder Allegorie leisten, kommt eine genuin poetische Qualität zu, weil sie die Komplexität vielfach miteinander verknüpfter (confundere) sinnlicher Vorstellungen unterstützen: „quia suppeditant repraesentationes complexas confusas“.64 Der zeichentheoretisch fundierte und konturierte poetische Ausdruck als Wirkung des pulchre cogitare wird in der Aesthetica in seiner eigenständigen Struktur als cognitio sensitiva, d.h. als „complexus repraesentationum infra distinctionem subsistentium“, begriffen.65 Schöndenken heißt gemäß der für die sinnliche Erkenntnis geforderten Komplexität reich denken. Der ästhetische Reichtum (ubertas aesthetica) als „prima cura“ der sinnlichen Erkenntnis ist mit den Kennzeichen der ästhetischen Größe (magnitudo aesthetica), der ästhetischen Wahrheit (veritas aesthetica), dem ästhetischen Licht (lux aesthetica), der ästhetischen Gewißheit (certitudo aesthetica) und dem ästhetischen Leben (vita aesthetica) als eine der Kategorien aufzufassen, welche die Struktur der sinnlichen Erkenntnis prägen und sie als philosophische Erkenntnis auszeichnen. Um zu einem reichen Denken, das er auch ein anmutiges Denken (venuste cogitare) nennt, anzuleiten und sich darin zu üben, erweitert Baumgarten die Topik. Die allgemeine Topik, die er mit Aristoteles und Cicero als Kunst, Argumente zu erfinden (ars sive disciplina inveniendorum argumenta) definiert,66 ist nach seiner Überzeugung dazu wenig geeignet.67 Zur Charakterisierung einer ästhetischen Topik (topica aesthetica), wie er sie sich vorstellt, knüpft Baumgarten an den Merkvers an, mit dem, wie dargelegt, die Eigenart der sinnlichen Erkenntnis von ihm charakterisiert wird: „copia, nobilitas, veri lux certa moventis“, will sagen, es erfreut uns „die Fülle, die edle Art, das Licht der bewegenden Wahrheit“.68 Dieser Merkvers charakterisiert die Aufgabe einer topica aesthetica. Die ästhetische Topik muß folgende Fragen aufwerfen: „Habe ich ein gegebenes Thema oft empfunden? Vieles in ihm? Genügend Meditationes, § LXXIX; vgl. ebd., §§ LXXXIII–LXXXVI. Sie begründen einen „metaphorischen nexus“, dessen zeichentheoretischen Kontext Umberto Eco (Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, übers. von Christiane Trabant-Rommel und Jürgen Trabant, München 1985, 133 ff.) im Hinblick auf traditionelle Definitionen untersucht. Siehe auch Pietro Pimpinella, Hermeneutik und Ästhetik (wie Anm. 50), 274–278. 65 Ästhetik, § 17. 66 Vgl. ebd., § 130. 67 Unter dem Gesichtspunkt der „ubertas aesthetica“ wird die Funktion der Topik sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht erweitert. Vgl. Ursula Franke, Mit der Metaphysik im Rücken. Zu Baumgartens „significatio aesthetica“ und Wolffs „significatus hieroglyphicus“, in: Jürgen Stolzenberg, Oliver-Pierre Rudolph (Hg.), Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.–8. April 2004, Bd. 4, in: GW III.104, 238–256. 68 Ästhetik, § 22. 64

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Würdiges? Wahrscheinliches? In einem Licht, so daß ich es genügend lebhaft hinzustellen vermag?“69 Erweist sich in der Magisterschrift für den Zusammenhang (nexus) der Vorstellungen der Begriff des Themas als einer Vorstellung, die den zureichenden Grund weiterer Vorstellungen in sich enthält,70 als zentral, so entspricht dem in der Aesthetica die Definition des Arguments als einer Vorstellung, die in sich den Grund zu einer anderen Vorstellung enthält.71 Die ästhetische Argumentation trägt so zur größtmöglichen Vernetzung sinnlicher Vorstellungen bei.72

V. Die erkenntnistheoretische Funktion der künstlerischen Erkenntnis Im Blick auf ihre Struktur als cognitio clara et confusa verbindet Baumgarten die künstlerische als eine sinnliche Erkenntnis mit einem erkenntnistheoretischen Anspruch, der offenkundig wird, sobald man die metaphysische Rückbindung berücksichtigt. Dieser Anspruch ist zwar durch die Verweise auf die Metaphysica an zentralen Stellen der Aesthetica offenkundig, wird jedoch allererst im Licht der philosophischen Problematik der Einheit der Vernunft, wie sie dann in Kants Vernunftkritik mit aller Schärfe aufbrach, in seiner ganzen Tragweite nachvollziehbar. Die Problematik der Einheit der Vernunft, mit der sich die Kunstphilosophen des deutschen Idealismus wie auch Kant auseinandersetzen, ist in Baumgartens Ästhetik bereits grundsätzlich angelegt. Kant, Schelling, Hegel wie auch Baumgarten übertragen der Ästhetik die Untersuchung dessen, was ihr Gegenstand, die Kunst und die Künste im Medium ihrer Werke, zur Erkenntnis der Idee oder des Absoluten, dem gesuchten Ziel- und Einheitspunkt des Denkens, beitragen. Hegel hat die Problematik der Einheit der Vernunft später so formuliert: Die Gegensätze, die sonst unter der Form von Geist und Materie, Seele und Leib, Glauben und Verstand, Freiheit und Notwendigkeit usw. bedeutend waren, [...] sind im Fortgang der Bildung in die Form der Gegensätze von Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur [...] übergegangen.73 Ästhetik, § 140: An datum thema saepe sensi, an multa in eodem? an satis digna? an verisimilia? an ea in luce, quam vivide satis sistere possem? Nach Pietro Pimpinella (Hermeneutik und Ästhetik [wie Anm. 50], 279) unterwirft Baumgarten, indem er „die Rhetorik als ein filum ariadnae benutzt, seine Logik einer cognitio sensitiva, so verwirft er die traditionelle Lehre der topoi oder loci und ersetzt sie durch das facultatum sensitivarum catalogon“. 70 Vgl. Meditationes, § LXVI. 71 Vgl. Ästhetik, § 26. 72 Vgl. Tedesco, L’estetica di Baumgarten (wie Anm. 62), 61. 73 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichte’schen und des Schelling’schen Sy69

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Solche festgewordene Gegensätze „aufzuheben ist das einzige Interesse der Vernunft“.74 Im Fokus dieses philosophischen Erkenntnisinteresses wird den Werken der Künste zugetraut und zugemutet, die Entzweiung von Vernunft und Sinnlichkeit zu überwinden, und die Kunst in dieser Hinsicht am Verständnis dessen gemessen, was sie für das Leben der Menschen bedeutet, sei es, daß sie als „Chiffre des Übersinnlichen“ (Kant), als „sinnliche Erscheinung der Idee“ (Hegel), als ein „Gegenbild“ des Absoluten (Schelling) oder – so Baumgarten – als ästhetische Repräsentation des Ganzen, der Vollkommenheit der Welt, in der wir leben, begriffen wird.75 Die zeichentheoretische Grundierung der künstlerischen Erkenntnis und ihres Ausdrucks ist orientiert am und wird organisiert durch das Kriterium der Schönheit, verstanden als eine in die Sinne fallende, erscheinende Vollkommenheit. „Perfectio phaenomenon s. gustui latius dicto observabilis est pulchritudo“.76 Das metaphysisch aufgeladene Schönheitskriterium erfordert auf der Darstellungsebene die Übereinstimmung, einen consensus der Zeichen (signa), ihrer Verknüpfung und ihres Ausdrucks (elocutio). Die Ästhetik soll zeigen, was bei den Wörtern und bei den Zeichen der Wörter zu beachten ist und wie man Wörter so verbindet, daß sie schöne Gedanken schön bezeichnen.77 Der geforderte Konsens ist durch einen ontologisch verstandenen Bezeichnungszusammenhang ermöglicht und verbürgt, wie Baumgarten ihn in seinem Metaphysik-Kompendium schulmäßig abhandelt. Zeichen sind danach im Anschluß an die große Tradition seit Augustinus78 von sich aus auf das durch sie Bezeichnete hingeordnet. Ein Zeichen ist insofern „Ziel“ des Bezeichneten, als stems der Philosophie in Beziehung auf Reinhold´s Beyträge zur leichtren Übersicht des Zustands der Philosophie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg 1962 (Unv. Abdr. aus Hegel, Erste Druckschriften, hg. von Gustav Lasson, Leipzig 1928) 12–17, hier 10. Vgl. Walter C. Zimmerli, Die Frage nach der Philosophie. Interpretationen zu Hegels „Differenzschrift“, Bonn 1974 (Hegel-Studien Beiheft 12), hier 7–11 und pass. 74 Ebd. 75 Zur Sache: Eugenio De Caro, Dalla „conoscenza sensitiva“ alla „filosofia dell’arte“. La fondazione settecentesca dell’estetica, Mailand 2000, Cap. I. und pass. Siehe auch Heinz Paetzold, Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, Wiesbaden 1983, pass. 76 Metaphysik, § 662. 77 Vgl. Ästhetik, §§ 18–21, und dazu Mary J. Gregor; Baumgarten’s Aesthetica, in: Review of Metaphysics 37 (December 1983), 357–385, bes. 375 ff. Siehe auch Francesco Piselli, Perfectio phaenomenon. Estetica e metafisica nell’opera di Alexnder Gottlieb Baumgarten, Mailand 1988, bes. 127–132. 78 Vgl. Eugenio Coseriu, Die Geschichte der Sprachphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Teil 2: Von Leibniz bis Rousseau, Tübingen 1972, 129–139; Siehe auch Rudolf Haller, Das Zeichen und die Zeichenlehre in der Philosophie der Neuzeit, in: Archiv für Begriffsgeschichte 4 (1959), 113–157, hier 125–127.

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zwischen Zeichen und Bezeichnetem ein immer schon vorgegebener Bezeichnungszusammenhang besteht: „Nexus inter signum et signatum significativus est, signoque tributus significatus dicitur“.79 Aufgrund der zeichentheoretisch konturierten bzw. grundierten Ordnungsstruktur, also aufgrund ihres Bezeichnungszusammenhangs, stellt eine Dichtung, ebenso wie jedes andere Kunstwerk auch, eine artifizielle Welt für sich dar. Kunstwerke bieten eine analoge Ansicht zum Kosmos im Gegensatz zum Chaos.80 Das Kunstwerk, noch einmal anders gesagt, spiegelt die Ordnung unserer Welt. Von der Ordnung der Kunstwelt aber gilt dasselbe, was die Philosophen von der Welt gedacht haben.81 Die metaphysische Rückbindung setzt der künstlerischen Erkenntnis und Darstellung dem pulchre cogitare et proponere eine Grenze, eben die Grenze des Schönen, die sich aus der Bestimmung der Schönheit als „perfectio phaenomenon“ ergibt. Mit der metaphysischen Rückbindung der künstlerischen als einer sinnlichen Erkenntnis ist so nicht zuletzt ein Verdikt des Absurden verbunden. Baumgarten beruft sich auf die Anweisung des Horaz, „daß von Malern und Poeten, was immer sie vermögen und was zugleich in ihrer Macht steht, auch zu wagen sei, wenn sie nur nicht das Unverträgliche zusammenzwingen, daß man nicht Schlangen mit den Vögeln, Lamm und Tiger ineinander menge“.82 Damit unterstreicht Baumgarten, daß das aus der Sinnlichkeit des Menschen begründete pulchre cogitare philosophisch an der Vernunft orientiert ist. Das pulchre cogitare ist ein der Vernunft analoges Denken,83 das in Werken Ausdruck findet, denen erkenntnistheoretisch gesehen eine eigene, eine ästhetische Wahrheit zukommt.84

Metaphysik, § 347. Zeichen sind in dieser Bestimmung Mittel zur Erkenntnis der Wirklichkeit vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Dinge (vgl. ebd., § 348). Vgl. Constanze Peres, Pegasus und Einhorn. Antizipation in Kunst und Wissenschaft und ihre Begründung bei Leibniz und Goodman, in: Friedrich Gaede, C. P. (Hg.), Antizipation in Kunst und Wissenschaft. Ein interdisziplinäres Erkenntnisproblem und seine Begründung bei Leibniz, Tübingen, Basel 1997, 47– 72. 80 Vgl. Meditationes, § LXVIII. 81 Vgl. Franke, Kunst als Erkenntnis (wie Anm. 9), 76–87. 82 Horaz, Ars poetica v. 8–12; vgl. Franke, Kunst als Erkenntnis (wie Anm. 9), 78–85; vgl. 102 f. 83 Zur Tradition des Begriffs des Vernunftähnlichen vgl. Stefanie Buchenau, Sinnlichkeit als Erkenntnisvermögen. Zum Begriff des Vernunftähnlichen in der Psychologie Christian Wolffs, in: Oliver-Pierre Rudolph, Jean-Francois Goubet (Hg.), Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen, Tübingen 2004, 191–206. 84 Vgl. Alexander Aichele, Die Grundlegung einer Hermeneutik des Kunstwerks. Zum Verhältnis von metaphysischer und ästhetischer Wahrheit bei Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Studia Leibnitiana 31 (1999), 82–90, bes. 82 ff. 79

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Unter Voraussetzung und Berücksichtigung der metaphysischen Rückbindung der künstlerischen als einer sinnlichen Erkenntnis ist nun einsichtig, inwiefern Baumgarten dem Künstler zutraut, ja zumutet, in seinem Werk die Vollkommenheit des Universums, der Welt zu vergegenwärtigen,85 d.h. die nicht zuletzt aus christlichem Verständnis behauptete Vollkommenheit der Welt ästhetisch zu repräsentieren. Wenn aber die künstlerische als eine sinnliche Erkenntnis die ästhetische Vergegenwärtigung des Universums, der Welt, in der wir leben, leistet, deren Vollkommenheit, aufs Ganze gesehen, für Baumgarten noch außer Frage steht und deren Perfektion in der Schönheit der Kunstwerke zur Anschauung oder Erscheinung gelangt, so liegt der Erkenntnisgewinn darin, daß die Vollkommenheit der Welt nicht bloß gedacht, sondern auch ästhetisch repräsentiert, sinnlich erfahrbar wird.86 Es gibt nur eine Wahrheit, aber zwei Wege, sie zu erkennen.87

VI. Ergebnis und Konsequenzen für die Interpretation der ‘Aesthetica’ Im Ergebnis sollte deutlich geworden sein, daß im Gesamtzusammenhang der Aesthetica das Verständnis und die Funktion der Sinnlichkeit und der sinnlichen Erkenntnis überhaupt erst dann seine eigentliche Brisanz erhält, wenn der hervorragende Rang der Kunst und der Künste als den ausgezeichneten Gegenständen der sinnlichen als Fundament der künstlerischen Erkenntnis und ihres Ausdrucks nicht übergangen wird. Im dichtungs- und kunsttheoretischen Horizont der Ausbildung des neuzeitlichen Verständnisses von Kunst und Dichtung wurden Begriff und Funktion der Sinnlichkeit im Gesamtzusammenhang der Aesthetica als Fundament der künstlerischen Erkenntnis interpretiert. Die künstlerische als eine sinnliche Erkenntnis, erkenntnispsychologisch als cognitio clara et confusa bestimmt, erwies sich im erkenntnistheoretischen Problemhorizont der philosophischen Frage nach der Einheit der Vernunft als ein erster und wesentlicher Schritt auf dem Wege zum Begriff der Kunst als Repräsentation des Absoluten. Als leitend wurden dabei sowohl die metaphysisch begründete Konnotation von Kunst und Schönheit als auch der zeichentheoretische Aspekt des neuzeitlichen Begriffs der Kunst herausgearbeitet. Mit der InterpreVgl. Ursula Franke, Von der Metaphysik zur Ästhetik. Der Schritt von Leibniz zu Baumgarten. In: Metaphysik – Ethik – Ästhetik – Monadenlehre, Wiesbaden 1975 (Studia Leibnitiana Supplementa, Vol. XIV [Akten des II. internationalen Leibniz-Kongresses Hannover, 17.–22. Juli 1972]), 229–240. 86 Vgl. Metaphysik, § 640. 87 Vgl. Hans Carl Finsen, Evidenz und Wirkung im ästhetischen Werk Baumgartens. Texttheorie zwischen Philosophie und Rhetorik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), 198–212, bes. 204, vgl. 208. 85

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tation der Sinnlichkeit als Quelle der künstlerischen Erkenntnis und ihres Ausdrucks wurde also Baumgartens Bestimmung der Ästhetik als „scientia sensitivae cognitionis“ im Kontext der Aesthetica aufgenommen und das „pulchre cogitare“, ein Schöndenken oder poetisches Denken als Verfahren der künstlerischen Erkenntnis aufgefaßt.88 Es zeigte sich, daß in der Perspektive eines Verständnisses der Sinnlichkeit als Quelle der künstlerischen Erkenntnis und ihres Ausdrucks dem Gesamtzusammenhang der Aesthetica, die im Gewand der Rhetorik daherkommt, insbesondere insofern Rechnung getragen wird, also sich erst in dieser Perspektive zeigt, daß und wie Baumgarten Schlüsselbegriffe der Rhetorik und Poetik philosophisch reformuliert oder transformiert.89 Wird die Topik zu einem Instrument der Erfindung sinnlicher Vorstellungen, d.h. um die Kunst, ästhetische Argumente zu erfinden, erweitert90 und die philosophische Ausformulierung der significatio aesthetica zu einer Semiotik in der Bestimmung einer ästhetischen

In dieser Hinsicht versucht Eberhard Ortland (Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis. Ansätze zur Wiedergewinnung von Baumgartens uneingelöstem Projekt, in: Schwerpunkt Baumgarten [wie Anm. 16], 1–18) nach einer lesenswerten Auseinandersetzung mit den Positionen von Hans Rudolf Schweizer und Wolfgang Welsch, die beide an einer Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben arbeiten, eine symboltheoretische Reformulierung der Baumgartenschen Bestimmung der sinnlichen Erkenntnis. Ortland bringt das Merkmal eines unterhalb der Deutlichkeit verbleibenden Vorstellungskomplexes, mit dem Baumgarten die cognitio sensitiva charakterisiert hatte, mit den Eigenschaften der Dichte, Fülle, Exemplifikation in Verbindung, die Goodman als „Symptome des Ästhetischen“ ausweist und, so Ortland, als die ästhetische Differenz einer Welterzeugung durch Kunst beschreibt. Vgl. Gottfried Gabriel, Rez. von Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, übers. von Max Looser, Frankfurt am Main 1984, in: Philosophische Rundschau 33 (1986), 48–55. Vgl. G. G., Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Paderborn u.a. 1997, 356– 401. 89 Dazu Eberhard Ostermann, Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur ästhetischen Transformation der Rhetorik, München 2002, 71–88. Die Transformation der Rhetorik bleibt außer Betracht bei Horst-Michael Schmidt (Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung. Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten, München 1982 [Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste Bd. 63]), der Baumgartens Ästhetik im „philosophischen und poetologischen Kontext der deutschen Aufklärung“, insbesondere die rhetorisch-poetische Konzeption der Aesthetica, untersucht (Kap. IV) und aus „philosophisch-literaturwissenschaftlicher“ Sicht Baumgartens Ästhetik als „abschließende systematische Zusammenfassung“ der Poetik der deutschen Aufklärung sieht (ebd., 236). 90 Die Transformation der Topik, auf die ich an anderer Stelle eingegangen bin (vgl. Ursula Franke, Mit der Metaphysik im Rücken (wie Anm. 67), bes. 241–247) hat Salvatore Tedesco (L’estetica di Baumgarten (wie Anm. 62), 108–111) detailliert im Blick auf die Funktion der ästhetischen Argumente, zur Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis beizutragen, beschrieben. 88

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Propädeutik umgeformt,91 so ist eine derartige Transformation auch für die rhetorischen Begriffe der evidentia und persuasio herausgearbeitet worden.92 Angesichts dieser Befunde erscheint die Behauptung überraschend, gerade wenn man Baumgarten nicht „zu modern“ nehme, ihn nicht aus der Tradition der Rhetorik herauslöse und seinen noch „vormodernen Kunstbegriff nicht eskamotiert“, zeige sich sein „moderner Ansatz“ umso prägnanter. Diese Ansicht vermag ebenso wenig zu überzeugen wie die Auffassung, daß Baumgarten den Rahmen der Rhetorik und Poetik allererst überschreite, indem er die „sinnlichen Apperzeptionsmodi als wesentliche Voraussetzung eines ausgeglichenen [...] Menschenbildes“ ansehe.93 Wird der Doppelcharakter der ästhetischen Theorie Baumgartens so gesehen nicht angemessen berücksichtigt, so bleibt vor allem die ästhetische Umformung der Rhetorik unterbelichtet, ja außer Betracht, so daß der Gesamtzusammenhang der Aesthetica seinerseits eskamotiert wird. Die anthropologische Interpretation und das Verständnis der Sinnlichkeit im Zusammenhang mit der Vision eines neuen Menschenbildes haben vielmehr im Anschluß an den aus der empirischen Psychologie entlehnten Baustein ihren, dem Doppelcharakter der ästhetischen Theorie Baumgartens geschuldeten Ort. So ist aus Baumgartens trockenen begrifflichen Bestimmungen der sensitiven Fähigkeiten, wie er sie in seinem Metaphysiklehrbuch im Anschluß an Christian Wolffs empirische Psychologie schulmäßig vornimmt, durchaus das Ideal der Bildung des ganzen Menschen herauszuhören.94 Dieser Baustein hat in der Vgl. Ursula Franke, Die Semiotik als Abschluß der Ästhetik. A.G. Baumgartens Bestimmung der Semiotik als ästhetische Propädeutik, in: Zeitschrift für Semiotik 1 (1979), 346–357. 92 Rüdiger Campe (Bella Evidentia. Begriff und Figur von Evidenz in Baumgartens Ästhetik, in: Schwerpunkt Baumgarten [wie Anm. 16], 243–256) arbeitet die philosophische Umformung der Evidentia heraus. Die, eine überzeugende Rede meinende rhetorische Kategorie, werde in der Aesthetica zu einer den ästhetischen Schein verbal fassenden Kategorie umgeformt: „Man hat es mit einer ästhetischen Rhetorik oder einer rhetorisch herzustellenden Ästhetik zu tun, mit der interpretatorischen Überführung der Rhetorik in Ästhetik unter der leitenden Perspektive der ‘sinnlichen Erkenntnis’ und zugleich mit der rhetorischen Inszenierung der Ästhetik und ihrer Leitkategorie ‘sinnliche Erkenntnis’ selbst“. (ebd., 254). Die Umformung geschehe im Wege einer Verbindung mit der von Baumgarten sogenannten „lux aesthetica“, eine Konstellation, die Campe wissenschaftsgeschichtlich in die Verbindung von lumière und evidence in D’Alemberts Discours préliminaire (1751) einrückt. – Vgl. Pietro Pimpinella, Truth and Persuasion, in: Lexicon Philosophicum. Quaderni di terminologia filosofica e storia delle idee 6 (1993), 21–49. Siehe auch Hans Carl Finsen, Evidenz und Wirkung (wie Anm. 87), pass. 93 So Barck, Kliche, Ästhetik (wie Anm. 20), 327. 94 Baumgarten nimmt damit mehr oder weniger unausdrücklich den Gedanken einer ästhetischen Erziehung vorweg, die eine Kultivierung unserer Sinnlichkeit und nicht etwa ihre Disziplinierung meint. Diesen Gedanken kann man nur recht würdigen, wenn man sich vor Augen hält, daß die Sinnlichkeit nicht nur einem logischen, sondern auch einem moralischen Vorurteil unterlag. Einige „catonische Sittenlehrer“, so Baumgartens Schüler und Freund Georg Friedrich Meier, 91

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Aesthetica aber die Funktion, die natürliche Disposition eines „felix aestheticus“ oder „esprit créateur“, wie Baumgarten auch sagt, zu beschreiben, worunter – jedenfalls mit Baumgarten – nicht jeder Mensch zu verstehen ist. Die Zuschreibung „felix aestheticus“ an uns alle,95 ist m.E. ohne weiteres schon deshalb nicht haltbar, weil mit dieser Zuschreibung die Differenz eingeebnet würde, die Baumgarten in der Wissenschaftssprache seiner Zeit mit der Unterscheidung zwischen dispositio und habitus ausdrücklich geltend macht. Erst im Vollzug des pulchre cogitare werden die kreativen Fähigkeiten – Einbildungs-, Dichtungskraft, Witz, Scharfsinn, Urteilskraft, wie auch die Fähigkeit zu bezeichnen – habituell, und zwar durch Übung (exertatio), Korrektur (correctio), Begeisterung (impetus aesthetica) und durch die Orientierung an schöner Gelehrsamkeit (pulchra eruditio).96 Es wäre ein eigenes Thema, die Schritte der Ausbildung der natürlichen Anlagen „ut habitus pulchre cogitandi sensim acquiratur“ nachzuvollziehen97 und auch diese aus der Rhetorik aufgelesenen Bausteine, mit deren Hilfe Baumgarten die ästhetische Praxis begreift, ausdrücklicher als das bisher geschehen ist, in die Gesamtstruktur der Aesthetica einzubinden. Nachdem die erste vollständige deutsche Übersetzung dieses in schwer zugänglichem Latein geschriebenen Buches nunmehr vorliegt, werden diese Abschnitte und auch der zweite Teil, der bisher kaum gewürdigt worden ist, hoffentlich mehr ins Blickfeld der Forschung geraten, so daß die Funktion der Sinnlichkeit als Quelle der künstlerischen Erkenntnis im Gesamtzusammenhang der Aesthetica weiter erhellt werden kann. Ein sicher lohnendes aber anderes Thema ist es, das schon von Ernst Cassirer in seinem Buch über Die Philosophie der Aufklärung (1932) geltend ge-

konnten beim Wort Sinnlichkeit „nichts weiter denken, als die Erbsünde und dasjenige, was die Schrift Fleisch nennt“ (vgl. Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften, 3 Bde. (1748–1750), Nachdr. Hildesheim 1976, Bd. 1, 35). Vgl. Ursula Franke, Bildung/Erziehung, ästhetische, in: Ästhetische Grundbegriffe (wie Anm. 20), Bd. 1, 696–726, bes. 703–707; vgl. die Rezension von Liebsch (wie Anm. 20), 141 f. 95 So Steffen W. Groß, Felix Aestheticus: Die Ästhetik als Lehre vom Menschen. Zum 250. Jahrestag des Erscheinens von Alexander Gottlieb Baumgartens ‘Aesthetica’, Würzburg 2001, 163–174. 96 Vgl. Ästhetik, §§ 62–103. Die Differenz zwischen der Disposition und der Habitualisierung der die Sinnlichkeit fundierenden kreativen Fähigkeiten bleibt unberücksichtigt, wenn Arbogast Schmitt (Die Entgrenzung der Künste durch ihre Ästhetisierung bei Baumgarten, in: Gert Mattenklott [Hg.], Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich [Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 2004], 55–71) meint, Baumgarten erwarte „nicht wenig“ von der „Kraft der sinnlichen Erkenntnis“ (ebd., 56). 97 Ästhetik, § 47.

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machte kulturphilosophische Potential der ästhetischen Theorie Baumgartens im Hinblick auf gegenwärtige Fragestellungen zu untersuchen.98 Mit der Interpretation der Sinnlichkeit als Quelle der künstlerischen Erkenntnis und ihres Ausdrucks wird Baumgartens Bestimmung der Ästhetik als „scientia sensitivae cognitionis“ im Kontext der Aesthetica aufgenommen und das „pulchre cogitare“, ein Schöndenken oder poetisches Denken als Verfahren der künstlerischen als einer sinnlichen Erkenntnis aufgefaßt. In Baumgartens Aesthetica – so meine These – zeichnet sich bereits ein Verständnis der Kunst als Darstellung oder Repräsentation des Absoluten ab, wie es dann in den Kunstphilosophien des Deutschen Idealismus ausdrücklich zum Tragen kommt. Diese Lesart, die der Interpretation der Aesthetica im Kontext des Verständnisses der Ästhetik als Aisthetik entgegengestellt wird, versteht sich sowohl vor dem Hintergrund des philosophischen Erkenntnisinteresses an der Einheit der Vernunft, das in aller Schärfe in Kants kritischer Philosophie aufgebrochen ist, als auch auf der Folie der neuzeitlichen europäischen Kunstphilosophie und Kunsttheorie, die von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert ausgebildet wurde und einen Wandel des Kunstbegriffs mit sich brachte, dessen Entstehung das zentrale Problem der modernen Ästhetik und ihrer Historiographie darstellt. Zunächst wird die sinnliche Erkenntnis im Zusammenhang mit der neueren Baumgartenforschung und dabei auch im Kontext des Verständnisses der Ästhetik als Aisthetik in den Blick genommen (1) und an Baumgartens Erläuterung des Wortes ‘Ästhetik’ erinnert (2). Nach einer Skizze des kunst- und dichtungstheoretischen Horizonts (3) wird die zeichentheoretische Fundierung und die erkenntnispsychologische Struktur der sinnlichen als einer künstlerischen Erkenntnis dargelegt (4) und im Licht des philosophischen Erkenntnisinteresses an der Einheit der Vernunft die erkenntnistheoretische Funktion, die der sinnlichen Erkenntnis im Gesamtzusammenhang der Aesthetica zukommt, erörtert, wobei insbesondere auch die metaphysische Rückbindung geltend zu machen ist (5). Abschließend wird unter Berücksichtigung aktueller Forschungsergebnisse nach den Konsequenzen für die Interpretation der Aesthetica gefragt (6). The interpretation of sensuality as origin of artistic cognition and its expression takes up Baumgarten’s definition of aesthetics as „scientia sensitivae cognitionis“ in the run of Aesthetica. Also, this interpretation reads the „pulchre cogitare“ as the procedure of artistic viz. sensual cognition. It is my thesis that in Baumgarten’s Aesthetica emerges the concept of art as expression/representation of the Absolute,

Vgl. Steffen W. Groß, „Felix Aestheticus“ und „animal symbolicum“. Alexander G. Baumgarten – die „vierte“ Quelle der Philosophie Ernst Cassirers?, in: Schwerpunkt Baumgarten (wie Anm. 16), 275–298. Vgl. S.W. G, Felix Aestheticus (wie Anm. 95), Teil 3 (Aesthetica: Eine Philosophie für die Kulturwissenschaften). Siehe auch Anselm Haverkamp, Wie die Morgenröte zwischen Nacht und Tag. Alexander Gottlieb Baumgarten und die Begründung der Kulturwissenschaft in Frankfurt an der Oder, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2002), 3–26. 98

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which develop the idealistic philosophies of art explicitly. Therefore, this thesis is opposed to a reading of Baumgarten as partisan of the aesthetics-as-aistheticstheory. On the contrary, it puts Baumgarten’s work in the context of the question of reason’s unity as well as against the background of modern philosophy and theory of art back from Renaissance until early 19th century. The first parts discuss the concept of sensual cognition in the context of newer research on Baumgarten and the theory of aesthetics as aisthetics as well (1) reminding Baumgarten’s own explanation of the word ‘aesthetics’ (2). Having sketched the aesthetical and poetological background (3) I show the semiotic foundations and the psychologic structure of sensual viz. aesthetic cognition (4). The next step treats the epistemological function of sensual cognition in the light of the problem of reason’s unity connected to the whole of the Aesthetica and its metaphysical sources (5). Finally, I ask for conclusions concerning the interpretation of the Aesthetica with regard to actual results of research (6). Dr. Ursula Franke, Möserweg 5, 48149 Münster, E-Mail: [email protected]

F RANCESCO P I SE L L I Ästhetik und Metaphysik bei Alexander Gottlieb Baumgarten

Car j’installe, par la science, L’hymne des cœurs spirituels. (Mallarmé)

Um es in einem Bild auszudrücken: Ich möchte mit meinem Beitrag zu diesem Jahrbuch der Aufklärung, das Baumgartens theoretischem Werk gewidmet ist, gleichsam eine Münze in die Hand nehmen, die auf der einen Seite das Bild von Aristoteles trägt, auf der anderen Seite das von Homer, das Bild des Seins und das Bild der poetischen Existenz. – Oder sind beide dasselbe?

I. Überlegungen zu Ästhetik und Metaphysik Bei der Beschäftigung mit Baumgartens Philosophie ist, so scheint mir, oft auch die Gegenwart einer weiteren, nicht greifbaren, aber deshalb nicht weniger lebendigen Person spürbar: die Gegenwart von Benedetto Croce. Es ist schon wahr, unsere jetzigen philologischen Kriterien stimmen nicht mehr überein mit den von ihm hervorgebrachten oder mit seinem Namen verbundenen Editionen der Meditationes und der Aesthetica, insbesondere heute, angesichts der ersten vollständigen lateinisch-deutschen Ausgabe der Aesthetica von Dagmar Mirbach. Ich möchte hinzufügen: Die Interpretation von Baumgarten durch Benedetto Croce muß, wenn sie auch in ihrer Art sehr genau ist, erneut diskutiert werden. Doch wenn ich hier den Namen von Benedetto Croce nenne, dann deshalb, weil er mit einem provokanten, doch gewissermaßen entscheidenden Satz in das Zentrum unserer Diskussion führt: Wenn er nämlich sagt, daß Baumgarten sehr wohl das Wort ‘Ästhetik’ erstmals geprägt und in Umlauf gebracht habe, daß dieser Name aber ‘leer’ sei, weil ‘dem philosophischen Rüstzeug der starke Körper und das Fleisch’ fehle. Die Fragestellung des Themas „Ästhetik und Metaphysik bei Baumgarten“ würde sich damit also schon

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darin auflösen, daß man sagen müßte, die Philosophie dieses Autors könne uns keine Ästhetik bieten, die wirklich fundiert ist. Insbesondere in unserer Zeit könnte es sicher von anderer Seite auch jemanden geben, der zwar insgesamt der These von Croce zustimmen, doch zugleich sagen würde, daß uns Baumgarten sehr wohl eine Ästhetik bietet, die nicht nur ein ‘leerer Name’, sondern sozusagen ‘wohlgenährt’ und gewichtig ist, aber behaftet mit einer Metaphysik, die man lieber ignorieren sollte, weil sie mühselig und antiquiert ist. Noch radikaler könnte jemand sagen: Alles Metaphysische schadet der Ästhetik, weil es versucht, sie in Zwang zu nehmen, weil es versucht, sie der Gemeinschaft mit dem Leben der Kunst zu entziehen, der Kunst, die es in ihrer fortwährenden und unvorhersehbaren Originalität nicht erlaubt, Modelle und Schemata anzunehmen, die durch eine metaphysische Weltsicht scheinbar aufgezwungen werden. Und wiederum noch radikaler könnte man sagen: Nichts, was metaphysisch ist, hat einen Sinn. Die Metaphysik hat – auch und gerade in Bezug auf die Ästhetik – ausgedient. Angesichts solcher Thesen – die gleichwohl eine gewisse Faszination haben können – müssen wir eine große Anstrengung unternehmen, um der Frage nach dem Verhältnis von Metaphysik und Ästhetik auf den Grund zu gehen – aber es ist eine notwendige Anstrengung von entscheidender Wichtigkeit. II. Ein Vorschlag Mein Vorschlag ist der folgende: Die Ästhetik – in den Begriffen Baumgartens gedacht –, mag sie konzeptionell noch so sehr ein Teil der Metaphysik sein und noch so viele metaphysische Begriffe enthalten, hat mit der Metaphysik formal nichts zu tun. Die Ästhetik ist vielmehr eine Psychagogie, die der menschlichen Seele ganz unerwartete Möglichkeiten des Verstehens des Seins darbietet, ein Verstehen, das zuvor nur dem logischen Argumentieren vorbehalten war. Und in dieser Entfaltung von Möglichkeiten des Verstehens des Seins besteht die eigentliche Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis (cognitio sensitiva) und des poetischen Denkens, die das Ziel der Ästhetik ausmacht. III. Editorisches Beginnen wir mit einigen editorischen und redaktionellen Tatsachen. Betrachten wir Baumgartens Metaphysica und seine Aesthetica. Die erste erscheint seit 1739, umfaßt genau 1000 Paragraphen, und schließt auf wunderbare und großartige Weise mit dem feierlichen Gedanken an Gott, dem immerdar „Ehre, Name und Lob gebühren“ (cuius semper honos, nomen, laudesque manebunt).

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Der Erstausgabe der Metaphysica folgen, wie wir wissen, bis 1779 insgesamt sechs Wiederauflagen des Werks, zum Teil noch einmal überarbeitet, verbessert und ergänzt. Wenn wir nun einfach sagen würden, daß die Metaphysica Baumgartens eine Psychologie (Pars III) enthält, die auch eine Behandlung der Ästhetik einschließt, wären wir schon am Ende unserer Diskussion: Denn das Verhältnis zwischen Metaphysik und Ästhetik wäre dasselbe wie das zwischen einem Ganzen und seinem Teil. Aus redaktioneller Sicht kann dies auch durchaus wahr sein, doch unter anderen Aspekten verhalten sich die Dinge nicht so einfach. Was Baumgartens Aesthetica betrifft, so erscheint sie nur in einer einzigen Ausgabe, unterteilt in zwei Teile, erschienen 1750 und 1758, in 903 Paragraphen. Das große Vorhaben des Autors blieb fragmentarisch, ist nie vollendet worden – und so spricht auch der letzte Satz von einem „Übergang“, der auf anmutige Weise beschritten werden soll (si venuste transeas)1 – der Übergang zur Vollendung blieb für die Aesthetica als Werk jedoch aus. In seiner Metaphysica opfert Baumgarten jede literarische Ambition der präzisen und – wie er sagt – ‘logikodogmatischen’ Überlegung, und er beschränkt sich in ihr darauf, in äußerst gedrängter, konziser (akroamatischer) Form Begriffe darzulegen und Argumente zu verknüpfen. In seiner Aesthetica hingegen, die ganz in der ‘ästhetikodogmatischen’ Denkungsart geschrieben und bisweilen auch – im wahrsten Sinne – ‘ausgeschmückt’ (ornata) ist, schreibt Baumgarten in einem ausführlichen und reichen Stil, bringt Beispiele, Erklärungen, Zitate von philosophischen Autoritäten und natürlich von Gewährsmännern der rhetorischen und literarischen Tradition, flicht manchmal Scherze ein – kurzum, er bemüht sich, in einem sehr angenehmen, eingängigen Stil zu schreiben. Der Text ist in einem solchen Maße angereichert mit Anschauungsmaterial aus der klassischen Dichtung, daß man das Werk auch als ein Kompendium der lateinischen Literatur bezeichnen könnte – mit einigen Anleihen auch aus dem Griechischen (vor allem Longin). So ist Baumgartens Aesthetica umfangreicher als seine Metaphysica. Obwohl sie nicht vollendet ist und weniger, nämlich 903 gegenüber 1000 Paragraphen enthält, umfaßt sie insgesamt etwa 92 000 Wörter gegenüber den nur 55 000 Wörtern der Metaphysica. Anzumerken ist: Wir dürfen nicht vergessen, daß Baumgarten in seiner Metaphysica – mit einigen wichtigen eigenen Ergänzungen und Modifikationen – das Gedankengut ausarbeitet, das bei Leibniz, Wolff und deren Dioskuren schon fest begründet war. In seiner Aesthetica aber, und nur dort, beschreitet er – natürlich ohne auf den notwendigen, fundamentalen Rückbezug zur Metaphysica zu verzichten, wie schon aus dem überaus häufigen Auftreten der 1

MetaphysikA, § 1000.

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Sigle ‘M.’ als Rückverweis auf die Metaphysica innerhalb der Paragraphen der Aesthetica ersichtlich ist – einen Weg zu einer viel größeren, von ihm offenbar auch ganz persönlich geschätzten Beredsamkeit.

IV. Die Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus Die genannten editorischen und philologischen Einzelheiten sind verknüpft mit einem akademischen Datum. Im Februar 1735 gibt Baumgarten, einundzwanzigjährig, an der Universität Halle seine disputatio inauguralis ein, um den Grad des Magisters der Philosophie zu erlangen. Die Arbeit behandelt die Begriffe des Hohen und Niedrigen in der Heiligen Schrift;2 Baumgarten verwendet in ihr testamentarische Zeugnisse, macht zahlreiche Anmerkungen zur lokalen biblischen und allgemeinen Geographie, beruft sich auf antike und moderne Autoritäten, verwendet Elemente der allgemeinen zeitgenössischen Bildung und stellt etymologische Überlegungen an – alles mit der Stärke seiner seriösen theologischen Bildung und begleitet von einer ehrfurchtgebietenden persönlichen Frömmigkeit. Doch um einen Zugang zur akademischen Laufbahn zu erhalten, muß Baumgarten im September desselben Jahres seine philosophischen Kompetenzen noch besser unter Beweis stellen, nämlich mit seinen berühmten Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus, mit denen er zugleich die Ausrichtung seiner Forschungen vollkommen wandelt. Die wenigen Spuren seiner profunden Kenntnis der Heiligen Schrift sowie des Hebräischen zeigen sich in einigen seiner Lehrveranstaltungen und in seinen theologischen Arbeiten (die insgesamt noch zu entdecken und zu würdigen sind), während er als junger Autor seine philologische Heimstatt in Rom bzw. Athen und seine philosophische Heimat unterdessen in der Tradition der Wolffischen Metaphysik findet. Ich kann an dieser Stelle nicht näher auf die Meditationes eingehen. Man kann sie wirklich als einen mikrokosmischen Spiegel bezeichnen, in Form einer Abhandlung zu allgemeinen poetologischen Fragen,3 die

Disputatio chorographica inauguralis, Notiones superi et inferi, indeque adscensus et descensus in chorographiis sacris occurentes, evolvens quam ex amplissimi philosophorum ordinis decreto […], Halle 1735. 3 Schon 1734 hatte sein Unterricht der Logik und Poetik Baumgarten die erste Gelegenheit gegeben, die philosophische Methode für die Aufgabe anzuwenden, die er nun in den Meditationes zur Ausführung bringt; um, wie Meier es formuliert, die sogenannten schönen Wissenschaften in eine wahrhaft wissenschaftliche Form zu überführen; oder, wie Abbt an einer Stelle bemerkt, um eine Metapoetik zu erstellen, welche die Regeln fest begründen sollte, von denen die Dichter gleichsam wie in einem Dämmerlicht Gebrauch machen. Abbt fügt hinzu, daß Baumgarten, indem er sich daran machte, die neue Wissenschaft vorzustellen, einem von jenen Geschöpfen gleich 2

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jedoch gleichwohl überaus wirkungsmächtige theoretische Reflexionen hervorbringt und in sich vereint, die zu diesem Zeitpunkt zwar sozusagen noch von den herangezogenen Gewährsmännern ‘geliehen’ sind, aber dennoch bereits das enthalten, was Baumgarten vier Jahre später in seiner Metaphysica systematisieren wird. Es soll genügen, noch einmal explizit zu sagen, daß es die Meditationes sind, in denen Baumgarten den Namen der Ästhetik prägt4 und ihren Begriff im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Erkenntnis und der Erkenntnismitteilung entwickelt.

V. Die organische Philosophie Das Bild festigt und erweitert sich allmählich unter dem Titel der ‘organischen’ Philosophie (philosophia organica), einer Wissenschaft, die in der Art konzipiert ist, daß sie ein Instrument für jedweden philosophischen Fortschritt darstellen soll, sei dieser rein theoretischen Charakters (als philosophia theoretica, metaphysica) oder bezogen auf die Ausrichtung und Interpretation praktischer Handlungen (als philosophia practica). Die von Baumgarten projektierte organische Philosophie umfaßt in ihrem Entwurf, getragen von einer vorangehenden und grundlegenden allgemeinen Philologie, zwei Teile: die Logik und die Ästhetik. Die Logik setzt sich mit Verfahrensweisen im Umgang vor allem mit Gegensätzen, zum anderen mit möglichen Vermittlungen zwischen Gegensätzlichem auseinander. Eine solche Logik verlangt eine deutliche Erkenntnis seitens des Geistes (der Seele, der Erkenntnisvermögen, der Vorstellungskraft, vis repraesentativa), die fähig ist, die Unterschiede des Seienden (discrimina entis) in dessen Erscheinung zu erfassen, um diese Unterschiede analytisch und argumentativ in immer präziseren Bestimmungen zu durchdringen und zu ordnen. Es handelt sich hierbei um das Zuständigkeitsgebiet des Verstandes (intellectus), um den Bereich der oberen Erkenntnislehre (gnoseologia superior) – einen Bereich, der Baumgarten im Hinblick auf die Entdeckung von philosophisch Neuem als nicht besonders interessant erscheint. Und zugleich weiß er aufgrund seiner hervorragenden literarischen Bildung, daß bei vielen bedeutenden Vorkommnissen der Geist die Verfaßtheit des jeweils Erscheinenden gar nicht differenziert erfassen kann und es daher unternimmt, dieses Erscheinende eben nicht analytisch zu fragmentieren, sondern seine jeweilige Identität zu glänzenden Gestalten gerinnen zu lassen und diese immer wieder gewesen sei, die, aufgewachsen in einem fremden Umfeld, ihr Eigenes suchen, das ihnen vollkommen unbekannt ist. 4 Vgl. Meditationes, §§ CXV–CXVII.

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neu zusammenzusetzen. Es handelt sich hierbei um das Gebiet dessen, was Baumgarten den Bereich der sinnlichen Erkenntnis (des Sinnes, sensus, der Einbildungskraft, phantasia, des Dichtungsvermögens, facultas fingendi) nennt, den Bereich der unteren Erkenntnislehre (gnoseologia inferior), die ich zusammenfassend als Bereich des poetischen Vermögens bezeichnen möchte. Es ist klar, daß diese Neueinteilung zum einen auf einer universellen Ontologie der Identität und Differenz basiert und daß sie zum anderen auf einen überaus reichen Vorrat an Vorgaben aus der Psychologie rekurrieren kann. Die Ästhetik betrachtet Baumgarten innerhalb der organischen Philosophie als ‘Wissenschaft des Erkennens und Darstellens’ (scientia cognoscendi et proponendi),5 er betrachtet den Denkakt in seiner unlöslichen semiotischen Verbindung mit dem diesen mitteilenden Sprechakt, und er wendet daher die allgemeine Philologie auf das Sammeln jeder Erkenntnis an, die für die sprachliche Kommunikation von Bedeutung ist, sei diese nun in schriftlicher oder mündlicher Form übermittelt. Indem Baumgarten also die Philologie mit Prämissen der philosophischen Psychologie verbindet, eröffnet er damit ein unglaublich weites Spektrum an Wissenschaften, die – in der Verbindung von cognoscere und proponere – zugleich als Künste verstanden werden, ein Spektrum, das, wie es in den Meditationes bereits anklingt, auch gewisse bizarre Aspekte enthalten kann, wie aus den Überschriften der projektierten Abschnitte der Sciagraphia Encyclopaediae Philosophicae (1769) und der Philosophia generalis (1770) hervorgeht.

VI. Eine Anmerkung zu Baumgartens Metaphysik Nähern wir uns nun der Metaphysik Baumgartens, wie sie in seiner Metaphysica dargelegt ist. Das Erscheinen ist ein Erstes und bürgt für das Sein. Das Mögliche (possibile), das sich der ontologischen Vorkenntnis zeigt, ist ein mögliches Erscheinendes, oder besser, mit den Worten Baumgartens: ein Darstellbares (repraesentabile). Das Mögliche kann nur, gemäß dem Satz vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten, jeweils das eine oder das andere von zwei sich wechselseitig ausschließenden Entgegengesetzten sein. Man kann es das Nur-Mögliche nennen. Ein anderes ist das possibile secundum quid, ein Mögliches, das in sich widerspruchsfrei, aber an besondere Bedingungen gebunden ist. Durch zunehmende Bestimmtheit geht das Nur-Mögliche über in ein Seiendes, vom Sein als Nur-Möglichem und vom Sein als nur bedingt Möglichem zum Sein als durchgängig bestimmtem Seiendem. Etwas, von dem man sich ausschließendes Entgegengesetztes (daß es A und zugleich non5

Vgl. MetaphysikB, § 533.

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A wäre) prädizieren wollte, ist kein Darstellbares, es kann nicht erscheinen, mithin hat es kein Sein (realitas) und kann folglich auch nicht zur Existenz (existentia) gelangen. Daraus ist leicht auch abzuleiten, daß, wenn ein Mögliches und als ein solches notwendig Widerspruchsfreies ist, dieses immer einen Grund und Folgen besitzt, während das Nicht-Mögliche, das in sich Widersprüchliche überhaupt, keinen Grund im Sein hat und keinerlei Folgen zeitigt. Auf der schmalen Grundlage dieser Prinzipien entwickelt Baumgarten in seiner Metaphysica die Ontologie, Kosmologie, Psychologie und natürliche Theologie in großartiger begrifflicher Vielfalt und Dichte. Aber nicht wirklich bis zur Schau der einfachen Substanzen je für sich, eine Schau, die dem Menschen nicht möglich ist. Man gelangt vielmehr gleichsam zu einem metaphysischen Traum der Vereinigung von einfachen monadischen Substanzen, die alle gleich und alle verschieden sind, die in ihrem Sein begründet sind und dennoch in ein unerschöpfliches Werden eingehen, die alle im Zustand eines dunklen, transfiniten, darstellenden Widerspiegelns des Universums sind. In diesen dunklen, das Sein der Dinge widerspiegelnden Korrespondenzen ruht der verborgene Schatz der Bestimmungen, die der klaren Erkenntnis noch nicht zur Verfügung stehen. Mit Baudelaire würden wir sagen: Comme de longs échos qui de loin se confondent Dans une ténébreuse et profonde unité, Vaste comme la nuit et comme la clarté, Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.6

Aber aus dieser dunklen und tiefen Einheit der das Sein widerspiegelnden Monaden kommen manche Geister (spiritus), auch sie Monaden und privilegierte Spiegel des Universums, hie und da hervor und entzünden ihre Gedanken (cogitationes, repraesentationes) – Gedanken, die mehr oder weniger bewußt oder unbewußt, mehr oder weniger deutlich oder synthetisch, die reich, umfassend, brillant sind. Diese Geister sind die Adressaten der Ästhetik.

VII. Der Einzug der Schönheit Lesen wir die Definition der Ästhetik in der Metaphysica, nach dem Text der vierten Auflage von 1757: Scientia sensitive cognoscendi et proponendi est aesthetica* (logica facultatis cognoscitivae inferioris, philosophia gratiarum et musarum, gnoseologia inferior, ars pulcre co-

6

MetaphysikA, § 1000.

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gitandi, ars analogon rationis). *Die Wissenschaft des Schönen.7

Und nehmen wir die Definition vom ersten Paragraphen der Aesthetica hinzu: Aesthetica (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis) est scientia cognitionis sensitivae.8

Das Programm einer organischen Philosophie wird von Baumgarten gänzlich eingehalten, doch mit einigen begrifflichen Zusätzen, von denen einer entscheidend ist: der Begriff der Schönheit. Aus der Metaphysica entnehmen wir, daß Schönheit nichts anderes sein kann als Vollkommenheit – mit dem bedeutenden Epitheton ‘erscheinend’, nämlich als ‘erscheinende Vollkommenheit’: Perfectio phaenomenon, s. gustui latius dicto oberservabilis, est PULCRITUDO* […]. * Schönheit.9

Die Ästhetik als Wissenschaft des sinnlichen Darstellens (scientia sensitive proponendi) tritt hier ein wenig hinter die Ästhetik als Wissenschaft des sinnlichen Erkennens (scientia sensitive cognoscendi) zurück. Insofern die Ästhetik Kunst des schönen Denkens (ars pulcre cogitandi) ist, ist die Vollkommenheit eine Qualität, die mehr die Gedanken als die Form von deren Äußerung auszeichnet: Sie bezieht sich mehr auf die verschiedenen Denkarten (genera cogitandi) als auf verschiedene mögliche Schreibarten (genera scribendi). Hier wäre – worauf in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden kann – ein Diskurs zu eröffnen über die jedem Autor individuell eigene Ausrichtung, in der er seine dichterischen Gedanken faßt, doch es liegt nun vielmehr dringender an, einige wenige Worte zur Metaphysik der Vollkommenheit zu sagen.

VIII. Die Vollkommenheit Der grundlegendste ontologische Ausgangspunkt ist, daß das Sein als vieles Seiendes gegeben ist. Es gibt kein nur eines, unitäres Sein, wie dies Parmenides oder Spinoza angenommen haben.10 Wenn die Seienden vielheitlich sind und wenn sie als solche in ihrem Werden frei sind, dann können sie in ihrer MetaphysikB, § 533; die mit einem Asterisk gekennzeichnete deutsche Übersetzung stammt von Baumgarten, wie er sie durchgängig für zahlreiche lateinische Begriffe ab der 4. Auflage der Metaphysica (1757) dem lateinischen Text angefügt hat. 8 Ästhetik, § 1. 9 MetaphysikB, § 662; deutsche Übersetzung von Baumgarten. 10 Baumgarten wurde während seiner Studienzeit des Spinozismus bezichtigt, wie die von ihm anonym herausgegebenen Philosophischen Brieffe von Aletheophilus (Frankfurt, Leipzig 1741) zeigen. 7

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Vielheit zusammenstimmen und zusammen den zureichenden Grund eines Einen ausmachen. Dieses Zusammenstimmen des Vielen zu Einem macht die Vollkommenheit aus, deren bestimmender Grund (ratio determinans) und gleichsam „Grund oder Brennpunct der Vollkommenheit“ (focus perfectionis) eben dieses Eine ist, zu welchem die Vielen zusammenstimmen.11 Es ergibt sich daraus von selbst, daß die Vollkommenheit durch eine gewisse Ordnung bestimmt ist und daß diese Ordnung erhöht wird, je mehr deren Regeln untereinander übereinstimmen; wenn verschiedene Regeln kollidieren (was passieren kann, wenn die Vollkommenheit eine aus verschiedenen, unterschiedlichen Regeln folgenden Vollkommenheiten zusammengesetzte ist), dann sind bezüglich der einzelnen Vollkommenheiten Ausnahmen zu machen. Doch bei der Vollkommenheit ist immer die beste aller Regeln maßgebend. Daher sagen wir, daß die Ausnahme (das Absehen von einer einzelnen Vollkommenheit) die Regel (der Vollkommenheit des Ganzen) bestätigt. Die Voraussetzung dieses Begriffs von Vollkommenheit erhellt damit auch sogleich, daß in Baumgartens Ästhetik und bei seinem Verständnis von Schönheit jede umstürzlerische Tendenz, jedes pure Glückspiel oder jeder coup des dés, an die uns unsere zeitgenössische Kunst so gewöhnt hat, von vornherein ausgeschlossen ist.12

MetaphysikB, § 94; zitiert wird Baumgartens deutsche Übersetzung. Eine Uhr ist vollkommen, wenn die Bewegungen ihrer einzelnen Rädchen zur Bewegung der Zeiger zusammenstimmen, proportional oder gleichzeitig zur Bewegung der Sonne; das sittliche Leben ist vollkommen, wenn alle freien Handlungen unter sich und mit den natürlichen Handlungen zu Einem zusammenstimmen; die Vollkommenheit der Welt besteht in der Übereinstimmung aller Zwecke zum Ruhm Gottes. 12 Es gibt verschiedene Grade von Vollkommenheit. Je größer die Übereinstimmung ist, um so größer ist die Vollkommenheit; und die Übereinstimmung ist um so größer, je zahlreicher und je verschiedener das ist, was zur Übereinstimmung gelangt. Eine Uhr ist um so vollkommener, je mehr je verschiedene Rädchen zur Bewegung der Zeiger zusammenstimmen; ein Fenster, das nur Licht einläßt, ist weniger vollkommen als eines, bei dem auch der Blick nach draußen und seine Proportionen im Verhältnis zu den übrigen Teilen des Gebäudes berücksichtigt sind. Und um auf das ontologisch Seiende zurückzukommen: Die Übereinstimmung seines Verhältnisses zu anderen (relationes) ist seine äußere, die Übereinstimmung seiner anderen Bestimmungen ist seine innere Vollkommenheit. Seine wesentlichen Bestimmungen (essentialia) stimmen zu seinem Wesen (essentia) zusammen, und diese und die übrigen inneren Bestimmungen (attributa) stimmen in der Einheit von Grund (ratio) und Gegründetem (rationatum) miteinander überein. Daraus ergibt sich, daß ein Seiendes transzendental vollkommen ist. Es ist aber nicht auch seiner Existenz nach vollkommen, wenn, was geschehen kann, die Übereinstimmung seiner inneren Bestimmungen (essentialia, attributa) zwar gegeben ist, die Übereinstimmung seiner äußeren Bestimmungen, wozu bedingt seine zufälligen Bestimmungen (modi) und immer sein Verhältnis zu anderen (relationes) zählen, hingegen fehlt. 11

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IX. Die Vollkommenheit der Erscheinung (perfectio phaenomenon) Die Vollkommenheit, die für die Ästhetik unter dem Namen der Schönheit von Interesse ist, muß, als welche sie Baumgarten nachdrücklich bestimmt, eine sinnlich wahrnehmbare, erscheinende Vollkommenheit sein: die Vollkommenheit der Erscheinung (perfectio phaenomenon). Daß die Vollkommenheit im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren zur Erscheinung gelangen muß, ist offensichtlich, denn ein nicht wahrnehmbares Vollkommenes kann nicht Gegenstand der Dichtung sein, und es kann dies um so weniger, als Baumgarten – von gerechtfertigten Ausnahmen abgesehen – in der Dichtung einen größtmöglichen Grad an Klarheit verlangt. Nicht sinnlich wahrnehmbar ist eine Vollkommenheit, die nur durch den analysierenden Verstand erkannt werden kann, weshalb die Rede von der ‘Erscheinung’ oder der Wahrnehmung der ‘erscheinenden Vollkommenheit’ immer zugleich einen vor-logischen oder nichtlogischen Zustand bezeichnet, in dessen Bereich auch – und dies sind dessen interessanteste Inhalte – poetische Fiktionen fallen. Oder anders formuliert: Das phaenomenon ist das synthetische Erscheinen eines Seienden, dessen Bestimmungen noch nicht analytisch herausgearbeitet sind, es wird schlicht als das belassen, als was es erscheint, oder es wird poetisch in einer reicheren Fülle von auch hinzugedichteten, nur möglichen Bestimmungen zu einem dann den Charakter des Fabelhaften besitzenden Seienden ausgearbeitet. Doch in jedem Fall bedeutet die Vollkommenheit der Erscheinung keinen Verlust an Wirklichkeit oder ein Verlassen der Wirklichkeit. Auch die individuellen discrimina entis verlieren sich in der Erscheinung nicht, sie bleiben vielmehr in ihr aufgehoben dank einer weiteren Fähigkeit des unteren Erkenntnisvermögens oder analogon rationis: dem sinnlichen Urteilsvermögen (iudicium sensitivum, gustus significatu latiori),13 das die unterschiedlichen Grade von Vollkommenheit – des Zusammenstimmens der Vielheit der Bestimmungen eines Seienden zu Einem – in den Erscheinungen auszumachen in der Lage ist.

X. Der Anspruch auf Wirklichkeit Vollkommenheit, und damit auch die Vollkommenheit des Gedankens, impliziert nichts anderes als Wirklichkeit. Eine Übereinstimmung von negierten, nicht wirklichen Bestimmungen wäre ein Nichts, und auch die Bestimmungen selbst wären Bestimmungen von nichts. Auf der Ebene der Erscheinung, des phaenomenon, müssen also – jeweils höchstmöglich entfaltet und untereinander übereinstimmend – die Wirklich13

Vgl. MetaphysikB, §§ 606–609.

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keitskriterien der Erkenntnis zusammenkommen. Baumgarten nennt insgesamt sechs: Reichtum (ubertas), Größe (magnitudo), Wahrheit (veritas), Licht (lux, in der Bedeutung von Klarheit, claritas), Überredung (persuasio)14 und Leben oder Lebendigkeit (vita, bezogen auf die Rührung oder die Erweckung von Affekten). Alle diese Wirklichkeitskriterien der Erkenntnis sollen am Ende in der letzten, in der Lebendigkeit der Erscheinung, kumulativ zur Übereinstimmung gelangen – doch gerade der Abschnitt der Behandlung dieses letzten, maßgeblichen Kriteriums fehlt in dem fragmentarisch gebliebenen Teil von Baumgartens theoretischer Ästhetik – behandelt werden nur die ersten fünf in der genannten Reihenfolge: Reichtum, Größe, Wahrheit, Licht und Überredung. XI. Wahrheit Wenigstens zum Wirklichkeitskriterium der Wahrheit seien einige Worte gesagt. Denn wenn die Wahrheit fehlt – was wir in einem solchen Fall ohne weiteres bemerken würden –, fällt das ganze Gebäude der Vollkommenheit in sich zusammen. Metaphysisch kann die objektive Wahrheit, die Wahrheit der Sache selbst, nur im Wesen des möglichen Seienden (possibile) begründet sein. Denn schon ein Mögliches wäre kein solches, wenn es nicht den Prinzipien des ausgeschlossenen Widerspruchs und des zureichenden Grundes folgte. Es hat bereits das Gesamt an Bestimmungen, die es genau zu diesem und zu keinem anderen möglichen Seienden machen. Doch in der Überführung eines objektiv möglichen Seienden in dessen subjektive Vorstellung können – und dies geschieht tatsächlich nicht selten – Fehler und Verwirrungen unterlaufen. Ich möchte hier nicht die erkenntnistheoretisch problematische Verbindung von Sein und Vorstellung diskutieren, doch ich möchte feststellen, daß die ästhetische Fiktion, die pulcra cogitatio, sich unmittelbar dem Geist, der sie in der Vorstellung hervorgebracht hat, offenbart; die metaphysische Wahrheit der Erscheinung erscheint in derselben als eben genau das, was sie ist.

Baumgarten unterscheidet ebd., § 531, in seiner deutschen Übersetzung der lateinischen Termini explizit die sinnliche Gewißheit als ‘Überredung’ (persuasio) von der verstandesgemäßen Gewißheit als ‘Überzeugung’ (convictio). Persuasio wird daher hier konsequent mit Baumgarten mit ‘Überredung’ übersetzt. 14

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XII. Das Nichts und das Etwas Wir sind an dieser Stelle unmittelbar an die ersten Sätze der Ontologie der Metaphysica verwiesen. Nihil negativum – was bedeutet das?15 Tatsächlich bedeutet es, ‘gar nichts’, überhaupt nicht zu sein. ‘Gar nichts’ sein ist gleichbedeutend mit dem grundsätzlichen Mangel, ‘nicht vorstellbar’ (irrepraesentabile) zu sein, und um zu vermeiden, ihm eine irgendwie geartete Seiendheit zuzusprechen, streichen wir auch das Seinsprädikat und bezeichnen es einfach als ‘gar nichts, unvorstellbar’ (nihil negativum, irrepraesentabile). Andererseits bedeutet dies, daß, wenn wir das Seinsprädikat gebrauchen, die Voraussetzung gegeben sein muß, daß etwas ist: Einiges ist etwas (nonnihil est aliquid).16 Ein Etwas (aliquid) ist eine bestimmte Sache, und ein Etwas, eine bestimmte Sache sein, heißt vorstellbar sein (aliquid est repraesentabile). Der Mangel an Sein des nihil negativum ist ein absoluter Mangel, nicht jener verhältnismäßige Mangel, der dem nihil comparativum zukommt, den man quantitativ mit einem Wassertropfen gegenüber dem Ozean vergleichen könnte, und nicht jene kontingente Nichtwirklichkeit, die wir als nihil privativum bezeichnen. Und von einem solchen absoluten Mangel können wir nicht einmal sagen, daß er als Mangel ein Etwas ist, und wir könnten auch nicht von ihm als einem Nichts sprechen, um zu bezeichnen, daß etwas ermangelt. Wir würden dann eine von zwei widersprüchlichen Bestimmungen ausschließen und den Mangel an Sein des nihil negativum doch als etwas bestimmen, das ist. Und umgekehrt, wenn wir einem Gegenstand Bestimmungen zusprechen wollten, die einander ausschließen, dann wäre dieser Gegenstand nichts. Er wäre dann ein unvorstellbares Unmögliches, ein Nichts; ein Etwas hingegen ist ein vorstellbares Mögliches. Baumgarten behandelt ausführlich die heterokosmischen poetischen Fiktionen, jene unter bestimmten Bedingungen möglichen Seienden (possibiles secundum quid), die in einer anderen Welt, will heißen vor allem in dem träumerischen Gesamt der Welt der Dichter (mundus poetarum) möglich sind. Und er betrachtet sie mit Nachsicht und sogar mit Sympathie in bezug auf die Defizite, die sie aus der Sicht des Verstandes besitzen können. Entschieden und eindeutig aber ist seine ablehnende Haltung gegenüber utopischen Erdichtungen – von in sich Widersprüchlichem und Unvernünftigem, von in keiner Welt Möglichem – und er muß sie deshalb ablehnen, weil sie ontologisch dem Bereich des nihil negativum zuzuordnen sind. Heterokosmische Erdichtungen hingegen kann und will er freiherzig zulassen, denn sie gehören als mögliche Seiende in den Bereich des aliquid. 15 16

Vgl. ebd., § 7. Vgl. ebd., § 8.

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Doch was für ein aliquid ist dies! Je reicher und dichter seine metaphysische Wahrheit ist, um so wirklicher ist es und um so mehr trägt es zur Schönheit des Gedankens bei. Die größte metaphysische Wahrheit und damit diejenige, die am meisten zur Schönheit beiträgt, ist somit die metaphysische Wahrheit des bis zur numerischen Differenz durchgängig bestimmten einzelnen (singulare omnimode determinatum) oder des Individuums. Das einzelne vorzustellen ist ästhetisch – diese Idee geht schon auf die Meditationes zurück. Die formale Vollkommenheit der logischen Allgemeinbegriffe, die frei von Zweifel, Dunkelheit und Ungewißheit sind, doch auch unbestimmt bleiben, sind für das schöne Denken nicht von Interesse, das immer nach einer Vollkommenheit strebt, die sich durch eine Fülle von zahlreichen, klaren, durch starke Regeln verbundenen, bedeutenden und großen Bestimmungen im einzelnen Gegenstand auszeichnet. Dieser überaus reiche Stoff an Bestimmungen des einzelnen ist es, der dem Verstand widerständig erscheint, sich dem Dichtungsvermögen jedoch weich und geschmeidig darbietet, der Stoff, aus dem der poetische Geist Erdichtungen in Gestalt umsetzt, die zuhöchst und reich, aber nicht überreich bestimmt, großartig, glanzvoll und überzeugend sind. Der poetische Geist formt die Wirklichkeit.

XIII. Der Moment der Ästhetik Zu Baumgartens Zeit haben die, wie ich sie zu nennen pflege, proto-ästhetischen Institutionen bereits eine abschließende Reife ihrer Entwicklung erreicht, nicht ohne dabei auch ernsthafte Unruhen durchgemacht zu haben. Während sich die Rhetorik zu einem gewissen Respekt gegenüber Tatsachen und Beweisen verpflichtet, zögert die Poetik – von Scaliger bis zu Sarbievius und bis zu Shaftesbury – nicht, Werke der Dichtung als hyperbolische, phantastische und gefühlsselige zweite Welten zu entwerfen, deren Verfasser je als ein ‘zweiter Schöpfer nach Gott’, als alter deus, als second maker erscheint. Dabei stellt sich die Frage nach der Wahrhaftigkeit. Das Erhabene Longins hat die Tendenz, das Geordnete des Horaz aus den Angeln zu heben. Bouhours verkündet eine ‘Logik ohne Dornen’ (logique sans épines),17 ähnlich der Ästhetik. Vico hat der dichterischen Phantasie einen überhaus hohen Wert zugemessen – die Reihe von Ansätzen, die mehr und mehr zu einer rein subjektphilosophischen Begründung des Ästhetischen tendieren, ließe sich beliebig fortsetzen. Doch andererseits ist die Zeit Baumgartens auch noch die Zeit der Gegenwart einer starken und innerhalb der Grenzen ihrer Voraussetzungen wohlbegründeten Dominique Bouhours, La manière de bien penser dans les ouvrages d’esprit (1687); deutsch unter dem Titel: Die Art von witzigen Schriften wohl zu denken (1759). 17

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Metaphysik. Im Spannungsgefüge zwischen diesen beiden Kontinenten, Metaphysik und Poetik, siedelt Baumgarten auf dem Boden, der von beiden der unsicherere ist, auf dem poetisch-rhetorischen, Vorgaben vom sicheren Grund der Metaphysik an, einer Metaphysik, mit der er selbstverständlich umgehen kann, an die er glaubt und hinsichtlich derer er schließlich mit seiner vielfach wiederaufgelegten Metaphysica selbst ein repräsentativer Autor ist.

XIV. Die Ästhetik macht ein Angebot an die Metaphysik, aber sie ist keine Metaphysik Ist deshalb die Ästhetik notwendig wesentlich metaphysisch? Abgesehen von der oben erinnerten Tatsache, daß sie als ein Teil der empirischen Psychologie auch in Baumgartens Metaphysica eingegliedert ist? Baumgarten selbst hat sich, folgt man der deutschen Nachschrift seiner Vorlesung zur Ästhetik, nicht davor gescheut, seiner Lehre die attributive Bestimmung – sei sie auch nur analogisch gebraucht – ‘Metaphysik des Schönen’ zu geben.18 Doch Vorsicht ist geboten. Die Aesthetica hat, dies ist wohl wahr, sozusagen einen metaphysischen Anstrich, weil sie sich mit bestimmten fundamentalen Grundsätzen befaßt – doch Grundsätze sind diese nur innerhalb ihres eigenen Bereichs: Es sind die ‘Anfangsgründe der schönen Wissenschaften’.19 Und diese Grundsätze werden auch nicht in rein logischer Klarheit entfaltet, denn die Ästhetik versteht sich ausdrücklich zugleich als ars im Sinne einer Kunstlehre, welche auch die Aufgabe hat, operative Vorgaben in Form eines Regelwerks zu liefern. Und ein großer Teil der Aesthetica besteht in einer Anthologie klassischer literarischer Beispiele, die mit Metaphysik überhaupt nichts zu tun hat. Im wesentlichen bietet die Ästhetik einigen ausgewählten Geistern ihren Beistand, indem sie diese darin unterrichtet und daran gewöhnt, ihre psychologischen Fähigkeiten und die Voraussetzungen, die sie durch ihre literarische Kultur besitzen, zu sammeln und mit höchster Effektivität ins Werk zu setzen. Die Ästhetik ermutigt sie, in den Grund ihres Selbst, ihrer Seele (fundus animae) hinabzusteigen, sich in das Dämmerlicht der Einheit des Gesamts der monadischen Perzeptionen zu begeben, von dort aus wieder zu bewußten Vorstellungen aufzusteigen und dabei die Fundstücke aus dem dunklen Grund in Vgl. Kollegnachschrift Poppe, § 1 (66). So der Titel von Georg Friedrich Meiers ästhetischem Hauptwerk, bei dessen Verfassung Meier die Kolleghefte von Baumgartens Vorlesungen zur Ästhetik vorlagen: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Bd. 1–3, Halle 1748–50 (2., verbesserte Aufl. 1754–59). 18 19

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poetische Edelsteine zu verwandeln. Die Ästhetik fordert sie dazu auf, jede Art zu denken, die weniger als erhaben ist, zu verachten, sie ermutigt sie, die heroische Tugend praktisch in der Welt der Erscheinungen umzusetzen und in sich, sozusagen als besonders glänzende monadische Spiegel des Universums, im schönen Denken und in dessen poetischer Darstellung den unabhängigen Wert des Seins widerzuspiegeln. Die Ästhetik will nicht nur eine Philosophie der Musen (philosophia musarum) sein, sondern sie trägt, als Philosophie der Grazien (philosophia gratiarum) auch zur Verfeinerung der Sitten bei. Als Theorie der freien Künste (theoria liberalium artium) unterstützt und befördert die Ästhetik alle freien und schönen Künste, von der Dichtung über die Musik bis zur Philosophie selbst, damit diese, mit den Worten Mallarmés, sich zur ‘hymne des cœurs spirituels’ im Reich der Gnade (regnum gratiae) vereinigen, frei von jeder naturalistischen Knechtschaft. Die Ästhetik bietet auch einen Übergang zur Ethik, wovon der Beitrag von Dagmar Mirbach im näheren handelt. Es war nicht denkbar, daß einer ganzen Hälfte der Erkenntnis, insbesondere deren glänzendstem Teil, der Dichtung, die Kenntnis vom Möglichen, vom Etwas, vom Nichts, vom Wesen der Wahrheit gänzlich fehlen sollte. Doch das Angebot an institutionalisierter und formalisierter Metaphysik, das die Ästhetik macht und zur Darstellung bringt, stellt vor allem eine Hilfe für den schönen Geist dar, das aus dem dunklen Grund an ein klares Licht zu bringen, was er im Verborgenen schon wußte, und sie ermutigt ihn, in seinen Dichtungen und in seinem eigenen Wesen den positiven Sinngehalt des Seins wiederzuerkennen, ihn zu leben, immer wieder erneut zu suchen und in seiner phänomenalen Erscheinung zu betrachten und zum Ausdruck zu bringen. Und so erfüllt sich die Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis, die das erklärte Ziel des ästhetischen Teils von Baumgartens organischer Philosophie ist.20 Der Beitrag behandelt den gesamten Bereich der Metaphysik und der Ästhetik von Alexander Gottlieb Baumgarten. Sich auf dessen Begriff der organischen Philosophie gründend, unterbreitet er den Vorschlag, die Ästhetik dieses Autors als eine Psychagogie anzusehen, deren Ziel es ist, die phantastisch-dichterische Fähigkeit auszubauen, wobei gleichzeitig ein Brückenschlag zur Ethik und zur Logik hin erfolgt und man schließlich zu einer umfassenden Vervollkommnung der menschlichen Seele gelangt.

Der Beitrag von Francesco Piselli wurde übersetzt und um zusätzliche Nachweise in den Fußnoten ergänzt von Dagmar Mirbach. Der Dank der Übersetzerin gilt Anton Friedrich Koch, Caterina Rossi und Friedrike Schick (Tübingen) sowie Marion Mohr (Bergamo) für ihre wissenschaftliche Beratung. 20

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Baumgarten's aesthetics, though editorially included in his metaphysics, is by no means a section of its metaphysic system. It is better understood, and it is of far greater interest, if it is assumed to be a kind of psychagogy, which teaches us to build up a superior life, in which the human soul achieves the perfection of its poetic faculties conjoined with moral greatness. Prof. Francesco Piselli, Via Trento, 12, I-24052 Azzano San Paolo (Bergamo), E-Mail: [email protected]

K LAUS E RICH K AEHLER Baumgartens Metaphysik der Erkenntnis zwischen Leibniz und Kant

I. Die sachliche Pointe der historischen Stellung Baumgartens „zwischen Leibniz und Kant“ erkennen wir am umfassendsten, wenn wir die neuzeitliche Philosophie deuten und rekonstruieren aus dem epochalen Anfang, den sie durch René Descartes erhalten hat, und d.h. auch, die nachfolgenden Positionen nach Maßgabe der Entfaltung dieses Prinzips zu begreifen und aufeinander zu beziehen. Ich werde deshalb zunächst kurz den Einsatz und die erste Entfaltung dieses Prinzips bei Descartes und Leibniz darlegen, um daraus die Krisis und den durch diese Krisis eröffneten Schritt in die kantische Wende einsichtig zu machen. Damit wären wir dann vorbereitet, um die eigentümliche Stellung und Bedeutung Baumgartens in diesem Zusammenhang zu verorten und zu begreifen. Der epochale Gedanke der neuzeitlichen Metaphysik ist der Gedanke der Selbstgewißheit des Denkens, und zwar des Denkens, dessen wesentlicher Gehalt die traditionell sogenannte natürliche Vernunft ist. Descartes ist der große Anfänger dieses Gedankens: Er verlangt als unbedingte Bedingung aller Wahrheit eine Gewißheit, die sich immanent im Vollzug nicht bezweifeln lasse – die keines außer diesem Vollzug befindlichen Seins bedürfe, um sich zu konstituieren. Als eine solche Gewißheit findet er jedoch unmittelbar nur das Bewußtsein seiner selbst als denkend, und damit eo ipso sein Existieren genau (nur) als Denkender, d.h. immer: dies oder jenes Denkender. – Deshalb kann das Prinzip der neuzeitlichen Metaphysik formell als das Prinzip des „Selbstbewußtseins“ gefasst werden. Philosophie unter diesem Prinzip hat die Aufgabe, jegliches Wissen bzw. jeglichen Wahrheitsanspruch in die Form dieser Selbstgewissheit zu bringen, als Selbstgewissheit des Subjekts, d.h. dessen, was im Vollzug mannigfaltiger Vorstellungen sich als identisch weiß und durchhält. Was dieses aber ist, bestimmt sich von Anfang an als selbst-reflexive Entfaltung der natürlichen Vernunft. Dieses Erbe der vorherigen Metaphysik wird so zum Grund von Erkenntnis, als Inbegriff der subjektiven Bedingungen, ohne die überhaupt nichts erkannt werden kann.

Aufklärung 20 · © Felix Meiner Verlag 2008 · ISSN 0178-7128

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Damit emanzipiert sich philosophische Erkenntnis prinzipiell und methodisch von theologischen Vorgaben. Prinzipiell, d.h., was immer an prätendiertem theologischem Wissen für philosophische Erkenntnis relevant sein soll, muß sich im Lichte der immanenten Selbstgewißheit des Subjekts der natürlichen Vernunft erweisen. So ist unter diesem Prinzip auch Gott selber ein Inhalt des philosophischen Wissens nur als idea Dei, und alles, was dann weiterhin im Wissen auf diese Idee Gottes gegründet wird, ist als Erkenntnis nur gerechtfertigt, sofern es im Gang der immanenten Reflexion des ‘natürlichen Lichtes’ hervorgebracht und bestimmt ist. Auch daß ich, der Denkende, das Subjekt, von einem höchst vollkommenen Wesen außer mir geschaffen bin, ist als Wahrheit nur anzuerkennen, insofern es von mir selbst im Zusammenhang begrifflicher Argumentation eingesehen ist. Die Wahrheit philosophischer Erkenntnis ist unabhängig von der Offenbarung, wenn die erste Wahrheit zu allen möglichen diejenige ist, in der Wahrheit und Gewißheit zusammenfallen: daß ich bin, ist so wahr, als es gewiß ist, daß ich meiner selbst bewußt bin, insofern ich denke – dies gilt schon vor und unabhängig von aller Erkenntnis meines möglichen Geschaffenseins. Das Prinzip des Selbstbewußtseins der natürlichen Vernunft ist somit das Prinzip dessen, was als Seiendes erkannt werden kann; es ist also das Erkenntnisprinzip aller Ontologie und hat als solches diese prinzipiell-methodische, keineswegs etwa bloß psychologische Bedeutung. Das Ich denke, das zugleich Sein und methodisches Prinzip ist, gibt in dieser unmittelbaren Einheit von Sein und Denken allem philosophischen Wahrheitsanspruch das Paradigma unbedingten Seins vor. Mit dem Beweis des höchstvollkommenen Wesens zwar aus der immanenten Idee, aber als unbedingte, erste Ursache von allem, die Existenz des seiner selbst gewissen Subjekts der natürlichen Vernunft eingeschlossen, wird zwar die methodische Autonomie gewahrt, aber der Sache und metaphysisch vorgestellten Wirklichkeit nach erweist sich damit die denkende Substanz als abhängig. Es ist erst Leibniz, der die Totalität des Seienden als Totalität des aktuosen Erkennens – in dem nämlich die prima causa zur ultima ratio, zum vernunfttätigen Grund konkretisiert wird – als Prinzip der Philosophie gedacht hat. Damit ist das neuzeitliche Prinzip mit dem vorherigen, dem theologischen Prinzip der Metaphysik zum Ausgleich gebracht: In diesem letzten Grund alles Seienden, omnium rerum (res = ens), ist dieses derart begründet, daß es nur als Inhalt des Vollzugs ursprünglich-vollkommener Vernunft überhaupt ein Bestehen hat, sei es als bloß Mögliches, sei es auch als Existierendes. In dieser Voraussetzung konzipiert die Metaphysik der natürlichen Vernunft den Schöpfergott. Das cartesische Prinzip der reinen Selbsttätigkeit, die eo ipso unbedingtes Sein ist, erhält so in Leibniz’ Theologie der Vernunft seine dem Gedanken nach unüberbietbare reale Erfüllung. Erst darin hat sich die subjektive Gewißheit vollständig zur objektiven Wahrheit entfaltet. Vernunft ist überall ein und dieselbe, nur

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in verschiedenen Graden und Reichweiten vollzogen. Auch der Gott hat notwendigerweise die Vernunft, die wir in und durch uns selbst im methodischen Selbstbewußtsein erkennen: Gott hat seinen eigenen Verstand nicht geschaffen, die Prinzipien und Regeln alles Rationalen – etwa das Prinzip des Widerspruchs – gelten für Gott wie für endliche vernünftige Wesen gleichermaßen, und notwendige Wahrheiten sind coaeternae cum DEO, weil eben gleich-ewig mit aller Vernunft. Die natürliche Vernunft des endlichen, geschaffenen Subjekts aber denkt, konzipiert jene ursprünglich-vollkommene Vernunft selber nur in abstracto – sie kann sie selber nicht adäquat, nämlich eben so vollziehen, wie sie sie voraussetzt; könnte sie es, so wäre sie, die natürlich-endliche Vernunft, aktual identisch mit der göttlichen Vernunft, populär ausgedrückt: Der Mensch wäre Gott. Leibniz hat also das, was das Subjekt der natürlichen Vernunft durch und in sich selbst ist und weiß, zwar mit dem vormaligen theologischen Prinzip, dem supra-naturalen Subjekt als Schöpfergott, zur Koinzidenz gebracht – aber diese Koinzidenz läßt sich nur denken um den Preis einer zwar nicht prinzipiellen, aber doch graduellen Selbstüberschreitung. Die Vollendungsgestalt der immanenten Vernünftigkeit existiert doch jenseits des eigenen Vollzugs und damit, neuzeitlich gedacht, jenseits des eigenen Seins der Vernünftigkeit. Damit dissoziiert sich das Subjekt der doch prinzipiell univoken Vernunft in das metaphysische Subjekt einerseits und das methodische Subjekt andererseits: das erstere ist metaphysisches Objekt, nämlich von der selber beschränkten Vernunft konzipiert als ursprünglich-vollkommene Wirklichkeit, absolutes vernünftiges Sein; das methodische Subjekt hingegen konstituiert sich nur immanent im Vollzug von Vernunft überhaupt durch das selbstbewußte endliche Subjekt. Auch das göttliche Vernunft-Subjekt wird somit a fortiori als methodisches Subjekt aller überhaupt möglichen Erkenntnis vorgestellt; aber die Ausübung und Ausführung, die Leistung des methodischen Subjekts der Vernunft im metapyhsischen Subjekt bleibt für die Erkenntnis ein Jenseits – eine ins Unendliche uneinholbare Voraussetzung aller endlichen Erkenntnis: Diese Leistung ist insgesamt nichts anderes als die Existenzsetzung dieser Welt, also „die Schöpfung“. Die methodische Subjektivität kann jedoch für die Erkenntnis fruchtbar werden nur als eigene Leistung des erkennenden Subjekts selbst.

II. Methodisch gesehen enthält somit auch die leibnizsche Metaphysik der Vernunft in der Ausführung noch einen Bruch – sie wiederholt im Wissen selbst den alten ontologischen Hiatus zwischen Schöpfer und Geschaffenem, Unend-

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lichem und Endlichem, der unter dem theologischen Prinzip, dem Prinzip der mittleren Epoche der Ersten Philosophie, gerade durch dieses Prinzip selbst als unhintergehbar, weil unvordenklich gesetzt und somit gerechtfertigt war. Die mit dem neuzeitlichen Prinzip beanspruchte Selbständigkeit der natürlichen Vernunft bleibt noch immer zweideutig: Einerseits ist zwar jeder authentische Vollzug von Vernunft eine wahrhafte Realität, andererseits muß der endliche Vollzug sich in seinem eingeschränkten Modus doch von einer ihm uneinholbar überlegenen Vollendungsform her verstehen und bewerten. In diesem Wissen zerreißt somit die Kontinuität der methodisch-immanenten Selbsterkenntnis des Vernunft-Subjekts. Es bindet sich selbst zurück an die metaphysisch verobjektivierte Vollendungsgestalt seines eigenen Vermögens. Die Formen des endlichen Wissens hat Leibniz deshalb in der Tat nur als defiziente Formen der ursprünglich-vollkommenen Produktivität des göttlichen Vernunft-Grundes anerkannt. Gewißheit und Wahrheit kommen nur in dem, was als metaphysischer Gegenstand gedacht wird, zur Deckung, aber gerade nicht im Vollzug des Denkens dieses Gegenstandes. Für geschaffene Subjekte ist deshalb der Bezug auf alle wirklichen und möglichen Objekte des Erkennens nur zu einem geringen Teil in der expliziten Form der Rationalität möglich – nämlich nur hinsichtlich relativ abstrakter Allgemeinheiten und formaler Strukturen der Rationalität überhaupt. Das Mannigfaltige der einzelnen, individuellen Objekte hingegen kann als solches nur in der Form von je unmittelbar gegebenen Komplexen erfaßt werden. Leibniz nennt solche Erfassung ‘Perzeption’. Diese Komplexe aber können niemals vollständig und adäquat in ihre intelligiblen Bestandteile analysiert und damit in der Form zum Bewußtsein und Wissen gebracht werden, in der sie vom ursprünglich seingebenden Vernunftgrund gedacht werden. Von Einzelnem und dessen besonderen Eigenschaften und Beziehungen hat das endliche Subjekt eine Kenntnis nur auf der Basis der Perzeptionen. Diese Kenntnis aber ist diejenige, die wir sinnliche nennen, und das auf sinnlicher Wahrnehmung und Empfindung beruhende relativ oder komparativ allgemeine Wissen heißt „Erfahrung“ oder „empirisches“ Wissen. An diesem Punkt eröffnet sich die Möglichkeit einer prinzipiell neuen Bewertung der eigentümlichen Formen des nicht vollkommenen denkenden Subjekts – es kommt nun alles darauf an, wie die perzeptive sinnliche und empfindende Weltbeziehung dieses Subjekts philosophisch konzipiert und bewertet wird. In der Konsequenz des Subjekt-Prinzips ergibt sich eine solche Bewertung denn auch als methodische Forderung: In erkenntnistheoretischer und -kritischer Reflexion zeigt sich ja am Resultat der leibnizschen Metaphysik der Vernunft nicht nur der Zwiespalt von transzendenter Vollendung und immanenter Defizienz des Vernunftgedankens, sondern darüber hinaus noch einmal die Möglichkeit, die prinzipielle Kontinuität der immanenten Selbstgewißheit der

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natürlichen Vernunft wiederherzustellen. Die natürliche Vernunft kann sich nun, gleichsam im Schutze der Voraussetzung universeller Wahrheit dessen, was sie prinzipiell als Vernunft begreift und in sich selbst reflexiv vorfindet, auch wieder auf sich zurückbeziehen, als Grund und Quell aller Selbstgewißheit. Sie kann sich auf sich zurückbeziehen in dieser methodischen, begründenden Absicht und Bedeutung, weil sie kraft jener Voraussetzung sich dessen versichert hat, daß sie in ihren Weisen des Realitätsbezugs doch nur in verschiedener Form diejenige Realität antrifft, die gemäß den ihr selbst einsichtigen Prinzipien der Vernunft nicht nur geordnet und bestimmt, sondern sogar ursprünglich erzeugt wird. Leibniz hat in der Tat die Realisierung des Prinzips der neuzeitlichen Metaphysik in dieser Balance zwischen den beiden Extremen der Selbsttätigkeit zu halten versucht: der vollkommen rationalen Aktuosität des Urgrundes und der in sich differenten, nämlich in die sinnlichen und die rationalen Formen unterschiedenen Bewußtseinstätigkeit des endlichen Subjekts als mens, wie Leibniz die geistbegabten endlichen Substanzen nennt. Auch diese in sich differente Selbsttätigkeit bleibt selbstbewußtes Vorstellen, denn die Mannigfalt der veränderlichen sinnlichen Eindrücke und Wahrnehmungen kommt als Mannigfalt nur so zum Bewußtsein, daß das Unterschiedene, Vorgestellte auch wirklich im Bewußtsein aufeinander bezogen wird: Die Perzeptionen werden nur zusammen vorgestellt als je meine. Dieses Bewußtsein des Habens von Vorstellungen nennt Leibniz ‘Apperzeption’. Endliches Selbstbewußtsein als Apperzeption bringt also eine Mannigfalt von sinnlichen Eindrücken und Wahrnehmungen unter eine übergreifende Einheit, die als selbsttätiges Denken dem Sinnlichen erst einen Bestand für das Bewußtsein gibt. Diese differente, auf Anderes, das vorgegeben, nicht selbst erzeugt ist, bezogene Form der Selbsttätigkeit erweist sich somit als die Realisierung des neuzeitlichen Prinzips der Metaphysik, so wie es sich in der leibnizschen Position entfaltet hat. Leibniz hat jedoch, wie gesagt, diese Realisierung nur als die eine Seite gegenüber der ursprünglich-vollkommenen und dadurch unbedingt schöpferischen Urform der Selbsttätigkeit fixiert. Der Schritt über Leibniz hinaus muß also darin bestehen, die anfängliche, cartesische Forderung der immanenten Selbstgewißheit an allen Inhalten des philosophischen Wissens, d.h. für alle Wahrheitsansprüche geltend zu machen. Das aber bedeutet prinzipiell den Rückzug philosophischer Wahrheitsansprüche in die Grenze immanenter Gewißheit; und damit würde alle Erkenntnis zuerst und allem zuvor auf genau diejenigen Bedingungen festgelegt, unter denen die natürliche Vernunft als solche steht und sich in der Selbstreflexion vorfindet. Erst dadurch gelangt die ihrer selbst gewisse Vernunft zu ihrer wahren Selbständigkeit. Sie muß sich selbst auf ihre Bedingungen, d.h. Grenzen festlegen – das erst bedeutet, daß sie sich hierin ausdrücklich und für sich selbst bestimmt.

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Solche Selbstbestimmung als Selbstbegrenzung der natürlichen Vernunft ist es, was der einzige Immanuel Kant nach langen Jahren scharfsinniger Einzelkritik und Auslotung des überlieferten metaphysischen Denkens unter dem Titel der ‘Kritik der reinen Vernunft’ zur Ausführung gebracht hat. Damit erst kommt das Prinzip der neueren Metaphysik vollkommen zu sich zurück, durch die Vermittlung mit dem theologischen Prinzip hindurch. Dieses aber wird nun in der Sphäre des Selbstbewußtseins der endlichen, aber in sich und für sich unbedingten Vernunft zurückgenommen in den Status einer selbsterzeugten Idee dieser Vernunft, alle mögliche Erfahrung überschreitend, aber eben deshalb ohne begründbare objektive Realität. Denn die Bedingungen und Grenzen, auf die alle Erkenntnis nach dieser kritischen Wendung festgelegt werden muß, sind genau diejenigen der leibnizschen Vernunft, so wie sie dem endlichen Subjekt immanent zugänglich ist. Damit aber ist die Differenz von rein rationaler und sinnlicher Form des Wissens festgeschrieben. Die Grundverfassung des endlichen Selbstbewußtseins wird also nach der prinzipiellen Wende nicht mehr von der theologisch-metaphysischen Voraussetzung der ursprünglichen Vollkommenheit her als defizient verstanden, sondern umgekehrt als Prinzip, d.h. als Erstes zu Allem, geltend gemacht. Der Schritt von Leibniz zu Kant bedeutet somit als prinzipiell-methodischer Schritt die radikale Verselbständigung der natürlichen Vernunft zum autonomen, sich selbst bestimmenden Subjekt. Doch mit diesem Schritt ist zugleich die Bezogenheit jeglichen Bewußtseins auf ein zu ihm Äußeres, das ihm als gegeben erscheint und im bloßen Denken nicht sachhaltig antizipiert werden kann, zu Grunde gelegt. Mit anderen Worten: kein Bewußtsein ohne ein sinnliches Moment, das seinerseits erst im Bewußtsein, seinem aktualen Vollzug, existiert. Diese Grundverfassung des Subjekts der Vernunft übernimmt Kant also vom leibnizschen geschaffenen Geist, um von hier aus allererst die Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen – auch und erst recht von metaphysischen Gegenständen – zu prüfen und soweit möglich neu zu begründen. Wenn es eine objektive Kontinuität des Rationalen, eine erkennbare durchgängige Gesetzmäßigkeit und Ordnung des Seienden gibt, dann muß sie in den Bedingungen, d.h. den Formen und Prinzipien des endlichen Subjekts selbst, das jene Erkenntnis sucht, begründet sein; und dieser immanente Grund muß auch vollständig und im Zusammenhang einsehbar sein. Die Kritik der reinen Vernunft ist deshalb ein ‘Tractat von der Methode’ aller möglichen Erkenntnis überhaupt. Die Formen und Prinzipien, die zusammen als System der reinen Vernunft, unabhängig von aller bestimmten Erfahrung einsehbar – a priori gültig – sind, sind gleichwohl nur dadurch zur realen, d.h. sachhaltigen Erkenntnis tauglich, daß sie auf Erfahrung und damit allemal auf Weisen des Vollzugs von empirisch-materialer Sinnlichkeit, beziehbar sind; so wie umgekehrt jegliches

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Bewußtsein von Empirischem nur nach Maßgabe jener Formen und Prinzipien a priori möglich ist. III. Mit diesem Blick auf das, was Metaphysik der Neuzeit wesentlich ist, auf ihre Entstehung bei Descartes und ihre Entfaltung bei Leibniz und Kant, sollte der Rahmen vorbereitet sein, den wir für ein sachliches Verständnis des Eigentümlichen der Position Baumgartens benötigen. Erst mit der bisher skizzierten Metaphysik der Erkenntnis ist ein theoretischer Rahmen gewonnen, der es ermöglicht, ohne Preisgabe der traditionellen platonistischen Bestimmung des Schönen seine sinnlich-ästhetische Darstellung in ihrer Eigenart ernst zu nehmen und zu erklären. – Sehen wir nun genauer, inwiefern Baumgarten mit seiner in eine Metaphysik noch eingebetteten Erkenntnislehre und deren Vorstoß zur Idee einer eigenständigen Sinneslehre eben genau zwischen Leibniz und Kant steht – und zwar der Sache, d.h. dem philosophischen Gedanken nach, und nicht nur äußerlich-historisch. Das endliche Subjekt ist in seiner Existenz immer schon und unaufhebbar bezogen auf Mannigfaltiges, das ihm durch die Sinnlichkeit der Anschauung und Wahrnehmung, verbunden mit vielfältigen und wechselnden Empfindungen, zum Bewußtsein gelangt. Diese Verfassung des Subjekts hat zwar auch Leibniz anerkannt, sie jedoch insofern nicht ernst genommen, als er sie bloß als defizienten, unvermeidlich verworrenen und dunklen Vollzug der an sich, ex origine, rationalen Wirklichkeit erklärt hatte. Als defizienter Vollzug aber kann sinnliches Bewußtsein keinen originären Beitrag zu Kenntnis und Erkenntnis weder der Welt noch meiner selbst oder anderer Subjekte leisten. Es bedeutet deshalb schon eine tendenzielle Loslösung von der universal-rationalistischen Deutung von Mensch, Welt und Gott, wenn Baumgarten darauf insistiert, daß wir in unseren sinnlichen Eindrücken, Empfindungen, Wahrnehmungen und Akten nicht bloß leben müssen, weil wir nun einmal nicht ursprünglich vollkommen sind, sondern gerade dadurch zu einem Reichtum und einer Tiefe von Erfahrung befähigt sind und gelangen können, die für uns ganz unersetzlich und im Fluß der Zeit, verbunden mit Einbildungskraft und Erinnerung, auch unerschöpflich ist. Wenn jedoch gegenüber dieser materialen Vollkommenheit Wissen und Erkenntnis nur in diejenigen Formen gesetzt werde, in denen wir mit Begriffen über sinnlich erfaßbare Dinge und Beziehungen sprechen, d.h. urteilen können, dann, so moniert der feinsinnige Baumgarten, sei das eine Verkennung der menschlichen Potenzen und eine unnötige, ja der gesamten Kultur schädliche Verengung und Vereinseitigung des menschlichen Bewußtseins. Das Eigenrecht des Sinnlichen ergibt sich grundsätzlich und allgemein genau aus der ontologischen Verfassung des endlichen Subjekts, wenn dieses sich

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als unüberschreitbarer Ort des neuzeitlichen Prinzips in sich reflektiert. Nur wenn dieser Schritt getan und damit das Eigenrecht des Sinnlichen methodisch-theoretisch gesichert ist, kann die nähere Explikation des Sinnlichen, d.h. seiner Eigenart, auch wirklich philosophische Relevanz beanspruchen. Wenn Baumgarten also diese Relevanz beansprucht, dann hat er damit zumindest implizit, als notwendige Bedingung dieses Anspruchs, auch die methodische Verselbständigung des endlichen Subjekts vollzogen. Eine andere Frage ist es freilich, wie weit er die Konsequenzen dieses Schrittes auch für die gesamte Philosophie reflektiert und entfaltet hat, vor allem für die Möglichkeit des metaphysischen Wissens als solchem. Auf diese Frage werde ich zum Schluß mit einem weiteren Blick auf Kant eingehen. Die Begründung des irreduziblen Wertes des Sinnlichen geht von der Psychologie aus, führt auf die Kosmologie und letztlich die Ontologie einerseits und die natürliche Theologie andererseits. Beginnen wir also mit der Psychologia: Die Seele ist etwas, das eines Bewußtseins von Anderem fähig ist,1 sie ist durch das Vermögen ausgezeichnet, etwas Anderes, als es selbst ist, vorzustellen. Die Seele verändert sich in ihren wechselnden Vorstellungen, denn diese sind ihre eigenen, jeweils aktualen Zustände. Mindestens einige dieser Veränderungen des Zustandes der Seele haben einen zureichenden Grund in ihr selbst. Deshalb ist die Seele eine Kraft, genauer: eine vis repraesentativa. Was vorgestellt oder repräsentiert wird, das sind, metaphysisch betrachtet, Teile der Welt, was nicht heißt, daß es auch als diese „Teile der Welt“ zum Bewußtsein kommt. Dieser Bezug der Seelen auf die Welt vollzieht sich in den unterschiedlichen Graden der Klarheit und Deutlichkeit des Vorstellens. Da jedoch, metaphysisch verstanden, in jeder Vorstellung alles, was mit der jeweils vorstellenden Seele/Monade in Existenz gesetzt ist, mitvorgestellt ist, muß ein großer Teil der Komponenten jeder Vorstellung in Dunkelheit verbleiben. Alle Seelen haben deshalb immer auch dunkle und konfuse, d.h. nicht-klare und nichtdeutliche Vorstellungen. Die dunklen zusammen bilden den Fundus animae. Subjektiv oder psychologisch gesehen, vollzieht sich jede Erkenntnis als Heraushebung eines Teiles dieses dunklen Grundes der Seele, den sie jedoch niemals vollständig auflösen und zur Klarheit der unmittelbaren oder gar zur Deutlichkeit der mittelbaren Unterscheidung aller Dinge, ihrer Eigenschaften und Beziehungen bringen kann. Deshalb ist dem oberen immer auch ein unteres Erkenntnisvermögen zugeordnet: Wenn die Seele einiges aus der unendlichen Komplexität des Dunklen jeweils von anderem abzugrenzen vermag, gelangt sie zu einer Erkenntnis, die klar, aber nicht deutlich ist: in ihr wird vieles zusammen erfaßt. Dies definiert zuerst die sinnliche Erkenntnis nach Metaphysik, § 504: Si quid in ente est, quod sibi alicuius potest esse conscium, illud est ANIMA. 1

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dem Modus ihrer Repräsentation. „Erkenntnis“ heißt hier, als Übersetzung des viel weiteren Terminus cognitio, zunächst nichts anderes als Wahrnehmung. Die cognitio sensitiva aber ist nach dieser Bestimmung jedenfalls eine reichhaltige und potentiell vielsagende Wahrnehmung, eine perceptio praegnans. In ihr wird das Objekt nicht unter ein unterscheidendes Merkmal – als Prädikat eines Urteils über das Objekt – subsumiert, sondern sie richtet sich unmittelbar auf die Vielheit in der Einheit des Vorstellungsaktes. Dieser Einheit als einer sinnlichen kommt eine jeweils ganz bestimmte Qualität zu, die nicht reduzierbar ist auf die Angabe ihrer Bestandteile, selbst nicht einmal auf eine Vorführung ihrer sinnlichen Bestandteile als solcher, was ja in vielen Fällen durchaus möglich ist. Beispiele, die schon Leibniz gern gebraucht, sind: die Wahrnehmung des Meeresrauschens (zusammengesetzt aus den Geräuschen vieler einzelner Wellen); Wahrnehmung der Mischfarbe im schnell drehenden „Newtonschen Farbkreisel“; unmittelbare Auffassung von Mehrklängen, deren Bestandteile nur sukzessiv (bzw. durch sukzessive Aufmerksamkeit bei Wiederholung des Mehrklangs) ausdrücklich bewußt gemacht werden können. In jedem Fall zeigt sich, daß die sinnliche Qualität des zusammengesetzten Eindrucks selbst und als ganze irreduzibel ist. Sie kann nicht ersetzt werden durch Angabe ihrer Bestandteile. Der aktuale Vollzug der sinnlichen Synthesis ist nicht objektivierbar; er kann nicht durch zerlegende Beschreibung erst hervorgebracht (und so ersetzt) werden. Das letzte Beispiel zeigt aber auch schon, daß das Bewußtsein solcher sinnlicher Qualitäten geübt und gebildet werden kann: Das Subjekt kann sich der jeweils involvierten Mannigfalt als Mannigfalt bewußt werden und bewußt bleiben, nämlich als Bewußtsein eines eigentümlichen, nur sinnlich qualifizierten Zusammenhangs. Je größer nun diese mitvorgestellte, implizite Mannigfalt an Teilvorstellungen in einer gegebenen Gesamtvorstellung ist, umso ästhetisch bedeutsamer ist nach Baumgarten eine solche sensitive Vorstellung, solange jedenfalls als sie insgesamt klar, d.h. einheitlich und identifizierbar bleibt. Diesen höheren Grad an bewußter Komplexität einer klaren Gesamtvorstellung nennt Baumgarten mit einem Grundterminus seiner Sinnenlehre: ‘extensive Klarheit’. Diese eigentümliche Weise des einheitlich-komplex wahrnehmenden Bezugs auf Teile der Welt ist der systematische Ort, von dem aus die philosophische Ästhetik ihren anfänglichen Sinn erhält. An ihm schneiden sich gleichsam die Linien der metaphysischen Psychologie einerseits – und mit ihr der Metaphysik insgesamt, sowohl hinsichtlich der Idee des Schönen als auch der zugehörigen Erkenntnislehre – und andererseits der psychologischen und wirkungsästhetischen Kunstlehren. Von hier aus ergibt sich zunächst die metaphysische Einbindung der sinnlichen Wahrnehmung eo ipso in das Ganze des Universums: die Psychologie ist in der Kosmologie fundiert, indem alle Modi der Existenz der Seele und alle ihre Eigenschaften durch die bestimmte Weise ihrer

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Repräsentation von Welt bestimmt werden. Jede Vorstellung – perceptio – ist in irgendeiner Weise Repräsentation eines Teiles der Welt. Sehen wir für jetzt von der Frage ab, als was diese, wenn schon nicht für das perzipierende Bewußtsein, so doch jedenfalls für den Metaphysiker zu bestimmen sind. Wir müßten uns dann mit dem Verhältnis von Körper – als Phänomen – und immateriellen Substanzen oder Monaden beschäftigen.2 Die Welt aber besteht, metaphysisch vorgestellt, aus einer allseitigen und durchgängigen Verknüpfung aller ihrer Teile, aller „Dinge“, wie Baumgarten den neutralen Terminus Ens übersetzt, der jener Unterscheidung von Substanz und Phänomen vorgeordnet ist. Indem sich jede Seele in jeder ihrer unaufhörlich übergehenden Wahrnehmungen auf besondere Teile der Welt bezieht, bezieht sie sich also zugleich in mittelbarer Weise auch immer schon auf sämtliche übrigen Teile dieser Welt. Ohne hier ins Detail dieses spekulativen Gedankens einzutreten, der ins Zentrum der Monaden-Metaphysik führt, hat diese ontologische Situierung der Wahrnehmung jedenfalls die Konsequenz, daß gerade diejenige Perzeption, die sich nicht auf begrifflich-intellektuelle Weise durch prädikative Hervorhebung einer Bestimmtheit auf das Wahrgenommene bezieht, die vielmehr dessen Komplexität in unmittelbarer Erfassung zusammenhält, die also bloß sinnliche Wahrnehmung ist, das welthaltigere, realere Bewußtsein ist. Solches bleibt deshalb auch das Substrat für alles Urteilen durch Anwendung von Begriffen. Ich wenigstens glaube, es müßte Philosophen völlig klar sein, daß nur mit einem großen und bedeutenden Verlust an materialer Vollkommenheit all das hat erkauft werden müssen, was in der Erkenntnis und in der logischen Wahrheit an besonderer formaler Vollkommenheit enthalten ist. Denn was bedeutet die Abstraktion anderes als einen Verlust? Man kann, um einen Vergleich heranzuziehen, aus einem Marmorblock von unregelmäßiger Gestalt nur dann eine Marmorkugel herausarbeiten, wenn man einen Verlust an materialer Substanz in Kauf nimmt, der zum mindesten dem höheren Wert der regelmäßig runden Gestalt entspricht.3

Um hier genau zu sein: Der „Verlust“ besteht nur darin, daß ein Begriff eine Bestimmung eines Gegenstandes fixiert und andere Bestimmungen unberücksichtigt läßt. Erkenne ich einen Gegenstand durch ein Prädikat, das auf ihn Ein analoges Verhältnis besteht der rationalistischen Metaphysik (Leibniz) zufolge zwischen sinnlichen Eindrücken überhaupt und begrifflichem Erkennen! Der endliche Geist repräsentiert in jedem sinnlichen Eindruck an sich das ganze Universum. Dieses ist zwar prinzipiell, aufgrund seines rationalen Ursprungs, intelligibler Natur, aber der endliche Geist kann die Zusammensetzung des Ganzen nur in sinnlicher Qualität erfassen. 3 Ästhetik, § 560: Equidem arbitror philosophis apertissimum esse iam posse, cum iactura multae magnaeque perfectionis in cognitione et veritate logica materialis emendum fuisse, quicquid ipsi perfectionis formalis inest praecipuae. Quid enim est abstractio, si iactura non est? Pari ratione ex marmore irregularis figurae non efficias globum marmoreum, nisi cum tanto saltim materiae detrimento, quantum poatulabit maius rotunditatis pretium. 2

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zutrifft, so sehe ich insofern ab von allem andern, das auch auf ihn zutreffen mag und das den Gegenstand näher bestimmen würde. Eine vollkommene, durchgängige Bestimmung eines Gegenstandes durch Begriffe wäre dann allerdings eine deutliche, und als vollständige Bestimmung auch adäquate Erkenntnis des Gegenstandes als Einzelding. In einer solchen rein intellektuellen Erkenntnis von Einzeldingen durch ihre jeweiligen „vollständigen Begriffe“ (Leibniz) würden formale und materiale Vollkommenheit zusammenfallen. Diese Erkenntnis ist aber für keinen endlichen Geist erreichbar. Für ihn, d.h. „für uns“, bleibt deshalb die Unterscheidung als reale Verschiedenheit unhintergehbar; und somit bleibt auch die Differenz des Erkennens der an sich bestehenden unendlichen Ordnung und Beziehung aller Dinge in den beiden komplementären Formen des Ästhetischen und des Intellektuellen unaufhebbar. Dies ist ein äußerst wichtiges Resultat, das Baumgartens metaphysisch begründete Erkenntnislehre in ihrer Stellung zwischen Leibniz und Kant hervortreten läßt: Einerseits wird die Nichtreduzierbarkeit sinnlicher Gehalte und Vollzugsformen auf intellektuell-begriffliche positiv anerkannt, andererseits wird jedoch diese Differenz im Lichte einer übergreifenden metaphysischen Konzeption zugleich auch wieder relativiert. Sie gilt nur für den endlichen Geist, der selber seiner Existenz nach als abkünftig und abhängig von einer uneinholbar überlegenen, weil ursprünglich-vollkommenen Vernunftursache gedacht wird. Diese, im Grunde leibnizsche Erkenntnismetaphysik liegt den sehr wichtigen Erklärungen Baumgartens zugrunde, die er im § 557 der Aesthetica gibt: Ich glaube nicht, daß es nötig ist, darauf hinzuweisen, daß 1) keine höchste Wahrheit ästhetikologisch, sondern logisch im engern Sinne ist, 2) daß keine solche höchste Wahrheit dem Menschen zuteil wird, daß nichts von irgendeinem menschlichen Verstand auf der Stufe der höchsten, logischen Wahrheit erkannt wird, denn wer nur einen Gegenstand in dieser Weise erfaßt, der kennt alle zugleich. Daher ist der Abstand jeder dem Menschen zugänglichen ästhetikologischen Wahrheit gegenüber der höchsten, logischen Wahrheit, die nur der Allwissenheit zugänglich ist, infolge einer metaphysischen Unvollkommenheit unendlich groß. Und weil daher ein gesunder Geist auch mit der liebevollsten Bemühung um die Wahrheit nicht bis zu den Erkenntnissen gelangt, von denen er wissen kann, daß sie nicht möglich sind, wobei er aber nicht auf jede Erkenntnis verzichten will, sobald er erkannt hat, daß ihm nicht alles zugänglich werden kann: so muß er mit einem unendlich kleinen Teil der höchsten, logischen Wahrheit im weitern Sinne zufrieden sein, wohlgemerkt mit demjenigen, den er überhaupt erlangen kann.4

Non putaverim nunc opus esse demonstratione 1) nullam veritatem maximam esse aestheticologicam, sed strictius logicam, § 424, 2) talem veritatem nullam in hominem cadere, nullam rem in veritate logica maxima ab ullo hominum intellectu cognosci, quoniam qui unam ita co4

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Dies also ist die Seite der Beschränktheit des endlichen Subjekts, in bezug auf sein intellektuelles Vermögen. Die andere Seite jedoch stellt sich nun gerade gegenüber dem zwar unentbehrlichen, aber beschränkten Verstand in neuem Licht und neuer Bedeutung dar. In seinen ästhetischen Vermögen und deren komplementärer Beziehung zum Verstand wird das endliche Subjekt in dieser erweiterten Selbstgewißheit erst seiner eigentümlichen Macht inne: Es entdeckt, affirmiert und kultiviert seine Potenzen in allen Formen als für es selbst originäre Prinzipien des Erkennens und Handelns. Es gelangt darin auch zu einer neuen Bedeutung seiner Selbst-Empfindung und empfindenden Beziehung zur Welt. All dies artikuliert sich ja in den Jahrzehnten um die Jahrhundertmitte, als Baumgartens Aesthetica erschien, unübersehbar in der Dichtung, um nur etwa an Klopstocks Heiligung des Gefühls und die Entstehung des Genie-Gedankens zu erinnern, der sich bis etwa 1775 zu einer Art Kult steigerte. Hier wird die vormalige reine Jenseitigkeit des Heiligen als des produktiven Ursprungs aller Dinge, auch des Subjekts selbst, hereingezogen in die Selbstgewißheit des konkreten individuellen Subjekts. Es ist nun aber ebenso charakteristisch für dieses ästhetische Bewußtsein, daß der Gedanke der Heiligung in seiner Immanenz zugleich eben doch noch prinzipiell, in seinem eigenen Sinngehalt, zurückbezogen bleibt auf den an sich auch getrennt existierenden absoluten Ursprung als den Schöpfergott, die seingebende und darin gütige Ursache, die auch der letzte reale Grund der Möglichkeit von Schönheit bleibt. In dieser Spannung hält sich denn auch die philosophische Ästhetik Baumgartens. Schon innerhalb der Ästhetik liegt die Ambivalenz des sinnlich Bedeutsamen, als Naturschönes wie als Kunstschönes, darin, daß hiermit die sinnlichen Vermögen einerseits eine weltstiftende Potenz realisieren, andererseits aber eine immer vorausliegende metaphysische Ordnung nur repräsentieren; kurz, daß die ästhetischen Vermögen stets sowohl spontan, selbsttätig, als auch rezeptiv, bloß aufnehmend, etwas Gegebenes vorstellen. Die ästhetischen Vermögen müssen Zusammenhang durch sich selbst stiften können, doch dies zugleich so, als wäre der Zusammenhang auch schon von sich aus da, als wäre er mehr als bloß das subjektive Gemächte der Willkür eines beschränktes Geistes. Damit ergeben sich jedoch weiterreichende Fragen, die das Unternehmen der philosophischen Ästhetik selber als eine Art von Erkenntnis, die in einem angebbaren Zusammenhang mit anderer Erkenntnis stehen können muß, prognoscit, omnes novit. Hinc omnis veritatis apud hominem aestheticologicae, malum metaphysicum, defectus veritatis summae logicae in omniscientia tantum obviae infinite magnus. Adeoque mentis bene sanae studium veri amantissimum quoniam ferri tamen non potest in ea, quae nosse potest non posse fieri, nec omnino nihil velle, quam primum se non posse nancisci omnia cognoverit: contentum esse debet, parte veritatis logicae latius sumtae summae infinite parva, quam adipisci potest, § 556.

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blematisch machen. Wenn nämlich die eigentlich ästhetische Bedeutsamkeit letztlich nur durch Rückgriff auf einen über-ästhetischen Zusammenhang theoretisch gerechtigtfertigt und gesichert wird, dann ist sie doch gerade nicht als immanent sinnliche belassen und so gerechtfertigt; und so kann gerade auch umgekehrt argumentiert werden, daß die neuzeitlich-typische Insistenz auf der subjektimmanenten Eigenständigkeit und Eigenbedeutung des Ästhetischen die überästhetischen Gründe als reale, objektive Gründe sogar fragwürdig mache: Wenn nämlich diese Gründe die Garanten des Wahrheitsgehalts ästhetischer Phänomene und Gebilde sind, dann werden diese bereits bloß subsumiert, ihre nur an ihnen selbst sich zeigende Eigenbedeutung wird bereits von einem Andern her in den Griff genommen, um als so begriffene „philosophisch“ gerechtfertigt zu werden. Dasjenige aber, was im genuinen ästhetischen Akt zu vollbringen und zu erfahren ist, stellt sich nur her unter der Bedingung der je einmaligen, unvertretbaren Perspektive eines individuellen Subjekts in einem bestimmten, veränderlichen Raumzeitpunkt. Jeder mögliche Gehalt einer ästhetischen Erfahrung bedarf der Erfüllung dieser Bedingung, um wirklich zu werden, d.h. um von einem existierenden individuellen Subjekt in der Form jener vorbegrifflich-sinnlichen Synthesis, als bestimmte cognitio sensitiva, vollzogen zu werden. Diese Unhintergehbarkeit des individuell-subjektiven Vollzugs von Sinnlichkeit fixiert eben das, was Kant das Aposteriori nennt, als ein selber wesentliches, unentbehrliches Element, ohne daß es weder Schönheit noch ästhetisches Bewußtsein gibt. Wenn nun derart die Eigenart und Irreduzibilität der sinnlichen Auffassung gegenüber der rationalen Erkenntnis prinzipiell anerkannt und fixiert wird, dann ergibt sich daraus eine für die Metaphysik insgesamt bedrohliche Konsequenz: nämlich die, daß jegliche rein rationale und damit eben insbesondere metaphysische Erkenntnis auch nicht mehr beanspruchen kann, die in concreto nur über die Sinnlichkeit zugängliche Realität durch eine übergeordnete Letztbegründung zu erklären. Die Konsequenz wäre, mit anderen Worten, die Suspendierung gerade des Erkenntnisanspruchs, den die Metaphysik als Letztbegründung und Erklärung auch noch des Sinnlichen erhoben hat. Mit diesen Überlegungen stehen wir an der Grenze, die Baumgarten methodisch und daraus folgend auch inhaltlich von Kant trennt. Die zuletzt beschriebene Konsequenz aus der von Baumgarten selbst als uneinholbar erkannten Heterogenität des Sinnlichen gegenüber dem Intellektuellen würde den entscheidenden Schritt in der Richtung auf das ungeheure Unternehmen Kants bedeuten. Baumgarten hat diesen Schritt keineswegs selbst schon getan – aber eben deshalb bleibt seine Konzeption der Ästhetik als philosophischer Disziplin auf der Grundlage und im Rahmen der rationalistischen Metaphysik methodisch zwiespältig, und die implizite Krisis des Projekts der Ästhetik bleibt noch unentschieden.

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IV. Prinzipiell betrachtet, liegt dem gesamten Unternehmen der philosophischen Ästhetik bei Baumgarten das folgende von ihm nicht explizit gemachte Dilemma zu Grunde: Wenn die endliche Perspektive, also die Wissensform, in der sich endliches Bewußtsein vorfindet, unhintergehbar ist, dann bricht der Wissensanspruch zusammen, der doch wieder die metaphysische Integration alles Endlichen in die Ordnung des Universums und ihres letzten Grundes garantieren sollte. Wenn dagegen an der Letztbegründung in einer Theologie der Vernunft festgehalten wird, dann kann die defiziente Vollzugsform von Rationalität im endlichen Selbstbewußtsein keine eigene Wahrheit beanspruchen, und was als „Ästhetik” eine eigene Erkenntnis vermitteln soll, ist nur eine verworrene Repräsentation dessen, was die metaphysischen Disziplinen auf der rein begrifflichen Ebene deutlich zu denken geben, ohne es allerdings je im Detail bestimmen zu können (wie z.B. das Zitat aus Aesthetica § 557 zeigte). Sehen wir Baumgarten auf den Hörnern dieses Dilemmas balancieren, so sehen wir zugleich auch, wie genau er zwischen Leibniz und Kant steht – und wie beide auf ihre Weise ihn an Konsequenz in der Architektur ihrer philosophischen Gedanken überragen: Die zuerst genannte Alternative beschreibt den Kantischen Schritt in das Prinzip des endlichen Selbstbewußtseins, und die zweite Alternative war genau die Position von Leibniz, der noch keine eigenständige, wahrheitsfähige „Ästhetik“ kennt. Der entscheidende Schritt, den Baumgarten über Leibniz hinaus tut, ist also die prinzipielle und verselbständigende Anerkennung der sinnlichen Form und Qualität des wahrnehmenden Weltbezugs, an den endliche Subjekte unaufhebbar gebunden sind. Doch so sehr diese Verselbständigung der Sinnlichkeit das ist, was Baumgarten mit Kant gemeinsam hat, so läßt doch gerade erst die ganze vielschichtige philosophische Leistung Kants erkennen, wie wenig Baumgarten noch die systematische und methodische Tragweite seines Schrittes über Leibniz hinaus selber begriffen hat. Die entscheidende Frage, die Baumgarten nicht mehr gestellt hat, ist die Frage, die auf die interne Verfassung des erkennenden Subjekts für sich selbst gerichtet wäre – die Frage, welcher Art denn diejenige Erkenntnis sei, die Sinnlichkeit und Verstand in ihrer Heterogenität zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen vermag, also von den heterogenen Seiten als solchen ein genuines Wissen besitzt. Baumgarten behandelt die Unterscheidung von sinnlicher und rationaler Erkenntnis als eine selber metaphysische Erkenntnis; er ist deshalb nicht zu dem Problem vorgedrungen, das sich methodisch aus jener Heterogenität ergibt: Der in ihr verfaßte endliche Geist kann aufgrund dieser seiner immanenten Bedingungen gar kein Wissen davon haben, daß die materiale Vollkommenheit, deren die cognitio sensitiva auf ihre Weise gewahr wird, für die

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vollkommene Vernunft in rein rationaler Form und sogar als rein rationaler Sachgehalt einsehbar wäre. Und da diese absolut adäquate Einsicht zugleich der letzte Grund aller Realität sein soll, muß das Problem sogar noch dahin verschärft werden, daß dann auch nicht mehr gesichert ist, ob und wie sich die Begriffe und Regeln des Verstandes, auch des endlichen, überhaupt auf diejenige Realität beziehen lassen, die durch die Sinne vorgestellt wird – bzw. was überhaupt noch als „Realität“ gelten kann. Denn wenn die vollständig rationale Existenzsetzung der Welt eben jenseits der wirklichen inhaltlichen Einsicht der natürlichen Vernunft liegen soll, dann kann ihre Voraussetzung auch nicht länger die Erkennbarkeit des sinnlich Mannigfaltigen und seiner Ordnung garantieren; dann muß vielmehr die endliche Vernunft selber, aus eigener Kraft und mit den ihr wirklich verfügbaren Mitteln, diese Beziehung und Vereinigung des Sinnlichen mit dem Intelligiblen zustande bringen, sofern Erkenntnis überhaupt möglich und in dieser Möglichkeit einsichtig begründbar sein soll. Derartige Untersuchung und Begründung wäre aber zunächst selbst und unmittelbar keine gegenständliche, sie handelte weder von metaphysischen Gegenständen, ihren Eigenschaften und Beziehungen, wie etwa die metaphysische Psychologie, noch von empirischen Gegenständen, deren Konstitution mit dem Verlust der metaphysischen Global-Garantie ja gerade problematisch geworden ist. Genau diese Untersuchung der selber erfahrungsunabhängigen Formen und Prinzipien der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Vernunft als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung hat Immanuel Kant zuerst als die grundlegende, aber bisher noch gar nicht gestellte Aufgabe der Philosophie begriffen. In seiner Dissertation über den Weltbegriff von 1770 hat Kant diese grundlegende Untersuchung der Bedingungen und Grenzen endlicher Erkenntnis einer scientia propaedeutica übertragen; und er hat sie dann, seit der Kritik der reinen Vernunft, als ‘transzendentale’ Untersuchung bezeichnet und damit jenes reflexive Attribut aufgenommen, das in der schulphilosophischen Ontologie den allerallgemeinsten Prädikaten des Seienden – Ens qua Ens – zugesprochen wurde. Erhielt Baumgartens Ästhetik ihre Begründung in der metaphysischen Lehre vom rationalen Ursprung und den wesentlichen Eigenschaften und Ordnungsbeziehungen des natürlich Seienden, so verliert sie mit der prinzipiellen Suspendierung dieser Metaphysik ihre Erklärungs- und Deutungskraft für das Phänomen des Ästhetischen: Die Harmonie, die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen der Dinge und des objektiv Vorstellbaren, ist nicht mehr durch eine supramundane ultima ratio gesichert. Vielmehr kann die Möglichkeit solcher Harmonie in der Komplexität des sinnlich Wahrnehmbaren – vorbegrifflich, aber nach Analogie mit einer bewußt ordnenden Vernunft – nur dann noch behauptet werden, wenn das wahrnehmende Subjekt selber die Bedingungen dieser Möglichkeit aus seiner immanenten Verfassung heraus erbringt;

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d.h. wenn das Subjekt seine ästhetische Erfahrung allererst aufgrund dieser Bedingungen konstituiert. Eben dies ist es, was Kant in der Kritik der Urteilskraft zu zeigen versucht. Wir können durchaus sagen, daß Kant hierin exakt diejenige Deutung des Ästhetischen aufnimmt, durch die Baumgarten den unmittelbaren Sinn desselben bestimmt hat, nämlich: Wenn Sinnliches als schön erfahren wird, so liegt solcher Erfahrung ein Gefühl der Übereinstimmung des Mannigfaltigen zugrunde – einer Übereinstimmung, die als solche in der Erfahrung selbst gar nicht näher bestimmt und bestimmbar ist, weil sie sich einerseits überhaupt nur vorbegrifflich zeigt und weil andererseits dem wahrnehmenden Bewußtsein in seiner Endlichkeit auch prinzipiell keine bestimmten Begriffe zur Verfügung stehen, in denen diese Harmonie als die einer unendlich komplexen Mannigfaltigkeit je vollständig objektiviert werden könnte. Doch wenn Kant nun die so beschriebene Erfahrung des Ästhetischen statt wie Baumgarten durch einen der Welt und dem Subjekt transzendenten Grund durch die Möglichkeit einer innersubjektiven Harmonie der an der Wahrnehmung beteiligten Vermögen erklärt, so liegt darin auch die Kritik, weil Einschränkung, daß solche Erklärung keinen hinreichenden und objektiven Grund für das Faktum der ästhetischen Erfahrung und seine wesentlichen Formen geben kann. Indem Kant derart die theoretischen Prämissen der reflexiven Wissenschaft des Ästhetischen revolutioniert – von der transzendierenden Entschränkung der natürlichen Vernunft in die Grenzen ihrer immanenten Selbsterkenntnis zurückverlegt –, bringt er die implizite Krisis der neuen Ästhetik zum Durchbruch und zur Entscheidung – und zwar zu einer negativen Entscheidung. Was die Philosophie als kritische Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit des Wissens für das Phänomen des ästhetischen Auffassens leisten kann, das ist zunächst der Nachweis, daß auch dieses Phänomen eine Bedingung a priori an der Einheit des Bewußtseins und den universalen Ordnungsfunktionen hat, in die sich jene Einheit differenziert. Schon das schlichte Vorkommen eines solchen Phänomens ist, der Transzendentalphilosophie zufolge, nur möglich, insofern es in seiner Konstitution schon bezogen ist auf das Begriffsvermögen überhaupt, den Verstand. Baumgarten hat, trotz seiner Scheidung von Vorbegrifflich-Ästhetischem und ratio, diese Bedingung auf mittelbare Weise ebenfalls ins Spiel gebracht – nur in der eigentlich unerklärlichen sinnlich-reflexiven Zusammenfassung, die das Vermögen eines Analogons zur Vernunft leistet, ordnet sich Mannigfaltiges zu einer den endlichen Geist unmittelbar befriedigenden Übereinstimmung. Nur die Beziehung auf bestimmte Begriffe ist hier fernzuhalten, nicht die Beziehung auf Ordnungsmöglichkeiten überhaupt. Doch weiter reicht die Macht des Verstandes im Bezug auf das Ästhetische auch nicht – und hiermit haben wir genau jenen blinden Fleck der Ästhetik als Wissenschaft erreicht, den Baumgartens Rede vom analogon rationis ohne unmittelba-

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ren Erklärungswert besetzt: Indem seine Erklärung abstrakt zurückgreift auf die gesamte Metaphysik – Ontologie, Kosmologie, Psychologie und Theologie –, macht er das ästhetische Bewußtsein zu einem äußerlichen Gegenstand, nämlich einem Seienden, und erfaßt nicht seine von sich aus tätige innere Struktur und Bestimmtheit. Allerdings, auch Kant, wenn er hier die Beziehung der Synthesis der Einbildungskraft auf das „Begriffsvermögen überhaupt“ einführt, gibt nur eine abstrakte Bedingung an, die nicht beanspruchen kann, a priori zu erklären, wie sich aus dieser Beziehung von Einbildungskraft und Begriffsvermögen, d.h. Verstand, die eigentümliche Qualität des ästhetischen Urteils ergibt – jenes ‘interesselose Wohlgefallen’, das auf dem Innewerden der Harmonie von sinnlichem und intellektuellem Vermögen anläßlich des je gerade empirisch Wahrgenommenen beruht. Wohl aber liegt hierin nun die Konsequenz, daß für die Konstitution des ästhetischen Bewußtseins der Rückgriff auf objektiv bestimmende Voraussetzungen keinen Erklärungswert besitzt. Eine solche Erklärung müßte ihm grundsätzlich eine Selbsttäuschung unterstellen und würde es damit gerade nicht mehr in seiner Eigentümlichkeit erfassen bzw. ernst nehmen. Gerade angesichts der Baumgartenschen Entdeckung eines derartigen Eigenrechts und Eigensinns des Ästhetischen zeigt sich hierin ein weiterer, zugespitzter Aspekt seiner prinzipiell-methodischen Inkonsequenz. Demgegenüber macht erst Kants Begründung der Leistungen des endlichen Bewußtseins aus seiner inneren Verfassung und den Bedingungen seiner Natur heraus deutlich, daß die spezifisch ästhetische Leistung nur dann nicht wegerklärt wird, wenn sie als Resultat einer inneren Reflexion der den Weltbezug erst ermöglichenden Vermögen des Subjekts begriffen wird. Die Beziehung der Synthesis des Mannigfaltigen der Einbildungskraft auf den Verstand als Vermögen der Begriffe bzw. Regeln ist die Aufgabe der Urteilskraft. Nun führt deren Subsumtionsleistung nur dann zu einem interesselosen Wohlgefallen – das weder bloß sinnlich noch durch Erreichen eines beabsichtigten Zweckes bedingt sein kann –, wenn sie nicht von vornherein auf einen bestimmten Begriff ausgerichtet ist, sich also nicht als bestimmende, sondern als bloß reflektierende Urteilskraft vollzieht. Die Eigenart des Ästhetischen wird ja für Kant nicht anders als für Baumgarten gerade gesichert durch die Unabhängigkeit der nicht-begrifflichen Synthesis – ihr entspricht Baumgartens extensive Klarheit – von der Subsumtion unter bestimmte Begriffe bzw. Merkmale. Doch gleichwohl ist sie als Vollzug des an ihm selbst einheitlichen Subjekts auch nicht vollständig ablösbar von der Beziehung auf die ordnende Macht des Denkens, des Verstandes und der Vernunft überhaupt. Somit muß sich jene Subsumtion der reflektierenden Urteilskraft doch jedenfalls als Subsumtion der Einbildungskraft, soweit sie „ohne Begriff schematisiert“,5 unter das Vermögen der 5

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: AA, Bd. 5, B 146.

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Begriffe überhaupt vollziehen. In dieser Beziehung der Einbildungskraft in ihrer Freiheit auf den Verstand in seiner Gesetzmäßigkeit entscheidet sich jeweils, d.h. in jedem aktualen Vollzug neu und nicht antizipierbar, ob das jeweils vorgestellte konkrete Mannigfaltige der Einbildungskraft mit dem Verstand zusammenstimmt oder nicht. Wenn nun Ästhetik als Wissenschaft möglich sein soll unter den methodischen Bedingungen nach Kants transzendentaler Wende, so muß a priori angebbar sein, wie jene bloß reflektierende Subsumtion unter das Vermögen des Verstandes überhaupt, ohne bestimmtbestimmenden Begriff zu vollziehen sei. Weil genau dies aber prinzipiell, nach Maßgabe aller hier beteiligten Vermögen und ihrer transzendentalen Bestimmung, unmöglich ist, ist auch Ästhetik als Wissenschaft a priori unmöglich. – Damit wird auch klar, warum Kant 1787 in der Anmerkung zu Beginn der „Transzendentalen Ästhetik“ der Kritik der reinen Vernunft dafür plädiert hat, den Namen ‘Ästhetik’ entweder wieder „eingehen zu lassen“ oder ihn „teils im transzendentalen Sinne, teils in psychologischer Bedeutung“ zu nehmen.6 Ästhetik im transzendentalen Sinne kann zwar die Wissenschaft von den Bedingungen der Möglichkeit der Sinnlichkeit überhaupt genannt werden, nicht aber desjenigen Ästhetischen in Baumgartens Sinn, das Kant dem Geschmacksurteil zuordnet. Ästhetik in psychologischer Bedeutung hingegen bleibt eine empirische Disziplin, von der allein die Prinzipien a priori in jenem ersten Sinne Sache der Philosophie sind. V. Wenn Baumgarten die Irreduzibilität sinnlicher Repräsentation des Individuellen in seiner Besonderheit ernst meint – und dies tut er zweifellos –, dann bedeutet das eo ipso, daß die reine Verstandeserkenntnis ihrerseits beschränkt ist und als beschränkte festgeschrieben wird. Es muß dann aber zum Problem werden, wie eine Erkenntnis des Individuellen in seiner unendlichen Mannigfalt und Besonderheit ohne nicht-intellektuelle Komponenten – oder gar überhaupt auf nichtintellektuelle Weise – möglich sein soll. Denn was leistet das obere Erkenntnisvermögen rein für sich genommen? Worauf beziehen sich die Begriffe des Verstandes und der Vernunft, all jene Begriffe, mit denen das ganze Gebäude der allgemeinen und speziellen Metaphysik errichtet wurde? Inwiefern kann überhaupt beansprucht werden, etwa mit der Widerspruchsfreiheit des Seienden als Seiendem, mit seiner notwendigen Einheit und der Übereinstimmung seiner sogenannten inneren Bestimmungen, als seiner inneren Vollkommenheit, sei über „alles“ Seiende etwas erkannt,7 so auch über alles, was in sinnlicher Reprä6 7

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: AA, Bd. 3, B 35. Vgl. Metaphysik, §§ 39 ff.

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sentation als seiend vermeint wird? Ist einmal die Trennung aller Formen nichtintellektueller Vorstellung von der durch bestimmte Begriffe deutlichen Erkenntnis als unüberwindlich anerkannt, so ist der nächste Schritt in dieser Reflexion zumindest die Trennung aller Gegenstände der intellektuellen Erkenntnis von den Gegenständen der sinnlichen Erkenntnis. Diese Reflexion, deren Produkt eben diese Trennung ist, gehört dann aber selber ganz wesentlich zur Philosophie – schafft sie doch überhaupt erst das methodische Fundament für eine angemessene Einschätzung der Leistungen und Funktionen der Erkenntnisvermögen als solcher, ihrer Grenzen und Eigentümlichkeiten. Anstelle dieser von Baumgarten nicht durchgeführten prinzipiell-methodischen Reflexion steht bei ihm noch die objektiv gerichtete Metaphysik, die beansprucht, mit Begriffen des reinen Verstandes – oder auch der reinen Vernunft, was hier noch gleichbedeutend ist –, sowohl die rationale Verfassung der Welt und ihres letzten Grundes als auch die individualia a priori zu begreifen. Die individualia aber sind eben diejenigen Teile der Welt, die in ihrer Besonderheit und Bestimmtheit dem endlichen Bewußtsein nur in sinnlichverworrener Komplexität, aber auch eben in spezifisch ästhetischer Ordnung und Bedeutung zugänglich sind. Mit dieser unterschiedlichen Erkenntnisweise des Mannigfaltigen und Besonderen der Einzeldinge – einmal nur im Allgemeinen, zum andern nur im Besonderen – fallen auch die beiden Seinsweisen auseinander: die intelligible und die sinnliche Seinsweise des individuell Seienden, seiner Bestimmungen und Beziehungen. Die hier zu Grunde gelegte Unterscheidung der entsprechenden Erkenntnisformen war für Baumgarten einfach eine Lehre der Psychologie, die in ihren beiden Teilen, der empirischen und der rationalen Psychologie, den zweiten Hauptteil der speziellen Metaphysik bildet. Darin liegt aber die Inkonsequenz, daß Eigenrecht und Eigenart des Sinnlichen, die auf der ästhetischen Ebene stets und grundsätzlich vorausgesetzt werden, auf der metaphysischen Ebene wieder zurückgenommen werden. Die Unterscheidung und Grenzbestimmung von Erkenntnisweisen hinsichtlich ihrer je eigenen Formen und Prinzipien muß sich noch aller objektiver Erkenntnisansprüche enthalten, soll doch die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit solcher Ansprüche gerade erst von dieser kritischen Reflexion, der methodischen Begründung möglichen Wissens überhaupt, abhängen. Die unaufhebbare Differenz von Sinnlichkeit und Intellekt ernst nehmen, heißt, die Endlichkeit des erkennenden Subjekts ernst nehmen. Die damit nachweisbare kritische Selbstprüfung des Vermögens zur Erkenntnis unter den Bedingungen der Endlichkeit ist also eine immanente Konsequenz der philosophischen Selbstbestimmung des Subjekts – des Subjekts nämlich, dessen immanente Selbstgewißheit das Fundament bildet für alle Wahrheitsansprüche der neuzeitlichen Metaphysik, weil für deren leitende Idee von Wahrheit überhaupt. Erst wo die immanente kritische Selbstprüfung dieses philosophischen

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Subjekts hinsichtlich seiner Erkenntnisformen und -prinzipien allen auf seiende Gegenstände bezogenen Erkenntnisansprüchen vorgeordnet wird, um auf Grund jener Prüfung allererst über diese Ansprüche erkenntniskritisch zu entscheiden, erst dort löst sich die neuzeitliche Metaphysik prinzipiell von den theologischen Vorgaben, die sie mit ihrer Begrifflichkeit von den vorangegangenen Epochen der abendländischen Metaphysik, d.i. der antiken und der mittelalterlichen, geerbt hat. Diese kritische Selbstprüfung des Subjekts der natürlichen Vernunft, welches das philosophierende Subjekt ist, der gesamten Philosophie allererst zu Grunde zu legen, ist der das Ganze des Begründungszusammenhangs „revolutionierende“ Schritt Immanuel Kants. Mit ihm, so müssen wir deshalb sagen, kommt die Metaphysik der Neuzeit erst ganz zu sich, ergreift sie ihr innerstes Prinzip als Prinzip und organisiert sich vollständig neu und zugleich zu einem an ihr selbst und durch sich selbst vollendeten Ganzen, d.h. zum „System der reinen Vernunft“.8 Baumgarten begründet die Gegenstände der Erkenntnis, auch die der „Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis“, in einer leibnizschen objektiven Metaphysik, welche allem Seienden einen absolut rationalen Ursprung voraussetzt. Andererseits aber macht er die prinzipielle Nichtreduzierbarkeit, den Eigenwert und die Wahrheit des sinnlichen Zugangs zu diesem Seienden für das endliche Erkenntnissubjekt geltend und antizipiert damit Kants Lehre von den „zwei Stämmen der menschlichen Erkenntnis“. Anders als Kant behandelt er jedoch diese Unterscheidung nicht als prinzipiell-methodische Bedingung aller gegenständlichen Erkenntnisansprüche, sondern unterstellt sie der metaphysisch vorgestellten, aber nicht im eigenen, philosophischen Denken des endlichen Erkenntnissubjekts begründeten Ordnung des Seienden im ganzen. Baumgarten on the one hand accounts for the objects of knowledge, even for those of sensitive knowledge, by means of a leibnizian objective metaphysics, which presupposes to all beings an absolutely rational origin. On the other hand, however, he lays emphasis on the fundamental irreducibility, the specific value and truth of the sensual access to these beings for the finite subject, thereby anticipating Kant’s doctrine of the two „trunks of human knowledge“. Unlike Kant, however, he does not treat this difference as a principal-methodical condition for all objective claims of knowledge, but considers it subordinate to the order of being in the whole, which is presupposed by metaphysical representation an conception, but not justified immanently, i.e. within the bounds of the representing and conceiving subject itself. Prof. Dr. Klaus Erich Kaehler, Philosophisches Seminar, Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, D-50923 Köln, E-Mail: [email protected] 8

Vgl. Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 6), B 25 ff.

S ALVATORE T E D E SC O A.G. Baumgartens Ästhetik im Kontext der Aufklärung: Metaphysik, Rhetorik, Anthropologie

Es wäre ziemlich einfach, die Beziehungen Baumgartens zu den Poetiken, Ästhetiken und allgemein den philosophischen Bestrebungen des 18. Jahrhunderts zu umreißen. Da hätte man erstens den Platz Baumgartens in der Entwicklung der sogenannten ‘Wolffschen Schule’ deutlich zu bestimmen. Zum zweiten hätte man die Beziehungen zu den ‘Critischen Dichtkünsten’ der ersten Hälfte des Jahrhunderts abzuwägen – etwa eines Gottsched und Breitinger, aber wohl auch eines Gleim oder Pyra.1 Weiter hätte man die Geschichte einer zwar kleinen, aber einflußreichen Reihe von Schülern Baumgartens nachzuzeichnen, und das bedeutete nicht nur, die wissenschaftliche Tätigkeit Meiers (dessen philosophische Karriere vom Beweis der vorherbestimmten Übereinstimmung, Halle 1743, über die Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt, Halle 1744, bis hin zu dem späten Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, Halle 1757, und den Beyträge[n] zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts, Halle 1766, eine kleine Geschichte der Spätaufklärung ergäbe) oder Flögels (Verfasser der Einleitung in die Erfindungskunst von 1760 und der Geschichte des menschlichen Verstandes aus dem Jahre 1765, beides Schlüsselwerke für die Entwicklung des GenieGedankens in Deutschland) zu rekonstruieren, sondern ebenso auf die Tätigkeit wenig beachteter Autoren wie Georg Andreas Will (dessen Oratio sollemnis de Aesthetica veterum von 1756 eine äußerst interessante These über die Genealogie der Ästhetik entwirft) Bezug zu nehmen. Schließlich hätte man auch die prominentesten Autoren der Spätaufklärung mit einzubeziehen, um beispielsVgl. z.B.: Johann Jacob Breitinger, Critische Dichtkunst, 2 Bde. (1740), Faks.-Ausg., mit einem Nachwort von Wolfgang Bender, Stuttgart 1966; J.J. B., Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse (1740), Faks.-Ausg., mit einem Nachwort von Manfred Windfuhr, Stuttgart 1967; Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (³1742), Berlin, New York 1973; Immanuel Pyra, Erweis daß die G*ttsch*dianische Secte den Geschmack verderbe, Hamburg, Leipzig 1743. 1

Aufklärung 20 · © Felix Meiner Verlag 2008 · ISSN 0178-7128

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weise in den Werken eines Mendelssohn die Fortsetzung einiger Gedanken Baumgartens auszumachen, die freilich ohne die Lösung des ursprünglich systematischen Aufbaus nicht zu verstehen wären; auch ließe sich vielleicht im Werk des jungen Herder die tiefste Konfrontation mit Baumgarten – sozusagen die höchste Nachbarschaft und die entschiedenste Trennung – finden, denn Herder löst die Ästhetik von ihrem logisch-argumentativen Geleise ab, um eine ‘Physik der Seele’, Kern der künftigen Anthropologie und Philosophie der Geschichte der Ideen, zu skizzieren. Schließlich sollte man natürlich auch Kant berühren, um vielleicht im Versuch über den Geschmack (in der zweiten Auflage von 1790) seines Lieblingsschülers Markus Herz mehr als nur einen kuriosen Einfall zu erblicken, da das Ende des leibniz-wolffschen Kontinuismus, das Kants Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis 1770 dekretiert hatte, zu einer Spaltung zwischen einer ‘exakten Wissenschaft’ der psychischen Reaktionen auf bestimmte Formen und einer ‘Pathologie des Geschmacks’ führt, und so das Ende des Zeitalter des Geschmacks vorwegnimmt. Ein solcher Querschnitt durch die Beziehungen der Ästhetik Baumgartens zum Denken seines Jahrhunderts wäre also ohne weiteres möglich. Aber ein solches durchaus notwendiges Unternehmen würde die Grenzen eines Aufsatzes übersteigen. Es könnte nur in Form einer Folge von Einzelstudien geleistet werden, von denen im übrigen einige bereits vorhanden sind (man denke nur an die ausgezeichneten Arbeiten Hans Adlers über Baumgarten und Herder2 oder auch an die Pietro Pimpinellas über Wolff und Baumgarten3). Es würde zu der Einsicht führen, daß Baumgartens Stellung im Rahmen der Aufklärung immer zugleich ein ‘zu viel’ und ein ‘zu wenig’ ist: ein ‘zu viel’ in bezug auf die Poetiken der Frühaufklärung und die Debatte der ersten Hälfte des Jahrhunderts überhaupt, deren Dynamik in Richtung auf Baumgartens Ästhetik vielleicht nur fast vergessene Schriften, wie die Critischen Beiträge einer Hans Adler, Fundus animae – Der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung, in: DVjS 62 (1988), 197–220; H. A., Die Prägnanz des Dunklen, Hamburg 1990. 3 Pietro Pimpinella, Imaginatio, phantasia e facultas fingendi in Wolff e Baumgarten, in: Marta Fattori, Mario Bianchi (Hg.), Phantasiaimaginatio, Roma 1988; L’Æsthetica di Baumgarten. Gnoseologia leibniziana e retorica antica, in: Lexicon Philosophicum 4 (1989), 101–112; Truth and persuasion in Baumgarten’s Æsthetica in relation to Croce’s criticism, in: Lexicon Philosophicum 6 (1993), 21–49; Baumgarten e le origini dell’estetica, in: P.P., Antonio Lamarra, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus di A.G. Baumgarten. Testo, indici, concordanze, Firenze 1993; Sensus e sensatio in Wolff e Baumgarten, in: Mario Luigi Bianchi (Hg.), Sensus – Sensatio, Firenze 1996, 471–498; Intorno ai termini Æsthetica, æstheticus, e i suoi composti, in: Marta Fattori (Hg.), Il vocabolario della République des Lettres. Terminologia filosofica e storia della filosofia. Problemi di metodo, Firenze 1997, 221–234; Ragione e sensibilità nelle poetiche critiche di Gottsched e Breitinger e nell’estetica di Baumgarten, in: Lexicon Philosophicum 10 (1999), 121–150. 2

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Greifswälder Gesellschaft, oder die Reihe einiger fast schon obskurer Dissertationen, wie die von J.H. Pries De indole orationum ad captum vulgi aus dem Jahre 1742 oder die von J.D. Aepinus De opinionum vulgarium usu poetico von 1744, beleuchten könnten, und zwar insofern, als in ihnen die Erfordernis zutage tritt, einen allgemeineren Gesichtspunkt zu unterschiedlichen Erkenntnisweisen zu finden, in deren Zentrum die Sinnlichkeit steht; ein ‘zu wenig’, wenn man die deutsche Debatte der Spätaufklärung berücksichtigt, deren Ansprüche sich mehr und mehr von Baumgartens neuer Instrumentalphilosophie entfernen. Es ist also methodologisch ratsamer und vielleicht auch heuristischer, einen umgekehrten Weg einzuschlagen, und zwar einen, der sozusagen aus dem Herz des systematischen Gerüsts der Baumgartenschen Ästhetik, aus dem Kern seiner neuen Instrumentalphilosophie, heraus den Weg in die Philosophie des 18. Jahrhunderts sucht, um damit möglicherweise auch die in gewisser Hinsicht ungebrochene Aktualität Baumgartens zu erweisen. Das kann in drei Schritten erfolgen, die m.E. das Hauptanliegen der Ästhetik Baumgartens berücksichtigen. Der erste Schritt betrifft die wohlbekannte Erklärung, die sich im § 1 der Ästhetik findet: „Aesthetica […] est scientia cognitionis sensitivae“. Sie wäre im Grunde genommen gehaltlos, wenn sie keine genaue Gliederung erführe und, wie ich meine, keine Steigerungsmöglichkeit der „cognitio sensitiva“ enthielte; in diesem Sinn hat Baumgarten jene Geste wiederholt, mit der Leibniz4 Descartes’ Prinzip der „Klar-Deutlichkeit“ als leer und unnütz ablehnte, solange keine genauen Kriterien für eine Begriffsanalyse festgelegt sind: „et nisi constet de veritate idearum“.5 Dem folgt bei Baumgarten die Formulierung von sechs Kriterien, sechs Kennzeichen der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis: „Reichtum, Adel, Wahrheit, Licht, Überzeugung und Leben“.6 Von ihnen hängt die ganze Struktur der Ästhetik Baumgartens ab – und dennoch sind sie immer wieder entstellt worden. Um hier nur ein, nicht ganz absichtsloses Beispiel zu nennen: In Gernot Böhmes Aisthetik aus dem Jahre 2001 heißt es: „diese Kriterien wirken etwas unbeholfen“.7 Böhme bezieht sich freilich nur auf die ersten fünf, auf die er im übrigen in einer Auseinandersetzung mit Meier und nicht mit Baumgarten Bezug nimmt. Mag sein, daß sie unbeholfen wirken. Mehr jedoch käme vermutlich dabei heraus, wenn man einmal nach der methodologischen Funktion und dem systematischen Zusammenhang solcher Kriterien fragte, um darin schließlich Vgl. z.B. Gottfried Wilhelm Leibniz, Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis, PhS, Bd. 4, 422–426. 5 Ebd., 425. 6 Nach der mnemonischen Zeile der deutschen Vorlesungen, Kollegnachschrift Poppe, § 22 (83). 7 Gernot Böhme, Aisthetik, München 2001, 16. 4

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eine Artikulation der cognitio sensitiva zu finden, die auf die beiden Grundsätze von Leibniz (Begriffsanalyse und veritas idearum, d.h. ontologische Fundierung) abzielt und eine Steigerungsstrategie vorwegnimmt, die Erkenntniswert und Praxis paart. Während die beiden ersten Kriterien die Weite und Relevanz der Objekte und der Erkenntnisweisen betreffen, hat das dritte Kriterium (Wahrheit) komplexere Aufgaben: einerseits wird es für die Legitimität in Anspruch genommen, eine ontologische Wahrheit sinnlich zu konzipieren; andererseits soll es unterschiedliche Grade der „ästhetischen Wahrheit“ begreifbar machen; und schließlich soll es die Möglichkeit einer ästhetologischen Fundierung der Poetik der Fabel und der möglichen Welten andeuten. Lassen Sie mich zunächst ein paar Worte über die erste und wichtigste Aufgabe verlieren: die Vernunft, nach Leibniz „enchainement inviolable des verités“8 und nach Wolff „das Vermögen den Zusammenhang der Wahrheiten einzusehen“,9 wird bei Baumgarten10 ein „intellectum nexum rerum perspicientem“ (d.h.: distincte percipientem), und analog dazu wird der Sinnlichkeit das Vermögen zuerkannt, den nexum rerum confusius cognoscendi. Die sinnliche Herausarbeitung des nexus rerum – und d.h. die Wahrheit einer sinnlichen Weise, die ontologische Realität zu erkennen, herausarbeiten und zugleich Vervollkommnung dieser Wahrheit – steht im Zentrum der Ästhetik. Ästhetische Wahrheit ist in erster Linie „ordo plurium in uno“, denn einerseits heißt es bei Baumgarten mit Bezug auf den nexum internum „Veritas aesthetica postulat obiectorum eleganter cogitandorum possibilitatem absolutam, quatenus sensitive cognoscenda est“,11 und andererseits „Veritas aesthetica requirit obiectorum pulcre cogitandorum nexum cum rationibus et rationatis quatenus ille sensitive cognoscendus est“.12 Licht gilt es, ganz im Sinne dieser analytischen Vervollkommnung, als Leitfaden einer Analyse der verschiedenen Erkenntnisweisen klar zu erkennen. Bereits die Meditationes von 1735 hatten zwischen einer extensiven und einer intensiven Klarheit unterschieden. Nun wird es möglich, das Kriterium mit Hilfe der antiken Theorie der Malerei (via Plinius) im Hinblick auf die Überzeugungskraft der sinnlichen Erkenntnis auszudifferenzieren. Überzeugung: Eigentlich wäre es notwendig, dieses fünfte Kriterium eingehend zu analysieren, doch möchte ich mich hier auf den Hinweis beschränken, daß es sich bei der „Überzeugung“ Baumgartens um ein strikt erkenntnistheoGottfried Wilhelm Leibniz, Théodicée, PhS, Bd. 6, 64. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von GOTT, der Welt und der Seele des Menschen, usw. (Deutsche Metaphysik), 1751 (1720), in: GW I.2, § 368. 10 Metaphysik, § 640. 11 Ästhetik, § 431. 12 Ebd., § 437. 8 9

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retisches Kriterium handelt, das – mit Bezug auf das sechste und letzte Kriterium, das Leben der Erkenntnis – einen Weg in die Praxis eröffnet. Baumgarten zieht hier die Möglichkeit in Erwägung, daß die sinnliche Wahrheit eminent sufficiens ad agendum,13 d.h. „eine rührende, bewegende, thätige, wircksame Kenntnis“14 sei. Das Leben der Erkenntnis drückt sich in der Belebung anderer Vorstellungen aus, die sich ihrerseits als Akte des Willens ausdrücken. Ohne Bezug auf Wolffs These von der absoluten Folgerichtigkeit zwischen Erkennen und Wollen ist eine solche Artikulation der sinnlichen Erkenntnis kaum zu verstehen. Gleichwohl ist Baumgartens Vertrauen in den Wert der sinnlichen Erkenntnis nur Konsequenz einer geduldigen Umbesetzung der Wolffschen Terminologie, wie hier bereits am Beispiel der ‘Vernunft’ gezeigt wurde und wie es sich auch am Beispiel der ‘Schönheit’ (sinnliche Erkenntnis der Vollkommenheit bei Wolff, Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis bei Baumgarten) oder des Begriffspaares ‘Überreden-Überzeugen’ erweisen ließe. Das Denken der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – und in diesem Zusammenhang sei nur an das Beispiel Mendelssohn erinnert – sollte diese Folgerichtigkeit bestreiten, um dadurch das ‘ästhetische Vermögen’ als ein Drittes in den Vordergrund spielen zu können: „Zwischen dem Erkenntnisvermögen und dem Begehrungsvermögen liegt das Empfindungsvermögen, vermöge dessen wir an einer Sache Lust oder Unlust empfinden“, heißt es bei Mendelssohn 1776.15 Er kennzeichnet diese drei Vermögen mit unterschiedlichen Verfahren, nämlich solchen, die sich ihrem jeweiligen Objekt anpassen. Mit dem ersten ist im Grunde längst der zweite Schritt getan. Eingangs ist hier an die bekannte Erklärung im § 1 der Ästhetik erinnert worden: „Aesthetica est scientia cognitionis sensitivae“. Sie wird durch den § 14 folgendermaßen ergänzt: „Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis. Haec autem est pulcritudo“. Die Ästhetik als Instrumentalphilosophie zielt auf eine Vervollkommnung ihres Objekts. Insofern ist der § 14 nicht allein eine Worterklärung der Schönheit, sondern er enthält ebenso eine Sacherklärung der Ästhetik. Daß es so ist, demonstriert e contrario Herder mit seiner Erwiderung auf den Satz Baumgartens in seinem eigenen Plan zu einer Aesthetik: „§ 14 Aesthetices finis non est perfectio, sed scientia cognitionis sensitivae“.16 Die Absicht Baumgartens, eine logiké für die Sinnlichkeit zu konstruieren, ein Metaphysik, § 671. Ebd., § 669. 15 Moses Mendelssohn, Über das Erkenntnis-, das Empfindungs- und das Begehrungsvemögen (Juni 1776), in: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hg. von Alexander Altmann u.a. (begonnen von I. Elbogen u.a., Berlin 1929 ff.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1971 ff., Bd. 3.1, 276–277, 276. 16 Johann Gottfried Herder, Plan zu einer Ästhetik, in: Frühe Schriften 1764–1772, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt am Main 1985, 659–676, hier § 14 (670). 13 14

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Instrumentum zu kreieren, mit dessen Hilfe „der ganze Verstand gebessert werde“ (ich zitiere hier aus dem § 1 der deutschen Vorlesungen Baumgartens), lehnt Herder absichtsvoll ab, um eine Geisterphysik, eine Anthropologie des Dunklen, der dunklen und dunkelsten Leistungen der menschlichen Seele, zu konstruieren; eine Anthropologie, deren Grenze die Physiologie des menschlichen Leibes, mit explizitem Bezug auf Hallers Reizbarkeitslehre, und eine Lehre vom Sein als das „allersinnlichste“17 sein wird. Geisterphysik: die Ästhetik soll Herder zufolge „nicht in der Metaphysik Voraussetzung [finden], sondern selbst Metaphysik sein“.18 Doch auch der Fundamentalanthropologie Herders steht Baumgarten Pate: schon aufgrund des humanistischen Ausspruchs im § 6 der Ästhetik („philosophus homo est inter homines neque bene tantam humanae cognitionis partem alienam a se putat“),19 aber insbesondere wegen der weithin bekannten Lehre vom fundus animi. Auch an dieser Stelle möchte ich mich mit einigen wenigen Bemerkungen begnügen. Die humanistischen Absichten Baumgartens bedingen zum mindesten einen Teil der Anwendungsbereiche der Ästhetik: „usus speciales, philologicus, hermeneuticus, exegeticus, rhetoricus, homileticus, poeticus, musicus“.20 Wolffs Ablehnung der Ästhetik21 gilt nicht zufällig in derselben Zeit der ethischen Relevanz der sinnlichen Erkenntnis, der Möglichkeit einer immanenten Vervollkommnung derselben, dem systematischen Zusammenhang der Wissensformen, unter denen die Ästhetik eine Rolle spielt, und einigen dieser Wissensformen im besonderen, wie beispielsweise der Idee einer ästhetischen Hermeneutik der Bibel. Das Werk Meiers, von der frühen Abbildung eines Kunstrichters 1745 bis zum schon zitierten Buch über die Vorurteile, zielt sozusagen auf ein ‘ästhetisches System des Wissens’ ab, das gleichzeitig ein neues Bild vom Menschen entwerfen will. Lassen Sie mich noch einige wenige Worte über die Lehre des fundus animi verlieren. Die perceptio totalis, d.h. bei Wolff die einzelne Vorstellung in ihren Gesamtbeziehungen, wird von Baumgarten monadologisch als „totum repraesentationum in anima“22 gedacht. Das erlaubt ihm, den fundum animae als Johann Gottfried Herder, Versuch über das Sein, in: ebd., 9–21, hier 20. Herder, Plan zu einer Ästhetik (wie Anm. 16), § 14. 19 Ästhetik, § 6. 20 Ebd., § 4. 21 „Die Baumgartensche Aestethick sowol als die Meiersche sey elendes Zeug; man wolle junge Leute ornate et acute schreiben lehren, und dies ihnen ex scriptoribus zeigen, welche die Leute nicht kennen und ohnmöglich durch ein solches Buch witzig und zierlich denken und schreiben lernen könnten; man verderbe die Jugend; wer kein ingenium acutum habe, werde es daran nimmer erhalten, ja es gehe mit den ästethischen Sachen jetzo so weit, daß der Adjunkt Nicolai sogar die Bibel ästethisch erklären wolle“; Johann Carl Conrad Oelrich, Tagebuch einer gelehrten Reise 1750, in: Johann Bernoulli, Sammlung kurzer Reisebeschreibungen, Berlin 1782, Bd. 5, 62. 22 Metaphysik, § 514. 17 18

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complexum perceptionum obscurarum systematisch aus der Stelle der menschlichen Seele, aus der Mischung von deutlich und verworren, heraus zu bestimmen, m.a.W. die Möglichkeit, die Eigenart der menschlichen Erkenntnis aus der Einbettung der Seele im Leib heraus zu begreifen. Die Eigenart der menschlichen Erkenntnis verlangt, daß die Seele in sich einen Raum für die Dunkelheit und zugleich die Möglichkeit einer Vervollkommnung enthält. Wie heißt es doch in der Metaphysica? „Quaedam distincte, quaedam confuse cogito“.23 Das impliziert nach Baumgarten, daß die Merkmale einer verworrenen Vorstellung nur obskur gedacht werden können, sonst wäre eine solche Vorstellung im Resultat eben doch deutlich; d.h.: „confuse quid cogitans quaedam obscure repraesentat“. Damit entsteht, wechselweise, die Möglichkeit einer Verfeinerung, einer Vervollkommnung des fundus animae, über die es in der Ästhetik heißt: „durante enthusiasmo [...] intenditur omnis anima“.24 „Unsere Seele“, sagt Baumgarten in den deutschen Vorlesungen, „ist so beschaffen (welches man vor der Verbesserung der Psychologie nicht bemerkte), daß eine erstaunende Menge von Vorstellungen im Grunde derselben dunkel bleiben, daß sie aber oft zu einem geringen Grade der Dunkelheit gelangen und sich gleichsam an das Reich der Klarheit anhängen“.25 Die Mischung vom Klaren und Dunkeln gilt in diesem Sinn bei Baumgarten als Vorbild oder besser als Matrix der argumentativen Steigerung zwischen den verschiedenen Formen der cognitio extensive clarior: Man denkt sich z.B. erstlich nur 10 Kennzeichen von einer Sache und hernach in der Mischung vom Klaren und Dunkeln denkt man die Sache vielleicht in 150 Kennzeichen. Da bei der ersten Vorstellung an keine Träne gedacht wurde, so preßt nunmehr die Menge der Vorstellungen Tränen aus.26

Die vita cognitionis, jene „venustae cognitionis dulcissimam pulcritudinem“,27 nach der Baumgarten sich sehnte, bleibt der Fixstern der ästhetischen Forschung. Der fundus animae wird bei Herder ständiger Ursprung des Erkennens und Tuns des Menschen. Auch die „physiologische Wende“ Herders ist Baumgarten nicht so völlig fremd; Stahl – der Begründer des Vitalismus, der so stark die physiologische Ästhetik Sulzers, Mendelssohns und Herders beeinflußte, – lehrte in Halle, und seine Schüler, imprimis Krüger, waren Baumgarten und Meier bestens bekannt.

23 24 25 26 27

Ebd. § 510. Ästhetik, § 95. Kollegnachschrift Poppe, § 80 (116). Ebd. Ästhetik, Vorrede 1758.

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Doch kehren wir zur Struktur der Ästhetik Baumgartens zurück! Der Zusammenhang von Wissenschaft und Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis wäre ohne wirkliche Folgen geblieben, hätte Baumgarten keinen methodischen Weg aufgezeigt, die sinnliche Erkenntnis zu vervollkommnen. Und den gibt es! Denn diesem Ziel, dem dritten Schritt unseres Schemas, gilt der ganze Aufbau der Ästhetik, den wir wesentlich schon im ersten Abschnitt, Pulcritudo cognitionis, finden. Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis: solche Vollkommenheit heißt Schönheit. Im Zentrum steht die metaphysische Auslegung der Vollkommenheit: Si plura simul sumta unius rationem sufficientem constituunt, consentiunt, consensus ipse est perfectio, et unum, in quod consentitur, ratio perfectionis determinans (focus perfectionis).28

Eine solche perfectio, als Ziel der Ästhetik, soll phaenomenon sein (Metaphysica, § 662, die Erklärung der Schönheit enthaltend), d.h. alle Glieder (plura), die ratio determinans (unum) und das Gesetz der Zusammensetzung (ordo, und deswegen die Wahrheit als ordo plurium in uno, nach Metaphysica, § 89) sollen im Bereich der Sinnlichkeit verbleiben. Dem gelten die §§ 14–26 der Ästhetik. Baumgarten spricht von „consensus cogitationum [...] inter se ad unum qui phaenomenon sit“,29 von „consensus ordinis“30 und „consensus signorum“.31 Schon mit dem Schema inventio, dispositio, elocutio tritt der Bezug auf die Rhetorik zutage, auf den bereits der § 13 mit der Dreiteilung der Aesthetica anspielt. Über die tieferen Beziehungen zur Rhetorik jedoch später noch etwas. Nach dieser rhetorischen Dreiteilung der Arten der sinnlichen Übereinstimmung der Erkenntnis nimmt Baumgarten eine kompliziertere Arbeit in Angriff: den Versuch, die Übereinstimmung der verschiedenen Kennzeichen der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis analytisch zu verstehen, ohne dabei den Bezug zum phaenomenon zu verlieren: Ubertas, magnitudo, veritas, claritas, certitudo et vita cognitionis, quatenus consentiunt in una perceptione et inter se, e.g. ubertas et magnitudo ad claritatem, veritas et claritas ad certitudinem, omnes reliquae ad vitam, quatenus varia cognitionis alia consentiunt ad easdem, dant omnis cognitionis perfectionem, phaenomena sensitivae pulcritudinem universalem, praesertim rerum et cogitationum, in quibus iuvat Copia, nobilitas, veri lux certa moventis.32

28 29 30 31 32

Metaphysik, § 94. Ästhetik, § 18. Ebd., § 19. Ebd., § 20. Ebd., § 22.

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Man stößt also erstens auf die Übereinstimmung in una perceptione; zweitens auf die Möglichkeit, daß solche Übereinstimmung – mit dem Hinweis auf die zentrale Rolle der vita cognitionis – viele Kennzeichen der sinnlichen Erkenntnis miteinbezieht; drittens auf die varia cognitionis alia, d.h. auf die Übereinstimmung der Gedanken in ihrer rhetorischen Dreiteilung (inventio, dispositio, elocutio) mit den allgemeinen Vollkommenheiten der sinnlichen Erkenntnis. Im Zentrum steht der Hinweis auf die „Übereinstimmung in una perceptione“. Nach der zitierten metaphysischen Erklärung der Vollkommenheit ist eine solche Vorstellung als „unum, in quod consentitur“, dessen rationem sufficientem alle andere Glieder bilden, die „ratio perfectionis determinans“. Gibt es einen Namen für eine Vorstellung, die als rationem determinantem der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis fungiert? Darauf antwortet Baumgarten folgendermaßen: „Perceptio, quatenus est ratio, est argumentum“.33 Der Begriff des Arguments, und damit das Problem der Argumentation, spielt eine herausragende Rolle im ästhetischen Denken Baumgartens. Eine neue philosophische Rhetorik tritt also aus dem Herz der Metaphysik und Erkenntnistheorie Baumgartens heraus. Doch bevor hier solche Themen berührt werden, sei noch etwas über das Schicksal dieser Hauptgedanken Baumgartens in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts gesagt. Baumgartens Erklärung der Schönheit war der Wolffs vielleicht zu ähnlich, um als wirklich neu erkannt zu werden. Wolff betrachtete die Schönheit als Zwischenstufe einer genaueren, deutlicheren Kenntnis der Wahrheit und zugleich als Zwischenstufe einer angemesseneren Beziehung des Willens zur Sache. Baumgartens Theorie hingegen stützt sich auf die autonome erkenntnistheoretische Funktion der Schönheit, perfectio cognitionis sensitivae, und nicht mehr observabilitas perfectionis,34 d.h. sozusagen cognitio sensitiva perfectionis. Es reichen zwei Beispiele, um zu illustrieren, daß ein solcher Unterschied im 18. Jahrhundert einfach nicht wahrgenommen wurde. So heißt es beispielsweise in Mendelssohns Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften von 1757: „das Wesen der schönen Künste und Wissenschaften besteht in dem sinnlichen Ausdruck der Vollkommenheit“.35 Die Vollkommenheit ist hier nochmals ‘monolithisch’ gedacht; das psychologische Interesse an der Sinnlichkeit schafft sich Raum durch die schönen Künste und Wissenschaften im Sinne des Batteuxschen Systems des beaux-arts. Und beinahe logische Folge einer solchen Auslegung ist dann vielleicht das schon zitierte Buch von Markus Herz. Darin heißt es, die Ebd., § 26. Christian Wolff, Psychologia empirica (1738), in: GW II.5, § 545. 35 Moses Mendelssohn, Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften, in: Jubiläumsausgabe (wie Anm. 15), Bd. 1,165–190, hier: 170. 33 34

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Schönheit sei „perfectio phaenomenΩn“,36 mit omega! Die Vollkommenheit der Erscheinungen! D.h. aber „Vollkommenheit der künstlerischen Produktionen“: Nichts bleibt von den metaphysischen und erkenntnistheoretischen Bemühungen Baumgartens im Zeitalter dieser ‘Philosophie der Kunst’ übrig. Eine methodologische Mitwirkung von Metaphysik und Ästhetik wird expressis verbis von Baumgarten gefordert, wenn er auf die Parallelstellung der Metaphysik „zu Leibnizens Zeiten“37 und der theoria liberalium artium zu seinen Zeiten verweist; dort soll die Rede von einer Ausbesserung der Regeln sein. Baumgarten fördert eine „theoria de forma pulcrae cognitionis“,38 d.h. eine ars aesthetica, da ein „complexus regularum ordine dispositarum ars vocari solet“.39 Baumgarten spielt hier mit Themen aus dem ersten Buch De oratore Ciceros, und zwar bezieht er sich auf jene Stellen, in denen Cicero das Problem einer systematischen Kenntnis des Rechts seitens des Redners behandelt. „Nihil est enim, quod ad artem redigi possit, nisi ille prius qui illa tenet quorum artem instituere volt, habet illam scientiam, ut ex iis rebus, quarum ars nondum sit, artem efficere possit“:40 Um ein System zu bauen, muß man erst die innere Logik kennen, die den jeweiligen Sachen vorsteht. Dieselbe Redeweise „ad artem redigi“ kehrt noch bei Bilfinger wieder, wenn dieser Schüler Wolffs in den bekannten Dilucidationes philosophicae schreibt: vellem existerent qui circa facultatem sentiendi, imaginandi, attendendi, abstrahendi, & memoriam praestarent, quod bonus ille Aristoteles [...] praestitit circa intellectum: hoc est, ut in artis formam redigeret, quicquid ad illas in suo usu dirigendas, & juvandas pertinet & conducit.41

Diesem Ziel widmet Baumgarten die neue philosophia instrumentalis, die Ästhetik, und diesem Ziel ist eine ars aesthetica, eine systematische Gestaltung der theoria liberalium artium (wobei die artis liberalis als sinnliche Erkenntnisweisen konzipiert sind), unentbehrlich. Die Rhetorik, die abermals im Zentrum der Ästhetik steht, hat hier sozusagen eine doppelte Funktion: Einerseits bringt sie die Geschichte ihrer Beziehungen zur Logik ein, um überhaupt eine Methode für die sinnliche Erkenntnis anzudeuten, und andererseits ist die Rhetorik als ars liberalis Objekt einer philosophischen Ausarbeitung: ars aesthetica ist damit die Theorie (rhetorischen Ursprungs) der ästhetischen Funktion der freien Künste. Markus Herz, Versuch über den Geschmack und die Ursachen seiner Verschiedenheit. Zweyte vermehrte und verbesserte Auflage, Berlin 1790, 29. 37 Kollegnachschrift Poppe, § 75 (113). 38 Ästhetik, § 68. 39 Ebd. 40 Cicero, De oratore, I, 41, 186. 41 Georg Bernhard Bilfinger, Dilucidationes philosophicae de Deo, anima humana, mundo, et generalibus rerum affectionibus, Tübingen 1725, in: GW III.18, § 268. 36

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Gibt es im Denken der Aufklärung ein ähnliches rhetorisches Gebäude? Zahlreiche Studien der letzten Jahrzehnte haben die Rolle der Rhetorik im 18. Jahrhundert neu bestimmt, vor allem solche, die im Kontext des neuen Historischen Wörterbuchs der Rhetorik erschienen sind. Die Legende vom antirhetorischen Jahrhundert findet keinen Raum mehr. Nichtdestoweniger bleibt die tiefe Wechselbeziehung zwischen Rhetorik, Erkenntnistheorie und Metaphysik, die Baumgartens Denken kennzeichnet, vielleicht ein unicum. Denn weder die Argumentationstopik eines Breitinger mit ihrer tiefen rezeptionsästhetischen Prägung noch die ‘Transzendentalanthropologie’ der großen Abhandlung Schillers Über Anmut und Würde bringen eine rhetorische Struktur ins Spiel, die ähnlich reich mit Themen antiker Rhetorik (Argumentation, Überzeugung, Wechselbeziehungen zwischen den partes elocutionis) gespeist ist, und doch schon längst modern ist, wenn man die Rolle der dispositio zwischen inventio und elocutio, die Neubewertung der inventio in den deutschen Vorlesungen („durch Erfindungen verstanden die Alten oft gehabte Gedanken sich wieder ins Gedächtnis zu bringen. Unsere Erfindung gehet viel weiter; wir verstehen darunter, ein Ding sich zum ersten Male so vorstellen, daß es in die Sinne fällt und rührt“)42 und insbesondere die Beziehungen zwischen Metaphysik, Logik und Rhetorik berücksichtigt. Doch kehren wir zur Argumentationstheorie Baumgartens zurück. Bei ihm öffnet ein typisches Thema der leibniz-wolffschen Metaphysik43 den Weg zu einer Allianz von Rhetorik und Erkenntnislehre: Pulcritudo cognitionis sensitivae et ipsa rerum elegantia, sunt perfectiones compositae, etiam universales. Quod et hinc patet, quod nulla perfectio simplex nobis fit phaenomenon.44

Eine einfache Vollkommenheit hat einen einzigen focum perfectionis, sie gipfelt also in einem einzigen Argument; eine zusammengesetzte Vollkommenheit hingegen vereinigt in sich und ordnet zueinander mehrere rationes determinantes. Die allergrößte Vollkommenheit ist der „plurimorum maximorum maximus consensus ad unum. At summa perfectio quum adeo sit maxime composita, simplex perfectio quantacumque sit, non tamen est maxima.“45 Eine solche maxime composita perfectio ereignet sich im Falle einer sinnlichen Erkenntnis oder besser gesagt: im Falle einer (zusammengesetzten) Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis: Schönheit ist das Ergebnis mehrerer rhetorischargumentativer Verfahren, die den einzelnen Kennzeichen der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis zugeordnet sind. Es sind also Argumente und Figu42 43 44 45

Kollegnachschrift Poppe, § 14 (80). Vgl. Metaphysik, §§ 96 und 444. Ästhetik, § 24. Metaphysik, § 185.

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ren für jede der Kennzeichen zu finden. Die konkrete Analyse der einzelnen Kennzeichen verläuft also von der sinnlichen Weise, den nexum rerum zu erkennen, zur Vervollkommnung eben dieser Erkenntnis; das ereignet sich ebenso im Umkreis des einzelnen Kriteriums wie auch in der Progression der Kriterien. Die mannigfache phänomenale Übereinstimmung der sinnlichen Vorstellungen ist letzten Endes das Objekt der Ästhetik. Da nach Baumgarten das rationale mit dem connexum („possibile in nexu, i.e. in quo nexus est, cui nexus convenit“)46 zusammenfällt, läßt sich die Aesthetica als Untersuchung zur Rationalität des Sinnlichen begreifen.47 Der vitae cognitionis, dem sechsten und letzten Kriterium, würde insofern ein maximum an argumentativer Kraft gebühren, als in ihm alle übrigen Kennzeichen eine angemessene Stellung fänden. Bekanntlich hat Baumgarten diese Seiten nicht geschrieben; doch wir besitzen die Analyse der persuasio, der ästhetischen Überredung, die vielleicht Baumgartens Meisterwerk darstellt. An ihrem Beispiel soll hier noch abschließend gezeigt werden, wie Baumgartens Ästhetik die Geschichte der Rhetorik im Lichte moderner Metaphysik und Erkenntnistheorie durchdachte. Die persuasio, eine Verbindung zwischen ästhetischer Wahrheit und Licht, steht an der Spitze der gesamten Instrumentalphilosophie bzw. der Logik der Sinnlichkeit; zugleich eröffnet die „veritatis et verisimilitudinis conscientia et lux“48 der ästhetischen Praxis einen Weg – dennoch erfüllt die persuasio prinzipiell eine eher theoretische denn praktische Rolle: Haec enim etiamsi nonnunquam simul impulsionem ad agendum et incitationem involvat, habet tamen et in theoreticis locum, et singula probe perpensuris cum fructu distinguetur a vita cognitionis.49

Baumgartens Bemühungen stehen nicht wenige Hindernisse im Wege. Wolff hatte die Beziehungen – oder besser gesagt: die Trennungen – zwischen persuasio und convictio, also die zwischen sinnlicher und rhetorischer Überredung und der Überzeugung des Verstandes, mit aller Sorgfalt entwickelt. Nun ist es zwar wahr, daß „keine Erkäntniß den Menschen rege machet, als die eine Ueberführung oder Ueberredung mit sich führet“,50 doch tut sich zwischen den beiden Formen ein Abgrund auf. „Denn nicht die Sachen [...] sondern die Art des Vortrages und die dabei angewandte Ueberlegung sind es“, so sollte Wolff Ebd., § 19. Also Rationalitätsproblem statt Irrationalitätsproblem – vgl. Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Halle an der Saale 1923. 48 Ästhetik, § 829. 49 Ebd. 50 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes usw. (1730), in: GW I.1, I, § 34. 46 47

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später hinzufügen,51 welche den Verstand schärffen können. Es ist also die Methode der Erkenntnis, die Deutlichkeit in der Überlegung („attentionis successiva directio ad ea, quae in re percepta insunt“),52 die uns fern von den Vorurteilen hält. Deshalb, so heißt es in der Ausführlichen Nachricht, mit welcher Wolff die deutsche Fassung seines Systems abschloß, war der Philosoph den Regeln der Rhetorik nicht gefolgt, da er „keine Künste den Leser durch Worte einzunehmen“53 brauchte. Bei Baumgarten heißt es dann in der Metaphysica: Conscientia veritatis est certitudo [...]. Certitudo sensitiva est persuasio, intellectualis convictio. Cogitans rem et veritatem eius, caeteris paribus plura cogitat, quam cogitans rem tantum. [...] Perceptio certitudinem alterius habens pro corollario, et vis eius, est [...] persuasoria.54

Drei Elemente sind hier herauszuheben: 1) Die certitudo, die auf jeden Fall der inneren Empfindung folgt, ist die Voraussetzung der Entwicklung der Erkenntnis – sei es nun eine sensitiva oder intellectualis: „ut sensu interno intimaque conscientia mutationes et effectus reliquarum suarum facultatum possit experiri“.55 2) Die certitudo bewirkt eine Erhöhung der Erkenntnis (plura cogitat). 3) Solche Erhöhung hat die Form eines argumentativen Verfahrens, denn ein ästhetisches Argument ist, wie Baumgarten Quintilian ergänzt, „omnis ad cogitandum materies, ratio alterius perceptionis, perceptio“. Die Analyse der persuasio ist also ganz und gar ästhetische Argumentationstheorie. Die Übereinstimmung zwischen der ästhetischen Herausarbeitung des nexus rerum und der Vertiefung der Formen der sinnlichen Klarheit – d.h. die Verbindung zwischen ästhetischer Wahrheit und Licht, die sozusagen die Endform der Verbindung zwischen scientia und perfectio der sinnlichen Erkenntnis darstellt, – ist Theorie des Arguments. Die unvollendete Aesthetica Baumgartens öffnet sich einer neuen Rhetorik, die logische und rhetorische Erkenntnisformen zusammenbringt, um ein neues Bild der menschlichen Gesamtbeziehungen zur Welt zu erarbeiten. Absicht dieses Beitrags ist die Darlegung der Beziehungen der Ästhetik Baumgartens zum philosophischen und poetologischen Kontext der deutschen Aufklärung, mit besonderem Bezug zur Entwicklung der Wolffschen Schule und zum Gesamtwerk Baumgartens.

51 52 53

Ebd., XVI, § 8. Wolff, Psychologia empirica (wie Anm. 34), § 257. Christian Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften (²1733), in: GW I.9,

§ 21. 54 55

Metaphysik, § 531. Ästhetik, § 30.

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This work’s aim is the exposition of the relations between Baumgarten’s Aesthetics and the philosophical and poetical context of the German Enlightenment, with a particular reference to the development of the Wolffian school and to Baumgarten’s overall work. Prof. Salvatore Tedesco, Via F. Cordova, 35, 90143 Palermo, Italien, E-Mail: [email protected]

S T E FA N I E B UCHENAU Die Sprache der Sinnlichkeit. Baumgartens poetische Begründung der Ästhetik in den Meditationes philosophicae

In den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus1 von 1735 formuliert und begründet Alexander Gottlieb Baumgarten seine neue Forderung nach einer Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Zur Klärung dieser schwierigen und folgeschweren Begründung soll diese Schrift hier einmal neu kommentiert werden. Weil Baumgarten „klare“ Begriffe voraussetzt, die der heutige Leser nicht mehr besitzt, verzichtet er darauf, dem Leser den Kontext seiner Begründung noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.2 Wie im folgenden gezeigt werden soll, dient Baumgartens Neubestimmung der Dichtung eigentlich der Ergänzung und Erweiterung des menschlichen Vernunftvermögen, welches die im Rahmen der neuzeitlichen Methodendiskussion an sie übertragenen Aufgaben nicht allein zu lösen vermag. Genauer noch entspricht seine neue Definition der Dichtkunst einer philosophischen Neugründung jenes bildlichen Vernunft- und Verknüpfungsvermögens, das Wolff als Sinnlichkeit bezeichnet und den analytischen Vernunftvermögen zugrunde legt, ohne die Konsequenzen dieser psychologischen Neuerung konIch zitiere im folgenden hauptsächlich aus der deutschen Übersetzung Albert Riemanns: Alexander Gottlieb Baumgarten, Philosophische Betrachtungen über einige Erfordernisse eines Gedichts. In: Albert Riemann, Die Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens, Halle an der Saale 1928, Reprint Tübingen 1974. Ich benutze daneben auch die zweite deutsche Übersetzung von Heinz Paetzold, Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts, Hamburg 1983, und verweise auch gelegentlich auf die Anmerkungen der englischen Ausgabe: Reflections on poetry. Translated with the original text by Karl Aschenbrenner and William B. Holther, Berkeley, Los Angeles 1954. 2 Zu diesem Thema und den folgenden Analysen: Stefanie Buchenau, The Art of Invention and the Invention of Art. Logic, Rhetoric and Aesthetics in the Early German Enlightenment, Ph.D. Thèse de doctorat Nouveau Régime (Yale, Ecole Normale Supérieure Lettres et Sciences Humaines), New Haven, Lyon 2004. Eine überarbeitete und gekürzte Fassung dieser Arbeit ist in Vorbereitung. 1

Aufklärung 20 · © Felix Meiner Verlag 2008 · ISSN 0178-7128

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sequent zu markieren. Die Forderung nach der Gründung einer Ästhetik ergibt sich deshalb, so die These dieses Aufsatzes, aus neuen Einsichten in die „Sprache der Sinnlichkeit“. Diese sprachliche und poetische Fragestellung, von der die Ästhetik ihren Ausgang nimmt, ist bisher verkannt worden. Zwar wurde die poetische Dimension von Baumgartens Kunstbegriffs herausgestellt: so hat schon Alfred Baeumler (wie auch seine Nachfolger in Philosophie und Literaturwissenschaft) auf die Relevanz der wolffianischen Poetik für Baumgartens Ästhetik hingewiesen. Weiterhin haben sowohl Ernst Cassirer als auch Benedetto Croce in ihren Studien zur Symbolsprache der Dichtung ganz entscheidende Einsichten zu Baumgartens Problematik einer Sprache der Dichtung formuliert.3 Und schließlich hat sich die Forschung der letzten Jahre auch stärker dem Verhältnis der Ästhetik zu den artes disserendi Poetik, Logik, Rhetorik und Hermeneutik zugewandt.4 Gleichzeitig bleibt aber die sprachliche oder im weiteren Sinne logische Dimension der Sinnlichkeit unzureichend erklärt bzw. gilt seit Baeumlers Studie,5 die in den Worten ihres Verfassers Baumgarten für die Germanistik und Philosophie erst entdeckt hat,6 immer noch als vormoderner Mangel. Da man

Vgl. insbesondere Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (1932), mit einer Einleitung von Gerald Hartung und einer Bibliographie der Rezensionen von Arno Schubbach neu aufgel., Hamburg 1998; Benedetto Croce, Estetica come scienza dell’ espressione e linguistica generale, Bari 1902. 4 Hatte die moderne hermeneutische Tradition im Ausgang von Gadamer trotz ihrer Verankerung in der deutschen ästhetischen Tradition des 18. Jahrhunderts Baumgartens Ästhetik noch wenig Beachtung geschenkt, so haben unlängst Pietro Pimpinella und Alexander Aichele zu Recht auf die enge Verbindung von Hermeneutik und Ästhetik hingewiesen. Vgl. Pietro Pimpinella, Hermeneutik und Ästhetik bei A.G. Baumgarten, in: Manfred Beetz, Guiseppe Cacciatore (Hg.), Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, Köln, Weimar, Wien 2000, 265–286; Alexander Aichele, Die Grundlegung einer Hermeneutik des Kunstwerks. Zum Verhältnis von metaphysischer und ästhetischer Wahrheit bei Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Studia Leibnitiana 31 (1999), 82–90. Zur Verbindung von Ästhetik und Hermeneutik der Aufklärung, vgl. auch die Einleitung der Neuausgabe von Meiers Auslegekunst: Georg Friedrich Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Axel Bühler und Luigi Cataldi Madonna, Hamburg 1996. Allgemeiner zum Verhältnis der artes disserendi in der Aufklärung vgl. die Arbeiten von Manfred Beetz und aus aktuellerer Perspektive die Arbeiten von Gottfried Gabriel. 5 Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Halle an der Saale 1923 (ND Darmstadt 1967). 6 „Das überlieferte Schema der Germanisten und Philosophen war für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts durch meine Entdeckung G.A. Baumgartens überwunden“, Alfred Baeumler, Mein Weg als Schriftsteller, in: Marianne Baeumler, Hubert Brunträger, Hermann Kurzke (Hg.), Thomas Mann und Alfred Baeumler. Eine Dokumentation, Würzburg 1989, 243. Zu Baeumlers ‘irrationalistischer’ Fehldeutung von Baumgartens Ästhetik, vgl. auch Stefanie Buchenau, Recep3

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spätere ästhetische Auffassungen in Baumgarten hineinprojizieren und Baumgarten als Wegbereiter Kants betrachten wollte, sollte Baumgartens Kunstbegriff mit dem modernen, kantischen Begriff übereinstimmen. Baumgarten sollte spätere Einsichten in die Alogizität, begriffliche Unerschöpflichkeit, ja Irrationalität der ästhetischen Erkenntnis vorwegnehmen.7 Die „extensive Klarheit“, die Baumgarten zufolge die ästhetische Erkenntnis auszeichnet, sei gleichzusetzen mit Verworrenheit und begrifflicher Unbestimmtheit. Wenn der Begriff der Sinnlichkeit überhaupt problematisiert wurde, so ging man von der Annahme aus, Baumgarten übernehme diesen von Leibniz und kehre nur den der Verworrenheit immanenten Reichtum stärker hervor. Die These von der sprachlichen und dichterischen Dimension der Sinnlichkeit fügte sich diesem Deutungsmuster nicht und mußte deshalb in den Hintergrund treten. Im folgenden soll daher versucht werden, einmal etwas unvoreingenommener an Baumgartens Ästhetik heranzugehen und zur Rekonstruktion der ursprünglichen, sprachlichen Problemstellung seiner Neubestimmung der Sinnlichkeit zunächst etwas weiter auszuholen. Das dringliche philosophische Problem seiner Zeit, dem sich Baumgarten in seinen Meditationes philosophicae stellt, ist eigentlich die logische und psychologische Begründung derjenigen grundlegenden sprachlichen und bildlichen Seelenvermögen, die Wolff in den Abschnitten zur Psychologie unter dem Stichwort Sinnlichkeit abhandelt, ohne diese Neuerung eindeutig als solche zu kennzeichnen.8 Einerseits charakterisiert Wolff den Menschen durch seine Sprache und weist auch auf die sprachlichen Bedingungen der Ausbildung von Sinnes- und Denkvermögen hin.9 Er beansprucht zudem die Sinnlichkeit als ein sprachliches Vermögen der Verknüpfung und der Bildung von „Bildern, darinnen Wahrheit ist“10 und deren spezifischer Wahrheitsgehalt in ihrer Ähnlichkeit tion et non-reception de l’anthropologie des Lumières; le cas allemand, in: Nicolas Weill (Hg.), L’esprit des Lumières est-il perdu?, Rennes 2007. 7 Vgl. Baeumler, Das Irrationalitätsproblem (wie Anm. 5), Einleitung. Olivier Cassé zeichnet in seiner 1990 erschienenen französischen Übersetzung Baeumlers den nachhaltigen Einfluß des Werks auf die französische Ästhetik, Philosophie und Kantforschung nach. Auch in der deutschsprachigen Literatur ist dieser Einfluß ungeheuer präsent, und es ist tatsächlich schwierig, einen Text zu finden, der die obige These von der „Begriffslosigkeit“ der ästhetischen Erkenntnis nicht aufgreift. Das gilt auch noch für die neueren Lexikonartikel und die Vorworte der neuen Übersetzungen. 8 Vgl. auch Stefanie Buchenau, Sinnlichkeit als Erkenntnisvermögen. Zum Begriff des Vernunftähnlichen in der Psychologie Christian Wolffs, in: Oliver-Pierre Rudolph, Jean-François Goubet (Hg.), Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen, Tübingen 2004, 191–206. 9 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (1751), in: GW I.2, §§ 297 und 868. 10 Ebd., § 245.

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mit der Realität liegt. Diese sinnlichen Bilder, die seinem Prinzip vom connubium, d.h. von der Gemeinschaft von Erfahrung und Vernunft zufolge die deutlichen Begriffe des Verstandes begründen, charakterisiert er durch ihre Komplexität.11 Er unterscheidet weiterhin auch zwischen einer bildlichen und einer symbolischen Form der Begriffsbildung.12 Andererseits erkennt er wie auch vor ihm Leibniz der Sinnlichkeit den Status eines menschlichen und sprachlichen Zeichenvermögen ab. Da im modernen Monadenmodell die Vermögen nicht mehr über ihre Quellen in der äußeren Welt, sondern nur noch über ihre Erkenntnisqualität definiert werden,13 stellt Wolff die tierischen, sinnlichen Vermögen als klar-verworren den spezifisch menschlichen Verstandesvermögen als klar und deutlich gegenüber. Der Mensch unterscheidet sich Wolff zufolge nicht durch seine Sprache vom Tier, sondern durch seinen Verstand in der engen Bedeutung bzw. durch sein Vermögen, durch Klassifikation von Arten und Gattungen allgemeine Begriffe zu bilden und deutliche Erkenntnis zu erreichen.14 Zur Klärung dieser Zweideutigkeit in der Kennzeichnung der menschlichen Vernunft (als sprachliches Vermögen einerseits und Vermögen deutlicher Begriffe andererseits) setzt Baumgarten nun von einer neuen Einsicht in die Weite der menschlichen Vernunft als logos und Sprache an. Wie auch schon Cicero, hält auch Baumgarten das Vermögen zur sprachlichen Mitteilung für den wesentlichen Vorzug des Menschen vor den Tieren.15 Deshalb muß das philosophische Rede- und Vernunftvermögen um ein bildliches Rede- und Vernunftvermögen ergänzt werden, wie es in der älteren Poetik und Rhetorik bestimmt worden war. Die neue philosophische Herausforderung besteht darin, diese Christian Wolff, Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata (1738), in: GW II.5, §§ 150 ff. 12 Vgl. Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit, in: GW I.1, § 4: „Einen Begrif nenne ich eine jede Vorstellung einer Sache in unseren Gedancken. [...] entweder durch ein Bild, als wenn ich sie selbst gegenwärtig sähe, oder durch blosse Worte [...] [So] habe ich einen Begrif von der Hochzeit, wenn ich mir entweder in meinen Gedancken, als in einem Bilde vorstellen kan, wie zwey Personen ihr Versprechen, einander zu heyrathen, nach der in einem Lande üblichen Gewohnheit vollziehen, oder auch durch blosse Worte, oder andere Zeichen [...] entweder mir selbst, oder anderen zu verstehen gebe, die Hochzeit sey eine feyerliche Vollziehung des Versprechens, einander zu heyrathen“. Vgl. auch die in gewisser Hinsicht analogen Ausführungen zu den hieroglyphischen Einbildungen des Comenius, Psychologia empirica (wie Anm. 11), § 152. 13 Zu dieser logischen Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Intellekt in der LeibnizWolffischen Philosophie vgl. auch Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, AA, Bd. 4, A 44 (Transzendentale Ästhetik). 14 Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (wie Anm. 9), §§ 276, 286. 15 Vgl. Cicero, De oratore, I, 32: „Dies eine ist doch unser wesentlicher Vorzug vor den Tieren, daß wir miteinander reden und unseren Gedanken durch die Sprache Ausdruck geben“. 11

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weiteren sprachlichen und vernünftigen Vermögen, die mit der modernen Methodendebatte ganz aus den artes disserendi verbannt worden waren, nun in die logische Sphäre miteinzubegreifen und gleichzeitig als poetische Vermögen von der Vernunft im engeren Sinne zu unterscheiden. Dazu bedarf es einer neuen logisch-poetischen Kennzeichnung der Sinnlichkeit als künstlerisches und dichterisches Vermögen. Auch hier kann sich Baumgarten auf Wolffs Vorarbeiten stützen, denn die Verbindungslinie der sinnlichen Figmente mit Kunstwerken ist bei Wolff schon vorgezeichnet: Die andere [willkührliche] Manier der Einbildungs=Kraft Dinge hervorzubringen, die sie niemahls gesehen, bedienet sich des Satzes des zureichenden Grundes, und bringet Bilder hervor, darinnen Wahrheit ist. [...] Hieher gehöret das Bild, darunter sich ein Bildhauer eine Statue vorstellet, und darein er alles gebracht, was er Schönes an der Art Menschen, davon sie eine vorstellet, gesehen, und nach untersuchtem Fleiße angemercket. Hieher gehöret der Zug einer krummen Linie, daran wir sonst noch niemahls gedacht [...]. Hieher gehöret auch das Bild von einem Gebäude, welches sich der Baumeister den Regeln der Bau=Kunst gemäß in Gedancken vorstellet.16

Diesen sinnlichen Neuansatz Wolffs hatten die wolffianischen Poetiker Johann Jacob Bodmer, Johann Jacob Breitinger und Johann Christoph Gottsched aufgegriffen, indem sie in ihren Traktaten zur kritischen Dichtkunst die Dichtung neu als auf einer „Logick der Phantasie“ beruhendes sinnliches „Denck=Bild“17 und als „Nachahmung“18 bestimmten. Wie Baumgarten im letzten Teil seiner Meditationes andeutet, dient seine logische Herleitung einer neuen und weiteren Begründung dieser These von der bildlichen Sprache der Sinnlichkeit. I. Das Vorwort Eine solche Neubegründung der Sinnlichkeit als bildliches und sinnliches Seelenvermögen erfordert zunächst eine neue Perspektive auf die Dichtung. Hier setzt das Vorwort an. Dafür bedarf es der Rückbesinnung auf die Verwandtschaft von Dichtkunst und Philosophie, in Baumgartens Zeit in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Die Philosophen „halten Philosophie und Dichtung für ganz entgegengesetzte Gebiete“. Sie vertreten eine rein formale Auffassung von Dichtung und beschränken sie als Unterart der Rhetorik auf eine Kunst der elocutio oder der verblümten Schreibart, die durch Nachahmung auf Belehrung

Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott (wie Anm. 9), § 245. Johann Jacob Breitinger, Von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse (1740), Faks.-Ausg., mit einem Nachwort von Manfred Windfuhr, Stuttgart 1967, 6. 18 Johann Jacob Breitinger, Critische Dichtkunst, 2 Bde. (1740), Faks.-Ausg., mit einem Nachwort von Wolfgang Bender, Stuttgart 1966, Dritter Abschnitt. 16 17

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und Vergnügen ziele.19 Als Kunst der elocutio unterscheide sich die Dichtung von der Philosophie, die aus ihrer Sicht der Auffindung und Darstellung der Wahrheit des „schönen Gewandes“ entbehren könne. Baumgarten teilt einerseits die Ansichten seiner Zeitgenossen. Er zählt wie sie die Poesie zu den trotz ihres moralpädagogischen „hervorragenden Nutzens“ weniger notwendigen und vergnüglichen Wissenschaften. Andererseits aber ist er zu der Einsicht gelangt, daß ihre Natur anders und neu bestimmt werden muß. Für diesen Gesinnungswandel führt er zunächst persönliche Gründe an. Der biographische Exkurs im Vorwort weist auf seine altphilologische Schulung durch den „berühmten Christgau“, Konrektor des Berliner Gymnasiums, hin. Aber es geht Baumgarten nicht einfach darum, seine humanistische Bildung zur Schau zu stellen. Wenn sich Baumgarten zeit seines Lebens und stärker noch in der Aesthetica zu den antiken Autoren bekennt, so deshalb, weil sie ihm in Erinnerung gerufen haben, was die Neueren vergessen haben, nämlich daß das menschliche Vernunftvermögen weiter ist als gemeinhin angenommen und daß der Wert der Dichtkunst anders und höher angesetzt werden muß, als der einer Kunst des Ausdrucks; so sind Dichtkunst und Philosophie eigentlich in „einer sehr freundschaftlichen Ehegemeinschaft miteinander verbunden“ (amicissimo iunctas connubio). Diese neue Bestimmung eröffnet, wie Baumgarten hier schon andeutet, ganz neue systematische Möglichkeiten. Die Rückführung der bestehenden, empirischen ars poetica auf ein logisch-psychologisches Prinzip der Sinnlichkeit ermöglicht ihre Umwandlung in eine philosophische und methodische Wissenschaft, scientia.20 Die Einführung gibt auch die Gliederung an die Hand.21 Der erste Teil (§§ I– XII) stellt die neue Definition der Dichtung und der Dichtkunst als vollkom„Ein Philosophus braucht bey Darstellung der Wahrheit / die am schönsten ist, wenn sie nakkend ist / keine solche Schmincke“, Christian Thomasius, Einleitung zur Vernunfft-Lehre. Nebst einer Vorrede (1691), ND in: Ausgewählte Werke, Bd. 8, hg. und mit einem Vorwort von Werner Schneiders. Personen- und Sachregister von Frauke Annegret Kurbacher, Hildesheim 1998, Kap. II, § 11. Siehe auch Christian Wolff, Discursus praeliminaris de philosophia in genere. Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. Historisch-kritische Ausg., übers., eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, § 149. 20 Wie in der Forschung mehrfach angemerkt worden ist, knüpft Baumgarten hier an Wolffs Programm der Überführung der Künste in Wissenschaften an, wie Wolff es beispielsweise im Discursus praeliminaris seiner Logik darstellt. Wolff hatte selbst schon mit seinen Traktaten zu Architektur und Agrikultur, insbesondere in der Schrift zur Entdeckung der wahren Ursache von der wunderbaren Vermehrung des Getreydes Stichproben solcher Systematisierungsversuche der empirischen Künste geliefert und im Discursus praeliminaris auch schon die Umwandlung der artes liberales und der Dichtkunst in methodische Wissenschaften propagiert. Vgl. Discursus praeliminaris (wie Anm. 19), §§ 39, 71, 72. 21 Vgl. auch die Einteilung in Paetzolds Einleitung seiner Übersetzung (wie Anm. 1), „Alexander Gottlieb Baumgarten als Begründer der philosophischen Ästhetik“. 19

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mene sinnliche Rede vor, die es in der Folge philosophisch, d.h. logisch und methodisch zu begründen gilt. Diese Begründung läßt sich nur von einem poetischen Verständnis von Kunst als Rede heraus erfassen. Sie setzt mit einem logischen Argument über die extensive Klarheit der poetischen Begriffe an, das im zweiten Teil (§§ XIII–LXIV) ausgeführt wird. Diesem Teil über die inventio oder die Auffindung des Stoffes folgt die methodologische Kennzeichnung der dichterischen Rede im dritten Teil (§§ LXV–LXXVI) über die poetische Ordnung, lateinisch dispositio oder methodologia. Der vierte Abschnitt (§§ LXXVII–CVII) befaßt sich mit der aus der weiteren Perspektive neubestimmten elocutio oder der Schönheit des Ausdrucks. Obschon er sein großes Vorbild hier nicht namentlich erwähnt – erst in der Aesthetica zollt er ihm seine uneingeschränkte Bewunderung – entlehnt Baumgarten diese Gliederung von den Gedanken, deren Verknüpfung und deren Zeichen22 Ciceros Unterscheidung von inventio, dispositio und elocutio.23 Wie wir im folgenden sehen werden, entspricht diese Gliederung der Perspektive Baumgartens, weil sie die Rede in ihrer Einheit von Form und Inhalt begreift. Der berühmte fünfte und letzte Abschnitt schließlich (§§ CVIII–CXVII) zieht mit der Forderung von der Neugründung der Poetik als Ästhetik die systematischen Konsequenzen aus dem schon geleisteten Beweis von der Verwandtschaft von Dichtung und Philosophie und von der Modellfunktion der Dichtung für die Sinnlichkeit.24

II. Das oberste Prinzip der Dichtkunst, oder Baumgartens Definition der Dichtung als vollkommene sinnliche Rede (§§ I–XII) Die Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Philosophie erfordert zunächst deren Bestimmung und Unterscheidung als Arten von „Rede“, lateinisch Siehe auch Meditationes, § X. Siehe Cicero, De oratore, II, 114–306. (Ciceros Einteilung enthält eigentlich außer inventio, dispositio und elocutio auch memoria and pronuntiatio). Vgl. auch Paetzold, Einleitung (wie Anm. 1), XLIII; Marie-Luise Linn, A.G. Baumgartens ‘Aesthetica’ und die antike Rhetorik, in: Helmut Schanze (Hg.), Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.– 20. Jahrhundert, Frankfurt 1974, 81–107, u.a. 24 Die Gliederung der Meditationes ähnelt daher dem groben Aufriß der Aesthetica, ohne wie diese gesonderte Kapitel zu den rhetorischen Kategorien ubertas, magnitudo, veritas, verisimilitudo, lux, persuasio zu enthalten, oder auch all diese Attribute zur Beschreibung der sinnlichen Rede und Erkenntnis explizit einzuführen. Auch fügt Baumgarten der Aesthetica ein Anfangskapitel an, in welchem er mögliche Einwände gegen seine Erfindung widerlegt. Diese fehlen in den Meditationes; letztere skizzieren hingegen die Thesen zu semiotica und elocutio, die in der unvollendeten Aesthetica fehlen. Hilfreiche Ausführungen zu diesen Abschnitten finden sich auch in Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, 3 Bde, 2. verbesserte Auflage 1754–59 (ND Hildesheim 1976), §§ 541–707. 22 23

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„oratio“: „Unter Rede verstehen wir eine Reihe von Worten, welche zusammenhängende Vorstellungen bedeuten“. Diese Definition schließt alle bedeutungs- oder zusammenhangslosen Lautfolgen aus. Die Rede setzt eine mentale Gedankenverknüpfung oder Einsicht in einen Vorstellungszusammenhang schon voraus. Zur Klärung dieser Definition vergleicht sie Baumgarten (unter Beachtung des Sprachgebrauchs) mit den Definitionen analoger Begriffe in Theologie, Logik und Rhetorik.25 Rede, logos, ist das, dessen Teile auch gesondert eine Bedeutung haben, behauptet Aristoteles, in Peri hermeneias, 16 b 26. Allen angeführten Bestimmungen ist gemein, daß sie die Rede als einen Zusammenhang interpretieren. Dieser Zusammenhang ergibt sich für Baumgarten aus der Einsicht in die Absicht des Redners.26 Diese Frage nach der Absicht des Gedichts mag in modernen Ohren überkommen klingen. Sie mag auch nicht den geläufigen Interpretationen von Baumgartens Ästhetik entsprechen, ergibt sich aber aus dem heuristischen und hermeneutischen Kontext. Das Prinzip der Absicht ist bei Wolff (dem Erfinder der Teleologie oder „Absichtswissenschaft“) nicht nur als heuristisches Prinzip für die Erklärung von Erfindungen und Kunstwerken überhaupt zentral, weil die Erfassung der Absicht es dem Beschauer ermöglicht, den Prozeß oder die Methode der Erfindung nachzuvollziehen.27 Dasselbe heuristische Prinzip, das die Beurteilung als eine Wiederholung des kreativen Schaffensprozesses begreift, gilt auch in der Hermeneutik Wolffs. Dem entspricht offensichtlich auch noch Baumgartens Auffassung von der Dichtkunst und Ästhetik. Es stellt sich deshalb die Frage, welche spezifische Absicht die dichterische Rede auszeichnet. Wolff hatte diese Frage offengelassen. Er hatte sich wohl in den methodologischen und hermeneutischen Abschnitten seiner Logik über das Verfassen, das Lesen und Beurteilen von Büchern schon ausgiebig mit dem Thema Rede und Text befaßt und auch schon eine ausführliche Typologie von Textarten28 entwickelt, in der er historische, dogmatische und biblische Texte durch ihre spezifischen Absichten voneinander abgegrenzt hatte. So betrachtet Vgl. auch Siegmund Jacob Baumgarten, Ausführlicher Vortrag der biblischen Hermeneutik, Halle 1769. Offensichtlich teilt der große Bruder, der den kleinen Alexander im Halleschen Waisenhaus schon in wolffianischer Philosophie unterrichtet hat, gewisse wolffianische Grundüberzeugungen zur Hermeneutik: in I, § 5 bestimmt er die Rede als „eine Reihe mehrerer zusammenhängender Sätze“. 26 Vgl. auch Meditationes, § VII. 27 Vgl. über Wolffs Auffassung des ästhetischen als kreatives Vergnügen: Stefanie Buchenau, Plaisir de contemplation, plaisir de création, Kant et l’école wolffienne sur le plaisir esthétique, in: Christophe Bouton, Fabienne Brugère, Claudie Lavaud (Hg.), Les fins de la nature: beauté, vie, liberté. Autour de la Critique de la faculté de Juger de Kant, Paris 2008, 69–80. 28 Wolff, Vernünftige Gedanken von den Kräften des Verstandes (wie Anm. 12), 10. Capitel; ders., Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertracta (³1736), in: GW II, 1.3, §§ 733–981. 25

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Wolff beispielsweise als Absicht einer historischen Schrift, die sich mit der Geschichte der Menschen befaßt, Beispiele anzuführen, die politische, kirchliche und moralische Wahrheiten bestätigen und auch die Prinzipien der Klugheit lehren. Die Absicht bestimmt jeweils den Zusammenhang oder die Ordnung des Textes. Nun hatten weder Wolff noch seine Schüler in dieser hermeneutischen Debatte der Dichtung eine spezifische Absicht zugesprochen.29 Als Prinzip der Beurteilung und Absicht der Dichtung bieten sich zunächst die herkömmlichen (und auch schon von den wolffianischen Poetikern diskutierten) Definitionen als Nachahmung und als rhetorische Rede mit der Zielsetzung moralischer Belehrung an. In Baumgartens Augen sind diese traditionellen Bestimmungen nicht falsch, aber unzureichend. Es gibt ihm zufolge ein diesen Bestimmungen übergeordnetes Prinzip, dessen Erkenntnis zur besseren Fundierung der Dichtkunst beitragen kann. Dieses Prinzip faßt die traditionellen Bestimmungen mit ein, bietet aber gleichzeitig eine neue Ableitung der Poetizität der Poesie. Die Formulierung dieses Prinzips erfordert offensichtlich zunächst die Unterscheidung von verschiedenen Arten der Begriffsbildung. Aus jeder Art von Rede lassen sich, so Baumgarten mit Verweis auf Wolffs ontologische Doktrin vom Zeichen und auch der Hermeneutik, Vorstellungen erkennen. Aber, und hier zeichnet sich die neue These ab, bestimmte (poetische) Arten von Rede drücken sinnliche Vorstellungen (repraesentationes sensitivae) aus. Es gibt eine Art von Vorstellung, von Vorstellungszusammenhang und Rede, die dem unteren Teil der Erkenntnisvermögen eigen ist. Diese kann man sinnlich nennen. Die Bestimmungen der sinnlichen Rede führen zur berühmten Definition des Gedichts als „vollkommener sinnlicher Rede“ in § 9. Diese Definition hat zu größeren Mißverständnissen Anlaß gegeben. Daß das Gedicht eine vollkommene sinnliche Rede ist, besagt, daß die Dichtung und die dichterischen Künste als Künste der bildlichen Rede der Sinnlichkeit als Modell dienen. An dieser Stelle ist diese These aber noch ein unbewiesenes Postulat.30 Auch die Ausführungen zur sinnlichen Verknüpfung und Rede sind nicht wirklich erhellend. Obschon sich in Wolffs Schriften zu Psychologie, Ethik und Politik vereinzelt auch Abschnitte zu dichterischen und künstlerischen Themen finden, findet die Dichtung in diese hermeneutische Diskussion noch keinen Eingang. Gottsched hingegen fügt in seinem Handbuch Erste Gründe der gesamten Weltweisheit dem Abschnitt zur Logik auch einige Paragraphen über das dichterische Denken und Sprechen bei. „Reden und Gedichte“ führt er als eine eigene Klasse von Schriften auf, als „vermischte Schriften […] darinn historische und dogmatische Wahrheiten unter einander vorkommen“; Johann Christoph Gottsched, Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, in: Ausgewählte Werke, hg. von Philip Marshall Mitchell, Bd. 5, 1–2, Berlin 1983, § 179. In Gottscheds Vorwort zur Fontenelle-Übersetzung finden sich weiterhin Verweise auf die logische Relevanz von Textsorten wie Dialogen, die er auch wie Baumgarten „Reden“ („orationes“) nennt. 30 Wie aus der methodologischen Anmerkung in § II und auch aus den methodologischen Abschnitten von Baumgartens Logik ersichtlich ist, verfährt Baumgarten in seiner Demonstration 29

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Obwohl in Baumgartens Kommentar erstmals eine gewisse Verlegenheit zum Ausdruck kommt und es ihm offenbar nur schwerlich gelingt, Belege für sein Verständnis von „poesis“ in der älteren Tradition zu finden, ist sich der Autor aber der Zeitlosigkeit seines Kunstbegriffes gewiß.31 Dem „Sprachgebrauch“ nach besitze Dichtung die weitgefaßte Bedeutung, welche die Definition ihr zuspricht. Die neue Definition biete dem alten Dichtungsbegriff lediglich eine neue Fundierung nach modernen logischen und methodischen Kriterien. Die neue Fundierung beruht offenbar auf einer neuen Abgrenzung von dichterischer und streng philosophischer Begriffsbildung und Methode. Beide methodischen Fähigkeiten können zwar in einer Person vereint sein: So zierte Aristoteles und Leibniz zugleich „der Mantel des Weisen und der Lorbeer des Dichters“. Sie müssen es aber nicht. In Baumgartens neuer Abgrenzung zeigt sich, daß die Neubestimmung und Erweiterung der Dichtung eigentlich in einem zunächst negativen Sinne eine neue Beschränkung und Ausgrenzung der Philosophie und der philosophischen Analyse aus der Sphäre der Dichtkunst bedeutet. Seine Neubestimmung gibt der Dichtung zurück, was die Rationalisten ungebührlich für die Philosophie eingefordert hatten. In der Tat hatten diese überspannten „dichterischen“ Ambitionen nachgehangen. Sie hatten in einem gewissen Sinne tatsächlich geglaubt, die Philosophie könne Dichtung sein, oder aber doch wesentliche Funktionen der Dichtung übernehmen. So hatten sie dem Philosophen nicht nur rhetorische Aufgaben übertragen, indem sie der Logik einen Abschnitt über die Mitteilung der Wahrheit angegliedert hatten, sondern auch wahrhaft „dichterische“, indem sie die inventio von der Rhetorik und Poetik in die Logik verfrachtet und die Erfindung von Wahrheiten auf den methodischen, der „Erfindungskunst“ kundigen Philosophen übertragen hatten. Dessen analytische Erfindungskunst hatte mit den Überlegungen Leibniz’ und Wolffs zur heuristischen Funktion der Zeichen in der ars inveniendi als ars caracteristica combinatoria nicht nur die Kategorie der dispositio und Ordnung, sondern auch in einem gewissen Maße die der elocutio, den nicht mathematisch deduktiv; er folgt statt dessen einer philosophischen Methode der Beweisführung. 31 Eine solche Bestimmung der Dichtkunst sucht Baumgarten bei den antiken Grammatikern Nonius Marcellus und Aelius Donatus (4. Jahrhundert), Aelius Festus Aphtonius (3. Jahrhundert), und Gaius Lucilius dem Satiriker des 2. Jahrhunderts, bei Scaliger und selbst bei Cicero vergebens. Sinngemäß, schreibt er, findet ein solches Verständnis von „poesis“ sich auch bei Cicero. Dieser begreift, da er an Homer seine Malerei preist, offensichtlich die Poesis in einem weiteren Sinne, denn er faßt die Malkunst in die Dichtung mit ein. Nur verwendet Cicero unglücklicherweise nicht den Begriff „poesis“. (Die englische Edition der Meditationes enthält eine hilfreiche Fußnote zu den zahlreichen Quellen, die in diesem Paragraphen erwähnt werden. Das Zitat Ciceros befindet sich in Tusc. Disput., V, XXXIX, 114.)

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sprachlichen Ausdruck, absorbiert. Die Philosophen hatten somit für sich eingefordert, sowohl klar und überzeugend, als auch dichterisch und schön zu denken und zu sprechen. Baumgarten widerlegt die dichterische Anmaßung der Philosophen zunächst empirisch, anhand eines „Tests“. Er legt dem Leser einen philosophischen Beweis in Versform vor. Dieser soll dem Leser vor Augen führen, daß er sich klar-verworren des korrekten Dichtungsbegriffes bewußt ist, daß er spontan die korrekte Unterscheidung zwischen philosophischer und dichterischer Rede trifft und erkennt, daß diese philosophische Rede noch kein Gedicht ist – obgleich weder an der Form noch am Inhalt (d.h. an seiner Wahrheit und logischen Schlüssigkeit) etwas auszusetzen ist. Im folgenden ergänzt Baumgarten diesen empirischen Beweis um eine philosophische Begründung. Dazu korrigiert und ergänzt er die von Leibniz 1684 in seinen Meditationes de cognitione, veritate et ideis eingeführte und von Wolff aufgegriffene technische Terminologie zur Begriffsbildung. Der rhetorisch-poetischen Absicht entspricht, wie Baumgarten zu Recht herausstellt, keine eigene Unterscheidung in der LeibnizWolffischen Hierarchie von Begriff- und Erkenntnisstufen. Eine solche Unterscheidung und logische Kennzeichnung der poetischen Rede liefert Baumgarten ab § XII nach. Daß es sich um eine logische Innovation handelt, ist auch von den Kommentatoren meistens erkannt und oft diskutiert worden. Gleichzeitig ist Baumgartens Argument seit Baeumler generell mißverstanden und extensive Klarheit mit Leibniz’ klar-verworrener Erkenntnis gleichgesetzt worden. Baumgarten nennt in § XVI eine „extensiv klare“ Vorstellung, eine Vorstellung, die mehr (d.h. eine größere Anzahl) von Unterscheidungsmerkmalen enthält als andere: „wenn in einer Vorstellung A mehr vorgestellt wird als in B, C, D usw., alle aber verworren sind, so ist A dem Umfange nach klarer (extensive clarior) als die übrigen“. Das Kriterium der extensiven Klarheit kennzeichnet somit den poetischen Begriff durch seinen quantitativen Umfang oder seine Merkmalsvielfalt. Der Bezug auf dieses neue Kriterium ermöglicht nun, sowohl dunkle32 als auch deutliche Begriffe aus der Dichtung auszuschließen. Die deutliche Rede ist deshalb nicht dichterisch, weil die „intensive“ Klarheit oder Deutlichkeit der Erkenntnis, die für die Definition und Klassifikation einer Erkenntnis erforderlich ist, nicht notwendig auch eine „extensive“ Klarheit beinhaltet. Dieser quantitative Unterschied ergibt sich aus den spezifischen Baumgarten erklärt zunächst, auch unter Berufung auf das schon bei Leibniz und Wolff zitierte Kriterium der Erinnerung, dunkle Vorstellungen enthielten nicht so viele Vorstellungen von Merkmalen, als erforderlich seien, um das Vorgestellte wieder zu erkennen und von anderen Vorstellungen zu unterscheiden. Wenn man das neue Kriterium zu Grunde legt, können sie nicht zur poetischen Absicht beitragen, weil mehr verschiedene Teile zur Mitteilung sensitiver Vorstellungen beitragen, wenn die Vorstellungen klar, als wenn sie dunkel sind. 32

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Absichten, die Baumgarten neu definiert: Weil die Philosophie auf größtmögliche Transparenz oder Anschaulichkeit der logischen Verbindungen (oder des Zeichens) abzielt, läßt sie bei der Wahl ihrer sprachlichen Zeichen ein Prinzip der Simplizität walten und zieht die „ärmeren“ und einfacheren den komplexeren vor.33 Die Dichtung hingegen, die auf die bildliche Anschaulichkeit des Begriffs oder auf die Ähnlichkeit mit der Sache selbst abzielt, gewährt dem Umfang oder der Komplexität der Zeichen Vorrang. Diese Unterscheidung kann eigentlich nur durch die Anwendung auf die Rede als Ganze erklärt werden; aus der verengten Problemstellung auf den Begriff konnte sie nicht begriffen werden. Die seit Baeumler34 klassische Erklärung betrachtet die extensive Klarheit als Kennzeichnung des einzelnen Begriffs. Die extensive Klarheit beziehe sich auf ein Schema der Koordination von Einzelbegriffen auf einer horizontalen Skala, während die intensive Klarheit sich auf ein klassifikatorisches, vertikales Schema der Subordination von Art- und Gattungsbegriffen beziehe. Diese Erklärung erweist sich aus der weiteren Perspektive auf die Rede als falsch. Es zeigt sich schon hier, daß das Subjekt sein ästhetisches Vergnügen nicht aus der Unbestimmtheit und Verworrenheit seiner Erkenntnis, sondern aus der umfassenden Bestimmung des Gegenstands schöpft.35 Gleichzeitig mag den Leser irregeleitet haben, daß Baumgarten das Kennzeichen der extensiven Klarheit bereits im Abschnitt über die Begriffe einführt, bevor er seine Perspektive auf die größere Einheit der Rede als Ordnung und Verknüpfung von Begriffen erweitert. Auch ist auf den ersten Blick nicht einsichtig, inwiefern die Rede sich auf die Sinnlichkeit bezieht. Diese Zusammenhänge erschließen sich nur vor dem Hintergrund der übergeordneten psychologischen Problemstellung. Da die sinnlichen oder bildlichen Begriffe dem Assoziationsschema Wolffs zufolge wiederum auf einer Verknüpfung von Begriffen beruhen (weil nur solche Elemente wahrgenommen werden, die Vorstellungen aus der Vergangenheit aufrufen), können die Begriffe schon als eine Rede im kleinen betrachtet werden.

Discursus praeliminaris (wie Anm. 19), § 149. Baeumler, Das Irrationalitätsproblem (wie Anm. 5), I, 4. 35 In Baeumlers Augen nimmt Baumgartens These von der extensiven Klarheit die von der Alogizität der Kunst vorweg, weil sich das Individuum nicht vollständig bestimmen läßt und deshalb zu einem ästhetischen Urteil und dem Spiel der Erkenntniskräfte Anlaß gibt. Nun ist die logische Klassifikation tatsächlich unzureichend, um einen Begriff in seiner Vollständigkeit zu bestimmen. Dennoch verfügt das Subjekt über einen intuitiven Zugang zu der haecceitas des Gegenstandes. 33 34

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III. Die extensive Klarheit der dichterischen Begriffe (§§ XIII–LXIV) Baumgartens Absicht in dem sehr ausführlichen Teil über die poetischen Begriffe besteht darin, die dichterischen Begriffe auf das logische Kriterium der extensiven Klarheit zurückzuführen. Hilfestellung leisten bei diesen Ausführungen, die ja eigentlich auf eine moderne Problemstellung reagieren, stets die traditionellen Bestimmungen der Dichtung. Sie dienen dem Nachweis der zeitlosen Gültigkeit des neuen Prinzips. Gleichzeitig erweist sich die genuin philosophische Tradition, die aus einer kritischen Perspektive heraus den sinnlichen und rhetorischen Gehalt der Dichtung denunziert, als weniger produktiv als die rhetorisch-dichterische. Daher bleibt Baumgarten eigentlich nur die Möglichkeit, aus den alten dichterischen Quellen selbst zu schöpfen, aus Homer, Vergil und Cicero, oder aber aus solchen theoretischen Schriften wie Horaz’ ars poetica, die die rhetorische Wirkung der Dichtung positiv werten. Unter all den Begriffen, die aus der Verknüpfung von Ähnlichem entstehen, besitzen die Begriffe von Individuen besondere extensive Klarheit, da sie, indem sie die Verknüpfung mit ähnlichen besonderen Erfahrungsbegriffen voraussetzen, den Gegenstand umfassender bestimmen als die höheren Artund Gattungsbegriffe. Die Poetizität der einzelnen Begriffe liegt aber nicht in ihrer Verworrenheit und Unbestimmtheit, sondern ganz im Gegenteil in ihrer umfassenden Bestimmtheit. Generell gilt außerdem, daß niedrigere Gattungsbegriffe mehr Definitionsmerkmale als höhere enthalten und deshalb von größerer extensiver Klarheit sind – Allgemeinheit ist also nicht per se aus der Dichtung zu verbannen. Dem entsprechen auch die Auffassungen der alten Dichter Homer, Vergil und Ovid. Homer beispielsweise schildert im II. Gesang der Ilias in einiger Ausführlichkeit das von Agamemnon zur Schlacht bewegte achaische Heer mitsamt seiner Führer, Lenker und der Schiffe. Da die Dichter häufig an Stelle weiterer Begriffe engere setzen, sind weiterhin nach § XXI Beispiele poetisch. Die poetische Funktion des Beispiels hatten vor Baumgarten schon Leibniz und Wolff36 hervorgehoben. Baumgarten zitiert aus Leibniz’ Théodicée: „Le but principal de la poésie doit être d’enseigner la prudence et la vertu par des exemples“. Die von Leibniz und Wolff angeführten Argumente zur Poetizität des Beispiels halten aber noch an dem alten Prinzip der Dichtung als moralische Belehrung fest, den Baumgartens Definition der Dichtung als extensiv klare und sinnliche Rede ja ersetzen soll. Deshalb leitet Baumgarten die poetische Funktion des Beispiels nun aus der neuen Definition und dem Argument von der Poetizität Vgl. insbesondere Christian Wolff, Philosophia practica universalis (1738–39), in: GW II.11, II 2, §§ 302–316. Eine deutsche Übersetzung dieser Paragraphen bietet Erwin Leibfried, Josef M. Werle, Texte zur Theorie der Fabel, Stuttgart 1978, 34–42. 36

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der besonderen Begriffe her: poetisch ist das Beispiel, weil es zur Erklärung eines allgemeineren Begriffes einen besonderen, ausführlicheren heranzieht. Auch die rhetorisch-affektive Bestimmung läßt sich aus dem quantitativen Kriterium der extensiven Klarheit oder Merkmalsvielfalt herleiten, insofern sowohl Empfindungen als auch Affekte als zusammengesetzte und „komplexe“ Begriffe bestimmt werden können, in denen mehr vorgestellt wird als in den einfachen. Denn diese bestimmen als Vorstellungen „von gegenwärtigen Veränderungen im Vorstellenden“ einen Gegenstand nicht nur objektiv, sondern (als angenehm oder unangenehm, gut oder schlimm) auch hinsichtlich seines Verhältnisses auf das vorstellende Subjekt.37 Der Beweis der Poetizität der Empfindungen und Affekte bereitet die Ausführungen zur Einbildung vor, da die Empfindung das Ideal extensiver Klarheit präziser faßt. Als umfassende Rede und Vorstellung der Dinge selbst soll die Dichtung der Empfindung so nahe wie nur möglich kommen. Unter diesem Gesichtspunkt sind Einbildungen dann poetisch, behauptet Baumgarten, wenn sie die wieder aufgerufenen Sinneswahrnehmungen zu einem Abbild der Realität verknüpfen, das der Wirkung dieser natürlichen Verknüpfungsordnung möglichst ähnlich ist. Der extensiven Klarheit entspricht daher das Kriterium der Wahrheit oder der Ähnlichkeit des poetischen Bildes mit der Wirkung der natürlichen Verknüpfungen der wirklichen Welt. Diese Zielsetzung solcher extensiver Klarheit und Wahrheit oder Ähnlichkeit stellt aber eine echte Herausforderung an die Einbildungen, denn obgleich zu den komplexen Begriffen gehörig, sind diese als Reproduktionen der Empfindung schwächer, ärmer und von geringerer rhetorischer Wirkung als Empfindungen. Aus dieser konstitutiven Merkmalsarmut ergeben sich zusätzliche Anforderungen an die Einbildung. Als Bild der natürlichen Verknüpfung dieser Welt muß sie die anhängenden Vorstellungen in ihrer Gesamtheit vorführen und sie entweder nach einer Ordnung der Erfahrung oder aber der Ähnlichkeiten verknüpfen.38 Aus dieser Forderung lassen sich nun sowohl die aristotelische Forderung nach räumlicher und zeitlicher Einheit als auch die Poetizität der Gleichnisse und Träume (als Verknüpfung von Einbildungen nach dem Prinzip der Ähnlichkeit) ableiten. Die Forderung nach Klarheit und Ähnlichkeit der Einbildungen beinhaltet aber eigentlich die nach der „malerischen“ Methode der Dichtung („ut pictura poe-

Da bei der Empfindung von Affekten (d.h. merklicheren Graden der Lust und Unlust) das Attribut „gut“ oder „schlimm“ zu den weiteren Begriffsmerkmalen hinzutritt, kann es als „anhängendes“ Merkmal und als Teil eines „komplexen“ Begriffes betrachtet werden, der zu seiner extensiven Klarheit beiträgt. Je stärker der Affekt, desto umfassender und poetischer deshalb die Vorstellung. 38 Die räumlich-zeitliche Verknüpfung entspricht auch einer Assoziation nach Ähnlichkeiten, da für die Vorkantianer Ort und Zeit noch Merkmale des Gegenstandes darstellen. 37

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sis“, § XXXIX). Wie im realistischen und illusionistischen Gemälde soll der Zeichen- und Bildcharakter vor dem Gegenstand zurücktreten.39 Eine weitere Möglichkeit, die der Einbildung immanente Merkmalsarmut zu kompensieren, bietet sich dem Dichter durch die auch bei Bodmer und Breitinger thematisierte Erregung von Verwunderung durch die Darstellung von Seltenem und Unbegreiflichem. Dadurch mag es dem Dichter gelingen, die Aufmerksamkeit des Lesers so zu fesseln, daß dieser mehr Merkmale der Vorstellung aufnimmt. Nur kann eine übergroße Überraschung oder Unbegreiflichkeit auch der dichterischen Absicht zuwiderlaufen (§ XLVII), denn wo das Dargestellte allzu neu und unbegreiflich erscheint, kann es nicht auf das Schonbekannte zurückbezogen werden. Folglich muß der Dichter „im Wunderbaren selbst geschickt Bekanntes mit Unbekanntem mischen“ (§ XLIX). In diesem Argument zeigt sich wiederum, daß die Forderung nach einem neuen bildlichen Vermögen einer neuen Einsicht in die sprachlichen Voraussetzungen des Denkens und in die sprachliche Natur des Menschen entspringt. Die Realität kann nicht anders als sprachlich vermittelt wahrgenommen werden, denn die Erfassung des Außerordentlichen erfordert die Angliederung des Neuen an einen Bedeutungszusammenhang. Die aufgerufenen Vorstellungen müssen zusammen als Zeichen dienen, die dem Neuen, Unbekannten Bedeutung verleihen. Nun kann der Dichter außer der natürlichen Verknüpfung der wirklichen Welt auch die willkürliche Verknüpfung einer möglichen Welt nachbilden. Eine solche Verknüpfung bereitet aber aufgrund des Postulats der Ähnlichkeit der dichterischen Verknüpfung mit der Realität Schwierigkeiten. Dichterischen Gehalt können zwar nach der Definition der Anfangsparagraphen alle diejenigen Wortketten beanspruchen, die einen Zusammenhang oder eine „Rede“ bilden. Die Darstellung möglicher oder heterokosmischer Welten tut im Gegensatz zu derjenigen utopischer,40 absolut unmöglicher und widersprüchlicher Welten dieser Anforderung im Prinzip Genüge. Wohl besitzen diese Verknüpfungsformen eine moralische und religiöse Funktion, es fehlt ihnen aber an extensiver Klarheit, da die Gesamtheit der kausalen Verknüpfungen nicht in die Grenzen unseres Verstandes fällt, und die einzelnen Bestimmungen „aus einiGleichzeitig übertrifft aber die Dichtung die Malkunst nicht im Hinblick auf ihre Wahl der Zeichen – „die intensive Klarheit, welche die symbolische Erkenntnis durch die Worte vor der anschaulichen voraus hat, trägt nichts zur extensiven Klarheit bei“ (Meditationes, § XLI) –, sondern aufgrund ihrer zeitlichen Dimension. Da sie eine Bewegung auch in ihrem Verlauf darstellen kann, stellt sie mehr vor. 40 Die utopischen Welten werden allein durch die Definition der Rede aus der Sphäre der Dichtung ausgeschlossen, weil sie keinen wahren Zusammenhang bilden. Damit erweist sich eine für die wolffianischen Poetiker höchst zentrale Fragestellung als irrelevant: „Von utopischen Vorstellungen können wir uns keine Vorstellung machen“ (Meditationes, § LII). 39

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gen, sehr wenigen und unzureichenden Gründen erschlossen werden müssen“. Die heterokosmische Dichtung bleibt deshalb unzureichend bestimmt. Wie die epische Dichtung mit ihrer Darstellung ehebrecherischer Götter zeigt, ist ihr Zusammenhang nicht gesichert, da nur hypothetisch notwendig und durch unsere empirischen, historisch wandelbaren Begriffe bedingt.41

IV. Methodologia (dispositio) (§§ LXV–LXXVI) Der dritte Teil beginnt mit der Behauptung, „die Ordnung von dichterischen Vorstellungen müsse auch zur dichterischen Erkenntnis beitragen“.42 Da in einem gewissen Sinne die Ordnung bereits in der Diskussion um die Verknüpfung der Begriffe thematisiert worden ist, scheint die Methodologia auf den ersten Blick den früher gewonnenen Einsichten nicht viel neues hinzuzufügen; Sie scheint nur insofern wichtig zu sein, als daß sie Ciceros Forderung nach der dispositio des durch inventio gefundenen Materials folgt und das gleiche Ordnungsprinzip einfach (nicht ohne Wiederholungen des bereits Erkannten) auf die Rede als Ganze anwendet, die wiederum einen Begriff oder ein Bild bildet.43 Aber bei näherer Betrachtung zeigt es sich, daß diese These ein neues methodologisches Postulat enthält. Baumgarten zeigt nun, indem er die Horazischen Thesen zur Ordnung oder Methode der Dichtkunst aus dem Prinzip von der extensiven Klarheit heraus entwickelt, daß die dichterische Ordnung oder Methode das Pendant und die Ergänzung der philosophischen Analyse darstellt. Dies beinhaltet die Umbildung von Horaz’ ars poetica, deren Ausführungen zur Ordnung hier „als Prüfstein dienen“, in eine (durch eine besondere Zielsetzung) gekennzeichnete Methode und in eine (auf einem eigenen Prinzip gegründete) poetische Wissenschaft. Diese von der Forschung bisher verkannte methodische Verankerung der ars poetica ist für die Begründung der Ästhetik absolut grundlegend. Indem Baumgarten die dichterische Rede als Ganze durch eine eigene Absicht und Ein ähnliches Problem werfen auch solche Einbildungen auf, die sich auf die Zukunft beziehen, und die Baumgarten unter dem Thema Voraussicht (divinatio) und Vorhersage (praedictio) abhandelt: auch hier läßt sich der Zusammenhang des Zukünftigen mit den bedingenden Momenten nur ungenügend bestimmen. 42 Meditationes, § LXV. 43 Werner Strube beschreibt diesen Sachverhalt richtig: „Der Begriff Gedicht ist durch eine Disjunktion von Bedingungs- und Eigenschaftsbündeln definiert, die jeweils hinreichen, den betreffenden Text ‘Gedicht’ zu nennen. Ein Text ist stets dann ein Gedicht, wenn er die extensive klare Vorstellung von etwas vermittelt“, Alexander Gottlieb Baumgartens Theorie des Gedichtes, in: Theodor Verweyen in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Kertscher (Hg.), Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung, Tübingen 1995, 1–25, hier 9. 41

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Form der Begriffsbildung charakterisiert, ergänzt er die philosophische Analyse um eine zweite dichterische Methode der Auflösung (resolutio) von Begriffen.44 Wie der Philosoph, analysiert auch der Dichter ein Thema und trägt einen Beweis oder eine Demonstration45 vor. Indem er Begriffe in ihre Bestandteile zerlegt, gewährt er Einsicht in ihre Natur und Verknüpfung. Wie die philosophische Rede ist die dichterische dann geordnet, wenn das Publikum das der Rede zugrundeliegende Argument und Thema verstehen und nachvollziehen kann. Während aber der Philosoph bei der Verknüpfung seiner Gedanken analytisch verfährt, folgt der Dichter einer „lichtvollen Ordnung“: Baumgarten entlehnt diesen Begriff wiederum der ars poetica des Horaz (und schlägt in seiner Logik auch den deutschen Begriff „Aufklärung“ vor.) Lichtvoll ist eine Ordnung wohl dann, wenn das Gedicht als Ganzes ein Bild oder einen Begriff des Themas entwirft, in dem die Verknüpfungen vor der Vorstellung des Gegenstands zurücktreten. Da eine solche „Aufklärung“ mit diversen Mitteln erreicht werden kann, bleibt dem Dichter bei der Wahl seiner Ordnung ein gewisser Spielraum. Von Vorstellungen, die einander zugeordnet sind, stehen „manche in einem Zusammenhang wie Vordersätze und Schlüsse, manche wie Ähnliches mit Ähnlichem, oder Verwandtes mit Verwandtem. Manche können ferner nach dem Gesetz der Wahrnehmung und Einbildung zusammenhängen“ (§ LXXII). Der Dichter hat damit die Wahl zwischen der historischen Methode, der Methode des Witzes und der Methode der Vernunft.46 Dem entsprechen die vorhergehenden Ausführungen zu den Verknüpfungen der poetischen Begriffe, aus denen auch hervorgegangen ist, daß den beiden ersteren im Hinblick auf ihre extensive Klarheit ein gewisser Vorrang vor der letzteren gebührt.

V. Semiotica (elocutio) (§§ LXXVII–CVII) Wie sich nun gezeigt hat, ist alles Denken sprachlich, denn die sprachlichen Zeichen dienen dem Geist als Werkzeug, sei es nun, wie in der Philosophie, zur Vereinfachung langer Gedankenketten oder, wie in der Dichtung, zur bildhaften und komplexen Gedankenführung. Die Wahl der Zeichen ergibt sich aus der jeweiligen methodischen Absicht. Obwohl Cassirer seinen Gedanken nicht unter dem Gesichtspunkt von Simplizität und Komplexität auf die Rede als Ganze bezogen hat, hat er diesen Unterschied doch schon in der Philosophie der Aufklärung äußerst klarsichtig herausgestellt: Logik, § 28: Actio, qua aliquis claritatis gradus in conceptu obtinetur, est eius declaratio (dilucidatio, illustratio, explicatio, expositio * Aufklärung). 45 Ebd., § 339. 46 Meditationes, § LXXII. 44

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In der wissenschaftlichen Behandlung eines Themas fungiert das Wort lediglich als Begriffszeichen; sein ganzer Gehalt geht in seiner abstrakten Bedeutung auf. Die Worte werden hier, wie Hobbes dieses Verhältnis ausgedrückt hat, lediglich als ‘Rechenmarken des Geistes’ verwendet. […] Alles Formelhafte ist aus der poetischen Rede verschwunden, und an seine Stelle ist das rein Bildhafte des Ausdrucks getreten.47

Mit dieser Einsicht in die sprachlichen Werkzeuge des dichterischen Denkens hat sich denn Ciceros Einsicht in die Einheit von inventio, dispositio und elocutio48 in einem ganz neuen Sinn bewahrheitet. Inhalt und Form bilden eine Einheit. Die elocutio des Dichters besitzt eine viel wesentlichere Funktion als nur dem äußerlichen Schmuck zu dienen, denn die Schönheit des Ausdrucks ergibt sich erst aus der Einheit der Begriffe, ihrer Verknüpfungen und Zeichen. Zur Beschreibung dieser Schönheit des Ausdrucks bedient sich Baumgarten einer Reihe von Begriffen, die er ebenfalls bei Cicero und der antiken Rhetorik findet: sprachliche Reinheit (puritas),49 Harmonie (concinnitas) und Schmuck (figurarum ornatus). Diese drei Kriterien bilden zusammen den Wohlklang (sonoritas) des Gedichtes. Seiner doppelten Perspektive auf die Begriffe und ihrer Verknüpfung gemäß bespricht Baumgarten sowohl die Schönheit der einzelnen Wörter als auch die der Rede als Ganzer. Diese besteht im Metrum und Rhythmus des Gedichtes. Seine Neubestimmung der Dichtung widerlegt zunächst die Wolffische These von der Verbannung der uneigentlichen Ausdrücke aus der Philosophie. Während Wolff noch ganz fälschlich generell die bildliche als die uneigentliche Bedeutung und als der philosophischen Zielsetzung der Klarheit abträglich verurteilt hatte, beinhaltet Baumgartens neue These von der Dichtung als ein Denken in Bildern, daß „die bildlichen Ausdrücke meist die eigentlichen Bezeichnungen für sensitive Vorstellungen sind“ (§ LXXIX) (und daher zur extensiven Klarheit beitragen). Die Poetizität von Tropen wie Synekdochen, Allegorien und Epitheta50 ergibt sich zum einen aus der der Vorstellungen und ihrer Verknüpfungen, wie oben erläutert. Zum ande-

Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (wie Anm. 3), 468. Vgl. Cicero, De oratore, I, 20 und III 20. 49 Eine genauere Bestimmung dieser Termini ist enthalten in: Philosophia generalis, § 147. 50 Die Synekoche ist den Ausführungen zu den besonderen Begriffen zufolge zunächst deshalb poetisch, weil sie einen Artbegriff durch einen Gattungsbegriff, oder einen Gattungsbegriff durch einen besonderen Begriff ersetzt; die Allegorie, weil sie Vorstellungen von Gleichnissen oder Metaphern enthält und diese außerdem miteinander verkettet; das Epitheton schließlich, weil es (wenn weder weitschweifig, noch tautologisch) eine zusammengesetzte und bildliche Vorstellung des Substantivs vermittelt. Baumgarten greift hier auch auf schon von Johann Peter Reusch formulierte Einsichten zu den Stilfiguren zurück. Vgl. auch Clemens Schwaiger, Vollkommenheit als Moralprinzip bei Wolff, Baumgarten und Kant, in: Michael Oberhausen (Hg.),Vernunftkritik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts. Festschrift für Norbert Hinske, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, 317–328. 47 48

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ren trägt aber zur extensiven Klarheit bei, daß mit dem sprachlichen Ausdruck noch eine einfache sensitive Vorstellung hinzukommt. Außerdem betrifft die elocutio auch das Versmaß. Den Meditationes nach bildet das Gedicht eine Reihe artikulierter Töne und enthält ein Metrum oder eine geordnete Anzahl von Silben. Das Versmaß (Metrum, aber auch Rhythmus, als freies Maß ohne Ordnung) erhöht insofern die extensive Klarheit, als daß durch die Vorstellung der Harmonie (die ihrerseits mentale Einsicht, Erinnerung und Antizipation von Zusammenhang und Einheit voraussetzt) und das dadurch erzeugte Vergnügen weitere Vorstellungen zum Gesamtbild des Gedichtes hinzutreten. VI. Prinzipien der Dichtung und die Forderung nach einer Ästhetik (§ CVIII–CXVII) Aus diesen Ausführungen zu den dichterischen Begriffen, ihren Verknüpfungen und Zeichen ergibt sich die Übereinstimmung des neuen Begriffs der Dichtung als sinnlicher Rede mit den herkömmlichen Bestimmungen. Das übergeordnete Prinzip der Dichtung als sinnlicher Rede faßt sowohl die älteren Definitionen des Gedichts als Carmen oder „gebundene Rede“ als auch das Aristotelische Prinzip der Naturnachahmung und die von Daniel Heinrich Arnoldt und Johann Georg Walch propagierte rhetorische Bestimmung der Dichtung als lebhafte Rede mit ein. Obwohl Baumgartens Argument einer Begründung der bei Bodmer und Breitinger als Nachahmung gefaßten These von der Bildlichkeit der Dichtung entspricht, befaßt er sich aber in seiner Diskussion nicht mit deren Auslegung, sondern entwickelt eine neue Interpretation dieses Prinzips, das den Widerspruch, den es anhand des Prinzips von der Dichtung als sinnlicher Rede zu denken gilt, noch besser faßt, und auf die nachfolgenden Bestimmungen der Poetik als Ästhetik hinführt. Das Gedicht muß, obgleich ein Erzeugnis menschlicher Kunst, natürlich scheinen, d.h. nach § CX die Natur als „inneres Prinzip der Veränderungen“ in ihrer sensitiven Wirkung nachahmen. Mit einer solchen logischen und methodischen Bestimmung eines neuen Prinzips der Dichtkunst und dem Nachweis seiner zeitlosen Gültigkeit und Spannbreite ist nun der Grundstein für die fehlende Neubegründung der Seelenvermögen und der Sinnlichkeit gelegt. Der analytischen Methode entspricht das Verstandes- und Vernunftvermögen im engeren Sinne und der lichtvollen Methode das sinnliche Verknüpfungs- und Zeichenvermögen, das Baumgarten in strenger Symmetrie zu den vernünftigen als analogon rationis bezeichnet. Aufgrund der nun herausgestellten Bildlichkeit der Dichtung übernimmt dieses Vermögen eine wesentliche Funktion der aisthesis der Alten.51 Zwar ist dieses aisthêtikon im neuen Monadenmodell der Seele 51

Vgl. insbesondere Aristoteles, De anima, II und III.

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weder als rezeptives noch als tierisches Vermögen bestimmbar; zwar muß die Sinnlichkeit oder zumindest eine gewisse Sinnlichkeit zu den menschlichen und sprachlichen Vermögen gezählt werden, doch dient sie den Verstandesvermögen nichtsdestoweniger als Grundlage, indem sie die Sache selbst in ihrer „Unmittelbarkeit“ abbildet. Ein solches sinnlich-bildliches Wahrnehmen der Realität will aber erst gelernt werden und Dichtung und Dichtkunst können zur Ausbildung dieser sinnlichen Fähigkeiten den Weg weisen. Aus einer solchen Neubegründung der aisthesis als poesis und als erstes Vernunftvermögen ergeben sich aber zugleich moderne systematische Konsequenzen. Wie Baumgarten zu Recht anmerkt, erhalten Poetik und Rhetorik eine neue, grundlegendere Funktion. Sie sind weder als rein formale Künste noch überhaupt (wie noch in der Aristotelisch-Ciceronischen Tradition) als unabhängig von der Logik denkbar. Da die sinnlichen die logischen Vermögen erst begründen und das logische Vermögen der Verfeinerung und Schärfung durch die poetischen bedarf, müssen sie stattdessen als Hilfswissenschaften in die Logik eingebettet werden. Dem so neubestimmten Vermögen der Sinnlichkeit entspricht die Kunst und methodische Wissenschaft der Ästhetik, Aesthetica. Die beiden logischen Disziplinen vom Denken und Sprechen unterscheiden sich zwar dem berühmten § CXV zufolge in ihrer Zielsetzung. In der oberen Logik geht es um die Ausbildung des Vermögens zum philosophischen, demonstrativ-deutlichen intensiv klaren Denken und Sprechen, hingegen in der Ästhetik um die Ausbildung des dichterischen und rhetorischen, extensiv klaren Denkens und Sprechens. Gleichzeitig ergänzt die Ästhetik die Logik (oder Wissenschaft, die das Erkenntnisvermögen bei der Erkenntnis der Wahrheit leitet) als neue Hilfswissenschaft zur Leitung der unteren Erkenntnisvermögen oder Wissenschaft vom sensitiven Erkennen. Als Kunst vom „Vortrag“ verändert sie weiterhin auch den „materiellen“ Teil der Aufklärungslogik, der dem formalen Teil über Begriffs-, Aussagen- und Schlußlogik folgt und sich mit der Verbreitung der Wahrheit und dem Verfassen, Lesen und Beurteilen von Büchern befaßt, also mit Themenbereichen, die traditionell in Disziplinen wie Rhetorik und Hermeneutik abgehandelt wurden. Insbesondere führt sie zu einer neuen Unterscheidung im Abschnitt über die Mitteilung. Hier führt Baumgarten erstmals explizit die von den modernen Philosophen aus der Logik ausgeklammerten rhetorischen und poetischen Disziplinen wieder ein. Gemäß der alten Tradition, welche die Dichtung als die höchste und vollkommenste Form der rhetorischen Rede betrachtet, stellt er die allgemeine Rhetorik der allgemeinen Poetik (als Disziplinen vom unvollkommenen und vollkommenen Vortrag der sensitiven Vorstellungen) gegenüber.52 Damit gelingt es ihm, die Baumgarten nimmt in den Meditationes zwar nicht eindeutig auf die Konsequenzen seiner These von der Ästhetik für die Hermeneutik oder den Abschnitt über das Verfassen und die Kritik 52

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alten artes disserendi komplett als Künste der Form und des Inhalts in die Logik einzugliedern. VII. Schluß Aus der übergeordneten psychologischen Fragestellung und der weiteren logischen Perspektive auf die Dichtung als Rede erschließt sich daher erst die Argumentation der Meditationes in ihrer nur von Kant noch erkannten analytischen Schärfe und philosophischen Tiefe.53 Es zeigt sich, daß die Ästhetik Baumgartens eigentlich aus einer neuen aufklärerischen Einsicht in die Weite des menschlichen logos erwächst. Entgegen der seit Baeumler weitverbreiteten These, die Baumgartens Ästhetik als Wendung zum Irrationalen sieht, zeigt sich, daß diese keineswegs mit dem rationalistischen Paradigma bricht, sondern es im Gegenteil ergänzt und Konsequenzen ausführt, die dort im Keim schon angelegt waren. Baumgartens Erfindung der Ästhetik zeugt von ganz neuen Einsichten in die sprachliche Natur der Seele. Diese ist nicht einfach eine vis repraesentativa, sondern eine vis loquendi. Da sich der Mensch in einem viel weiteren Sinn über den logos definiert, als vorher angenommen, besitzt er ein doppeltes sprachliches Vermögen. Den dichterischen Vermögen kommt außerdem im Vergleich zu den philosophischen eine grundlegendere Funktion zu; da diese die Sachen selbst abbilden, gehören sie zu den ersten, fundamentalen oder sinnlichen Vermögen.54 Die Verwandlung der Poetik in eine Ästhetik und Hilfswissenschaft der Logik zeugt von dieser neuen Bestimmung und Hierarchisierung der Seelenvermögen. Die Erfindung der Ästhetik signalisiert daher tatsächlich, wie auch schon von Baeumler und anderen hervorgehoben worden ist, eine radikal neue Perspektive auf die Kunst, indem sie sie gerade durch die von früheren Philosophen verdammte „sinnliche“, d.h. rhetorische und bildliche Funktion definiert und als solche positiv wertet. In dieser Definition wird der Begriff der Dichtung hin zu den im weitesten Sinne semantischen, verknüpfenden und „bildlivon Erfindungen und Büchern Bezug. Solche Verweise finden sich aber sowohl in den hermeneutischen Kapiteln der Logik als auch in der Metaphysica (§ 622) und in der Kollegnachschrift Poppe, § 4 (74 f.). 53 Vgl. AA, Bd. 1, 503, Bd. 2, 10 und 308, Bd. 4, 270, Bd. 10, 198, Bd. 18, 82. 54 Zur cognitio intuitiva, siehe auch Metaphysik, § 620: Si signum & signatum percipiendo coniungitur, & maior est signi, quam signati perceptio, COGNITIO talis SYMBOLICA dicitur, si maior signati reprasentatio, quam signi, cognitio erit INTUITIVA (* ein anschauendes Erkenntniss, intuitus). Pietro Pimpinella deutet schon auf die sprachlichen Voraussetzungen von Baumgartens Doktrin der anschaulichen Erkenntnis hin: „[Anschauende und symbolische Erkenntnis] werden einander nicht gegenübergestellt, sondern als die zwei Seiten des ‘Zusammenhangs der Zeichen’ (nexus significativus) dargestellt“, Cognitio intuitiva bei Wolff und Baumgarten, in: Vernunftkritik und Aufklärung (wie Anm. 50), 265–294, hier 287.

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chen“ Künsten inklusive Dichtung, Skulptur, Malerei und Musik erweitert,55 andererseits wird die Dichtung neu von der philosophischen Rede abgegrenzt. Dieser Kunstbegriff56 deutet einerseits auf spätere Definitionen in der Kritik der Urteilskraft und auch in der Romantik voraus. Andererseits unterscheidet er sich von späteren Begriffen, weil er das Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie noch nicht als antagonistisches, sondern nur als komplementäres deutet. Die Kunst erweckt zunächst deshalb das Interesse der Aufklärer, weil sie Schwächen des philosophischen Sprechens und Denkens kompensieren helfen kann. Der vorliegende Kommentar der Meditationes philosophicae rekonstruiert die Begründung der Ästhetik aus der ursprünglichen, sprachlichen Problemstellung heraus, die aus der anachronistischen Perspektive der älteren Forschung verkannt werden mußte. Er geht von der These aus, daß die eigentliche philosophische Frage, auf die die Meditationes eine Antwort suchen, die Natur desjenigen sprachlichen Vermögens betrifft, das aufgrund seiner Bildlichkeit sinnlich genannt werden kann. Wolff skizziert schon ein solches Vermögen, ohne es aber im logischen Stufenschema der Erkenntnisvermögen mit zu berücksichtigen. Baumgarten will diese Zweideutigkeiten des Wolffischen Ansatzes beheben und die sprachliche Sinnlichkeit systematisch verankern. Indem er auf einen weiteren Begriff der Vernunft als Rede zurückgreift, bezieht er die poetische Rede mit in den menschlichen Logos ein. Gleichzeitig unterscheidet er sie durch ihre extensive Klarheit oder Komplexität von der Simplizität der philosophischen Rede. Extensive Klarheit ist nicht mit Verworrenheit und begrifflicher Unbestimmtheit oder Unerschöpflichkeit gleichzusetzen, sondern mit Bestimmtheit und qualitativer Merkmalsvielfalt. Auf die Rede als größeren Zusammenhang angewandt, dient die extensive Klarheit zur Kennzeichnung einer eigenen poetischen oder „lichtvollen“ Ordnung, die die philosophische Analyse als zweite Methode der Begriffsauflösung ergänzt. Die logischmethodische Abgrenzung von Dichtung und Philosophie ermöglicht nun in psychologischer Hinsicht die Neubestimmung und Aufspaltung der Sprach- und Denkvermögen des Menschen in dichterische Sinnlichkeit und philosophisch-analytische Vernunft. Beide sind Verknüpfungs- und Bezeichnungsvermögen und unterscheiden sich hinsichtlich ihrer (dichterischen oder philosophischen) Absicht. So ergibt sich schließlich aus der logisch-methodischen und psychologischen Verankerung des Prinzips der Dichtung und der im weiteren Sinne dichterischen Künste die neue Forderung nach einer Ästhetik als Hilfswissenschaft der Logik.

Kollegnachschrift Poppe, § 1 (69): Wenn ich sinnlich schön denken will, warum soll ich bloß in Prosa oder in Versen denken? Wo bleibt der Maler oder der Musicus? […] Deshalb muß die Ästhetik allgemeiner sein; sie muß sagen, was von allem schönen gilt, bei jedem muß die Anwendung die allgemeinen Regeln machen. 56 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 51, AA, Bd. 5, 320 ff. 55

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The present commentary on the Meditationes philosophicae is an attempt to reconstruct Baumgarten’s foundation of aesthetics from within the debate on semantics and language which hitherto has largely been discarded in line with the anachronistic perspective of the older secondary literature. This commentary begins from the claim that the philosophical question to which the Meditationes seek a response concerns the nature of the particular semantic and „sensitive“ faculty concerned with the production of images. Where Wolff had offered an outline of such a faculty without as yet considering it within the logical scale of cognitive qualities, Baumgarten seeks to clarify the ambiguity and to develop a new systematic and logical justification of Wolff’s thesis about the semantic nature of the sensitive faculties. Baumgarten's return to a broader concept of reason as speech allows poetic speech to be included within the scope of the human logos, and also to be distinguished from the simplicity of philosophical speech by reference to the new criterion of „extensive clarity“ or complexity: in its attempt to present the logical connectors with maximum transparency, philosophical speech follows a principle of semantic economy and abstraction where signs represent as few characteristics of the object as possible; poetic speech on the other hand employs signs that represent as many characteristics as possible. Applied to speech as comprised by more than concepts, extensive clarity serves to characterize a proper poetic and « luminous » method, a second method of conceptual decomposition supplementing philosophical analysis. The logical and methodical distinction between poetry and philosophy leads to a psychological redefinition and redistribution of the human faculties of speech and thought, into poetic sensitivity versus philosophicalanalytical reason. Whereas both are connecting and semantic faculties, they differ as regards their respectively different, either poetical or philosophical, intentions. It is Baumgarten’s logical, methodical and psychological anchoring of the poetic principle which grounds his new claim for aesthetics as an auxiliary discipline of logic. Stefanie Buchenau, Maître de conférences, Département d’Etudes germaniques, Université Paris 8 Saint-Denis, 2, rue de la Liberté, 93526 Saint-Denis Cedex, France, E-Mail: [email protected]

S IMON G ROT E Pietistische Aisthesis und moralische Erziehung bei Alexander Gottlieb Baumgarten

Es ist kein Geheimnis, daß Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–62) acht Jahre als Schüler und Student bei pietistischen Theologen in Halle (Saale) verbracht hatte, als er 1735 mit großem Erfolg nach einer ‘ästhetischen’ Philosophie rief. Seine Biographen bestätigen, daß er eine der Waisenhausschulen August Hermann Franckes, nämlich die Lateinische Schule, von 1727 bis 1730 besucht und Theologie und Philosophie von 1730 bis 1735 an der Universität zu Halle studiert hat, wo er Vorlesungen von großen Koryphäen des halleschen Pietismus hörte. Es wird außerdem berichtet, daß Baumgartens Ausbildung von seinem älteren Bruder Siegmund Jacob gelenkt wurde. Dieser hatte ebenfalls Franckes Schulen besucht, Theologie bei pietistischen Professoren in Halle belegt und zu dem älteren und dem jüngeren Francke seit 1722 sehr guten Kontakt gehabt. Während Alexanders Schuljahren war er Inspektor der Lateinischen Schule, wurde 1732 Adjunctus und 1734 Ordinarius für Theologie. Er regte Alexander an, als Student an den Waisenhausschulen zu unterrichten.1 Vor diesem biographischen Hintergrund ist die Annahme naheliegend, daß die philosophischen Arbeiten Alexander Baumgartens, vor allem die Gründe, aus denen er eine ‘ästhetische’ Philosophie entwickelte, im halleschen Pietismus wurzeln. Obwohl das, was Alexander Baumgarten der Philosophie Christian Wolffs verdankt, sorgfältig untersucht wurde und wird, ist dennoch unsere Kenntnis des Anteils von Baumgartens theologischen Studien an seinem Werk und des Einflusses seiner pietistischen Lehrer noch unzulänglich.2 Thomas Abbt, Leben und Charakter Alexander Gottlieb Baumgartens, Berlin 1780, in: Thomas Abbt, Vermischte Werke, Bd. 4, Hildesheim 1978, 218–23; Georg Friedrich Meier, Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, Halle 1763, 5–19; Art. Baumgarten, Siegmund Jacob, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Halle, Leipzig 1732–1750. 2 Das anschaulichste Beispiel einer neuen, in vieler Hinsicht nützlichen Interpretation von Baumgartens 1735 erschienenen Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, die die Beziehung zwischen Baumgarten und Wolff beschreibt, aber Baumgartens theologi1

Aufklärung 20 · © Felix Meiner Verlag 2008 · ISSN 0178-7128

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Einer der letzten Versuche, die Forschungslage zu verbessern, unterstreicht nur den Mangel. In einem 2002 erschienenen Artikel behauptet Steffen Gross, daß Baumgarten seine ästhetische Theorie als Reaktion auf zwei unterschiedliche Erkenntnistheorien entwickelt habe, denen er in Halle begegnet sei. Auf der einen Seite legte die vor allem von Christian Wolff vertretene rationalistische Strömung der Aufklärung „a clear hierarchy among human faculties and capacities“ fest, „privileging one-sidedly logical thinking and seeing human emotionality primarily as a darkening threat to clear thinking“. Auf der anderen Seite, „Pietism concentrated on inner feelings, placed them at the top of the hierarchy, and showed hostility towards logical thinking and abstractions in general“.3 „No doubt Baumgarten“, schreibt Gross weiter, „was in search of a third position beyond the traditional division and vertical hierarchization of human faculties, namely the division of man, as such, into a rational or intellectual and a sensual side“.4 Gross’ Skizze des pietistischen Einflusses auf Baumgarten ist nicht unplausibel, aber doch recht schematisch und nicht ganz überzeugend. Baumgarten mag von halleschen Pietisten eine Konzentration auf innere Gefühle übernommen haben, aber Gross untersucht keinen pietistischen Text, und seine Behauptung, daß „Pietism [...] showed hostility towards logical thinking and abstractions in general“, läßt sich nicht halten. Dagegen spricht der Unterricht von Logik und Mathematik nach Lehrbüchern von Christian Wolff (Auszug aus den Anfangs-Gründen aller Mathematischen Wissenschaften) und Johann Gottlieb Heineccius (Elementa philosophiae rationalis) an Franckes Waisenhausschulen.5 Ausführlichere Bemerkungen zu den Verbindungen zwischen Baumgarten und den Ideen seiner halleschen Lehrer sind in Wilhelm Ludwig Federlins Kirchliche Volksbildung und Bürgerliche Gesellschaft zu finden. Um die „Baumgarten-Ignoranz“ im „theologischen Bereich“ zu verbessern, macht Federlin auf theologische Aspekte und Folgerungen der ästhetischen Philosophie Baumgartens aufmerksam, der nach Federlin auf seine pietistischen Lehrer teilweise empfänglich, teilweise kritisch reagiert habe. Einerseits habe Baumgartens pietistische Erziehung „ihre bleibenden Spuren hinterlassen“.6 schen Studien in Halle wenig Beachtung schenkt, ist Werner Strube, Alexander Gottlieb Baumgartens Theorie des Gedichts, in: Theodor Verweyen (Hg.), Dichtungstheorien der Frühaufklärung, Tübingen 1995, 1–25. 3 Steffen Gross, The Neglected Programme of Aesthetics, British Journal of Aesthetics 42 (2002), 403–414, hier 407. 4 Ebd., 408. 5 Johann Anastasius Freylinghausen, Gotthilf August Francke, Ausführlicher Bericht von der Lateinischen Schule des Wäysenhauses zu Glaucha vor Halle zum Dienst derer die Nachfrage zu tun pflegen, Halle 1736, 99. 6 Wilhelm Ludwig Federlin, Kirchliche Volksbildung und bürgerliche Gesellschaft. Studien zu

Pietistische Aisthesis

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Diese Spuren bemerkt Federlin in Baumgartens Beschreibung der Ästhetik als „Wissenschaft der Verbesserung sinnlicher Erkenntnis“, für die die „Kunst der Aufmerksamkeit“ unentbehrlich sei. Baumgarten selbst weist auf den Versuch seiner pietistischen Lehrer hin, Kindern durch Befehle den eigenen innerlichen, geistigen Zustand bewußt zu machen: „beschäftige dich nur hiermit! bedenke, warum du hier bist! gib acht! merk auf!“.7 Andererseits behauptet Federlin, daß Baumgarten seine ästhetische Theorie nicht lediglich als ausführliche, philosophische Darstellung einer pietistischen Trainingsmethode für die sinnlichen Erkenntniskräfte der Seele entworfen habe. Baumgartens ästhetische Theorie enthalte eher eine theologische Kritik an der pietistischen „Erfahrungslehre“ und „Unterdrückung der bösen Sinnlichkeit“. Während Francke und andere Pietisten die Dunkelheit häufig als Metapher eines Defekts der Seele vor der Bekehrung verwandten, hielt Baumgarten die Erkenntnis der „dunklen“ Ideen durch sinnliche Erkenntniskräfte der Seele für nutzbar und glaube, daß diese nicht unterschätzt werden sollten.8 Obwohl Federlins Bemerkungen die Aufmerksamkeit auf bisher unbeachtet gebliebene Aspekte von Baumgartens Schriften lenken, sind sie jedoch nicht das letzte Wort zum Thema . Zum einen ist die Erläuterung von Baumgartens Ruf nach einer ästhetischen Philosophie durch die Untersuchung seiner Verbindungen mit halleschen Pietisten ein umfassendes Projekt. Es erfordert die Ermittlung der geistigen und persönlichen Beziehungen zwischen Baumgarten und einzelnen Lehrern und Kollegen an den Waisenhausschulen und Professoren an der Universität zu Halle. Viele ihrer Biographien und Arbeiten sind teilweise oder völlig unbekannt. Auch ist der Mangel an detaillierter Forschung zu den philosophischen und theologischen Diskussionen hinderlich, die z.B. unter August Hermann Francke und seinen Kollegen (einschließlich Alexanders Vater, Jacob Baumgarten) vor Franckes Tod (1727) und vor allem in den 30er Jahren stattfanden, als Baumgartens erste ästhetische Schriften in Halle erschienen. Ohne den erforderlichen detaillierten Hintergrund muß Federlins Analyse der theologischen Kritik Baumgartens an den Pietisten mit Vorsicht behandelt werden. An einem der von Federlin analysierten Texte läßt sich außerdem viel mehr über die Verbindungen zwischen dem pietistischen Hintergrund und Baumgartens Forderung einer ästhetischen Philosophie zeigen. Das, was dieser Text zeigt, sollte aber im Gegensatz zu Federlin nicht als Kritik an pietistischer Theologie verstanden werden. Thomas Abbt, Alexander Gottlieb Baumgarten, Johann David Heilmann, Johann Gottfried Herder, Johann Georg Müller und Johannes von Müller, Frankfurt am Main 1993, 61 und 67: „Zweifellos hatten die pietistische Erziehung mit Liebe und Rute, aber auch ein ausgeprägter lebenskluger und dialektischer Selbsterhaltungstrieb ihre bleibenden Spuren hinterlassen“. 7 Ebd., 75. 8 Vgl. ebd., 84–85.

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Es handelt sich um die bekannten Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, die Baumgarten 1735 als Habilitationsschrift verfaßt hat. Der Ansporn war angeblich seine Aufgabe, als Informator der am weitesten fortgeschrittenen Lateinischen Klasse der Waisenhausschulen den Schülern die Dichtkunst und die Vernunftlehre beizubringen.9 Baumgarten war davon überzeugt, daß ein Philosoph in seiner Lage verpflichtet ist, die Regeln der Dichtkunst nicht durch Berufung auf Autoritäten zu begründen, obwohl er selbst die Regeln durch Erfahrung gelernt hatte. Statt dessen mußte er die Regeln jetzt beweisen: Quid hic erat aequius, quam praecepta philosophandi transferre in usum, qua se prima nobis offerebat occasio? Quid vero indicius dicam, an difficilius philosopho, quam iurare in verba aliorum, & scripta magistrorum stentorea voce recitare? Accingendus eram ad meditationem eorum, quae de more cognoveram historice, per usum, imitationem, nisi c[a]ecam, luscam tamen, & exspectationem casuum similium.10

Deswegen stellt sich Baumgarten die Aufgabe, „ut [...] ex una, quae dudum mente haeserat, poematis notione probari plurima dicta iam centies, vix semel probata posse demonstrarem“.10 Im größten Teil der Meditationes geht es um diese Aufgabe. Baumgarten fängt mit der Definition eines Gedichtes als vollkommene ‘sensitive’ oder sinnliche Rede (oratio sensitiva perfecta) an.11 Aus dieser Definition leitet Baumgarten allgemeine Eigenschaften eines vollkommenen Gedichtes ab. Die Haupteigenschaft eines solchen ist die Tendenz, ‘sensitive Vorstellungen’ (repraesentationes sensitivae) im Leser anzuregen.12 In Übereinstimmung mit der 1684 von Leibniz entwickelten und zu Baumgartens Zeit häufig gebrauchten Terminologie nennt Baumgarten solche Vorstellungen klar und verworren (clarae und confusae).13 Eine Vorstellung ist ‘klar’, insoweit man das, was vorgestellt wird, erkennen kann, weil die Vorstellung Merkmale übermittelt, die den vorgestellten Gegenstand von anderen Gegenständen unterscheiden.14 Eine Vorstellung ist ‘verworren’, im Gegensatz zu ‘deutlich’ (distincta), insoweit die Merkmale nicht ausdrücklich übermittelt werden, so daß das vorgestellte Ding nicht sofort nach einer Definition beschrieben werden kann.15 Anders gesagt enthält ein vollkommenes Gedicht, im Unterschied zu einem logischen Beweis, keine Worte und Ausdrücke, die allgemeine Begriffe bezeichnen und offensichtlich Definitionen entsprechen; Meditationes, 2 ff. Vgl. Meier, Alexander Baumgartens Leben (wie Anm. 1), 13 f. Meditationes, 4. 11 Ebd., § IX. 12 Ebd., § VIII. 13 Ebd., §§ XII–XV. 14 Edb., § XIII. Vgl. G.W. Leibniz, Meditationes de cognitione, veritate, et ideis, in: Sämtliche Schriften und Briefe (Akademie-Ausgabe), Reihe 6, Bd. 4, Teil A: Philosophische Schriften, 1677–Juni 1690, Berlin 1999, 585–592, hier 585 f. 15 Vgl. Meditationes, § XIV; Leibniz, Meditationes (wie Anm. 14), 585–586. 9

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das Gedicht enthält eher Worte und Ausdrücke, die bestimmte Gegenstände der Sinne darstellen.16 Baumgarten fügt aber hinzu, daß die Worte nicht lediglich ‘toten’ Einbildungen (phantasmata mortua) entsprechen.17 Aus dem Grundsatz, daß ein vollkommenes Gedicht so viele sensitive Vorstellungen wie möglich im Geist des Lesers anregt, folgert Baumgarten, daß die vollkommensten Gedichte nicht nur eingebildete Gegenstände der Sinne, sondern auch andere sensitive Vorstellungen anregen, nämlich Vorstellungen von ‘gegenwärtigen Veränderungen’ (mutationes praesentes) im Geist des Vorstellenden.18 Hier verwendet Baumgarten den ins Deutsche als Empfindungen übersetzten Ausdruck repraesentationes sensuales. Die Empfindungen sind Vorstellungen der Affekte (affectus), die er als merklichere Grade der Unlust und der Lust (notabiliores taedii et voluptatis gradus) im Geist eines Menschen, der sich in verworrener Weise etwas als schlecht oder gut vorstellt, beschreibt.19 Die vollkommensten Gedichte erregen folglich so viele und so starke Affekte im Leser wie möglich. Nach der Erklärung verschiedener Regeln, nach denen der Inhalt eines Gedichtes ausgewählt und angeordnet werden sollte, um so viele sensitive Vorstellungen wie möglich anzuregen, plädiert Baumgarten für die philosophische Betrachtung einer bisher unbeachteten Art Erkenntnis, d.h. nach einer neuen Wissenschaft, die nicht die Erkenntnis der Wahrheit durch das ‘obere Erkenntnisvermögen’ fordert, was traditionell Aufgabe der Logik ist, sondern die Erkenntnis der Wahrheit durch ein Erkenntnisvermögen, das eine unmittelbarere Rolle im Anregen der sensitiven Vorstellungen und folglich in der Dichtkunst (sowohl beim Verfasser als auch beim Leser oder Zuhörer) spielt, nämlich durch das ‘untere Erkenntnisvermögen’, das sich nicht auf die Vernunft, sondern z.B. auf Einbildungskraft und Gedächtnis stützt. Als Name dieser Wissenschaft schlägt Baumgarten aesthetica vor.20 In der Wahl dieses Wortes wird die Verbindung zwischen der Forderung einer neuen Wissenschaft und dem pietistischen Hintergrund besonders sichtbar. Dabei wird genau das deutlich, was sich leicht übersehen läßt und von Federlin nicht betont wird, nämlich die ethische Seite von Baumgartens poetischem und frühem ästhetischen Anliegen: Wie manche halleschen Pietisten plädiert Baumgarten für ein Konzept der moralischen Erziehung des Menschen als Verbesserung der Affekte durch den richtigen Gebrauch der unteren Erkenntniskräfte.

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Vgl. Meditationes, § XXV. Ebd., § XXIX. Ebd., § XXIV. Ebd., § XXV–XXVII. Ebd., § CXV–CXVI.

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Es wird manchmal behauptet, daß Baumgarten die Ehre hat, das Wort „ästhetisch“ geprägt zu haben.21 Aber er selbst führt den antiken Gebrauch des griechischen Wortes aisthetike ausdrücklich an – so läßt er das Wort auf Griechisch als a„sqhtik» setzen. Nach Baumgarten bezog sich das Wort bei den griechischen Philosophen und den Kirchenvätern auf sinnlich erfaßbare Dinge, die nicht durch die Vernunft erkannt werden.22 Obwohl Baumgarten den Gebrauch eines eng verwandten griechischen Wortes unter seinen Zeitgenossen nicht erwähnt, muß er es gekannt haben. Seit Jahrzehnten nämlich hatten hallesche Theologen das Wort aisthesis im Zusammenhang mit einer Debatte darüber, wie Gott den Menschen die Wahrheit vermittelt und was für eine Rolle die menschlichen Affekte in diesem Kommunikationsprozeß spielen, verwendet. Einer dieser Theologen war August Hermann Francke, der dem griechisch als a‡sqhsij gesetzten Wort eine wichtige Stelle in seiner hermeneutischen Theorie gegeben hatte, vor allem in der Delineatio doctrinae de affectibus, einem Anhang seiner Manuductio ad lectionem scripturae sacrae, die er erst 1693 drucken ließ.23 Francke erwähnt aisthesis im Zusammenhang mit der sogenannten ‘exegetischen’ (exegetica) Lektüre der Bibel. Sie stellt eine der sieben Formen biblischer Lektüre dar, die insgesamt das vollständige Studium der Theologie (solidum Theologiae studium) ausmachten, und eine der vier Formen, deren Zweck das Verständnis des sogenannten ‘Kerns’ (nucleus) des Textes – im Gegensatz zur ‘Schale’ (cortex) – sei.24 Nach Francke legt die exegetische Lektüre einer biblischen Textstelle den „sensum literalem, ab ipso Spiritu S[ancto] intentum“ aus. Die Bedeutung, die sie sucht, ist einfach (simplex) und wird „sine operoso interpretationis molimine“ erkannt. Man verwendet viele hermeneutische Methoden, um diesen Sinn zu erkennen, unter anderem zieht man in Betracht: den Zweck (scopus) der Textstelle – deren Kontext – parallele Textstellen, d.h. den Gebrauch ähnlicher Ausdrücke – die sogenannte analogia fidei – die Ordnung, nach der der Verfasser der Textstelle Gegenstände darstellt – die Umstände der Textstelle – und die Affekte, d.h. den Gemütszustand, des Verfassers.25 Bei dieser letzten Betrachtung verweist Francke auf die weit umfangreichere Erklärung in der Delineatio, wo Francke aisthesis erwähnt.

Vgl. Karl Aschenbrenner, William B. Holther (Hg.), Reflections on Poetry, Berkeley 1954, V. Vgl. Meditationes, § CXVI. 23 Vgl. Erhard Peschke, Einleitung zur Manuductio ad lectionem scripturae sacrae, in: August Hermann Francke, Schriften zur biblischen Hermeneutik, Bd. 1, hg. von E.P., Berlin 2003, 28–30. Francke selbst scheint Vorlesungen über seine Manuductio von 1698 bis 1702 in Halle gehalten zu haben. Andere Auflagen erschienen 1700 (Halle), 1706 (London) und 1709 (Halle). 24 Vgl. Francke, Manuductio (wie Anm. 23), 36 f., 61. 25 Ebd., 61–71. 21 22

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Bei der Verwendung des griechischen Wortes dachte Francke ohne Zweifel an Paulus, dessen Brief an die Philipper er mehr oder weniger zitiert. Paulus betet, „daß eure liebe je mehr und mehr reich werde in allerley erkäntniß und erfahrung [™n ™pignèsei kaˆ p£sV a„sq»sei], daß ihr prüfen möget, was das beste sey“.26 Nach Francke ist aisthesis eine Art Einsicht. Genauer gesagt, sie ist das, was einem Leser der Bibel ermöglicht, die Affekte einer geheiligten Seele – und folglich die Affekte der geheiligten Seelen derer, die die Bibel verfaßt haben – zu erkennen. Aisthesis steht nicht jedem zur Verfügung. Die einzigen, die sich ernsthaft anstrengen, zur aisthesis zu gelangen, und die zur aisthesis gelangen können, sind diejenigen, die wiedergeboren (renatus) sind und die deswegen selbst „illum animae sanctificatae & sapientia divina donatae habitum“ haben.27 Ein solcher ‘Habitus’ ist das wesentliche Merkmal der Wiedergeburt. Er bezieht sich auf die Überlegenheit der ‘geistlichen’ (spiritualis) Affekte über die ‘natürlichen’ (naturalis). Demut, Gemütsruhe und Begierde nach der Herrlichkeit Gottes und der Erbauung der Menschheit überwiegen die eigennützige, unruhige Begierde nach eigenem Vergnügen.28 Die Erfahrung einer solchen moralischen Verbesserung unter den Wiedergeborenen ist die Voraussetzung ihrer aisthesis. Nach Francke ist die Einsicht in die Affekte einer geheiligten Seele deswegen wichtig, weil sie dem Leser der Bibel ermöglicht, zwei Teile des ‘Kerns’ eines biblischen Textes zu erkennen, nämlich die buchstäbliche Bedeutung des Textes und die geistlichen Wahrheiten, auf die sich der Text bezieht.29 Daß die buchstäbliche Bedeutung ohne aisthesis nicht zuverlässig erkannt werden kann, folgt hauptsächlich aus zwei Prämissen. Die erste stammt vom Wesen des wörtlichen Diskurses her: Affekte sind die Ursachen der Aussagen überhaupt, und sie sind deswegen von Sprache und Bedeutung untrennbar.30 Francke bemerkt: Testis etiam est quotidiana in familiari sermone experientia, quantum pondus addat, ad recte comprehendum sensum dicentis, affectus, & quam varium eadem verba, diversimode ob diversum affectum pronunciata, sortiantur sensum.31

Paulus, Brief an die Philipper, übers. von Martin Luther, Halle 1714, 1:9–10; Paulus, Brief an die Philipper, in: K. Aland u.a. (Hg.), The Greek New Testament, Stuttgart 1966, 1:9–10: [...] †na ¹ ¢g£ph Ømîn Ÿti m©llon kaˆ m£llon perisseÚV ™n ™pignèsei kaˆ p£sV a„sq»sei, e„j tÕ dokim£zein Øm©j t¦ diafšronta [...]. Francke gibt Paulus’ Ausdruck als „solida [...] ™pignèsei, a„sq»sei“ in seiner Manuductio wieder (92). 27 Francke, Manuductio (wie Anm. 23), 91 f. 28 Ebd., 93 f. 29 Ebd., 88. 30 Ebd., 88. 31 Ebd., 66. 26

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Man muß deswegen die Affekte eines Autors verstehen, um seiner Rede die richtige Bedeutung zuschreiben zu können.32 Die zweite Prämisse ist natürlich, daß die menschlichen Verfasser der biblischen Texte Affekte hatten, die annähernd identisch mit den Affekten der Wiedergeborenen sind, so daß die Wiedergeborenen die eigene Erfahrung solcher Affekte bei der Auslegung biblischer Reden anwenden können. Daß die geistliche Bedeutung eines biblischen Textes ohne aisthesis nicht zuverlässig erkannt werden kann, folgt nicht nur aus diesen zwei Prämissen, sondern auch aus Franckes Konzept der geistlichen Bedeutung. Im wichtigen Fall der Auslegung der göttlichen Gebote erkennt man die geistliche Bedeutung, wenn man das Gebot nicht nur als Regel versteht, die man auf eigene Taten anwenden kann, sondern auch als Hinweis auf einen geistlichen ‘Habitus’, den man anstreben will. Franckes abschließende Ermahnung in seiner Delineatio faßt diesen Gedanken im Kontext der allgemeinen biblischen Auslegungskunst zusammen: Reg[ula] XI. Tandem in scrutinio affectuum potissimum proficimus imitatione, piaque aemulatione eorum, quos in Scriptoribus S. semel perspexerimus affectuum.

Quo enim magis eundem induerimus affectuum, eo solertius, ac profundius eum in Textibus sacris rimari, perpendere, ac demonstrare poterimus. Quoties itaque affectus se nobis sistet Scriptorum S. toties posito vel ficto eodem casu, eundem in nobis ipsis affectum, imo eundem affectus gradum, quoad ejus fieri potest studiose quaeramus, deprehensumque defectum per gratiam DEi auxiliatricem corrigere studeamus. Sic Scripturae sensus, corde potius quam cerebro comprehensus, ad medullas usque ossium penetrabit, nostramque animam transformabit ¢pÕ dÒxhj e„j dÒxan, & revera experiemur, sermonem DEi esse efficacem, & penetrantiorem quovis gladio, utrinque incidente, ac pertingente usque ad divisionem animae simul ac Spiritus; compagumque ac medullarum, & discretorem cogitationum & intentionum cordis.33

Nach Francke ruft das Erkennen der geistlichen Wahrheit eines biblischen Textes eine persönliche, moralische Veränderung hervor, nicht nur auf der Ebene des Verhaltens, sondern auch auf der tieferen Ebene der eigenen Affekte. Die Erfahrung geistlicher Affekte beim Leser ist sicherlich eine Voraussetzung für die richtige Erkenntnis der geistlichen Wahrheit, aber sie ist auch das Ergebnis der Erkenntnis. Man muß die geistlichen Affekte eines heiligen Verfassers einsehen, um die gleichen Affekte in sich durch „Nachahmung und frommes Nacheifern“ verstärken zu können, so daß sie die „mangelhaften“, natürlichen Affekte immer mehr überwiegen. Diese Theorie der moralischen Erziehung enthält Franckes Betrachtung der aisthesis. Vgl. August Hermann Francke, Einleitung zur Lesung Heiliger Schrift, in: Schriften zur biblischen Hermeneutik, Bd. 1 (wie Anm. 23), 141. 33 Francke, Manuductio (wie Anm. 23), 98. 32

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Francke war weder Vater noch einziger Vertreter der Ansicht, daß Einsicht in die Affekte der biblischen Verfasser unentbehrlich für die richtige Erkenntnis der buchstäblichen und geistlichen Bedeutungen ihrer Rede ist. Als Autoritäten zitiert er unter anderen Martin Luther, Wolfgang Franzius und Philipp Jacob Spener.34 Francke stand unter seinen Zeitgenossen auch nicht allein. Eine sehr ähnliche Ansicht, die auch manchmal ausdrücklichen Bezug auf aisthesis nimmt, ist in zwei hermeneutischen Texten von Johann Jacob Rambach zu finden: Rambachs Institutiones sacrae hermeneuticae (1723) und seine posthum veröffentlichte Erläuterung über seine eigene Institutiones hermeneuticae sacrae (1738).35 Rambach war Student, Kollege und Nachfolger Franckes an der halleschen Fakultät für Theologie, und er äußert Grundsätze, die im Wesentlichen mit denen Franckes übereinstimmen. Die Unterschiede sind gering. Rambach weist auf mehr und andere Autoritäten hin, einschließlich Francke selbst und Longinus.36 Die Grundsätze erklärt er auch manchmal etwas ausführlicher und mit kleiner Gewichtsverlagerung. Ausdrücklicher als Francke behauptet Rambach z.B. nicht nur, daß eine Rede nicht verstanden werden könne, wenn die Affekte des Verfassers nicht gleichzeitig eingesehen würden, sondern auch, daß die Rede ein Mittel sei, die Affekte zu übermitteln: „Unsere Gedancken [...] sind fast allezeit mit gewissen geheimen Affecten verknüpft, [...] daher geben wir durch die Rede nicht nur unsere Gedancken, sondern auch unsere damit verknüpften Affecten andern zu verstehen“.37 Rambach nennt Affekte auch die „Seele der Rede“ (anima sermonis), durch deren Übermittlung die Reden der biblischen Verfasser ihre moralische Wirkung zögen: „[W]ir müssen nicht nur von den Worten, sondern auch von den Affecten der heiligen Männer zu profitiren suchen, und müssen daher die Schrift auch um Vgl. ebd., 88 f. Die Beziehung zwischen Francke und Rambach war in vieler Hinsicht eng. 1693 in Halle geboren, hat Rambach Franckes Waisenhausschulen von 1708 bis 1712 besucht. Anschließend studierte er Theologie an der Universität Halle bis 1715, wo er angeblich Hermeneutik bei Francke gelernt hat. Nach mehreren Jahren der Arbeit an einer neuen Ausgabe der hebräischen Bibel mit Franckes Kollegen Johann Heinrich Michaelis und einem Studium an der Universität Jena kehret Rambach nach Halle zurück, wo er 1723 Adjunctus an der Universität und Inspektor an Franckes Schulen wurde. Nach Franckes Tod im Jahr 1727 wurde Rambach Ordinarius für Theologie. 1731 verließ er Halle, um eine Professur in Gießen anzunehmen. Vgl. Art. Rambach, Johann Jacob, in: Zedlers Universal-Lexicon (wie Anm. 1); Art. Rambach, Johann Jacob, in: Friedrich Wilhelm Strieder, Grundlage zu einer hessischen Gelehrten-und-SchriftstellerGeschichte, Bd. 2, Hessen 1797 (Deutsches Biographisches Archiv, München 1982). 36 Vgl. Johann Jacob Rambach, Institutiones hermeneuticae sacrae, Jena 1723, 123 und 128; J.J. R., Erläuterung über seine eigene Institutiones hermeneuticae sacrae, hg. Ernst Friedrich Neubauer, Gießen 1738, 381. Soweit ich sehe, ist Rambachs Hinweis auf Longinus bisher übersehen worden. Verbindungen zwischen Rambach und Immanuel Jacob Pyra (1715–44), der in Halle studiert und Longinus übersetzt hat, sollten untersucht werden. 37 Rambach, Erläuterung (wie Anm. 36), 374. 34 35

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deswillen lesen, damit [...] unser Hertz mit guten und heiligen Affecten erfüllet werde“.38 Wie Francke nennt Rambach die Fähigkeit, solche Affekte einzusehen, aisthesis, die er als „geistliche Empfindung“ übersetzt und allein den Wiedergeborenen zuschreibt.39 Franckes und Rambachs Beschreibung der göttlichen Kommunikation und der moralischen Erziehung des Menschen durch Erregung der Affekte, zusammen mit ihrer Betonung der Unentbehrlichkeit der aisthesis, war offensichtlich umstritten. Wenn man zwei Einwände in Betracht zieht, auf die Francke im Jahr 1693 und Rambach nach mehreren Jahrzehnten eingehen, bemerkt man, daß der Streitpunkt die Natur der göttlichen Eingebung oder ‘Theopneusia’ war. Genauer gesagt, stand zur Debatte, ob die unmittelbare Kommunikation zwischen Gott und Mensch durch Eingebung des heiligen Geistes eine Unterdrückung der menschlichen Affekte der Propheten enthält oder nicht. Der erste Einwand war nach Francke folgender: Existimare aliquis posset, illum fore in ipsum Spiritum S. injurium, qui Scriptoribus qeopneu/stoiv sive ex afflatu divino scribentibus affectus tribuerit; neque enim Scripturam S. esse Scriptoribus S. sed Spiritui S. per ipsorum os loquenti acceptam ferendam.40

Die Gefahr war angeblich, daß das Zuschreiben der menschlichen Affekte die Möglichkeit der göttlichen Eingebung ausschließe, weil göttliche Eingebung die Unterdrückung der lediglich menschlichen Affekte notwendigerweise enthalte. Auf diesen Einwand reagieren Francke und Rambach ähnlich: die heiligen Verfasser schrieben offensichtlich nicht „ut truncos, & sine sensu, ac a‡sqhsei“;41 Rambach schreibt einfach, „ohne Empfindung“.42 Im Gegenteil wurden die Willen der Verfasser von „piis, sanctis, ardentibusque motibus“ erregt (concitata).43 Dem zweiten Einwand zufolge werde die Rede der biblischen Verfasser mehrdeutig, wenn man ihre Affekte in Betracht ziehe, so daß ein Leser nach Belieben die Bedeutung wählen könne, die er aus der Rede herleiten wolle.44 Wie beim ersten Einwand scheint die Gefahr darin zu bestehen, daß biblische Reden, wenn sie affektgeladen sind, nicht aus göttlicher Eingebung entstanden sein können, weil göttlich eingegebene Reden notwendigerweise eindeutig seien, affektgeladene Reden aber nicht. Gegen diesen Einwand bieten Francke Ebd., 377 f. Ebd., 388 f. 40 Francke, Manuductio (wie Anm. 23), 90. 41 Ebd., 90. 42 Rambach, Erläuterung (wie Anm. 36), 378. 43 Francke, Manuductio (wie Anm. 23), 90. Vgl. Rambach, Erläuterung (wie Anm. 36), 377, 389, 411. 44 Vgl. Francke, Manuductio (wie Anm. 23), 90; Rambach, Erläuterung (wie Anm. 36), 378. 38 39

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und Rambach eine einfache Widerlegung: Alltägliche sprachliche Erfahrung bestätigt, daß die Bedeutung einer Rede von den Affekten des Sprechers abhängt. Aufmerksamkeit auf die Affekte ist deswegen ein unentbehrliches Mittel, die Mehrdeutigkeit einer Rede auszuschließen.45 Franckes und Rambachs umstrittenes Bestehen auf der Wichtigkeit der Einsicht in die Affekte der biblischen Verfasser und der Nachahmung solcher Affekte als Methode der moralischen Erziehung scheint eine andere umstrittene Ansicht mit sich gebracht zu haben, nämlich, daß die Dichtkunst ein Mittel sei, göttliche Wahrheiten zu übermitteln und die Affekte des Lesers (oder des Hörers) zu verbessern. Man spürt den Charakter dieser Verteidigung der Dichtkunst in einem Heftchen mit Gedichten und poetischen Texten Martin Luthers, das Johann Justus von Einem, der biblische Hermeneutik und Rhetorik von 1706 bis 1708 bei Francke in Halle studierte, im Jahr 1729 in Magdeburg veröffentlichte. Um die Dichtkunst als einem heiligen Menschen angemessene Tätigkeit zu verteidigen, betont von Einem Luthers Vergnügen an der Lektüre der antiken Dichter, deren Stil er mit dem Stil der rührenden poetischen Textstellen der Heiligen Schrift verglich. Beim Umzug in das Kloster zu Erfurt habe Luther alle Bücher zurückgelassen, außer den Gedichten Vergils, dessen „affectus non à natura, nec ex vulgari Musarum virtute venit, aut earum adflatu solito concipitur, sed revera donum novum est spiritus, & altior è coelo adflatus“.46 Von Einems Charakterisierung Luthers als bewundernswerten Dichter und Liebhaber der Dichtkunst bedeutet, daß die Dichtkunst selbst nicht als einfache Gabe der Musen verachtet, sondern eher in manchen Fällen als Gabe des Heiligen Geistes bewundert werden sollte, eine Gabe, die die Menschen heilsam bewegen kann. Diese Einstellung gegenüber der Dichtkunst wird noch ausführlicher in Johann Jacob Rambachs Vorrede seiner 1727 erschienen Poetische[n] Fest-Gedancken ausgedrückt. Im Laufe seiner Bemerkungen über den „Mißbrauch und rechte[n] Gebrauch der Poesie“ verurteilt Rambach sehr streng Gedichte, die „zu einem Werckzeuge der drey vornehmsten lasterhaften Neigungen, der Wohllust, des Ehrgeitzes und Geldgeitzes“, gemacht werden.47 Anakreon, Ovid, Catull, Tibull und Properz werden von Rambach kritisiert, weil sie des Lesers „Keuschheit, Zucht, Ehrbarkeit und Gottesfurcht [...] bestreiten“.48 Die Gefahr solcher Gedichte entsteht nach Rambach aufgrund des Einflusses, den die Worte des Gedichtes auf das Gemüt des Lesers haben: Sie erregen Gefühle, indem sie Vorstellungen der Dinge verursachen, auf die 45 46 47 48

Vgl. Francke, Manuductio (wie Anm. 23), 90; Rambach, Erläuterung (wie Anm. 36), 374 ff. Johann Justus von Einem, Martini Lutheri poemata, Magdeburg 1729, 8. Johann Jacob Rambach, Poetische Fest-Gedancken, Jena 1727, Vorrede, § 2. Ebd., Vorrede, § 3.

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sich die Worte beziehen. Je häufiger sich der Leser etwas vorstellt, das eine Begierde erregt, desto tiefer drückt sich die Begierde in das Herz des Lesers ein.49 Gefährliche Gedichte beschreiben „Sachen, die die Keuschheit des Gemüths verletzen“, indem sie „fleischliche Wohllust“ erregen.50 Die Dichtkunst selbst aber nennt Rambach „eine edle Gabe des Höchsten“,51 die auch als „Werkzeug“ der moralischen Erbauung gebraucht werden kann. Gedichte müssen geschrieben werden zur Ehre GOttes, zur Besingung seiner unendlichen Vollkommenheiten, seiner liebenswürdigsten Eigenschaften, seiner anzubetenden Majestät (deren Beschreibung die Propheten mit einer so erhabenen Schreibart verrichten, daß dem Leser dabey ein heiliger Schauer überfallen muß) [...].52

Die Wirkung der Gedichte, die Rambachs Bedingungen erfüllen, besteht darin, daß die Herzen dadurch zur Ehrfurcht vor GOtt, zur Liebe JEsu Christi, zum Lobe des Schöpfers, zur Erkäntniß ihrer Nichtigkeit, zum Verlangen nach seiner seligen Gemeinschaft, zum heiligen Wandel und gottseligen Leben erwecket werden können.53

Rambachs Einstellung gegenüber der Dichtkunst als moralischem Erbauungsmittel – dessen Wirksamkeit sich davon ableitet, daß die „erhabene Schreibart“ eines Gedichtes, wie die affektgeladenen Reden der biblischen Verfasser, geistliche Affekte im Leser erregt – muß Alexander Gottlieb Baumgarten bekannt gewesen sein. Baumgartens Kenntnis der Debatte über die Nützlichkeit der Dichtkunst als göttliches Kommunikations- und Erbauungsmittel zeigt sich darin, daß er in seinen Meditationes auf eine 1710 von dem Helmstedter Theologen (und einstigem Lehrer Johann Justus von Einems) Johann Andreas Schmidt betreute Dissertation De modo propagandi religionem per carmina hinweist.54 Baumgarten beruft sich darauf zur Stützung seiner Behauptung, daß Tugend und Religion seit langem durch Gedichte (carmina) gefördert worden sind. In der Dissertation wird behauptet, daß eine „poetische Theologie“ in manchen anti-

Ebd., Vorrede, § 6. Ebd., Vorrede, § 6, § 3. 51 Ebd., Vorrede, § 2. 52 Ebd., Vorrede, § 11. 53 Ebd., Vorrede, § 11. 54 Johann Andreas Schmidt (Praes.), Dissertatio historico-theologica de modo propagandi religionem per carmina, def. Ludovicus Guntherus Gelhud, Helmstedt 1710. Die zweite Auflage der Dissertation ist 1728 erschienen. Im Jahr 1705 studierte von Einem wohl bei Schmidt. Vgl. Art. Einem, Johann Justus von, in: Johann Anton Trinius (Hg.), Beytrag zu einer Geschichte berühmter und verdienter Gottesgelehrten auf dem Lande, Bd. 1, Mansfeld 1751 (Deutsches Biographisches Archiv, München 1982). 49 50

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ken Gemeinden floriert habe und daß Gedichte häufige Mittler des göttlichen Rechts und der wahren Religion vor Moses gewesen seien.55 Baumgarten kannte auch zweifellos Franckes und Rambachs Verwendung des Terminus aisthesis in Verbindung mit der Behauptung, daß die göttliche Eingebung die menschlichen Affekte der biblischen Verfasser nicht unterdrückt, sondern erhoben habe. Zwar waren die Waisenhausschüler mit der Lektüre der Manuductio von Francke anscheinend nicht betraut, während Baumgarten an der Latina immatrikuliert war, aber alle Schüler mußten Franckes Einleitung zur Lesung Heiliger Schrift erarbeiten, in der die Manuductio erwähnt wird.56 Franckes Latein wäre auch kein Hindernis für den jungen Baumgarten gewesen; als er im 13. Lebensjahr an der Latina immatrikuliert wurde, kam er damit in die zweitbeste Lateinklasse, was seine sehr ungewöhnliche Sprachfähigkeit unter den Schülern seiner Altersgruppe zeigt.57 Seine Kenntnis von Rambachs Institutiones hermeneuticae sacrae kann aus mehreren verschiedenen Quellen stammen. Eine wahrscheinliche Quelle ist Christian Benedict Michaelis (1680–1764), Ordinarius für Theologie und Philosophie an der Universität zu Halle, Freund von August Hermann Francke und verehrter Philologe, der zwei Generationen von Studenten die biblischen Sprachen und die biblische Hermeneutik vermittelte. Seine Vorlesungen besuchte Baumgarten wohl zwischen 1730 und 1735 als Student der Theologie.58 1731 und 1732 las Michaelis über biblische Hermeneutik aus Rambachs Institutiones.59 Baumgarten lernte wohl Franckes und Rambachs Hermeneutik auch durch seinen Bruder Siegmund Jacob kennen, der auch an Franckes Waisenhausschulen Schüler gewesen war und Alexanders Ausbildung wohl angeleitet hat.60 Als Ordinarius für Theologie hat Siegmund Jacob Baumgarten über Rambachs Institutiones im Jahr 1735 gelesen, und in seinem Unterricht von Auslegung der heiligen Schrift (1745) empfiehlt er unter anderen Büchern über Hermeneutik Franckes Manuductio und Teile von Rambachs Institutiones.61 Alexander Baumgartens Kenntnis von Franckes und Rambachs umstrittener Auffassung der aisthesis und der Rolle der menschlichen Affekte bei der Übermittlung göttlicher Wahrheiten, zusammen mit der verwandten Diskussion über die Angemessenheit der Dichtkunst als göttliches Kommunikations- und Meditationes, § 58; Schmidt, Dissertatio (wie Anm. 54), z.B. §§ 3, 5, 6, 9. Album scholae latinae (1712–1729), ArchFSt/S L2, Bl. 331–332; Freylinghausen, Francke, Ausführlicher Bericht (wie Anm. 5), 97; Francke, Einleitung (wie Anm. 32), 133. 57 Vgl. Album scholae latinae (wie Anm. 56), Bl. 331–332. 58 Vgl. Meier, Alexander Gottlieb Baumgartens Leben (wie Anm. 1), 10. 59 Vgl. Catalogus lectionum aestivalium, Halle Apr. 1732. 60 Vgl. Meier, Alexander Gottlieb Baumgartens Leben (wie Anm. 1), 11. 61 Vgl. Index acroasium ex omni scientiarum et disciplinarum bonarum genere, Halle Sept. 1735; Siegmund Jacob Baumgarten, Unterricht von Auslegung der heiligen Schrift, Halle 1742, 2. 55 56

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moralisches Erziehungsmittel, kann auch daraus geschlossen werden, daß sich Baumgarten an einer umfassenderen Debatte beteiligte, die in den 30er Jahren in Halle noch anhielt, und in der Franckes und Rambachs umstrittene Auffassung eine wichtige Rolle spielten. Es ging um die Frage, ob die biblischen Verfasser überhaupt göttlich inspiriert waren. Der Zusammenhang mit der Kontroverse über affektgeladene Reden der biblischen Verfasser wird in hermeneutischen Schriften von Siegmund Jacob Baumgarten besonders deutlich. Nach ihm sind viele biblische Textstellen anscheinend sinnlos, wenn der Leser nicht berücksichtigt, daß die göttliche Eingebung eine „starke sinnliche Gemüthsbewegung“ bei den Verfassern der Texte verursacht hat. Baumgarten bezieht sich auf Textstellen, wo von algemeinen Wahrheiten sehr sinlich geredet wird; [...] gantz einerley Ausdrucke oder doch sehr änliche und gleichgültige wiederholt werden; [...] sonderlich abwesende Personen auch wol unvernünftige und leblose Dinge angeredet werden; [...] kurtz abgebrochene Sätze und Reden vorkommen; [...] Zueignungsworte vorkommen, die der Zusammenhang und die Volständigkeit des Verstandes eben nicht erforderte; [...] die Rede durch eingeschaltete Vorstellungen unterbrochen wird, die zur Verständlichkeit der vorgetragenen Sachen nicht gehören; [...] und so weiter.62

Baumgarten fürchtete wohl, daß die göttliche Eingebung der biblischen Verfasser in Frage gestellt werden könnte, wenn sich anscheinend sinnlose oder widersprüchliche Textstellen nicht als göttlich eingegeben verteidigen ließen. Deswegen seine Verteidigung der „starken sinnlichen Gemüthsbewegung“ als Folge der göttlichen Eingebung. Baumgartens Befürchtungen wurden natürlich von den Bibelkritikern hervorgerufen, die die göttliche Eingebung der biblischen Verfasser in Frage gestellt hatten. Einer der bedeutendsten Kritiker dieser Art, der auch am relevantesten für die Untersuchung von Alexander Baumgartens Rolle in der Kontroverse ist, war der Genfer Theologe und Gelehrte Jean Le Clerc (1657–1736). Im Jahr 1685 hat Le Clerc seine Sentiments de quelques Theologiens de Hollande sûr l’Historie Critique du vieux Testament in Form einer Brieffolge über Richard Simons Critical History of the Old Testament herausgegeben.63 Im elften und zwölften Brief der Sentiments, die fünf Jahre später ins Englische übersetzt wurden und als erstes bzw. zweites Kapitel von Le Clercs Five Letters Concerning the Inspiration of the Holy Scriptures erschienen, räumt Le Clerc ein, daß der Sinn mancher biblischen Textstellen vielleicht eingegeben wurde, aber nicht die Worte selbst: Widersprüche in den Geschichtsbüchern, willkürliche Abweichungen im Wortschatz und Vagheiten bei Daten und Zah-

62 63

Baumgarten, Unterricht von Auslegung der heiligen Schrift (wie Anm. 61), 56 f. Vgl. Samuel L. Golden, Jean LeClerc, New York 1972, 31.

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len beweisen nach seiner Ansicht, daß der Heilige Geist den menschlichen Verfassern der Bibel den Text nicht diktiert haben kann.64 Seinem Zweifel am göttlichen Ursprung der meisten biblischen Worte entsprechend scheint Le Clerc vorausgesetzt zu haben, daß eine göttlich eingegebene Rede Regeln erfüllt, nach denen auch der menschliche Sprachgebrauch streben sollte. Eine der wichtigsten Regeln war „perspicuity of style“, d.h. stilistische Deutlichkeit.65 In einem Aufsatz zum Thema „True and False Eloquence“ verwendet Le Clerc zehn Seiten zur Darstellung der drei kanonischen Stile, meidet aber die „pleasing“ und „sublime“ Stile fast völlig und verschenkt noch mehr Seiten zum Lob des „simple and proper“ Stils, den er für ein Muster der Deutlichkeit zu halten scheint: The principal rock, which we ought to avoid in this simple and natural language is obscurity, and ‘tis for that reason that we carefully shun everything that may produce it, as equivocal terms, too great plenty of figures, and an ill disposition of words and thoughts.66

Unter mehreren gefährlichen Konsequenzen der Abweichung vom deutlichen Stil nennt er die Förderung der ethischen Verwirrung („disorder“), zu der die falsche Beredsamkeit („false eloquence“) tendiert. „[I]f the end of the discourse be to correct the faults of the readers and auditors“, schreibt Le Clerc, the multitude of impertinent words, the weakness of the reasonings, and the [in]judicious choice of the thoughts, produce but very sorry effects. As we are pers[u]aded without knowing why or wherefore, and have no clear and continued principles to preserve ourselves from errour, and to regulate our conduct aright, our manners will infallibly derive an unhappy tincture from the disorder of our minds; we do good and evil without discerning them so distinctly as we ought to do, and our lives become a perpetual mixture of a little virtue and a great deal of vice. We know the general rules of good and evil confusedly, and we apply them almost by mere accident to the particular actions of life.67

Le Clerc deutet an, daß eine ethisch wirksame Beredsamkeit den deutlichen Stil verwendet, um allgemeine Regeln des Guten und des Bösen zu übermitteln, so daß diese Regeln deutlich verstanden werden können. Deswegen sind Le Clercs Zweifel an der Wirksamkeit der Dichtkunst als moralischem Erbauungsmittel keine Überraschung. Obwohl er nicht behauptet, daß Dichter „altogether unuseful“ sind,68 äußert Le Clerc überall Vorsicht: jede Eigenschaft eines Gedichtes, die sinnliches Vergnügen verursacht – einschließlich seines Vgl. [Jean Le Clerc], Five Letters Concerning the Inspiration of the Holy Scriptures, London 1690, 20–41. 65 [Jean Le Clerc], Parrhasiana, übersetzt von N.N., London 1700, 79. 66 Ebd., 82. 67 Ebd., 65 f. 68 Ebd., 41. 64

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schönen Stils, seines Vermögens, Leidenschaften zu erregen, und des angenehmen Klangs der Worte und des Rhythmus –, macht den Leser empfänglich für die falschen Gedanken („false thoughts“), die das Gedicht enthält.69 Zudem behauptet Le Clerc, daß die Absicht eines Dichters, eine bestimmte moralische Lehre durch ein Gedicht zu vermitteln, nicht zuverlässig wahrgenommen werden kann. Nach Le Clerc there never was any narration in the world from which some sort of a moral might not be deduced, altho’ the author of it never dreamt of any such thing [...]. Therefore to be assured that any poet had a design to give us certain lessons, ‘tis necessary that he should tell us so himself, or at least set it down in his writings after such a manner that no body cou’d doubt it.70

Anders gesagt: Die Wirkung eines Gedichtes auf die Affekte eines Lesers oder Zuhörers bezeichnet nicht notwendigerweise die moralische Wahrheit, die der Verfasser übermitteln wollte. Diese Einstellung unterscheidet Le Clerc sehr deutlich von Francke und Rambach, die die von göttlich eingegebenen Reden erregten Affekte für eine geistliche Wahrheit an sich und für ein unentbehrliches Zeichen der beabsichtigten Bedeutung der Worte halten. Der Mangel an Interesse bei Le Clerc am erhabenen Stil zusammen mit Le Clercs Zweifel, daß die Dichtkunst moralpädagogische Zwecke in ausreichendem Maße erfüllen könne, steht außerdem im Gegensatz zur Verteidigung der Dichtkunst in Rambachs Poetische[n] Fest-Gedancken. Le Clercs Angriff gegen die Vorstellung von der göttlichen Eingebung der Verfasser der Bibel wurde von Alexander Gottlieb Baumgarten unter Leitung von Christian Benedict Michaelis, einem offenen Gegner Le Clercs, beantwortet. 1733 hatte Michaelis einen Klassenkameraden Baumgartens, Johann Christian Meisner, beauftragt, Moses Autorschaft des 36. Kapitels vom zweiten Buch Mose gegen Spinoza, Iitschakus, Richard Simon und Jean Le Clerc, die die Autorschaft in Frage gestellt hatten, in einer Dissertation zu verteidigen. Nach Michaelis entstünde aus der Anerkennung eines nichtmosaischen Verfassers eine zweifache Gefahr. Erstens würde die Auslegung der anderen Kapitel unsicher, indem die bisherige traditionelle Zuschreibung der mosaischen Bücher überall für fragwürdig gehalten werden könnte. Zweitens stünde die göttliche Eingebung des Verfassers in Frage, da Gott keinen Menschen getrieben hätte, neue Teile zu den mosaischen Büchern hinzuzufügen, ohne die unterschiedliche Autorschaft kenntlich zu machen.71 Michaelis setzte seine Verteidigung der göttlichen Eingebung im Jahr 1735 fort, indem er Alexander Gottlieb Vgl. ebd., 6 f., 9 f., 20 f. Ebd., 42 f. 71 Vgl. Christian Benedict Michaelis, [Rezension von J.C. Meisner, Dissertatio TheologicoHistorico-Critica], in: Wöchentliche Hallesche Anzeigen XXXV, 24. August 1733, 553–556. 69 70

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Baumgarten beauftragte, einige Redewendungen des Buches Genesis gegen eine Kritik – u.a. von Le Clerc – in Schutz zu nehmen, die sie als zufällig, ungenau, und folglich der Eingebung eines vollkommenen Gottes unangemessen beschrieb.72 Das Ergebnis dieses Auftrages war Baumgartens Dissertatio chorographica, die den Gebrauch der Worte superus und inferus als sinngemäß verwendet, nicht willkürlich und deswegen göttlich eingegeben, verteidigte. Der Gebrauch der Worte mag denjenigen Auslegern zufällig erscheinen, die „stilo codicis sanctissimi ¢kurolog…aj notam inurere haud eruberint“,73 aber die scheinbare Zufälligkeit folgt eigentlich aus dem unterschiedlichen Sinnzusammenhang. Superus und inferus werden manchmal angewendet, um auf die moralische Eigenschaft, manchmal um auf den örtlichen Standort hinzuweisen, und manchmal ist moralischer und örtlicher Sinn miteinander verbunden.74 Diese Dissertation hat Baumgarten sechs Monate vor der Fertigstellung seiner Meditationes angeblich mit großem Beifall vorgestellt.75 Daß Baumgarten auch seine Meditationes in ähnlicher Absicht wie Francke und Rambach ihre Verteidigungen der göttlichen Eingebung der affektgeladenen Reden und der Gedichte der Bibelautoren geschrieben hat, kann mit eindeutigen Äußerungen von Baumgarten selbst nicht belegt werden. Manche Argumente und Andeutungen in den Meditationes legen aber diese Schlußfolgerung nahe. Erstens: Baumgartens Behauptung, daß ein Gedicht vollkommen sein kann und vollkommen ist, wenn es Affekte im Leser durch das Anregen undeutlicher Vorstellungen erregt, läßt darauf schließen, daß das Erregen von Affekten durch undeutliche Vorstellungen einem vollkommenen Gott angemessen ist, der nur vollkommene Kommunikations- und Erbauungsmittel verwendet. Das deutet Baumgarten an einigen Stellen an. Er beschreibt z.B. Wunder und prophetische Voraussagen, deren Richtigkeit bestätigt werden kann, weil die vorhergesagten Sachverhalte bereits eingetreten sind, als Gegenstände, die zur Vollkommenheit eines Gedichtes beitragen.76 Er spielt hier wohl absichtlich auf biblische Geschichten und Weissagungen an.77 Außerdem beschreibt Christian Benedict Michaelis, [Rezension von A.G. Baumgarten, Dissertatio chorographica], in: Wöchentliche Hallesche Anzeigen XI, 14. März 1735, 166–171, und XII, 21. März 1735, 181– 185. 73 A.G. Baumgarten, Dissertatio chorographica notiones superi et inferi, indeque adscensus et descensus in chorographiis sacris evolvens, praes. C.B. Michaelis, Halle 1735, in: Commentationes theologicae, hg. Johann Caspar Velthusen, Christian Theoph. Kuinoel, Georg Alexander Rupert, Leipzig 1798, 401. 74 Vgl. ebd., 401 und 404 f. 75 Nach Aufzeichnungen der philosophischen Fakultät zu Halle wurde der Text der Meditationes am 9. August 1735 bei Johann Heinrich Schulze eingereicht. Universitätsarchiv Halle, Rep. 21, III.261, Bl. 74. 76 Vgl. Meditationes, § LXIV. 77 Auf jeden Fall kann Baumgarten Prophezeiungen und Wunder nicht nur deswegen erwähnt 72

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Baumgarten die Entfaltung des Themas eines Gedichtes als analog zur Schöpfung einer Welt. Das Ordnungsprinzip der Vorstellungen in einem Gedicht entspricht nach Baumgarten der Ordnung „quo in mundo sibi res succedunt, ad evolvendam creatoris gloriam, summum et ultimum thema immensi, liceat ita vocare, poematis“.78 Noch deutlicher ist die Übereinstimmung Baumgartens mit Francke und Rambach aber in seiner Proklamation einer ästhetischen Philosophie am Ende der Meditationes. Nach Baumgarten versucht diese Philosophie die scientia (das heißt, die Erkenntnis der Wahrheit oder veritas) durch die sogenannten unteren Erkenntniskräfte zu fördern.79 Die Kongruenz dieser veritas mit der ‘geistlichen Wahrheit’, auf die sich Francke bezieht und die auch durch die Erregung von Affekten übermittelt wird, ist durchaus klar. Baumgartens Gebrauch eines philosophischen Wortschatzes – vor allem der Fachtermini clarus, confusus und distinctus, wie sie Leibniz beschrieben hat, – ist Francke, Rambach und anderen Pietisten auch nicht so fremd, wie man vielleicht annehmen könnte. Die Angemessenheit des leibnizianischen Wortschatzes für die Darstellung einer Theorie der moralischen Erziehung wie der Franckes und Rambachs wird deutlich von Siegmund Jacob Baumgarten aufgezeigt. In seinem Unterricht vom recht-mäßigen Verhalten eines Christen erklärt Baumgarten den Prozeß der Sinnesänderung oder Bekehrung, den Francke in seiner Delineatio als Ersetzung der fleischlichen Begierden durch geistliche Begierden beschreibt. Siegmund Jacob Baumgarten verwendet andere Ausdrücke. Er beschreibt die Bekehrung als Ersetzung der Scheintugend durch die Tugend selbst. Francke hätte aber Baumgartens Konzept der Bekehrung als moralische Umwandlung sofort anerkannt. Nach Baumgarten ist das Ziel der Umwandlung die Entwicklung eines Habitus; die Tugend nennt er eine „Gemüthsfassung“ und eine „Fertigkeit“. Genauer gesagt, die Tugend ist nach Baumgarten eine „Fertigkeit zur möglichsten Beobachtung des Gesetzes“.80 Die „natürliche Tugend“ bezieht sich auf das Gesetz der Natur, und die „christliche Tugend“ bezieht sich auf das Gesetz Gottes.81 Der Unterschied zwischen haben, weil die zur Diskussion stehenden Regeln aus den Bedingungen des vollkommenen Gedichtes einfach folgen. Er prüft weder jeden Gegenstand eines Gedichtes noch jede mögliche Regel der Dichtkunst im Hinblick auf die von ihm erwähnten Bedingungen der Vollkommenheit. Deshalb stimme ich der Behauptung Werner Strubes nicht zu, daß Baumgarten vorgehabt habe, eine vollständige Theorie der Dichtkunst darzustellen, indem er „aus dem Grundsatz, jedenfalls der Idee bzw. der Intention nach, alle einzelnen poetologischen Regeln“ ableitet. Werner Strube, Die Entstehung der Ästhetik als einer wissenschaftlichen Disziplin, in: Scientia Poetica 8 (2004), 1–30, hier 15. 78 Meditationes, § LXXI, vgl. § LXVIII. 79 Vgl. ebd., § CXV. 80 Siegmund Jacob Baumgarten, Unterricht vom recht-mäßigen Verhalten eines Christen oder Theologische Moral, Halle 1744, 593. 81 Ebd., 600 f.

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der Tugend und der Scheintugend ist der Beweggrund, das Gesetz zu beachten: Während der Beweggrund der Scheintugend eine übermäßige Eigenliebe ist, zu deren Ausprägungen Wollust, Hochmut und Geiz zählen, ist der Beweggrund der Tugend eine „Neigung des Gemüts gegen Gott, daß ein Mensch Gott für seinen Gott und höchstes Gut annimt, und seine Wohlfahrt von demselben erwartet“.82 Dieser Gegensatz der Beweggründe bei Siegmund Jacob Baumgarten entspricht offensichtlich den Gegensatz natürlicher und geistlicher Begierden nach Francke. Ähnlich wie Francke betont Siegmund Jacob Baumgarten auch, daß das Erkennen „göttlicher Wahrheiten“ durch Vernunft allein nicht hinreicht, die eigene „Gemüthsfassung“ zu verbessern: [D]ie innere Wirckung Gottes [...] [erstreckt] sich nicht nur auf deutliche Vorstellungen, und folglich obere Kräfte der Seele, sondern auch auf undeutliche und dunckele [Vorstellungen] [...], die sowol bey erwachsenen Personen den nötigen Eindruck der deutlichen Erkenntnis ins Gemüt verursachen, als sonderlich bey Kindern vor dem Gebrauch des Verstandes unentberlich sind [...].83

Den philosophischen Wortschatz der Meditationes seines Bruders verwendet Siegmund Jacob Baumgarten mit Hinweis auf die „obere[n] Kräfte der Seele“ und auf die deutlichen und dunklen Vorstellungen, um eine Konzeption der moralischen Erziehung darzulegen, die der Franckes und Rambachs ähnlich ist. Während Francke und Rambach behaupten, daß geistliche Wahrheiten durch Empfindung (das heißt schließlich durch eine Anerkennung und Nachahmung der Affekte der Verfasser, die die geistlichen Wahrheiten äußern) begriffen werden müssen, besteht Siegmund Jacob Baumgarten darauf, daß die „innere Wirckung Gottes“ auf die Gemütsfassung auf undeutlichen und dunklen Vorstellungen beruht, die von den unteren – nicht den oberen – Erkenntniskräften begriffen werden.84 In seinen Meditationes von 1735 verwendet Alexander Baumgarten eine ganz ähnliche Sprache wie die seines Bruders, doch ist nicht klar, ob er dadurch auch eine ähnliche Auffassung zum Ausdruck bringen will. Seinen eigenen Äußerungen nach schrieb er die Meditationes, „[u]t [...] philosophiam et poematis pangendi scientiam habitas saepe pro dissitissimis amicissimo iunctas connubio ponerem ob oculos“.85 Diese Zielsetzung entspricht wohl seiner AufEbd., 115 f. Ebd., 680. 84 Im Allgemeinen war der Gebrauch eines philosophischen Wortschatzes, um Dinge zu beschreiben, die Pietisten in anderen Worten beschrieben hätten, für S.J. Baumgarten typisch – nach Axel Bühler und Luigi Cataldi Madonna, Von Thomasius bis Semler. Entwicklungslinien der Hermeneutik in Halle, in: A.B., L.C.M. (Hg.), Hermeneutik der Aufklärung, Hamburg 1993, 49– 70, hier 61 f. 85 Meditationes, 4. 82 83

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forderung an die Philosophen, die Verbesserung der unteren Erkenntniskräfte zu untersuchen. Nach Baumgarten: „[Q]ui nostram scit logicam, quam incultus hic ager sit, non nesciet“.86 Seine Bemerkung läßt sich in anderen seiner Werke wiederfinden. In seinen Philosophischen Brieffen z.B. bemerkt Baumgarten: Weil wir nun aber weit mehrere Vermögen der Seelen besitzen, die zur Erkenntnis dienen, als die man bloß zum Verstande oder der Vernunfft rechnen könne, so scheint ihm [Baumgarten] die Logik mehr zu versprechen, als sie halte, wenn sie unsere Erkenntnis überhaupt zu verbeßern sich anheischig macht [...].87

Auch hier aber sind die ethischen Folgerungen von Baumgartens Anliegen, Aufmerksamkeit auf die Unzulänglichkeit der Vernunftlehren seiner Zeitgenossen zu lenken und den Bedarf an Verbesserung der Erkenntnis undeutlicher Vorstellungen zu zeigen, nicht leicht zu erkennen. Die ethischen Folgerungen werden besser erkennbar in einer Dissertation, De vi et efficacia ethices philosophiae, die 1741 von Samuel Wilhelm Spalding unter Leitung von Baumgarten kurz nach seiner Ankunft als Ordinarius in Frankfurt (Oder) geschrieben wurde.88 Nach Spalding basiert die Dissertation auf Baumgartens Ethica philosophica (1740) und Metaphysica (1739). Das Ziel der Dissertation ist der Beweis, daß die Wahrheiten, die man durch das Studium der ethischen Philosophie lernt, auf das Verhalten wirken, selbst wenn sie nicht deutlich erkannt werden. Undeutliche Vorstellungen ethischer Wahrheiten sind allerdings nicht so wirksam wie deutliche Vorstellungen, die allein im Prinzip als efficax und movens beschrieben werden können, aber Spalding behauptet, daß undeutliche Vorstellungen nichtsdestoweniger der Beweggrund des Verhaltens der meisten Leute sind.89 Die praktische Wirkung solcher undeutlichen ethischen Vorstellungen, behauptet Spalding, läßt sich unter denjenigen Leuten leicht bemerken, die an tugendhaftes Verhalten nicht gewöhnt sind, die offensichtlich keine deutliche Vorstellungen ethischer Wahrheiten haben und die trotzdem eine Zurückhaltung gegen das lasterhafte Verhalten zeigen, indem sie die Laster bekennen und um Verzeihung bitten.90 Die praktische Wirkung undeutlicher ethischer Vorstellungen ist auch unter denen zu bemerken, die sich Christen nennen und sich entsprechend zu benehmen scheinen. Nach Spalding:

Ebd., § CXV. Briefe, 2. Schreiben, 6. 88 Samuel Wilhelm Spalding (Resp.), De vi et efficacia ethices philosophiae, praes. A.G. Baumgarten, Frankfurt an der Oder 1741. 89 Ebd., §§ 21 und 26. Spalding verwendet wie A.H. Francke „efficax“ in bezug auf die Wirksamkeit des Wortes Gottes. Vgl. Anm. 33. 90 Spalding, De vi et efficacia (wie Anm. 88), § 22. 86 87

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Sublatis vero his praeiudiciis quisque videbit, multas, nisi plurimas, actiones bonas non hominum solum, sed et eorum, qui a Christo nomen habent, fundamento confusae Ethicorum, quae in Ethica Philosophica demonstrantur, cognitionis niti.91

Das heißt, undeutliche ethische Vorstellungen liefern zureichende Gründe der verschiedenen Neigungen und Abneigungen, die mit dem tugendhaften Verhalten verbunden sind.92 Die Verbindung zwischen Spaldings Dissertation und Baumgartens Meditationes wird besonders anschaulich in der Behauptung von Spalding, daß die undeutliche Erkenntnis der Ethik durch eine gute und tugendhafte Erziehung (bona et virtuosa educatio) wirksamer gemacht wird: Ad obscuram ethicorum cogitionem satis efficacem [...] si, accescerit bona et virtuosa educatio, instinctus fugasque bonas, earumque radices sensim evolvens, et corroborans, effectus conformes excitans, saepius contrarios refrenans, fabulis, historiis, comoediis, tragoediis, consuetudine, proverbiis, homiliis, etc. [...].93

Die Nützlichkeit der erwähnten Literaturgattungen hängt zudem davon ab, daß sie im Geist des Lesers oder Zuhörers Vorstellungen entstehen lassen, deren Eigenschaften den Eigenschaften eines nach Baumgartens Bedingungen vollkommenen Gedichtes entsprechen, nämlich Klarheit und Lebhaftigkeit: Quo enim frequentior, clarior et vividior de aliqua re mihi est repraesentatio, eo maior mea redditur cognitio, quae si vim iam habuit obscura, crescet et haec crescente luce, hinc bona educatione, fabulis, historiis, etc. maiorem acquiro cognitionis moventis gradum [...].94

Die Nützlichkeit dieser Art moralischer Erziehung sollte nach Spalding nicht unterschätzt werden: [E]t ideo[ ]non modo non reiiciendus mos veterum Philosophorum, moralia tam diverso modo proponendi, sed etiam quam maxime suadendus. Ita et in iam allegato Paschio, verba invenies: „Nullum fere caput esse philosophiae moralis, quod ex Poëtis non possit illustrari.“ Quod et Conr. Durrius in oratione de Recondita Philosophia Poëtica amplius ostendit. Jam et ipse Horatius de Homero dicit, quod’ Hic, quid sit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non, Plenius ac melius Chrysippo ac Crantore dicat. Immo optimas saepe obscoeni Poëtae continent doctrinas, inde horum lectio inutilis omnibus, aut omnino reiicienda haud iuste deprehenditur.95

Spaldings Verteidigung der Übermittlung stetiger, klarer und lebhafter – aber nicht deutlicher – Vorstellungen als wirksames moralisches Erziehungsmittel 91 92 93 94 95

Ebd., § 26. Ebd., § 19. Ebd., § 23. Ebd., § 24 Ebd.

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schließt also eine Verteidigung der Dichtkunst als moralisches Erziehungsmittel ein, dessen Wirksamkeit nicht übersehen werden sollte. Spaldings Dissertation beleuchtet also eine ethische Dimension von Baumgartens Ruf nach einer ästhetischen Philosophie in seinen Meditationes. Daß Baumgarten seinerseits mit seinen pietistischen Lehrern vielfältig übereinstimmt, sollte nicht verdecken, daß er in mancher Hinsicht von ihnen abwich. Aus Baumgartens Gebrauch des Wortes aisthetike zum Beispiel folgt nicht notwendigerweise eine Übereinstimmung mit Franckes und Rambachs Überzeugung, daß aisthesis, eine Art Empfindsamkeit, die nur die Wiedergeborenen wegen ihrer Erfahrung mit heiligen Affekten haben, unentbehrlich bei der Auslegung der Heiligen Schrift sei. Offensichtliche Zeichen der Nichtübereinstimmung bei Alexander Baumgarten bemerkt man nicht sofort, aber Siegmund Jacob weicht wohl etwas von Franckes und Rambachs Position ab. Nach Siegmund Jacob Baumgarten macht die Erfahrung mit Dingen, die in der Heiligen Schrift beschrieben werden, die Erkenntnis des biblischen Auslegers klarer und zuverlässiger, aber solche Erfahrung ist nicht durchaus unentbehrlich bei der Auslegung.96 „[E]in Unbekehrter sowohl als ein Bekehrter“ kann nach Siegmund Jacob Baumgarten „den richtigen Verstand der heiligen Schrift einsehen“.97 Vielleicht vermeidet Siegmund Jacob Baumgarten deswegen das Wort aisthesis in seinen eigenen hermeneutischen Schriften. Ob Alexander die Bedenken seines Bruders teilt, ist schwer zu beurteilen. Eine Abweichung von Rambach läßt sich jedoch erkennen, wenn Alexander Baumgarten mythologische Gegenstände als Subjekt eines Gedichtes billigt, was sich in Samuel Wilhelm Spaldings indirektem Lob von Homer als gutem Morallehrer widerspiegelt. In seinen Poetische[n] Fest-Gedancken verdächtigt Rambach dagegen die „heydnische Religion“, die „Neigung zur fleischlichen Wohllust“ zu fördern.98 Allerdings, wie ein zeitgenössischer Rezensent bemerkt, vermeidet Rambach selbst nicht immer mythologische Gegenstände in seinen eigenen Gedichten: Einmal „vergißt“ er sich selbst, indem er auf Apollo und die Musen hinweist.99 Seine allgemeine Abneigung gegen mythologische Gegenstände steht aber in deutlichem Gegensatz zu Baumgartens Billigung.100 Wenn Baumgarten auch Franckes und Rambachs Einstellung gegenüber der Dichtkunst und der moralischen Erziehung nicht in allen Einzelheiten billigt, Vgl. Siegmund Jacob Baumgarten, Öffentliche Anzeige seiner diesmaligen Akademischen Arbeit, Halle 1734, § 10. 97 Baumgarten, Unterricht von Auslegung (wie Anm. 61), 18. 98 Rambach, Poetische Fest-Gedancken (wie Anm. 47), Vorrede, § 3. 99 [Rezension von Johann Jacob Rambachs „geistliche[n] Poesien“], in: Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen, hg. von Valentin Ernst Löscher, Wittenberg 1736, 785–787. 100 Vgl. Meditationes, z.B. § XXXVI. 96

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so hat er ihnen als Student in Halle doch viel zu verdanken. Francke und Rambach hatten einen Standpunkt in einer hermeneutischen Debatte eingenommen, den sie selbst als umstritten darstellten: Die geistliche Bedeutung eines biblischen Textes ergibt sich aus dessen Fähigkeit, die Affekte eines bekehrten Lesers zu verbessern. Diese durch Franckes und Rambachs Hinweise auf aisthesis bezeichnete Position setzte noch voraus, daß die göttliche Eingebung menschliche Affekte eher verbessert als unterdrückt. Außerdem haben sich Francke und Rambach die moralische Erziehung als Prozeß der Verbesserung der eigenen Affekte vorgestellt. Nachahmung der geistlichen Affekte der anderen war ihrer Meinung nach eine der wichtigsten Methoden dieses Erziehungsprozesses. Rambach zufolge können auch Gedichte eine erbauliche Wirkung auf die Affekte ihrer Leser oder Zuhörer haben. Mit anderen Worten: Auch wenn Francke und Rambach die „Unterdrückung der bösen Sinnlichkeit“ forderten und die Dunkelheit für die Metapher eines Defekts der unbekehrten Seele hielten, beschrieben sie die göttliche Eingebung, die biblische Auslegung und die moralische Erziehung als Prozesse, die – in der von Siegmund Jacob Baumgarten verwendeten leibnizianischen Sprache – auf undeutliche und dunkle Vorstellungen verweisen. Alexander Gottlieb Baumgarten hat diese Gedanken rezipiert. Als er dazu aufforderte, die Verbesserung der unteren Erkenntniskräfte zu untersuchen, war er mit Franckes und Rambachs hermeneutischen und moralpädagogischen Theorien als Schüler an der Latina und als Student an der Universität Halle schon vertraut. Er hatte eine Dissertation zur Verteidigung der göttlichen Eingebung der Bibel bei Christian Benedict Michaelis geschrieben und war sich der unterschiedlichen Auffassungen über die Angemessenheit der Dichtkunst als göttliches Kommunikationsmittel bewußt. Das zeigen Baumgartens Meditationes von 1735 durch den Gebrauch des Wortes aesthetica und die Ausführungen über die Natur der göttlichen Eingebung. Wenngleich die Verbindung zwischen den Meditationes und Franckes und Rambachs Konzeption der moralischen Erziehung nicht sofort ins Auge fällt, wird sie doch in Samuel Wilhelm Spaldings De vi et efficacia ethices philosophia offensichtlich. Über Baumgartens Beziehung zu seinen pietistischen Lehrern bleibt noch viel zu forschen, aber es steht bereits fest, daß seine Konzeption einer ästhetischen Philosophie mit moralerzieherischem Zweck durch Ideen seiner Lehrer angeregt worden ist.101 Für die Gelegenheit, das Thema dieses Aufsatzes im Sommer 2007 in Halle zu erforschen, danke ich dem Gremium der Franckeschen Stiftungen des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung und des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung für die Vergabe eines Fritz-Thyssen Stipendiums. Inhaltliche Beratung verdanke ich vor allem Alexander Aichele, Ulrich Barth, Thomas Brady, Ulrich Diehl, Hans-Joachim Kertscher, Boris Maslov, Udo Sträter, Kelly Whitmer und Johan van der Zande. Für große Hilfe bei der 101

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Die Beziehung zwischen Alexander Gottlieb Baumgartens philosophischer Arbeit und seiner Ausbildung bei den Pietisten in Halle (Saale) ist bisher nicht näher untersucht worden. Die Untersuchung kann mit Betrachtung des Wortes aesthetica, das Baumgarten 1735 in seinen Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus in Anlehnung an das griechische aisthetike geprägt hat, fruchtbar beginnen. Das verwandte Wort Aisthesis war seit Jahrzehnten unter Pietisten in Verwendung und die Verwendung des Wortes durch August Hermann Francke und Johann Jacob Rambach im Kontext biblisch-hermeneutischer Debatten, die Baumgarten ohne Zweifel kannte und an denen er selbst teilgenommen hat, läßt erkennen, daß Baumgarten mit wesentlichen Aspekten von Franckes und Rambachs Theorie der moralischen Erziehung übereinstimmte und daß er einen ethischen Zweck in der von ihm geförderten ästhetischen Philosophie sah. The relationship between Alexander Gottlieb Baumgarten‘s philosophical projects and his education by Pietists in Halle (Saale) has not yet been investigated in great depth. It can fruitfully begin with an examination of the word, aesthetica, which Baumgarten is said to have coined in his 1735 Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, allegedly with reference to the Greek word, aisthetike. The word‘s cognate form, aisthesis, had in fact already been in use among Pietist theologians for decades. The use of the word by August Hermann Francke and Johann Jacob Rambach in the context of debates over biblical hermeneutics, debates that Baumgarten must have been aware of and did in fact contribute to in writing, suggests that Baumgarten shared their general view of moral education and saw an ethical purpose in the ‘aesthetic‘ philosophy whose development he called for. Simon Grote M.A., M. Phil., Department of History, University of California, Berkeley, 3310 Dwinelle Hall, Berkeley, CA 94720, USA, E-Mail: [email protected]

sprachlichen Überarbeitung des Manuskripts danke ich Peter Grote, Christoph Schmitt-Maaß und Hugo Stockter.

D AGMAR M IRBACH Ingenium venustum und magnitudo pectoris Ethische Aspekte von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica

Baumgartens Aesthetica (1750/58) und seine Ethica (EA 1740, 2. Aufl. 1751, 3. Aufl. 1763) folgen – trotz des zeitlichen Abstands ihrer ersten Publikationen – als ‘Zwillingskinder’ auf seine Metaphysica (EA 1739, 7. Aufl. 1779). Ihre theoretische Grundlage haben beide Werke in der empirischen Psychologie der Metaphysica, in der die Vermögen der menschlichen Seele in ihrer Differenz und ihrer Verknüpfung systematisch abgehandelt werden. Letztlich hat damit die enge Verwandtschaft von Ästhetik und Ethik ihre Begründung in den Vermögen der menschlichen Seele selbst, die nach traditionellem und Wolffschem Vorbild grundsätzlich und primär in zwei Arten unterschieden werden können: In Erkenntnisvermögen (facultates cognoscitivae, bei Baumgarten unterteilt in untere und obere Erkenntnisvermögen, facultates cognoscitivae inferiores und superiores) und Begehrungsvermögen (facultates appetitivae, wiederum und parallel unterteilt in untere und obere Begehrungsvermögen, facultates appetitivae inferiores und superiores). Während der Gegenstand der Ästhetik – gemäß ihrer Definition als „Wissenschaft des sinnlichen Erkennens und Darstellens“ (scientia sensitive cognoscendi et proponendi)1 oder „Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis“ (scientia cognitionis sensitivae),2 „untere Erkenntnislehre“ (gnoseologia inferior) und „Kunst des schönen Denkens“ (ars pulcre cogitandi)3 – die Vervollkommnung der unteren Erkenntnisvermögen ist, geht es in der Ethik letztlich vor allem um die Begehrungsvermögen, um die Frage, worauf das Begehren und insbesondere das rationale Wollen (voluntas) und der freie Wille (liberum arbitrium) im Hinblick auf das Handeln im Sinne der Vervollkommnung des Menschen als moralisches Wesen4 ausgerichtet werden sollen. Ästhetik und Ethik sind mithin insofern verbunden, als sie sich analog 1 2 3 4

Metaphysik, § 553. Übersetzungen aus der Metaphysica stammen von der Verfasserin. Ästhetik, § 1. Metaphysik, § 533; Ästhetik, § 1. Baumgarten selbst übersetzt moralis sowohl mit ‘moralisch’ als auch mit ‘sittlich’.

Aufklärung 20 · © Felix Meiner Verlag 2008 · ISSN 0178-7128

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und komplementär ergänzend auf jeweils eines der zwei Vermögen der menschlichen Seele, auf das Erkenntnis- respektive das Begehrungsvermögen beziehen – unterschieden erscheinen sie jedoch in der Hinsicht, als das leitende Paradigma der Ästhetik als Erkenntnis, das der Ethik hingegen als Handeln bestimmt werden kann. Doch Ästhetik und Ethik sind bei Baumgarten auch intrinsisch miteinander verknüpft, da die Paradigmen des (sinnlichen) Erkennens und des Handelns nicht nur für jeweils die eine oder die andere, sondern für beide Disziplinen maßgebend sind. In der – christlich geprägten – metaphysisch und theologisch begründeten Ethik Baumgartens kommt der sinnlichen Erkenntnis eine bedeutende Rolle zu. Sittlich gutes Handeln ist gottgefälliges Handeln, Handeln im Sinne des göttlichen Wollens der Verwirklichung der besten aller Welten.5 Die sittliche Vollkommenheit des Handelns ist, für Baumgarten wie für Leibniz, abhängig von der Vollkommenheit der Erkenntnis. Und da Gottes Weisheit und Wille sich nicht nur, gemäß der Prämisse der natürlichen Theologie, in der durch die Sinne wahrnehmbaren Natur offenbart, sondern auch, wie aus Baumgartens Vgl. in Baumgartens Ethica, die sich in dieser Reihenfolge in drei große Teile – Pflichten gegenüber Gott, Pflichten gegenüber sich selbst, Pflichten gegenüber anderem – gliedert, den ersten Paragraphen zur religio interna, § 11: Ens perfectissimum uberius, dignius, verius, clarius, certius ardentius nosse est realitas, M[et]. § 36. Ergo gloria dei in te ponit realitatem, M[et]. § 947. Illustratio gloriae divinae etiam in te ponit realitatem, alias esset mala, M[et]. § 146, quod contra, M[et]. § 947. Ergo gloria dei et illustratio eius in te, tanquam rationem perfectionis determinantem, consentiunt, M[et]. § 94, tibi bonae, M[et]. § 660. Ergo religio te perficit, ut finem, M[et]. § 947, adeoque obligaris ad religionem. – „Das vollkommenste Wesen reicher, würdiger, wahrer, klarer, gewißer und feuriger zu erkennen, ist Wirklichkeit. Also setzt der Ruhm Gottes in dir Wirklichkeit. Auch die Verherrlichung Gottes setzt in dir Wirklichkeit, anders wäre sie ein Übel, was gegen Met. § 947 verstoßen würde. Also sind der Ruhm Gottes und seine Verherrlichung in dir, in dem Maße sie zum bestimmenden Grund der Vollkommenheit zusammenstimmen, ein Gutes für dich. Also vervollkommnet dich die Religion, als Zweck, und in so großem Maße bist du zur Religion verpflichtet“. – Vgl. auch den zweiten Paragraphen zur religio interna, ebd., § 12: Religio te facit consentire cum tota civitate dei, M[et]. § 974, et integro perfectissimo universo, M[et]. §§ 935, 949. Ergo religio te perficit, ut medium ad finem optimae creationis optimum, M[et]. § 341, hinc obligaris ad religionem, § 10, M[et]. § 94. – „Die Religion läßt dich mit dem ganzen Gottesstaat übereinstimmen und mit der ganzen vollkommensten Welt. Also vervollkommnet dich die Religion, als bestes Mittel zum Zweck der besten Schöpfung. Folglich bist du zur Religion verpflichtet“. Vgl. ergänzend auch Ethica, § 444, zitiert in diesem Beitrag, S. 218. – Deutsche Übersetzungen aus der Ethica und Veränderungen in der Zeichensetzung stammen von der Verfasserin. Im folgenden wird wie hier bei der Wiedergabe längerer Textpassagen in der deutschen Übersetzung um einer besseren Lesbarkeit willen auf die Wiederholung der von Baumgarten im lateinischen Text gegebenen Stellenverweise stillschweigend verzichtet. Die deutsche Übersetzung einzelner lateinischer Termini folgt, soweit möglich, Baumgartens eigenem deutschen Sprachgebrauch, wie dieser dokumentiert ist in Baumgarten, Ästhetik, 1117–1192, und in Ken Aso, Masao Kurosaki, Tanehisa Otabe, Shiro Yamauchi, Onomasticon philosophicum latinoteutonicum et teutonicolatinum, Tokio 1989. 5

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Praelectiones zur dogmatischen Philosophie hervorgeht, in der leiblichen Person Jesu Christi eine wahrnehmbare Gestalt angenommen hat,6 ist für die Gotteserkenntnis und die ihr gemäße Ausrichtung des Handelns auch – und vielleicht in besonderem Maße – die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis von entscheidender Relevanz. Reziprok besitzt auch in Baumgartens ästhetischer Theorie die ethische Dimension der Vervollkommnung der Begehrungsvermögen als Voraussetzung für sittlich gutes Handeln einen – bislang wenig bemerkten – beachtlichen Stellenwert. Die Kriterien der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis, die Baumgarten in der Aesthetica systematisch durcharbeitet, sind, wie bekannt: Reichtum (ubertas), Größe (magnitudo), Wahrheit (veritas), Licht (lux, im Sinne von Klarheit, claritas) Gewißheit (certitudo, im Sinne von sinnlicher Überredung, persuasio7). Zur Ausarbeitung des letzten Kriteriums, des Lebens oder der Lebendigkeit der sinnlichen Erkenntnis (vita), ist Baumgarten nicht mehr gekommen. Gerade dieses letzte Kriterium hätte, dies darf begründet angenommen werden, wohl den handlungsrelevanten Aspekt der sinnlichen Erkenntnis und deren Darstellung im Medium der Kunst explizit deutlich gemacht: Kunst hat nicht nur die Funktion, auf Seiten des Betrachters dessen sinnliche Erkenntnis und damit dessen Einblick in die Vollkommenheit der Welt zu erweitern, sondern sie soll auch, durch ihre affektive Kraft, durch ihr Vermögen zu rühren, dessen Begehren beeinflussen, ihn im Medium der sinnlichen Vorstellung und Darstellung dazu bewegen können, sein Handeln auf das sittlich Gute im Einklang und zur Verwirklichung der besten aller Welten auszurichten. Doch das von Baumgarten als Abschluß und wahrscheinlich sogar als abschließender Höhepunkt der Heuristik seiner theoretischen Ästhetik projektierte Kapitel zu vita aesthetica fehlt. Gleichwohl ist der ethische, handlungsrelevante Aspekt der Ästhetik auch in der fragmentarisch ausgeführten Aesthetica enthalten: im Kapitel8 zur ästhetischen Größe (magnitudo aesthetica).9 Größe

Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Praelectiones theologiae dogmaticae […], Halle 1773, § 13; vgl. dazu in diesem Band: Dagmar Mirbach, Thomas Nisslmüller (Hg.), A.G. B, Praelectiones theologiae dogmaticae, S. 309 ff. 7 Baumgarten unterscheidet in Metaphysik § 531 explizit und in seiner eigenen Übersetzung der Termini die sinnliche Gewißheit (certitudo sensitiva) als ‘Überredung’ (persuasio) – wobei bei dieser deutschen Übersetzung von persuasio ein Bezug auf die Rhetorik offensichtlich und sicher auch intendiert ist – von der verstandesgemäßen Gewißheit (certitudo intellectualis) als ‘Überzeugung’ (convictio). 8 Baumgarten selbst hat die Abschnitte zu den einzelnen Kriterien der sinnlichen Erkenntnis nicht jeweils als ‘Kapitel’ tituliert. Es handelt sich in der Aesthetica immer um zusammenhängende ‘Abschnitte’ (sectiones). Zur leichteren Verständigung werden hier jedoch die §§ 177–422, die Abschnitte XV–XXVI der Aesthetica, kurz ‘magnitudo-Kapitel’ genannt. 6

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wird gefordert vom Gegenstand der sinnlichen Erkenntnis, von der Art und Weise seines Gedachtwerdens und seiner Darstellung, und sie wird gefordert vom erkennenden Subjekt selbst. Unter der geforderten magnitudo aesthetica ist, dies macht Baumgatren unmißverständlich klar, im ästhetischen Kontext nicht, wenigstens nicht primär und nur von verschwindend geringer Bedeutung, eine natürliche oder physikalische Größe zu verstehen. Gemeint ist vielmehr die sittliche Größe, die auch mit den Teilsynonymen pondus, gravitas, dignitas, nobilitas, maiestas, magnanimitas bezeichnet werden kann.10 Der Gegenstand der sinnlichen Erkenntnis muß eine bestimmte, im Bestfall größtmögliche Wichtigkeit (pondus) und Würde (dignitas) besitzen, die angemessene Art und Weise seines Gedachtwerdens kann nur – und hier führt Baumgarten im Anschluß an Longin diese in der Folgezeit so bedeutsam werdende ästhetische Kategorie ein – das Erhabene, nämlich die erhabene Denkungsart (sublime cogitandi genus) sein. Auf der Seite des Erkenntnissubjekts, der Baumgarten im Kapitel seine größte Aufmerksamkeit widmet, ist schließlich die sittliche Größe als Seelengröße (magnanimitas, respektive, als deren höchste anzustrebende Form: magnanimitas in aestheticis genere maxima) gefordert. In der höchsten Form der Seelengröße offenbart sich, wie Baumgarten überaus kunstvoll, wie gezeigt werden soll, ausführt, die Gemeinschaft des Menschen mit dem Göttlichen, mit Leibniz zu sprechen: seine Zugehörigkeit nicht nur zum Reich der Natur (regnum naturae), sondern auch zum göttlichen Reich der Gnade (regnum gratiae),11 als deren würdiges Mitglied sich zu erDas Kapitel zur magnitudo in Baumgartens Aesthetica blieb in der deutschen BaumgartenForschung bislang – wohl auch aus dem Grund, daß von diesen Abschnitten bis 2007 keine deutsche Übersetzung vorlag – weitgehend unbeachtet. Seit der Dissertation von Hans Georg Peters, Die Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens und ihre Beziehungen zum Ethischen, Berlin 1934, der im Hinblick auf Schillers Ästhetik eine etwas breitere Darstellung und Interpretation der magnitudo aesthetica bei Baumgarten liefert, gibt es keine eigenständige Arbeit zu diesem Thema. Es bleibt bei kurzen Bemerkungen. Armand Nivelle, Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, Berlin 1960, 2., durchges. und ergänzte Auflage Berlin, New York 1971, 30 f., meint, daß bei Baumgarten „[d]ie moralische Zweckmäßigkeit der Kunst […] entschieden geleugnet [wird]“; Marie-Luise Linn, A.G. Baumgartens Aesthetica und die antike Rhetorik, in: DVjs 41 (1967), 434–436, sieht im magnitudo-Kapitel, insbesondere in den Abschnitten zur magnanimitas, vor allem Anleihen an Ciceros Ideal des vir bonus, kann aber dort sonst „wenig Neues“ entdecken; Hans Rudolf Schweizer, Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Eine Interpretation der Aesthetica A.G. Baumgartens mit teilweiser Wiedergabe des lateinischen Textes und deutscher Übersetzung, Basel, Stuttgart 1973, 29–32, 323–330, streift ‘das ethische Problem’ in der Aesthetica nur in knapper Form und bringt ein kurzes Resümee des magnitudoKapitels, in dem er bei Baumgartens Begriff der magnanimitas ebenfalls hauptsächlich den Bezug auf antike Vorbilder (Cicero, Horaz, Vergil, Longin) hervorhebt. 10 Vgl. Anm. 20. 11 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie (dt. 1720), Abschnitte 84–90; zitiert nach Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Werke in vier Bänden, in der Zusammenstellung von 9

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weisen seine zentrale und vor allem eben auch handlungsmotivierende und handlungsleitende Aufgabe sein muß. Zeigt sich in der Ethik die Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis als unumgehbar hinsichtlich der Ausrichtung der Begehrungsvermögen und damit der Handlung auf das sittlich Gute, so ist umgekehrt die Vervollkommnung der Begehrungsvermögen und ihre Ausrichtung auf das sittlich Gute unabdingbar für die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis und deren Darstellung in der Kunst. Die Verbindung zwischen sinnlicher Erkenntnis, sittlich gutem Handeln, Gotteserkenntnis und Gottesgefolgschaft ist damit gezogen. Es ist diese Verbindung, die in deren je unterschiedlicher theoretischer Explikation den gemeinsamen Fluchtpunkt von Baumgartens Ethica und Aesthetica bildet. Und paradigmatisch begegnet sie in Baumgartens Behandlung der magnitudo aesthetica.12

I. Die magnitudo aesthetica innerhalb der aesthetica naturalis Mit insgesamt 246 Paragraphen (§§ 177–422) widmet Baumgarten in den Abschnitten XV–XXVI in seiner Aesthetica, innerhalb des 1750 abgeschlossenen Teils – positioniert zwischen dem ästhetischen Reichtum (ubertas aesthetica, §§ 115–176) und der ästhetischen Wahrheit (veritas aesthetica, §§ 423–613) –, der ästhetischen Größe (magnitudo aesthetica) die weitaus umfänglichste Behandlung, was bereits rein formal als Indiz für die Bedeutung, die Baumgarten der ästhetischen Größe zumißt, betrachtet werden kann. Doch der Begriff der magnitudo begegnet bereits in Abschnitt II des Werks zur ‘natürlichen Ästhetik’ (aesthetica naturalis, §§ 28–46), in dem Baumgarten die Anforderungen an die „natürliche Veranlagung der ganzen Seele“ (§ 28) des felix aestheticus darlegt. Die erste erforderliche Voraussetzung hinsichtlich der natürlichen seelischen Disposition des erfolgreichen Ästhetikers ist der „ANGEBORENE ANMUTIGE UND GESCHMACKVOLLE GEIST“ (§ 29). Hierzu gehören zum einen die Fähigkeiten der unteren Erkenntnisvermögen, die Baumgarten mit wenigen Abweichungen gemäß der empirischen Psychologie der Metaphysica aufzählt (§§ 30–38), zum anderen die oberen Erkenntnisvermögen, Verstand und Vernunft, die, indem sie die „Herrschaft der Seele über sich selbst“ (imperium animae in semet ipsam, § 38) garantieren, zur Anregung und Übereinstimmung (consensus) der unteren Erkenntnisvermögen Ernst Cassirer, Bd. 2: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Teil 2, übers. von Artur Buchenau, mit Einleitung und Anm. hg. von Ernst Cassirer, Hamburg 1996. 12 Der folgende Text des Beitrags ist eine überarbeitete und ergänzte Fassung eines Abschnitts der Einführung der Verfasserin in: Ästhetik, LXV–LXXX.

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beitragen, wobei umgekehrt die Lebhaftigkeit der Vorstellungen des analogon rationis auch die Voraussetzung für die Schönheit der Verstandeserkenntnis bildet. Obere und untere Erkenntnisvermögen müssen im ingenium venustum harmonisch zusammenwirken. Das zweite Erfordernis der natürlichen Veranlagung des Ästhetikers ist hingegen eine bestimmte Disposition seiner Begehrungsvermögen (facultates appetitivae), eine bestimmte Gemütsart (indoles13), die Baumgarten als ‘ästhetisches Temperament’ bezeichnet: Ad aestheticum natum, § 28, requiritur 2) indoles dignam et moventem cognitionem pronius sequutura, facultatumque appetitivarum ea proportio, qua in pulcram cognitionem facilius feratur, s. TEMPERAMENTUM AESTHETICUM CONNATUM, M. § 732. Zum geborenen Ästhetiker wird 2) eine Gemütsart erfordert, die einer würdigen und bewegenden Erkenntnis besonders gern folgen will, und dasjenige Verhältnis der Begehrungsvermögen, durch das er leichter zur schönen Erkenntnis gebracht wird: das ANGEBORENE ÄSTHETISCHE TEMPERAMENT.14

In § 45 der Aesthetica stellt Baumgarten zunächst in einer aufsteigend geordneten Wertetafel einige für den Ästhetiker begehrenswerte Dinge (appetibilia) dar, die – nach der Nennung von äußerlichem Vermögen, Arbeit, Muße, Gemütsergötzlichkeiten, Freiheit, Ehre, Freundschaft und Gesundheit – in der „schöne[n] Erkenntnis mit ihrer Zugabe, der liebenswerten Tugend“, und schließlich in der „höhere[n] Erkenntnis mit ihrer Zugabe, der verehrungswürdigen Tugend“, gipfelt. Daraufhin wird, mit Rückverweisen auf §§ 38, 41, das geforderter ästhetische Talent noch näher bestimmt: Licebit ergo temperamentis aestheticis tribuere MAGNITUDINEM aliquam PECTORIS CONNATAM, instinctum in magna potissimum, praesertim apud attendentes, quam facilis inde transitus sit ad maxima, §§ 38, 41. Es wird also erlaubt sein, den ästhetischen Temperamenten eine gewisse ANGEBORENE GRÖSSE DES HERZENS zuzuschreiben, ein vorzüglichster Trieb zum Großen hin, vor allem bei denjenigen, die darauf achthaben, wie leicht von da aus der Übergang zum Größten sein mag.

Wie sich aus dem Rückverweis auf § 38, dem dort eingeführten Begriff der ‘Herrschaft der Seele über sich selbst’ (imperium animae in semet ipsam) und der Bestimmung dieses Begriffs im Kontext der Behandlung der facultates appetitivae innerhalb der empirischen Psychologie der Metaphysica (§§ 651– 732) erschließt, ist mit jener auf die Klimax der Wertetafel folgenden geforderten ‘Größe des Herzens’ oder dem ‘vorzüglichsten Trieb zum Großen’ nichts anderes gemeint als das Streben nach sittlicher Größe. Dieses Streben wird verstanden als vernunftgeleitete – nämlich unter der ‘Herrschaft der Seele über 13 14

Vgl. Metaphysik, § 732. Ästhetik, § 44.

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sich selbst’ stehende –, sinnliche Triebe (instinctus) und Gemütsbewegungen (affectus) harmonisch integrierende, an den Beweggründen (motiva) des rationalen Vermögens des Wollens und Nicht-Wollens (facultas volendi nolendive)15 orientierte sowie freiheitliche Ausrichtung der Begehrungsvermögen auf das sittlich Gute16 – freiheitlich deshalb, weil Freiheit per Definition in ihrer grundsätzlichen und ersten Bedeutung in der ‘Herrschaft der Seele über sich selbst’ besteht17 und als solche unerläßliche Bedingung für sittliches Handeln gemäß den von Philosophie und Theologie vorgegebenen Maßgaben des Sittengesetzes ist.18 Im instinctum in magna potissimum, dem Trieb zum – sittlich – Großen, tritt die magnitudo als ethische Kategorie in Form der Forderung der „MAGNITUD[O] aliqu[a] PECTORIS CONNAT[A]“ bereits in § 45 in Abschnitt II der Aesthetica auf den Plan.

II. Die magnitudo aesthetica in den Abschnitten XV–XXVI der Aesthetica 1. Gliederung: magnitudo materiae, genera cogitandi/dicendi, magnitudo personae Die Behandlung der ästhetischen Größe in den §§ 177–422 der Aesthetica gliedert sich – analog zu der vorangegangenen des ästhetischen Reichtums – nach der einführenden Unterscheidung von absoluter Größe (die jedem schönen Denken notwendig ist) und relativer Größe (die nur gewissen schön zu denkenden Dingen auf eigentümliche Weise zukommt) insgesamt in eine Diskussion der Größe des schön zu denkenden Stoffes (magnitudo materiae, §§ 191–351) und in eine Diskussion der Größe der schön denkenden Person (magnitudo personae, §§ 352–422), beides wiederum differenziert in eine jeweils absolute und relative Größe. Angeschlossen an die relative Größe des Stoffes (§§ 202–216) erfolgt eine an den rhetorischen genera dicendi orientierte Untersuchung des Verhältnisses der Gedanken zu den Stoffen, das sich in eine schlichte (tenue), mittlere (medium) und eine erhabene (sublime) Denkungsart (cogitandi genus) untergliedert (§§ 230–328). Analog dazu erfolgt bei der Behandlung der Person die Unterscheidung ihrer notwendigen Seelengröße Vgl. Metaphysik, §§ 677 f., 690, 712, 719. Vgl. hierzu auch Dagmar Mirbach, Wolffs complementum possibilitatis in der Rezeption durch Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Jürgen Stolzenberg, Oliver-Pierre Rudolph (Hg.), Christian Wolff und die Europäische Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen ChristianWolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.–8. April 2004, Bd. 4, in: GW III.104, 257–274. 17 Vgl. ebd. §§ 730, 725. 18 Vgl. ebd. § 723. 15 16

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zum einen bei schlichten und mittleren Gegenständen (§§ 364–393), zum anderen bei erhabenen Gegenständen, welche abschließend als die höchste ästhetische Großmut (magnanimitas in aestheticis genere maxima, §§ 394–422) charakterisiert wird. In den ersten Paragraphen der genannten Abschnitte trifft Baumgarten zunächst eine grundsätzliche Feststellung (§ 181): MAGNITUDO AESTHETICA, § 177, et absoluta, § 178, et relativa, § 180, porro est vel NATURALIS, cum libertate propius non connexis conveniens, vel MORALIS, obiectis cogitationibusque tribuenda, quatenus propius cum libertate connectuntur. Die ÄSTHETISCHE GRÖSSE, sowohl die absolute als auch die relative, ist entweder NATÜRLICH, die Dingen zukommt, die nicht näher mit der Freiheit verbunden sind, oder MORALISCH, die Gegenständen und Gedanken beizumessen ist, insofern sie näher mit der Freiheit verbunden werden.

Zur Auffindung der ‘natürlichen’ (physikalischen) Größe kann, so Baumgarten, auf die Topik und die bereichernden Argumente in den Abschnitten zur ubertas aesthetica zurückverwiesen werden. Sie braucht nicht eigens untersucht zu werden.19 Das Hauptinteresse der ganzen folgenden Behandlung der magnitudo – sowohl bezüglich des Stoffes als auch der Denkart wie der Person – gilt hingegen der mit Freiheit verbundenen sittlichen oder moralischen ästhetischen Größe, die nun die Bezeichnung der ‘ästhetischen Würde’ (dignitas aesthetica) erhält (§ 182):20 Liceat hanc moralem magnitudinem aestheticam brevis DIGNITATEM AESTHETICAM dicere, et iam post § 115 videre, […] Quid deceat, quid non, quo virtus, quo ferat error. Es sei erlaubt, diese moralische ästhetische Größe kürzer die ÄSTHETISCHE WÜRDE zu nennen, und nunmehr zu schauen, […] was passend ist, was nicht, wohin Tugend führt, wohin Irrtum.21

So wird auch das Erhabene (sublime) bei Baumgarten nirgends – wie etwa später bei Burke und Kant – in bezug auf die Natur, sondern ausschließlich in bezug auf Denkungsart und Seelengröße (des gedachten oder des denkenden Subjekts) diskutiert. 20 Die magnitudo erscheint in den §§ 177–422 unter mehreren, in ihrer Bedeutung nicht vollständig deckungsgleichen Synonymen, die bewußt in ihrer jeweiligen Differenz eingesetzt werden: Pondus, gravitas, dignitas, nobilitas, magnanimitas, auch: maiestas. Als Synonyme zu pondus, von ihm selbst mit ‘Wichtigkeit’ übersetzt, nennt Baumgarten in Metaphysik § 166 gravitas, dignitas, nobilitas; als Übersetzung von dignitas schlägt er in Metaphysik § 515 die deutschen Begriffe ‘Größe, Wert, Wichtigkeit’ vor. 21 Horaz, Ars poetica 308. Zugrunde gelegt sind Text und Übersetzung der Ausgabe: Quintus Horatius Flaccus, Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch – Deutsch, übers. und mit einem Nachwort hg. von Eckart Schäfer, Stuttgart 1972. – Hier wie im folgenden werden die jeweils genannten Ausgaben der Werke antiker Autoren zugrunde gelegt: Mögliche Abweichungen in der Zitation behalte sind dabei einerseits wegen Baumgartens Zitierweise des lateinischen Textes, 19

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Entsprechend der zugrundegelegten methodischen Schematisierung wird der Begriff der ästhetischen Würde im folgenden noch weiter ausdifferenziert. In § 189 unterscheidet Baumgarten die ästhetische Größe resp. Würde der Gegenstände – die selbst unterschieden ist von der Art und Weise deren Gedachtseins, das der „überaus heilbringende[n] und überaus schöne[n] Sache der Tugend und der guten Sitten“ (§ 182) zumindest nicht schaden darf oder ihr, darüber hinaus, nutzen soll – als „OBJEKTIV[E]“ ästhetische Würde „der Sachen, des Stoffes“, insoweit in denselben der Grund liegt, warum sie „durch einen schönen Geist und ein schönes Herz“ in Größe und Würde dargestellt werden können, von der „SUBJEKTIV[EN]“ ästhetischen Würde „der Person“ selbst. Diese betrifft die „natürlichen Möglichkeiten und Vermögen eines bestimmten Menschen“, „mit Begierden und aus freier Entscheidung uns einen gegebenen Stoff so, wie er es vermag und wie es billig ist, in Größe und Würde vor Augen zu stellen“: Has posteriores dicamus MAGNANIMITATEM ET GRAVITATEM AESTHETICAM, E[th]. § 489. Diese letzteren Möglichkeiten und Vermögen nennen wir die ÄSTHETISCHE GROSSMUT und die ÄSTHETISCHE WICHTIGKEIT.

In dem hier für die subjektive ästhetische Würde der Person eingeführten Begriff der ‘ästhetischen Großmut’ (magnanimitas aesthetica) kehrt in § 189 – vorbereitet durch die im Paragraphen vorausgehende Formulierung „durch einen schönen Geist und ein schönes Herz“ (pulcrum ingenium et pectus), bei der Baumgarten explizit auf Abschnitt II der Aesthetica zurückverweist und durch die ebenfalls vorangestellte Koppelung „mit Begierden und aus freier Entscheidung“ (cum appetitionibus et decreto), die das harmonische Verhältnis zwischen unteren und oberen Begehrungsvermögen bezeichnet,22 welches unter Leitung der Vernunft die ‘Herrschaft der Seele über sich selbst’ ausmacht und damit die Bedingung von Freiheit und Sittlichkeit darstellt – die in § 45 an den felix aestheticus gestellte Forderung ‘einer gewissen angeborenen Größe des Herzens’ wieder. Ebenso wie das Erfordernis des anmutigen Geistes (ingenium venustum, § 29) in den Abschnitten zur ubertas aesthetica in den Ausführungen zum Reichtum des Geistes (ubertas ingenii, §§ 149–157) seine Entsprechung gefunden hatte, so entspricht dem Erfordernis des temperamentum aestheticum (§ 44), expliziert als magnitudo pectoris und instinctum in magna potissimum (§ 45), in den Abschnitten zur magnitudo aesthetica die Behandlung der ästhetischen Großmut (magnanimitas aesthetica), die in der Darstellung der höchsten ästhetischen Großmut ihren Höhepunkt und Abschluß findet. andererseits wegen der Notwendigkeit der Anpassung der Übersetzung an Baumgartens Text vorbehalten. 22 Vgl. Metaphysik, §§ 663, 671, 676, 695.

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2. Die magnanimitas in aestheticis genere maxima Baumgarten erarbeitet den Begriff der ‘höchsten ästhetischen Großmut’ (magnanimitas in aestheticis genere maxima, §§ 394–422) in zwei Schritten. Zuerst in deren – noch nicht argumentativ fundierten, sondern in Metaphern, Zitaten und Verweisen erfolgenden – Charakterisierung als Ausrichtung auf oder Annäherung an das Göttliche, als Aufstieg „zu den himmlischen Dingen“.23 Sodann in einer Auseinandersetzung mit Longins in der Schrift Vom Erhabenen (Perˆ Ûyouj) diskutierten Begriff der ‘Seelengröße’ (megaloyuc…a), insbesondere mit dessen Diskussion der Freiheit als notwendige Voraussetzung von Seelengröße. Erst im Anschluß daran erhält die vorher nur umschriebene Verbundenheit der magnanimitas genere maxima mit dem Göttlichen ihre theoretische Begründung.

a) Literarische Umschreibungen Schon in § 394 wird einführend die „ÄSTHETISCHE GROSSMUT […] IN IHRER VORZÜGLICHSTEN BEDEUTUNG“ einem „höhere[n] Geist“ und einem „zur Unsterblichkeit geborene[n] und diese schon im sterblichen Leib lebende[n] Herz“ zugeschrieben, einem Geist, der daher oft insuetum miratur limen Olympi, Sub pedibusque videt nubes, § 318, et sidera. staunend die Schwelle des Olymp bewundert, und zu seinen Füßen Wolken und Sterne sieht.24

Oft werden ein solcher Geist und ein solches Herz, so fährt Baumgarten mit einem weiteren Vergil-Zitat fort, deum vitam, S. V, § 206, accipiet, divisque videbit Permistos heroas, idemque videbitur illis. das Leben der Götter empfangen, mitten unter Göttern Heroen schauen und ebenso von ihnen gesehen werden.25

Als erstes Gesetz der höchsten, nun auch als erhaben bezeichneten Großmut bestimmt Baumgarten in § 399 die Unterordnung alles Menschlichen unter das Göttliche: So heißt es in Kollegnachschrift Poppe, § 394 (213). Vgl. Vergil, Eklogen 5, 56 f. Zugrunde gelegte Ausgabe: P[ublius] Vergilius Maro, Bucolica. Hirtengedichte. Studienausgabe. Lateinisch – Deutsch, Übersetzung, Anmerkungen, interpretierender Kommentar und Nachwort von Michael von Albrecht, Stuttgart 2001. 25 Vgl. ebd., 4, 15 f. 23 24

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Prima potius dignitatis positivae per sublimia lex est: humana quaecunque, vel specifice maxima, divinis subiicito, § 206. Das erste Gesetz der positiven Würde für das Erhabene ist: Jedwedes Menschliche, was auch immer es sei, selbst das in besonderer Weise größte, soll dem Göttlichen unterworfen werden.

Der im lateinischen Text sowohl innerhalb des Vergil-Zitats in § 394 wie auch in § 399 gegebene Rückverweis auf § 206 unterstreicht noch den die magnanimitas auszeichnenden Respekt vor dem göttlichen Willen. Dort hatte Baumgarten die von Cicero in De natura deorum hergestellte notwendige Verbindung von Tugend und Gottesfürchtigkeit zitiert: Nemo vir magnus sine aliquo afflatu divino unquam fuit. […]. Magnis viris prospere eveniunt semper omnes res, si quidem satis a nostris, et a principe philosophorum, Socrate, dictum est de ubertatibus virtutis et copiis […]: mala et impia consuetudo est contra deos disputandi, sive animo id sit, sive simulate. Jeder bedeutende Mann war stets von göttlichem Geist umhaucht. Für tüchtige Männer nimmt alles stets einen glücklichen Verlauf, jedenfalls wenn die Philosophen unserer Schule und auch Sokrates, der größte unter den Philosophen, die segensreichen Möglichkeiten der Tugend zutreffend dargestellt haben. Verwerflich und skrupellos ist die Angewohnheit, gegen die Götter zu reden, gleichgültig, ob man es aus Überzeugung tut oder bloß zum Schein.26

In § 403 heißt es mit einem Zitat aus Horaz: Quanquam satis magnus sublimibus animus non est sapiens ille stoicus, quem, Si fractus illabatur orbis, Impavidum feriant ruinae, § 353, non levioribus tamen ille curis afficitur, nec ex tranquilla superum vitam imitante serenitate deturbatur. Gleichwohl das für erhabene Dinge genügend große Gemüt nicht das jenes weisen Stoikers ist, den, wenn zerborsten zusammensinkt das Weltall unerschrocken die Trümmer treffen,27 wird es dennoch weder von kleineren Sorgen geplagt noch seiner ruhigen Heiterkeit beraubt, die das Leben der Götter nachahmt.

In § 404 schließlich wird die „absolute ästhetische Wichtigkeit“ geradezu als diejenige Verfassung edler Gemüter (animi nobiles) beschrieben, in der diese aus ihrem gewöhnlichen (irdischen) Zustand in die außergewöhnliche Gemein-

Cicero, De natura deorum 2, 166–168. Zugrunde gelegte Ausgabe: M[arcus] Tullius Cicero, De natura deorum/Über das Wesen der Götter. Lateinisch – Deutsch, übers. und hg. von Ursula Blank-Sangmeister, Nachwort von Klaus Thraede, Stuttgart 1995. 27 Horaz, Carmina 3, 3, 7 f. Zugrunde gelegte Ausgabe: Quintus Horatius Flaccus, Oden und Epoden. Lateinisch – Deutsch, übers. und hg. von Bernhard Kytzler, Stuttgart (6. Aufl.) 1978. 26

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schaft mit den himmlischen Göttern und Heroen hinweggetragen werden können: Quod si vero nobilis eiusmodi animus actu velit ad grandia cogitanda accedere, quasi suimet ipsius et ordinarii sui status oblitus, excitandus est, et velut extra se rapiendus in maius theatrum, quam in quo quotidie personam agit, et ita divis heroibusque miscendus, ut excelsam aliquam cum iisdem familiaritatem contraxisse, nec tanquam in alienum orbem delatus, sed in eiusmodi consortio dudum habitans appareat, §§ 213, 293. Auditis? an me ludit amabilis Insania? audire et videor pios Errare per lucos, amoenae Quos et aquae subeunt et aurae, Hor. III, Od. 4.28 Wenn nun ein solches edles Gemüt sich wirklich tätig den Dingen, die größer zu denken sind, annähern will, muß es, wie wenn es sich selbst und seinen gewöhnlichen Zustand vergessen hätte, erregt werden und gleichsam außer sich selbst auf einen größeren Schauplatz fortgerissen werden, als der es ist, auf dem es tagtäglich seine Rolle spielt, und so mit den Göttern und Helden vereint werden, daß es mit diesen einen gewissen himmlischen vertrauten Umgang gefunden zu haben scheint, nicht, wie wenn es in eine fremde Welt verwiesen, sondern schon lange in einer solchen Gemeinschaft beheimatet gewesen wäre. Hört ihr? Oder täuscht mich holder Wahn? Zu hören doch meine ich es und durch heilige Haine zu streifen, die lieblich durchziehen Wasser und Lüfte.

Wiederum dienen hier sowohl das abschließende Zitat aus Horaz (die Evokation des Liedes der vom Himmel herabsteigenden Kalliope, der Muse des heroischen Gesangs) als auch die im lateinischen Text gegebenen Rückverweise auf § 213 – in dem Baumgarten die „HEROISCHE TUGEND UND AUSGEZEICHNETE MIT ERHABENER GRÖSSE VERBUNDENE LEBENSWEISE“ mit Vergil als nur wenigen, „die in Gnaden Jupiter liebt,/ die feurig die Tugend zu den Sternen erhoben,/ Götterentsprossenen“29 zu eigen beschrieben hatte – und § 396 – in dem aus Horaz zitiert wurde, daß „die Tugend […] jenen, denen es nicht gebührt zu sterben,/ den Himmel erschließt“30 – zur weiteren Unterstreichung des Gemeinten: die Bestimmung der magnanimitas genere maxima, der höchsten Form sittlicher Größe, als Gemeinschaft mit dem Göttlichen.

Ebd., 3, 4, 5–8. Vergil, Aeneis 6, 129–131. Zugrunde gelegte Ausgabe: [Publius] Vergil[ius Maro]: Aeneis. Lateinisch – Deutsch, eingeleitet und übertragen von August Vezin, Münster (6. Aufl.) 2000. 30 Horaz, Carmina 2, 21 f. 28 29

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b) Philosophische Begründung der magnanimitas in der libertas Ihre philosophische Begründung erhält diese Bestimmung der magnanimitas in aestheticis genere maxima erst ab § 412 der Aesthetica, im Zusammenhang von Baumgartens Auslegung von Longins Begriff der megaloyuc…a.31 Longin benennt in Perˆ Ûyouj zwei Quellen für die Hervorbringung erhabener Gedanken: Die angeborene Seelengröße (µεγαλοψυχία) und die Fähigkeit zur begeisterten Leidenschaft (p£qoj ™nqousiastikÒn).32 Die µεγαλοψυχία beschreibt er – worin sich Baumgarten in seiner bisherigen Umschreibung der magnanimitas genere maxima bestätigt finden kann, obgleich er die entsprechende Stelle nicht zitiert – als eine mit einer über den gewöhnlichen menschlichen Horizont hinausgehenden Erkenntnis verbundene ‘Liebe zum Großen und Göttlichen’: Was hatten nun jene göttergleichen Männer im Auge, die nach den Höhen [erhabener] schriftstellerischer Kunst strebten […]? Vor allem die Erkenntnis, daß uns die Natur nicht als niedrige, unedle Geschöpfe ansah, sondern wie in eine große Festversammlung in das Leben und die gesamte Welt einführte, damit wir Betrachter all ihrer Mühen und ehrgeizige Mitkämpfer seien, und daß sie uns gleich eine unbezähmbare Liebe zu allem einpflanzte, was immer groß [mšgalon] ist und göttlicher [daimonièteron] als wir. Deshalb genügt dem Schauen und Sinnen der menschlichen Kühnheit nicht einmal die ganze Welt, sondern oft überschreitet unser Denken sogar die Grenzen, die uns einschließen. Und wer beim Blick ins Leben ringsum sieht, welchen Vorrang das Ungemeine, Große und Schöne überall genießt, dem wird die Bestimmung des Menschen bald offenbar werden.33

Am Schluß der fragmentarisch überlieferten Schrift erörtert Longin, in einer fiktiv wiedergegebenen Diskussion mit einem – unbenannten – Philosophen, das Problem des Fehlens von Seelengröße erhabener Geister in seiner Zeit. Nicht, wie der anonym bleibende Philosoph meint, in der politischen Despotie des römischen Kaiserreichs, sondern in der inneren, seelischen Gewaltherrschaft, in dem zu Unsittlichkeit führenden ‘endlosen Krieg’ der Begierden und Leidenschaften, sei dafür der Grund zu suchen: [I]nmitten solcher Laster muß allmählich die Sittenfäulnis reifen, die Seelengröße schwinden und welken, ja gar nicht mehr erstrebt werden, weil eben dann die Menschen ihr sterbliches […] Teil überschätzen, ihr unsterbliches zu mehren versäumen.34

Vgl. hierzu auch Mirbach, Wolffs complementum possibilitatis (wie Anm. 16). Vgl. Longin 8, 1. Zugrunde gelegte Ausgabe: Longinus, Vom Erhabenen. Griechisch – Deutsch, übers. und hg. von Otto Schönberger, Stuttgart 1988. 33 Ebd., 35, 1–3. 34 Ebd., 44, 8. 31 32

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An dieser Stelle von Longins Schrift setzt Baumgarten in § 414 der Aesthetica ein. Der Paragraph soll hier aufgrund seiner argumentativen und konnotationsreichen Dichte vollständig wiedergegeben werden: Si qua libertatis externae fraena, si qua servitus externa deprimendis animis retundendisque maximis quibusvis et studiis et incitationibus apprime facta sunt, quod nullus nego: nec extra oleas vagari mihi videar, si, propter oppositorum oppositas rationes, in primis auxiliis animorum ad vere excelsa levandorum numerem intimam persuasionem de copioso maximorum eventuum systemate, non praeteritorum solum et praesentium, sed etiam maxima ex parte adhuc exspectandorum, non optima solum et maxima sublimitatis ac venerandae virtutis exempla simpliciter ad imitandum proponente, sed etiam saluberrima proferendi in semet ipsum imperii, fugiendae servitutis moralis omnis internae, victoriaeque in semet ipsum obtinendae remedia consiliis evidentissimis subministrante, persuasionem, inquam, de veris eiusmodi rebus et gestis et gerendis, quae simul eam animabus vim largiatur ac potentiam divinitus, ut ne mortis quidem metu possint eo compelli, quo tyrannus improba poscens destinaverit, supernaturale libertatis internae psychologicaeque complementum ac supplementum. Wenn etwa die Zäume der äußerlichen Freiheit, wenn etwa die äußere Knechtschaft vor allem dazu gemacht sind, die Geister niederzudrücken und sowohl ohne jeden Unterschied alle größten Bestrebungen wie auch jedwede größte Begeisterung niederzuschlagen, was ich keineswegs verneine: Scheint es mir nicht abwegig zu sein – weil die Gründe von Gegensätzlichem selbst gegensätzlich sind – wenn ich zu den ersten Hilfen der Gemüter, sich zum wahrhaft Erhabenen zu erheben, die innigste Überredung von dem reichen System der größten Begebenheiten zähle, nicht nur der vergangenen und der gegenwärtigen, sondern auch und zum größten Teil der noch zu erwartenden, das nicht allein die besten und größten Beispiele des Erhabenen und der verehrungswürdigen Tugend, die auf einfache Weise nachzuahmen sind, vor Augen stellt, sondern auch mit ausgemachtesten Maßregeln die heilsamsten Mittel darreicht, um die Herrschaft über sich selbst hervorzubringen, aller innerlichen sittlichen Knechtschaft zu entkommen und den Sieg über sich selbst zu behaupten. Die Überredung, sage ich, von dem, was wahrhaft getan und noch zu tun ist, die zugleich den Gemütern durch göttliche Fügung eine solche Kraft und ein solches Vermögen schenkt, daß nicht einmal die Furcht vor dem Tod sie dahin treiben kann, wo ein Tyrann, der Unbilliges fordert, sie etwa hinbestimmen will: Diese Überredung ist die übernatürliche Erfüllung und Ergänzung der inneren und psychologischen Freiheit.

Longins Erklärung, daß Freiheit als unerläßliche Bedingung zur Bildung von Seelengröße primär nicht als Freiheit von politischer Despotie, sondern als Freiheit von der ‘inneren Gewaltherrschaft’ der Begierden und Leidenschaften verstanden werden muß, kann Baumgarten nur zustimmen: Freiheit bedeutet in der Tat, wie in der empirischen Psychologie der Metaphysica dargelegt, zu allererst die Befreiung von „aller innerlichen sittlichen Knechtschaft“, erreichbar in der Herrschaft (imperium), dem Sieg (victoria) der Seele über sich selbst (in semet ipsam). Von besonderer, über die Auseinandersetzung mit Longin hinausgehender, für Baumgartens Begriff der magnanimitas weitreichender

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Bedeutung ist hier jedoch die dem Paragraphen zugrundeliegende Auslegung des Verhältnisses von innerer und äußerer Freiheit: 1) Keineswegs verneint werden soll, daß Beschränkungen der äußeren Freiheit die Bildung von Seelengröße verhindern können. Behauptet der namenlose Philosoph bei Longin einen kausalen Zusammenhang zwischen äußerer Unfreiheit als Grund und der Verhinderung von Seelengröße als Folge, so muß für Baumgarten – da Gegensätzliches gegensätzliche Gründe hat – gleichermaßen der Umkehrschluß gelten: Seelengröße als Folge hat ihren Grund in der äußeren Freiheit. 2) Diese äußere Freiheit ist nun jedoch allenfalls physisch einschränkbar durch kontingente, historisch, politisch oder gesellschaftlich bedingte Umstände, metaphysisch hingegen ist sie in dem notwendigen ‘reichen System der größten Begebenheiten’ (copiosum maximorum eventuum systema), in Gottes Einrichtung der Welt als mundus perfectissimus,35 immer schon gegeben und unverbrüchlich garantiert. Aufgrund des Systems der vorherbestimmten Übereinstimmung (systema harmoniae praestabilitae), in welchem durch den göttlichen Willen alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Geschehnisse auf das Beste hin ausgerichtet sind, kann der menschlichen Seele, wie es Baumgarten in § 729 der Metaphysica formuliert, eine ‘völlige Unabhängigkeit’ von jeglichem Endlichen in dieser Welt zugesprochen werden. In diesem Sinne ist die menschliche Seele – innerhalb und entgegen jedweder physischen Bedingtheit – metaphysisch immer schon unbedingt frei. 3) Die ‘innigste Überredung’ (intima persuasio) – die per Definition eine sinnliche Gewißheit (certitudo sensitiva) ist36 – von dem ‘reichen System der größten Begebenheiten’ ist die ‘übernatürliche Erfüllung und Ergänzung der inneren und psychologischen Freiheit’ (supernaturale libertatis internae psychologicaeque complementum ac supplementum), Bedingung der Möglichkeit der Verwirklichung der inneren, in der ‘Herrschaft der Seele über sich selbst’ sich manifestierenden Freiheit. Damit ist, da Freiheit die Voraussetzung für Sittlichkeit bildet, die sinnliche Gewißheit von der gottgewollten Einrichtung der Welt auf das Beste hin auch die notwendige Ergänzung und der Ermöglichungsgrund von sittlicher Größe als Wollen des Guten. Erst beides zusammen, die innere Freiheit als ‘Herrschaft der Seele über sich selbst’ und die sinnliche Gewißheit hinsichtlich der diese innere Freiheit erst garantierenden göttlichen Einrichtung der Welt, bildet die höchste, erhabene Großmut, die magnanimitas genere maxima.

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Vgl. Metaphysik, §§ 436 f. Vgl. ebd., § 531.

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c) Zusammenführung In § 416 der Aesthetica bestimmt Baumgarten den Zustand der durch die höchste Großmut ausgezeichneten Gemüter weiterhin als „Zustand der Beruhigung“ (status tranquillitatis), wobei er zu dessen Erläuterung auf § 445 seiner Ethica philosophica verweist. Dieser intertextuelle Bezug sowie der nähere Kontext des genannten Paragraphen erlauben es nun, die beiden von Baumgarten in zwei Schritten erarbeiteten Aspekte der magnanimitas in aestheticis genere maxima – ihre mittels der Zitate aus Vergil, Horaz und Cicero aufgezeigte ‘Gemeinschaft mit dem Göttlichen’ und ihre in der Auseinandersetzung mit Longin herausgestellte Bestimmung als Wollen des Guten, welches in der erst durch die Gewißheit von Gottes Wahl der besten aller Welten ermöglichten inneren Freiheit gründet – zusammenzuführen. Der ‘Zustand der Beruhigung’, den Baumgarten der höchsten Großmut zuschreibt, ist, so die Definition in § 445 der Ethica, der Zustand des Tugendhaften (status virtuosi), in welchem er nicht zum Laster versucht wird. Voraussetzung hierfür ist, wie vorausgehend in § 443 der Ethica dargelegt wird, eine hinreichende Erkenntnis hinsichtlich „derjenigen Ding[e] […], die näher mit der Freiheit verknüpft sind, des sittlich Guten und Schlechten, der Tugend und des Lasters“: [I]n quo tamen est tanta, qua ubertatem, gravitatem, veritatem, claritatem, certitudinem et vitam, quantam status virtutis poscit, in eo praestat STATUM LUCIS, s. regnum lucis morale; in quo non est tanta, ille est in STATU TENEBRARUM, regno tenebrarum morali. In demjenigen, in dem – durch deren Reichtum, Wichtigkeit, Wahrheit, Klarheit, Gewißheit und Lebendigkeit – soviel Erkenntnis ist, wie sie der Zustand der Tugend erfordert, in dem herrscht der ZUSTAND DES LICHTS vor, oder das sittliche Reich des Lichts; in wem nicht soviel Erkenntnis ist, der befindet sich im ZUSTAND DER FINSTERNIS, im sittlichen Reich der Finsternis.

Doch, so heißt es weiter in § 444 der Ethica: Homo vel maxime rationalis, § 434, admodum copiosa, exacta, gravi, vivida immo distincta moralium cognitione gaudens, ad convictionem usque vel demonstrationem etiam, tamen esse potest in statu tenebrarum; solus virtuosus in statu lucis est, § 433. Sed huius etiam officium est et in regni lucis pomoeria proferre […] et luci ipsius proportionate agere, i.e. AMBULARE IN LUCE, quantum potest, § 235. Ein Mensch, auch ein höchst vernünftiger, der sich in vollem Maße der reichen, genauen, wichtigen, lebendigen und ja sogar der deutlichen Erkenntnis des Sittlichen erfreut, bis hin zur Überzeugung oder zum Erweis, kann dennoch im Zustand der Finsternis sein; nur der Tugendhafte ist im Zustand des Lichts. Doch dessen Pflicht ist es auch, den Maueranger des Reichs des Lichts zu erweitern und dem Licht selbst angemessen zu handeln, d.h. IM LICHTE WANDELN, soviel er kann.

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Das ‘sittliche Reich des Lichts’ (regnum lucis morale) ist, wie aus § 403 der Metaphysica hervorgeht, die ‘Welt der Geister’ (mundus pneumaticus) oder – mit Leibniz, auf den sich Baumgarten bei der Verwendung des Begriffs in der Vorrede zur 2. Auflage der Metaphysica (1742) explizit bezieht37 – das ‘Reich der Gnade’ (regnum gratiae).38 Aufgabe des Tugendhaften ist es nun nach § 444 der Ethica nicht nur, seine Erkenntnis hinsichtlich des ‘sittlichen Reichs des Lichts’ zu verbessern, sondern auch, seinen Willen (basierend auf dem vernunftgeleiteten, ausgewogenen Verhältnis der unteren und oberen Begehrungsvermögen) entsprechend auszurichten und entsprechend zu handeln: Ambulare in luce. Nimmt man dies – legitimiert durch die kontextuelle Nähe zu § 445 der Ethica, auf den Baumgarten in § 416 der Aesthetica verweist – als weitere Bestimmung der höchsten ästhetischen Großmut hinzu, so schließen sich Baumgartens Aussagen zum Ganzen: Die magnanimitas in aestheticis genere maxima, als innere Freiheit, sittliche Größe und Wollen des Guten, ermöglicht und ergänzt durch die innige Gewißheit hinsichtlich Gottes Wahl und Einrichtung der besten aller Welten, ist eine ‘Gemeinschaft mit dem Göttlichen’: Denn sie bedeutet – auch in ihrer als Handlungsform zu verstehenden produktiven Umsetzung in der Kunst – das ‘Wandeln’ im göttlichen Reich der Gnade.

III. Ingenium venustum, ubertas, magnitudo pectoris und magnanimitas in aesthetica maxima: Resümee und Ausblick Hatte Baumgarten als Maßgabe für das vom felix aestheticus in § 29 geforderte ingenium venustum in den Abschnitten zur ubertas aesthetica den Reichtum der Erkenntnis erarbeitet, der in seiner Überführung in die ‘abgerundete Kürze’ (brevitas rotunda) der ästhetischen Darstellung auf der Stufe der menschlichen Erkenntnisfähigkeit der von Gott als regnum naturae vollkommen, in Einheit und Mannigfaltigkeit eingerichteten Welt entsprechen sollte, so gipfelt die Behandlung des in § 45 geforderten temperamentum aestheticum in den Abschnitten zur magnitudo aesthetica in der höchsten ästhetischen Großmut, deren ästhetische Darstellung auf die sich nur in sittlicher Größe manifestie„[A]d mundi pneumatici denominationem adieci in parenthesi, regnum gratiae […]. Iam notum est, Leibnitium omnes spiritus dixisse regnum gratiae. Ergo adieci titulum“. – „[Z]ur ‘uneigentlichen Benennung’ der geistigen Welt [fügte ich] in Klammer: (Reich der Gnade) [bei] […]. Bekanntlich nannte Leibniz [das Kollektiv] aller Geistwesen das ‘Reich der Gnade’. Also fügte ich diese Überschrift bei“. Lateinisch und in deutscher Übersetzung zitiert nach: Alexander Gottlieb Baumgarten, Die Vorreden zur Metaphysik, hg., übers. und kommentiert von Ursula Niggli, Frankfurt am Main 1998, 42 f. 38 Vgl. auch Metaphysik, § 486. 37

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rende Zugehörigkeit des Menschen zu der von Gott als regnum gratiae eingerichteten Welt verweist, in der sich letztlich „alles […] für die Guten zum Besten wenden“ muß.39 Es scheint nicht abwegig, in Leibniz’ Unterscheidung und Verbindung des Reichs der Natur, das Gott als Baumeister gemäß seiner Erkenntnis in höchstmöglicher Einheit in Mannigfaltigkeit geschaffen hat, und des Reichs der Gnade, in dem Gott gemäß seinem Willen und als Monarch der vernunftbegabten und der Sittlichkeit fähigen Wesen alles nach dem Prinzip des Besten ins Werk setzt,40 das innere Strukturprinzip zu sehen, nach dem Baumgarten die ersten beiden großen Abschnitte seiner Aesthetica zur ubertas und zur magnitudo aesthetica – anknüpfend an die eingangs formulierten Anforderungen an den felix aestheticus – gliedert und aufeinander bezieht. Will man Leibniz als den „größten“ – und als einen der letzten – „christlichen Metaphysiker seit Augustin“ bezeichnen,41 so ist Baumgarten der erste, der diese ‘christliche Metaphysik’ in eine umfassende, ontologisch und psychologisch begründete ästhetische Theorie überführt, in der die in der sinnlichen Erscheinung des phaenomenon zutage tretende Schönheit nicht nur als Ausdruck der menschlichen Erkenntnis der in Gott gegründeten Vollkommenheit der Welt, sondern zugleich als Ausdruck des – im Zweifelsfall gegen gegebene historische, politische oder gesellschaftliche Normen gerichteten – freiheitlichen menschlichen Strebens nach der gottgewollten Verwirklichung des Besten erwiesen werden soll. Baumgartens Ästhetik kann, auch in der fragmentarisch gebliebenen Form der Aesthetica, als theoretische Explikation der in § 45 vom felix aestheticus geforderten „schöne[n] Erkenntnis“ mit deren „Zugabe, der liebenswerten Tugend“, als notwendige Voraussetzung der „höhere[n] Erkenntnis“ mit deren Zugabe, der „verehrungswürdigen Tugend“, verstanden werden – und es ist letztlich, mit Baumgarten, zu bedenken, „wie leicht von da aus der Übergang zum Größten sein mag“. Dieser Übergang zum Größten, der in nichts anderem als in der höchstmöglichen Annäherung der menschlichen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen an das Göttliche besteht, bildet als Finalgrund den Dreh- und Angelpunkt von Baumgartens philosophischer und so auch seiner ästhetischen Reflexion. Denn diese Annäherung beginnt bei der sinnlichen Erkenntnis der Vollkommenheit der Welt und bei der sinnlichen Gewißheit von ihrer Ausrichtung auf die Glückseligkeit derer, die sittlich gut und damit gottgefällig leben und handeln. Und vielleicht führt sie auch dorthin zurück. Dann wäre Baumgartens von Thomas Abbt und Moses Mendelssohn nur mit Unverständnis Leibniz, Monadologie (wie Anm. 11), Abschnitt 90, 620. Vgl. ebd., Abschnitte 48, 84–90. 41 So Hermann Glockner in seiner ‘Einführung’ zu: Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, neu übersetzt, eingeleitet und erläutert von Hermann Glockner, Stuttgart 1954, hier 9. 39 40

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kommentierter Unwille, sich auf dem Sterbebett noch mit weiteren systematischen Spekulationen über Sinn und Zweck des menschlichen Daseins zu beschäftigen,42 in einem etwas anderen Licht zu sehen. Der Beitrag vertritt die These, daß Baumgartens Aesthetica und Ethica sich insofern komplementär ergänzen, als der Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis auch in der Ethik, und umgekehrt der Vervollkommnung des Begehrungsvermögens und der Ausrichtung des Handelns auf das sittlich Gute auch in der Ästhetik jeweils eine tragende Rolle zukommt. Erarbeitet wird der Begriff der ‘ästhetischen Größe’ (magnitudo) und der ‘ästhetischen Seelengröße’ (magnanimitas) an den entsprechenden Abschnitten (XV–XXXVI, §§ 177–422) in der Aesthetica. Es kann hiermit paradigmatisch gezeigt werden, wie Baumgarten die Verbindung zwischen sinnlicher Erkenntnis, sittlich gutem Handeln, Gotteserkenntnis und Gottesebenbildlichkeit respektive Gottesgefolgschaft herstellt, die vielleicht nicht nur den gemeinsamen gedanklichen Horizont seiner Ästhetik und Ethik bildet, sondern für sein gesamtes Werk – und persönliches Leben – von maßgeblicher Bedeutung ist. Nach Georg Friedrich Meier äußerte Baumgarten an seinem letzten Lebenstag u.a.: „Hier hilft nicht der Philosoph, nicht der Theologe, der Glaube allein. Mein alter Glaube, auf den sterbe ich, ist demonstratio demonstrationum“ – „[M]ein Hertz ist ruhig in dem Blute JEsu. Dies ist mein Glaubensbekenntniß. Darauf will ich leben und sterben, so wahr mit GOtt helfe, Amen. Bey diesen Worten schlug er sich an die Brust, und wieß gen Himmel“ ([Georg Friedrich Meier], Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, beschrieben von Georg Friedrich Meier, Halle 1763, 28 f., hier 30). – Thomas Abbt berichtet: „[E]r verbannte itzt alle Gelehrsamkeit von seinem Bette […]; und doch verlangte er ein Buch, zum Versuche, ob er noch lesen könnte: ‘das heisst herunter gekommen’, rief er aus, nachdem er Mühe gehabt, eine Zeile im deutschen Gesangbuche zu lesen, ‘nun kann ich nicht mehr deutsch lesen’“ (Thomas Abbt, Leben und Charakter Alexander Gottlieb Baumgartens, in: Thomas Abbts weyl. Gräfl. Schaumburg-Lippischen Hof- und Regierungsraths vermischte Werke, vierter Theil welcher vermischte Aufsätze enthält, Frankfurt, Leipzig 1783, 213–244, hier 236). In einem Brief kommentiert Abbt dies mit Unverständnis: „Was ich von Baumgartens Tode halte? Kaum mag ichs sagen. Es ist hart, Sterbende, Todte zu beschuldigen. […] Aber, was soll das wunderbare Zeug: Nun kann ich nicht mehr lesen; das heisst: heruntergekommen! um gleichsam dadurch die Eitelkeit der menschlichen Gelehrsamkeit anzuzeigen; gerade als ob Schwäche in den Augen etwas beweise? Was soll das Kreuzschlagen in die Luft? […]. In Alex. Gottliebs Ethik kömmt auf allen Seiten der Einfluß der Kenntniß auf die Religion vor; wie kann er denn jene verachten?“ (ebd., 239). – Moses Mendelssohn gibt folgenden Satz wieder, den Baumgarten kurz vor seinem Tod geäußert haben soll: „‘Wer von den Wissenschaften mit mir spricht, ist mein Feind!’“ Mendelssohn schreibt hierzu an Thomas Abbt: „Dieser Ausdruck ist meines Erachtens auf keinerley Weise zu entschuldigen. Wenn die Vernunft nicht heilig genug ist, uns in der Todesstunde Gesellschaft zu leisten, […] warum warten wir so lange? […] Wenn ich wüßte, daß mir die Todesstunde eine solche Meynung von der Vernunft beybringen könnte, den Augenblick wollte ich den ganzen Plunder, Weltweisheit genannt, von mir werfen, und mich zum Tode bereiten“ (Thomas Abbt, Vermischte Werke, Berlin, Stettin 1770–1780, Bd. 3, 167; zitiert nach: Raimund Bezold, Baumgartens Tod, in: Peter-André Alt u.a. [Hg.], Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings, Würzburg 2002, 19–28, hier 19). 42

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The background of this contribution is the insight that Baumgartens Aesthetica (1750/58) and his Ethica (1st ed. 1740), on the basis of his Metaphysica (1st ed. 1739), insofar complement each other, as in his aesthetics the perfection of the appetitive faculty and the orientation of human acting towards the morally good, and, vice versa, in his ethics the perfection of the sensory faculty is of central importance. In her essay Dagmar Mirbach concentrates, on the basis of the introduction of her translation of the Aesthetica (2 vol., Hamburg 2007) on the first point, on Baumgartens concept of ‚aesthetic greatness’ (magnitudo aesthetica) and of ‚aesthetic magnanimity’ (magnanimitas aesthetica), following the central sections to this theme (sect. XV – XXXVI, §§ 177-422) in Baumgartens aesthetic mainwork. Here it can be shown paradigmatically, how Baumgarten draws the connection between sensory cognition, morally good acting, the knowledge of God and man’s belonging to God’s Reign of Grace. This connection does not only constitute the mutual horizon of Baumgarten’s aesthetics and ethics, but maybe also is of genuine relevance for his philosophical and theological work as a whole – and his personal life, too. Dr. Dagmar Mirbach, Philosophisches Seminar, Universität Tübingen, Bursagasse 1, D-72070 Tübingen, E-Mail: [email protected]

C L E M E N S S C H WAI G E R Baumgartens Ansatz einer philosophischen Ethikbegründung

I. Einleitung: Die wirkungsgeschichtliche Bedeutung Baumgartens als Leitautor von Kants Ethikvorlesungen Gibt es gute Gründe dafür, sich heute noch mit der Moralphilosophie von Alexander Gottlieb Baumgarten auseinanderzusetzen? Nicht der einzig mögliche, aber ein durchaus naheliegender und vernünftiger Grund ist die immense Wirkung, die Baumgartens Denken auf Immanuel Kants geistigen Werdegang gehabt hat.1 Wer immer sich wirklich ernsthaft mit Kants philosophischer Entwicklung beschäftigen möchte, für den führt an Baumgarten kein Weg vorbei. Denn es läßt sich ja kaum bestreiten, daß der Hallenser bzw. Frankfurter Philosoph für seinen Königsberger Kollegen der mit Abstand wichtigste Kompendienautor gewesen ist. Über Jahrzehnte hinweg hat Kant nicht allein die Ethik, sondern bekanntlich auch die Metaphysik am Leitfaden von Baumgarten (‘duce Baumgartenio’) gelesen. Nach einer Herderschen Vorlesungsnotiz von Anfang der sechziger Jahre soll Kant dessen Ethica philosophica sogar als „das Sachreichste, und vielleicht sein bestes Buch“2 gepriesen haben. Als ‘Magister legens’ hat Kant dieses 1740 erstmals publizierte Werk seinem Moralkolleg wohl von Anfang an zugrundegelegt; die Initia philosophiae practicae primae nahm er dann bald nach ihrem Erscheinen im Jahre 1760 ergänzend mit hinzu.3 Mit Was dagegen die Ästhetik betrifft, dürfte es problematischer sein, Baumgarten ohne weiteres in die auf Kant zulaufende Fluchtlinie zu stellen. Die Perspektive eines bloßen Wegbereiters Kants erschwert hier wohl eher die Wahrnehmung der eigentümlichen Bedeutung Baumgartens (vgl. Steffen W. Groß, Felix Aestheticus und Animal Symbolicum. Alexander G. Baumgarten – die „vierte Quelle“ der Philosophie Ernst Cassirers?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 [2001], 275–298, hier 280). 2 Praktische Philosophie Herder (AA, Bd. 27, 16 25–26). – Erläuterung zur Zitierweise: Kants Vorlesungsnachschriften und Nachlaßreflexionen werden mit Band-, Seiten- und Zeilenangabe nach der Akademieausgabe angeführt. Kants Druckschriften werden dagegen nach der Ausgabe von Wilhelm Weischedel (Werke in zehn Bänden, Darmstadt 1983) zitiert, und zwar unter Angabe der dort vermerkten Seiten der Originalausgaben: A bezeichnet die erste, B die zweite Auflage. 3 Vgl. dazu den Exkurs „Zweifelhaftes und Ungeklärtes bezüglich der frühen Ethikvorlesun1

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seiner ausgesprochenen Vorliebe für die Lehrbücher des als notorisch schwierig geltenden Autors stand Kant an der Königsberger Universität auffälligerweise ziemlich allein auf weiter Flur. Er hielt an dessen Kompendien selbst da noch zäh fest, als der philosophische Zeitgeist längst anderen Moden huldigte.4 Die Philosophiegeschichtsschreibung hat sich von Kants regelrechter Baumgarten-Fixiertheit freilich kaum sonderlich beeindrucken lassen. Bei Rekonstruktionsversuchen zur Entstehung der kritischen Ethik ist Baumgarten gewöhnlich der ‘Mann im Schatten’ geblieben. Dabei böte sich bei einer konsequenten Berücksichtigung von Kants ständigem Diskussionspartner die einmalige Chance, tiefere Einblicke in die Denkwerkstatt des großen Königsbergers zu bekommen. Weitaus verbreiteter ist indes ein unverhohlenes Desinteresse, wie es beispielsweise selbst ein hochangesehener Kant-Interpret wie Lewis White Beck zum Ausdruck bringt: Anders als die Studenten von einst bräuchten wir uns heute nicht mehr um Baumgarten zu kümmern; wir seien einzig und allein an Kant interessiert, nicht etwa daran, noch Baumgarten erklärt zu bekommen.5 Aber auch innerhalb der Baumgarten-Forschung ist es mit der Behandlung seiner praktischen Philosophie nicht etwa besser, sondern eher noch schlechter bestellt. Zwar wurde schon vor Jahrzehnten die Ansicht geäußert, daß „eine Studie über Baumgartens Ethik [...] dringend zu wünschen wäre“.6 Die Vernachlässigung dieses Werkteils habe viel dazu beigetragen, daß Baumgarten so oft mißverstanden worden sei.7 Aber trotz seit längerem vorliegender Nachdrucke ist dieses Feld noch weithin eine ‘terra incognita’. Bis in allerjüngste Zeit gab es nicht eine einzige speziell der Moralphilosophie gewidmete Untersuchung zu Baumgarten.8 gen und der dabei benutzten Handbücher“ in Clemens Schwaiger, Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie bis 1785, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung, 2/14), 34–38. 4 Diesbezüglich sehr aufschlußreich ist das Studium von Michael Oberhausen, Riccardo Pozzo (Hg.), Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg (1720–1804), 2 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1999 (Forschungen und Materialien zur Universitätsgeschichte, 1/1). 5 Vgl. Lewis White Beck, Foreword, in: Immanuel Kant, Lectures on Ethics. Translated by Louis Infield, Gloucester (Mass.) 21978 (ND der Ausg. London 1930), XI: Unlike his [= Kant’s] students, we need bother no more about Baumgarten; we are interested in Kant and in his subject matter, not in having Baumgarten explained to us. 6 Hans Georg Peters, Die Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens und ihre Beziehungen zum Ethischen, Berlin 1934 (Neue Deutsche Forschungen, Abteilung Philosophie, 3), 43. 7 Vgl. Heinz Schwitzke, Die Beziehungen zwischen Ästhetik und Metaphysik in der deutschen Philosophie vor Kant, Diss. Berlin 1930, 87. 8 Diesen Notstand habe ich bereits anderswo einmal ausdrücklich beklagt: vgl. Clemens Schwaiger, Ein „missing link“ auf dem Weg der Ethik von Wolff zu Kant. Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der praktischen Philosophie von Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), 247–261, hier 247–249.

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II. Baumgartens Ethikbegründung vor dem Hintergrund von Wolffs allgemeiner praktischer Philosophie und Köhlers Naturrecht Daß man Baumgartens Moraltheorie wie auch seine Rechtslehre als ungeliebte Stiefkinder bis zur Stunde sträflich vernachlässigt, kommt indes nicht von ungefähr. Ein massiver Überhang von Fragestellungen der theoretischen Philosophie läßt sich schon bei der Erforschung des Schulgründers Wolff selbst feststellen.9 Die wirklich innovativen Züge Baumgartens, dieses ‘stillen Revolutionärs’,10 erschließen sich aber nur durch ein geduldiges Studium der seinerzeitigen Schulphilosophie, d.h. in erster Linie von Baumgartens Leitautoren aus der wolffianischen Bewegung. Doch eine solche Art ‘philologischer Philosophie’ ist bekanntlich nicht jedermanns Sache. Als Baumgarten Mitte der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts sein Studium abschloß und seine Lehrtätigkeit aufnahm, waren Wolffs Metaphysik und Ethik immer noch offiziell verboten. Eine zweite, am Ende allerdings abgeschmetterte antiwolffianische Kampagne bedrängte gerade heftig seinen älteren Bruder Siegmund Jacob Baumgarten; dieser veröffentlichte ab 1736 eine Theologische Moral, die deutliche Spuren eines Wolffschen Einflusses aufweist.11 Alexander Gottlieb machte aus der Not der Hallensischen Verfolgung eine Tugend und suchte den Kontakt mit dem benachbarten Jena; dort hörte er unter anderem Vorlesungen des Leibnitio-Wolffianers Heinrich Köhler.12 Dessen neues, erfolgreiches Naturrechtslehrbuch, die 1729 erstmals erschienenen ExercitatioVgl. dazu den forschungsgeschichtlichen Überblick bei Clemens Schwaiger, Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung, 2/10), 20–26. 10 So eine glückliche Formel von Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Darmstadt 21975 (ND der Ausg. Halle 1923), 229. 11 Vgl. zu diesen Vorgängen am gründlichsten immer noch Martin Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Überganges zum Neuprotestantismus, Göttingen 1974 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 26), 40–50. – Das zunächst nur bogenweise herausgegebene Werk des älteren Baumgarten erschien dann 1738 erstmals vollständig unter dem Titel: Unterricht von dem rechtmäßigen Verhalten eines Christen, oder Theologische Moral, Halle 51756. Ein Vergleich mit der zwei Jahre später publizierten Ethica philosophica des jüngeren Bruders wäre vermutlich ein lohnendes Forschungsfeld und würde wohl gerade hinsichtlich der seinerzeitigen Verhältnisbestimmung von Moraltheologie und Moralphilosophie erhellende Aufschlüsse erwarten lassen. 12 Vgl. Georg Friedrich Meier, Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, Halle 1763, 12. – Die herausragende Ausstrahlung des Jenaer Frühwolffianismus betont mit Recht Günter Mühlpfordt, Radikaler Wolffianismus. Zur Differenzierung und Wirkung der Wolffschen Schule ab 1735, in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung, Hamburg 21986 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 4), 237–253, hier 250. 9

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nes juris naturalis, legte er sodann regelmäßig seiner eigenen Einführungsvorlesung in dieses Fach zugrunde. Von Köhler übernahm er die Gepflogenheit, bei der Behandlung des Naturrechts von den ersten Grundbegriffen und -prinzipien der praktischen Philosophie überhaupt auszugehen.13 Dadurch erhielt aber auch umgekehrt seine Ethikbegründung einen stärker juristischen Zuschnitt als das sonst gewöhnlich der Fall war. Für die philosophische Grundlegung nicht nur des Naturrechts, sondern aller praktischen Disziplinen insgesamt bürgerte sich damals die Bezeichnung ‘philosophia practica universalis’ ein, vor allem als Wolff Ende der dreißiger Jahre unter diesem Titel ein großes zweibändiges Werk veröffentlichte. Wolff konnte aufgrund seiner gleichnamigen Erstlingsschrift von 1703 den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, Erfinder und Begründer dieser neuen Fundamentaldisziplin zu sein.14 Baumgarten bevorzugt demgegenüber die Benennung ‘philosophia practica prima’,15 womit er unauffällig einen eigenen Akzent setzt. Denn mit dieser 13 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, De ordine in audiendis philosophicis per triennium academicum, Halle 1738, 17 f. (§ 17) und 20–22 (§ 22); Sciagraphia, Vorrede des Herausgebers, 32* (unpag.). – Die eingehende, aber keineswegs kritiklose Rezeption Köhlers durch Baumgarten hat neuerdings Alexander Aichele näher untersucht (vgl. A. A, Sive vox naturae sive vox rationis sive vox Dei? Die metaphysische Begründung des Naturrechtsprinzips bei Heinrich Köhler, mit einer abschließenden Bemerkung zu Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 [2004], 115–135; A. A., Die Ungewißheit des Gewissens. Alexander Gottlieb Baumgartens forensische Aufklärung der Aufklärungsethik, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 13 [2005], 3– 30). Für die philosophiehistorische Einordnung Köhlers im Spannungsfeld zwischen Leibniz und Wolff unverzichtbar ist die Detailstudie von Antonio Lamarra, Roberto Palaia, Pietro Pimpinella, Le prime traduzioni della ‘Monadologie’ di Leibniz (1720–1721). Introduzione storica-critica, sinossi dei testi, concordanze contrastive, Florenz 2001 (Lessico Intellettuale Europeo, 85). 14 Vgl. Clemens Schwaiger, Christian Wolffs ‘Philosophia practica universalis’. Zu ursprünglichem Gehalt und späterer Gestalt einer neuen Grundlagendisziplin, in: Luigi Cataldi Madonna (Hg.), Macht und Bescheidenheit der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Christian Wolffs. Gedenkband für Hans Werner Arndt, Hildesheim, Zürich, New York 2005 (Wolffiana, 1), 219–233. – Auch Baumgarten (vgl. Initia, VI, und Meier (vgl. Allgemeine practische Weltweisheit, Hildesheim u.a. 2006 [ND der Ausg. Halle 1764], 63 [§ 30] u.ö.) erkennen Wolffs Begründungsleistung auf diesem Gebiet an. Jedoch scheint Köhler auf die (in Wolffs Deutscher Ethik [wie unten Anm. 36] überraschenderweise nicht gebrauchte Disziplinenbezeichnung) noch verzichtet zu haben. – In der historischen Rückschau wird man Wolffs originelle Schöpfung freilich nicht isoliert betrachten, sondern in den Kontext ähnlich gelagerter frühneuzeitlicher Aufbrüche stellen. Vor allem Samuel Pufendorfs ‘Ethica universalis’ bzw. Lehre von den ‘entia moralia’ läßt sich als eine Art Vorläuferin von Wolffs ‘Philosophia practica universalis’ begreifen (vgl. Theo Kobusch, Pufendorfs Lehre vom moralischen Sein, in: Fiammetta Palladini, Gerald Hartung [Hg.], Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Werk und Einfluß eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren [1694–1994], Berlin 1996, 63–73, hier 66 f.). 15 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Scriptis quae moderator conflictus academici disputavit, Halle 1743, 9* (unpag.) (§ 5); A.G B., Scenographia iuris socialis primarii, Frankfurt an der Oder 1746, 2 (§ 2); Initia, § 6; Logik, § 7.

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kleinen Änderung zieht er eine unmittelbare Parallele zur theoretischen Philosophie: Wie die Metaphysik als ‘erste Philosophie’ den anderen philosophischen Fächern vorgeschaltet ist (und innerhalb ihrer die Ontologie den übrigen metaphysischen Teildisziplinen als Grundwissenschaft nochmals vorangeht), genauso soll die erste praktische Philosophie nun das Fundament zu den übrigen moralischen Disziplinen legen.16 Das kommt auch in der (gegenüber Wolff abgeänderten) Definition zum Ausdruck: Die erste praktische Philosophie sei diejenige erste Wissenschaft, welche die den übrigen praktischen Disziplinen eigentümlichen, ihnen zumeist gemeinsamen Grundsätze enthalte.17 Während Baumgarten für die Titelbezeichnung ‘philosophia practica prima’ eine gewisse Originalität beanspruchen kann, ist die Herstellung einer Analogie mit der Metaphysik im Wolffianismus der Zeit keineswegs ungewöhnlich, sondern durchaus geläufig. Die Idee einer Art ‘moralischen Metaphysik’ bahnt Kants späterer ‘Metaphysik der Sitten’ zumindest terminologisch den Weg, wenngleich dessen Vorhaben inhaltlich ganz anders gefüllt ist.18 Eine letzte, wichtige Feststellung im Zusammenhang dieser Überlegungen zur philosophischen Architektonik sei noch getroffen: Baumgarten hat seine erste praktische Philosophie (zumindest in Buchform) nie vollständig abgehandelt, sondern lediglich die Anfangsgründe (initia) dazu verfaßt. Die Titelgebung des Spätwerks von 1760 (Initia philosophiae practicae primae) entspringt nicht lediglich einem Anflug von Bescheidenheit, wie das bei Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 vielleicht der Fall ist. Vielmehr spiegelt sich darin eine schmerzliche Beschränkung wider, denn eigentlich war diese Wissenschaft konzeptionell viel umfassender angelegt. Neben der Lehre von der Verbindlichkeit, die faktisch allein ausgeführt wurde, hätte darin auch noch die Lehre von der Tugend, von der Glückseligkeit, ja sogar einer allgemeinen Menschenkenntnis Platz finden sollen.19 Die tatsächliche, nicht zuletzt von den Bedürfnissen der Juristenausbildung diktierte Begrenzung auf die Vgl. Beyfall, § 9; Initia, § 7. Vgl. Initia, § 6: Philosophia practica (universalis) prima est scientia prima reliquis disciplinis practicis propria, sed harum pluribus communia principia continens; Ius naturae, § 3; Sciagraphia, § 160. – Demgegenüber hebt Wolff mit seiner Begriffsbestimmung stärker auf den Praxiswert seiner Neuerfindung ab: Philosophia practica universalis est scientia affectiva practica dirigendi actiones liberas per regulas generalissimas (Philosophia practica universalis, methodo scientifica pertractata, Bd. 1 [1738], in: GW II.10, 2 [§ 3]). 18 Vgl. dazu Clemens Schwaiger, Die Anfänge des Projekts einer ‘Metaphysik der Sitten’. Zu den wolffianischen Wurzeln einer kantischen Schlüsselidee, in: Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann, Ralph Schumacher (Hg.), Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 2, Berlin, New York 2001, 52–58. 19 Vgl. zum Gesamtplan der allgemeinen praktischen Philosophie bei Baumgarten De ordine in audiendis philosophicis (wie Anm. 13), 21 (§ 22); Sciagraphia, §§ 161–163; Philosophia generalis, § 149. 16 17

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Obligationstheorie war im Blick auf die Rezeption durch Kant höchst folgenreich: Baumgarten hat mit dieser inhaltlichen Verarmung, die gegenüber Wolffs thematischer Weite förmlich ins Auge sticht, der Pflichtzentriertheit, Tugendvergessenheit und Glücksabstinenz der späteren Kantschen Ethik zwar ungewollt, aber doch entscheidend vorgearbeitet.

III. Baumgartens Theorie der Verbindlichkeit Schon Köhler hatte die Lehre von der Verpflichtung oder Verbindlichkeit – beide Ausdrücke seien hier synonym als Wiedergaben für das lateinische ‘obligatio’ verwendet – als für die gesamte Sphäre des Moralischen hochbedeutsam erklärt.20 Bei Baumgarten wird dieser Terminus nun zum Schlüsselbegriff bei der Definition sowohl der praktischen Philosophie im allgemeinen wie der Ethik im besonderen. Die praktische Philosophie sei die Wissenschaft der Verbindlichkeiten des Menschen, soweit diese ohne den Glauben erkannt werden könnten.21 Die Ethik sei die Wissenschaft der inneren Verpflichtungen eines Menschen im natürlichen Zustand.22 Mit diesen Begriffsbestimmungen erfolgt eine doppelte Abgrenzung: zur theologischen Moral einerseits, die auf glaubensmäßig geoffenbarten Pflichten beruht, und zum Naturrecht bzw. positiven Recht andererseits, die es laut Baumgarten jeweils mit äußerlich erzwingbaren Pflichten zu tun haben. Die Auffassung der praktischen Philosophie bzw. der philosophischen Ethik als Verpflichtungslehre versteht sich keineswegs von selbst, sondern hebt sich merklich ab von anderen geläufigen Auffassungen.23 Auch Wolff war bei seiner Definition der ‘philosophia practica’ bzw. der ‘ethica’ gänzlich ohne den Rückgriff auf den Verbindlichkeitsbegriff ausgekommen.24 Vgl. Heinrich Köhler, Exercitationes juris naturalis, eiusque cumprimis cogentis, methodo systematica propositi, Jena 21732 (11729), § CXXXII und § 300. Nach dieser verbesserten und vermehrten Auflage, die von Baumgarten (jedenfalls anfangs) benutzt worden sein dürfte, wird hier zitiert. Eine erst posthum erschienene Neuauflage von 1738 liegt inzwischen als Nachdruck vor (GW III.86). 21 Vgl. Initia, § 1: philosophia [...] practica est scientia obligationum hominis sine fide cognoscendarum; siehe auch Scenographia iuris (wie Anm. 15), 2 (§ 2); Ius naturae, § 2. 22 Vgl. Ethik, § 1: Ethica [...] est scientia obligationum hominis internarum in statu naturali; A.G. B., De ordine in audiendis philosophicis (wie Anm. 13), 17 (§ 17); A.G. B., De vi et efficacia ethices philosophicae, Frankfurt an der Oder 1741, 3 (§ 1); A.G. B., De fidei in philosophia utilitate, Frankfurt an der Oder 1750, 23 (§ 29). 23 Vgl. Baumgarten, De vi et efficacia ethices philosophicae (wie Anm. 22), 4 (§ 1); Georg Friedrich Meier, Philosophische Sittenlehre, Bd. 1, Halle 21762 (11753), 10 (§ 5). 24 Vgl. Christian Wolff, Discursus praeliminaris de philosophia in genere 31740 (11728), in: GW II.1, 31 (§ 62): philosophia practica [est] scientia dirigendi facultatem appetitivam in eligen20

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Baumgarten verstärkt aber nicht nur das Gewicht des Obligationsbegriffs, er bearbeitet diesen gegenüber seinen unmittelbaren Vorgängern zudem noch einmal neu. Köhler hatte sich diesbezüglich ausdrücklich auf Wolff berufen und dessen Definition schlicht übernommen. Eine Verbindlichkeit bestehe in der Verknüpfung eines (vernünftigen) Beweggrundes mit einer Handlung.25 Baumgarten behält zwar die Grundidee dieser Begriffsbestimmung bei, aber er wandelt sie doch in wesentlichen Momenten ab. Mögliche Bewegursachen sind ihm zufolge nicht nur rationale Motive, sondern – im Einklang mit seiner generellen Aufwertung menschlicher Sinnlichkeit – auch sinnliche Antriebe. Zudem könne von einer Verbindlichkeit nur dann die Rede sein, wenn diese bewegenden Ursachen stärker und mächtiger seien, so daß sie auch gegenteilige Triebfedern überwögen. So gelangt Baumgarten zu folgender modifizierter Bestimmung: Die Verbindlichkeit könne als die Verknüpfung von stärkeren Antriebsursachen mit der freien Bestimmung einer Handlung definiert werden.26 Baumgarten ist auch sonst darauf bedacht, den verpflichtenden Charakter praktischer Normen sprachlich nuanciert zu artikulieren. So setzt er die Verbindlichkeit geradezu mit moralischer Nötigung gleich, nicht nur, wie Wolff und die Tradition vor ihm, bloß mit moralischer Notwendigkeit.27 Ferner dürfte es kaum zufällig sein, daß er den Terminus ‘Imperativ’ als wohl erster Autor überhaupt in einem spezifisch moralischen Sinne verwendet, nicht mehr bloß als grammatikalischen Fachausdruck. Imperative in den praktischen Disziplinen sagten aus, daß ein Mensch zu etwas verpflichtet sei.28 Trotz dieser subtilen Sprachbemühungen bleibt, zumindest von einer Kantschen Warte aus gesehen, bei Baumgarten, wie schon bei Wolff, ein absolut fundamentales Manko do bono & fugiendo malo; ebd., 31 (§ 64): Ethicam definimus per scientiam dirigendi actiones liberas in statu naturali; C. W., Philosophia moralis sive ethica, methodo scientifica pertractata, Bd. 1 (1750), in: GW II.12, 1 (§ 1). 25 Vgl. Wolff, Philosophia practica universalis, Bd. 1 (wie Anm. 17), 103 (§ 118): Connexio [...] motivi cum actione [...] obligatio activa appellatur; Köhler, Exercitationes juris naturalis (wie Anm. 20), § 300: Obligatio moralis in genere est connexio motivorum cum actionibus. 26 Vgl. Initia, § 15: Obligatio [...] potest definiri per connexionem [...] caussarum impulsivarum potiorum cum libera determinatione; Ius naturae, § 7. – Für eine ausgiebigere Analyse dieser zunächst unscheinbaren, aber gewichtigen Transformationsprozesse im Kontext der frühneuzeitlichen Obligationsdebatte sei verwiesen auf Clemens Schwaiger, La teoria dell’obbligazione in Wolff, Baumgarten e nel primo Kant, in: Giuseppe Cacciatore u.a. (Hg.), La filosofia pratica tra metafisica e antropologia nell’età di Wolff e Vico. Atti del Convegno Internazionale Napoli, 2–5 aprile 1997, Neapel 1999 (Studi Vichiani, 29), 323–340 (eine englische Übersetzung dieses Beitrags erscheint demnächst in dem Sammelband Karl Ameriks, Otfried Höffe [Hg.], Kant’s Moral and Legal Philosophy). 27 Vgl. MetaphysikB, § 723: Necessitatio moralis est obligatio; Wolff, Philosophia practica universalis, Bd. 1 (wie Anm. 17), 103 (§ 118): Necessitas moralis agendi vel non agendi dicitur obligatio passiva. 28 Vgl. Initia, § 39: Imperativi in disciplinis practicis significant, hominem obligari.

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bestehen. Praktische Obligation wird zu einer reinen Frage psychologischer Motivation, das spezifisch Normative moralischer Verbindlichkeit wird nicht eigentlich erfaßt.29 Im Gegenzug dazu sieht sich Kant später veranlaßt, zwischen mehreren Grundtypen praktischer Nötigung bzw. Imperative systematisch zu unterscheiden. Sein berühmtes Lehrstück von den Imperativen ist nicht zuletzt ein großangelegter Gegenentwurf zu Baumgartens monolithischer Praxistheorie. Immerhin wird Baumgarten aufgrund seiner durchgängigen Psychologisierung der Obligationslehre sensibel gegenüber sogenannten falschen, d.h. in Wahrheit gar nicht bestehenden Verpflichtungen. Eine solche ‘obligatio falsa’ liegt etwa vor, wenn Beweggründe entweder fingiert sind oder sich als nicht stark genug erweisen.30 Baumgarten und in seinem Gefolge dann auch Meier brandmarken Ethiken, die auf derartigen irrigen Verpflichtungen beruhen, expressis verbis als trügerisch oder chimärisch.31 Insbesondere dürfe man niemanden zu Handlungen verpflichten, die schlechterdings unmöglich seien oder die natürlichen Kräfte des Menschen überstiegen. Baumgarten macht sich in diesem Zusammenhang den alten Rechtsgrundsatz zu eigen: „impossibilium nulla est obligatio“.32 Die Einsicht, daß man zu Unmöglichem nicht verpflichtet sein könne, soll die Gefahr moralischer Überforderung vermeiden helfen. Die Versuchung, daß man von falschen Idealen ausgehend moralische Luftschlösser errichtet, sieht Baumgarten wohl vor allem in bestimmten religiösen Ethiken gegeben. Zumindest polemisiert sein Schüler Meier in diesem Zusammenhang gegen manche schwärmerische Moralisten, die beispielsweise Vgl. zu dieser Kritik auch Dieter Hüning, Christian Wolffs „allgemeine Regel der menschlichen Handlungen“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), 91–113, hier 102; D. H., Christian Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen Psychologie und Moralphilosophie, in: Oliver-Pierre Rudolph, Jean-François Goubet (Hg.), Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen, Tübingen 2004 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 22), 143–167, hier 146 und 158. 30 Vgl. Initia, § 27. – Der Begriff der ‘obligatio falsa’ dürfte Köhler abgeborgt sein (vgl. Exercitationes juris naturalis [wie Anm. 20], § 304), während er, soweit ich sehe, bei Wolff noch keine Rolle spielt. 31 Vgl. Ethik, § 7: Ethica obligationum erronearum deceptrix est (chimaerica); A.G. B., De vi et efficacia ethices philosophicae (wie Anm. 22), 34 (§ 38); Meier, Philosophische Sittenlehre, Bd. 1 (wie Anm. 23), 49–52 (§ 24). – Die Polemik gegen die ‘ethica deceptrix’ bildet die Spitze einer umfassenderen, offenbar erst von Baumgarten selbst entwickelten Typologie defizitärer Ethikformen (vgl. Ethik, §§ 4–7). Zur geschichtlichen Kontextualisierung der hier bekämpften Fehlformen sind die parallelen Ausführungen bei Meier (Philosophische Sittenlehre, Bd. 1 [wie Anm. 23], 35–52 [§§ 19–24]) ausgesprochen hilfreich. 32 Initia, § 11; vgl. ebd., § 43; Briefe, 3. Schreiben, 9; Ius naturae, § 11. – Das zitierte Rechtsaxiom, das für die Zurechnungslehre grundlegende Bedeutung hat, wird ebenfalls schon von Köhler in diesem Zusammenhang angeführt (vgl. Exercitationes juris naturalis [wie Anm. 20], § 306). 29

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verlangten, daß man Gott ganz allein lieben und die Liebe zu den Kreaturen und zu sich selbst gänzlich vertilgen solle.33 Bei aller Kritik an überzogenen Moralforderungen ist Baumgarten dennoch genausoweit von einem moralischen Laxismus entfernt. Man müsse sich ebensosehr davor hüten, daß man nicht moralisch Schwieriges für moralisch unmöglich halte.34 Der erste Grundsatz der praktischen Philosophie formuliert denn auch als die moralische Grundverpflichtung schlechthin, daß alle Kräfte aufzubieten seien im unablässigen Streben nach einem Mehr an Vollkommenheit.

IV. Baumgartens Imperativ der Vervollkommnung Seinen obersten Moralgrundsatz verdankt Baumgarten nach eigenem Bekunden, wie vor ihm schon Köhler, niemand anderem als dem Schulhaupt Christian Wolff. Doch nimmt er dabei für sich in Anspruch, die gesamte Vollkommenheitsproblematik erneut gedanklich durchdrungen zu haben.35 Während Wolff sein höchstes Moralprinzip vergleichsweise langatmig formuliert, verdichtet es Baumgarten zu einem konzisen, einprägsamen Imperativ. So lautet Wolffs ‘Gesetz der Natur’ in der sogenannten Deutschen Ethik noch folgendermaßen: „Thue was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener machet; unterlaß, was ihn unvollkommener machet“.36 Baumgarten schreibt lakonisch kurz: „perfice te“ bzw. „quaere perfectionem“, und zwar „quantum potes“;37 zu deutsch: „Vervollkommne dich“ bzw. „Suche die Vollkommenheit, so viel du kannst“. Der neu hinzugefügte Appendix „quantum potes“, der auch Vgl. Meier, Philosophische Sittenlehre, Bd. 1 (wie Anm. 23), 53 f. (§ 25). Vgl. Ius naturae, § 85. 35 Vgl. Ethik, Vorrede zur ersten Auflage (AA; Bd. 27, 737 27–29): Principium primum, ut decet, restrictum et intellectum, acceptum illustri Wolfio fero, cui quantum in philosophando debeam; MetaphysikB, Vorrede zur zweiten Auflage, XXII–XXIV (AA, Bd. 27, 1018–1112); Köhler, Exercitationes juris naturalis (wie Anm. 20), § 340. – Zu diesem Punkt s. ausführlicher Clemens Schwaiger, Vollkommenheit als Moralprinzip bei Wolff, Baumgarten und Kant, in: Michael Oberhausen (Hg.), Vernunftkritik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, 317–328. 36 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit [= Deutsche Ethik] 41733 (11720), in: GW I.4, 12 (§ 12) (im Original hervorgehoben); vgl. C. W., Philosophia practica universalis, Bd. 1 (wie Anm. 17), 126 (§ 152): Lex naturalis nos obligat ad committendas actiones, quae per se ad perfectionem nostram statusque nostri tendunt, & ad omittendas actiones, quae per se ad imperfectionem nostram statusque nostri tendunt. 37 Ethik, § 10; Initia, § 43 (im Original teils hervorgehoben); siehe auch Ius naturae, § 30. – Etwas kürzer angebunden als Wolff, aber immer noch etwas umständlicher als Baumgarten ist die Köhlersche Formulierung: Vive convenienter perfectionibus tuis [...] & aliorum (Exercitationes juris naturalis [wie Anm. 20], § 704). 33 34

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den sonstigen Moralgrundsätzen Baumgartens regelmäßig angehängt ist,38 soll wiederum die Begrenzung auf das jeweils Mögliche zum Ausdruck bringen. Baumgarten konnte und wollte es freilich nicht dabei bewenden lassen, lediglich eine komprimiertere Kurzformel der Wolffschen Vollkommenheitsforderung vorzuschlagen. Denn schon Wolff sah sich mit seiner interpretationsbedürftigen Problemformel dem Verdacht ausgesetzt, hier werde die Moral in eine schändliche Eigennützigkeit verwandelt. Seine pietistischen Gegner, darunter vor allem sein großer Widersacher Joachim Lange, erhoben den Einwand, letztlich sei dabei nur die Vervollkommnung des Handelnden selbst im Blick.39 Schon Köhler hatte, um diesen Vorwurf zu entkräften, die unauflösliche Zusammengehörigkeit von Selbst- und Fremdvervollkommnung betont und daraus einen Beweis für die Notwendigkeit der Vervollkommnung anderer zu entwikkeln versucht.40 Diese Überlegungen weiterführend unterscheidet Baumgarten begrifflich eine zweifache Weise der Vervollkommnung: Der Grund der Vollkommenheit könne nämlich entweder in einem selbst liegen oder aber irgendwo außerhalb. Im ersteren Falle mache man sich als Zweck vollkommen, im letzteren Fall als ein Mittel zur Vollkommenheit anderer. Wenn man sich umfassend und nicht nur halb vervollkommnen wolle, müsse man die Vollkommenheit als Zweck für einen selbst und zugleich als Mittel für andere suchen.41

V. Baumgartens Theorie rechter Selbstliebe oder: die Erfindung des moralischen Egoismus Mit dem Insistieren auf einem doppelten Imperativ der Vervollkommnung war gewiß nur ein Anfang gemacht, um der ja gar nicht so unplausibel erscheinenden Anschuldigung zu begegnen, daß die Ausrichtung an der eigenen VollVgl. Ethik, § 10; Initia, § 46 und § 48. Vgl. Joachim Lange, Bescheidene und ausführliche Entdeckung der falschen und schädlichen Philosophie in dem Wolffianischen Systemate Metaphysico von Gott, der Welt, und dem Menschen (1724), in: GW III.56, 367–369; J. L., Nova anatome, seu idea analytica systematis metaphysici Wolfiani (1726), in GW III.30, 151; J. L., Philosophische Fragen aus der neuen mechanischen Morale (1734), in: GW III.50, 19: „das Principium dieser neuen Sitten-Lehre stellet unter dem Namen der Vollkommenheit eigentlich nichts anders vor, als die verkehrte Eigenliebe, und den Eigennutzen“. 40 Vgl. besonders Köhler, Exercitationes juris naturalis (wie Anm. 20), §§ 699 f. 41 Vgl. Ethik, § 10; Initia, § 43. – Daß die Unterscheidung zwischen der Vervollkommnung als Zweck einerseits und der als Mittel andererseits als Replik auf gegen Wolff gerichtete Eigennutzvorwürfe zu lesen ist, erhellt unmißverständlich aus Meiers breiterer Erörterung dieser doppelten Vollkommenheit (vgl. G.F. M., Philosophische Sittenlehre, Bd. 1 [wie Anm. 23], 71 f. [§ 32]; G.F. M., Philosophische Sittenlehre, Bd. 2, Halle 21762, 640 f. [§ 504]; G.F. M., Allgemeine practische Weltweisheit [wie Anm. 14], 222–224 [§ 105] und 403–405 [§ 200]). 38 39

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kommenheit des Handelnden letztlich einer selbstbezogenen, eigennützigen Moralauffassung den Weg bereite. So sucht Baumgarten über die genannte Unterscheidung hinaus der von pietistischer Seite erhobenen Anklage dadurch den Boden zu entziehen, daß er im Rahmen seiner konkreten Pflichtenlehre eine differenzierte Theorie der Selbstliebe entwickelt. An dieser Schlüsselthematik läßt sich exemplarisch aufzeigen, daß Baumgarten kein gedankenloser Nachbeter Wolffs gewesen ist, sondern gewissermaßen an die Spitze der Kreativabteilung des Wolffianismus gehört. Denn bei Wolff war dieser ganze Problembereich strukturell unterbelichtet geblieben. Insofern Wolff die Liebe im Anschluß an Leibniz von vornherein auf das Glück des anderen gerichtet verstand, kam die Frage nach der Berechtigung und den Grenzen der Liebe zu sich selbst kaum ausreichend in den Blick. Liebe sei die „Bereitschaft aus eines andern Glück ein merckliches Vergnügen zu schöpfen“.42 Demgegenüber versteht Baumgarten den Begriff in einem erweiterten, nicht mehr ausschließlich altrozentrischen Sinne: Liebe sei die Freude über die Vollkommenheit von irgendetwas, sei es einer Sache oder einer Person.43 Auf dieser verbreiterten begrifflichen Basis läßt sich denn auch zwanglos von einer Selbst- oder Eigenliebe sprechen, wenn man sich nämlich an den eigenen Vollkommenheiten erfreut und die eigenen Unvollkommenheiten verabscheut.44 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, 111751 (11720), in: GW I.2, 276 (§ 449); vgl. C. W., Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata 21738 (11732), in: GW II.5, 476 (§ 633): Amor est dispositio animae ad percipiendam voluptatem ex alterius felicitate; siehe auch ebd., 486 f. (§ 649). – Wolff schließt sich damit im Kern der Leibnizschen Begriffsbestimmung in der Vorrede zum Codex iuris gentium diplomaticus von 1693 an: Amare [...] sive diligere est felicitate alterius delectari (Leibniz, PhS, Bd. 3, 387). Zum Entstehungshintergrund dieser berühmten Definitionsformel vgl. Hubertus Busche, Die innere Logik der Liebe in Leibnizens ‘Elementa Juris Naturalis’, in: Studia leibnitiana 23 (1991), 170–184; Thomas Leinkauf, Der Platz des anderen. Überlegungen zu Liebe, Glück, Leben bei Leibniz, in: Jean-Marc Narbonne, Alfons Reckermann (Hg.), Pensées de l’«Un» dans l’histoire de la philosophie. Études en hommage au professeur Werner Beierwaltes, Paris – Saint-Nicolas 2004, 275–301. 43 Vgl. MetaphysikB § 684: Gaudium ex alicuius perfectione est amor. – Eine gewisse Mittelstellung nimmt Köhlers Begriffsbestimmung ein: Amor est dispositio capiendi voluptatem ex alicujus felicitate (Exercitationes juris naturalis [wie Anm. 20], § 689). Die Ersetzung des ‘alterius’ durch ‘alicujus’ macht eine selbstbezogene Anwendung möglich, doch die Beibehaltung der ‘felicitas’ statt der Baumgartenschen ‘perfectio’ impliziert nach wie vor stets einen Personenbezug. 44 Vgl. Ethik, § 191: gaude perfectionibus tuis aversatus imperfectiones tuas [...] sensitiva et rationali heautophilia (philautia) amore tui ipsius. Ähnlich schon Köhler, Exercitationes juris naturalis (wie Anm. 20), § 697: voluptas hausta ex felicitate nostra dicitur amor nostri seu philautia. Bei Wolff dagegen fehlt sowohl in der Deutschen Ethik wie in der Psychologia empirica eine definitorische Bestimmung der Selbstliebe. Erst der alte, wieder nach Halle zurückgekehrte Wolff hat versucht, das Versäumte noch nachzuholen (vgl. C. W., Jus naturae, Bd. 1, Frankfurt am Main, Leipzig 1740, 396 [§ 606]; C. W., Philosophia moralis sive ethica, methodo scientifica pertractata, 42

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Um dem pietistischen Vorwurf den Stachel zu ziehen, unterscheidet Baumgarten nun allerdings sogleich zwischen wohlgeordneter und unordentlicher Selbstliebe. Erstere sei den allgemeinen Gesetzen unserer Vollkommenheit gemäß, letztere diesen zuwider. Die Selbstliebe dürfe nicht blind, sondern müsse gewissermaßen sehend sein, d.h. auf einer gerechten Schätzung seiner selbst beruhen.45 Wer dagegen eine übersteigerte, die Liebe zu Gott gar übertreffende Anhänglichkeit zu sich selbst beweise, vergötze sich selbst und mache sich einer abgöttischen Eigenliebe schuldig.46 Mit der scharfen Rede von einer ‘philautia idololatrica’, bei der es sich möglicherweise um eine von ihm neugeprägte Wortverbindung handelt, reagiert Baumgarten vermutlich auf die bereits erwähnte Attacke von Joachim Lange, derzufolge das Wolffsche Vollkommenheitsprinzip den Menschen zu Abgötterei und Selbstvergötzung verleiten soll.47 Das beanstandete Stichwort wird aufgegriffen, aber gleichzeitig wird durch dessen Einverleibung in das eigene Begriffssystem die dahinterstehende Anklage entschärft. Während diese Redensart mehr oder minder ein situationsbedingter Einfall geblieben ist, war eine damit verwandte Sprachschöpfung ungleich erfolgreicher. Um eine übertriebene Eigennützigkeit als unmoralisch zu verurteilen, spricht Baumgarten nämlich als mutmaßlich erster Autor in der Geschichte der Philosophie überhaupt von einem ‘moralischen Egoismus’.48 Zwar hatte die Bd. 4 (1752), in: GW II.15, 65 [§ 51]), doch kann diese Spätentwicklung im vorliegenden Zusammenhang außer Betracht bleiben. 45 Vgl. Ethik, § 194: Philautia ordinata est legibus perfectionis nostrae communibus conformis, iisdem disconveniens inordinata est. [...] Amor iustum amati aestimium sequens est oculatus illud non sequens, coecus est. Die Unterscheidung von blinder und sehender (Selbst-)Liebe ist schon bei Köhler, Exercitationes iuris naturalis (wie Anm. 20), § 698 vorgebildet. – Mit unverkennbar antipietistischer Stoßrichtung betont auch Meier, daß die Selbstliebe nicht zwangsläufig „eine unordentliche und ausschweifende Neigung zu sich selbst“ bedeute (Philosophische Sittenlehre, Bd. 2 [wie Anm. 41], 632 [§ 501]), sondern man eine ordentliche von einer unordentlichen Eigenliebe unterscheiden müsse (vgl. ebd., 636 [§ 502]). 46 Vgl. Ethik, §§ 81 und 195. 47 Vgl. Lange, Philosophische Fragen (wie Anm. 39), 19. 48 Vgl. Ethik, § 300: Da operam honestati internae [...], in officiis erga te ipsum observans mediocritatem [...], vitans excessus in te, ut fine perficiendo, cum habitu excedendi s. egoismo morali; siehe auch Georg Friedrich Meier, Philosophische Sittenlehre, Bd. 3, Halle 21764, 683 f. (§ 772). – Ken Aso u.a. (Hg.), Onomasticon philosophicum latinoteutonicum et teutonicolatinum, Tokio 1989, 115, führen die genannte Baumgartenstelle als Erstbeleg an. Ein noch erheblich stärkeres Indiz für die Neuheit der Wortverbindung liefert die Dissertation von Johann Gustav Wilhelm Hesse, De egoismo morali, Halle 1757, da der Verfasser ausdrücklich bekennt: Quod ad terminum compositum [= egoismus moralis] attinet, illum me legere non memini, nisi in Celeb. Baumgartenii Ethica (27 [§ 17, Schol. 1]). Hesse verteidigt die Verwendung des noch ungewohnt und fremd klingenden Neologismus mit der Begründung, daß dieser durchaus geeignet sei, die gemeinte Fehlhaltung knapp und klar zu bezeichnen (vgl. ebd., 28 [§ 17, Schol. 2]). – Bereits in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts wird der Vorwurf des ‘Egoismus moralis’ dann zu

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Rede vom ‘Egoismus’ (bzw. von den ‘Egoisten’) insbesondere durch Wolff schon eine Weile Eingang in die philosophische Begriffssprache des 18. Jahrhunderts gefunden. Aber Wolff bezeichnete damit noch strikt eine radikale erkenntnistheoretische Position, die man heute Solipsismus nennen würde, nämlich die Leugnung der Existenz einer vom Bewußtsein unabhängigen Außen- und Mitwelt.49 Nun ist es aber fraglich, ob eine so extreme, an Pathologie grenzende Auffassung je ernsthaft von einem Denker als eigene Überzeugung vertreten worden ist. Um dem Begriff dennoch einen faßbaren Gehalt zu geben, lag es daher nahe, von der Deutung als rein theoretischer Denkmöglichkeit zu der als lebenspraktischer Haltung überzugehen.50 Der sogenannte moralische Egoist ist dann jemand, der in seinem Tun und Handeln nur um sich selber kreist und kein ‘alter ego’ anerkennt. Kant hat diese praktisch-ethische Bedeutung des Egoismusbegriffs bei seiner Baumgarten-Kommentierung kennengelernt und schlicht und einfach in seine eigene Begriffssystematik übernommen. Ein moralischer Egoist sei der, welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränke und keinen Nutzen worin sehe als in dem, was ihm persönlich nütze.51 Dieser Kantsche Wortgebrauch hat sich im weiteren und bis zur Gegenwart als der alleinige durchgesetzt. Komplett vergessen hat man darüber Baumgarten als den eigentlichen Urheber dieser Begriffsverwendung. Der einschlägige Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie erweckt den Eindruck, als beginne die Karriere des moralischen Egoismus als Terminus technicus mit Kant.52 Es steht zu befürchten, daß es sich hier nur um ein besonders eindrucksvolles, aber wohl kaum das einzige Beispiel für die Baumgarten-Blindheit bisheriger begriffsgeschichtlicher Forschung handelt. Den nächsten schlagenden Beleg dafür liefert nämlich gleich der mit dem Egoismusbegriff auf intrikate Weise verknüpfte, eben schon erwähnte Begriff des Solipsismus. Dieser Terminus gewinnt erst im 19. Jahrhundert seine heutieinem Kampfbegriff, um mißliebige Ethikansätze zu brandmarken (so in einer anonymen Attacke auf die Universaljurisprudenz von Joachim Georg Darjes [vgl. Widerlegung zwey der heutigen größten philosophischen Geister in den ersten Gründen und Hauptbegriffen der edelsten Wissenschaften, Frankfurt – Leipzig 1764, 6 und 11]). 49 Vgl. Wilhelm Halbfaß, Descartes’ Frage nach der Existenz der Welt. Untersuchungen über die cartesianische Denkpraxis und Metaphysik, Meisenheim am Glan 1968 (Monographien zur philosophischen Forschung, 51), 200–227. – Diese ursprüngliche gnoseologische Bedeutung des Begriffs ist auch Baumgarten noch vertraut (vgl. MetaphysikB, § 392). 50 Vgl. Hesse, De egoismo morali (wie Anm. 48), 27 f. (§ 17, Schol. 1), der als analoges Beispiel für einen doppelsinnigen, d.h. spekulativen wie existenziellen Begriffsgebrauch die Unterscheidung zwischen einem theoretischen und einem praktischen Atheismus anführt. 51 Vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, BA 8 (§ 2); siehe auch Praktische Philosophie Herder (AA, Bd. 27, 5320–22); Moralphilosophie Collins (AA, Bd. 27, 35929–30). 52 Vgl. Hans Reiner, Wilhelm Halbfaß, Art. Egoismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 310–314.

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ge erkenntnistheoretische Bedeutung, wonach er für die zugespitzte These steht, daß nur das Ich wahrhaft existieren, alles übrige aber bloße Vorstellung des Ichs sein soll. Im 18. Jahrhundert, etwa bei Kant, meint er dagegen soviel wie Selbstsucht.53 Kurioserweise haben sich also die jeweiligen Begriffsinhalte der beiden Termini ‘Solipsismus’ und ‘Egoismus’ im Laufe von gut 200 Jahren geradezu vertauscht. Wieder aber ist, anders als das Historische Wörterbuch der Philosophie insinuiert, nicht erst Kant der maßgebliche Erfinder des moralischen Solipsismus,54 sondern bereits Baumgarten. Letzterer bekämpft unter dem Stichwort ‘solipsismus moralis’ eine Selbstliebe, die ausschließlich auf den eigenen Nutzen bedacht ist und andere Handlungsziele nicht zur Geltung kommen läßt.55 Mit dieser Solipsismuskritik ist Baumgarten einmal mehr Kants unmittelbare Quelle gewesen; das beweisen erneut schriftliche Zeugnisse, die sich von Kants Vorlesungstätigkeit bzw. aus seinem handschriftlichen Nachlaß erhalten haben.56

VI. Das Verhältnis von Moral und Religion: Ausgewählte Beispiele für Baumgartens pietistische Prägung Neben dem exemplarischen Aufweis der wirkungsgeschichtlichen Bedeutung von Kants Kompendienautor sollte im vorstehenden auch gezeigt werden, daß Baumgartens auffällige Sensibilität für die Problematik rechter Selbstliebe nicht zuletzt durch theologische Angriffe geschärft worden ist. Vor allem der pietistische Kontext kann in seiner Tragweite für die konkrete Ausgestaltung von Baumgartens Ethik kaum überschätzt werden.57 Zwar wollte Baumgarten den Offenbarungsglauben aus der praktischen Philosophie, wie vorhin gesehen, per definitionem ausgeklammert wissen. Er verbat sich vehement eine Einmischung christlicher Theologie in den angestammten Bereich philosophischer Moral. Es wäre aber gänzlich verfehlt, aus dieser Tatsache ableiten zu wollen, Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, A 129. Vgl. Hans-Jürgen Fuchs, Art. Egotismus, Egoismus, Egomismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 315–317; Gottfried Gabriel, Art. Solipsismus, in: ebd., Bd. 9, 1018– 1023. 55 Vgl. Ethik, § 195; siehe auch Ius naturae, § 31. 56 Vgl. z.B. Moralphilosophie Collins (AA, Bd. 27, 359 –360 ); siehe auch Bemerkungen zu 39 1 den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (AA, Bd. 20, 1454 und 1691–3). 57 Das ist in der Forschung zwar schon gelegentlich bemerkt, aber kaum je näher untersucht worden; vgl. z.B. Bernhard Poppe, Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens, Borna, Leipzig 1907, 32: „In der Ethik Baumgartens zeigt sich gerade eine starke Beeinflussung der [sic!] pietistischen Strömungen“. 53 54

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daß die Religion als solche für seine Moralauffassung belanglos gewesen sei; das gerade Gegenteil ist der Fall. Im Vergleich zu Wolff und Köhler verstärkt Baumgarten in vielfacher Weise die explizit wie implizit religiösen Momente im sittlichen Handeln. Das schlägt sich bereits in der ethischen Systematik nieder. In einer stillschweigenden Vertauschung der Wolffschen Reihenfolge werden die Pflichten gegen Gott wieder den Pflichten gegen sich selbst und den Pflichten gegen andere vorgeordnet.58 Grund dafür ist für Baumgarten nicht so sehr ihr höheres Gewicht, denn die ranghöchsten Pflichten könnten ebensosehr den krönenden Abschluß des Moralgebäudes bilden. Vielmehr werden die Pflichten gegen Gott deshalb vorangeschickt, weil sie die Ausübung der übrigen Pflichten gewissermaßen als deren Bandverstärker erleichtern sollen.59 Die buchstäblich erste Verpflichtung ist dabei die zur Religion, worunter Baumgarten die Verherrlichung von Gottes Ehre versteht. Geradezu refrainartig enden die ersten Paragraphen der Pflichtenlehre der Ethica immer mit der Schlußfolgerung, daß man zur Religion verpflichtet sei. Letztere wird als unabdingbares Medium der menschlichen Vervollkommnung begriffen.60 Die höchste Vollkommenheit des Menschen bestehe überhaupt in einer möglichst vollkommenen Erkenntnis Gottes. Deshalb sei man zu einer möglichst wahren, klaren, gewissen und lebendigen Erkenntnis der göttlichen Vollkommenheiten verpflichtet.61 Der Zugewinn der Gotteserkenntnis an Wahrheit, Klarheit, Gewißheit und Lebendigkeit wird mit einem pietistischen Schlüsselbegriff die Erbauung (aedificatio) genannt.62 Wolff hatte dagegen die ‘officia erga se ipsum’ gegenüber den ‘officia erga Deum’ bewußt an die erste Stelle gerückt, um deutlich zu machen, daß auch die Verherrlichung Gottes noch einen integralen Bestandteil der eigenen Vervollkommnung ausmache (vgl. C. W., Ratio praelectionum Wolfianarum [in] mathesin et philosophiam universam, 21735 [11718], in: GW II.36, 200 [Sect. II, Cap. 6, §§ 26 f.]). 59 Vgl. Ethik, Vorwort zur 1. Aufl. (AA, Bd. 27, 737 30–33); § 21; A.G. B., De fidei in philosophia utilitate (wie Anm. 22), 23 (§ 29). 60 Vgl. Ethik, §§ 11–21; MetaphysikB, § 947: Gloria dei et illustratio eius sunt religio. – Mit dieser engen Verknüpfung von Religion und Sittlichkeit bzw. mit dieser Gründung der Ethik in einem philosophischen Religionsbegriff ist Baumgarten für die deutsche Aufklärung der Folgezeit wegweisend gewesen (vgl. Konrad Feiereis, Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie. Ein Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1965 [Erfurter theologische Studien, 18], 70–72). Erst Kants Ethikotheologie hat dann das Baumgartensche Fundierungsverhältnis geradezu auf den Kopf gestellt: Jetzt soll sich durch die Moral allererst ein Zugang zur Gottesfrage eröffnen; eine eigene Klasse von auf Gott bezogenen Pflichten wird dagegen als überflüssig angesehen. 61 Vgl. Ethik, § 27 und § 31. 62 Vgl. ebd., § 69. – Zur Rolle dieses Programmwortes bei den Gründervätern des Pietismus vgl. etwa Albrecht Haizmann, Erbauung als Aufgabe der Seelsorge bei Philipp Jakob Spener, Göttingen 1997 (Arbeiten zur Pastoraltheologie, 30), besonders 56–59; Ulrich Breuer, Lebendige 58

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Den Ziel- und Gipfelpunkt allen Strebens nach religiöser Vervollkommnung bildet für Baumgarten dabei die lebendige Gotteserkenntnis (viva dei cognitio).63 An dieser Stelle ist der pietistische Einfluß wiederum mit Händen zu greifen. Denn eine verlebendigte, praktisch wirksame Erkenntnis des göttlichen Wortes gegen tote Bibelgelehrsamkeit und erstarrte theologische Spekulation war ja das eigentliche Programm des Pietismus und der Impetus aller seiner pädagogischen Bestrebungen. Baumgarten hat sich dieses pietistische Grundanliegen, geprägt durch seine eigene Erziehung in den Franckeschen Anstalten, durchaus zu eigen gemacht, aber dann philosophisch einzuholen versucht.64 Eine möglichst lebendige Erkenntnis bildet nicht nur in der religiösen Praxis, sondern in allen Bereichen der Philosophie ein erstrebenswertes Ideal.65 Daher wird die ‘vita cognitionis’ von Anfang an zu den Hauptvollkommenheiten der Erkenntnis gezählt. In dem von Baumgarten aufgestellten Kanon formaler Vollkommenheiten menschlichen Erkennens steht sie nicht von ungefähr immer betont am Ende.66 Baumgarten hat diesen Begriff allerdings im Laufe seiner Denkentwicklung schärfer gefaßt. Betrachtete er in der ersten Auflage der Metaphysica von 1739 noch jede Erkenntnis als lebendig, sofern sie Triebfedern des Gemüts enthalte, gilt in späteren Auflagen dieses Werks nur mehr jene Erkenntnis als lebendig im eigentlichen Sinne, die auch tatsächlich zur Hervorbringung bzw. Erlangung des begehrten Gegenstandes ausreicht.67 Diese Erkenntnis. August Hermann Franckes Lebenslauf, in: Andreas Solbach (Hg.), Aedificatio. Erbauung im interkulturellen Kontext in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2005, 49–63. 63 Vgl. Ethik, § 70. 64 Eine ähnliche Sicht vertritt auch Ursula Niggli, der zufolge beide Baumgarten, Alexander Gottlieb wie sein Bruder Siegmund Jacob, bei aller „Aufgeschlossenheit für die neue Philosophie niemals die strenge und fromme pietistische Lebensaura aufgaben“ (Einleitung zu: Alexander Gottlieb Baumgarten, Die Vorreden zur Metaphysik, hg., eingel. und übers. von U.N., Frankfurt am Main 1999, XXIX). 65 Daß Baumgarten hier ein Schlüsselwort pietistischer Frömmigkeit durch Generalisierung gewissermaßen ‘säkularisiert’, hat eingehend schon Ferdinand Wiebecke, Die Poetik Georg Friedrich Meiers. Ein Beitrag zur Geschichte der Dichtungstheorie im 18. Jahrhundert, Diss. Göttingen 1967, 30, herausgearbeitet. 66 Vgl. Ethik, § 202; Beyfall, § 5; A.G. B., Scriptis quae moderator conflictus (wie Anm. 15), 24–26* (unpaginiert) (§ 15); Ästhetik, § 22 (zur Kommentierung siehe auch Poppe, Alexander Gottlieb Baumgarten [wie Anm. 57], 83); Initia, § 4; Logik, § 412. – Baumgartens berühmtes Lehrstück von zunächst nur vier, bald aber sechs ‘cardinales perfectiones cognitionis’ hätte einmal eine umfassendere entwicklungsgeschichtliche Analyse verdient. Erste skizzenhafte Vorüberlegungen dazu finden sich bei Werner Strube, Baumgartens Ästhetik als Transformation seiner Theorie des Gedichts, in: Ernst Rohmer, Werner Wilhelm Schnabel, Gunther Witting (Hg.), Texte – Bilder – Kontexte. Interdisziplinäre Beiträge zu Literatur, Kunst und Ästhetik der Neuzeit, Heidelberg 2000 (Beihefte zum Euphorion, 36), 21–41, hier 33 f. 67 Vgl. MetaphysikA, § 669: „cognitio quatenus elateres animi continet, viva [...] dicitur“ mit MetaphysikB, § 671: Cognitio movens appetitiones aversationesve efficientes et vis eius motrix [...] est viva (strictius, [...] sufficiens ad agendum); siehe auch Initia, § 204. – Zur handlungstheo-

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begriffliche Präzisierung korrespondiert mit Baumgartens neugefaßtem Verbindlichkeitsbegriff, demzufolge erst beim Vorliegen überwiegender Beweggründe von einer Verpflichtung die Rede sein kann. Eine unterschwellige Fortwirkung pietistischen Gedankenguts läßt sich aber in Baumgartens Moralphilosophie nicht nur bei der Behandlung der Pflichten gegen Gott, sondern auch bei der Erörterung der Pflichten gegen sich selbst feststellen. Ein solcher Krypto-Pietismus macht sich etwa in der starken Akzentuierung der Pflicht zur Selbsterkenntnis wie auch der zur Selbstbeurteilung bemerkbar. Baumgarten empfiehlt konkret beispielsweise eine methodische Selbsterforschung mittels eines abendlichen Tagesrückblicks oder eines regelmäßig geführten Tagebuches.68 Eine solche praktische Schulung in individueller Selbstanalyse war bekanntlich ein Markenzeichen pietistischer Spiritualität. Bei allem Nachdruck auf strenge Selbstprüfung und moralische Wachsamkeit unterstreicht Baumgarten aber zugleich, daß der Mensch sich selbst im letzten ein unergründliches Geheimnis bleibt. Denn als ein endlicher Geist kann er nicht alles mit gleichem Licht erhellen, so daß ihm die tieferen Beweggründe des Herzens oft verborgen bleiben müssen.69 Ein unverkennbar pietistischer Einschlag in Baumgartens Ethik ist schließlich darin zu sehen, daß im speziellen Teil im Rahmen diverser gruppenspezifischer Moralen (etwa für Gelehrte und Ungelehrte, Junge und Alte, Gesunde und Kranke usw.) auch eine regelrechte Sünderethik entfaltet wird. Baumgarten spricht dort beispielsweise von Versuchung und Anfechtung, vom Schuldig- und Rückfälligwerden, von sittlicher Knechtschaft und Verhärtung, aber auch von Buße und Bekehrung, von moralischer Erleuchtung und vom Wandeln im Lichte.70 Mit solchen Reminiszenzen an Vorstellungen von Bußkampf und Wiedergeburt im Rahmen einer doch spezifisch philosophischen Vervollkommnungsethik gibt Baumgarten seine Doppelidentität als Pietistenzögling und WolffAnhänger zu erkennen. Für dieses zwiefache Selbstverständnis hat er im übrigen mit einer subtilen Titelwahl für seine moralische Wochenschrift einen retischen Tragweite dieser terminologischen Verfeinerung wie überhaupt zur ethischen Bedeutung der ‘cognitio viva’ vgl. ausführlicher Schwaiger, Ein „missing link“ auf dem Weg der Ethik von Wolff zu Kant (wie Anm. 8), 254–259. 68 Vgl. Ethik, §§ 157 und 160. 69 Vgl. ebd., §§ 155 f. – Aichele, Die Ungewißheit des Gewissens (wie Anm. 13), 4, sieht darin eine wichtige Entdeckung Baumgartens, daß die moralische Beurteilung von Handlungen auch durch das handelnde Subjekt selbst nicht mit voller Gewißheit möglich sei. 70 Vgl. Ethik, §§ 426–450; siehe auch MetaphysikB, § 788, zur ‘corruptio moralis’. – Auch dazu findet sich in Wolffs Deutscher Ethik keine Vorlage; das Stichwort ‘Sünde’ kommt im dortigen Sachregister gar nicht vor. Wolff kennt überhaupt keine spezifischen Standesethiken, wie sie Baumgarten in der abschließenden ‘Pars specialis’ seiner Ethica nach dem Vorbild der Theologischen Moral seines älteren Bruders Siegmund Jacob hinzugefügt hat.

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beredten Ausdruck gefunden. Die Philosophischen Brieffe von Aletheophilus erinnern zwar zunächst an die Gottsched-Manteuffelsche ‘Societas Alethophilorum’ mit ihrer Aufklärungsparole ‘Sapere aude’. Aber ein zusätzlich in das griechische Wort eingeschobenes ‘epsilon’ macht den Wahrheitsfreund (Alethophilus) zugleich zum Gottesfreund (Theophilus alias Gottlieb).71 Der Wolffianer Baumgarten versteht sich also als dezidiert religiöser Aufklärer. Als solcher bleibt er – möglicherweise durch eine Allianz mit der Pietismusforschung – allererst noch zu entdecken. Die ethikgeschichtliche Forschung hat Alexander Gottlieb Baumgarten bisher sträflich vernachlässigt, obgleich Kant über Jahrzehnte hinweg dessen Handbücher seiner Vorlesung über Moralphilosophie zugrundegelegt hat. Demgegenüber möchte der vorliegende Beitrag eine Lanze für den auch ‘in ethicis’ selbständigsten Wolffianer brechen. Neben der erkenntnistheoretischen Aufwertung der Sinnlichkeit, die sich bekanntlich in der Neubegründung der Ästhetik als einer eigenen Disziplin niederschlug, war vor allem die Rezeption zweier Traditionslinien für eine originelle Fortentwicklung des Wolffschen Grundansatzes maßgeblich: Zum einen verlieh Baumgarten seiner praktischen Philosophie durch die Orientierung am Naturrecht seines Jenenser Lehrers Heinrich Köhler ein stark juridisches Gepräge, wie dies vor allem an der nunmehrigen Vorherrschaft des Verbindlichkeitsbegriffs abzulesen ist. Zum anderen säkularisierte er das Erbe des Halleschen Pietismus, wenn er etwa die Notwendigkeit lebendiger Erkenntnis für das sittliche Handeln unterstrich. Nicht zuletzt erweist sich Kants ‘Autor’ auch in begriffsgeschichtlicher Hinsicht als einflußreicher Neuerer, beispielsweise durch die erstmalige Rede vom ‘moralischen Egoismus’. Research on the history of ethics has ignored Alexander Gottlieb Baumgarten miserably. And that even though Kant based his lectures on moral philosophy on Baumgarten’s text books over decades. This article takes up the cudgels for this in ‘ethicis’ most independent follower of Christian Wolff. In addition to Baumgarten’s epistemological elevation of perception, which is known to have resulted in the new foundation of aesthetics as an independent discipline, his reception of two lines of tradition was primarily decisive for an original further development of Wolff’s basic approach. First, Baumgarten gave his practical philosophy a strong legal flavour through orientating it toward the natural law theory of his Jena teacher Heinrich Köhler. This legal character can be seen mainly in the then resulting predominance of the concept of obligation. Second, Baumgarten secularAuf die kleine, nur zu leicht überlesene, aber doch signifikante Differenz zur Alethophilengesellschaft hat Ernst Müller unlängst aufmerksam gemacht (vgl. E. M., Ästhetische Religiösität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004, 49, Anm. 145). Müller begreift in einer ambitionierten Deutung die von Baumgarten neu begründete Ästhetik „als Vermittlungsversuch zwischen Pietismus und Rationalismus“ (ebd., 46). 71

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ized the heritage of pietism in Halle by emphasizing the need for lively perception in order to act morally. Last not least, Kant’s ‘author’ proves to be an influential innovator also in regard to conceptual history, for example by the very first mention of ‘moral egoism’. Prof. Dr. Clemens Schwaiger, Don-Bosco-Straße 1, D-83671 Benediktbeuern, E-Mail: [email protected]

M E R I O S C AT TO L A Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgartens und das Problem des Prinzips

I. Naturrecht und praktische Philosophie. Einführende Bemerkungen Redet man von Naturrecht im Werk Alexander Gottlieb Baumgartens, muß man zuerst sein kleines und eher seltenes Buch aus dem Jahre 1763 mit dem Titel Ius naturae berücksichtigen. Das Buch wurde posthum veröffentlich, ein Jahr nach dem Tod seines Verfassers, und enthält eigentlich nur die Anmerkungen und Ergänzungen zu den Iuris naturalis exercitationes septem von Heinrich Köhler aus dem Jahre 1729.1 Seit dem Anfang seiner akademischen Tätigkeit in Halle hatte Baumgarten nämlich die Lehrbücher Köhlers als Vorlage für seine Vorlesungen benutzt2 und damit ein weiteres und wichtiges Bindeglied in der Kette der Rezeptionsgeschichte gebildet, die Leibniz mit Kant verbindet.3 Im Falle des Ius naturae von Baumgarten handelt es sich also gleichsam nur um Fußnoten und Marginalien zu einem größeren und bekannteren Werk, oder Für seine freundliche Hilfe bei der Gestaltung des Textes möchte ich Alexander Aichele herzlich danken. 1 Heinrich Köhler, Exercitationes iuris naturalis, eiusque cumprimis externi, methodo systematica propositi, Jena 1729. Die Exercitationes erfuhren weitere Auflagen in den Jahren 1732, 1735, 1738 und 1782. Hier wird es aus folgendem Nachdruck zitiert: Heinrich Köhler, Iuris naturalis eiusque cumprimis cogentis methodo systematica propositi exercitationes VII editio novissima ad manuscriptos auctoris correcta atque ex eodem aucta, Hildesheim 2004, in: Christian Wolff, GW III.86 (ND der Ausg. Jena 1738). 2 Vgl. Alexander Aichele, Metaphysik und Praxis. Alexander Gottlieb Baumgartens Wissenschaftsbegriff in Winckelmanns Bestimmung des Schönen, in: Matthias Kaufmann, Andrej Krause (Hg.), Expressis verbis. Philosophische Betrachtungen. Festschrift für Günter Schenk zum fünfundsechzigsten Geburtstag, Halle 2003, 159–176, hier 159 f. 3 Vgl. Clemens Schwaiger, Ein „missing link“ auf dem Weg der Ethik von Wolff zu Kant. Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der praktischen Philosophie von Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), 247–261.

Aufklärung 20 · © Felix Meiner Verlag 2008 · ISSN 0178-7128

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– wie es Alexander Aichele formuliert hat – um „einen recht lakonischen Kommentar“.4 Wenn man Baumgartens Naturrecht behandelt, ist daher einem ständigen Rückgriff auf das Werk von Köhler, das gleichsam die Unterlage der Argumentation liefert, methodisch nicht auszuweichen.

1. Das Naturrecht und die Einteilung der praktischen Philosophie Alexander Gottlieb Baumgarten hat aber auch eine Einleitung zur gesamten praktischen Philosophie, die Initia philosophiae practicae, verfaßt, die 1760 veröffentlicht wurde und ausdrücklich eine konsequente und bündige Wiedergabe der weitläufigen Philosophia practica universalis Christian Wolffs versprach.5 Hier folgte Baumgarten einem Gebrauch, der im 18. Jahrhundert verbreitet war, und ließ die ganze praktische Philosophie mit dem Naturrecht zusammenfallen.6 Die theoretische Voraussetzung für diese Gleichstellung war aber eigentlich schon in den Werken von Samuel Pufendorf gegeben, der das Naturrecht als akademisches Fach und als eigenständige Disziplin im gelehrten Wissenssystem etabliert hatte. Pufendorf definierte nämlich das Naturrecht als einen Teil einer umfassenden Lehre der menschlichen Pflichten, die aus drei Quellen fließen: aus dem Licht der menschlichen Vernunft, aus den bürgerlichen Gesetzen und aus einer unmittelbaren Offenbarung Gottes.7 Durch dieselben drei unterschiedlichen Quellen werden auch die drei Hauptdisziplinen oder Fakultäten des menschlichen Handelns bestimmt: das Naturrecht der Philosophie, das Zivilrecht der Jurisprudenz und das göttliche Gesetz der Moraltheologie. Das erste umfaßt alle diejenigen Verbindlichkeiten, die für alle Menschen gültig sind, weil sie ihrem Wesen entspringen; das zweite beschreibt die Pflichten der Bürger eines bestimmten Gemeinwesens, während das dritte die Gebote der Christlichen Gemeinde erklärt. Die drei Disziplinen müssen daher auch einen je unterschiedlichen Umfang haben, denn das Naturrecht betrifft alle Menschen als solche, die Jurisprudenz nur einen besonderen Staat und die Theologie die Alexander Aichele, „Sive vox naturae sive vox rationis sive vox Dei“? Die metaphysische Begründung des Naturrechtsprinzips bei Heinrich Köhler, mit einer abschließenden Bemerkung zu Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), 115–135, hier 134. 5 Vgl. Initia, Praefatio, [VI–VII]; Christian Wolff, Philosophia practica universalis methodo scientifica pertractata (1738–1739), in: GW II.10–11. 6 Vgl. unten Anm. 38. 7 Auf die konstituierende Funktion des Pflichtbegriffs in der modernen Naturrechtslehre hat Vanda Fiorillo hingewiesen. Vgl. Vanda Fiorillo, Autolimitazione razionale e desiderio. Il ‘dovere’ nei progetti di riorganizzazione politica dell’illuminismo tedesco, Turin 2000, 7–28. 4

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Gläubigen eines bestimmten Bekenntnisses. Zuletzt verfügen die drei Disziplinen über unterschiedliche Beweismethoden, denn die erste beruft sich auf die Autorität des menschlichen Verstands, die zweite auf die Entscheidung des Gesetzgebers und die dritte auf den göttlichen Willen.8 In diesem Schema erscheint das Naturrecht daher als das Wissen über die allgemeinen Pflichten der Menschen, die durch vernünftigen Diskurs anerkannt werden können, und fällt mit der ganzen Moralphilosophie zusammen. Aus seinem Prinzip kann man das ganze System der Pflichten und der Rechte des Menschen gewinnen, und demzufolge umfaßt es alle Arten von Verbindlichkeit, sowohl die inneren als auch die äußeren Pflichten, sowohl diejenigen vor Gott als auch diejenigen vor dem Mitmenschen als auch vor sich selbst. Da aber die Menschen zum großen Teil irrationale Wesen sind, ist auch das System der Verbindlichkeiten, das im Naturzustand vollständig deduziert wird, entsprechend unwirksam und muß durch die Sanktion des Souveräns bestätigt werden, woraus sich der wesentliche Unterschied zwischen gesetzlich festgesetzten und nicht festgesetzten Pflichten ergibt. Andere Zeitgenossen Baumgartens vertraten dagegen die Trennung von Naturrecht und Ethik und, wie es im Fall von Nikolaus Hieronymus Gundling, Heinrich Köhler oder Gottfried Achenwall geschah, wiesen sie dem Naturrecht nur die „vollkommenen“ Verbindlichkeiten zu, die von Anfang an erzwingbar sind. So konnten sie schon im Naturzustand zwischen Naturrecht, Ethik und Politik grundsätzlich unterscheiden und das Naturrecht als die Disziplin der rein juristischen Verhältnisse definieren.9 Samuel Pufendorf, De officio (1673), hg. von Gerald Hartung, Berlin 1997, (S. P., Gesammelte Werke, Bd. 2), Lectori benevolo, 5: Manifestum igitur est, ex tribus velut fontibus homines cognitionem officii sui, et quid in hac vita sibi tanquam honestum sit agendum, tanquam turpe omittendum, haurire: ex lumine rationis, ex legibus civilibus et ex peculiari revelatione divini Numinis. Ex primo fluunt officia hominis comunissima, praecipue quae ipsum cum aliis hominibus sociabilem reddunt; ex altero officia hominis, quatenus peculiari et definitae civitati subiectus degit; ex tertio officia hominis Christiani. Inde et tres separatae disciplinae proveniunt, quarum prima est iuris naturalis, omnibus gentibus communis; altera iuris civilis singularum civitatum, quae tam multiplex est, aut esse potest, quot numero sunt civitates, in quas genus humanum discessit. Tertia theologia moralis habetur, illi parti theologiae contradistincta, quibus credenda exponuntur. Singulae harum disciplinarum modum sua dogmata probandi adhibent, suo principio respondentem. In iure naturali aliquid faciendum asseritur, quia per rectam rationem idem ad socialitatem inter homines necessarium colligitur. Praeceptorum iuris civilis ultima ratio est, quia legislator ita constituit. Theologus moralis in eo ultimo adquiescit, quia Deus in Scripturis Sacris ita iussit. Vgl. Gerald Hartung, Anmerkungen, ebd., 233–257, hier 233. Vgl. Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri tres (1625–1646), hg. von B.J.A. de Kanter-van Hettinga Tromp, Aalen 1993, lib. I, cap. 1, § 9 und §§ 13–15. 9 Nikolaus Hieronymus Gundling, Ius naturae ac gentium connexa ratione novaque methodo elaboratum (1714), Halle 1715, Praefatio, Bl. b3r; cap. 1, § 62; Köhler, Exercitationes iuris naturalis (wie Anm. 1), exerc. prolusoria, § 3, Bl. a1v; Gottfried Achenwall, Johann Stephan Pütter, 8

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Baumgarten stimmte dieser begrenzenden Interpretation nicht zu und verstand dagegen seine Moralphilosophie in demselben Sinne wie Pufendorf als eine Lehre derjenigen Pflichten, die allein durch die menschliche Vernunft bestimmt und erzwungen werden. Die Definition konnte aber auch in der entgegengesetzten Richtung gelesen werden: Wenn die Moralphilosophie dieselben Pflichten wie das Naturrecht umfaßt, dann fällt das Naturrecht mit der ganzen Moralphilosophie zusammen. Daraus folgt, daß die Darstellung der allgemeinen Begriffe und Kategorie der praktischen Philosophie gleichzeitig auch eine Einführung zu den Materien des Naturrechts ist. Jene allgemeine Einleitung zum Naturrecht, die wir in Baumgartens Ius naturae, einem bruchstückhaften Kompendium, vermißten, werden wir daher in dessen Initia philosophiae practicae finden, die tatsächlich zum großen Teil eine Abhandlung des Naturrechts enthalten.10

2. Das Naturrecht und die allgemeine Theorie des Handelns Die Initia philosophiae practicae sind aber mit dem Ius naturae auch in einer anderen Hinsicht eng verbunden, die die innere und wesentliche Verfassung dieser modernen Disziplin betrifft. Die neuzeitliche und akademische Tradition des Naturrechts, die eigentlich mit Samuel Pufendorf begann, setzte für ihre interne Geschlossenheit eine vollständige Theorie der Handlung voraus, die die ersten und allgemeinen Begriffe dieser Disziplin darlegen sollte. Bevor man anfing, das Naturrecht im engen Sinn zu deduzieren und alle besonderen Inhalte festzulegen, mußte man gleichsam dessen leere und noch inhaltlose Kategorien oder dessen diskursive Werkzeuge gründlich beschreiben. Erst nachdem man das ganze Spektrum der logisch zulässigen Instrumente vor sich ausgebreitet und die Beschaffenheit aller einzelnen Elemente genau beobachtet hatte, konnte man sie miteinander kombinieren und das philosophische und juridische System des Naturrechts schichtweise aufbauen.11 Ein Lehrbuch des Naturrechts fing daher immer mit einem oder zwei Kapiteln an, in denen man festsetzte, was eine Handlung im allgemeinen ist und wie, wann und inwiefern sie Elementa iuris naturae, Göttingen 1750, Introductio, § 220: Ius naturae non nisi in legibus perfectis, in iure, in obligatione et imputatione perfecta, in officiis perfectis, in actionibus iustis et iniustis occupatur. Ergo reliquae omnes leges naturales, facultates agendi morales, obligatio, imputatio, officia naturalia, actiones morales extra sphaeram iuris naturae sunt constitutae. In hoc sita est iuris naturae nota characteristica, qua et a philosophia practica, quae iuris naturalis est genus, et ab ethica atque politica, quae iuris naturae sunt conspecies, distinguitur. Vgl. ebd., Praecognita, § 198. 10 Vgl. unten III. 1. 11 Achenwall, Pütter, Elementa (wie Anm. 9), Introductio, § 220.

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vernünftig und verbindlich ist.12 Die Elementa iurisprudentiae universalis aus dem Jahre 1660, das erste naturrechtliche Werk Samuel Pufendorfs, waren gleichzeitig auch die erste unter diesen Schriften, und das ‘ius naturae’ begann daher sowohl historisch als auch systematisch mit einer einführenden Abhandlung der moralphilosophischen Grundkategorien.13 Für diesen einführenden Teil gibt es nicht nur eine historische Erklärung, indem sich eine von Pufendorf ausgehende Gattungstradition bildete, sondern man kann sich auch auf eine epistemische Notwendigkeit berufen. Wesentliches Ziel des modernen Naturrechts in allen seinen Schulen und Varianten war nämlich, eine Deduktion des gesamten juristischen Systems zu liefern, ohne je die Grenzen der menschlichen Vernunft zu überschreiten. Die ganze Ableitung, vom Beginn bis zum Ende, mußte innerhalb des individuellen Verstandes stattfinden, und nichts durfte von außen oder von oben in diese geschlossene Sphäre eindringen. Ein solches Ziel kann aber erst dann erreicht werden, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt werden, denn jenes Verfahren kann nur als die Anwendung einer rein logischen Prozedur auf ein einheitliches Prinzip verstanden werden. Man muß daher zum ersten die Regeln der vernunftmäßigen Prozedur festsetzen, das reine Schema oder die nackte Mechanik der Deduktion zergliedern und richtig zusammenbauen. Dies zeigt uns, was eine Handlung, was eine Verbindlichkeit oder ein Zwang ist. Alle diese Elemente und Mechanismen laufen aber zuerst noch leer, denn sie sind inhaltslos und können kein System des Naturrechts beschreiben, in dem gezeigt wird, welche material bestimmten Handlungen unter diesen oder jenen Bedingungen legitim oder zwangsmäßig sind. Die juristische Logik muß also auf einen ersten und material erfüllten Ausgangspunkt angewandt werden, und das ganze Rechtssystem entsteht eigentlich aus solcher Anwendung des formalen Mechanismus auf den Inhalt des ersten Elements.14 Zum zweiten benötigt man daher neben der juristischen Logik auch einen ersten Grundsatz der naturrechtlichen Deduktion. In allen modernen naturrechtlichen Systemen wird die erste Bedingung, die Festlegung der juristischen Vgl. Samuel Pufendorf, De iure naturae et gentium. Erster Teil (1672), hg. von Frank Böhling, Berlin 1998, (S. P., Gesammelte Werke, Bd. 4.1), lib. I–II, 13–213; Pufendorf, De officio (wie Anm. 8), lib. I, 1–3, 13–24; Gundling, Ius naturae ac gentium (wie Anm. 9), cap. 1 und 2, 3– 29; Achenwall, Pütter, Elementa (wie Anm. 9), Praecognita, 9–53. 13 Samuel Pufendorf, Elementa iurisprudentiae universalis (1660), hg. von Thomas Behme, Berlin 1999, (S. P., Gesammelte Werke, Bd. 3). 14 Merio Scattola, Models in History of Natural Law, in: Ius commune 28 (2001), 91–159, hier 144 f.; M. S., Before and After Natural Law. Models of Natural Law in Ancient and Modern Times, in: Tim J. Hochstrasser, Peter Schröder (Hg.), Early Modern Natural Law Theories. Contexts and Strategies in the Early Enlightenment, Dordrecht 2003, 1–30, hier 17. 12

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Logik, von der epistemischen Einführung erfüllt.15 Die zweite Bedingung wird von der Diskussion und der Bestimmung des ersten Prinzips, die ab dem späten 17. Jahrhundert auch eine eigene Literaturgattung bildete,16 meistens auf induktivem Weg erfüllt. Der anonyme Verfasser des Artikels „Grundsatz des Naturrechts“ im Lexikon Johann Heinrich Zedlers aus dem Jahre 1740 beschrieb am klarsten die zweifache methodische Voraussetzung des Naturrechts durch die Kategorie des Prinzips und bemerkte, daß auch das ‘ius naturae’ wie jede andere Disziplin einen doppelten Grundsatz benötigt, einen theoretischen oder formalen und einen praktischen oder inhaltlichen. Den ersten Punkt oder die Eigenschafften des Principii, welche insgemein pflegen angemercket zu werden, betreffend, so ist zum voraus zu wissen, daß, gleichwie das Principium einer philosophischen Disciplin, die Logik ausgenommen, entweder ein gemeines, oder ein besonderes ist, davon jenes entweder ein theoretisches oder praktisches ist; das gemeine Principium des natürlichen Rechts, und zwar das theoretische, die gesunde Vernunft; das praktische der schuldige Gehorsam gegen Gott; welches aber das besondere sey, so dem natürlichen Recht eigen ist, und daraus man die besondern Gesetze als Schlüsse folgert, wie dann auch dieses Principium „Lex fundamentalis“ genennet wird, darinnen ist man nicht einig.17

Zwanzig Jahre danach äußerte sich auch Alexander Gottlieb Baumgarten auf eine ähnliche Weise über die zweifache Voraussetzung der naturrechtlichen Ableitung.

Merio Scattola, Principium oder principia? Die Diskussion über den Rechtsgrundsatz im 16. und 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), 3–26. 16 Vgl. zum Beispiel Johann Nikolaus Hertius, Dissertatio de socialitate, primo naturalis iuris principio. Occasione l. 3. D. De iustitia et iure, Gießen 1694; Samuel Cocceus (Resp.), Disputatio iuridica inauguralis de principio iuris naturalis unico, vero, et adaequato […], praeside domino Henrico Cocceio, Frankfurt an der Oder 1699; Theodor Pauli, Tractatus theoreticus de veris iuris et iurisprudentiae principiis, Frankfurt, Leipzig 1700; Ephraim Gerhard, Delineatio iuris naturalis sive de principiis iusti libri tres, Jena 1712; Samuel Cocceius, Tractatus iuris gentium, de principio iuris naturalis unico, vero et adaequato, Frankfurt an der Oder 1702; Daniel Friedrich Hoheisel, De principiis iuris naturae, Halle 1731; Johann Balthasar von Wernher, Dissertationes iuris naturalis quibus inprimis genuinum, idemque unicum et adaequatum illius principium stabilitur, Wittenberg 1721; Gottlieb Sturm, Hobbesius socialis hoc est de genuino principio iuris naturalis Hobbesii dissertatio (1724), in: G. S., Dissertationes Ienenses varii et ut plurimum rarissimi argumenti, Wittenberg 1730, 61–74; Johann Jakob Schmauß, Dissertationes iuris naturalis quibus principia novi systematis huius iuris, ex ipsis naturae humanae instinctibus extruendi, proponuntur, Göttingen 1740. 17 [Anonym], Natur-Rechts, (Grund-Satz des), in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Halle und Leipzig 1740, Bd. 23, Sp. 1205–1224, hier 1205. 15

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Principium alicuius disciplinae obiectivum est propositio, ex qua dogmata ad eam disciplinam pertinentia deduci possunt, subiectivum ea facultas animae, qua ad talem disciplinam cognoscendam in primis utendum est.18

Was für die Disziplin im allgemeinen gilt, läßt sich also an Baumgartens Gesamtwerk bestätigen, dessen zwei Schriften zur praktischen Philosophie sich zueinander wie allgemeine Einführung und systematische Deduktion verhalten. Wenn daher die Initia philosophiae practicae das formale Gerüst des Naturrechts erklären und damit die Grundlegung der praktischen Philosophie anbieten, erscheint das Ius naturae fast wie eine Erörterung von Materien praktischer Natur, fast wie eine angewandte Kunst, die in ihren ersten Paragraphen die ganze Materie der Initia zusammenfassend wiederholt.

II. Eine zweifache Methode Auch Baumgartens Ius naturae beginnt mit einigen „Prolegomena“, die sich auf die Paragraphen 286 und 287 aus der zweiten „Exercitatio“ von Heinrich Köhler beziehen, in denen von der Methode des Naturrechts gehandelt wird. Besonders aufschlußreich ist der Paragraph 286, der in der Geschichte dieser Disziplin das Wirken von zwei oder sogar drei unterschiedlichen Abhandlungsweisen feststellt. Die Autoren dieser ehrwürdigen Disziplin haben gewöhnlich das Natur- und Völkerrecht entweder aus der Betrachtung von der Natur des Menschen und der anderen Dinge allein oder aus den göttlichen Grundsätzen oder aus diesen beiden Quellen geschöpft.19

Die zwei Methoden werden hier als Alternativen vorgestellt, welche klar getrennt sind und als zwei unterschiedliche Arten der Erkenntnis gelten. Einerseits hat man die bloße Erforschung der Natur, andererseits die göttlichen Belehrungen (‘axiomata divina’). Man könnte vermuten, daß zwei unterschiedliche Wege zur Erkenntnis des Naturrechts dem Menschen zur Verfügung stehen, als ob man die Regeln des guten und gerechten Handelns entweder durch die eigene Vernunft oder durch eine Offenbarung gewinnen könnte. Dies würde weiter der alten, hergebrachten Lehre der scholastischen Theologie entsprechen, die behauptete, daß die naturrechtlichen Prinzipien entweder angeborene Ideen sind, wie es im Fall des Dekalogs geschieht, oder durch eine verstan-

Initia, § 87. Vgl. unten Anm. 59. Köhler, Exercitationes iuris naturalis (wie Anm. 1), exerc. 2, § 286: Ius naturae et gentium vel ex solius naturae hominis aliarumque rerum contemplatione vel ex axiomatibus divinis vel ex utroque fonte derivare consueverunt sanctioris huius disciplinae commentatores. 18 19

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desmäßige Deduktion festgelegt werden.20 Derselbe Unterschied könnte aber auch den Positionen in der Debatte zwischen Samuel Pufendorf und den Leipziger Theologen zu Ende des 17. Jahrhunderts entsprechen, in der Pufendorf den unbedingten Anspruch der menschlichen Vernunft verteidigte und alle Arten von innerer Erleuchtung ablehnte,21 während die Theologen gegen die Vorstellung kämpften, das Naturrecht sei bloß eine menschliche Erfindung, und daher seine ersten Prinzipien als angeborene Ideen, als ‘axiomata divina’ verstanden.22 1. Die philosophische Methode Die Gegenüberstellung beider Methoden ist in der Lehre von Köhler und von Baumgarten aber mehr scheinbar als faktisch und erweist sich am Ende als ein Unterschied zwischen zwei Teilen oder Schichten desselben Argumentationszusammenhangs. In den Paragraphen 283 und 284, welche die erste Disputation über die moralphilosophische Natur des Menschen abschließen, stellt Köhler fest, daß die Vernunft eine hinlängliche Kenntnis der menschlichen Natur erreichen kann. Wenn man nämlich denselben Weg geht, den er gerade in seiDomingo de Soto, De iustitia et iure libri decem (1556–1557), Madrid 1967, lib. I, quaest. 3, art. 1, 22a: Mox quia idem Deus author est naturae singulis rebus suos indidit instinctus et stimulos, quibus in suos fines agerentur, sed homini praecipue naturalem normam mente impressit qua se secundum rationem, quae illi naturalis est gubernaret, atque haec est lex naturalis, eorum scilicet principiorum, quae absque discursu lumine naturali per se nota sunt […]. Deinde et eidem homini facultatem tribuit ut pro temporum, locorum ac negotiorum qualitate per eandem legem naturae, quas alias expedire iudicaret, ratiocinando constitueret, quae ideo leges ab authore suo humanae nuncupantur. Vgl. auch lib. I, quaest. 4, art. 3, 33b. Vgl. Thomas Aquinas, Summa theologiae, Albae Pompeiae 1988, Ia IIae, quaest. 94, art. 6, resp., 958: Respondeo dicendum quod […] ad legem naturalem pertinent primo quidem quaedam praecepta communissima, quae sunt omnibus nota; quaedam autem secundaria praecepta magis propria, quae sunt quasi conclusiones propinquae principiis. 21 Samuel Pufendorf, Specimen controversiarum circa ius naturale ipsi nuper motarum (1678), in: S. P., Eris Scandica und andere polemische Schriften, hg. von Fiammetta Palladini, Berlin 2002, (S. P., Gesammelte Werke, Bd. 5), 112–197. 22 Die erste historische Beschreibung dieser Polemik befindet sich in Christian Thomasius, Paulo plenior historia iuris naturalis, Halle 1719, cap. 6, § 15–49. Vgl. Johann Jakob Schmauß, Neues Systema des Rechts der Natur, Göttingen 1754, Historie, cap. 27, S. 256–276; [Josua Schwartz], Index quarundam novitatum, quas dominus Samuel Puffendorff libro suo De iure naturae et gentium contra orthodoxa fundamenta edidit Londini, [s.l.] 1673; [Friedrich Gesenius], Domini Samuelis Pufendorfii iuris naturalis doctoris et professoris contra ius naturae iniquitas, Germanopoli 1674; Valentin Veltheim, Dissertatio moralis de quaestione: Num actus dentur per se honesti aut turpes, quique adeo in sua natura sint debiti vel illiciti, Jena 1674; Valentin Alberti, Specimen vindiciarum adversus Specimen controversiarum Samuelis Pufendorfii, Marburg 1678. Vgl. Fiammetta Palladini, Discussioni seicentesche su Samuel Pufendorf. Scritti latini: 1663– 1700, Bologna 1978. 20

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ner ersten Übung zurückgelegt hat, also wenn man die Vermögen der Seele und deren notwendige Verbindung miteinander betrachtet und wenn man vor allem das einheitliche Prinzip heranzieht, das das innere Leben des Menschen regelt, kann man ohne besondere Schwierigkeiten einsehen, ob und wann eine menschliche Handlung jener inneren Verbindung hilft oder schadet, und kann daher auch bestimmen, was der menschlichen Natur gemäß und was ihr widersprechend ist. Wenn man die Fertigkeiten und die Vermögen der Seele mustert, wird man unter ihnen eine besondere Verbindung und Verkettung miteinander beobachten, und dies um so mehr, als sie als Folgen eines gemeinsamen, innerlichen und aktiven Prinzips verstanden werden können. […] Und wenn man solche Verknüpfung in den eigenen Handlungen beachtet oder verletzt, wird man offensichtlich gemäß der menschlichen Natur oder ihr zuwider leben.23

Die genaue Beschreibung der Verbindung unter allen Vermögen der Seele erfordert, wenn sie gründlich ausgeführt werden soll, die vollständige Erklärung aller, auch der kleinsten Elemente der menschlichen Anthropologie durch die synthetische Methode mit Heranziehung vieler Grundbegriffe der Metaphysik, der Ontologie und der Erkenntnislehre.24 Ein so umfangreicher Umweg in der Begründung des Naturrechts kann zwar auch die Kritik der Ausschweifung mit sich bringen;25 die Methode bleibt aber konsequent, weil sie keine außergewöhnlichen Mittel, wie etwa eine göttliche Eingabe, voraussetzt, und man kann dabei sogar die natürliche Theologie unbeachtet lassen, die eine rein vernunftmäßige Vorstellung Gottes vermittelt und von allen Zeugnissen der Offenbarung absieht. Die menschliche Natur, ihre Anlagen oder Vermögen und alles, was davon mit gesetzmäßiger Argumentation deduziert werden kann, können von einem sich selbst überlassenen Menschen anerkannt werden, auch wenn er durch eine Abstraktion von der natürlichen Theologie absieht. Dies gilt auch für die Mathematik, die Physik, die Logik und die Ontologie, obwohl man damit die Erkenntnisse der natürlichen Theologie keineswegs verneint, wie wir weiter unten beweisen werden.26 Köhler, Exercitationes iuris naturalis (wie Anm. 1), exerc. 1, § 283: Si percurras facultates et potentias animae, cohaesionem vel nexum in illis observabis, praecipue cum ex principio communi interno activo conceptibiles sint […]. Quam copulam si quis vel observaverit vel violaverit in actionibus suis, is naturae humanae convenienter vel disconvenienter vixisse censendus est. 24 Ebd., exerc. 1, § 5. 25 Burkhard Gotthelf Struve, Bibliotheca philosophica (1704–1740), Düsseldorf 1970, to. 2, cap. 3, § 7. 26 Köhler, Exercitationes iuris naturalis (wie Anm. 1), exerc. 1, § 284: Natura humana et eius facultates vel potentiae, eaque, quae legitime argumentando inde deduci possunt, ab homine sibi relicto, abstractione interveniente, absque theologia naturali aeque ac mathesis, physica, logica, ontologia cognosci possunt, quamvis hoc ipso non negentur, quae theologia naturalis proponit, id quod ex inferius dicendis manifestum erit. Vgl. Aichele, Sive vox naturae (wie Anm. 4), 125–126. 23

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Was Köhler hier erwähnt, ist sowohl die allgemeine Methode der naturrechtlichen Deduktion als auch die besondere Anordnung, die er in seiner Abhandlung angewandt hat. Drei Eigenschaften kennzeichnen diese vernunftmäßige Methode. Zum ersten ist sie auf die direkte Betrachtung der Natur angewiesen. Die Vernunft fängt mit sich selbst an, mit den einfachsten Erscheinungen der ethischen Existenz und erschließt auf dieser Basis eine notwendige Erkenntnis. Sie steigt gleichsam von unten herauf. Dies ist auch das, was Köhler bis zu diesem Punkt seiner Argumentation getan hat, die alle Grundelemente der wissenschaftlichen und vernunftmäßigen Erkenntnis beschrieben hat, indem sie sowohl die methodische Einheit der syllogistischen Kunst als auch das Wirken der materiellen Prämissen voraussetzte.27 Zum zweiten ist dieser Methode die Tatsache wesentlich, daß man von der Theologie absieht und das ganze Naturrecht deduziert, als ob Gott nicht existierte, und dies nicht nur in Hinsicht auf die christliche Offenbarung, sondern auch im Sinne der vernunftmäßigen Naturtheologie. Zum dritten ist diese Erkenntnis leicht zugänglich und wird von allen Menschen schnell begriffen. Die erste Folge dieser Prämissen ist, daß auch ein Atheist, der angeblich alle moralphilosophischen Verbindlichkeiten mißachten sollte, da er die Existenz Gottes nicht anerkennt, nichtsdestoweniger durch diese Methode zur Beistimmung zumindest einiger einfacher Prinzipien der Gerechtigkeit hingeführt oder gezwungen wird.28 Utrique methodo, ex duplici fonte, paragrapho praecedente indicato, oriundae, statuendum est suum pretium. Methodus, qua ex immediata naturae consideratione iuris naturalis veritates eruuntur, videtur facilior et cuivis homini, ratione praedito et suae sibi naturae conscio, magis pervia et superabilis, ac tandem ita comparata, ut, qui ob

Köhler, Exercitationes iuris naturalis (wie Anm. 1), exerc. 1, § 87: Equidem diffitendum non est, artem syllogisticam esse remedium inveniendi, cum ex definitionibus aliisque principiis, tanquam sumtionibus cognitis incidere soleamus in conclusiones antea incognitas. Verum enim vero praeclare monuit cel. Wolffius, inveniendis novis non sufficere solos syllogismos, qui praemissas cognitas iamiam supponunt, et qui adeo adhiberi non possunt, si vel utraque, vel alterutra praemissarum destituamur. Circumspicienda itaque inventoribus fuerunt alia subsidia et artificia heuristica, quibus nobis principia seu praemissa subministrantur, et quibus ope syllogismorum ad novas conclusiones descendere possimus. Ad haec artificia inventiva summo iure referendum est principium reductionis, cuius usu exempli gratia haec propositio eruenda est: societas et per consequens respublica repraesentat individuum humanum. Hinc quicquid in iure naturali singulorum cognovimus, illud ad quamlibet societatem compositam non minus quam simplicem, adeoque ad totas gentes applicari potest, dummodo notemus, ex differentia specifica societatis et reipublicae oriri conclusiones, societatibus et rebuspublicis proprias. 28 Daß das moralphilosophische Problem des Atheisten eine wesentliche Aufgabe für die moderne Naturrechtslehre bildete, hat Alexander Aichele mit besonderer Stärke hervorgehoben. Vgl. Aichele, Sive vox naturae (wie Anm. 4), 115–117. Vgl. Wolff, Philosophia practica universalis (wie Anm. 5), pars 1, cap. 2, §§ 245–249; und Christian Wolff, Theologia naturalis, methodo scientifica pertractata pars posterior (1741), in: GW II.8, pars 2, sect. 2, 369–508. 27

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ignorationem Summi Numinis omnia iura se posse pedibus conculcare arbitrantur, flecti possint ad primos saltem honestatis et iustitiae gradus observandos.29

2. Die theologische Methode Die andere Methode ist auf die Worte oder auf die Sprache Gottes gegründet, auf die „idiomata divinitatis”. Man täuscht sich aber, wenn man diese „Sprache Gottes“ als eine göttliche Offenbarung versteht, als ein Abstieg Gottes zum Menschen, wie es im Falle der Menschwerdung Christi oder der angeborenen Ideen geschah, als die zweite Person der Dreifaltigkeit zum Menschen hinunterstieg oder als die Vernunft Gottes in die menschliche Seele eingegraben wurde. Was Köhler hier einführt, ist vielmehr der Aufstieg der menschlichen Vernunft zu Gott („adscensus rationis ad Deum“). Die Vernunft kann sich nämlich mit den eigenen Mitteln zu Gott erheben, seinen Begriff anerkennen und dessen vernünftige Notwendigkeit erfassen. Diese Erkenntnis des Göttlichen bewegt sich aber immer innerhalb des Menschlichen und Vernünftigen und sprengt keinesfalls dessen Grenzen. Sie bleibt immer diesseitig. Gott, das erste und notwendige Wesen, das durch diese Beweisführung ermittelt wird, ist daher ein Erzeugnis der Vernunft, ein reiner Begriff; er kann mit der menschlichen Vernunft vollständig anerkannt werden und lebt eigentlich nur in ihr. In dieses erste und vollkommene Wesen, Gott genannt, setzt diese Methode das Prinzip des Naturrechts, und so kann Köhler behaupten, daß der Mensch, in der reinen Sphäre der Vernunft betrachtet, durch die Erkenntnis Gottes die ersten Grundlagen des Naturrechts bestimmen kann und daraus die Notwendigkeit aller naturrechtlichen Gesetze beweisen wird. Altera methodus, qua insignis haec disciplina idiomatibus divinitatis superstruitur, ex adscensu rationis ad Deum et ex relatione naturae rerum ad eius auctorem oritur. Et cum ius naturae sit dictamen rationis, haec vero ens illud supremum eiusque perfectiones demonstrativa ratione cognoscat, homo, in sphaera rationis spectatus, ad ultimam illarum legum, ex natura sua aliarumque rerum cognitarum, originem penetrare potest, simulque cognoscere, custodiam iuris naturae cum illustratione gloriae divinae nexu indivulso copulatam esse.30

Auch die zweite Methode ist also ein interner Prozeß der Vernunft mit sich selbst, und sogar Gott ist ein Moment, das erste, in einer vernunftmäßigen Kette von Deduktionen.31 Die Erkenntnis Gottes, die hier im Spiel ist, ist keine Theologie im weiten Sinne des Wortes, sondern ausschließlich eine natürliche 29 30 31

Köhler, Exercitationes iuris naturalis (wie Anm. 1), exerc. 2, § 287. Ebd., exerc. 2, § 288. Ebd., exerc. 1, § 82.

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Theologie, die über Gott eine vernunftmäßige Erkenntnis erzielt. Insofern unterscheidet sich diese Methode in ihrem Wesen nicht von der ersten Methode, obwohl sie sich offensichtlich auf die Transzendenz beruft. Sie erreicht tatsächlich keine Transzendenz, sondern gibt davon nur das wieder, was von der Immanenz her verstanden werden kann.32 In diesem Sinn wird die Debatte zwischen Pufendorf und den Theologen hier klar zugunsten des ersteren und der Philosophie entschieden, denn die Offenbarung wird ausgeschlossen und an ihrer Stelle bleibt nur die natürliche Theologie, d.h. der Teil der Theologie, der auch von der Philosophie anerkannt wird. Beide Methoden sind daher im Grunde ein und derselbe Weg. Wie verhalten sie sich dann zueinander? Erstens, sie sind wesentlich gleich, denn beide sind Anwendungen und Ergebnisse derselben menschlichen Vernunft. Die „axiomata divina“ und die „idiomata divinitatis“ haben hier also nur eine rhetorische Bedeutung, ändern aber nichts am Wesen der Sache. Da beide Methoden der menschlichen Vernunft angehören, können sie nur als deren Teile wirken und tatsächlich entsprechen sie zwei unterschiedlichen Segmenten einer einzigen argumentativen Linie. Wir können uns die gesamte Deduktion des Naturrechts als eine lange Kette von Schlußfolgerungen vorstellen, die den gesamten ontologischen Zusammenhang der Dinge, dem „nexus rerum“,33 wiedergibt. An einem ihrer Enden ist Gott, am anderen Ende sind die (naturrechtlich bedingten) Handlungen; in der Mitte der Kette steht der Mensch. Wenn man von unten, von der Theorie der Handlung anfängt, steigt man mit der Deduktion zuerst zu den allgemeinen Eigenschaften des Handelns, dann zu den Fähigkeiten der Seele und endlich zum Menschen herauf. Hier kommt man schon zu einem ersten Zwischenergebnis, denn man hat schon eine Definition des Naturrechts erreicht. Hier endete auch die naturrechtliche Deduktion von Pufendorf oder von Thomasius, die verlangten, daß alle Elemente der Lehre aus der menschlichen Natur gewonnen werden sollten. Hier endet auch die erste Methode, mit deren Schlüssen auch ein Atheist einverstanden ist. Köhler und Baumgarten möchten aber beweisen, daß die menschliche Natur in der Natur der Dinge integriert ist, daß sie einen wesentlichen Teil ihres Sinnes von außen oder von oben bekommt, und daß man also über die menschliche Natur hinausgehen muß. Die Deduktion ist dann noch unvollkommen und bedarf weiterer Beweisführungen, um die Verbindlichkeit naturrechtlicher Handlungen wahrlich zu begründen. Die Menschen fühlen sich nämlich erst dann verpflichtet, wenn ihnen gezeigt wird, daß ein allgemeiner Gesetzgeber Merio Scattola, Teologia politica, Bologna 2007, 149. Köhler, Exercitationes iuris naturalis (wie Anm. 1), exerc. 1, § 73. Vgl. Wolff, Philosophia practica universalis (wie Anm. 5), pars 2, § 54. 32 33

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die Naturgesetze erlassen hat und daß dieser den Ungehorsam strafen wird. Um das Naturrecht wirklich zu vollenden, muß man daher beweisen, daß Gott existiert, daß er der allgemeine Gesetzgeber ist und daß er über die Durchführung der Naturgesetze wacht und richtet. Erst nachdem man den klaren Begriff Gottes gewonnen hat, kann man wieder zum Menschen durch eine Kette von Deduktionen heruntersteigen und die naturrechtlichen Gesetze mit einer zureichenden Verpflichtung versehen.34 Dies ist der Weg der zweiten Methode, die sich auf die „axiomata divina“ beruft. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, geben sich beide Methoden als zwei Teile desselben Projekts zu erkennen, indem erstere den unteren oder innermenschlichen Bereich umfaßt, während sich letztere über die oberen und außermenschlichen Schichten des ontologischen Gefüges erstreckt.

III. Sine fide Die bisherigen Überlegungen, die sich auf die Iuris naturalis exercitationes VII Heinrich Köhlers bezogen, gelten auch für Alexander Gottlieb Baumgarten, der ebendiesen Text kommentierte. Auch Baumgarten bewegt sich im Rahmen eines methodischen Ansatzes mit mehreren Segmenten, er bestimmt aber einige seiner Voraussetzungen näher, so daß seine Ausführungen einen wesentlichen Beitrag zur Epistemologie des naturrechtlichen Prinzips liefern. Köhlers Definition der zweifachen Methode und seine Anwendung theologischer Begriffe wie „axiomata divina“ und „idiomata divinitatis“ können einige Mißverständnisse auslösen, weil man sie im Sinne der christlichen Offenbarung auslegen könnte; daher verzichtet Baumgarten auf solche Formulierungen und betont statt dessen, daß das Naturrecht, wie auch jede andere Abteilung der praktischen Philosophie, „ohne Glauben anerkannt werden“ muß. Da die Philosophie im allgemeinen die Eigenschaften der Dinge unter Absehung vom Köhler, Exercitationes iuris naturalis (wie Anm. 1), exerc. 2, § 289: Ex iure sermonis, inferius explicando, patebit, quantum valeant iura iuranda. Quae cum in iurante nullam efficaciam habeant, vel ad detegendum verum, vel ad pacta solicitius servanda, nisi ille de omnipraesentia et iustitia Dei ultrice non minus, quam remuneratoria convictus sit; nova ratio eaque praegnans, nascitur, cur cognitio Numinis naturalis cum iure naturae, ex sola natura humana elicito, sit combinanda. Eas proinde doctrinas iam indigitabimus, quae naturae et inde cognoscendi iuris originem divinam commonstrant. Inferius adducemus veritates, ex quibus Dei iustitia et remuneratoria et vindicativa elucebit. Hac ratione nobis innotescet, non solum obligationem et legem, alias mere naturalem, etiam divinam esse, sed et peculiare dari poenae divinae positivae genus, rationi pervium. Inde patebit, utramque methodum feliciter combinari posse. Ut naturae, ad Deum autorem relatae, nomen augustius est, ita leges naturae, ad attributa divina revocatae, illustriores et sublimiores efficiuntur. 34

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Glauben begreift, so erkennt auch die praktische Philosophie die Verbindlichkeit des Handelns, ohne auch nur geringsten Bezug auf die Gebote der Religion zu nehmen.35 1. Das Naturrecht im engeren Sinn Wie wir schon erwähnt haben, könnte man die praktische Philosophie auch schlechthin ‘Naturrecht’ nennen. Die Ordnung der Welt wird nämlich als natürliche Ordnung bezeichnet und ist aus einer Anzahl von Gesetzen und Normen unterschiedlichen Umfangs gebildet. Ihr gesamter Zusammenhang heißt Recht, und die Totalität der Gesetze und Regeln von der natürlichen Welt nennt man Naturrecht.36 In diesem Sinn kann das Wort „Recht“ unterschiedliche Bedeutungen haben, denn es kann 1. eine gerechte Handlung, 2. ein Gesetz, 3. einen Zusammenhang von Regeln unterschiedlicher Art, 4. einen Zusammenhang von erzwingbaren Normen oder 5. eine moralische Befugnis bezeichnen.37 Drei unter diesen Bedeutungen, die erste, zweite und fünfte, sind moralphilosophisch und juristisch irrelevant; die dritte und vierte führen aber zu zwei oder sogar vier unterschiedlichen Definitionen des Naturrechts. Man kann nämlich das ‘ius naturae’ als die allgemeine Ordnung der natürlichen Welt verstehen und dann wird es alle Gesetze der Physik, Psychologie und Moral umfassen, die den Lauf der Dinge bestimmen. Dies ist das ‘ius naturae latissimum’, das der Gegenstand der Philosophie im allgemeinen bildet. Das ‘ius naturae latius dictum’ begrenzt sich auf das menschliche Handeln und beschreibt alle seine Erscheinungen: Instinkte, Leidenschaften, Tugenden, Prinzipien, Verpflichtungen. Berücksichtigt man aber darin nur den Bereich der Verbindlichkeiten, wird man dann nur die Sphäre des ‘ius naturae late dictum’ oder der praktischen Philosophie abgrenzen, welche sowohl den äußeren Zwang als auch die Initia § 1: Quemadmodum philosophia est scientia qualitatum in rebus sine fide cognoscendarum, ita practica est scientia obligationum hominis sine fide cognoscendarum. 36 Metaphysik, § 472: Ordo naturalium in mundo est ordo naturae, isque vel supernaturalium, vel praeternaturalium opponitur coniunctioni, et vel in certo tantum corpore, vel mundo corporeo, vel spiritu, vel mundo pneumatico spectatur, § 469, 470. vel in universa natura, § 466. Horum ordinum singuli normas suas communes habent, § 86. Ergo sunt in hoc mundo normae naturalis ordinis leges regulaeque communes, § 432. diversae, § 38. at similes, § 70. Complexus legum similium IUS est, cf. § 971 (latius dictum). Legum ordinis naturae complexus ius naturae. 37 Initia, § 64: Ius 1) actionem legi conformem, 2) legem, 3) complexum legum similium, latius dictum, Metaphysica, § 472, 4) complexum legum stricte dictarum similium, ius strictum (externum, cogens, plenum, perfectum), 5) facultatem moralem quamcumque, latius dictum significat, Metaphysica, § 971. Haec cum vel concedatur a legibus moralibus internis, aptitudo ́moralis (¢xίa, meritum), vel a legibus stricte dictis, § 62, 6) ius erit stricte dictum facultas moralis a legibus stricte dictis concessa. Α primo, secundo et quinto significatu in posterum omnino abstinebimus. 35

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rein interne Verpflichtung umfaßt. Das eigentliche Naturrecht, das ‘ius naturae stricte dictum’, schließt endlich nur jene natürlichen Gesetze ein, die erzwingbar sind und daher nur die äußeren Verhältnisse unter den Menschen regeln. Sieht man von den ersten zwei eher allgemeinen und unklaren Definitionen ab, könnte man dann als Naturrecht sowohl die praktische Philosophie im allgemeinen als auch die juristische Rechtsordnung bezeichnen; es ist aber vorteilhaft („commodius“), die einzelnen Bereiche mit unterschiedlichen Namen zu bezeichnen und mögliche Vermengungen zu vermeiden.38 So nennt man die Disziplin, die sämtliche Verpflichtungen umfaßt, praktische Philosophie, und man unterteilt sie in philosophische Ethik (‘ius naturae internum’), welche nur die inneren Verbindlichkeiten betrachtet,39 und Naturrecht, das die äußeren Verpflichtungen einschließt.40

2. Ein wissenschaftliches Naturrecht Dieselben Regeln, die für die praktische Philosophie gelten, müssen auch in allen ihren Teilen wirken: So werden sowohl die Ethik als auch das Naturrecht „sine fide“ und durch eine „methodus scientifica“ gewonnen.41 Dies bedeutet, daß die Schlüsse des Naturrechts aus ersten und unbezweifelten Grundsätzen durch eine apodiktische Beweisführung deduziert werden müssen, und dabei dürfen keine Autorität und kein externer Zeuge, weder menschlich noch göttlich, berücksichtigt werden.42 Damit verwirft Baumgarten die Idee, eine MeEbd., § 65: Ius naturae latissimum leges naturales omnes complectitur, § 64, Metaphysica, § 472, ex natura et per naturam sufficienter cognoscendas, § 29, 63, absolute necessarias, physicas, psychologicas quascunque, § 60, 62, morales internas et externas, § 61, 62. Ius naturae latius dictum est complexus legum naturalium moralium. Complexus legum naturalium hominem obligantium est ius naturae late dictum, quod a nobis moralia tractaturis solum attenditur, § 62, et leges morales naturales tam internas, quam externas comprehendens commodius philosophia practica obiective spectata dicitur. Pars eius est complexus legum naturalium externarum seu cogentium, ius naturae stricte dictum (cogens, externum) contradistinctum consiliis, legibus internis et suasoriis, quatenus naturalia sunt, § 63, per philosophiam practicam etiam exhibendis, § 1, 61. 39 Ethik, § 1: Ethica (disciplina pii, honesti, decori, scientia virtutis, moralis, practica, ascetica) est scientia obligationum hominis internarum in statu naturali. 40 Ius naturae, Prolegomena, § 1: Ius naturae (rationis, ethicum, cogens, strictius, strictissime dictum) est scientia legum hominem externe obligantium in statu naturali. Cf. Initia, § 65. 41 Ethik, Prolegomena, § 2: Ethica philosophica (philosophia moralis, ius naturae internum) est ethica quatenus sine fide cognosci potest. Ergo ethica philosophica aptissime methodo scientifica, sed non ex testimoniis, demonstratur, Philosophia practica prima, § 1, 2. Vgl. Ius naturae, Prolegomena, § 2. 42 Initia, § 2: Philosophia practica est apodictica methodo ex principiis non nisi certis, non ex testimoniis, auctoritatibus vel divinis, vel humanis, historiisve deducenda, § 1. 38

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thode des Naturrechts könne die Sprache Gottes beanspruchen, und verbessert die Argumentation Köhlers in einem Punkt, der hätte mißverstanden werden können. In der naturrechtlichen Deduktion soll nämlich kein außerirdisches, außermenschliches Wort zugelassen werden, und jeder Bezug zur Transzendenz bleibt ausdrücklich ausgeschlossen. Die Art der apodiktischen Deduktion muß einheitlich vernünftig sein; trotzdem unterscheidet auch Baumgarten zwei verschiedene Methoden. Die erste nennt er „empirisch“, weil sie das ganze Naturrecht ohne Bezug auf die natürliche Theologie betrachtet; die zweite setzt dagegen die natürliche Theologie als unentbehrliche Bedingung voraus. Beide können auch in eine dritte Variante kombiniert werden, die daher als „gemischte“ oder „empirisch-theologische“ Methode bezeichnet wird und sich nach Bedarf sowohl auf die erstere als auch auf die letztere beruft. Si methodum per omne ius naturae tractandum abstrahentem ab ipsa theologia naturali dicamus empiricam, ex theologia naturali, tanquam conditione sine qua non, totum ius naturae deducentem theologicam, illam autem mixtam dicamus vel empiricotheologicam, quae multa vel ab ipsa theologia naturali, si possunt, independenter demonstrat, eandem tamen in aliis utiliter supponit. Haec ultima methodus utriusque commoda prioris coniungit, naturalem rationem magis exercet, cognitionisque naturalis simul ac rationalis profert pomoeria, vel hinc prioribus praeferenda.43

IV. Das Naturrecht des Atheisten 1. Die Mängel der empirischen Methode Warum aber die Methoden notwendig getrennt werden müssen, erklärt Baumgarten am Fall des Atheisten. Er stellt sich dabei drei Fragen.44 Zum ersten fragt er sich, ob ein Atheist, der abgesehen von seinem Irrtum über Gott sonst eine gesunde Vernunft besitzt, von der Existenz des Naturrechts überzeugt werden kann. Die Antwort ist in diesem Fall positiv, weil die ersten Grundsätze des Naturrechts – „Man soll das Gute tun“., „Man soll sich vervollkommnen“. und „Man soll immer sein Bestes wählen“. – und ihre unmittelbaren Folgen beweisbare und verbindliche Aussagen sind, die aus der bloßen Natur der Handlung und des tätigen Subjekts erkannt werden können und daher eine Ius naturae, Prolegomena, § 6, Anm. Ebd., § 6: Ad Kohlerum, § 287. Huc quaestiones de iure naturae athei 1) an daretur ius naturae, si non daretur Deus? Negatur. 2) An atheus excepto atheismi errore sanam rationem sequens potest convinci de iure naturae? Et affirmatur. 3) An ius naturae aeque bene ab atheo cognosci potest ac ab admittente theologiam naturalem? Et negatur, § 1, Philosophia pratica prima, § 71. 43 44

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vernunftmäßige Verpflichtung in uns erzeugen.45 Einige Bestimmungen des freien Handelns können durch die Eigenschaften und das Wesen der Handlung oder durch die Natur der Seele, des Körpers und ihrer Verbindung erkannt werden. Diese Erkenntnis ist unabhängig von der Anerkennung Gottes, und daher kann auch ein Atheist oder ein Agnostiker, ein „atheus theoreticus“, von vielen Aussagen des Naturrechts oder der praktischen Philosophie überzeugt werden, wenn man von seinem Atheismus absieht.46 Dieses minimale und ‘atheistische Naturrecht’ weist aber schwere Mängel und Fehler auf, denn ein natürliches Gesetz bedarf immer der Verpflichtung, die ihm von der Androhung einer Strafe verliehen wird. Die Verbindlichkeit eines großen Teiles der natürlichen Gesetze kann aber erst dann bewiesen werden, wenn man Gott als Gesetzgeber der Welt voraussetzt. Daher müssen viele naturrechtliche Strafen und viele naturrechtliche Gesetze den Atheisten unbekannt und unwirksam bleiben; daneben ignorieren sie, wie wichtig jene Normen sind, die sie auch billigen, so daß ihre Kenntnis sowohl begrenzt als auch unscharf ist.47 Das atheistische Naturrecht und seine „empirische“ Methode sind daher zwar gerechtfertigt und gültig, aber unzureichend. Beide erfassen nur einen kleinen Teil des gesamten Naturrechts und sind durch die natürliche Theologie und die „theologische“ Methode zu ergänzen.48

2. Ein asymmetrisches Verhältnis Aus diesen Prämissen ergeben sich vier wichtige Folgen. Erstens, man darf nicht annehmen, daß das Naturrecht auch dann existieren würde, wenn Gott nicht wäre. Wenn nämlich Gott, der das vollkommenste Wesen ist, nicht existierte, wäre auch der Identitätsgrundsatz verneint, und keine Wissenschaft könnte eine wahre Existenz beanspruchen.49 Zweitens, das Naturrecht kann unabhängig von Gott nicht verstanden werden; im Gegenteil, sein Dasein hängt immer von der Existenz Gottes ab. Drittens, man kann das Naturrecht nicht vom göttlichen Willen allein ableiten, sondern man muß gleichzeitig auch das Initia, § 70. Vgl. ebd., §§ 34 f., 44, 71. 47 Vgl. ebd., §§ 110, 120. Vgl. Wolff, Philosophia practica universalis (wie Anm. 5), pars 1, cap. 2, § 255: Atheus non admittit legem naturae in omne sua latitudine. 48 Zur natürlichen Theologie vgl. Metaphysik, §§ 800–1000. 49 Ebd., § 824: Si Deus non actualis esset, falsum esset principium contradictionis, § 823, 7, primum et formae et materiae principium in omnibus demonstrationibus nostris. Ergo licet multae scientiae possint demonstrari complete citra ullam praemissam theologicam, § 1–800: non tamen essent, aut ipsae, aut earum obiecta, e. g. § 61, 354, 504, immo ne possibilia quidem essent, § 8, nisi Deus actualis esset. Vgl. Köhler, Exercitationes iuris naturalis (wie Anm. 1), exerc. 2, § 296. 45 46

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Wirken der göttlichen Vernunft voraussetzen. Viertens, kein Atheist kann eine so gute Erkenntnis des Naturrechts erreichen, wie sie der Gläubige hat. Dem Naturrecht des Atheisten („ius naturae athei“), der auf seinem Irrtum weiter besteht, mangelt es nämlich an der Breite und am Reichtum, am würdigen Stoff, an der Wahrheit, am Licht, an der Gewißheit und am Leben, also an Einsichten, die jeder Mensch erlangen kann, der die Existenz Gottes anerkennt.50 Man könnte dieses asymmetrische Verhältnis zwischen dem Atheisten und dem natürlichen Theologen oder zwischen der „empirischen“ und der „theologischen“ Methode folgendermaßen beschreiben. Der Atheist, der nur erstere Methode anwendet, weiß, daß ein Naturrecht existiert oder existieren muß; wie es aber beschaffen ist, welche Gebote und Verbote es enthält, weiß er überhaupt nicht oder sehr undeutlich. Der natürliche Theologe kann dagegen das ganze Wie des Naturrechts erfassen. Zwischen beiden Methoden besteht aber kein wesentlicher oder qualitativer Unterschied, denn beide benutzen die Mittel der apodiktischen Beweisführung. Die empirische Methode ist zwar legitim, aber unzulänglich. Sie betrachtet nur einen begrenzten und niedrigen Bereich der menschlichen Erfahrung und kann nicht bis zu den ersten Prinzipien steigen. Sie muß daher durch die „theologische“ Methode ergänzt werden, die dieselben Mittel anwendet, mit ihnen aber bis zur Idee Gottes kommt und diese dann als die wesentliche Bedingung aller anderen naturrechtlichen Beweisführungen voraussetzt.

V. Warum zwei Methoden? Die zweifache Begründung des Naturrechts Die Behauptung Baumgartens „An daretur ius naturae, si non daretur Deus? Negatur“ widerspricht offensichtlich zwei bekannte Stellungnahmen am Beginn der naturrechtlichen Disziplin. Zum ersten erscheint sie als eine UmkehInitia, § 71: Leges naturae, de quibus § 70, concedendae sunt ab ipsis atheis theoreticis, si, abstrahendo ab ipsorum errore circa exsistentiam divinam, ceterum sanam rationem meditando sequi voluerint, § 35, 41. Hinc si ius naturae athei asseritur hoc sensu, exsistentiam divinam qui neget, eum tamen de bene multis assertis iuris naturae late dicti, seu potius philosophiae practicae, § 65, convinci posse, independenter ab eius atheismo aut illis praemissis, quas negat qua atheus, utique ponendum est. Neque tamen hoc posito admittitur: 1) ius naturae late dictum seu philosophia practica esset, exsisteretve, etiam si non daretur Deus, Metaphysica § 824, 2) prorsus est independens a Deo, Metaphysica § 868, 3) ex voluntate Dei nulla ratione omnino derivari potest, § 69, 70, 4) aeque bene cognosci potest ab atheo ac ab agnoscente divinam exsistentiam. Nam ius naturae athei seu philosophia practica, quam in suo errore perseverans cognoscere potest, destituitur ea 1) latitudine et copia, 2) dignitate materiae, 3) veritate, 4) luce, 5) certitudine, 6) vita, cuius capax est ius naturae late dictum seu philosophia practica exsistentiam divinam admittentis, § 4; Ius naturae, Prolegomena, § 6. Vgl. oben Anm. 29 und 44. 50

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rung, ja eine Herausforderung der berühmten Formulierung von Hugo Grotius, daß die Prinzipien des Naturrechts immer gültig wären, „etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum, aut non curari ab eo negotia humana“.51 Zum zweiten widerspricht sie offenbar auch dem Versuch Samuel Pufendorfs, Theologie und Jurisprudenz aufs Strengste zu unterscheiden. Im Vorwort zu den De officio hominis et civis libri duo hatte er nämlich darauf bestanden, daß die Jurisprudenz den Menschen nur in seinem entarteten Zustand betrachtet und jede unmittelbare Kenntnis Gottes ausschließt.52 Der Widerspruch ist aber nur scheinbar, denn Gott wirkt in Baumgartens Naturrecht nicht als Quelle der Offenbarung und als Dimension der Transzendenz, sondern als Funktion der Vernunft. Von ihm weiß man in der naturrechtlichen Deduktion nur das, was die natürliche Religion durch die Mittel der rationalen Ableitung erreicht. Insofern ist die Lehre Baumgartens mit der Unterscheidung Pufendorfs durchaus konsistent, weil sie sich keineswegs auf die Offenbarung beruft. Sie widerspricht aber Pufendorf in seiner ersten Annahme, daß nämlich der rein natürliche Zustand des Menschen alle notwendigen und hinreichenden Prämissen zur Begründung des Naturrechts liefern könne. Dies wäre die Aufgabe der „empirischen“ Methode, wobei Baumgarten beobachtet, daß sie nur ungenügende Gründe für die ethische und juristische Verpflichtung liefert. Man muß daneben und dazu andere Gründe und andere Quellen heranziehen und die rationale Deduktion auch jenseits des Menschen ausdehnen. Die Indienstnahme Gottes antwortet auf diese Frage; dabei versucht sie aber auch, ein Problem zu lösen, das allen Varianten des frühneuzeitlichen Naturrechts gemeinsam war. Schon mit Pufendorf können wir nämlich eine Erscheinung beobachten, die sich dann in allen naturrechtlichen Systemen der frühen Neuzeit wiederholte. Man konnte nämlich alle Elemente, Eigenschaften, Grundsätze und juridischen Anstalten des Naturrechts schon im Naturzustand und aus der bloßen Betrachtung des menschlichen Wesens deduzieren. Schon im Naturzustand konnte man daher ein vollständiges Gebäude des Naturrechts gestalten, mit allen seinen Rechten, Pflichten, Beziehungen und Gesellschaften. Allein man hatte keinen zureichenden Grund dafür, daß die natürlichen Menschen die naturrechtlichen Gebote achteten. Es fehlte an einer zwingenden Kraft. Die Menschen hatten das Recht, konnten ihm aber auch nicht gehorchen, und deswegen drohte ihnen der Untergang. Dies war das eigentliche Problem des frühneuzeitlichen Naturrechts. Pufendorf und Thomasius und dessen Schüler lösten die Frage, indem Grotius, De iure belli ac pacis (wie Anm. 8), Prolegomena, 11, 10. Vgl. Paola Negro, Intorno alle fonti scolastiche in Hugo Grotius, in: Alessandro Ghisalberti (Hg.), Dalla prima alla seconda Scolastica. Paradigmi e percorsi storiografici, Bologna 2000, 200–251. 52 Pufendorf, De officio (wie Anm. 8), Lectori benevolo, 7. 51

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sie sich auf Hobbes beriefen und die Aufgabe der Verpflichtung dem Staat zusprachen. So entstand eine typische Verdoppelung, denn das Naturrecht wurde zweimal begründet, einmal rational und provisorisch im Naturzustand als Naturrecht im eigentlichen Sinn und einmal im Staat durch den Zwang des Souveräns als Zivilrecht.53 Die Verdoppelung der Begründung konnte die Einheit der Methode bewahren, denn vom Beginn bis zum Ende hielt die Deduktion an dem Menschen im Zustand der Sündhaftigkeit fest. Wiederum erforderte aber die einfache Methode eine zweifache Begründung. Baumgarten (und Köhler) bieten dagegen eine zweifache Methode, aber eine einfache Begründung des Naturrechts. Indem Gott als Urheber, ‘principium essendi’ und ‘principium cognoscendi’ zugleich, des Naturrechts angesehen wird, erhalten die Gesetze ihre Verbindlichkeit nur einmal, indem sie von Gott erschaffen werden; die Methode muß aber verdoppelt werden, weil die einfache Betrachtung der menschlichen und gefallenen Natur nicht hinreichend ist und durch die Deduktion Gottes ergänzt werden muß. Damit erklärt sich auch, warum der Staat eine eher geringe Rolle im Aufbau ihres Naturrechts spielt. Ein rationales Defizit an Verbindlichkeit des Naturrechts wurde mit dem Einsatz des Staates einerseits und mit der vernunftmäßigen Vorstellung Gottes andererseits nachgeholt.

VI. Der logische Aufbau der Welt Als Schöpfer der natürlichen und menschlichen Welt ist Gott selbstverständlich das ‘principium essendi’ des Naturrechts, die wahre Ursache seiner Existenz. Wenn er aber auch als die eigentliche Quelle aller Verbindlichkeiten verstanden wird, muß er auch als ‘principium cognoscendi’ des Naturrechts gelten.54 Eine Verpflichtung (‘obligatio’) ist nämlich eine Verbindung einer freien BestimVgl. Christoph August Heumann, Observatio moralis de distinctione iuris naturalis in absolutum et hypotheticum, item de discrimine iusti, honesti, aequi ac decori, in: Acta eruditorum, Supplementa, to. 4, sect. 9, 1711, 410–419; Justus Henning Böhmer, Introductio in ius publicum universale (1710), Halle 21726, 126; Gundling, Ius naturae ac gentium (wie Anm. 9), cap. 2, § 28: Quin [nostra propositio] sit adaequata extra disceptationem iam videtur constitutum, quoniam legem naturae absolutam et hypoteticam, ethicam et iurisprudentiam, quietem internam, quam operatur virtus, et externam, quam praecipit modestia et iustitia stricte sic dicta distinximus, et actiones aperte immodestas et iniustas ab inhonestis iniquisque curate discrevimus; Nikolaus Hieronymus Gundling, Vorbericht zu denen Winter-Lectionen MDCCX, in: N.H. G., Sammlung kleiner Teutscher Schriften, und Anmerckungen, Halle 1737, 94–142, hier 128; Joachim Georg Darjes, Institutiones iurisprudentiae universalis (1740), Jena 21745, 7. Vgl. Merio Scattola, Models in History (wie Anm. 14), 154–157; M. S., Dalla virtù alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell’età moderna, Milano 2003, 358–366. 54 Vgl. Köhler, Exercitationes iuris naturalis (wie Anm. 1), exerc. 2, §§ 296 und 297, 361. 53

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mung mit einer wirkenden Ursache. Gott ist aber der Ursprung aller Verbindungen der Welt und die erste Ursache des ‘nexus rerum’; in dieser Beschaffenheit gewährleistet er auch die Verbindung zwischen Gesetz und Zwang.

1. Das göttliche Prinzip In den Initia philosophiae practicae beweist Baumgarten die Notwendigkeit des göttlichen Prinzips auf eine eher indirekte Weise, indem er von der unterschiedlichen Beschaffenheit der Gesetze aus argumentiert. Die Tatsache, daß ein Gesetz natürlich ist, schließt nämlich nicht aus, daß dasselbe Gesetz gleichzeitig auch positiv sein kann, wenn es sowohl der Natur des Handelnden als auch dem Willen eines Gesetzgebers entspringt.55 Unter den menschlichen Gesetzen können einige natürlich und einige positiv sein, und ähnlich ist es auch unter den göttlichen Gesetzen, die dann als positiv bezeichnet werden, wenn wir ihren Grund nicht einsehen können. Der Wille Gottes, der die höchste Freiheit genießt, folgt aber immer der vollkommensten Wissenschaft, und daher haben alle seine Gesetze immer einen zureichenden Grund sowohl in der Natur des Handelnden als auch in jener der Handlung; als solche müssen sie auch dem Naturrecht angehören und sind daher vollkommen naturgemäß. Und da Gott immer das Gute will, sind auch alle natürlichen Gesetze gleichzeitig göttlich positive Gesetze. Da Gott das allerhöchste Gut ist, müssen alle göttlichen Gesetze natürlich, und wiederum alle natürlichen Gesetze göttlich oder positiv sein. Zwischen dem Willen Gottes im Betreff auf die menschlichen Handlungen und dem Naturrecht waltet eine strenge Notwendigkeit. Der menschliche Verstand kann in den meisten Fällen diese Verbindung erfassen, in einigen Fällen kann er sie aber nicht einsehen, und wegen des eigenen Mangels sieht er darin eine Äußerung der göttlichen Willkür.56 Diese Übereinstimmung vom Vernünftigen und Natürlichen in Gott ist der eigentliche Beweis, daß das höchste Wesen das letzte Prinzip des Naturrechts ist. Aus ihm fließt eine ununterbrochene Kette von untergeordneten Prinzipien, die gleichzeitig natürlich und positiv göttlich sind und die bis zu den einzelnen Normen des Naturrechts heruntersteigen.57 Wenn zwei unterschiedliche Prinzipien eine Verbindung eingehen, müssen sie einander über- oder untergeordnet sein: Das eine muß ursprünglich und unbedingt, das andere bedingt und abgeleitet sein. Das ursprüngliche Prinzip eines untergeordneten Prinzips ist auch Prinzip aller dessen Wirkungen. Wenn also Gott das Prinzip oder der Schöpfer 55 56 57

Vgl. Initia, § 66. Vgl. ebd., § 69. Vgl. ebd., § 70.

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des Handelns und der Handelnden ist, indem er sowohl die Menschen als auch die Gesetze des praktischen Lebens schuf, muß er gleichzeitig auch Prinzip des Naturrechts sein, das die Wirklichkeit beider regelt. Principium principii (essentialiter subordinati) est principium principiati, Metaphysica, § 307, 317. Deus est principium naturae actionis et agentis, Metaphysica, § 875, 926. Ergo et illius, quod ex his cognoscitur, iuris naturae, quatenus utriusque tantum realitates attenduntur, § 36, Philosophia practica prima, § 100. Quantumcunque supponatur ius naturae, quicquid in eodem est boni, non dependet solum ab intellectu Dei, sicut omnia vera, sed etiam ab eiusdem voluntate, nec ab eiusdem voluntate solum, sed etiam decreto naturam agentis et actionis et permissionem limitum in iisdem actuante.58

2. Der Stufenbau der Prinzipien Jede Disziplin muß ein Prinzip haben, das heißt, einen Grundsatz, aus dem alle anderen Aussagen derselben Disziplin gewonnen werden sollen. Dies ist ihr objektives Prinzip. Daneben muß sie auch ein subjektives Prinzip haben, ein Vermögen der Seele, das die Erkenntnis des objektiven Prinzips und dessen Folgen ermöglicht. Jedes Prinzip einer Disziplin setzt wiederum die Existenz anderer Prinzipien voraus, die entweder in derselben Deduktion zusammenwirken oder den ersten Grundsatz rechtfertigen. In jeder Disziplin findet man daher unterschiedliche Sorten von Prinzipien. Einige unter ihnen sind der Disziplin fremd; einige sind der Disziplin eigen („domestica“, „interna“, „propria“). Unter diesen muß auch ein erstes Prinzip sein, das so beschaffen ist, daß es von keinem anderen Prinzip abhängt oder keines über sich zuläßt; die anderen „principia domestica“ werden dagegen aus ihm hergeleitet. Auch die fremden Prinzipien unterteilen sich in „episodica“, die nur als Hilfsmittel der Argumentation herangezogen werden, wie wenn die Jurisprudenz die Grundsätze der Mathematik anwendet, um die Frist einer Verjährung zu rechnen, und in „propaeudetica“ oder „praeliminaria“, die zur Beweisführung des ersten und eigenen Prinzips notwendig sind.59 Ius naturae, cap. 1, sect. 1, § 26. Initia, § 87: Principium alicuius disciplinae obiectivum est propositio, ex qua dogmata ad eam disciplinam pertinentia deduci possunt, subiectivum ea facultas animae, qua ad talem disciplinam cognoscendam in primis utendum est. Principia disciplinae obiectiva iterum sunt vel peregrina (externa, communia, illata) quae ad datam disciplinam, ut conclusiones, sive partes in ea demum docendae, non pertinent, vel domestica (interna, propria, innata) quae, ut conclusiones etiam, ad datam disciplinam pertinent, partes eius, in ea demum praecipue docendae. Horum primum est, quod non iterum ex alio domestico deducitur, quod deducitur ex domesticis aliis derivatum est, § 84. Peregrina denuo sunt vel propaedeutica, (praeliminaria,) quae domestico 58 59

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Aus der Beschaffenheit der „propädeutischen Prinzipien“ ergibt sich eine wichtige Folge für den systematischen Aufbau des Naturrechts und für die naturrechtliche Verbindlichkeit. Nur in der Metaphysik ist das eigene Prinzip, das Identitätsprinzip, auch schlechthin erstes Prinzip, und dies bedeutet, daß die Metaphysik kein fremdes Prinzip anerkennt und auf keine andere Disziplin angewiesen ist. Sie beginnt mit sich selbst.60 Dagegen muß das Prinzip der Metaphysik in allen anderen Disziplinen vorausgesetzt werden. Diese können nur relative erste Prinzipien besitzen, neben denen auch eine Vielzahl von fremden Prinzipien wirken muß. Eine untergeordnete Disziplin, wie die praktische Philosophie oder, noch mehr, das Naturrecht, besteht daher aus einem ersten und eigenen Prinzip, das aber nicht vollkommen selbständig ist, weil es zu seiner Begründung auf weitere, höhere, übergeordnete Prinzipien und Disziplinen hinweist. Sämtliche Disziplinen und Prinzipien bilden eine rationale Kette, die letzten Endes von einem einzigen Prinzip, vom ersten Prinzip der Metaphysik, vom Identitätsgrundsatz, abhängt. Das objektive Prinzip des Naturrechts läßt sich durch die drei Aussagen „Neminem laedas“, „Suum cuique tribues“ und „Honeste vive“ ausdrücken.61 Diese gehen wiederum auf das Prinzip der praktischen Philosophie „Praesta bonum sive quaere perfectionem quantum potes“ zurück62 und so weiter, bis der Beweisvorgang bis zur Metaphysik und ihrem ersten Grundsatz kommt. Die Notwendigkeit des naturrechtlichen Prinzips und aller seiner Folgen hängen damit von der Notwendigkeit des ersten metaphysischen Prinzips ab: Wie der erste und übergeordnete Grundsatz rational notwendig ist, so ist auch das untergeordnete Gesetz rational verbindlich. Die untergeordneten Disziplinen erhalten aber von den übergeordneten nicht nur „principia propaedeutica”, sondern auch viele von ihren Schlußfolgerungen. Die Metaphysik beginnt mit dem Identitätsgrundsatz und endet mit der rationalen Deduktion Gottes als „ens perfectissimum”, das also nicht nur Prinzip des Denkens, sondern auch Prinzip des Seins, „principium essendi”, primo probando adhibentur, vel episodica, quae primo domestico iam sumpto nonnunquam tamen ad deducenda ex eodem alia sunt huic assumenda ex aliis doctrinarum seriebus, ut lemmata. Sola metaphysica habet principium obiectivum absolute primum domesticum, Metaphysica, § 1, 7, in reliquis illud est omnibus propaedeuticum, non raro simul cum suis consectariis episodicum. Reliquarum disciplinarum principia domestica sunt omnium non, nisi relative, prima, ita, ut haec in scientiis semper supponant propaedeutica. Erunt autem adaequata suae disciplinae principia obiectiva domestica prima, si ex iis nec plures, nec pauciores conclusiones fluunt, quam quae et quatenus ad datam disciplinam, tanquam partes spectant, Metaphysica, § 311. Haec applicentur ad principia iuris, philosophiae practicae, iuriumque naturalium et philosophicorum, quatenus spectantur, ut disciplinae, vel scientiae, § 1, 65. 60 Vgl. Metaphysik, Prolegomena, §§ 1 und 7. 61 Initia, §§ 92–94. 62 Ebd., § 91.

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ist.63 Insofern ist Gott ein unentbehrliches Prinzip des Naturrechts, das ohne ein höchstes und vollkommenes Wesen weder existierte noch erkannt werden könnte. Demzufolge ist Gott der Gesetzgeber des ganzen Naturrechts, wobei zu beobachten ist, daß Baumgarten als Gesetzgeber nicht denjenigen definiert, der ein Gesetz formuliert, sondern denjenigen, der ein Gesetz mit einem verbindlichen Zwang versieht. Als Gesetzgeber ist Gott also nicht der Erfinder des Gesetzes, sondern der Erfinder der Verbindlichkeit. Man kann auf zweierlei Weise beweisen, daß Gott der Gesetzgeber oder die erste Ursache des ganzen Naturrechts ist. Einerseits ist er der Schöpfer aller Dinge und daher auch der naturrechtlichen Verbindlichkeit und der naturrechtlichen Gesetze, die etwas Wirkliches sind. Auctor obligationis, quam lex enuntiat, eam legem ferre dicitur, et qui ius habet leges ferendi, legislator late dictus, eiusque legis, quam tulit, legislator est. Iam Deus est auctor naturae universae, Metaphysica, § 940, 466, et omnium inde evenientium realium, Metaphysica, § 959. Obligationes autem naturales sunt reale quid et positivum, § 12, Metaphysica, § 36, et in eadem rationem sufficientem habent, § 39. Ergo Deus est auctor obligationum, adeoque et legum naturalium, Metaphysica, § 940, 317. Ad quas ferendas cum summum ius habeat, Metaphysica, § 972, legum naturalium totiusque iuris naturae late dicti legislator est. Obligatio, ius, et lex divina sunt, quae Deum auctorem et legislatorem habent. Ergo ius naturae et singulae leges obligationesque naturales divina sunt, licet ab obiecto personali sive obligandis humana simul dici possint, cognoscunturque per revelationem divinam naturalem, Metaphysica, § 986, eatenus naturalia. Si vel simul per revelationem strictius dictam, Metaphysica, § 986, vel omnino per strictissime dictam, Metaphysica, § 989, eatenus sunt positiva divina, § 63.64

Andererseits sind die Gesetze des Naturrechts im höchsten Maße vernünftig und gelten als eine Folge oder eine Ableitung von der höchsten Vernunft.65 Die Verbindlichkeit, die Gott dem Naturrecht als dessen Autor verleiht, besteht eigentlich in der Tatsache, daß es konsequent ist. Da alle naturrechtlichen Gesetze auf Gott zurückgehen, müssen sie rational sein, wie das höchste Wesen rational ist, dessen erste Vollkommenheit die vollkommene Vernunft ist.66 Wenn man also die Existenz Gottes nicht beweisen könnte, könnte man auch keine Verpflichtung begründen. Die Verbindlichkeit des Naturrechts hängt daher unmittelbar von ihrer göttlichen Herkunft ab und letztere fällt mit der Vernunft Gottes zusammen, die der erste und wahre Grund der naturrechtlichen Verbindlichkeit ist.

63 64 65 66

Metaphysik, § 926. Initia, § 100. Ebd., § 101. Metaphysik, §§ 816 und 817.

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3. Subjektives Prinzip und Ästhetik Die Ableitung des Naturrechts aus der göttlichen Vernunft erfordert aber zur gleichen Zeit auch das Wirken des zweiten und subjektiven Prinzips des Naturrechts. Obwohl das Gerechte von Gott objektiv gegründet wurde, kann es nämlich nichtsdestoweniger subjektiv nur durch den individuellen Verstand anerkannt werden.67 Vom Gesichtspunkt des einzelnen Menschen ist dieses menschliche Vermögen gleichzeitig auch die wahre Ursache der Verpflichtung. Da der Mensch sich in erster Linie durch den Besitz der Vernunft definiert, muß er sie auch anwenden und ihren Geboten gehorchen. Wer einer vernunftmäßigen Deduktion widerspricht, verleugnet den Inbegriff seines eigenen Wesens und hört auf, Mensch zu sein. Daher rührt die Verbindlichkeit durch die Vernunft: Will man ein Mensch sein, muß man der eigenen Vernunft gehorchen. Die Vernunft aber beweist, daß Gott das höchst vernünftige Wesen ist und daß er das Naturrecht erlassen hat. Dementsprechend muß man immer den Gesetzen des Naturrechts folgen, auch wenn man Atheist ist. Zwar läßt die vernunftmäßige Erkenntnis unterschiedliche Grade und Varianten zu: empirische, historische und poetische Varianten.68 Nachdem man den Kern der naturrechtlichen Gesetze durch die Vernunft anerkannt hat, kann man auch weitere Gebote durch andere Formen der Empfindung erfassen oder die Unwissenden dieselben Gebote auf kunstgemäße und „ästhetische“ Weise lehren.69 Damit verläßt man aber den eigentlichen Bereich der Wissenschaft Initia, § 99. Metaphysik, § 649. 69 Initia, § 99: Principium iuris naturalis late dicti subiectivum est, per territorium rationis, ratio, per territorium analogi rationis, huius analogon, quod et hic aliqui vocant experientiam, § 87, 95, et quoniam iura naturae praestat confusius nosse, quam omnino ignorare, hinc et apud alios docendos, qui ea in dicionem rationis et scientiae vel non possunt, vel non volunt admittere, territorio analogi rationis potius inferre, quam in incognito omnino relinquere, § 97. Duplex hic suadendum est connubium rationis et eiusdem analogi, Metaphysica, § 640, 1) quo post tot iura naturae, quot possumus, scientia rationalique probabilitate cognita, non tamen negligamus alia sensitive potius apprehendere, quam omnino ignorare, 2) quo eadem, quae scimus, vel ratione saltim probabili intelligimus, possimus etiam aesthetice pingere scientiae severiorisque probationis incapacibus, Metaphysica, § 533. Hinc novus usus subsidiorum ad ius naturae pertinentium, praeter inventionem scientiae, § 79, licet exsulent ex territorio scientiae iurium naturalium eo tantum manuducentia, § 76, 95; ebd., § 79: Sicuti ius naturae vel late, vel stricte dicitur, § 65 ita est etiam iurisperitia et scientia naturalis late dicta legum naturalium quarumcumque, et stricte dicta, externarum tantum, est iurisprudentia naturalis late dicta habitus subsumendi facta sub legibus naturalibus quibuscumque, sed sub externis tantum, stricte dicta. Neutra iuris naturae scientia potest ullas suas leges demonstrare ex rationibus historicis. Res facti, historiae, consilia prudentium, auctoritates oratorum, poetarum, philosophorum, revelationis stricte dictae, fictiones, hypotheses philosophicae heic esse non possunt principia demonstrandi, recte tamen referri possunt ad declarationes, ut illustrantia, et ad subsidia heuristica, seu media inveniendi vel in 67 68

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und tritt in das Feld der pädagogischen Hilfsmittel ein. Dies war allerdings der Bereich eines anderen Baumgarten, Nathanaels, Alexanders jüngeren Bruders, der eine Tragödie schrieb, um den Zuschauern die Gebote des Naturrechts und der praktischen Philosophie einzuprägen. Das wäre aber ein anderes Kapitel.70 Alexander Gottlieb Baumgarten entwickelte seine Lehre des Naturrechts sowohl in den Initia philosophiae practicae primae aus dem Jahre 1760 als auch im posthumen Ius naturae aus dem Jahre 1763. In ersteren lieferte er eine Grundlegung aller Teile der praktischen Philosophie im Hinblick auf die Moralphilosophie Christian Wolffs, in letzterem kommentierte er die Exercitationes iuris naturalis VII Heinrich Köhlers. Aus der Kombination beider Perspektiven konnte Baumgarten die Voraussetzungen der modernen Naturrechtslehre näher bestimmen und damit einen wesentlichen Beitrag zur Epistemologie des naturrechtlichen Prinzips liefern. Mit Köhler stimmte er darin überein, daß die praktische Philosophie zwei Methoden in der Ableitung des Naturrechts anerkennt. Die philosophische Methode kann nämlich die allgemeinen Grundsätze der Moralphilosophie aus der Betrachtung der bloßen Natur des Menschen gewinnen und ihre Schlüsse auch für den Atheisten gelten lassen. Eine vollständige Beschreibung des Naturrechts kann aber nur durch eine naturtheologische Methode erreicht werden, die mit der vernunftmäßigen Betrachtung der Natur Gottes ansetzt. So ist Gott das wahre Prinzip des Naturrechts, sowohl objektiv als auch subjektiv; nichtsdestoweniger kann die zweifache Methode die wahre Universalität des Naturrechts gewährleisten, weil sie auch den Atheisten mit berücksichtigt, der eben die theoretische Existenz eines höchsten Wesens leugnet. Zuletzt ließ Baumgarten auch eine ästhetische Behandlung des Naturrechts zu, was aber eine bloß außerwissenschaftliche Möglichkeit blieb, die nur zu propädeutischen Zwecken eingesetzt werden durfte. Alexander Gottlieb Baumgarten presented his natural law in the Initia philosophiae practicae (1760) and in the Ius naturae, which was published posthumous in 1763. In the former work he developed a foundation of the whole moral philosophy using the means offered by Christian Wolff; in the latter he commented the Exercitationes iuris naturalis VII by Heinrich Köhler. Combining both perspectives Baumgarten gained a deeper insight into the theoretical premises of modern natural law and offered an important contribution to the epistemology of moral and memoriam revocandi quasdam conclusiones deinde aliunde demonstrandas, § 2. Rationes iuris naturalis stricte dicti morales tum universi, tum legum eius peculiarium attendere bonum est, § 58, 59, non tamen ex iis temere et promiscue quibuscumque tentanda est horum demonstratio, quatenus sunt iuris naturalis stricte dicti, i. e. externe obligantia, § 65. Rationes eius legales ex iure positivo essent heic simul historicae, hinc ad demonstrationem aeque inutiles, § 77. 70 Nathanael Baumgarten, Der sterbende Socrates. Ein Trauerspiel, Berlin 1741, ND in: Reinhart Meyer (Hg.), Das deutsche Drama des 18. Jahrhunderts in Einzelstücken, Abt. 1: Das Repertoire bis 1755, Bd. 1.1: Das Trauerspiel, München 1981, 3–55. Vgl. Merio Scattola, Il personaggio nel teatro tedesco di metà Settecento, in: Franco Marenco (Hg.), Il personaggio nelle arti della narrazione, Rom 2007, S. 345–370.

Die Naturrechtslehre und das Problem des Prinzips

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legal sciences. He agreed with Köhler on the idea that moral philosophy can use two different methods in the deduction of its system. The philosophical method gains some general principles of morality through the analysis of human nature and puts forward conclusions that can be acknowledged also by an atheist. But a complete description of natural law can be achieved only through a theological method, which begins with the notion of God. In this sense, God is the true principle of natural law, both in a subjective and in an objective way. Nevertheless, since it includes the case of the atheist, this double method grants the universality of natural law. Finally, Baumgarten admitted an aesthetic treatment of natural law, buttreated it only as a demonstration that did not match the conditions of a science and was to be used only for didactic purposes. Prof. Merio Scattola, Università di Padova, Dipartimento di Lingue e letterature anglogermaniche e slave, Via Beato Pellegrino, 26, I-35137 Padova, E-Mail: [email protected]

K U R Z BI O G R A P H I E

JOHANN STEPHAN PÜTTER (1725–1807)

Johann Stephan Pütter wurde am 25. Juni 1725 im preußischen Iserlohn in eine Familie kaufmännischer Tradition hinein geboren. Durch den frühzeitigen Verlust seines Vaters mit erst sieben Lebensjahren gewann sein um zwanzig Jahre älterer Bruder, selbst Advokat und Gerichtsschreiber in Iserlohn, erheblichen Einfluß auf seine Erziehung, so daß Pütter, obwohl schon in jungen Jahren des Lateinischen, Griechischen und Hebräischen mächtig und im Chaldäischen und Syrischen unterrichtet, nicht etwa Orientalist, sondern Jurist wurde. Seine frühe Bildung verdankte Pütter privatem Unterricht sowie dem reformierten Pfarrer Stolte in Hohen-Limburg. Im selbst für die damalige Zeit ungewöhnlich niedrigen Alter von 13 Jahren bezog Pütter zu Ostern 1738 die Universität Marburg. Dort hörte er bei Christian Wolff reine Mathematik und Metaphysik und bei Johann Adolph Hartmann Logik, Universalhistorie und Reichsgeschichte. Nach anderthalb Jahren wechselte Pütter nach Halle, da die Vorlesungen in Marburg daran litten, nicht binnen eines halben Jahres zu Ende geführt zu werden. „Potztausend, er wird doch nicht schon in Marburg studiert haben“ soll der damalige Rektor der Universität Halle, Pütters Selbstbiographie (S. 36) zu Folge, ausgerufen haben, als dieser dort zur Einschrei-

bung vorsprach. In Halle besuchte Pütter nun vornehmlich die Vorlesungen Johann Gottlieb Heineccius zur Rechtswissenschaft sowie die Vorlesungen zur Philosophie und Theologie der Brüder Siegmund Jakob und Alexander Gottlieb Baumgarten. Über Letzteren schreibt Pütter voller Bewunderung in seiner Selbstbiographie (S. 40): „So dunkel und übertrieben laconisch dieser gründliche gelehrte Mann in seinen lateinisch geschriebenen Lehrbüchern über die Metaphysik und Moral war, so lichtvoll und angenehm war sein mündlicher Vortrag.“ Seinen aber wohl einflußreichsten Lehrer, sowohl für seinen wissenschaftlichen Entwicklungsgang wie für seine Lebensschicksale, traf Pütter mit Johann Georg Estor – einem Schüler von Nicolaus Hieronymus Gundling – allerdings in Jena, wo er von 1741 bis 1742 studierte, bevor er 1744, achtzehnjährig, sein Studium in Marburg beendete, Licentiat wurde und seine Dissertation De praeventione atque inde nata praescriptione fori publizierte. Maßgeblich für den weiteren Lebensweg Pütters war wohl die Tatsache, daß seiner akademischen Tätigkeit – er las im Hörsaal Estors Reichsgeschichte, Privatund Naturrecht – unausgesetzt eine praktische zur Seite ging. So erlangte Pütter durch die erfolgreiche Verteidigung eines hessischen Hauptmanns von Kno-

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blauch, die er auf Empfehlung Estors übertragen bekam, nicht nur großes Ansehen, sondern verdankte dem glücklichen Ausgang des Prozesses auch einige durchaus folgenreiche Bekanntschaften im Adel. So wurde Pütter letztlich dem Großvogt Gerlach Adolf von Münchhausen empfohlen, der für die gerade neu begründete Universität Göttingen eine Vorlesung über „Reichsproceß“ in den Göttinger Studienplan einzuführen bemüht war. Pütter wurde beim Minister in Hannover vorstellig und trat nach Beendigung der Marburger Vorlesungen und einer einjährigen akademischen Reise über Regensburg, Wien, Prag, Dresden, Leipzig, Berlin, Wittenberg und Helmstedt 1747 eine Stelle als Extraordinarius der juristischen Fakultät der Universität Göttingen an. Sechzig Jahre lang sollte die Stadt nun sein Wohnsitz, beinahe ebenso lang die Stätte seines Lehrens und Wirkens sein. In den folgenden Jahren gelang Pütter an der Universität Göttingen ein durchaus ansehnlicher Aufstieg, wenngleich ihn als Karrierist zu bezeichnen, übertrieben wäre. Pütter war ein überaus zurückhaltender, besonnener und höflicher Mann, der geduldig darauf wartete, daß die Reihe an ihm sei. Dies wird deutlich, wenn er zum Beginn seiner Lehrtätigkeit schreibt: „Meine Hauptbestimmung war zwar der Reichsgeschichte und dem Teutschen Staatsrechte gewidmet. Aber so lange Schmaus und Koeler, beide die Geschichte, der letztere das Staatsrecht, lehrten, wäre es noch sehr zur Unzeit gewesen, wenn ich in diesen Fächern nebst so verdienstvollen Männern hier auch schon als Lehrer hätte auftreten wollen. Um keine unzeitige Eifersucht darüber zu erwecken, ließ ich auch in meiner Einladungsschrift von meiner künftig darauf gerichteten Bestimmung nichts einfließen“ (Selbstbiographie, S. 175). Durch das Ableben seiner Kollegen

schritt Pütter von Stufe zu Stufe in den geregelten Bahnen des akademischen Lebens fort, bis ihm letztlich der Tod G.L. Böhmers 1797 Aussicht auf die erste Fakultätsstelle verschaffte, die er jedoch ablehnte, um zum professor juris primarius ernannt zu werden. Zu diesem Zeitpunkt war Pütter längst zum Hofrath (1758) bzw. Geheimen Justizrath (1770) befördert worden, auch, weil er weiterhin in der Gunst Münchhausens stand. Pütter las öffentlich und privat (in deutscher und französischer Sprache) zwei bis drei Stunden täglich Staatsrecht, Reichsgeschichte, Reichsprozeß, Privatfürstenrecht, gelehrte Geschichte der Jurisprudenz, Naturrecht, Deutsches Privatrecht, Juristische Encyklopädie sowie sein staatsrechtliches Praktikum – die erste Übung im Öffentlichen Recht überhaupt – und seine Lehrtätigkeit entfaltete sich von Jahr zu Jahr glänzender. Auch seine publizistische Tätigkeit zeugt von ungeheurem Fleiß, wobei sich Pütter neben religiösen Themen, vor allem theoretischen und überaus praktischen Belangen der Jurisprudenz widmete. So befasste sich Pütter etwa in Zugabe zur Anleitung zur juristischen Praxis, als deren zweyter Theil; insonderheit von der Orthographie und Richtigkeit der Sprache, und vom Teutschen Canzley-Ceremoniel (1765) mit der Rechtschreibung in juristischen Akten. Bemerkenswerten Ruhm erlangte Pütter jedoch als begnadeter akademischer Lehrer. So ließt man am Ende des 19. Jahrhunderts in der Allgemeinen Deutschen Biographie (Bd. 26, S. 768): „Zahlreiche Mitglieder des Adels und der höheren Beamtenwelt, alles, was in dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts eine Stellung im deutschen Staatsleben einnahm, ist aus Pütter`s Hörsaal hervorgegangen. Es mag die ausdrückliche Nennung eines Staatsmanns genügen, Hardenberg`s, von dem Ranke sagt: unter den

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Schülern Pütter`s wird sich vielleicht keiner finden, der die Doctrinen desselben mit größerer Application und Selbstthätigkeit in sich aufgenommen hätte.“ So mag es kaum verwundern, daß Pütter im Laufe der Zeit einige ehrbare Rufe, etwa nach Halle, Gießen oder Leipzig, und zahlreiche Angebote praktischer Stellen erhielt, hierunter 1766 sogar die eines Reichshofrathes am kaiserlichen Hof. Aber nichts konnte ihn bewegen, die Göttinger Professur aufzugeben, zumal Pütter ein ausgesprochen unpolitischer Mensch war, dem nach eigener Aussage „höhere Politik zu treiben über den Horizont“ ging. Seine Biographen im 19. Jahrhundert legen ihm dies als Fehler und Schwäche aus. In Bezug auf die Besserung öffentlicher Rechtszustände habe sich Pütter „alles Raisonnement“ enthalten, lautet der Vorwurf in der Allgemeinen Deutschen Biographie (Bd. 26, S. 771). Pütter hat sich aber durchaus zu rechtspolitischen Fragen seiner Zeit geäußert, allerdings nur dann, wenn er von öffentlicher Stelle hierzu befragt wurde. Als Beispiele seien seine Schriften Über die Rechtsmäßigkeit der Lotterien, insonderheit der Zahlungslotterien; eine rechtliche Erörterung (1780) und Der Büchernachdruck, nach ächten Grundsätzen des Rechts geprüft (1774) erwähnt. Seine bevorzugten Themen sind jedoch die des „Teutschen Fürstenrechts“ und des „Reichprozeß“, welche im Geist des Westphälischen Friedens (1795) ihre reifste Gestalt finden, sowie das der „Reichsgeschichte“, welches in Historische Entwicklung der heutigen Teutschen Staatsverfassung (1787), einer Auftragsarbeit für die englische Königin Sophie Charlotte, ihre vollendete Form erreicht. Allerdings wird Pütter in theoretischer Hinsicht in seinem Staatsrecht durch die politische Entwicklung des 19. Jahrhunderts mit seinem Konstitutionalismus

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überholt, wenngleich sein wohl wichtigster Schüler Gustav Hugo (1764–1844) zu den Vorarbeitern der Historischen Rechtsschule im 19. Jahrhundert zu zählen ist. Besonders hervorzuheben bleibt noch die außerordentliche sprachliche Qualität der pütterschen Schriften, in welchen Pütter, laut Johann Wolfgang von Goethe, „durch die Klarheit seines Vortrags auch Klarheit in seinen Gegenstand [...] gebracht“ habe. In den Jahren 1804/05 lassen Pütters geistige Kräfte rapide nach, woraufhin er 1805 seine Emeritierung einreicht. Seine Frau, die Tochter des Fürstlich Solmsischen Geheimen Rat Petronelle Stock, mit der er seit 1751 eine fünfundfünfzigjährige, glückliche, jedoch kinderlos gebliebene Ehe führte, stirbt – von ihm ob seiner geistigen Umnachtung unbemerkt – am 12. Juli 1806. Er selbst beendete sein tätiges, ruhiges und vergnügtes Leben als schwachsinnig gewordener Greis am 12. August 1807 und wurde in Göttingen beigesetzt. Literatur: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 26, Leipzig 1888, 749–777; Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 7, Herzberg 1994, 1051– 1064; Wilhelm Ebel, Catalogus Professorum Gottingensium 1734–1962, Göttingen 1962; W. E., Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, Göttingen 1975; Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 16: Dichtung und Wahrheit, München 1985; Gerd Kleinheyer, Jan Schröder (Hg.), Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, Heidelberg 41996; Heinrich Marx, Die juristische Methode der Rechtsfindung aus der Natur der Sache bei den Göttinger Germanisten Johann Stephan Pütter und Justus Friedrich Runde, Göttingen 1967; Johann Stephan Pütter, Selbstbiographie, Göttingen 1798, Erster Band; J.S. P., Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürstenrechte, Hildes-

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heim 2002; Patrick Ernst Sensburg, Die großen Juristen des Sauerlandes, Arnsberg 2002; Ulrich Schlie, Johann Stephan Pütters Reichsbegriff, Göttingen 1961; Jan Schröder, Gottfried Achenwall und Johann Stephan Pütter, Anfangsgründe des Naturrechts (Elementa Iuris Naturae), Frankfurt am Main 1995; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in

Deutschland, Bd. 1, München 1988; M. S. (Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert 21987; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, München 5 2005. Jakob Meier (Cottbus / Halle an der Saale)

TEXTEDITIONEN

ALEXANDER GOTTLIEB BAUMGARTEN Gedancken vom vernünfftigen Beyfall auf Academien Herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Alexander Aichele Rainer Enskat zum 65. Geburtstag

Einleitung I. Zum historischen Hintergrund Alexander Gottlieb Baumgarten hielt seine Antrittsvorlesung an der Viadrina zu Frankfurt an der Oder, an der er bis zu seinem Tode am 27. Mai 1762 trotz erheblicher gesundheitlicher Belastungen mit großem Erfolg lehren sollte, zu Beginn des Sommersemesters 1740. Sein erstes Auftreten in der akademischen Öffentlichkeit als ordentlicher Lehrer der Weltweisheit – in Halle war er drei Jahre zuvor, also im Alter von 23 Jahren, schon zum Extraordinarius ernannt worden – fällt also ziemlich genau mit dem Tod Friedrich Wilhelms I. und dem Regierungsantritt Friedrichs II. von Preußen am 31. Mai 1740 zusammen, den später alle Welt „den Großen“ nennen würde. Die seiner Antrittsvorlesung wenige Tage später folgende Rede zum offiziellen Antritt seines Amtes, zu der er am Ende seiner Vorlesung einlädt, nutzt Baumgarten denn auch dazu, „Sr. Königlichen Maiestät zu allerhöchst Deroselben glorwürdigst angetretenen Regierung in einem lateinischen heroischen Gedichte allerunterthänigst Glück zu wünschen“.1 Man wird nicht zu weit gehen, wenn man Baumgartens durchaus herkömmliche Panegyrik auch im Sinne des klassischen Fürstenspiegels versteht und die dort geäußerte Erwartung des Einzugs der Musen und der Herrschaft von Beyfall, § 13. Siehe dort 19) auch die bibliographischen Angaben zu dieser Antrittsrede samt ihrer deutschen Übersetzung von Nathanael Baumgarten. 1

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Wissenschaft und Aufklärung in Preußen nach der insbesondere kulturell eher entbehrungsreichen, aber ökonomisch und infrastrukturell äußerst erfolgreichen Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. durchaus ernstnimmt. Interessierte Untertanen konnten immerhin genug von den literarischen und musischen Neigungen gehört haben, denen der damalige Kronprinz in seinem Landschloß Rheinsberg oblag, um begründete Hoffnung auf einen Wandel Preußens vom Sparta zum Athen des Nordens zu hegen. Daß dies besonders für die Anhänger zeitgemäßer, moderner Philosophie galt, liegt auf der Hand: Christian Wolff war durch einen Erlaß des Soldatenkönigs am 8. November 1723 aus Halle und dem preußischen Staatsgebiet „bey Strafe des Stranges“2 vertrieben worden. Die Verbreitung und das Studium seiner Schriften waren seit dem 13. Mai 1727 ebenso durch königlichen Erlaß bei lebenslänglicher Karrenstrafe (Reinigung des Marktplatzes unter Ankettung an einen Schubkarren) verboten worden. Es mußte Baumgarten, der noch in der classa selecta der Lateinschule des Franckeschen Waisenhauses zu Halle unter Anleitung seines älteren Bruders Siegmund Jakob und während seines Studiums auf eigene Faust und durch Reisen an die Universität Jena bei den dort lehrenden Wolffianern die verbotene Philosophie genau studiert hatte,3 wenigstens als glückliches Zeichen erscheinen, daß der junge König quasi unmittelbar mit seiner Thronbesteigung die Rückberufung Wolffs nach Halle betrieb und Wolff dorthin schon am 6. Dezember 1740 im Triumph zurückkehrte.4 In dieser Atmosphäre also, die mit der Bildung des jungen Königs und der Rückkehr der Personifikation der deutschen Aufklärung5 nach Preußen für die gelehrte Welt alle Anzeichen einer Aufbruchstimmung tragen mußte, hielt Baumgarten seine Antrittsvorlesung. Schon dies ist gewissermaßen eine glückliche Fügung: Denn eigentlich war Baumgarten, der vermutlich „lieber in Halle geblieben wäre“,6 schon im Winter 1739 nach Frankfurt berufen bzw. befohlen worden, durfte jedoch aufgrund einer Petition seiner Studenten, welche noch die Billigung des Soldatenkönigs fand, bis Ostern 1740 weiter in Halle lehren. Es war also sein trotz seines konsequenten Festhaltens an der lateinischen So laut Text des Erlasses, in: Heinrich Wuttke, Ueber Christian Wolff den Philosophen. Eine Abhandlung, in: H. W. (Hg.), Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung, Leipzig 1841, 1–106, 28, Anm., in: GW I.10. 3 Vgl. dazu und zu Baumgartens Biographie: Ursula Niggli, Einleitung, in: Alexander G. Baumgarten, Die Vorreden zur Metaphysik (hg., übers. und komm. von Ursula Niggli), Frankfurt am Main 1998, XI–LXXXII, hier XIX–XVIII. 4 Vgl. die Belege bei Norbert Hinske, Wolffs Stellung in der deutschen Aufklärung, in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Wolff (1679–1754). Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der Wolff-Literatur, Hamburg ²1986, 306–319, hier 316. 5 Vgl. ebd., 315 f. 6 Niggli, Einleitung (wie Anm. 3), XXXV. 2

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Wissenschaftssprache und der Komplexität seiner Überlegungen sich einstellender eminenter Erfolg bei den Halleschen Studenten7 – denselben, die Wolffs Horsälen nach dessen Rückkehr dann notorisch fernblieben8 –, der letztlich für die beschriebene Koinzidenz von königlichem Regierungs- und professoralem Amtsantritt verantwortlich war. II. Das Thema der Vorlesung Bei Baumgartens offenkundigem Talent für die akademische Lehre kann die Wahl des Themas seiner Antrittsvorlesung, nämlich „das Urtheil derer Herren Studiosorum und sonst niemandes“ über „den mündlichen Vortrag [sc. des Lehrenden], und sonst nichts“,9 auf den ersten Blick kaum überraschen. Sie ließe sich vermutlich auch heute noch als Anleitung zur erfolgreichen Gestaltung der akademischen Lehre, insbesondere in ihrem öffentlichen Teil, d.h. der Vorlesungstätigkeit, gebrauchen. Das Erfolgskriterium, das Baumgarten dabei herausarbeitet, richtet sich allerdings weder nach der Anzahl der Hörer noch nach der Popularität des Vortrags. Solches ließe sich nämlich auch durch Zwang zur Anwesenheit oder Absenkung des Niveaus erreichen.10 Vielmehr gilt Baumgarten als einziges Kriterium für den Erfolg in der akademischen Lehre der „vernünfftige Beyfall“, der „aus richtiger Erkenntnis der Vorzüge des mündlichen Vortrags beym Lesenden herrühret“.11 Damit verdoppelt sich die Zielrichtung der Antrittsvorlesung: Nicht nur dem Hochschullehrer soll gezeigt werden, welche Eigenschaften sein Vortrag aufzuweisen hat, damit er im moraVgl. dazu ebd., XXXIII, die Belege, die u.a. immerhin von Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Johann Stephan Pütter und Friedrich Nicolai stammen, die Baumgartens Veranstaltungen in Halle bzw. Frankfurt besuchten. 8 Vgl. Hinske, Wolffs Stellung (wie Anm. 4), 315 und 309. Baumgarten hat Wolff selbst nie gehört: Im Jahr von Wolffs Vertreibung war Baumgarten erst neun und noch gar nicht in Halle, während er 1740 noch vor Wolffs Rückkehr nach Frankfurt ging. Aber vielleicht trifft eine hübsche Bemerkung, die sich in Baumgartens Antrittsvorlesung findet, obzwar sie vermutlich nicht auf Wolff bezogen wird, doch ungefähr den Grund des äußerst geringen Lehrerfolgs des alten Wolff, der im Jahr des Antritts seiner zweiten Professur in Halle immerhin schon 61 Jahre alt war. Sie lautet: „Wenn das Haupt mit Schnee bedeckt, scheint offt zugleich das Mundwerck etwas zu gefrieren.“ (Beyfall, § 10, Anm. ***). Der mit einem „extreme[n] Selbstbewußtsein“ (Hinske, Wolffs Stellung [wie Anm. 4], 315) gesegnete Wolff selbst war naturgemäß anderer Auffassung: So beklagt er den Verfall des „rechte[n] Eifer[s] zu gründlicher Erkenntniß“ in der Zeit seiner Abwesenheit, der das akademische Niveau in Halle wieder auf den Stand seines ersten Amtsantritts 1706 heruntergebracht habe (an Reinbeck [17.06.1741], zit. nach Wuttke, Ueber Christian Wolff (wie Anm. 2), 76. 9 Beyfall, § 2. 10 Vgl. ebd., §§ 2, 3 (Anm. **) und 6. 11 Ebd., § 3. 7

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lischen Sinne des honestum12 Beifall verdient, sondern es soll in erster Linie den Hörern die Möglichkeit gegeben werden, selbst trefflich zu beurteilen, ob die von einem Dozenten angebotenen Lehrveranstaltungen ihres Besuchs überhaupt wert sind, so daß sie daran aufgrund einer freiwilligen, rational rechtfertigbaren und authentischen Entscheidung teilnehmen können13 – oder eben auch nicht.14 Das hauptsächliche Anliegen von Baumgartens Antrittsvorlesung besteht daher in der Bildung der Urteilskraft seiner Hörer am Beispiel der Entscheidung über einen Vorlesungsbesuch. Bedenkt man nun die fundamentale Rolle, welche das Vermögen der Urteilskraft und seine Ausbildung sowohl für aufklärerisches Denken überhaupt als auch für die Epoche der Aufklärung im engeren Sinne spielt, wie dies Rainer Enskat herausgearbeitet hat,15 wird man nicht fehlgehen, wenn man Baumgartens, schon der Gelegenheit nach programmatische Überlegungen als Programm zur Entwicklung aufgeklärten Denkens und Handelns versteht. Dabei betont Baumgarten durchgehend die praktische Funktion der Urteilskraft, wenn er anfangs darauf hinweist, daß das Urteil, in dem der vernünftige Beifall besteht, sich in einer Handlung, nämlich dem regelmäßigen und freiwilligen Vorlesungsbesuch dokumentiert,16 und zum Ende des programmatischen Teils seiner Antrittsvorlesung die Notwendigkeit praktischer Relevanz für jede Erkenntnis, „nicht einmahl die Ontologie ausgenommen“,17 postuliert.18 III. Aufklärung der Urteilskraft Dies bedarf jedoch einer theoretischen Fundierung, welche die Ausbildung der Urteilskraft auch in ihrer theoretischen Funktion voraussetzt. Denn der vernünftige Beifall als Handlung folgt ja aus einer ‘richtigen Erkenntnis’, die wiederum erfordert, daß „man sich schon richtige Begriffe von einem guthen mündlichen Vortrage überhaupt gemacht“ hat.19 Hierzu läßt sich einigermaßen bequem auf

Vgl. ebd. Vgl. z.B. ebd., § 2, Anm. * und **. 14 Vgl. z.B. ebd., § 10, Anm. ***. Vermutlich liegt hierin der Grund dafür, daß Niggli, Einleitung (wie Anm. 3), XXXVI, Anm. 37, Baumgartens kleiner Arbeit ‘Kühnheit’ bescheinigt, ohne dies jedoch näher zu erläutern. 15 Vgl. insb. Rainer Enskat, Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008; aber auch den knappen historischen Überblick von Alexander Aichele, Urteilskraft, in: Heinz Thoma (Hg.), Handbuch der europäischen Aufklärung, Stuttgart, Weimar 2008. 16 Vgl. Beyfall, § 2, Anm. *. 17 Ebd., § 9, Anm. **. 18 Vgl. ebd., § 9. 19 Ebd., § 3, Anm. *. 12 13

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die Tradition der antiken Rhetorik, aber auch Poetik zurückgreifen. Baumgarten kann daher unter Anführung einiger Passagen aus Horaz und Quintilian bei dieser Gelegenheit auf eine ausführliche Begründung aller Kriterien für einen guten mündlichen Vortrag verzichten und sie als „bekannt genug“20 annehmen, so daß er zu folgender Bestimmung gelangt: „Folglich wäre der vollkommenste mündliche Vortrag, der die besten Sachen in der geschicktesten Ordnung durch die bequemsten Worte, nach ihren auserlesensten Zusammenfügungen, mit einer schönstens harmonirenden Beredsamkeit des Leibes andern beybrächte“.21 Man sieht leicht, daß Baumgarten hier unter Auslassung des Auswendiglernens (memoria) und besonderer Betonung der sachlichen Angemessenheit (aptum) den klassischen Ablauf der Herstellung einer öffentlichen Rede der rhetorisch-poetologischen Tradition übernimmt:22 Der eigentliche Vortrag, die sprachliche pronuntiatio und gestische actio, setzt zuerst die Auffindung (inventio) und Anordnung (dispositio) des Stoffs und sodann dessen sprachliche Ausarbeitung (elocutio) voraus. Gleichwohl – und daher stellt seine Antrittsvorlesung keine bloße Abhandlung über praktische Rhetorik dar – legt Baumgarten den Schwerpunkt seiner Ausführungen auf den durch die rhetorischen Bemühungen zu vermittelnden Gegenstand: „Doch bleiben die Gedancken das Haupt-Werck, und das, worauf am meisten auch deshalb zu sehen, weil sich das übrige nach ihnen richtet.“23 Nun liegt das Ziel eines akademischen Lehrvortrags ohne Zweifel in der Vermittlung wissenschaftlicher Kenntnisse und der Fähigkeit, diese auch selbständig zu erwerben und zu beurteilen. Daraus folgt eine moralische Pflicht des Dozenten zur ‘Treue’. Sie ist „das eintzige erlaubte Mittel, sich Beyfall auf Academien zu erwerben“,24 und steht anders als rhetorisches Talent und gesellschaftlicher Erfolg vollständig in der Kontrolle des Lehrenden.25 Diese ‘Treue’ hat wiederum sowohl eine praktische als auch eine theoretische Seite: Erstere besteht schlicht in der „anhaltende[n] Bemühung so viel Kräffte bey seinem Vortrag zuzusetzen, als nöthig sind, denen Pflichten Genüge zu thun, die man auf sich hat, wenn man iemand mündlich unterrichten soll“.26 Zweitere bezieht sich unmittelbar auf die Vermittlung positiver oder methodischer Kenntnisse. Diese müssen – so die theoretische Seite der Treuepflicht – alle wesentlichen Eigenschaften echter Erkenntnis besitzen. Diese besteht nach Baumgarten darin, „daß sie wahr, klar, gewiß und lebendig oder practisch sey, d.i. einige Trieb20 21 22 23 24 25 26

Ebd., § 4. Ebd. Vgl. Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik. Eine Einführung, Zürich 41995, 77 ff. Beyfall, § 4. Ebd. Vgl. ebd., § 10. Ebd., § 4.

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Federn und Bewegungs-Gründe zum vernünfftigen Handeln, zum klugen Thun und Lassen in sich enthalte“.27 Das primäre Kriterium, das aus dieser Liste ‘dieser vier Vollkommenheiten aller Erkenntnis’ notwendig erfüllt sein muß, ist das der Wahrheit.28 Ihre ‘Untersuchung’ obliegt sowohl dem Lehrenden als auch dem Hörenden:29 ersterem, insofern er sich vernünftigen Beifall verdienen soll; zweiterem, insofern er vernünftigen Beifall zollen soll. Dies setzt jedenfalls die Fähigkeit voraus, zwischen wahr und falsch bzw. wahrscheinlich und zweifelhaft unterscheiden zu können.30 Das hierfür zuständige Erkenntnisvermögen ist nach Baumgarten die Urteilskraft, welche Übereinstimmung oder Differenz verschiedener Vorstellungen vorstellt und diese dementsprechend durch Bejahung verknüpft oder durch Verneinung trennt.31 Dies bedeutet zunächst, daß dieses Vermögen zum einen prinzipiell jedermann zugesprochen und zum anderen als von Natur aus intakt, aber irrtumsanfällig und daher durch Übung verbesserungsfähig angenommen werden muß. Baumgarten nennt dieses natürliche Vermögen zur Verstandeserkenntnis den „angebohrne[n] Mutter-Witz“ (logica naturalis connata).32 Die Wissenschaft der Logik (logica artificialis) bezieht sich darauf in vervollkommnender Absicht.33 Die Fähigkeit, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden, wie auch ihr tatsächlicher Gebrauch ist folglich unabhängig von einer schulmäßigen Logik-Ausbildung. Der Erfolg des Gebrauchs jenes natürlichen Vermögens richtet sich danach, ob er „nach denen ewigen Gesetzen geschehe, die Wahres und Falsches voneinander scheiden“,34 d.h. er unterliegt jedenfalls in erster Linie hinsichtlich der Bildung von Begriffen und ihrer Verknüpfung zu Urteilen dem principium contradictionis und seiner Derivate und erst sodann bezüglich der Möglichkeit referentieller Anwendung von Begriffen und Urteilen dem principium rationis sufficientis. Ganz offensichtlich gelangt indes auch der logische Laie häufig zu wahren Urteilen und folgt damit unbewußt jenen Prinzipien, zuallererst freilich dem ersteren, da dies allein auf den ‘angeborenen Mutterwitz’ rekurriert und der Anwendung seiner Resultate vorausgehen muß. Dieser Gebrauch des Mutterwitzes, der ohne Zweifel zumindest funktional mit der verstandesmäßigen Urteilskraft in eins fällt, kann jedoch auch bewußt erfolgen. Dieser bewußte Gebrauch, der seine Ergebnisse auf die genannten Prinzipien zurückzuführen und so zu legitimieren weiß, d.h. 27 28 29 30 31 32 33 34

Ebd., § 5. Ebd. Vgl. ebd., §§ 5 und 6. Vgl. ebd., § 8, Anm. *, und Logik, §§ 350 ff. Vgl. Metaphysik, § 607, und Logik, § 117. Logik, § 11, Anm. Vgl. ebd., § 13. Beyfall, § 5.

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auch eigene und fremde Fehler zu erkennen, zu korrigieren oder zu vermeiden vermag, ist das Ziel der logischen Ausbildung. Sie darf folglich nicht der bei jedem Menschen vorauszusetzenden natürlichen Logik zuwiderlaufen, um Anspruch auf vernünftigen Beifall erheben zu dürfen. Baumgarten stellt sich dabei unübersehbar in die Tradition der Logique de Port-Royal,35 wenn er die grundlegende Bedeutung der Fähigkeit zu treffendem Urteil und deren Ausbildung hervorhebt:36 Weil die Schlußlehre für alle formal korrekt gebauten Aussagen gilt, ist vordringlich auf die Wahrheit bzw. Falschheit derjenigen Urteile zu achten, die als Prämissen in Schlüssen fungieren können. Die Ausbildung in der Syllogistik muß demzufolge zugunsten der – modern gesprochen – eher in den Bereich der Erkenntnistheorie fallenden Unterweisung und Übung im Gewinn wahrer Urteile bzw. in der Unterscheidung von wahren und falschen Urteilen zurückgestellt werden, ohne daß die Syllogistik, von deren Beherrschung die Möglichkeit wissenschaftlichen Beweisens bzw. Darstellens abhängt, freilich ausgeblendet werden darf. Weil aber mit dem Gewinn wahrer Urteile jede beweisend verfahrende Wissenschaft anfängt und die Wahrheit den Menschen jederzeit zugemutet werden kann, ist der akademische Lehrer selbst jederzeit auf die Wahrheit verpflichtet und ebenso dazu, seinen Hörern zu ermöglichen, diese auch selbst durch den eigenen Verstand und eigene Untersuchungen als solche zu erkennen. Hierzu ist die Klarheit des Lehrvortrags unabdingbar, d.h. die darin behandelten Gegenstände müssen jederzeit bewußt und daher von allen anderen Gegenständen unterscheidbar vorgestellt werden können.37 Trotz aller Bemühung um „Lebhafftigkeit im Vortrage“, derer „ein geschickter Lehrer [...] nie gantz vergessen“ darf,38 durch die Wahl überraschender Erläuterungen und Beispiele gemäß Baumgartens Begriff der ‘extensiven Klarheit’39 und einem entsprechenden Verhalten, darf dadurch in der wissenschaftlichen Tätigkeit, zu der auch die akademische Lehre zählt, dennoch der Klarheit niemals Eintrag geschehen. Denn es sollen ja nicht bloß zur Schlafvermeidung bei den Hörern40 die „untern Erkenntnis-Vermögen der Seelen [...] unterhalten, sondern auch der Verstand 35

Vgl. Antoine Arnauld, Pierre Nicole, La Logique ou L’Art de Penser, contenant, outre les regles communes, plusieurs observations nouvelles, propres à former le jugement, hg. von Bruno Baron von Freytag Löringhoff und Herbert E. Brekle, 3 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1967, insb. (Premier) Discours, Bd. 1, 5–22. Wenngleich hier die (insbesondere durch einen Zweiten Discours über erhobene Einwände) erweiterte 5. Auflage von 1683 zugrundegelegt wurde, blieb doch der Erste Discours stets der Sache nach unverändert. 36 Vgl. zum folgenden Beyfall, § 5. 37 Vgl. Logik, § 18. 38 Vgl. Beyfall, § 6. 39 Vgl. ebd., Anm. *, und die angeführten Belegstellen. 40 Vgl. ebd., § 6 pass.

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beschäfftigt, die Vernunfft beruhigt und überzeugt werden“.41 Dies erfordert analytische Transparenz, die wiederum in der Klarheit der Verbindung der verschiedenen Eigenschaften zu der Einheit der gebrauchten Begriffe, d.h. in deren definitorischer Deutlichkeit, und der aus ihnen gebildeten allgemeinen Urteile und den dadurch möglichen Ableitungen bzw. Beweisen besteht.42 Im Blick auf diesen wissenschaftlichen Kern des Vortrags, der ausschließlich von Begriffen und ihren Beziehungen untereinander handelt und aus epistemologischen Gründen43 Einzeldinge allein im Dienste der Lebhaftigkeit zu illustrativen Zwecken einführen kann, ist über das Bemühen um Klarheit, Deutlichkeit und Lebhaftigkeit hinaus keine sachliche Erleichterung zulässig, da diese auf Kosten der Vollständigkeit und der Wahrheit ginge. So schreibt Baumgarten: Nichts ist leichter, als etwas leicht machen, wenn man alles wegläßt, was schwer fallen könnte, ob es gleich noch so nöthig seyn möchte. [...] Und in dieser Bedeutung wird billig die Leichtmacherey zu denen schädlichsten Hindernissen der Gelehrsamkeit überhaupt, insonderheit der Wissenschafften gezehlt.44

Im Gegenteil hat sich der Lehrende auch hier an seine Treuepflicht zu halten und alles zu versuchen, um ohne schiere Berufung auf eigene oder fremde Autorität die Erkenntnisvermögen seiner Hörer durch die Klarheit seines analytischen Vorgehens und durch „Ubungen in Gegenwart eines Geübtern“45 soweit zu stärken und auszubilden, bis „sich in wenig Monathen die ersten Früchte der gebü41

Ebd., § 7. Vgl. hierzu und zum folgenden ebd. 43 Vgl. ebd., Anm. *. 44 Ebd., § 7, bzw. ebd., Anm. **. Der in der Anmerkung folgende Satz, der darauf hinweist, daß der Gelehrsamkeit bzw. den Wissenschaften durch die ‘Leichtmacherey’ „in den Tagen unserer Väter einer gründlichen Erkenntnis fast de[r] Untergang drohete“, läßt die Vermutung zu, daß Baumgarten hier auf die akademischen Popularisierungsbemühungen des Christian Thomasius anspielt. Baumgarten teilte trotz seines Projekts einer deutschsprachigen Wochenschrift zur theoretischen Philosophie unter dem Titel Philosophische Brieffe von Aletheophilus, die „sich vornehmlich an die vom Universitätsstudium ausgeschlossenen Frauen richtete“ (Niggli, Einleitung [wie Anm. 3], XL) und deren Erscheinen mangels Nachfrage nach einem halben Jahr wieder eingestellt wurde, keineswegs (vgl. auch Beyfall, § 8) Thomasius’ nachgerade zwanghaftes Streben nach Breitenwirkung über den Bereich der akademischen Philosophie hinaus, das zwecks ihrer ‘politen’ Verwertbarkeit zu sachlich oft durchaus unzulänglichen Vereinfachungen griff und sich auch auf die theoretische Philosophie erstreckte. Dies ließe sich insbesondere an Thomasius’ Metaphysik zeigen, wie er sie darlegt in: Versuch vom Wesen des Geistes oder Grund-Lehren so wohl zur natürlichen Wissenschaft, als der Sitten-Lehre, Halle 1699 (ND Hildesheim 2004, hg. und mit einem Vorwort sowie einem Personen- und Sachregister versehen von Kay Zenker). Auf einige Schwierigkeiten dieser Schrift weist hin: Hans-Jürgen Engfer, Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiehistorischen Schemas, Paderborn u.a. 1996, 265–268. 45 Beyfall, § 4, Anm. ††. Baumgarten fordert dort auch die ‘gründliche Abhandlung’ der „Didactik oder Lehr-Kunst [...] durch kunstverständige Gelehrte“. 42

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rend angestrengten Aufmercksamkeit zeigen, und man das, was vorher dunckel schien, mit andern Augen anzusehn im Stande ist“.46 Auch die Klarheit dient sonach der Ermöglichung des vernünftigen Beifalls, indem sie einerseits erst die Bewußtheit und Angemessenheit des Begriffsgebrauchs und der Begriffs- bzw. Satzverknüpfung schafft und andererseits so der adäquaten Mitteilung wissenschaftlicher Gehalte und ihrem kontrollierten Verständnis durch explikative Analyse notwendig vorausgeht, die der Rezipient nach hinreichender methodischer Schulung selbst leisten kann. Daß die Forderung nach der Wahrheit des Vortrags die Ausbildung des Vermögens, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden, einschließt, wurde bereits herausgearbeitet. Allerdings stellt sich der Entwicklungsstand der individuellen Urteilskraft nicht nur in verläßlich treffenden bzw. selten fehlenden Urteilen unter Beweis, sondern vor allem darin, daß diese Urteile auch insofern bewußt gefällt werden, als sie durch vernünftige Gründe gerechtfertigt bzw. im Idealfall gemäß des mathematischen Verfahrens bewiesen werden können. Diese Bewußtheit der Wahrheit ist nach Baumgarten die Gewißheit.47 Gewißheit ist daher, sofern es der Wissenschaft um Aussagen über Dinge und deren Zusammenhang in der Welt geht, die von den Dingen selbst unterschieden werden müssen, prinzipiell subjektiv.48 Nun läßt sich bei weitem nicht jedes Urteil mathematisch beweisen, sondern nur solche, die von vollständig gewissen, d.h. nicht auf das Zeugnis der Sinne angewiesenen und selbst unbeweisbaren Sätzen ausgehen und auf formal korrekten Schlußverfahren basieren. Daraus folgt, daß subjektiv vollständig gewisse Urteile nur im Bereich der formalen Logik möglich sind, sich mithin nicht auf Dinge beziehen können.49 Die meisten Aussagen über mögliche Gegenstände wissenschaftlicher Behandlung besitzen daher den epistemischen Status der Wahrscheinlichkeit, der darin besteht, daß mehr klar erkannte Kriterien für die Wahrheit des Satzes sprechen als dagegen.50 Einen Satz aufgrund seiner Wahrscheinlichkeit für wahr anzunehmen, ist daher ebenso unvermeidlich wie zulässig, wenn die Gründe, die für wie gegen diese Annahme sprechen, dargelegt werden, so weit dies „die Sache, Zeit und Schrancken unsrer Vernunfft leyden“, d.h. der „Gründlichkeit“ genüge getan wird.51 Aufgrund seiner Pflicht zur Wahrheit hat also der akademische Lehrer sich in seinen öffentlichen Vorträgen auf die Mitteilung und Begründung wahrer bzw. wahrscheinlicher Sachver-

46

Ebd., § 7 Vgl. Logik, § 164, und Beyfall, § 8. 48 Vgl. etwa Logik, § 424. 49 Vgl. ebd. und Beyfall, § 8, Anm. *. Freilich sind auch ästhetische Vorstellungen bzw. Vorstellungsverbindungen vollständig gewiß, besitzen jedoch keinen propositionalen Charakter. 50 Vgl. Logik, § 350. 51 Beyfall, § 8. 47

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halte zu beschränken, während – außer freilich zum Zwecke ihrer Widerlegung oder Entscheidung – „zweiffelhaffte Dinge, nebst unwahrscheinlichen Träumen mit Recht von allen Cathedern verbannt [bleiben]“.52 Dies ändert freilich nichts an der Möglichkeit, ja der Pflicht zur Revision auf seiten des Lehrenden im Falle neugewonnener Erkenntnis oder übersehener bzw. stärkerer Gegenargumente. Anders als die Lebhaftigkeit gehört „das Leben der Erkenntnis und des Vortrages“53 zur Treuepflicht des akademischen Lehrers. Denn alle Wissenschaft steht nach Baumgarten unmittelbar oder mittelbar im Dienste der Praxis, d.h. gelingender Lebensbewältigung im Sinne moralischer Lebensführung und der Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände: „[M]anches bloß darum zu erlernen, damit wirs wissen“, sei im Gegenteil ein „lächerliche[r] Wahn“.54 Mit dieser radikalen Ablehnung der These von der Selbstzweckhaftigkeit des Strebens nach Wissen und der Pflege der Wissenschaften um ihrer selbst willen handelt sich Baumgarten jedoch kein Legitimationsproblem bezüglich theoretischer Wissenschaften ein. Vielmehr verhalten sich „theoretische und practische Wahrheiten“ so offenkundig komplementär, daß „auch ein Anfänger der Logik wissen [kan], wie dem [sc. der Differenz theoretischer und praktischer Sätze] ohngeachtet all unser Wissen und Erkenntnis auf Thun und Lassen endlich abzwecken könne“.55 Die Art dieser wechselseitigen Beziehung deutet Baumgarten am Beispiel der unter notorischem Nutzlosigkeitsverdacht stehenden allgemeinen Metaphysik an, wenn er schreibt: Die Metaphysik in eigentlichen Verstande, nicht einmahl die Ontologie ausgenommen, wird nicht leicht einen Satz aufweisen, aus dem nicht eine genaue beweisende practische Philosophie einige ihrer Schluß-Sätze bestärcken und ihn also zum Thun und Lassen anwenden sollte.56

Wie aus Baumgartens Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Urteilskraft folgt,57 beziehen sich praktische Einzelurteile, mithin ‘SchlußSätze’, als Resultate praktischer Urteilskraft auf zukünftige Zustände der Welt, die durch den Urteilenden möglich sind,58 während alle anderen Urteile über die Welt – also insbesondere über ihren derzeitigen Zustand und dessen Gründe und Ursachen, aber auch über den derzeitigen Zustand des Urteilenden selbst – aus

52 53 54 55 56 57 58

Ebd. Ebd., § 9, Anm. *. Ebd., § 9. Ebd. Ebd., Anm. **. Vgl. Metaphysik, § 606. Vgl. ebd., § 595.

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der Tätigkeit der theoretischen Urteilskraft hervorgehen. Nun liegt auf der Hand, daß ein rational legitimierbarer praktischer Satz, der als „Grund unsers Thun und Lassens“, d.h. als „motivum“, fungieren kann,59 die möglichst genaue Untersuchung des Zustandes der Welt, der zugunsten eines anderen verlassen werden soll, voraussetzt. Jeder praktische Satz impliziert also bereits die Anwendung theoretischer Erkenntnis, und je klarer diese ist, desto größer werden die Erfolgsaussichten der dem praktischen Satz entsprechenden Handlung sein. Weil indes die natürliche Pflicht zur Selbstvervollkommnung,60 die das einzige durch bloße Vernunft, d.h. mit philosophischen Mitteln, erkennbare Prinzip der Ethik darstellt, grundsätzlich nur auf zukünftige Zustände gerichtet sein kann, und dieses Prinzip allgemein gilt, genießt die Ausbildung der praktischen Urteilskraft zwar Priorität vor der Schärfung ihres theoretischen Komplements.61 Dennoch erweisen sowohl das notwendige Interesse an einem erfolgreichen Handeln unter möglichstem Ausschluß von Täuschungen über dessen Umstände als auch die gleichfalls bestehende Pflicht zur Selbsterkenntnis,62 deren Erfüllung jedem Versuch zur Selbstvervollkommnung vorausgehen muß, wiederum die Komplementarität beider Anwendungsgebiete der Urteilskraft. Ein möglichst hoher Grad von „Herrschaft über sich selbst“ (dominium sui; animae in semetipsam imperium),63 d.h. die in seiner Vernünftigkeit liegende Autonomie des moralischen Individuums, kann nur durch eine harmonische Ausbildung theoretischer wie praktischer Urteilskraft erreicht werden. Ein Studium der Philosophie wenigstens in ihren allgmeinen Teilen, vor allem freilich der Logik – die Baumgarten ankündigt, „so offt durch[zu]gehen, als sichs will thun lassen“64 – aber auch der Ontologie und der Ethik, scheint hierfür der geeignete Ort, wenn nicht gar unerläßlich. Damit zeigt sich, daß das höchste Ziel des akademischen Lehrers in Baumgartens Sinne in der Bildung seiner Hörer zu autonom und rational urteilenden Individuen besteht. Er hat dies sowohl vermittels seiner Lehre im engeren Verstande als auch durch sein Verhalten zu verfolgen: Wenn man wahrnimmt ein Lehrer thue selbst, was er sagt, wenn es auszuüben ist, wende auch hiezu das theoretische an, das er zu sagen hat oder zeige doch, wie es angewandt werden könne, mache wircksamen Gemüthern Lust selbst Hand anzulegen, und sollte sie anfänglich auch nur in einem blossen: I ch w ol l t e w ohl , bestehen: so wird er auch

59 60 61 62 63 64

Beyfall, § 5, Anm. *. Vgl. Ethik, § 10. Vgl. ebd., § 219. Vgl. ebd., §§ 201 ff. Ebd., § 200; Metaphysik, § 730. Beyfall, § 11, Anm. **.

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deßwegen vernünfftiges Beyfalls würdig seyn, weil sein Vortrag ein Leben hat, ob sichs gleich nicht beständig in Cantzel-Bewegungen äussert.65

IV. Zu dieser Ausgabe Der vorliegende Text folgt vollständig der zweiten Auflage, die 1741 in Halle bei Hemmerde erschien und deren Umfang die vermutlich als Privatdruck 1740 in Frankfurt an der Oder erschienene Erstauflage fast um das Dreifache übertraf.66 Orthographie, Interpunktion und Hervorhebungen des Originals wurden ausnahmslos übernommen. Offenkundige Auslassungen von Zeichen oder Übernahmefehler in den Zitaten wurden in eckigen Klammern [] gemäß aktueller Standardausgaben korrigiert, da in der Regel nicht ohne weiteres bzw. gar nicht mehr genau verfolgt werden kann, nach welchen zeitgenössischen Klassikerausgaben Baumgarten zitierte. Die Zitatnachweise in den Fußnoten richten sich ebenfalls nach aktuellen Standardausgaben und dienen daher in erster Linie nur zur besseren Orientierung des Lesers, können und wollen aber keinesfalls einen kritischen Kommentar ersetzen. Im Original fett gedruckte Passagen sind – vom Titelblatt abgesehen – gesperrt wiedergegeben. Gewidmet ist diese Edition Rainer Enskat zum 65. Geburtstag. Alexander Aichele (Halle an der Saale)

65

Ebd., § 9. Vgl. Ursula Niggli, Kommentierte Bibliographie 1, in: Baumgarten, Vorreden (wie Anm. 3), 219–229, hier 226. Nach Nigglis Auskunft umfaßte die Erstausgabe 16, die Zweitausgabe 45 Druckseiten. Diese Angabe mußte ungeprüft übernommen werden, da ein Exemplar der Erstausgabe nicht mehr aufgefunden werden konnte. 66

Alexander Gottlieb Baumgartens, Ordentl. Lehrers der Philosophie zu Franckfurth,

Gedancken vom

Vernünfftigen Beyfall auf Academien, Wonebst er

Zu seiner Antrits-Rede und ersten Franckfurthischen Lese-Stunden eingeladen.

Zweyte vermehrte Auflage. Halle im Magdeburgischen, In Verlegung Carl Hermann Hemmerde, 1741.

Aufklärung 20 · © Felix Meiner Verlag 2008 · ISSN 0178-7128

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Wer t h e st e r L e se r ! Man wollte diese Bogen noch einmahl drucken, und ich bekam Lust, sie mit einigen Anmerckungen zu verbessern oder zu verschlimmern. Viel kann daran nicht verdorben werden. Sie viel besser zu machen steht nicht in [4] meinem Vermögen, so möglich es auch sonst wäre. Doch könnte DIR auch der blosse Versuch dazu vielleicht eigen vorkommen. D U bleibst mein Richter. Ich wollte DIR nur sagen, daß schon vorher mein eigner gewesen. Daraus ward eine Vorrede, die zu so wenig Blättern nicht länger seyn darff. Lebe wohl! Franckfurth an der Oder, den 22. Aug. 1740.[5]

A. G. Baumgarten · Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall

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§. 1.

GOtt und mein König haben über mich beschlossen, daß forthin auf hiesiger Academie die Zahl der ordentlichen Lehrer vermehren soll.* In meiner Bestallung wird mir allergnädigst befohlen, a n m ir n ic h ts e rw i n de n z u la s s e n, d ami t d ie s e U n i v er s it ä t i n Fl o r u n d A u fn a h m e g eb r ac h t, u n d b e r ü h m t g em a ch t w e r d e n m ög e.** So ist demnach meine Pflicht, auf die bequemsten Mittel einer so wichtigen Absicht zu dencken. Niemand wird daran zweifeln, daß ein sehender und vernünfftiger Beyfall auf unserer hohen Schule, unter diesen seine Stelle verdiene, wenn ich anders desselben gewürdiget, und iemahls geschickt werden soll, zu einer so grossen Sache, als das Wohl einer Academie ist, das geringste beyzutragen. Mich dünckt, man siehet, wie gantz ungezwungen auf die Gedancken vom vernünffti[6]gen Beyfall gerathen können, wenn, ausser dem angezeigten, auch dazu keinen fernern Grund gehabt hätte. Doch möchte wohl noch iemand unter denen Herren, die ihren leeren Höhr-Saal mit Straf-Predigten über den blinden Beyfall auf Academien erfüllen, mehrere Gelegenheiten mercken können. * Die unbekannten Gönner, die vor einiger Zeit über mich beschlossen, mich selbst in öffentlichen Zeitungen zum professore theologiae zu erklären, werden belieben, auch nur durch den Titel dieser Blätter, sich von mir eines besseren, oder vielmehr schlechteren belehren zu lassen. ** Dieser ruhmwürdigsten Absicht, den Flor hiesiger Academie zu vermehren, widersetzen sich unterschiedene höchst fälschlich ausgesprengte Gerüchte. Ehe ich hergekommen, habe sie selbst vielmahls höhren müssen. So leicht es mir hier wird, ihre Unwahrheit einzusehen; so schwer fällts auswärts, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden; sonderlich wenn böse Zungen dem Gesetz folgen: Ve rl äu md e b rav. Es b l ei b t d o ch et was h an g en . Wenn doch einmal eine geschickte Feder das Laster der Verläumdung gegen gantze Gesellschafften etwas schwärtzer mahlen wollte, als man es sich gemeiniglich vorstellt. Wie leicht wäre zu berechnen, daß es weit ärger, als wenn man sich an der Ehre eintzeler Leute vergreifft? Wenn iemand eine so genannte Kleinigkeit, die doch nachtheilig ist, 100. Unschuldigen nachredet, so wird er wohl nicht viel rechtmäßiger handeln, als wenn er [7] e in em ein hundert mal grösseres Verbrechen fälschlich Schuld gäbe.

§. 2. Der Beyfall auf Academien ist ein Vergnügen mehrerer auf denenselben Studirenden an dem mündlichen Vortrage eines academischen Lehrers, wodurch sie seine Lese-Stunden zu besuchen bewogen werden.* Eine blosse Zufriedenheit also, bey bemerckter Ermangelung eines bessern, will hier die Sache nicht

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ausmachen. Selbst eine kaltsinnige Billigung und Schätzung gewisser Gaben reicht nicht hin, wenn Stühle und Bäncke doch ledig bleiben. So ist auch hier nicht die Frage, von dem guten Namen und Ruhm eines Gelehrten überhaupt, wenn er sich in seiner Welt, folglich auch auf hohen Schulen beliebt macht, und Beyfall erwirbt, noch weniger, von andern Vorzügen desselben. Es kan einer einer ein grund-ehrlicher und geschickter, ein an dem Ort, wo er lebt, und auswerts berühmter Mann, ein guter Schriftsteller seyn, oder sonst seine grosse Verdienste haben, dem doch das fehlt, von dem wir ietzt reden. Hier betrifft die Rede das Urtheil derer Herren Studiosorum und sonst niemandes, den mündlichen Vortrag, und sonst nichts.** Wenn mehrere, wie billig, zum Beyfall erfordert werden, so hat man auf das Verhältnis der Zuhörer gegen die Anzahl derer auf einer gewissen Academie Studirenden, und derer darunter, die das zu erlernen haben, worüber gelesen wird, genau zu sehen, um sich in [8] der Rechnung nicht zu betriegen. Auf einer hohen Schule von 100. studirenden Mitgliedern ist der Beyfall von 10. öffters so groß, als der von 100. Zuhörern, wo 1000. sind, die die Lese-Stunden zu besuchen pflegen. Wenn einer eine Wissenschafft lieset, welche 500. zu erlernen haben, und besetzt in seinem Lese-Zimmer 50. Stellen, so hat er doch dem eben nichts vorzuwerffen, welcher mündlich einen Theil der Gelehrsamkeit vorträgt, der etwa für 50. ist, und zehlet nur 5. Zuhörer. Endlich kann gar keinen Beyfall nennen, wenn mancher das: N ö t hi g e s ie he r e in z u k o m me n , selbst von seinem Lese-Saal auf gut Catholisch erkläret, und daher ziemlich viele sieht, die geduldig vor ihm sitzen, an deren Zusammenkunfft aber das Vergnügen über des Redenden Vortrag höchst unschuldig ist.*** * Ie grösser das Vergnügen, ie mehr deren, die es empfinden, ie mehr es sich in Besuchung derer Lese-Stunden äussert, ie grösser ist der Beyfall, von dem wir hie sprechen. Auch hieraus ist abzunehmen, wie ein grösserer Beyfall bey wenigen, und ein geringerer Beyfall bey mehreren erhalten werden könne. Ie lieber die Zuhörer eines academischen Lehrers sich bey ihm einfinden, ie mehrere Hindernisse durch ihre Lust von ihm zu lernen überwogen werden, ie fleißiger sie seine Stunden ununterbrochen abwarten, ie grösser ist der Beyfall. ** Folglich ist ein Vorurtheil: Der Mann ist auswärts sehr berühmt, und hat Bücher geschrieben, [9] die guth gegangen sind: daher muß er Beyfall haben. Iener hat das erste noch nicht erlangt, also kann ihn niemand gern hören. Noch gröber wird sonderlich das letzte, wenn man daraus, daß man von dem Lesenden selbst noch nichts gehöhrt, hinlänglich darzuthun glaubt, man müsse ihn in der Welt noch nicht kennen. Kann man ohne roth zu werden den fehlenden Satz sagen: Wessen gelehrte Verdienste mir nicht bekannt seyn, den kennt man in der gantzen Welt nicht? *** Es sey denn, daß es durch die nicht anders zu berührende Schüsseln gereitzt werde:

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v t p ue ri s o li m d an t cru st u la b lan d i D oc to r es, el emen ta v elin t v t d iscer e p rima. 1

§. 3. Der Beyfall auf Academien ist sehend oder vernünfftig, wenn er aus richtiger Erkenntnis der Vorzüge des mündlichen Vortrages beym Lesenden herrühret.* Man unterscheidet ihn vom blinden Beyfall, der unvernünfftig wäre, weil er entweder aus gar keiner Einsicht der wahren Gründe des Beyfalls, oder aus einer mercklich unrichtigen Beurtheilung desselben erwüchse.** So lange noch Ehre, das Urtheil von iemandes grösseren Vollkommenheiten, und ein guter Vortrag selten seyn wird: so lange wird leicht zu begreiffen seyn, daß der Beyfall Ehre, der sehende eine wahre, der blinde eine eitle Ehre sey, §. 2. Wer demnach aus einer strengen Tugend-Lehre sein rechtmäßiges Verhalten gegen seine Ehre sattsam eingesehen, wird daraus leicht herleiten können 1) daß der Beyfall so wenig gantz in eines acade[10]mischen Lehrers Gewalt allein stehe, so wenig er Herr und Meister über eines andern Gedancken seyn kann, die er gröstentheils nicht weiß. 2) Daß der blinde Beyfall von einem wahrhaftig ehrliebenden Gemüth unmöglich könne gesucht, wohl aber dahin gesehen werden, daß er gebessert, und, wenn ich so reden darff, erleuchtet werde, indem man theils das, worauf im Vortrage zu sehen, immer bekannter macht, theils Dunckelheit und Zweiffel, Irrthümer und Vorurtheile, die dabey vorkommen können, immermehr zu heben bemüht ist. 3) Daß das Verlangen nach einem vernünfftigen Beyfall, in seinen Schrancken, zwar untadelhaft, doch nicht anders, als durch recht thun, sich äussern könne.*** * Wenn demnach ein geschickter Lehrer nach einem solchen Beyfall trachtet, wird er auf der Academie, wo man sich schon richtige Begriffe von einem guthen mündlichen Vortrage überhaupt gemacht, sich leicht, wo man davon noch nicht weiß, schwer, noch schwerer einen guthen Erfolg versprechen können, wo man gantz falsche Begriffe davon hegt, doch was auch noch so schwer, ist mit der Zeit nicht unmöglich. *[*] Wer also entweder schon grossen Beyfall verlangt, ehe er sich im geringsten gezeigt, und seinen Vortrag einer vernünftigen Beurtheilung unterworffen: oder doch denen allein oder am meisten zu gefallen bemühet ist, die den verderbtesten Geschmack haben; suchet blinden Beyfall. *** 4) Daß der Mangel des Beyfalls so wenig ei[11]ne gäntzliche Verachtung eines Lehrers auf hohen Schulen sey, §. 2. daß es nicht einmahl eine Verachtung seines

Horaz, Satiren, I.1, 25/26, in: Opere, ed. Francesco della Corte, Tom. II.1, ed. Paolo Fedeli, Roma 1994, 96. 1

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mündlichen Vortrages iederzeit seyn dürffe. Zwischen der Hochachtung und der Verachtung läßt sich ja noch ein drittes denken. Glauben nicht viele: Felix, qui potuit viuens moriensque latere. 5) Daß der, so Beyfall findet, selbst von seinen Zuhörern in andern Absichten könne gering geschätzet und gar verachtet werden, wenn gleich einige seinen mündlichen Vortrag lieben. 6) Ein geneigtes Urtheil eines mäßigen Theils von denen iüngeren Mitgliedern einer Gesellschafft, die nie die Hälffte der Einwohner eines Städtchens ausmacht, sey noch kein unermeßlicher Ruhm. Mancher, den sein Beyfall zur Pedanterey versuchen könnte, darff nur ein paar Meilen reisen. Vielleicht sind schon einige Grentz-Steine seines Nahmens vorbey. 7) Der vernünfftigste Beyfall werde entweder nicht allzuzahlreiche Collegien geben, oder mit minder-scharffen Augen ziemlich untermengt seyn. 8) Wie ein vernünfftiger Beyfall durch Wachsthum der Geschicklichkeit und Treue vermehrt, erhalten und befestiget werden kann, so sey er doch darum nicht ewig und unveränderlich, wenn zumal Treue und Geschicklichkeit, oder beydes zugleich abnehmen sollten. 9) Je höher der Beyfall gestiegen, desto mehr Fleiß und Kunst erfordre es, ihn nicht unanständig fallen zu lassen, oder gar selbst zu stürtzen. 10) Es sey daher manches zu seiner Befestigung vorzunehmen, das auch wohl eine mehrere Ausbreitung desselben, wenigstens auf einige Zeit, zu hindern scheinet. 11) Selbst beym academischen Beyfall sey, wenn [12] ich so reden darff, eine Art einer kleinen Großmuth nöthig, wonach man auf der edelsten Seite, denen grössesten Geistern, die man vor sich hat, zu gefallen bemühet sey. Wird sich aber diese durch kriechende Spöttereyen über Tugend und Tugendhafte groß machen?

§. 4. Bey dem mündlichen Vortrage siehet man, wie bekannt genug, auf die Sachen oder Gedancken, die dadurch bezeichnet werden, und ihre Verknüpffung miteinander, auf die Worte, sammt ihrer Verbindung, auf die Ausrede, Stimme und gantze Stellung des Leibes auch nach den kleinesten unter der Rede vorfallenden Bewegungen desselben. Folglich wäre der vollkommenste mündliche Vortrag, der die besten Sachen in der geschicktesten Ordnung durch die bequemsten Worte, nach ihren auserlesensten Zusammenfügungen, mit einer schönstens harmonirenden Beredsamkeit des Leibes andern beybrächte. D oc h gi e b t e s oft Ve rs eh n , d ie je d e r ü be rs i e h et . D e r S e i t e n To n , na c h d e m s ic h H a nd un d G e i s t be m ü h e t, S o l l m a nc h ma l n i e d ri g s e yn , u nd s t ei g t g e w al ti g h o c h , Wi e ma n c he r z ie l t e g u t, w e nn d o c h d e r B o g en tro g . We n n nu r d a s m ei st e g l ä nt z t , s o w i rd e s w e n ’g e Fle c k e n , D i e me n sc h l ic h üb e re i l t, v o r me i ne n Au g en de c k e n .* [13] Auch von denen beyden letztern vorerzehlten Stücken, die bey einem guten mündlichen Vortrage zu bemercken, können die nützlichsten Gesetze gegeben

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werden. Es siehet ein verständiger Kunst-Richter auf alle drey. Keines ist zu verachten, keines aus der Acht zu lassen. Doch bleiben die Gedancken das HauptWerck,† und das, worauf am meisten auch deshalb zu sehen, weil sich das übrige nach ihnen richtet. In de m , w as m ä c h ti g d u rc h g e d ac h t , Wi r d l e ich t Be r e d sa m k e it u n d O rd nu n g a n ge b ra c ht . ** We m n u r g e sc h ic k t e n St o ff s ic h a u s z u s e h n g e lu n g e n , Bey d e m f o l g t M i n , un d Wor t u nd A u s d ru c k u n g e z w u n g e n . *** Da wir überhaupt denienigen treu nennen, der eine Fertigkeit hat, den erforderten Fleiß bey einer ihm obliegenden Pflicht anzuwenden: so giebt sich von selbst, daß das eintzige erlaubte Mittel, sich Beyfall auf Academien zu erwerben, ein treuer Vortrag sey, § 3. d. i. eine anhaltende Bemühung so viel Kräffte bey seinem Vortrage zuzusetzen, als nöthig sind, denen Pflichten Genüge zu thun, die man auf sich hat, wenn man iemand mündlich unterrichten soll. Fragte man ferner, welche denn diese seyn, so gedencke nur bey denen Sachen oder Gedancken ietzt stehn zu bleiben, und einiger gantz allgemeinen Forderungen mich zu er[14]innern, zu denen doch die besondern und kleinern Schuldigkeiten vielleicht, als Folgerungen gerechnet werden können. * Hor. in arte poet. Sunt delicta tamen, quibus ignouisse velimus. Nam neque chorda sonum reddit, quem vu[o]lt manus et mens, Poscentique grauem persaepe remittit acutum. Nec semper feriet, quodcumque minabitur, arcus. Verum, ubi plura nitent, -- [in carmine] non ego paucis Offendar maculis, quas aut incuria fudit, Aut humana parum cauit natura,[.]2 ** Horat. l. c. Cui lecta potenter erit res, Nec facundia deseret hunc, nec lucidus ordo.3 *** Hor. l. c. Verbaque prae[o]uisam rem non inuita sequentur.4 † J’aime autant, que personne, les termes elegans, et les nobles expressions: mais je veux auec Quintilien, que tout cela serue a expliquer vn sens, qui soit encore plus 2 3 4

Horaz, Ars poetica, 347-353, in: Opere (wie Anm. 1), Tom. II.3, ed. Paolo Fedeli. Ebd., 40/41. Ebd., 311.

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considerable, et qu’on ait plus de soin de celui cy, que de tout le reste: Curam ego verborum, rerum volo esse solicitudinem5, Hex. rust. 3. fournée. Col. 1571. 12. Amst. 1621. 12. †† Es wäre guth, wenn die Didactik oder Lehr-Kunst überhaupt etwas gemeiner bekannt, und noch besser, wenn sie häuffiger ausgeübet würde. Einige Theile derselben haben unter dem Nahmen der Catechetik und Homiletik sich zwar öffters höchlich mißhandeln lassen müssen, doch auch end[15]lich das Glück gehabt, von kunstverständigen Gelehrten gründlich abgehandelt zu werden. Wie aber Erwachsene in ieden Theilen der Gelehrsamkeit zu unterrichten seyen, davon schweigen die meisten Logiken gantz, wenige sagen wenig, und sind wenig in Händen. Wenn man mehrere zugleich zu belehren hat, so möchten sich wohl die meisten Gesetze aus der Auflösung herleiten lassen, die in der Vorrede zu meiner Metaphysik angeführt6. Wollte man aber nicht gern, daß sie gehäufft würden, in der guthen Hoffnung, wo kein Gesetz, werden auch keine Ubertretungen seyn: so sollten doch Ubungen in Gegenwart eines Geübtern, der aufrichtig sagte, was er meint, ihren guthen Nutzen haben. Vielleicht wären dergleichen lectiones gymnasticae manchen Disputationen noch wohl an die Seite zu setzen, wo nicht vorzuziehen. Ich sehe nicht, warum angehende Lehrer selbst auf hohen Schulen entweder gar nicht, oder bloß aus eigenen Schaden klug werden sollen.

§. 5. Es kommt bey aller Erkenntnis auf diese 4. Vollkommenheiten derselben an, daß sie wahr, klar, gewiß und lebendig oder practisch sey, d. i. einige TriebFedern* und Bewegungs-Gründe zum vernünfftigen Handeln, zum klugen Thun und Lassen in sich enthalte. Soll demnach der Vortrag treu seyn, §. 4. so fragt ein academischer Lehrer freylich vor allen Dingen bey dem, was er reden soll: Was ist Wahrheit? Ehe ein Vernünfftiger seinen Beyfall giebt, untersuchet er gar [16] recht, so viel ihm thulich, ob auch Wahrheit oder Irrthum in denen LeseStunden, die er besuchen könnte, vorgetragen werde. Nur daß es nach denen ewigen Gesetzen geschehe, die Wahres und Falsches voneinander scheiden. IrrLehrer sind gefährlich. Eine mäßig begriffene Vernunfft-Lehre zeigt, wie bald aus iedem Satz, folglich auch irrigem Urtheil, wenigstens 10. andere gefolgert werden können. Man setze demnach, daß einer in iedem halben Iahre auch nur 10. falsche Sätze 10. Zuhörern vorsagte: so würden alle 5. Iahr 10000. Irrthümer, in der Welt mehr werden können, so daß ihr erster Urheber noch nicht einmahl M. Fabius Quintilianus, Institutio oratoria libri XII, hg. u. übs. von Helmut Rahn, 2 Bde., Darmstadt ²1988, VIII. Prooemium, 20 (Bd. 2, 132). 6 Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, Halle 1739, )( 4: Ita moderare, quicquid expones, vt ingenium mediocriter felix, doctrinis illi, quam profers, iure praemittendis mediocriter imbutum, in eadem, quam tractas, haurienda mediocriter diligens, mentem tuam clare possit & perspicue cognoscere. 5

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alle 14. Tage zu lügen hätte. Bedencket man hiebey die betrübte Fortpflantzung solches Irrsals ins unendliche, wenn aus denen Lernenden wieder Lehrer werden: so darff man sich nicht wundern, wenn ein ehrliebender Lehrer nicht nur selbst ein Freund der Orthodoxie und reinen Lehre ist, sondern sich auch gegen die Beschuldigungen sehr arger Irrthümer nicht unempfindlich bezeugt. Wer auch angeklagte Wahrheiten mit nöthiger Behutsamkeit vorträgt, hat dem menschlichen Geschlecht so viel Billigkeit zuzutrauen, daß ihm zu seiner Zeit Recht wiederfahren, und die anfänglich Haß gebährende Wahrheit doch endlich geliebt und gesucht werde. * Die Erkenntniß, so der Grund unsers Thuns und Lassens ist, ist entweder deutlich und heist, wenn [17] man genau redet, allein ein Bewegungs-Grund (motiuum) oder undeutlich und sinnlich, ein Trieb (stimulus). Triebe schreibt man auch dem Vieh zu; doch wird niemand leicht im Ernst sagen, wenn man einen gebrühten Hund zur Küche hinaus prügelt, ihm seyen zum Lauffen doppelte Bewegungs-Gründe vorgelegt. Triebe und Bewegungs-Gründe haben demnach etwas miteinander gemein, daß sie Vorstellungen seyen, in so ferne sie Begierden oder Abscheu erregen. Diesem allgemeinern Begriff wird der sonst uneigentliche Nahme eines Elaters, einer Triebfeder vielleicht nicht gantz neu beygelegt werden können. Im Frantzösischen braucht man das Wort ressort, in eben der Bedeutung; z. E. wenn Moliere seinem Valere sagen läßt: Je vous ai deia [dit, Monsieur], que ce n’etoit point l’interet, qui m’auoit poussé a faire ce, que i’ai fait. Mon coeur n’a point agi par les ressorts, que vous pensez, et vn motif plus noble m’a inspiré cette resolution.7 Oder wenn es in des Comte de Boulamuilliers vie de Mahomed heißt: C’est mal connoitre l’homme, ou pour mieux dire, c’est donner trop peu de ressorts a sa nature, que d’imaginer, que la seule passion de l’incontinence ait pu produire vn ouurage aussi grand, et aussi solide. Lond. 1730. 8. p. 168.

§. 6. Ist ein academischer Lehrer in Untersuchung und Mittheilung der Wahrheit treu, §. 4. so wird es ihm auch 2) darum zuthun seyn, daß sein Vortrag die erforderte Klarheit habe, §. 5. [18] Er suchet sich, so viel ihm möglich, verständlich, lebhaft und deutlich auszudrucken.* Lebhafft pflegt man den Vortrag, Gedancken, Umgang, das gantze Betragen eines Menschen zu heissen, in dem sich vieles mannigfaltige wahrnehmen läßt, worinn die Vielheit, Verschiedenheit und Abwechselung, derer zugleich seyenden und auf einander folgenden Merkmahle keinem einzuschlaffen erlaubt, sondern in einer sanfften Verwunderung die Aufmerksamkeit leicht, die Zeit kurtz, und ein gewisses Vergnügen durch unentdeckte Gründe mercklich macht. Ist diese Lebhafftigkeit im Vortrage der Haupt-Zweck, und werden dazu die kräfftigsten Mittel einer muntern Beredsamkeit und feurigen Dicht-Kunst gebraucht, so spricht man von Ecstasen und Molière, L’ Avare, V.3, in: Molière, Amphitryon – Georges Dandin – L’ Avare, texte établi, prés. et annoté par Georges Couton, Paris 1973 u.ö., 261. 7

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Bezauberungen. Doch mag der Vortrag seyn, welcher und wovon er will, wenn er gleich Deutlichkeit und Tieffe der Einsicht zur wichtigsten Absicht hat: ein geschickter Lehrer darff des lebhafften nie gantz vergessen. Tausend Kleinigkeiten, selbst der Augen Heiterkeit, ein aufgeklärt Gesicht, der Stimme gehörige Veränderungen stimmen hie zusammen, das gründliche mit dem schönen nach bestem Vermögen zu verbinden. Unerwartete Erläuterungen, Beyspiele, die sich schicken, offt nur drey Worte, können einen der Mühe, mit schlummernden zu sprechen, überheben. So schlecht unanständige [19] Schertze, bäurische Possen, und ein niedriges Lustigmachen, als Wecker der Zuhörer zu gebrauchen; so billig ist der Beyfall, der sich unter andern in der ernsthafften Munterkeit eines academischen Lehrers gründet. Wer laßt sich gern täglich in Versuchung führen, das beste zu verschlaffen? * Die Vorstellungen sind entweder klar oder dunckel. Die klaren haben entweder auch lauter klare Merckmahle, oder dunckele. Die letzten sind verworren; die ersten deutlich. Diese haben entweder auch bloß deutliche Kennzeichen, oder verworrene. Im ersten Fall sind sie vollständig; im andern unvollständig. Diese höchstnützliche Eintheilung ist nunmehr bekannt genug. Bey denen klaren Vorstellungen hat sie die Klarheit der Unterscheidungs-Zeichen zum Grunde. Allein, man wird auch in klaren Vorstellungen einen neuen Unterscheid mercken können, der von der Menge derer Kennzeichen herrühret. Wo sich dieser mercklich findet; da ist die Vorstellung lebhafft: wo sie sehr fehlt; bringet sie den Fehler, den man die Trockenheit und Dürre manchmal in den Reden und in der Schreibart benennt; siccum et spinosum dicendi scribendique genus. Diesen Unterscheid nahm etwas deutlicher bey Ausarbeitun[g] der academischen Schrifft von ei n ig en zu m Ged i ch t g eh ö r ig en St ü ck en wahr, worin den Grund zur Dicht-Kunst, als einer Wissenschaft, zu legen geflissen war, wie der 16. §.8 zeigen wird. Nachher habe ihn auch im 531. §.9 der [20] von mir entworffenen Metaphysik erkläret, und daselbst §. 634.10 gezeigt, wie selbst hieraus in Meditationes § XVI: Si in repraesentatione A plura repraesententur quam in B C D etc., sint tamen omnes confusae, A erit reliquis EXTENSIVE CLARIOR. [Addenda fuit restrictio, ut distinguerentur hi claritatis gradus a satis cognitis illis, qui per notarum distinctionem descendunt ad cognitionis profunditatem et unam repraesentationem altera intensive reddunt clariorem.] 9 Metaphysica (wie Anm. 6), § DXXXI: Pone duas cogitationes claras trium notarum, sed sint in vna clarae, quae in altera obscurae sunt, prior erit clarior, §. 528. Ergo claritas perceptionis augetur claritate notarum per distinctionem, adaequationem. e. c. Pone duas cogitationes claras notarum aequaliter clararum, quarum tres sint in vna, sex sint in altera; posterior erit clarior, §. 528. Ergo multitudine notarum augetur claritas, §. 162. CLARITAS claritate notarum maior, INTENSIUE, multitudine notarum, EXTENSIUE MAIOR dici potest. Extensiue clarior PERCEPTIO est VIUIDA. 10 Ebd., § DCXXXIIII: Quum distinctio sit rei notarumque rei claritas, potest per multitudinem et claritatem notarum tam intensiuam, quam extensiuam augeri, §. 531. Quae plures viuidioresque notas habet, quam aliae distinctae, erit PERCEPTIO EXTENSIVE DISTINCTIOR, quae intensiue clariores notas habet, quam aliae distinctae, erit (intensiue distinctior) PURIOR. 8

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deutlichen Begriffen ein mercklicher Unterschied erwachse. Ietzt will nur 2. Beyspiele bemercken: Von einem guthen Wein wird sich ein jeder, der ihn gekostet, manches vorstellen können. Doch frägt sich, ob er so viel immer dabey gedacht haben würde, als sich einer der Alterthümer kundiger vorstellen muß, wenn Virgil diesen lebhafften Begriff davon giebt: Ille latex [hic laticis], qualem pateris libamus et auro, Inflauit quum pinguis ebur Tyrrhenus ad aras, Lancibus et pandis fumantia reddimus exta.11 Wenn Naso sagt: Tempora si fuerint nubila, solus eris;12 so erklährt uns Horatz, das allein seyn lebhafft, lib. I. od. 35: Tunc vulgus infidum, et meretrix retro Periura cedit, diffugiunt cadis Cum faece siccatis amici Ferre iugum pariter dolosi.13 Hätte sich wohl ein ieder bey dem Wörtlein solus so viel einfallen lassen?

§. 7. Gantz deutliche Begriffe sind ein Vorrecht der Gottheit;* doch ist es ein Theil ihres Ebenbildes, das sie Geistern, folglich auch uns mittheilt, wenn einige Deutlichkeit in manchen Vorstellungen erlangt wird. Ie wichtiger, ie ge[21]meiner und unentbehrlicher das ist, wovon wir dencken, ie mehr bemühen wir uns davon deutlich und ohne Verwirrung zu dencken, von Rechts wegen. Hat demnach ein academischer Lehrer Dinge von dieser Art, wie in Wissenschafften vorkommen, zu erklären, so will die lebhaffteste Sinnlichkeit noch nicht hinreichen. Nicht nur Empfindung, Einbildung, und was wir sonst zu denen untern Erkenntnis-Vermögen der Seelen zählen, soll unterhalten, sondern auch der Verstand beschäfftigt, die Vernunfft beruhigt und überzeugt werden. Hier muß nun schon ein Schritt weiter geschehn. Die Menge der Kennzeichen muß mit ihrer Klarheit verbunden und die letzte vornehmlich gesucht werden; wenn es gleich an einigen Beschwerden anfänglich nicht fehlt. Nichts ist leichter, als etwas leicht machen, wenn man alles wegläßt, was schwer fallen könnte, ob es gleich noch so nöthig seyn möchte.** Gehört zu einer Erklärung etwas Vergil, Georgicon II. 1, 192-194, in: P. Vergilis Maronis Opera, rec. R. A. B. Mynors, Oxford 1969 u.ö., Bd. II, 52. 12 Ovid, Tristia, I.9a, 6, in: P. Ovidis Nasonis Tristia, ed. John Barrie Hall, Stuttgart/Leipzig 1995, 39. 13 Horaz, Oden, I. 35, 25-28, in: Opere (wie Anm. 1), Tom. I.1, ed. Paola Venini, Roma 1991, 180. 11

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Nachdencken, und wird dieses der Trägheit sauer: wie leicht fällt nicht an ihrer statt eine höchstunvollständige Beschreibung mit ein paar lächerlichen Fällen ausgeschmückt? Mancher Beweiß erfordert, ehe er sein nöthiges Licht erlangt, wohl 10. und mehr an einander hangende Schlüsse. Wer nun Kopff und Hals brechen schlechterdings für gleich arg hält, kann die Sache ia leichter machen, wenn er auf seine Seele [22] schwiert, daß der Satz eine ewige Wahrheit und an sich selbst klar sey, den manche wunderliche Leute lange demonstriren wollen. Ein angehender Lehrer der Wissenschafften, der treu, folglich auch deutlich seyn, und dem Verstande sein Recht wiederfahren lassen will, wird offt kräfftig verwirrt und niedergeschlagen, wenn er alles hinlänglich zu zergliedern, zu erklären, aus einander zu setzen und zu unterscheiden gedenckt, was diese Bemühungen verdient, und eben deswegen nicht selten über Dunckelheiten und Schwierigkeiten klagen hört. Wie leicht wäre ihm leichter zu seyn, wenn es ihm nicht schwer fiele, Pflicht und Schuldigkeit aus den Augen zu setzen? Wird er zum letztern gleich manchmal versucht; so wird er doch mit der Zeit gewahr, wie es rühmlicher und edlen Seelen angenehmer sey, durch Vermehrung der Kräffte als durch Verminderung derer Beschäfftigungen etwas erleichtern. Ein vernünfftiger Beyfall gesetzter Gemüther wird auch durch die*** scheinende Schwere so wenig gehindert, daß er vielmehr wächst, wenn sich in wenig Monathen die ersten Früchte der gebürend angestrengten Aufmercksamkeit zeigen, und man das, was vorher dunckel schien, mit andern Augen anzusehn im Stande ist. * Nicht nur von allen Dingen gantz deutliche Begriffe haben, bleibt der Gottheit eigen; son[23]dern auch nur eine einige Sache sich gantz vollkommen deutlich vorzustellen. Wer eine einige Sache sonder einige Verwirrung denckt, denckt alles vollkommen deutlich. Der Beweiß fällt nicht schwer. Alles und iedes ist im allgemeinen Zusammenhange mit allen übrigen. Wer demnach etwas gantz vollkommen deutlich dencken soll, muß alle seine Verhältnisse zugleich vollkommen deutlich dencken. Also auch alle seine correlata, oder dieienigen Dinge, mit denen es in Verhältniß steht; sonst würde sein Zusammenhang, folglich es selbst nicht, [nicht] vollkommen deutlich vorgestellt. Weil nun ein iedes Ding im Verhältniß mit allen übrigen steht, so kann keines ohne alle übrige vollkommene Deutlichkeit erlangen. Die Anmerckung ist nützlich, daß man sich von unserem reinen Verstande nicht zu hohe Dinge träumen lasse. ** Und in dieser Bedeutung wird billig die Leichtmacherey zu denen schädlichsten Hindernissen der Gelehrsamkeit überhaupt, insonderheit der Wissenschafften gezehlt. Unsere Zeiten haben von Glück zu sagen, daß ihr von Gelehrten erster Grösse wieder ziemlich Einhalt geschehen, da sie in den Tagen unserer Väter einer gründlichen Erkenntnis fast den Untergang drohete. Iener sollte seinem Gläubiger 1000. Reichsthaler schwer Geld auszahlen; allein, weil es diesem möchte zu lästig worden seyn, gab er ihm nur 100. an leichtem Gelde. War das nicht eine preißliche Erleichterung?

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*** Es ist iemanden leicht, worzu ein kleiner Theil [24] seiner Kräffte erfordert wird, oder wozu seine gantze Krafft bey weiten noch nicht nöthig ist. So sey denn z. E. die Verrichtung gleich 12. oder erfordere 12. Grade der Krafft. Der aber, der sie unternehmen soll, habe nur 15, so wird sie noch ziemlich schwer fallen. Wie kann sie leichter werden? 1) Man setze sie auf die Hälffte herunter, so braucht sie nur noch 6. Oder 2) es wachse die Krafft biß 30, so wird die Bemühung auch nur noch halb so schwehr, oder um die Hälffte erleichtert seyn, wenn sie gleich selbst unverändert bleibt. Man setze die Verrichtung sey nützlich, ja nothwendig, und wehle selbst, welche Erleichterung die beste sey.

§. 8. Wenn zu einem ieden rechtmäßigen Vortrage Gewißheit erfordere, so nehme das Wort in weiterem Verstande, nach welchem man auch das Wahrscheinliche mit darunter begreifft.* Zweiffelhaffte Dinge, nebst unwahrscheinlichen Träumen bleiben mit Recht von allen Cathedern verbannt. Doch ist nicht genug, daß etwas gewisses oder wahrscheinliches gelehrt werde. Auf Academien hat man nicht Kinder und unverständigen Pöbel vor sich, die zufrieden seyn müssen, wenn man ihnen sagt: das ist das, das ist ienes. Warum? Darum laß dich unbekümmert. Ein ieder academischer Lehrer muß Grund zu geben wissen von dem, was er sagt. Sagt er auch da[25]von so viel, als die Sache, Zeit und Schrancken unsrer Vernunfft leyden, so ist er gründlich. Gründlichkeit muß in iedem academischen Vortrage seyn, und wie könnte dem doch ein vernünfftiger Beyfall gegeben werden, bey dessen Reden die Vernunfft nichts zu thun hat? doch wie die Gewißheit, von der ietzt spreche, gar viele Stuffen hat, so wird auch bey verschiedenen vorzutragenden Dingen nicht gäntzlich einerley Gründlichkeit zu suchen seyn. In Wissenschafften verdient der billig Beyfall, der seine Haupt-Sätze so viel beweiset, daß sein Zuhörer sagen kann: Es ist wahr, so wahr ich bin. * Ie gewisser es ist, daß es ein köstlich Ding um die Gewißheit und Festigkeit sey: desto ungewisser scheinen wir Menschen zu seyn, in dem was wir gewiß nennen wollen. Wenn mancher Freund gebethen wird, einem zu Gefallen einen Gang zu thun, so kann ers nicht gewiß versprechen, weil doch zukünfftige Dinge nicht gewiß seyn: wird er aber zu Gaste geladen, so will er gantz gewiß kommen. Die Gewißheit ist die klare Erkenntnis der Wahrheit. Wie nun alle klare Erkenntnis entweder ausführlich; oder unausführlich entweder zum gäntzlichen Unterscheid hinlänglich, oder dazu unzulänglich ist: so wird auch die klare Erkenntnis der Wahrheit, uns entweder vor aller Furcht des Irrthums, gäntzlich gesichern können, oder nicht. Eine ausführliche Erkenntniß der Wahrheit ist Gewißheit im engern Verstan[26]de. Folglich ist denn alles, wessen Wahrheit nicht ausführlich erkannt wird, ungewiß. Im ungewissen habe entweder mehr Kennzeichen der Wahrheit, als der Falschheit, oder sie sind einander gleich, oder der ersten sind weniger als der letzten. Im ersten Fall ist mir die Sache wahrscheinlich, im

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andern zweiffelhafft, im dritten unwahrscheinlich. Beym wahrscheinlichen wird von dem mehresten die Benennung hergenommen, wenn manns auch gewiß nennt.

§. 9. Wie aber, soll nun auch das Leben* eine allgemeine Eigenschafft einer ieden zu wünschenden Erkenntniß, eines ieden guten Vortrages seyn? Will man nun nicht mehr den Unterscheid theoretischer und practischer Wahrheiten für wahr halten? Ist es nicht genug, daß man denen Herren Gottesgelahrten endlich einräumt, alle Theologie müsse practisch seyn? Wird man sich auch hinkünfftig von einer practischen Metaphysik** und lebendigen Natur-Lehre was verlauten lassen? Ich antworte: Betrachtungs- und Ubungs-Sätze sollen und werden von Verständigen in der Gottesgelahrheit sowohl, als in andern Theilen der Gelehrsamkeit allezeit unterschieden werden. Doch kan auch ein Anfänger der Logik wissen, wie dem ohngeachtet all unser Wissen und Erkenntnis auf Thun und Lassen endlich abzwecken könne. Wo mich nicht sehr irre, so wird es bald Zeit seyn, den lächerlichen Wahn [27] gäntzlich abzulegen, der vielleicht aus einigen irrigen oder übelverstandenen Redens-Arten des sonst ehrwürdigen Aristoteles seinen Ursprung genommen, als sey manches bloß darum zu erlernen, damit wirs wissen. Mir hat immer der aller Annehmung würdige Spruch in seiner weitesten Bedeutung besser gefallen: S o i h r d ie s e s w i s s e t , s e l ig s e y d ih r, di e i h r s t h u t. Keine Wahrheit darff bey Vernünfftigen gäntzlich Brache liegen. Ob sie so gleich ohne Mühe reich machen, oder doch wenigstens Iuden-Zins tragen werde, bleibt wohl erhabner Seelen geringster Kummer. Aber sie wissen zwischen dem, das den Beutel aufbläht, und dem gäntzlich unfruchtbaren, noch ein drittes, ia vierdtes, wenns nöthig wäre. Was wir lernen, muß nützlich seyn. Was nützlich seyn soll, muß gebraucht werden. Was gebraucht wird, hat in Thun und Lassen seinen Einfluß. Ein guter Vortrag ist nicht nur lebhafft, sondern auch rührend, reitzend, bewegend, lebendig, der mehr, iener weniger, der näher, iener entfernter, aber allezeit practisch. Muß nicht selbst die Geschichtkunde pragmatisch d. i. fruchtbar an practischen Folgerungen gelesen werden?*** Da selbst die Lehre der zu allen Dingen nützlichen Gottesfurcht todt und lebloß vorgetragen werden kan: so ist es noch leichter in andern Wahrheiten, aber deswegen eben nicht recht[28]mäßiger. Wer indes glaubte, solchem Fehler könne nicht anders, als durch ein unaufhörlich Paränisiren, Ermahnen, Bitten, Bestraffen und andre Besserungs-Mittel, die sich nur an gewisse Orte und zu gewissen Zeiten schicken, abgeholffen werden: der möchte wohl in denen mancherley Labyrinthen menschlicher Gemüther nicht gar zu bewandert seyn. Wenn man wahrnimmt ein Lehrer thue selbst, was er sagt, wenn es auszuüben ist, wende auch hiezu das theoretische an, das er zu sagen hat oder zeige doch, wie es angewandt werden könne, mache wircksamen Gemüthern Lust selbst Hand anzulegen, und sollte sie anfänglich auch nur in einem blossen: I c h wo l l te w o h l, bestehen:

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so wird er auch deßwegen vernünfftiges Beyfalls würdig seyn, weil sein Vortrag ein Leben hat, ob sichs gleich nicht beständig in Cantzel-Bewegungen äussert. * Man hat das Leben der Erkenntnis und des Vortrages mit beyder Lebhafftigkeit, §. 6. nicht zu verwirren. Die letztere wird zwar zum erstern offt vieles beytragen können; doch kann sie auch offt allein seyn, so daß von ihr auf das Leben keine sichre Folge gilt. Man nehme zum Exempel eine Trauer-Music. Ihr Leben wird seyn, wenn die Zuhörer unvermerckt in Betrübniß, Bedauren des Verlusts, Mitleyd, oder doch einige Schwermuth und ernstliche Gedancken versetzt werden, §. 5. Wenn nun hier der Dichter tausend artige Einfälle über den Menschenfresser auf [29] die bunteste Weise untereinander setzte: und ihm der Musicus mit noch mehrern lebhafften und muntern Abwechselungen aufweckender Klänge mit der regesten Geschwindigkeit folgte: so würde zwar Lachen oder Verdruß einen vernünfftigen Zuhörer nicht schlaffen lassen: die Musik aber doch todt und ohne Würckung seyn. Auch im symbolischen Erkenntnis ist Lebhafftigkeit möglich. Viele können Himmel und Hölle so lebhafft sich und andern mahlen, als wenn sie darin gewesen wären; doch beweiset ihr Verhalten, solche Bilder haben bey ihnen kein sonderliches Leben. ** Unter die Haupt-Vorzüge der gebesserten Metaphysik zehle sonder Bedencken, daß sie nunmehr practischer worden, als man sie vordem ansahe. Ich rede hier nicht von der moralischen Metaphysik, wie sie der berühmte Hr. Pr. Canz zum Beschluß seiner moralischen Disciplinen entworffen14, oder von der allgemeinen practischen Philosophie von der dieses Verhältniß gegeben werden kann: Die Metaphysik: allen übrigen Wissenschafften. Die allgemeine practische Philosophie: allen übrigen moralischen Wissenschafften. Die Metaphysik in eigentlichen Verstande, nicht einmahl die Ontologie ausgenommen, wird nicht leicht einen Satz aufweisen, aus dem nicht eine genaue beweisende practische Philosophie einige ihrer Schluß-Sätze bestärcken und ihn also zum Thun und Lassen anwenden sollte. *** Man fordert dieses gemeiniglich nur von der politischen Historie; doch ist es bey ieder Historie nöthig, wenn man nur die Art der Handlungen [30] unterscheidet, von deren rechtmäßigen Einrichtung die Historie durch Beyspiele lehren soll. Die Gelehrten-Historie muß an Vortheilen zu lernen, die Kirchen-Historie an Anmerckungen der Klugheit in geistlichen Sachen, die Geschichte der Natur an brauchbaren Vorschlägen zur Haußhaltung und mancherley Künsten fruchtbar seyn. Praecipuum munus annalium reor, ne virtutes sileantur, vtque pravis dictis factisque ex posteritate & infamia metus sit. Tac. Ann. l. III. 65.15 Le but principale de l’histoire, aussi bien, Gottlieb Canz, Disciplinae morales omnes etiam eae quae forma artis nondum hucusque comparerunt perpetuo nexu traditae: Appendix compendioli metaphysicae moralis, Hildesheim u.a. 1994 (ND der Ausg. Tübingen 1752), in: Wolff, GW, III.32.2, 1281-1376. 15 P. Cornelius Tacitus, Annalen, Lat./Dt. hg. von Erich Heller, München/Zürich ²1992, III.65, 274. 14

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que de la poësie doit etre d’enseigner la prudence & la vertu par des exemples, & puis de montrer le vice d’une maniere, qui en donne de l’auersion, & qui porte ou serve a l’euiter. Leibn. Theod. P. II. 148.16

§. 10. Ob nun gleich ein academischer Lehrer bey denen von §. 5-9. erzehlten und andern mit diesen verknüpfften Stücken eines guten mündlichen Vortrages,* vernünfftigen Beyfall zu verdienen, nichts in seiner Gewalt hat, als Treue, §. 4. so folgt doch noch nicht: Wer nur treu ist, dem kann der vernünfftige Beyfall nicht fehlen: Wem er fehlt, der muß nicht treu seyn: Mehrere Geschicklichkeit, als einem gegeben ist, kann man nicht von ihm fordern. Der Mangel einiger kleinern Fertigkeiten, zu denen bisher angeführten und andern Zwecken klüglich zu gelangen, [31] kann einen solchen Lehrer unglücklich genug machen, daß er in seiner Lese-Stube allein bleibet, und doch nicht untreu ist.** Ia sollten sich auch Geschicklichkeit und Treue mit einander vereinigen, iemand etwas anziehender Krafft mitzutheilen: so wird doch eine listige Schwartzmacher-Kunst durch Vorurtheil und Verläumdung iener Würckung wenigstens eine Zeitlang sehr unmercklich machen können. Ist sich ein Lehrer auf hohen Schulen nur wahrer Treue bewust, und bessert also auch seine Fähigkeiten, so viel es in seinem Vermögen steht, so wird er das übrige gelassen dem Glück, oder der Vorsehung, die sich andrer Mittel, als unsre freye Handlungen, zu unserm Wohl bedient, überlassen können. Hindert seinen Beyfall ein natürliches Unvermögen sich im Reden beliebt zu machen: so erkennt er, wie vergebens wir uns der Natur widersetzen. Stöhren ihn üble Nachreden und Wahn; so bedenckt er der Menschen Obliegenheiten, wenn man ihnen was fälschlich aufbürdet, und wartet der Zeit, da Lügen sich selbst widerlegen. Verbindet sich beydes mit andern Hindernissen: er bleibt treu, und bedenckt, die Ehre sey mancherley; es könne eine gewisse Art derselben fehlen, oder aufhören, so, daß andere Arten sie ersetzen, desto mehr zunehmen, oder einen neuen Ruhm hervorbringen, folglich der wahren Ehre nichts [32] abgehe.*** Findet aber ein Vernünfftiger vernünfftigen Beyfall, so wird man auf beyden Seiten um so viel leichter zufrieden seyn können. * Z. E. der Kürtze oder Vermeidung unnützer Weitläufftigkeit, der Ordnung oder Methode[,] dem genauen Zusammenhang, der Wahl des wichtigern, und edlern, der gehörigen Abwechselung, der Faßlichkeit, Wohlanständigkeit u. d. gl. ** Daher geschieht es nicht leicht ohne Ubereilung, wenn sich manche dem academischen Leben schon auf Lebenslang widmen, ehe sie den Versuch gethan, ob es auch bey ihnen stehen werde, mit aller ihrer Arbeit und Treue dabey zurecht zu kommen. 16

Gottfried Wilhelm Leibniz, Essais de Theodicee, II.148, in: PhS, Bd. VI, 21-462, hier 198.

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Noch mehr muß man sich wundern, wenn ein solcher Vorsatz mehrere Iahre anhält, und weder durch Hunger, noch Blösse, weder durch Hitze noch Frost, weder durch böse Gerüchte noch Mitleyden gebrochen werden kann. *** Der bemerckte Fall kann sich insonderheit bey herannahendem Alter äussern. Es ist eben nicht nöthig, daß einer in der Kindheit zurück gerathen sey, um bey ihm die Minderung derer auch zum Vortrage erforderten Gemüths-Kräffte wahrzunehmen. Kann ein Greiß gleich noch wahres vom falschen unterscheiden, wenn ihm beydes vorgelegt wird: so wird ihm doch ein geschwächtes Gedächtnis bey mehrern Iahren kaum die Hälffte der Wahrheiten wieder vorstellen, die ihm sonst gleichsam zugeflossen. Die Munterkeit der Iugend ist dahin. Wenn das Haupt mit [33] Schnee bedeckt, scheint offt zugleich das Mundwerck etwas zu gefrieren. Hat er gleich eine schöne Deutlichkeit der Erkenntnis erlangt, so hat er doch vielleicht ihre Zergliederung so manchesmahl vorgenommen, daß es ihn nun nicht selten verdrießt, von neuen daran zu gehen. Ihm fällt bequemer voraus zu setzen, seinen Zuhörern seyen die Dinge, die er jetzt erklären sollte, schon längst bekannt, so, wie ihm. Hundert Sätze hat er sich etwa vor 50. Iahren einmahl vor allemahl bewiesen, so, daß indes der Beweiß im Gedächtnis verloschen, ob er gleich noch wohl erkennt, der Schluß-Satz sey gewiß. Daher nimmt die Gründlichkeit ab. Wie sich nach und nach seine Würcksamkeit verringert, so pflegt auch das Leben in seinem Vortrage zu fehlen. Wenn er gleich selbst noch thut, was er lehrt, so braucht er doch der Gewohnheit wegen, wenig auf die Bewegungs-Gründe acht zu geben, um sich selbst zu bestimmen; daher werden sie auch im Vortrage nicht selten vergessen. Darum thut auch beym Beyfall nicht thöricht, der ihm den Abschied giebt, wenn er merckt, daß er ihn ohnedem bald nehmen möchte.

§. 11. In dergleichen Vorstellungen mache mich gefaßt, am Mondtage nach dem 3. Trinitatis, wird seyn der 4. Iulius, mit göttlicher Hülffe, meine Lese-Stunden allhier zu eröffnen.* Als ein Ankömmling und Fremdling auf hiesiger Academie bin noch nicht im Stande viel Vorschlä[34]ge thun, nach denen mich beständig richten könnte.** Doch ist mir bekannt, wie gut es sey, wenn die meisten Collegien auf einer hohen Schule in eben demselben halben Iah[r]e angefangen und richtig geschlossen werden. Nun habe die Logik, und Metaphysik, nebst dem Recht der Natur in diesem Jahre besonders zu lesen versprochen. Iede dieser Wissenschafften ist so reich, daß sie mir von ietzt bis Ostern vollkommen zu thun geben würde. Wenn aber bis Michaelis ieglicher nur eine Stunde geben wollte, so getraue mich nicht, mit einer unter ihnen fertig zu werden. Soll ich sie alle drey, oder eine und die andere ietzt anfangen und bis Ostern fortlesen? Ich bin bereit. Aber die Ursach ist zum Theil schon gemeldet, warum mich dazu nicht entschliessen werde, wenn es nicht verlangt wird. Wie? wenn ich nur eine dieser Wissenschafften bis auf den Herbst, aber täglich 2. Stunden, läse? so habe so viel Zeit, als in 6. Monathen bey einer Stunde, und kann so denn, geliebts

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GOtt, die beyden andern nächsten Winter hinzuthun. Hier wird nun die Wahl nicht schwer seyn. Die Metaphysik erfordert eine Erkenntnis der Logik, und das Recht der Natur eine Einsicht in beyde, wenn sie gründlich sollen erlernet werden. Das grosse Gesetz mathematischer Ordnung ist: d e n G ru n d v o ra n, d as g e gr ü n de te n a ch . [35] Ich dencke den Anfang mit der Logik zu machen. Allein bequeme Stunden fest zu setzen ist nicht so leicht. Mir ist unbekannt, welche Stunden die Herren, die mich etwa hören wollten, frey oder besetzt haben. Bisher habe das Glück noch nicht gehabt, mich mit vielen darüber besprechen zu können. Doch ich muß mich einmahl bestimmen, von 2-3. werde die erste, von 6-7. die andre Stunde der Logik anzufangen versuchen. Letztere ist die gewöhnliche Verdoppelungs-Stunde in Halle, und wird, sonderlich wenn die Tage kürtzer werden, nach Belieben der Herren Zuhörer geändert oder beybehalten werden können. Die vorzutragende Sache nebst dem Buch, worüber ich lese, darff nicht mit vielem anpreisen, weil beydes ia königliche Zeugnisse vor sich hat. * Solches ist auch geschehen, und setze ich noch die hier angezeigte Arbeit unausgesetzt mit meinen Herren Zuhörern, deren Fleiß billig zu rühmen habe, ob gleich meist in solchen Stunden fort, die sonst hier nicht zum Lesen gebraucht werden. ** Indeß werde nunmehr überhaupt ziemlich bestimmen können, worin meine vornehmste Beschäfftigungen beym Lesen bestehen werden. Die Logik werde so offt durchgehen, als sichs will thun lassen. Die Metaphysik erkläre mit dem Recht der Natur und Ethik alle Jahr, so GOtt Leben und Gesundheyt verleyhet. Künfftigen Winter [36] bin noch gewiß entschlossen zu lesen, was ich versprochen. In Zukunfft aber werde den Sommer das Recht der Natur, den Winter die Ethik lesen; finden sich Liebhaber, so wünschte dem schon längst in Halle gemachten Entwurff eines gesellschafftlichen Rechts, das nebst andern das Recht des Hauses, das allgemeine Recht der Staaten, das bürgerliche, geistliche und Straff-Recht unter sich begriffe, folgen zu können. In denen öffentlichen Stunden dencke dereinst mit der Physik und Oeconomik abzuwechseln. Der Politik behalte gantz besondere Stunden vor. Die Historie der Philosophie, eine Einleitung in ihre Theile, und allgemeine Gesetze der Aesthetik, Rhetorik, Poetik, und Hermenevtik zu erklären, werde bey sich äussernder Gelegenheit auch kein Bedencken tragen. Es versteht sich allezeit die Bedingung: Wenn GOtt will, und wir leben.

§. 12. Die öffentliche Lection dencke zugleich in der Stunde von 4-5. anzufangen. Die Philosophie hat ietzo das Glück, daß sich ihrer auch solche Leute nicht schämen, die sonst vielleicht, wenn man sie Philosophen genannt, unschlüßig gewesen wären, ob sie nicht zum Degen zu greiffen hätten. Es wird aus ihr ietzt mehr gemacht, als vor diesen, da man sie als das Phlegma der Schulfüchserey

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ansahe, du daher ausser dem Gebieth von dieser auch an iene nicht dachte. Man redet vom Philosophiren ietzt oft auch in sol[37]chen Gesellschafften, die eben nicht aus lauter gestempelten Gelehrten bestehen. Dieser giebt sie für eine Wissenschafft alles möglichen, iener für eine wirckliche Unwissenheit aus. Dieser will alles darin mit unumstößlichen Gründen unwidersprechlich dargethan wissen. Iener schreibt unter alle Sätze der Weltweisheit statt des Q. E. D. welches zu erweisen war, sein zweifelndes non liquet, welches noch auszumachen ist. Dieser will über alles philosophiren. Iener schlösse die Philosophie gern wieder in des Porphyrius 5. allgemeine Dinge ein. Dieser hält selbst die geoffenbahrte Theologie für eine Ergäntzung der Philosophie. Iener meinet, Philosophen und Geistliche seyn von Anbeginn der Tage beruffen Antipoden zu seyn. Dieser sieht das edelste von allen Theilen der Gelehrsamkeit, als ein Stück oder einen Ausfluß der Philosophie an. Iener glaubt, es geschehe ihr mehr als zu viel Ehre, wenn die höhere Wissenschafften sie ie zuweilen mit einem gnädigen: Hagar, tritt mir nach, begrüßten. Dieser versichert, sie sey der Schlüssel zu aller übrigen Erkenntnis. Iener schwiert, wie sie tumm, ungeschickt, finster, und selbst zu denen schönen Wissenschafften untauglich mache. Dieser hält sie so theuer, als den Stein der Weisen. Iener murret, daß er nicht einmahl Hunde mit ihr aus dem Offen lo[38]cken könne. Dieser sieht bey ihrer mehrern Auffnahm die güldene Zeiten im Anzuge. Iener zehlt sie unter die brodtlosen Künste von nichts viel zu sagen und zu zancken.* Dieser will mit ihr Teuffel bannen. Iener sieht sie den Teuffel, als einen Riegel, vor die wahre Weisheit schieben. Dieser lacht über die trostreiche Anwendungen, die Stümper aus ihr nehmen. Iener will sich über diese Ketzer-Mutter todt eiffern. Dieser befielt Lebenslang zu philosophiren. Iener hält es für überverdienstlich, wenn man die letzten academischen Monathe noch etwan einen philosophischen Lauff anstellt, sollte er auch gleich um die Logik herum ins Stecken gerathen. Dieser nennt die philosophische Schreib-Art das Ciceronianische des vernünfftigen Schreibens. Iener verwechselt sie mit der scholastischen oder platonischen. Dieser preiset die mathematisch-philosophische Methode wenigstens so hoch, als mancher fromme Engelländer seine Methodisten. Iener will die einreissende Wasserfluth der §. §. mit spanischen Reutern aufhalten. Dieser rufft: Es lebe die Freyheit zu philosophiren, und iener hielte ihr mit tausend Freuden die Leichen-Predigt. Doch ich sage zu viel, da nur wenige Beyspiele derer Urtheile anführe, womit sich die Weltweisheit noch bis auf den heutigen Tag muß richten lassen. Wer hat Recht? und wie sollen wir unsre Rich[39]ter und uns selbst richten? Bey Abhandlung derer gewöhnlichen Theile der Philosophie will sich es nirgend schicken, als vor denen Prolegomenen der Logik; doch leidet da die Zeit, nicht nach Würden das von der Philosophie überhaupt zu bemerckende durchzugehn. Was hindert uns mit dem Theophilus Gale in seiner zu London 1676. 8. heraus gegebenen Philosophia generalis eine eigene Wissenschafft

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daraus zu machen?17** Werde gleich von der philosophischen Historie und Eintheilung der Philosophie dieses mahl nicht weitläufftig seyn, so finde doch so viel Sachen vor mir, daß mir lieber ein volles Iahr wünschen wollte, als in 3. Monathen zu Ende zu kommen. Doch werde gegen Ostern, so GOtt will, den Schluß machen. * Zürnet nicht mit mir, meine Freunde, deren Macht-Sprüche ich hier erzehle. Ist es nicht genung, daß ich sie, wenn sie mir ins Gesicht gesagt werden, mit einer geziemenden Verbeugung annehme? Es wird doch erlaubt seyn, solche sonderbahre Wahrheiten weiter auszubreiten? ** Wie der inn Mathesin und Philosophie zugleich hochverdiente Herr Wolff, uns nach seinen in 4. Theilen herausgegebenen besondern Mathematischen Wissenschafften, noch den 5. verspricht, darin er verschiedenes von der Mathesi überhaupt beybringen,18 und sonder Zweiffel, nach gewohnter [40] Weise, gründlich und hinlänglich beweisen wird: so würde sich die von mir hier angegebene gemeinere Philosophie, eine Wissenschafft des von der Philosophie überhaupt zu bemerckenden, auch in der Ordnung derer übrigen Theile der Weltweißheit nicht besser, als beym Schluß anbringen lassen. Wann sie von der Freyheit zu philosophiren scharff beweisen soll, so muß sie nicht nur die Sitten-Lehre, sondern selbst die Politik, eine derer letzten, obgleich wichtigsten philosophischen Wissenschafften, um einige Lehr-Sätze ansprechen. Wenn sie von denen mancherley Vorwürffen, obiectis und Materien spricht, mit denen sich der Philosoph beschäfftigt, so würden dieselbe freylich bekannter seyn, wann sie schon in besonderen Wissenschafften durchgegangen, als wenn man einem Fremdlinge in diesen, das, wovon sie handeln, mit einmahl, als so viel böhmische Dörffer, vorlegen muß. In dem ersten Hauptstück dieser Wissenschafft handle von dem Begriff der Philosophie, und zwar so, daß im ersten Abschnitt ihre Onomatologie, oder was die Alten Wort-Erklärung nannten, bemercke. Hier ist insonderheit auf die verschiedene Bedeutungen des Wortes Philosophie zu sehn, durch deren deutliche Beobachtung Vgl. Johann Christian Foerster, Praefatio, in: Philosophia generalis, a2-a4, hier a3. Christian Wolff, Elementa Matheseos Universae, tom. IV (1738) [GW, II.32], Praef. (unpag): Nec invitus largior, haec minime sufficere, cur illam in numerum scientiarum mathematicarum referamus, nisi concedere velimus (quod tamen absonum merito judicatur) Physicam omnem Mathesi esse inferendam, propterea quod ubivis locus sit cognitioni Naturae methematicae. Rationem vero reddimus in praefatione scientiae ultilissimae praemissa, cur hoc non obstante eam appendicis instar Elementis nostris subjungere visum fuerit. Quodsi quis institutum nostrum damnet, per nos hoc faciat: nobis sufficit satisfecisse illorum desiderio, qui cum Matheseos studio architecturae civilis studium conjungere solent. In Elementis nostris Matheseos universae non omnia scripsimus omnibus; id tamen nobis propositum fuit, ut satisfasceremus singulis. Seligat unusquisque, quae ad suum fuerint palatum. Unicum superest, de quo Lectorem moneri consultum duximus. Propositum nobis erat Tomo huic quarto Elemenorum Matheseos universae subjungere Commentationem de praecipuis scriptis mathematicis una cum Indice locupletissimo in omnes quatuor Tomos, qui Lexici instar esse possit, quaedam etiam addere de studio Matheseos rite instituendo pro diverso discentium statu. 17 18

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schon mancher Wort- auch wohl Feder-Krieg in der Güte beygelegt werden kann. In dem 2. Abschnitt führe die Erklährung der Philosophie an, daß sie eine Wissenschafft von denen Beschaffenheiten der Dinge sey, die ohne Glauben erkannt werden können, und vergleiche damit einige, sonderlich von denen alten gegebene Beschrei[41]bungen derselben. Unter diesen ist mir eine der merckwürdigsten, wenn schon Pythagoras die Philosophie eine Wissenschafft der Dinge nennt, in so ferne sie Dinge seyn. Im dritten Abschnitt versuche etwas mathematischer Erkentnis von denen Graden und Stuffen der Vollkommenheit in der Philosophie um so viel lieber, um also mit Gründen ausmachen zu können, ob und wie die Philosophie in unsern Tagen zugenommen und verbessert worden. Von ie weiterm Umfang und Inbegriff sie ist, ie wichtigere, brauchbahrere und edlere Sachen sie enthält, ie grösser ihre Wahrheit und Richtigkeit der Begriffe, Sätze, eintzler Schlüsse und gantzer Beweise; ie mercklicher ihre Klarheit, Lebhafftigkeit, Deutlichkeit und Tieffe, ie ausgemachter ihre Gewißheit, ie reitzender, ie rührender das Leben ihrer Bewegungs-Gründe, ie grösser der Vorrath ihrer Erkentnis-Quellen, ie untrüglicher diese Uberzeugung: ie vollkommener ist die Philosophie. Nach diesem leicht zu beweisenden Entwurff stelle man sich die vollkommenste Philosophie vor, so wird man sich vielleicht an dem Satz: GOtt ist der höchste Philosoph, nicht weiter zu ärgern Ursach finden. Im 2. Haupt-Stück bringt mich das erste Kennzeichen der Erklärung: Wissenschafft auf die Frage, von der Gewißheit der Philosophie, die ich im ersten Abschnitt vest setze, und gehörig erläutert einschräncke, im 2. aber gegen die Einwürffe der philosophischen Zweifler rette. Weil diese von denen, die an allem Zweifeln unterschieden werden müssen, so findet sich auch von denen [42] letzteren das nöthige zu bemercken Gelegenheit. Das 2. Merckmahl der Erklärung enthält das Obiect der Philosophie, wovon also das 3. Haupt-Stück handelt, und zwar im ersten Abschnitt überhaupt. Hier bemercke, wie schon die alten 3. besondere Haupt-Materien in der Philosophie durchzugehn im Brauch gehabt. 1. Die Beschaffenheiten der Dinge selbst, in der theoretischen, 2. unserer Erkenntnis davon, in der organischen, und 3. unserer freyen Begierden darnach, in der practischen Philosophie. In dem nun die folgenden 3. Abschnitte ieden dieser Vorwürffe besonders erwegen, so ergiebt sich von selbst die Eintheilung der Philosophie etwas vollständiger; wobey mich doch nicht viel aufhalte, weil der Grundriß einer philosophischen Encyclopädie, wovon in Halle schon einen Versuch gethan, zu groß ist, als daß er nur einen Theil einer andern Wissenschafft abgeben könnte. Im 4. Haupt-Stück brauche die gantze Erklärung zuerst, die Philosophie von allen übrigen Dingen, insonderheit allen übrigen Theilen der Gelehrsamkeit zu unterscheiden. Der erste Abschnitt wird auf diesem Satz beruhen: der Theil der Gelehrsamkeit, der keine Wissenschafft ist, ist kein Theil der Philosophie, ob er gleich dazu werden kann, wenn er als eine Wissenschafft eingesehn wird. Der 2. Abschnitt folgt diesem Forder-Satze: Auch Wissenschafften, die aber nicht von denen Beschaffenheiten der Dinge eigentlich, und wie die Alten sagen, reduplicatiue handeln, sind keine Theile der Philosophie. Der 3. Abschnitt setzt dieses voraus: [43] Selbst von denen Beschaffenheiten der Dinge handelnde Wissenschafften, die aber nicht ohne Glauben erkannt werden können, sind keine Theile der Philosophie. Das 5. Haupt-Stück wird den Zusammenhang der Philosophie mit dem gantzen Gebäude der Gelehrsamkeit an-

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führen, und zwar so, daß im ersten Abschnitt was sie voraus setzt, im 2. was davon in ihr gegründet ist, erzehlet werde. Im 6. Haupt-Stück erläutre der Philosophie Nutzbarkeit, und zwar wird solche der erste Abschnitt zeigen in Absicht auf die Erkenntnis, so wohl der Gelehrten, als Ungelehrten, der 2. aber in Absicht auf das übrige Thun und Lassen. Hiezu wird der dritte Abschnitt kommen, der von dem Vergnügen aus derselben, ihrer bedingten Nothwendigkeit, Zweck, Würde, Gebrauch und Mißbrauch das dienlichste berühre. Das 7. Haupt-Stück beschäfftigt sich mit der philosophischen Lehr-Art. Der erste Abschnitt wird eigentlich von der Methode oder Ordnung im Dencken, der 2. aber von der Schreib-Art, oder dem bequemsten Stil einiges anführen. Im 8. Haupt-Stück bemühe mich den Philosophen zu mahlen. Der erste Abschnitt wird sein vollkommenstes Urbild verehren, der 2. einen unvollkommenen, doch wachsenden Philosophen entwerffen, der 3. aber das anführen, was ein solcher zu vermeiden hat. Das 9. HauptStück handelt von der Freyheit zu philosophiren und zwar im ersten Abschnitt von der natürlichen, dem Recht das ieder hat, philosophische Sätze nach eigner bester Einsicht anzunehmen oder zu [44] verwerffen, auch sein Urtheil davon andern ohne iemandes Schaden zu offenbahren. Der andere Abschnitt spricht von der bürgerlichen Freyheit zu philosophiren, der obrigkeitlichen Erlaubnis sich seiner natürlichen Freyheit zu philosophiren so oder so weit zu gebrauchen. Das 10. Haupt-Stück endlich soll denen Misosophen, oder Feinden der Philosophie heilig seyn, wovon der erste Abschnitt die Unwissenden und Einfältigen, der 2. die Boßhafftigen beleuchten wird.

§ 13. Me i n e A n t r i ts - R e d e , w e l ch e n ä c hs t en D i en s t a g u m 11 . a n g ew ö h nl i c he m O r t e z u h al t e n e n t s c h lo s s e n b i n, ve rs u c h e t Sr. Kö n i gl i c h en M a ie st ä t z u a ll e rh ö c hs t De r os el b e n g lo rw ü rd ig st an g etr e t e n en R e g i er u ng i n e i ne m l a te i n is c he n h e r oi s c h e n G e d ich t e a ll e r u n t er t h ä n ig st G l ü c k z u w ü ns c he n . * I ch w a g e v i e l. Ab er w e s da s H e r tz v ol l i s t , d a v on g e ht d er M u n d ü b e r. K a n au c h ein R e de n d e r si ch g en e ig t e re Z u h ör e r v e rs p re c h e n, a l s w e n n e r Li eb h a b e r d e r G e l e h r sa m ke i t vo n [4 5 ] d i es em a ll e rd ur c hl a u c ht ig st e n K e n n er, gr o ß mä c h ti g s t e n B es ch ü t z er, u n d a ll e rg n ä di g s te n Bef ö r d er e r g ut e r K ün st e u n d Wi s s e ns ch a fft e n u nt e rh ä lt ? * Sie ist nunmehr hieselbst gedruckt, und beschäfftige sich ietzt eine in teutschen Gedichten geübte Feder mit ihrer Ubersetzung in unsre Muttersprache.19 Der Höchste thue an unserm allergnädigsten Landes-Vater mehr, als wir bitten oder verstehen! Alexander Gottlieb Baumgarten, Serenissimo potentissimo Principi, Friderico, Regi Borussorum marchioni brandenburgico S. R. J. archicamerario et electori, caetera, clementissimo dominio felicia regni felicis auspicia, o.O. 1740. Die deutsche Übersetzung aus der Hand von Baumgartens Bruder Nathanael erschien unter dem Titel: Allerunterthänigster Glückwunsch bey dem erfreulichen Antritt der erfreulichen Regierung des Allerdurchlauchtigsten und Grossmächtigsten Königs und Herrn, Friedrich, König von Preussen, Berlin 1740. 19

ALEXANDER GOTTLIEB BAUMGARTEN Praelectiones Theologiae domaticae (Auszüge) Herausgegeben von Dagmar Mirbach und Thomas Nisslmüller

I. Einführung Nach dem Zeugnis von Georg Friedrich Meier hat Baumgarten schon in Halle ab 1737 natürliche Theologie gelehrt,1 an der Academia Viadrina in Frankfurt an der Oder dann auf Wunsch einiger ‘lutherischer Studierenden’ aber auch – da Baumgarten sich, so Meier, aus eigenem Interesse und bedingt durch seine Erziehung, „immer, neben der Weltweisheit, mit der Gottesgelahrtheit und der Philologie beschäftig[t]“ habe,2 – dogmatische Theologie. Meier berichtet über Baumgartens Lehrtätigkeit an der Viadrina: Er lehrete alle Theile der Weltweisheit wie in Halle, und las zum erstenmale daselbst die Aesthetik, und eine Einleitung in die ganze Weltweisheit. Er las die Naturlehre, und die Wissenschaft der Rechte und Pflichten des gesellschaftlichen Zustandes. Er wendete sich wieder zu der Philologie, und las über den Esaias und die hebräische Grammatik. Und da er von einigen daselbst studierenden lutherischen Theologen ersucht ward, ihnen die Dogmatik zu lesen: so lehrete er auch die geoffenbarte Gottesgelahrtheit, und legte dabey seine eigenen Sätze zum Grunde, die er seinen Zuhörern in die Feder dictirte.3

Diese Vorlesungen, respektive die akroamatische Vorlage derselben, über dogmatische Theologie von Baumgarten – der, so wiederum Meier, „fest entschlossen“ war, „niemals ein theologisches Amt zu suchen“, „aber auch eben so fest entschlossen, keins auszuschlagen“4 – sind in der Tat nur, doch immerhin in der Form überliefert, wie sie Baumgarten ‘seinen Zuhörern in die Feder diktierte’. Redigiert und nach Baumgartens Tod postum 1773 herausgegeben wurden sie von Johann Salomo Semler, dem Nachfolger auf dem theologischen Lehrstuhl von Siegmund Jakob Baumgarten in Halle. Die Grundlage lieferte, wie Semler in der „Praefatio“ zu seiner Edition der Praelectiones berichtet, nur ein Exemplar von Vorlesungsmitschriften, wie sie zwischen 1762 und 1773 von Vgl. [Georg Friedrich Meier], Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, Halle 1763, 17, in diesem Band 358. 2 Ebd., 20, in diesem Band 360. 3 Ebd. 4 Ebd. 1

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Frankfurt nach Halle an den Verleger und Buchhändler Hemmerde übermittelt wurden.5 Gleichwohl – nur durch Mitschriften überliefert und in der durch Semler überarbeiteten Form herausgegeben – bilden die Praelectiones einen bedeutenden ‘Eckpfeiler’ im theoretischen Werk Alexander Gottlieb Baumgartens. Sie verbinden nicht nur seine Ausführungen zur natürlichen Theologie, wie sie in seinem Hauptwerk, der Metaphysica (Erstausgabe 1739, 7. Aufl. 1779) enthalten ist, und seine Ethik, wie sie in der Ethica philosophica (Erstausgabe 1740, 3. Aufl. 1763) übermittelt ist, mit den Dogmen der christlichen Theologie, sondern auch seine Aufwertung und Instantiierung der Bedeutung der sinnlichen Erkenntnis, wie sie maßgeblich in der Aesthetica (1750/58) dargelegt ist, mit dem für Baumgarten zentralen Anliegen des christlichen Glaubens: Gott zeigt sich nicht nur ‘allgemein’ in der Natur in der Vollkommenheit der Weltschöpfung als ganzer, er wirkt nicht nur in ‘besonderer’ Weise in der Ausrichtung der menschlichen Handlungen auf das sittlich Gute, sondern er hat sich selbst auch, wie es in § 13 der Praelectiones heißt, in Jesus Christus als menschliches, sinnlich wahrnehmbares Abbild (carakt¾r a„sqhtÕj toà Qeioà, tÁj QeiÒthtoj) offenbart. Damit ist der Bogen geschlagen: Von der Metaphysik, mit besonderer Bedeutung der Psychologie und der natürlichen Theologie, über die Ethik zur dogmatisch-theologischen Reflexion. Ein Bogen, der für Baumgartens Werk, für seine Philosophie und für seine persönliche Überzeugung insgesamt das Fundament und den Rahmen bildet. Es werden hier nur die ersten 14 Paragraphen der Praelectiones, die „Prolegomena“ (§§ 1–3) und das erste Kapitel zur christlichen Religion (§§ 4–14) im lateinischen Original und in deutscher Übersetzung, unter Anfügung der von Baumgarten angegebenen Bibelstellen und seiner – für seine Vorgehensweise so charakteristischen und bedeutsamen – Referenzen auf sein übriges Werk (hier: Metaphysica, Ethica philosophica, Acroasis logica) wiedergegeben sowie eine Übersicht über den Inhalt der Schrift nach den Überschriften der entsprechenden Teile, Kapitel und Abschnitte. Dennoch ist dieser schmale Auszug aus den Praelectiones für die angesprochene Verklammerung der verschiedenen, aber verbundenen Aspekte von Baumgartens Denken und Philosophie aussagekräftig. Der Inhalt der wiedergegebenen Paragraphen sei hier in Kürze zusammenfassend vorgestellt. In § 1 der „Prolegomena“ wird zuerst die Verbindung und die notwendige Trennung von natürlicher und dogmatischer Theologie sowie die Übereinstimmung von Vernunft und Glauben konstatiert, wobei die Darstellung der dogmatischen Theologie sich in den Vorlesungen an der philosophischen Methode orientieren soll. § 2 zieht, wie in § 13 dann noch expliziter ausgeführt, Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Praelectiones theologiae dogmaticae, Halle 1773, „Praefatio“ von Johann Salomo Semler, 2 f. 5

Dagmar Mirbach · Einleitung

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die Verbindung zwischen Philosophie und Theologie weiter: Die Praelectiones sollen einerseits dazu dienen, dem Philosophen, der sich auch als Christ versteht, ein theoretisch begründetes System seines Glaubens zu liefern, und sie sollen andererseits dem Theologen dazu verhelfen, nicht nur seinen Glauben zu vertreten und zu formulieren, sondern diesen auch mit (philosophisch verstandener) Erkenntnis zu fundieren. § 3 der „Prolegomena“ gibt die Gliederung der Praelectiones wieder: 1) Propädeutik (§§ 4–187), 2) Theologie im strengsten Sinne (strictissime dicta, §§ 188–286) und 3) Anthropologie (§§ 400–586, wobei hier die Christologie mit insgesamt 187 Paragraphen den maßgeblichen Schwerpunkt ausmacht und der eingangs angekündigte Abschnitt β zum Stand der Herrlichkeit fehlt). Das erste Kapitel zur religio christiana wird in § 4 eröffnet mit der Definition von ‘christlich’ und ‘Christentum’. Christen im engen Sinne sind die ihm nachfolgenden Jünger Jesu Christi, Christen im weiteren Sinne sind all diejenigen Menschen, die Christus zwar nicht unmittelbar und historisch nachgefolgt sind bzw. nachfolgen konnten, ihn aber als ‘besten und größten Menschen und Sohn Gottes’ (homo optimus maximus filius Dei) anerkennen. In § 5 unterscheidet und verbindet Baumgarten die Vollendung des christlichen Glaubens a) in der theoretischen Lehre und b) in der praktischen Ausübung. Dem folgt die an Paulus’ Rede vom ‘inwendigen Menschen’ orientierte Unterscheidung von innerem und äußerem (sich in Handlungen zeigendem) und schließlich bloß äußerem (des inneren ermangelndem und daher nur scheinbarem) Christentum in § 6 und § 7. Die §§ 8 und 9 unterscheiden, mit aussagekräftigen Rückbezügen auf die Metaphysica, die natürliche von der übernatürlichen (geoffenbarten) Religion, nicht ohne dabei deutlich zu machen, daß auch die natürliche Religion in der transzendenten, übernatürlichen Natur Gottes ihren Ursprung hat. Die Zusammenführung von natürlicher und auf der Offenbarung durch die Heilige Schrift beruhender Religion gipfelt in §§ 10–12, in denen die christliche Religion als Ergänzung und Erfüllung (mit dem für Baumgarten so wichtigen Begriff des complementum) und erhöhende Verbesserung (emendatio) der natürlichen Religion herausgestellt wird. In § 13, in dem auch die oben erwähnte Offenbarung Gottes in der sinnlich wahrnehmbaren Gestalt Jesu Christi thematisiert wird (die auch eine entscheidende Rolle in Baumgartens Überlegungen zur menschlichen Gottesebenbildlichkeit einnimmt),6 liefert Baumgarten als Höhepunkt des ersten Kapitels seiner Praelectiones dann sein grundsätzliches Plädoyer für die Vereinbarkeit von Philosophie und Theologie, Vernunft und Glauben. Als Appendix hierzu ist § 14 zu sehen, in dem Baumgarten die Kriterien und die Zielvorgaben der philosophischen Erkenntnis auch im Hinblick auf Fragen der dogmatisch begründeten Religion in der theoretischen Lehre und ihrer praktischen Ausübung einfordert. 6

Vgl. Praelectiones, besonders §§ 210–217, 383–387.

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Es ist zu hoffen, daß mit diesem kurzen Auszug aus den Praelectiones theologiae pragmaticae der Anstoß gegeben werden kann, in der weiteren Forschung den Gesamtzusammenhang von Baumgartens theoretischer Philosophie und insbesondere die für sein Werk so bedeutende Schnittstelle zwischen Ästhetik, Ethik und theologischer Reflexion in vertiefender Form in den Blick zu nehmen. II. Zur Ausgabe und Übersetzung der Auszüge Der lateinische Text der Praelectiones wurde nur behutsam bearbeitet. So wurde die Schreibung von lateinisch ‚v’ für ‚u’ entsprechend geändert, die Zeichensetzung blieb bestehen, unter Weglassung von Kommata zwischen römischen und arabischen Ziffern bei Stellenangaben. Druckfehler und falsche Zählungen wurden stillschweigend korrigiert. Grundlage des lateinischen Textes der weiteren herangezogenen Werke Alexander Gottlieb Baumgartens sind die im Siglenverzeichnis angegebenen Ausgaben der Metaphysica (Metaphysik), der Ethica philosophica (Ethik) und der Acroasis Logica (Logik). Paragraphen aus den genannten Werken, auf die sich Baumgarten bezieht, sind jeweils nach dem entsprechenden Paragraphen der Praelectiones im lateinischen Original und in deutscher Übersetzung angefügt, wobei weitere interne Verweise innerhalb dieser Werke selbst ausgelassen wurden, im lateinischen Text jedoch mit „[…]“ gekennzeichnet sind. Ergänzend angefügt sind auch (in Deutsch) die von Baumgarten genannten Bibelstellen. Deutsche Übersetzungen einzelner lateinischer Termini geben, soweit dies möglich ist, Baumgartens eigenen deutschen Sprachgebrauch wieder, wie dieser in Baumgarten, Ästhetik, 1117–1192, und in Ken Aso u.a., Onomasticon philosophicum latinoteutonicum et teutonicolatinum, Tokio 1989, dokumentiert ist. Als Bibelausgabe wurde verwendet: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers, Textfassung 1912, Stuttgart 1982. Baumgartens Hinweis auf Act. XI, c. 6, 24.5, in § 4 muß sich auf die Apostelgeschichte 11, 26 (mit dem Kontext von 11, 24 f.) beziehen; bei dem Hinweis auf die Acroasis logica VII 15 in § 13 muß es sich um einen Hinweis auf Acr. log. VII, §§ 358–360 handeln. Dagmar Mirbach (Tübingen)

III. Praelectiones philosophiae dogmaticae (§§ 1–14) Prolegomena (§ 1–3), Kap. I: Religio christiana (§§ 4–14) ALEX. GOTTL. BAUMGARTENII PROF. PHILOSOPHIAE PRAELECTIONES THEOLOGIAE DOGMATICAE PRAEFATIONEM ADIECIT D. IO. SALOM. SEMLER THEOLOG. PROF. PUBLICUS ORDINARIUS IN ACADEM. FRIDERICIANA HALENSI. HALAE MAGDEBURGICAE IMPENSIS CAROL. HERM. HEMMERDE 1773.

ALEXANDER GOTTLIEB BAUMGARTENS PROFESSORS DER PHILOSOPHIE VORLESUNGEN ÜBER DIE DOGMATISCHE THEOLOGIE MIT EINEM VORWORT VERSEHEN VON D. JOHANN SALOMO SEMLER ÖFFENTLICHER ORDENTLICHER PROFESSOR DER THEOLOGIE AN DER FRIEDRICHSAKADEMIE HALLE HALLE IM MAGDEBURGISCHEN VERLEGT BEI KARL HERMANN HEMMERDE 1773

[Praefatio von Johann Salomo Semler]

THEOLOGIAE THETICAE PROLEGOMENA.

VORBEMERKUNGEN ZUR THETISCHEN THEOLOGIE

§ 1. Isagogen philosophicam in theologiam christianam theticam exhibituri, theologiam naturalem ad christianam adplicando, citra confusionem ambas coniuncturi, et sic harmoniam rationis et scientiae purae cum fide circa obiectum optimum maximum a posteriori cognituri; dabimus operam, ut potiora patescant, ratione et methodo, qua decet, quae philosophus praeiudicatis opinionibus scepticismi, non minus, quam dogmaticismi, carens, subsidiisque theologicae meditationis reliquis, mediocriter instructus, circa theoriam christianae fidei ponere possit.

§1 Als jemand, der eine philosophische Einführung in die thetische christliche Theologie darbieten möchte, in Anwendung der natürlichen auf die christliche Theologie, und beide ohne deren Vermengung verbinden und so die Übereinstimmung der Vernunft und der reinen Wissenschaft mit dem Glauben in bezug auf den besten und größten Gegenstand aus der Erfahrung erkennen möchte, werde ich ein Arbeit liefern, wie sie – wie es das Vorzüglichere in ihr offenbar machen möge – in der angemessenen Vorgehensweise und Methode ein mittelmäßig unterrich-

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teter Philosoph, der sich der Vorurteile des Skeptizismus nicht weniger enthält als derer des Dogmatismus ebenso wie der übrigen Hilfsmittel der theologischen Überlegung, in bezug auf eine Theorie des christlichen Glaubens darlegen kann.

§ 2[.] Eiusmodi theologicorum meditatio utilis est: 1) Ut philosophus quivis christianus suum sibi systema christianismi formare possit, sua fide victurus, Habac. II 4; et paratus sit, ad apologiam omni quaerenti rationem spei, quae in ipso est, I Pet. III 15. 2) Ut penitus perspecta veritate fidei christianae, contra errores eam oppugnantes eo felicius muniatur, vel pugnet. 3) Ut futuri theologi ichnographiam intueantur quoru[n]dam ex iis, quae perfectius quotidie cognoscenda sunt viris, qui non christiani solum esse, sed et eruditionem sacram colere, per peculiare vitae genus obligantur.

§2 Eine solche Überlegung zu theologischen Gegenständen ist zu folgendem nützlich: 1) Daß jedweder christliche Philosoph sich seine systematische Meinung über das Christentum bilden kann, siegreich in seinem Glauben sein wird und bereit sei zur Verantwortung gegen jeden, der einen Grund des Glaubens fordert, der in ihm ist. 2) Daß er inniglich mit der Einsicht in die Wahrheit des christlichen Glaubens gegen die Irrtümer, die dieselbe angreifen, gerüstet sei oder gegen sie streiten möge. 3) Daß zukünftige Theologen einen Grundriß betrachten mögen derjenigen Dinge, die den Menschen täglich immer besser erkennbar sein müssen, Theologen, die nicht nur dazu verbunden sind, Christen zu sein, sondern auch dazu, in einer besonderen Lebensart die heilige Gelehrsamkeit zu pflegen.

– Habak. 2, 4: Siehe, wer halsstarrig ist, der wird keine Ruhe in seinem Herzen haben; der Gerechte aber wird seines Glaubens leben. – 1. Petr. 3, 15: [H]eiliget aber Gott den Herrn in euren Herzen. Seid allezeit bereit zur Verantwortung jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in euch ist[.]

§ 3[.] Introductionem, quam meditamur, absolvet:

§3 Die Einführung, über die wir nachdenken, stellt dar:

I. Pars I. PROPEDEUTICA[.] 1) De religione christiana, Cap. I. 2) de sacra sriptura, Cap. II. 3) de theologia, Cap. III.

I. Teil I: DIE PROPEDEUTIK 1) Über die christliche Religion, Kap. I 2) Über die Heilige Schrift, Kap. II 3) Über die Theologie, Kap. III

Baumgarten · Praelectiones

II. Pars II. THEOLOGIA strictissime dicta. 1) de Dei nominibus Cap. I. 2) de Dei perfectionibus Cap. II. 3) de Trinitate Cap. III. 4) de Dei operationibus Cap. IV. III. Pars III. ANTHROPOLOGIA de hominis statu: 1) Institutionis et innocentiae; 2) Destitutionis et peccati; 3) Restitutionis α) inchoandae in statu gratiae, cuius a) fundamentum, Christologia, b) operationes. c) media. d) subiectum, β) consummandae in statu gloriae, cuius a) antecedentia: Novissima. b) oppositum: Damnatio. c) forma, vitae aeternae.

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II. Teil II: Die Theologie im strengsten Sinne 1) Über die Namen Gottes, Kap. I 2) Über die Vollkommenheiten Gottes, Kap. II 3) Über die Trinität, Kap. III 4) Über die Wirkungen Gottes, Kap. IV III. Teil III. Die ANTHROPOLOGIE, über den Stand des Menschen 1) der ersten Einrichtung und der Unschuld 2) des Verlassenseins und der Sünde 3) der Wiederherstellung α) einzuleiten im Stand der Gnade, dessen a) Grundlage, die Christologie b) Wirkungen c) Mittel d) Subjekt β) auszufüllen im Stand der Herrlichkeit, dessen a) Vorhergehendes: die letzten Dinge b) Gegenteil: die Verdammung c) Form, die des ewigen Lebens

PARS PRIMA. PROPAEDEUTICA.

ERSTER ERSTER TEIL PROPÄDEUTIK

CAP. I. RELIGIO CHRISTIANA.

KAP. I DIE CHRISTLICHE RELIGION

§ 4. Christiani, notione biblica (Act. XI, c. 6, 24.5) sunt discipuli Jesu Nazareni. Hos dicit Jesus non esse, nisi omnia, quae ipsorum sunt, abnegantes (Luc. XIV 26), mala multa, magna, et diuturna suscipientes, Jesum imitando (v. 27[,] Mat.

§4 Christen sind nach biblischem Begriff die Jünger Jesu von Nazareth. Von ihnen sagt Jesus, daß sie es nicht sind, wenn sie nicht alles, was ihres ist, verleugnen; daß sie in der Nachahmung Jesu viel großes und andauerndes Böses erwarten, beharrlich

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XVI 24[,] Marc. VIII 34[,] Luc. IX 23), perseverantes in fide verbis eius habita (Jo. VIII 31), cognoscentes veritatem (v. 32) et per eam liberatos a servitute peccati (v. 34), realiter liberos (v. 36), ita se invicem amantes, ut hinc ab omnibus distingui possint (Jo. XIII 35), et multum fructum ferentes in gloriam Dei (Jo. XV 8). Ex quo autem talis Jesu sermo pluribus Christianis durus visus est (Jo. VI 60): unde retrocesserunt, non amplius cum eo euntes (v. 66): Christianos se dixerunt, quicunque quomodocunque ponunt Jesum Nazarenum hominem optimum maximum filium Dei (v. 69, 20, 31). Religio christianorum est christiana, s. Christianismus.

bestehen im bewahrten Glauben seines Wortes, die Wahrheit erkennen und durch sie von der Knechtschaft der Sünden befreit, wirklich frei, und sich so gegenseitig liebend, daß sie daran von allen anderen unterschieden werden können, und viel Frucht in die Ehre Gottes einbringen. Hieraus ist auch vielen Christen eine solche Rede Jesu hart erschienen: Daher wichen sie zurück und gingen nicht weiterhin mit ihm: Christen nannten sich diejenigen, die – wer auch immer und in welcher Weise auch immer – Jesus von Nazareth als den besten und größten Menschen und Sohn Gottes annahmen. Die Religion der Christen ist christlich oder das Christentum.

– Acta apost. 11, 24–26: 24. Denn er [Barnabas] war ein frommer Mann, voll heiligen Geistes und Glaubens. Und es ward ein großes Volk dem Herrn zugetan. 25. Barnabas aber zog aus gen Tarsus, Saulus wieder zu suchen; 26. und da er ihn fand, führte er ihn gen Antiochien. Und sie blieben bei der Gemeinde ein ganzes Jahr und lehrten viel Volks; daher die Jünger am ersten zu Antiochien Christen genannt wurden. – Luk. 14, 26: So jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein. – Luk. 14, 27: Und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein. – Matth. 16, 24: Da sprach Jesus zu seinen Jüngern: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. – Mark. 8, 34: Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir will nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. – Luk. 9, 23: Da sprach er zu ihnen allen: Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach. – Joh. 8, 31–32: Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger 32. und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. – Joh. 8, 34: Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. – Joh. 8, 36: So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei. – Joh. 13, 35: Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.

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– Joh. 15, 8: Darin wird mein Vater geehrt, daß ihr viel Frucht bringet und werdet meine Jünger. – Joh. 6, 60: Viele nun seiner Jünger, die das höreten, sprachen: Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören? – Joh. 6, 66: Von dem an gingen seiner Jünger viele hinter sich und wandelten hinfort nicht mehr mit ihm. – Joh. 6, 69: [U]nd wir haben geglaubt und erkannt, daß du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. – Joh. 6, 20: Er aber sprach zu ihnen: Ich bin’s; fürchtet euch nicht! – Joh. 6, 31: Unsre Väter haben Manna gegessen in der Wüste, wie geschrieben steht: „Er gab ihnen Brot vom Himmel zu essen.“

§ 5. Quum Christiani significatu (§ 4) primo genuini, sint etiam secundo (Mat. XVI 16–18): non autem omnes significatu secundo Christianos se nominantes sint etiam tales significatu primo: primus erit strictior, secundus latior. Utroque significatu christianismus, ut omnis religio (Metaphys. § 947), absolvitur: I. Cognitione Dei, divinorumque: Christianismus theoreticus (das Lehrende). a) non nisi remotius et pluribus mediantibus perceptionibus, in praxin influentium: theoria fidei Christianae (die christlich[e] Glaubenslehre, Gal. V 6). b) obligationum causis priorum impulsivis propius et immediatius praxin spectantium: theoria praxeos et vitae christianae (christlicher Lebenswandel, Röm. III 31)[.] II. Cultu Dei, Christianismus practicopracticus (das thätige Christenthum)[,] Ethic. § 70, Tit. I. 1, I. Tim. VI 3–5, Tit. II 11–14.

§5 Weil alle wahrhaften Christen in der ersten Bedeutung (§ 4) dies auch in der zweiten Bedeutung sind: Mögen deshalb jedoch nicht alle, die sich in der zweiten Bedeutung Christen nennen, auch solche in der ersten Bedeutung sein: Die erste Bedeutung wird strenger sein, die zweite weiter. In beiden Bedeutungen wird das Christentum, wie jede Religion, zur Vollendung gebracht: I. Durch die Erkenntnis Gottes und der göttlichen Dinge: das theoretische (das lehrende) Christentum, a) auch lediglich durch viele vermittelnde Vorstellungen von Dingen, die entfernter in die praktische Ausübung einfließen: die christliche Glaubenslehre, b) durch erste Antriebe zur Erfüllung der ersten Pflichten, die näher und unmittelbarer die praktische Ausübung betreffen: die Theorie der praktischen Ausübung des Christentums und des christlichen Lebenswandels. II. Durch den Gottesdienst, das tätige Christentum.

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– Matth. 16, 16–18: 16. Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn! 17. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist Du, Simon, Jona’s Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel. 18. Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. – Galat. 5, 6: Denn in Christo Jesu gilt weder Beschneidung noch unbeschnitten sein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. – Röm. 3, 31: Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! sondern wir richten das Gesetz auf. – Tit. 1, 1: Paulus, ein Knecht Gottes und ein Apostel Jesu Christi, nach dem Glauben der Auserwählten Gottes und der Erkenntnis der Wahrheit zur Gottseligkeit[.] – 1. Tim. 6, 3–5: 3. So jemand anders lehrt und bleibt nicht bei den heilsamen Worten unsers Herrn Jesu Christi und bei der Lehre, die gemäß ist der Gottseligkeit, 4. der ist aufgeblasen und weiß nichts, sondern hat die Seuche der Fragen und Wortkriege, aus welchen entspringt Neid, Hader, Lästerung, böser Argwohn, 5. Schulgezänke solcher Menschen, die zerrüttete Sinne haben und der Wahrheit beraubt sind, die da meinen, Gottseligkeit sei ein Gewerbe. Tue dich von solchen! – Tit. 2, 11–14: 11. Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen 12. und züchtigt uns, daß wir sollen verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste, und züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser Welt 13. und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unsers Heilandes, Jesu Christi, 14. der sich selbst für uns gegeben hat, auf daß er uns erlösete von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das fleißig wäre zu guten Werken. – Met. § 947 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. II: Finis creationis]: Bona spiritus determinatio ex motivis gloriae divinae est ILLUSTRATIO GLORIAE DIVINAE (cultus dei). Gloria dei & illustratio eius sunt RELIGIO. Iam gloria Dei utilis est ad cultum eius […], gloria & cultus ad religionem […]. Ergo fines creationis fuerunt cultus dei & religio […].

Die gute Bestimmung eines Geistes aus Bewegungsgründen des Ruhmes Gottes ist die VERHERRLICHUNG GOTTES (der Gottesdienst). Der Ruhm Gottes und seine Verherrlichung sind die RELIGION. Nun ist der Ruhm Gottes nützlich für den Gottesdienst, der Ruhm Gottes und der Gottesdienst für die Religion. Folglich war der Zweck der Schöpfung der Gottesdienst und die Religion.

– Eth. § 70 [Pars I: Generalis, Cap. I: Religio, Sect. V: Viva Dei cognitio]: Cave, ne tua divinorum cognitio splendeat tantum, non ardens, sterilis, et mortua […]. Fuge speculationes theologicas

Sieh dich vor, daß deine Erkenntnis göttlicher Dinge nicht nur glänzt und dabei nicht feurig, sondern unfruchtbar und tot

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[…]. Si PRACTICA dicatur COGNITIO, quae plures et maiores ad agendum caussas impulsivas continet, sive mediate, sive immediate, sive propius, sive remotius id fiat, omnis tua theologia, omnis appetenda cognitio […] sit practica […]. Ne tamen THEORIAS THEOLOGICAS i. e. notitias nec quid agendum vel omittendum enunciantes […], nec proxime caussas impulsivas ad agendum suppeditantes, aut aedificationem ea, cui forsan assuetus es, magis intellectualem, cum cassa speculatione confundas […]. Nec qualitercunque movente divinorum cognitione contentus esto, bonisve sollicitationibus, quando strictius vivam et ad agendum sufficientem impetrare potes […].

ist. Fliehe untaugliche theologische Hirngebäude. Wenn diejenige Erkenntnis eine PRAKTISCHE ERKENNTNIS genannt wird, die mehr und stärkere Bewegungsgründe zum Handeln enthält, sei dies in mittelbarer oder unmittelbarer Weise, in naher oder entfernterer Hinsicht der Fall, so möge deine ganze Theologie, deine ganze Erkenntnis, die du begehrst, praktisch sein. Doch verwirre nicht THEOLOGISCHE THEORIEN, d. h. Kenntnisse, die nicht verkünden, was zu tun und zu lassen ist, Kenntnisse, die nicht in nächstliegender Weise Bewegungsgründe zum Handeln liefern oder eine Erbauung, die mehr verstandesmäßig ist als diejenige, an die du vielleicht gewöhnt bist, mit hohlen Hirngebäuden. Noch sei mit einer wie auch immer beschaffenen bewegenden Erkenntnis göttlicher Dinge und mit guten Anreizen zufrieden, wenn du eine im strengeren Sinne lebendige und zum Handeln hinreichende Erkenntnis derselben erlangen kannst.

§6 Christianismus late dictus (§ 5) internus est theoria et praxis eiusdem (§ 4), quatenus intra animam terminatur et absolvitur (Ethic. § 22). Determinationes liberae ex causis impulsivis christianismi actuatae, sunt christianae, et habitus actionum christianarum est pietas christiana. Christianismi genuini interni notio biblica est Rom. VII 22–25, Eph. III 16–19.

§6 Das innere Christentum in weiter Bedeutung ist die Theorie und praktische Ausübung desselben, sofern diese auf das Innere der Seele beschränkt und in ihr zur Vollendung gebracht werden. Freie Bestimmungen, die aus Bewegungsgründen des Christentums erwirkt werden, sind christlich, und die Fertigkeit zu christlichen Handlungen ist die christliche Frömmigkeit. Der Begriff des wahrhaften inneren Christentums ist biblisch.

– Röm. 7, 22–25: 22. Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. 23. Ich sehe aber ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern. 24. Ich elender Mensch! wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes? 25. Ich danke Gott durch Jesum Christum, unsern Herrn. So diene

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ich nun mit dem Gemüte dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleische dem Gesetz der Sünde. – Eph. 3, 16–19: 16. [D]aß er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, 17. daß Christus wohne durch den Glauben in euren Herzen und ihr durch die Liebe eingewurzelt und gegründet werdet, 18. auf daß ihr begreifen möget mit allen Heiligen, welches da sei die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe; 19. auch erkennen die Liebe Christi, die doch alle Erkenntnis übertrifft, auf daß ihr erfüllet werdet mit allerlei Gottesfülle. – Eth. § 22 [Pars I: Generalis, Cap. I: Religio, Sect. I: Religio interna]: RELIGIO, quatenus est actio animae immanens, est INTERNA. ACTIONES partes religionis sunt PIAE (religiosae latius dictae […)], officia erga deum. Obligaris ad officia erga deum […]. Ergo obligaris etiam ad eorum habitum […]. Habitus actionum piarum est PIETAS. Ergo pius esto.

§ 7. Christianismus late dictus (§ 5) externus, est complexus motuum corporis arbitrariorum, ex causis i[m]pulsivis theoriae christianae (Ethic. § 110). Non omnis Christianismus, qui non est genuinus (§ 4), tantum externus est; et externus probe distinguendus est: 1) a Christianorum sic dictorum satis multorum opere operato: 2) a Christianismo exteriore et 3) hypocritico (Ethic. § 115); dem blos äussern, verstelten, Mund- und Heuchelchristenthum.

Die Religion ist, insofern sie eine der Seele innerliche Handlung ist, die INNERE GOTTSELIGKEIT. Handlungen als Teile der Religion sind FROMME, GOTTSELIGE HANDLUNGEN (religiös in weiterer Bedeutung), sie sind Pflichten gegen Gott. Du bist zu den Pflichten gegen Gott verpflichtet. Folglich bist du auch zur Fertigkeit zu ihnen verpflichtet. Die Fertigkeit zu frommen Handlungen ist die FRÖMMIGKEIT. Folglich sei fromm.

§7 Das äußere Christentum in weiter Bedeutung ist das Gesamt der willkürlichen Bewegungen des Leibes aufgrund der Bewegungsgründe der christlichen Theorie. Nicht jedes nicht ursprüngliche Christentum ist ein nur äußeres, und das äußere Christentum muß recht wohl unterschieden werden 1) von der Werkheiligkeit recht vieler derer, die sich Christen nennen, 2) von einem bloß äußeren Christentum und 3) von einem verstellten Mund- und Heuchelchristentum.

– Eth. § 110 [Pars I: Generalis, Cap. I: Religio, Sect. IX: Cultus Dei externus]: Determinationes nostrae liberae, motibus nostri corporis harmonicis declaratae sunt ACTIONES HUMANAE EXTERNAE.

Unsere freien Bestimmungen, die sich durch übereinstimmende Bewegungen unseres Leibes kundtun, sind äußere

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Hinc complexus motuum statuumque corporis nostri arbitrariorum ex motivis gloriae divinae susceptorum dabit CULTUM DEI EXTERNUM […]. Iam vero possunt status et motus corporis tui arbitrarii suscipi ex motivis gloriae divinae […]. Quod si fiat a te vere pio, consentiunt actiones tuae externae cum internis […], et mere naturalibus eundem hunc finem habentibus […]. Ergo cole deum, externe etiam, quantum potes […].

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menschliche Handlungen. Folglich wird das Gesamt der willkürlichen Bewegungen und der Zustände unseres Leibes, die aus Bewegungsgründen um der Ehre Gottes willen vollzogen werden, den äusseren Gottesdienst ergeben. Und tatsächlich können willkürliche Zustände und Bewegungen deines Leibes aus Bewegungsgründen um der Ehre Gottes willen vollzogen werden. Wenn also dies von dir wahrhaft als einem Frommen geschieht, stimmen deine äußeren Handlungen mit den inneren und mit den bloß natürlichen, die dieses selbe Ziel haben, überein. Also halte Gott auch äußerlich in Ehren, so viel du kannst.

– Eth. § 115 [Pars I: Generalis, Cap. I: Religio, Sect. IX: Cultus Dei externus]: Actiones, quae cultum externum constituere possunt, si sine interna religione, deo sufficienter placere statuuntur, sunt OPUS OPERATUM, si simulantur, sunt RELIGIO EXTERIOR (politica, universalis, vere catholica, eclectica, prudentum, philosophica, medici, aulica, statistica). Religio exterior ad apparentem utilitatem propriam consequendam decreta est HYPOCRISIS. Opus operatum sine cultu interno suscipiendum, nec adeo fluens ex motivis gloriae divinae […] non est verus dei cultus externus […].

Handlungen, die einen äußeren Dienst verrichten können, sind, wenn sie ohne innere Religion, um Gott genügend zu gefallen, verrichtet und aufgeführt werden, eine BLOSS ÄUSSERE WERKHEILIGKEIT, wenn sie vorgetäuscht werden, sind sie die BLOSS ÄUSSERE RELIGION (eine politische, allgemeine, wahrhaft allgemeine, eklektische, aus Gründen der Klugheit unternommene, philosophische, medizinische, höfische oder staatsrechtliche Religion). Die bloß äußere Religion, die um eines offensichtlichen daraus folgenden eigenen Nutzens beschlossen wird, ist HEUCHELEI. Die bloß äußere Werkheiligkeit, die ohne inneren Gottesdienst unternommen wird und nicht einmal aus Bewegungsgründen um der Ehre Gottes willen fließt, ist kein wahrer äußerer Gottesdienst.

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§ 8. Religio naturalis contradistinguitur: a) Supernaturali, b) revelatae. Priori significatu religio naturalis est naturalis, supernaturalis est supernaturalis perfectionis (Ethic. § 28, Metaph. §§ 469, 474). Ad ipsam naturalem Deus non concurrit immediate et generaliter (Metaph. §§ 954– 958); et specialiter (M. § 960). Sed ad materiale, reale, et perfectum in eadem (M. § 959). Iam hic concursus generalis dicitur quidem physicus, quia accedit actionibus omnibus rerum creatarum (M. § 958); vere tamen supernaturalis est (M. § 474). Par ratio est concursus Dei moralis et specialis ad religionem naturalem. Quum ergo iam in religione naturali sit non obiectum solum supernaturale (Met. § 925), ut hinc obiective metaphysica et supernaturalis dici possit; sed etiam perfectio formalis ex parte concursus divini dupliciter supernaturalis: si qua religio praeter naturalem alia e. c. christiana, ponatur supernaturalis: 1) non id rationi contrarium (Met. §§ 474, 943, 859) aut novum est, 2) neque tamen solum ob assertum concursum divinum et eu[n]dem generalem aut specialem, multo minus, ob obiectum, supra naturam constitutum, illud fieri potest, ut tanquam supernaturalis, naturali contradistinguatur, quoniam in hanc eadem cadunt. Adeoque si qua religio, e. c. christiana, tanquam supernaturalis naturali contradistinguenda est: ponendus est ad eandem concursus Dei adhuc maior, specialissimus (Met. § 962), vel mediatus, quando talis religio est consectarium naturale eventus alicuius peculiaris, ad quem Deus concurrit specialissime, vel immediatus, vel uterque.

§8 Die natürliche Religion wird unterschieden a) von der übernatürlichen, b) von der geoffenbarten. In ihrer ersten Bedeutung ist die natürliche Religion die im Hinblick auf eine natürliche, die übernatürliche die im Hinblick auf eine übernatürliche Vollkommenheit. Bei der natürlichen Religion als solcher wirkt Gott nicht unmittelbar, im allgemeinen und im besonderen mit. Doch er wirkt mit bei dem Materialen, dem Wirklichen und dem Vollkommenen in derselben. Nun wird die allgemeine Mitwirkung freilich natürlich genannt, weil sie bei allen sogar höchst natürlichen Handlungen der geschaffenen Dinge hinzukommt, aber in Wahrheit ist sie dennoch übernatürlich. Gleiches gilt für Gottes sittliche und besondere Mitwirkung bei der natürlichen Religion. Weil also bereits in der natürlichen Religion nicht allein ein übernatürlicher Gegenstand gegeben ist, so daß sie von daher in objektiver Weise metaphysisch und übernatürlich genannt werden könnte, sondern auch eine formale Vollkommenheit seitens der in zweifacher Weise übernatürlichen Mitwirkung Gottes: Ist, wenn irgendeine andere Religion, die über die natürlichen hinausgeht, z. B. die christliche, als übernatürlich gesetzt wird, 1) dies nicht wider die Vernunft oder neu, und 2) kann man gleichwohl nicht nur wegen der angenommenen göttlichen allgemeinen oder besonderen Mitwirkung und noch weniger wegen des über der Natur befindlichen Gegenstands gleichsam die übernatürliche von der natürlichen Religion unterscheiden, weil sie ja in dasselbe zusammenfallen. Vielmehr: Wenn irgendeine Religion, z. B. die christliche, gleichwie eine übernatürlicher von einer natürlichen unterschieden werden muß: So muß bei derselben eine noch größere, besonderste Mitwirkung Gottes gesetzt

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werden, entweder als mittelbare, wenn eine solche Religion die natürliche Folge irgendeines besonderen Ereignisses ist, bei dem Gott auf besondere Weise mitgewirkt hat, oder als unmittelbare oder als beides. – Met. § 469 [Pars II: Cosmologia, Cap. III: Perceptio universi, Sect. III: Naturale]: EVENTUS ab ullius entis contingentis natura actuandus est NATURALIS SUPERNATURALI CONTRADISTINCTUS […]. At eventus a determinata determinati entis contingentis natura actuandus est NATURALIS PRAETERNATURALI […] CONTRADISTINCTUS. Quicquid ab alicuius natura actuari potest, est ipsi PHYSICE POSSIBILE, quicquid non potest, est ipsi PHYSICE IMPOSSIBILE. Quaedam in se possibilia non tamen a quavis natura actuari possunt, […] ergo multis possunt esse physice impossibilia. Non omne physice nonnullis impossibile est & absolute tale. Physice alicui contingenti impossibilia sunt talia aut in quocunque eius natura spectetur statu NATURALITER IMPOSSIBILIA SIMPLICITER (mere, omnino, prorsus), aut tunc demum, si in certo statu spectetur eius natura, NATURALITER IMPOSSIBILIA SECUNDUM QUID (pro nunc sic). Impossibilitas naturalis simpliciter talis realitatum est IMPOTENTIA MERE NATURALIS. Non omnis impossibilitas naturalis est impotentia mere naturalis aut absoluta impossibilitas […]. Oppositum physice impossibilis est PHYSICE CONTINGENS. Non omne physice necessarium est absolute necessarium […]. Quaedam in se contingentia possunt multis esse physice necessaria […]. Physice necessaria vel sunt simpliciter, vel secundum quid talia.

Eine Begebenheit, die von der Natur irgendeines zufälligen Dinges zu verwirklichen ist, ist als NATÜRLICHE von einer ÜBERNATÜRLICHEN UNTERSCHIEDEN. Dagegen ist eine Begebenheit, die von der bestimmten Natur eines bestimmten zufälligen Dinges zu verwirklichen ist, als NATÜRLICHE von einer UNNATÜRLICHEN UNTERSCHIEDEN. Alles was von irgendeiner Natur verwirklicht werden kann, ist dieser selbst NATÜRLICH MÖGLICH, was nicht, ist dieser selbst NATÜRLICH UNMÖGLICH. Gewisse an und für sich mögliche Dinge können nicht von jedweder Natur verwirklicht werden, daher können sie für viele natürlich unmöglich sein. Nicht alles, was einigem natürlich unmöglich ist, ist auch unbedingt unmöglich. Für etwas Zufälliges natürlich unmögliche Dinge sind entweder unmöglich, wenn dieses in jedwedem Zustand seiner Natur betrachtet wird, dann sind sie AN UND FÜR SICH (schlechterdings, gänzlich, völlig) UNMÖGLICH, oder sie sind dann erst unmöglich, wenn dieses in einem bestimmten Zustand betrachtet wird, dann sind sie IN GEWISSER RÜCKSICHT (und in dieser Weise) UNMÖGLICH. Die Unmöglichkeit von Wirklichkeiten, die an und für sich eine solche ist, ist das SCHLECHTERDINGS NATÜRLICHE UNVERMÖGEN. Nicht jede natürliche Unmöglichkeit ist ein schlechterdings natürliches Unvermögen oder eine unbe-

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dingte Unmöglichkeit. Der Gegensatz des natürlich Unmöglichen ist das NATÜRLICH NOTWENDIGE, das Gegenteil des natürlich Möglichen ist das NATÜRLICH ZUFÄLLIGE. Nicht jedes natürlich Notwendige ist unbedingt notwendig. Gewisse in sich zufällige Dinge können für vieles natürlich notwendig sein. Natürlich notwendige Dinge sind dies entweder an und für sich oder in gewisser Rücksicht.

– Met. § 474 [Pars II: Cosmologia, Cap. III: Perceptio universi, Sect. IV: Supernaturale]: EVENTUS mundi a nullius entis contingentis natura actuatus SUPERNATURALIS est. Eventus a determinata certi entis contingentis, in quo evenit, natura non actuatus, respectu illius entis PRAETERNATURALIS est. Hinc supernaturalia sunt praeternaturalia respectu naturae universae; & praeternaturalia respectu naturae universae sunt supernatralia […]. Eventus supernaturalis, qua spectatur ut extraordinarius, est MIRACULUM. Hinc miraculum est praeternaturale respectu naturae universae. Omne miraculum est supernaturale, sed non omne supernaturale refertur ad miracula.

Eine Begebenheit der Welt, die nicht von der Natur irgendeines zufälligen Dinges verwirklicht wird, ist ÜBERNATÜRLICH. Eine Begebenheit, die nicht von der bestimmten Natur eines gewissen zufälligen Dinges, in dem sie geschieht, verwirklicht wird, ist in Beziehung auf dieses Ding AUSSERNATÜRLICH. Somit ist Übernatürliches außernatürlich in Beziehung auf die Natur der Welt, und Außernatürliches in Beziehung auf die Natur der Welt ist übernatürlich. Eine übernatürliche Begebenheit ist, soweit sie als außergewöhnlich angesehen wird, ein WUNDER, ein WUNDERWERK. Somit ist ein Wunder außernatürlich in Beziehung auf die Natur der Welt. Jedes Wunder ist übernatürlich, aber nicht alles Übernatürliche gehört zu den Wundern.

– Met. § 859 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. I: Conceptus Dei, Sect. I: Exsistentia Dei]: Natura dei (naturans […]) est complexus perfectionum ipsius internarum […], quibus est caussa effectuum suorum simpliciter talis & impassibilis […]. Ergo quicquid est absolute possibile, deo est physice possibile […], nihilque deo

Die (schaffende) Natur Gottes ist das Gesamt der inneren Vollkommenheiten Gottes, durch die er schlechthin einfache und nichts leidende Ursache aller seiner Wirkungen ist. Wenn also irgend etwas absolut möglich ist, ist es Gott natürlich

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physice impossibile, quod non esset in se impossibile […], unde deo nihil physice necessarium, quod non simul absolute necessarium foret, absolute contingentia sunt etiam deo physice contingentia […], non praeternaturales solum omnes, sed & supernaturales eventus mundi […].

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möglich und nichts ist Gott natürlich unmöglich, was nicht in sich unmöglich wäre, und daher ist Gott nichts natürlich notwendig, was nicht zugleich absolut notwendig wäre; absolut zufällige Dinge sind auch für Gott natürlich zufällig, nicht nur alle außernatürlichen, sondern auch alle übernatürlichen Begebenheiten dieser Welt.

– Met. § 925 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. I: Conceptus Dei, Sect. III: Voluntas Dei]: Ens alio perfectius est illo SUPERIUS. Deus est spiritus supremus […]. ENS SUPRAMUNDANUM, quatenus maiorem perfectionem habet, quam totus aliquis mundus, isque vel optimus […]. Quumque plura entia perfectissima extra se posita sint impossibilia […], deus est ens absolute summum.

Ein Ding, das vollkommener als ein anderes ist, ist ETWAS HÖHERES. Gott ist der höchste Geist, ETWAS ÜBER DIE WELT ERHABENES, sofern er mehr Vollkommenheiten besitzt als jedwede ganze Welt, auch mehr als die beste Welt. Und weil mehrere außer sich gesetzte vollkommenste Dinge unmöglich sind, ist Gott das schlechterdings höchste Ding.

– Met. § 943 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. II: Finis creationis]: Per hunc mundum possunt perfectiones dei summae clarius, verius, certius, ardentius cognosci […]. Ergo hic mundus ad gloriam dei utilis est eandem ex eo cognoscere valentibus […]. Haec utilitas creatione & ipsius mundi & omnium in eodem spirituum actuata est […]. Ergo creator universi utitur eodem ad suam gloriam, quam distinctissime bonam cognoscit […], actuandam. Ergo deus in creando finem habuit […].

Durch diese Welt können die höchsten Vollkommenheiten Gottes klarer, wahrer, gewisser und in feurigerer Weise erkannt werden. Also ist diese Welt denjenigen zum Ruhme Gottes nützlich, die es vermögen, denselben aus derselben zu erkennen. Dieser Nutzen ist durch die Schöpfung sowohl der Welt selbst als auch aller in ihr befindlichen Geister verwirklicht. Also gebraucht der Schöpfer der Welt dieselbe, um seinen Ruhm, den er auf das deutlichste als ein Gutes erkennt, zu verwirklichen. Also hatte Gott bei der Schöpfung der Welt einen Zweck.

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– Met. § 954 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. III: Providentia]: Quum caussae efficientes, praeter deum omnes substantiae huius mundi […], deo subordinentur […], est ille caussa efficiens simpliciter prima, reliquae omnes secundae […]. Iam omnes finitarum substantiarum actiones sunt simul passiones ab aliis substantiis finitis in eas influentibus […]. Ergo deus concurrit, ut caussa efficiens, ad omnes substantiarum finitarum actiones mediate […]. Quoniam vero simul omnes finitarum substantiarum passiones ab aliis substantiis finitis sunt ipsarum actiones […], non tunc solum, ubi agere potissimum concipiuntur, sed & tunc, ubi notantur pati, deus eo ipso momento, quo mutantur, rationem huius mutationis ipsarum sufficientem, vim earundem, conservando actuans […], ad omnes substantiarum finitarum actiones, ut caussa efficiens, concurrit immediate […], ad exsistentiam enim substantiae finitae praesentem pertinet eius actio […].

Weil alle wirkenden Ursachen, alle Substanzen dieser Welt, die außer Gott sind, Gott untergeordnet sind, ist dieser schlechthin die erste wirkende Ursache, alle übrigen sind wirkende Unterursachen. Nun sind alle Handlungen der endlichen Substanzen zugleich Leiden von anderen endlichen Substanzen, die in sie einfließen. Also wirkt Gott als wirkende Ursache bei allen Handlungen der endlichen Substanzen auf mittelbare Weise mit. Und weil ja in der Tat zugleich alle Leiden der endlichen Substanzen, die ihnen durch andere endliche Substanzen zukommen, auch deren eigene Handlungen sind, wirkt Gott, nicht nur dann, wo sie als am allermeisten handelnd vorgestellt werden, sondern auch dann, wo sie als leidend betrachtet werden, in eben dem Augenblick, in dem sie verändert werden, indem er, diese erhaltend, den zureichenden Grund der Veränderung derselben und die Kraft derselben erwirkt, bei allen Handlungen der endlichen Substanzen unmittelbar mit. Denn zur gegenwärtigen Wirklichkeit einer endlichen Substanz gehört ihre Handlung.

– Met. § 955 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. III: Providentia]: Concursus dei immeditaus est eiusdem praesentia […]. Ergo deus substantiis huius mundi omnibus proxime praesens […]. Quod omnibus & singulis alicuius partibus substantialibus proxime praesens est, ipsi illi rei INTIME PRAESENS dicitur. Iam omnibus corporum partibus substantialibus in hoc universo deus proxime praesens est […]. Ergo deus omnibus in hoc universo corporibus intime praesens est.

Die unmittelbare Mitwirkung Gottes ist seine Gegenwart. Also ist Gott allen Substanzen dieser Welt auf das nächste gegenwärtig. Was allen und allen substantiellen Teilen von irgend etwas nächstens gegenwärtig ist, wird dieser Sache selbst AUF DAS GENAUESTE GEGENWÄRTIG genannt. Nun ist Gott allen substantiellen Teilen der Körper in dieser Welt auf das nächste gegenwärtig. Also ist Gott allen Körpern in dieser Welt auf das genaueste gegenwärtig.

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– Met. § 956 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. III: Providentia]: Deus omni huius mundi monadi proxime, omni corpori praesens est intime […], idque quovis momento, & qua omnes creaturarum actiones […]. Ergo deus est omnipraesentissimus.

Gott ist jeder Monade dieser Welt auf das nächste, jedem Körper auf das geaueste gegenwärtig, und dies in jedem Moment und im Hinblick auf alle Handlungen der Geschöpfe. Also ist Gott allgegenwärtigst.

– Met. § 957 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. III: Providentia]: Ubicunque deus est, ibi totus est, & indivisus […]. Ergo & qua substantiam & essentiam […]. Ergo deus omnibus huius mundi monadibus & corporibus, qua substantiam & essentiam, praesens est […].

Wo auch immer Gott ist, dort ist er als ganzer und ungeteilt. Also auch seiner Substanz und seinem Wesen nach. Also ist Gott allen Monaden und Körpern dieser Welt seiner Substanz und seinem Wesen nach gegenwärtig.

– Met. § 958 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. III: Providentia]: Conservatio virium huius universi quarumcunque, in ipso earundem actu, est CONCURSUS DEI PHYSICUS, isque, quia & quatenus ad singulas singuarum substantiarum actiones extenditur, GENERALIS (universalis) dicitur.

Die Erhaltung jedweder Kräfte in dieser Welt in deren Tätigkeit selbst ist die NATÜRLICHE MITWIRKUNG GOTTES, und es ist dieselbe Mitwirkung, die, weil und insofern sie sich auf die einzelnen Handlungen der einzelnen Substanzen erstreckt, die ALLGEMEINE MITWIRKUNG GOTTES genannt wird.

– Met. § 959 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. III: Providentia]: Concursus dei omnis est liberrimus […]. Ergo si concurreret ad formale ullius actionis malae, fieret eiusdem auctor […]. Ergo ad omnes actiones physice & moraliter malas concurrit, qua materiale […], non vero, qua formale […].

Jede Mitwirkung Gottes ist die freieste. Wenn er also bei dem Formellen irgendeiner schlechten Handlung mitwirken würde, wäre er deren Urheber. Also wirkt er bei allen natürlich und sittlich schlechten Handlungen mit, in materieller, nicht aber in formeller Hinischt.

– Met. § 960 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. III: Providentia]: CONCURSUS caussae moralis stricte dictae est MORALIS […]. Deus motiva cultus sui actuat […]. Ergo ad quasdam

Die Mitwirkung einer sittlichen Ursache im engen Sinne ist die SITTLICHE MITWIRKUNG. Gott verwirklicht Be-

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Texteditionen

actiones in hoc universo concurrit moraliter […]. Concursus dei moralis ad generalem accedens SPECIALIS est. Ergo deus ad quasdam in hoc universo actiones concurrit specialiter.

wegungsgründe zum Gottesdienst. Also wirkt er bei gewissen Handlungen in dieser Welt auf sittliche Weise mit. Die Mitwirkung Gottes, die zu seiner allgemeinen Mitwirkung hinzukommt, ist die BESONDERE MITWIRKUNG. Also wirkt Gott bei gewissen Handlungen in dieser Welt auf besondere Weise mit.

– Met. § 962 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. III: Providentia]: CONCURSUS DEI supernaturalis ad specialem accedens est SPECIALISSIMUS, […] & in se possibilis, […] & hypothetice, […] & in hoc mundo actualis, quotiescunque quaedam actio in eodem per specialem dei concursum aeque bene actuari non potest […].

Die übernatürliche Mitwirkung, die zu seiner besonderen Mitwirkung hinzukommt, ist die BESONDERSTE MITWIRKUNG GOTTES; sie ist an sich und bedingt möglich und in dieser Welt wirklich, wann auch immer eine gewisse Handlung durch die besondere Mitwirkung Gottes nicht gleichermaßen gut verwirklicht werden kann.

§ 9. Religio naturalis, revelatae contradistincta, est, quae et quatenus sine fide sacra cognosci potest, et tunc revelata, est per fidem sacram cognoscenda, et ipsa sacra fides est, obiective sumta (Met. § 993). Quoniam ergo naturalis quoque religio, latius est revelata hominibus (Met. § 982) et aliquo quidem significatu supernaturaliter (§ 8), si qua, e. c. christiana religio, praeter naturalem, alia, huic, tanquam revelata contradistingui debet, ponenda est strictius revelata, concursu Dei specialissimo (Met. § 986) vel mediato, vel immediato, vel utroque. Ergo religio, e. c. christiana, quae ponitur revelata, naturali contradistincta, debet poni supernaturalis.

§9 Die natürliche Religion ist, als von der geoffenbarten unterschiedene, diejenige und insoweit diejenige, die sie ohne heiligen Glauben erkannt werden kann. Alsdann ist die geoffenbarte Religion diejenige, die durch den heiligen Glauben erkannt werden muß und die selbst, ihrem Inhalt nach, der heilige Glaube ist. Und weil ja also auch die natürliche Religion den Menschen in weiterem Sinne geoffenbart ist und dies freilich in irgendeiner Bedeutung auf übernatürliche Weise, ist, wenn eine andere Religion, z. B. die christliche, außer der natürlichen, von dieser als geoffenbarte unterschieden werden muß, sie gleichfalls zu setzen als geoffenbart in strengerer Bedeutung durch eine besonderste Mitwirkung Gottes, die entweder mittelbar oder unmittelbar oder beides ist. Also muß eine Religion, z.B. die christliche, die als geof-

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fenbarte gesetzt und von der natürlichen unterschieden wird, als übernatürlich gesetzt werden. – Met. § 982 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. V: Revelatio]: REVELATIO LATIUS DICTA […] est significatio mentis divinae creaturis a deo facta. Ergo revelatione divina docentur creaturae cognitionem volitionemque divinam, nunquam omnem […], sed tantam semper, quanta placuerit providentiae […].

Die OFFENBARUNG IN WEITERER BEDEUTUNG ist die Bezeichnung der göttlichen Gesinnung, die von Gott für die Geschöpfe gemacht wird. Also werden durch die göttliche Offenbarung die Geschöpfe die göttliche Erkenntnis und das göttliche Wollen gelehrt, niemals ganz, doch immer in dem Umfang, wie es im Gefallen der Vorsehung gestanden haben wird.

– Met. § 986 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. V: Revelatio]: REVELATIO STRICTIUS DICTA […] est supernaturalis revelatio divina hominibus per orationem facta, concursus ad religionem specialissimus, & in se possibilis, & hypothetice, & in hoc mundo actualis, quotiescunque religio per revelationem naturalem aeque bene actuari non potest […].

Die OFFENBARUNG IN ENGERER BEDEUTUNG ist die übenatürliche göttliche Offenbarung, die den Menschen durch die Rede gemacht wird; sie ist eine besonderste Mitwirkung Gottes zur Religion, an sich und bedingt möglich und in dieser Welt wirklich, wann immer die Religion durch die natürliche Offenbarung nicht gleichermaßen gut verwirklicht werden kann.

– Met. § 993 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. V: Revelatio]: FIDES SACRA OBIECTIVE SUMTA est complexus revelationi stricte dictae credendorum, uti habita revelationi stricte dictae fides, est sacra SUBIECTIVE SUMTA. Ergo non sola naturaliter prorsus creaturis incognoscibilia pertinent ad sacram fidem […].

Der objektive INHALT DES HEILIGEN GLAUBENS ist das Gesamt der Dinge, die im Hinblick auf die Offenbarung im strengen Sinne geglaubt werden müssen, gleichwie das Haben des Glaubens im Hinblick auf die Offenbarung im strengen Sinne der subjektive HEILIGE GLAUBE ist. Also gehören zum heiligen Glauben nicht nur solche Dinge, die von den Geschöpfen auf natürliche Weise ganz und gar nicht erkannt werden können.

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§ 10. Quum omnis homo, hinc etiam christianus (§ 4)[,] iam ipsa natura obligetur ad summam ipsi physice possibilem religionem (Ethic. § 29): et per hanc ad gloriam Dei, sui et aliorum felicitatem quaerendam, quantum physice moraliterque potest (Met. § 948): religio supernaturalis, hinc et revelata (§ 9) supponere debet naturalem, qua cum consentiat ad fines memoratos communes (Met. § 94, Ethic. § 10). Quae per naturalem aeque bene poterunt obtineri, haec non fient per supernaturalem (Met. § 495), hinc nec per revelatam (§ 9). Adeoque religio, quum ponenda est supenaturalis et revelata, e. c. christiana; esse non potest, nisi supplementum (Met. § 497) et complementum naturalis ad dandam maiorem gloriam Dei, et felicitatem hominum, quam quae naturaliter ab iis obtineri potest. Ergo omnis religio, quae ponenda est supernaturalis et revelata, praestet[,] oportet gloriam Dei, et felicitatem hominum supernaturalem. 2) Emendatio religionis naturalis superstitionibus et aliis imperfectionibus mixtae, non aeque bene naturaliter tollendis (Met. § 497, Eth. § 105).

§ 10 Weil jeder Mensch, daher auch der christliche, durch seine eigene Natur zur höchsten Religion, die ihm physisch möglich ist, verpflichtet ist und durch diese zur Ehre Gottes, zu der zu erstrebenden Glückseligkeit seiner und anderer, soviel er dazu physisch und sittlich in der Lage ist: Muß die übernatürliche und damit auch die geoffenbarte Religion die natürlichen ergänzen, mit der sie in Hinsicht auf die genannten Ziele übereinstimmen mag. Dinge, die durch die natürliche Religion gleichermaßen gut zu erlangen sein werden, werden nicht durch die übernatürliche und daher nicht durch die geoffenbarte Religion erfolgen. Und eine übernatürliche und geoffenbarte Religion kann sogar, weil sie als solche gesetzt ist, nichts anderes sein als 1) eine Erfüllung und Ergänzung der natürlichen, um eine größere Ehre Gottes und Glückseligkeit der Menschen zu gewähren, als diese auf natürliche Weise von diesen erlangt werden kann. Folglich ist jede Religion, die als übernatürliche und geoffenbarte gesetzt werden muß, eine Gewährleistung und eine Hinwendung zur Ehre Gottes und zu der übernatürlichen Glückseligkeit der Menschen; 2) sie kann nichts anderes sein als eine Verbesserung einer natürlichen Religion, die mit abergläubischen Vorstellungen und anderen Unvollkommenheiten vermischt ist, die auf natürliche Weise nicht gleichermaßen gut beseitigt werden können.

– Met. § 94 [Pars I: Ontologia, Cap. I: Praedicata entis interna universalia, Sect. VII: Perfectum]: Si plura simul sumta unius rationem sufficientem constituunt, CONSENTIUNT, consensus ipse est PERFECTIO, et unum, in quod consentitur, RATIO PERFEC-

Wenn mehrere zugleich gesetzte Dinge den zureichenden Grund von Einem ausmachen, STIMMEN SIE ÜBEREIN. Die Übereinstimmung selbst ist die

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TIONIS DETERMINANS (focus perfectionis).

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VOLLKOMMENHEIT, und das Eine, zu dem sie übereinstimmen, ist der BESTIMMENDE GRUND DER VOLLKOMMENHEIT (der Brennpunkt der Vollkommenheit).

– Met. § 495 [Pars II: Cosmologia, Cap. III: Perceptio universi, Sect. V: Possibilitas supernaturalium hypothetica]: Pone eventum naturalem & supernaturalem in mundo perfectissimo sub iisdem circumstantiis reliquis mundi partibus compossibilem, sed, qua consectaria, aequaliter bonos. Naturalis aeque satisfaciet legi optimi in mundo, ac supernaturalis […], simulque regulis perfectionis, quas ordo naturae praescribit […], hinc pluribus, quam supenaturalis […]. In hoc ergo casu non fiet supernaturale quid, vel miraculum, in mundo perfectissimo […].

Setze eine natürliche und eine übernatürliche Begebenheit, die in der besten Welt unter denselben Umständen mit den übrigen Teilen der Welt beide zusammen bestehen können, die aber im Hinblick auf ihre Folgen gleichermaßen gut sind. Die natürliche leistet dem Gesetz des Besten in der Welt gleichermaßen Genüge wie die übernatürliche, zugleich aber auch den Regeln der Vollkommenheit, welche die Ordnung der Natur vorschreibt, woher sie mehr Regeln Genüge leistet als die übernatürliche Begebenheit. In diesem Fall wird in der besten Welt nichts Übenatürliches, kein Wunder, geschehen.

– Met. 497 [Pars II: Cosmologia, Cap. III: Perceptio universi, Sect. V: Possibilitas supernaturalium hypothetica]: Quot & quanta possunt in mundo optimo optima evenire naturaliter, & ordinario fiunt in eodem naturaliter […]. Quot & quanta aut prorsus non possunt in eodem, aut non aeque bene evenire naturaliter & ordinario, fiunt in eodem optima supernaturaliter & miraculose […]. Priora miracula dici possunt MIRACULA SUPPLEMENTIA, posteriora EMENDANTIA […]. Par est ratio supernaturalium.

So viele und so große beste Dinge sich in der besten Welt auf natürliche und gewöhnliche Weise ereignen können, so viele und so große beste Dinge geschehen in ihr auf natürliche Weise. So viele und so große beste Dinge sich in ihr ganz und gar nicht oder nicht gleichermaßen gut auf natürliche und gewöhnliche Weise ereignen können, so viele und so große beste Dinge geschehen in ihr auf übernatürliche Weise und durch Wunder. Die ersteren dieser Wunder können ERGÄNZENDE, die letzteren AUSBESSERNDE WUNDER genannt werden. Das Gleiche gilt für Übernatürliches.

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– Met. § 948 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. II: Operationes Dei, Sect. II: Finis creationis]: Prosperitas & beatitudo seu felicitas spirituum utilis est ad gloriam dei […], illustrationem eius & religionem […]. Ergo prosperitas & beatitudo seu felicitas spirituum tanta, quanta in mundo optimo possibilis, finis fuit creationis […].

Die Wohlfahrt und die Seligkeit oder die Glückseligkeit der Geister ist nützlich zur Ehre Gottes, zu seiner Verherrlichung und zur Religion. Also war die Wohlfahrt und die Seligkeit, oder die Glückseligkeit der Geister in dem Maße, in dem sie in der besten Welt möglich ist, der Zweck der Schöpfung.

– Eth. § 10 [Prolegomena]: PERFICE TE. Ergo perfice te in statu naturali, QUANTUM POTES, i. e. fac in eodem, quae te perficiunt, vel ut finem, quorum tu ipse es ratio perfectionis determinans, vel ut medium, quae te cum aliis consentire faciunt ad rationem perfectionis determinantem extra se positam […]. FAC BONA, omitte mala, QUANTUM POTES, in statu naturali […]. FAC in eodem, quod TIBI FACTU OPTIMUM […]. In statu naturali vive convenienter naturae, quantum potes […], ama optimum, quantum potes […], optimamque, quam potes, tuam ubique conscientiam sequere […].

VERVOLLKOMMNE DICH. Also vervollkommne Dich im natürlichen Zustand, SOVIEL DU KANNST, d. h. tue die Dinge, die Dich vervollkommnen, entweder als Zweck, von denen du selbst der bestimmende Grund der Vollkommenheit bist, oder als Mittel, die dich mit anderen zu einem die Vollkommenheit bestimmenden Grund, der außer dir gesetzt ist, zusammenzustimmen veranlassen. TUE GUTES, lasse Böses, SOVIEL DU KANNST, im natürlichen Zustand. Tue das, was DIR DAS ZU TUN RÄTLICHSTE IST. Im natürlichen Zustand lebe in Übereinstimmung mit der Natur, soviel du kannst, liebe das Beste, soviel du kannst, daß du, wie du es kannst, überall deinem besten Gewissen folgst.

– Eth. § 29 [Pars I: Generalis, Cap. I: Religio, Sect. I: Religio interna]: Ad summam, quae tibi physice possibilis est, religionem obligaris […]. Iam summa tibi physice possibilis religio naturalis erit, eaque summa […]. Ergo ad summam religionem naturalem obligaris, et magis quidem, quam ad ullam aliam rem tibi physice possibilem […].

Du bist zur höchsten Religion, die dir physisch möglich ist, verpflichtet. Nun wird die höchste dir physisch mögliche Religion die natürliche sein und diese in ihrer höchsten Form. Also bist du zur höchsten natürlichen Religion verpflichtet, und dies gewiß mehr als zu jedweder anderen Sache, die dir physisch möglich ist.

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– Eth. § 105 [Pars I: Generalis, Cap. I: Religio, Sect. VIII: Pii habitus]: Quum omnis impietas tibi sit vitanda […], vita praesertim IMPIETATEM EMINENTER DICTAM (irreligionem), habitum proaeretice gloriam dei obscurandi et ATHEISMUM PRACTICUM […], habitum vivendi sine ullis observabilibus ex cognitione divina motivis, sive coniunctus hic sit cum atheismo theoretico […], sive minus, et SUPERSTITIONEM […]. habitum timorem, qui deo debetur, ex errore fovendi […].

Weil jede Gottlosigkeit von dir zu vermeiden ist, vermeide vor allem die GOTTLOSIGKEIT IN SCHLECHTHINNIGER BEDEUTUNG (die Irreligion), die Haltung, entschiedenermaßen die Ehre Gottes zu verdunkeln, und die AUSNEHMENDE GOTTLOSIGKEIT, die Einstellung, ohne irgendwelche aus der Erkenntnis des Göttlichen gezogene Bewegungsgründe zu leben, sei dies nun mit einer theoretischen Gottlosigkeit verbunden oder nicht, und vermeide den ABERGLAUBEN, der darin besteht, die Haltung, die Furcht, die man Gott gegenüber schuldig ist, aufgrund einer Abirrung zu pflegen.

§ 11. Quantacunque cognitio perfectionum divinarum et felicitas hominum obtineri potest per religionem naturalem: semper tamen illae sunt eventus naturales in universo (Met. § 469); hinc contingentes et mutabiles (Met. §§ 133, 475), et realiter finitae (Met. § 255); etiamsi indefinite nonnunquam dicantur infinitae. Hinc habent limitem: ergo gradum, quo maior possibilis est (Met. § 248). Ergo possunt indendi, non tamen naturaliter; adeoque supernaturaliter. Hinc religio supernaturalis, quantacunque ponatur, admittit complementum et supplementum supernaturale, ad dandam maiorem gloriam Dei, et felicitatem hominum (§ 10).

§ 11 Wie groß auch immer die Erkenntnis der göttlichen Vollkommenheiten und die Glückseligkeit der Menschen sein mag, die durch die natürliche Religion erlangt werden kann: So bleiben diese dennoch immer natürliche Ereignisse in der Welt; mithin sind sie zufällig und veränderlich und in Wirklichkeit endlich, wenn sie auch in unbestimmter Weise bisweilen unendlich genannt werden mögen. Also haben sie eine Grenze: Also einen Grad, weswegen auch ein höherer Grad möglich ist. Mithin können sie erstrebt werden, wenn nicht auf natürliche, so doch auf übernatürliche Weise. Somit gewährt die übernatürliche Religion, in welchem Umfang auch immer sie gesetzt sein mag, eine übernatürliche Erfüllung und Ergänzung zur Bereitung einer größeren Ehre Gottes und einer größeren Glückseligkeit der Menschen.

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– Met. § 133 [Pars I: Ontologia, Cap. II: Praedicata entis interna disiunctiva, Sect. II: Mutabile et immutabile]: Modi entis sibi in eo in se spectato possunt succedere […], hinc et ipsi, et ens, cui insunt, sunt absolute mutabilia […]. Iam omne ens contingens habet modos […]. Ergo omne ens contingens est absolute et interne mutabile […]. Relationes entis sunt intrinsecus contingentes […]. Ergo possunt sibi in eo in se spectato succedere […]. Hinc sunt in omni ente absolute mutabiles […]. Omne ens, qua omnes suas relationes, est mutabile […].

Die zufälligen Bestimmungen eines Dinges an sich betrachtet, die in ihm sind, können aufeinander folgen, also sind sie selbst und ist das Ding, in dem sie sind, absolut veränderlich. Nun hat jedes zufällige Ding zufällige Bestimmungen. Also ist jedes zufällige Ding absolut und innerlich veränderlich. Die Verhältnisbestimmungen eines Dings sind in sich zufällig. Also können sie in demselben an sich betrachtet aufeinander folgen. Also sind sie in jedem Ding absolut veränderlich. Jedes Ding ist durch alle seine Verhältnisbestimmungen veränderlich.

– Met. § 248 [Pars I: Ontologia, Cap. II: Praedicata entis interna disiunctiva, Sect. XI: Finitum et infinitum]: Ens reale esse est qualitas […] omni enti conveniens […]. Quumque in omni ente sit certus realitatum numerus […]. omne ens habet certum realitatis gradum […]. Hinc vel erit maximus, vel non maximus […]. Quumque gradus realitatis, quo maior possibilis est, seu non maximus […], LIMES (terminus […], finis […]) dicatur, limitem autem habens FINITUM ([…] limitatum), non habens limitem INFINITUM (reale, illiminatum) erit. Ens ergo gradum realitatis maximum habens s. realissimum […] est infinitum, finita reliqua omnia. Finitum, cuius limites deteminare vel non possumus, vel non placet, est INDEFINITUM (infinitum imaginarium, mathematice tale).

Ein wirkliches Ding zu sein ist eine Beschaffenheit, die jedem Ding zukommt. Und weil in jedem Ding eine gewisse Anzahl an Wirklichkeiten ist, hat jedes Ding einen gewissen Grad an Wirklichkeit. Dieser wird entweder der höchste Grad an Wirklichkeit sein oder nicht. Und weil jeder Grad an Wirklichkeit, bei dem ein höherer möglich oder der nicht der höchste ist, eine SCHRANKE (eine Grenze, ein Ende) genannt wird, wird auch das, was eine Schranke hat, ENDLICH (eingeschränkt), und das, was keine Schranke hat, UNENDLICH (wirklich, uneingeschränkt) sein. Ein Ding also, das den höchsten Grad an Wirklichkeit besitzt oder das wirklichste ist, ist unendlich, alle anderen Dinge sind endlich. Ein Endliches, dessen Grenzen wir entweder nicht bestimmen können oder nicht wollen, ist UNBESTIMMT (unendlich scheinend, mathematisch unendlich).

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– Met. § 255 [Pars I: Ontologia, Cap. II: Praedicata entis interna disiunctiva, Sect. XI: Finitum et infinitum]: Interne mutabile est ens finitum […]. Ergo omne ens contingens est finitum […], licet esse possit multis rationibus indefinitum & mathematice infinitum.

Etwas, das innerlich veränderlich ist, ist endlich. Also ist jedes zufällige Ding endlich, wenn es auch aus vielen Gründen unbestimmt und mathematisch unendlich sein kann.

– Met. § 475 [Pars II: Cosmologia, Cap. III: Perceptio universi, Sect. IV: Supernaturale]: Supernaturalia & miracula sunt naturalium, & naturaliter ordinariorum opposita […]. Iam naturalia & naturaliter ordinaria in omni mundo sunt contingentia […]. Ergo supernaturalia & miracula sunt possibilia […].

Übernatürliches und Wunder sind das Entgegengesetzte von Natürlichem und von auf natürliche Weise Gewöhnlichem. Nun ist das Natürliche und das auf natürliche Weise Gewöhnliche in jeder Welt zufällig. Also ist Übernatürliches und sind Wunder möglich.

§ 12. Idem concedet de emendatione supernaturali religionis naturalis, qualis et quanta inter homines fuit, est, et erit, cogitans: 1) corruptionem eius, historicus expertus, prudenter praesagiens; 2) difficultatem et impossibilitatem emendationis naturalis hypotheticam, gnarus psychologiae et anthropognosiae.

§ 12 Das gleiche wird bezüglich der übernatürlichen Verbesserung der natürlichen Religion, wie diese und in welchem Maße sie bei den Menschen gepflegt wurde, wird und werden wird, zugestanden werden, wenn man 1) als Kenner der Geschichte einsichtsvoll deren Verderben vorausahnt, und wenn man 2) als der Psychologie und der Kunst der Menschenkenntnis Kundiger die bedingte Schwierigkeit und die Unmöglichkeit von deren natürlicher Verbesserung bedenkt.

§ 13. Philosophia et ratio sana, modo ne confundantur cum erroribus analogi rationis (Met. § 637), ratione corrupta (Met. § 346), et quasiphilosophiis (Log. Prol. § 1) a) abnegationem etiam sui ipsius non solum non improbat, sed etiam poscit (Eth. § 238)[,] b) omnes homines inaequales (Met. § 272)[,] hinc unicum

§ 13 Die Philosophie und die gesunde Vernunft, wenn sie nur nicht mit den Irrtümern des Analogons der Vernunft, mit einer verderbten Vernunft und Quasiphilosophien verwirrt wird, a) mißbilligt nicht nur nicht auch die Selbstverleugnung, sondern fordert sie auch; b) sie sieht, daß alle Menschen ungleich sein

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eorum optimum maximum esse videt debere, eum scilicet, qui inter homines plurimum ad religionem confert (Met. § 943), et licet ignoret, quis ille sit, tamen docet, eum ut tantum venerari, de quo eum esse tantum, certitudinem historicam, experientiae (Log. Cap. III, § 11) vel fidei (Cap. VII, § 15) nanciscaris, nec alia via te de eodem certum fieri posse (l. c., § 4), c) si quem tantum cognoveris, eum ut caraktÁra a…sqhtÕn toà Qeioà, tÁj QeiÒthtoj, inter homines maxime imitari adprobat et suadet (Met. § 852, Eth. § 92). d) Eum et tantum esse Jesum Nazarenum non negat, i. e. non videt in hoc asserto contradictionem, e) optimum maximum inter homines fide dignissimum agnoscit, illique credi posse citra credulitatem (Log. Cap. VII, § 5), f) cognitionem veritatis maxime commendat (Eth. § 202), praesertim eius, quae augeat imperium animae in semetipsam (Met. § 730, Eth. § 248), tollat servitutem et corruptionem moralem (Met. § 788)[,] g) amorem bonorum admodum suadet (Eth. § 305) et quam plurimas quam optimas actiones (Eth. § 10[).] Haec conferens cum (§ 4) videbis harmoniam christianismi cum ratione et philosophia citra confusionem; quae pari ratione (coll. § 5) cum philosophia ostendi potest (Log. Cap. VII, § 4).

müssen und daher ein einziger von ihnen der beste und größte sein muß, der freilich, der unter den Menschen am meisten zur Religion beiträgt; und mag sie auch nicht wissen, wer er ist, so lehrt sie doch, ihn als einen so großen Menschen zu verehren, wovon du eine historische Gewißheit der Erfahrung oder des Glaubens erlangen wirst, und sie lehrt, daß dir auf keinem anderen Weg etwas über denselben gewiß werden kann; c) sie billigt es und rät dazu, wenn du einen so großen Menschen erkannt haben wirst, ihn als sinnlich wahrnehmbares Abbild Gottes, des Göttlichen, unter den Menschen in höchstem Maße nachzuahmen. d) Sie leugnet nicht, daß dieser so große Mensch Jesus von Nazareth ist, d. h. sie sieht in dieser Behauptung keinen Widerspruch; e) sie erkennt an, daß dieser beste und größte unter den Menschen des Glaubens am würdigsten ist und daß man ihm, ohne leichtgläubig zu sein, glauben kann; f) sie empfiehlt in höchstem Maße die Erkenntnis der Wahrheit, vor allem derjenigen, die die Herrschaft der Seele über sich selbst vergrößern mag, sie beseitigt die sittliche Knechtschaft und Verderbtheit, und sie rät g) in höchstem Maße zur Liebe zu guten Menschen und zu möglichst vielen möglichst besten Handlungen. Wenn du dies mit § 4 zusammennimmst, wirst du die Übereinstimmung des Christentums mit der Vernunft und der Philosophie ohne Verwirrung beider sehen, eine Übereinstimmung, die gleichermaßen (nimm noch § 5 hinzu) auch mit Hilfe der Philosophie erwiesen werden kann.

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– Met. § 272 [Pars I: Ontologia, Cap. III: Praedicata entis relativa, Sect. I: Idem et diversum]: Impossibilia sunt plura extra se invicem actualia totaliter aequalia. Aut enim erunt simul totaliter similia, aut partialiter tantum […]. Si prius, essent totaliter congruentia […]. Si partialiter tantum essent similia, esset qualitas in uno, quae non esset in altero […], hinc in utroque non esset idem totaliter realitatis gradus […], adeoque quaedam quantitas unius non esset quantitas alterius […], ergo non essent totaliter aequalia […]. Haec propositio sit principium negatae totalis aequalitatis.

Mehrere wechselseitig außereinander bestehende wirkliche, einander völlig gleiche Dinge sind unmöglich. Denn entweder werden sie zugleich völlig ähnlich sein oder nur teilweise. Wenn das erste der Fall wäre, wären sie völlig gleichartig. Wenn sie nur teilweise ähnlich wären, gäbe es in einem eine Beschaffenheit, die es in dem anderen nicht gäbe, folglich wäre in beiden nicht derselbe Grad an Wirklichkeit, und so wäre eine gewisse Größe des einen nicht die Größe des anderen, folglich wären sie nicht völlig gleich. Dieser Satz soll der Satz der verneinten völligen Gleichheit sein.

– Met. § 346 [Pars I: Ontologia, Cap. III: Praedicata entis relativa, Sect. VII: Reliqua caussarum genera]: EXEMPLAR est, cui simile intenditur, & caussa impulsiva quum sit […], est caussa […], quae exemplaris dicitur, eiusque caussatum EXEMPLATUM (ectypon, copia) vocatur. EXEMPLAR, quod non habet aliud, est ARCHETYPON (originale). Exemplar & exemplatum & coexemplaria connectuntur nexu caussali […], qui NEXUS EXEMPLARIS est (typicus).

Ein MUSTER ist etwas, dem etwas ählich zu machen beabsichtigt wird, und weil es ein Beweggrund ist, ist es eine Ursache, die als musterhaft bezeichnet wird, und das von ihm Verursachte wird ABDRUCK (Abbild, Wiedergabe) genannt. Ein MUSTER, das kein anderes Muster hat, ist das URBILD (das Ursprüngliche). Das Muster und der Abdruck und zusammen bestehende Muster sind in einem Zusammenhang der Ursachen miteinander verknüpft, und dieser ist der MUSTERHAFTE (bildliche) Zusammenhang.

– Met. § 730 [Pars III: Psychologia, Cap. I: Psychologia empirica, Sect. XXI: Libertas]: Volitiones nolitionesque meae liberae dicuntur ACTUS ANIMAE ELICITI, reliquarum facultatum actiones liberae, ACTUS IMPERATI, & quatenus a libertate animae pendent, ipsi in eas IM-

Mein freies Wollen und Nichtwollen bezeichnet man als ERWÄHLTE HANDLUNGEN MEINER SEELE, die freien Handlungen der übrigen Vermögen als BEFOHLENE HANDLUNGEN, und

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PERIUM adscribitur. Hinc ANIMAE IN SEMETIPSAM IMPERIUM est facultas pro distincto lubitu nunc huius, nunc illius facultatis actiones producendi, nunc earum producendi oppositum. Quo maior ergo libertas, hoc maius liberi in se est imperium […] Insignis imperii in se ipsus defectus est SERVITUS MORALIS SIGNIFICATU LATO. Ad augendum in se imperium faciens est (ingenuum) LIBERALE, servitutem promovens moralem est SERVILE.

insofern sie von der Freiheit der Seele abhängen, wird dieser selbst die Herrschaft über dieselben zugeschrieben. Folglich ist die HERRSCHAFT DER SEELE ÜBER SICH SELBST das Vermögen, gemäß einem deutlichen Belieben einmal Handlungen dieses, einmal jenes Vermögens und einmal deren Gegenteil hervorzubringen. Um so größer also die Freiheit ist, um so größer ist die Herrschaft des Freien über sich selbst. Die Kennzeichen eines Mangels an Herrschaft über sich selbst ist die INNERE KNECHTSCHAFT DER SEELEN ÜBERHAUPT. Was dazu beiträgt, die Herrschaft über sich selbst zu steigern, ist (freimütig) FREI, was die innere Knechtschaft befördert, ist KNECHTISCH.

– Met. § 788 [Pars III: Psychologia, Cap. II: Psychologia rationalis, Sect. V: Status post mortem]: MALA spiritus ab eius libertate propius pendentia sunt STRICTE MORALIA […] (mala culpae, peccata); MALA LATE MORALIA spiritui sunt cum eius libertate propius connexa. Imperfectio ex his est CORRUPTIO MORALIS LATE, ex illis STRICTE DICTA. Complexus imperfectionum spiritui convenientium est INFELICITAS. Complementum corruptionis stricte moralis ad infelicitatem finiti spiritus est MISERIA, & mala, quibus positis ponitur, sunt DAMNA LATE DICTA (mala physica stricte dicta). Infelicitas est complexus miseriae corruptionisque moralis.

Übel eines Geistes, die näher von seiner Freiheit abhängen, sind das SITTLICH BÖSE IN ENGERER BEDEUTUNG (Übel der Schuld, Sünden); das für den Geist SITTLICH BÖSE IN WEITERER BEDEUTUNG ist mit seiner Freiheit näher verknüpft. Die Unvollkommenheit, die aus diesem erwächst, ist das SITTLICHE VERDERBEN IN WEITERER BEDEUTUNG, die Unvollkommenheit, die aus jenen erwächst, ist das SITTLICHE VERDERBEN IN ENGERER BEDEUTUNG. Das Gesamt der Unvollkommenheiten, die einem Geist zukommen, ist die UNGLÜCKSELIGKEIT. Die Ergänzung des sittlichen Verderbens in engerer Bedeutung zur Unglückseligkeit eines endlichen Geistes ist das ELEND, und die Übel, durch deren Setzung es gegeben ist, sind WIDERWÄRTIGKEITEN, LEIDEN, SCHMERZENDE ÜBEL (natürliche Übel in engerer Bedeutung).

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Die Unglückseligkeit ist das Gesamt des Elends und des sittlichen Verderbens. – Met. § 852 [Pars IV: Theologia naturalis, Cap. I: Conceptus Dei, Sect. I: Exsistentia Dei]: IMAGINES sunt 1) signa figurae alterius. Iam deus non habet figuram […]. Ergo imagines dei hoc significatu sunt impossibiles […]. 2) alteri in notabili gradu similia. Quum omne ens deo in aliquo gradu sit simile […], omne perfectius ens erit imago dei […], quoque erit perfectius, hoc erit deo similius, hoc ergo maior imago dei […].

BILDER UND GLEICHNISSE sind 1) Zeichen der Gestalt eines anderen. Nun hat Gott keine Gestalt. Also sind Bilder Gottes in dieser Bedeutung unmöglich. Bilder und Gleichnisse sind 2) einem anderen in bemerkenswertem Grad ähnlich. Weil jedes Ding Gott in irgendeinem Grad ähnlich ist, wird jedes vollkommenere Ding ein Bild Gottes sein, und es wird vollkommener sein, je ähnlicher es Gott, je mehr es ein Bild Gottes sein wird.

– Eth. § 10: vgl. Praelect. § 10. – Eth. § 92 [Pars I: Generalis, Cap. I: Religio, Sect. VI: Cultus Dei internus]: Studium assimilandi quid alteri est EIUS IMITATIO; te deo et omnia tua divinis tantum assimilare stude, quantum eius a te fieri potest […]. Ergo deum, quantum potes, imitare, vitans, quicquid vitabilium te deo reddit dissimilem […]. Ergo quaere omnes perfectiones in te possibiles, vita omnes perfectiones tuas contingentes, ob dei gloriam […], ut sis imago dei tui, quanta potes […].

Das Streben, sich dem ähnlich zu machen, was einem anderen zugehört, ist DESSEN NACHAHMUNG; strebe du danach, Gott und allem Göttlichen in dir ähnlich zu werden, soweit dir dies möglich ist. Also strebe danach, soviel du kannst, Gott nachzuahmen, indem du vermeidest, was auch immer an Vermeidbarem dich Gott unähnlich macht. Also suche, alle in dir möglichen Vollkommenheiten zu erlangen, vermeide um der Ehre Gottes willen alle deine zufälligen Vollkommenheiten, damit du ein Ebenbild deines Gottes seist, soviel du dies zu sein vermagst.

– Eth. § 202 [Pars I: Generalis, Cap. II: Officia erga te ipsum, Sect. V: Officia erga analogon rationis]: Nosce animam tuam […], experimentaliter, rationaliter, mathematice, quantum potes […], nec nosce sic tantum, sed

Kenne deine Seele, durch Erfahrung, verstandesgemäß und auf mathematische Weise, so viel du dies vermagst, und ken-

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et cura et emenda, quantum potes […], facultatem eius cognoscitivam, tam inferiorem […], quam superiorem […], appetitivam […], tam inferiorem […], quam superiorem […]. PERFECTIO FACULTATUM IN ANIMA MATERIALIS est, qua cognoscenda et appetenda, FORMALIS, qua ita, ut decet, cognoscunt et appetetunt. IMPERFECTIO FACULTATUM IN ANIMA MATERIALIS EST, qua non cognoscenda cognoscunt, non appetenda appetunt, FORMALIS, qua non ita, ut decet, cognoscenda vel appetenda cognoscunt et appetunt. Hinc perfice et emenda singulas animae tuae facultates tam materialiter, quam formaliter […]. Quo maiores, hoc sunt formaliter perfectiores […]. Augentur autem exercitiis singulae […]. Ergo singulas facultates animae tuae, quoties potes, in optimis exerce convenientissime. Perfice facultatem tuam cognoscitivam, hinc et inferiorem, analogon rationis […], ita, ut cognitio materialiter optima, i. e. optimorum, quae potes cognoscere, sit simul formaliter optima, quam praestare potes, uberrima, gravissima, verissima, clarissima, certissima, ardentissima […].

ne deine Seele nicht nur so gut, sondern pflege und verbessere, so viel du dies vermagst, deren Erkenntnisvermögen, das untere ebenso wie das obere, und ihr Begehrungsvermögen, das untere wie das obere. Die MATERIALE VOLLKOMMENHEIT DER VERMÖGEN DER SEELE besteht durch das zu Erkennende und zu Begehrende, ihre FORMALE VOLLKOMMENHEIT besteht darin, daß sie in geziemender Weise erkennen und begehren. DIE MATERIALE UNVOLLKOMMENHEIT DER VERMÖGEN DER SEELE ist diejenige, durch die sie nicht zu Erkennendes erkennen und nicht zu Begehrendes begehren, ihre FORMALE UNVOLLKOMMENHEIT IST diejenige, durch die sie nicht in der Weise, in der es sich ziemt, zu Erkennendes oder zu Begehrendes erkennen und begehren. Daher vervollkommne und verbessere die einzelnen Vermögen deiner Seele in materialer ebenso wie in formaler Hinsicht. Je größer die Vermögen sind, um so vollkommener sind sie in formaler Hinsicht. Auch die einzelnen Übungen hierfür müssen vermehrt werden. Also übe die einzelnen Vermögen deiner Seele, sooft du dies kannst, auf die angemessenste Weise. Vervollkommne dein Erkenntnisvermögen, und daher auch das untere, das Analogon der Vernunft, so, daß die in materialer Hinsicht bestmögliche Erkenntnis, d. h. diejenige der besten Dinge, die du erkennen kannst, zugleich in formaler Hinsicht die bestmögliche sei, die du erlangen kannst, nämlich die reichste, wichtigste, wahrste, klarste, gewisseste und feurigste Erkenntnis.

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– Eth. § 238 [Pars I: Generalis, Cap. II: Officia erga te ipsum, Sect. VIII: Cura facultatis appetitivae]: Bona certa impedimenta se maiorum bonorum quum plus imperfectionis, quam perfectionis ponant, plus aversanda, quam appetenda sunt […]. Mala certa impedimenta se maiorum malorum quum plus ponant perfectionis, quam imperfectionis, plus appetenda, quam aversanda sunt […]. Talium bonorum aversatio, talium malorum appetitio superponderans quum sit ABNEGATIO, obligaris ad abnegationem. Haec minima est aversatio minime placentis ad consequendum maxime placens, appetitio minime displicentis ad avertendum maxime displicens […]. Quo magis placet abnegando aversandum, quo magis displicet abnegando appetendum, hoc maior est abnegatio. Obligaris etiam ad abnegationem maximam, aversationem post unum maxime placentis, quod est impedimentum optimi certum, et appetitionem post unum maxime displicentis, impedimentum pessimi certum ubi fuerit […].

Weil gewisse Güter als Hindernisse größerer Güter sich als eine größere Unvollkommenheit denn als eine Vollkommenheit darstellen, muß man gegen sie mehr abgeneigt sein als sie begehren. Weil gewisse Übel als Hindernisse größerer Übel sich als eine größere Vollkommenheit denn als eine Unvollkommenheit darstellen, muß man sie mehr begehren als gegen sie abgeneigt sein. Weil eine überwiegende Abneigung gegen solche Güter und eine überwiegende Begierde nach solchen Übeln eine VERLEUGNUNG ist, bist du zur Verleugnung verpflichtet. Am kleinsten ist die Gefallen erzeugende Abneigung gegen in kleinster Weise Gefallen verursachende Dinge, um größten Gefallen erzeugende Dinge zu verfolgen; am kleinsten ist die Mißfallen erzeugende Begierde nach in kleinster Weise Mißfallen verursachenden Dingen, um größten Mißfallen erzeugende Dinge abzuwehren. Je mehr durch die Verleugnung das Abzuwehrende gefällt, je mehr durch die Verleugnung das zu Begehrende mißfällt, um so größer ist die Verleugnung. Du bist auch zur größten Verleugnung verpflichtet, zur Abneigung gegen etwas, wo es in höchstem Maße gefällt, aber ein sicheres Hindernis für das Beste ist, und zur Begierde nach etwas, wo es in höchstem Maße mißfällt, aber ein sicheres Hindernis für das Übelste sein wird.

– Eth. § 248 [Pars I: Generalis, Cap. II: Officia erga te ipsum, Sect. X: Cura voluntatis]: Perfecturus libertatem tuam 7) ne ipsam cum falsa et inani eius specie confundas, qualis exlex licentia et libertas per casum purum operata […], 8) eam pluribus maioribus maiorique pro lubitu actuandis

Als jemand, der seine Freiheit vervollkommnen will, verwechsle sie selbst 7) nicht mit deren falscher und inhaltsleerer Unterart, die in der an kein Gesetz gebundenen Frechheit und einer bloß durch

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volitionibus nolitionibusque assuefac […], exercitiis, primo facilioribus, successive difficilioribus, discens te ipsum cogere […], ubicunque melius nosti, quod invito patrandum erit […]. Si post luctam appetitus et aversationis minus plenarum aliquid invitus decernas aut consequenter nolis, VINCIS TE IPSUM […]. Si quid optimum cognitum simul minus plene aversis, si quod optimi oppositum minus plene appetas, opus erit 9) victoria tui […]. Iam dominium tui in nobilioribus tuis officiis est […]. Victoria tui in nobilioribus et difficultioribus exercitiis dominii in te ipsum […]. Hinc patet nobilitas debitae in te ipsum victoriae. 10) Cave servitutem moralem […], servilia et abiectam indolem […]. Ama liberalia et erectam indolem […].

Zufall ins Werk gesetzten Freiheit besteht, gewöhne sie 8) an ein mehreres und größeres nach Belieben zu verwirklichendes Wollen und Nichtwollen im Hinblick auf Größeres, indem du mit zuerst leichteren, nach und nach schwereren Übungen lernst, dich selbst zu zwingen, wo immer du es besser weißt, was mit Widerwillen vollbracht werden muß. Wenn du nach einem Streit zwischen einer nicht völligen Begierde nach und einer nicht völligen Abneigung gegen etwas dich wider Willen dafür entschließt oder es vernünftigerweise nicht willst, ÜBERWINDEST DU DICH, BESIEGST DU DICH SELBST. Wenn du etwas, das als das Beste erkannt wird, nicht völlig verabscheust, wenn du etwas, das dem Besten entgegengesetzt ist, nicht völlig begehrst, dann wird 9) ein Sieg über dich selbst nötig. Nun gehört die Herrschaft über dich selbst zu deinen würdigeren Pflichten. So auch der Sieg über dich selbst in würdigeren und schwereren Übungen der Herrschaft über dich selbst. Von daher ist die Würde des Sieges über dich selbst, den du schuldig bist, offenbar. 10) Hüte dich vor der sittlichen Knechtschaft, vor Knechtischem und einer niedrigen Gemütsart. Liebe das Freiheitliche und eine edle Gemütsart.

– Eth. § 305 [Pars I: Generalis, Cap. III: Officia erga alia, Sect. II: Amor hominum]: In amandis aliis non licet solum, sed et postulatur, inter caussas impulsivas numerare gradum perfectionis in amandis, gradum notitiae, quae inter nos intercedit, immo propriam etiam utilitatem […], modo fiat hoc sine solipsismo morali […], hinc ne negligatur utilitas activa, quam amato praestare possumus […]. Hinc, quia maiores posteros et melius norunt, et plus prodesse possunt illis, quam illi maioribus, amor ordinatus descendit

In der Liebe zu anderen ist es nicht nur erlaubt, sondern es wird auch gefordert, unter die Bewegungsgründe den Grad der Vollkommenheit, den die zu Liebenden besitzen, zu rechnen, den Grad der Bekanntschaft, der jeweils zwischen uns ist, ja sogar selbst die Nutzbarkeit, vorausgesetzt, daß dies ohne Eingennutz geschehen kann und von daher nicht die tätige Nutzbarkeit vernachlässigt wird, die wir dem Geliebten gewähren können.

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potius, quam adscendit […]. Ex iisdem principiis amor vicinorum et loco et tempore legitime maior, quam remotiorum a se invicem, potest deduci. Cavenda hic non minus est PARTIALITAS[,] habitus et propensio decidendi agendique ex apparentibus stimulis […], quam notiones huius deceptrices aequa multa condemnantes […].

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Daher, weil die Vorfahren die Nachfahren sowohl besser kennen als auch denselben besser nützen können als diese den Vorfahren, ist die wohlgeordnete Liebe eher eine absteigende denn eine aufsteigende. Aus den gleichen Gründen kann eine erlaubtermaßen größere Liebe zu denen, die uns wechselseitig in Ort und Zeit näher sind als zu denen, die entfernter sind, abgeleitet werden. Nicht weniger muß man sich hier vor einer PARTEILICHKEIT hüten, die Haltung und die Neigung dazu, aufgrund nur scheinbarer sinnlicher Triebfedern Entscheidungen zu treffen und zu handeln, als vor irrigen Begriffen von Parteilichkeit, die ebensosehr zu mißbilligen sind.

– Acr. log. § 1 ad W. § 1 [Prolegomena philosophiae]: PHILOSOPHIA est scientia qualitatum in rebus sine fide cognoscendum.

Die PHILOSOPHIE ist die Wissenschaft, die den Dingen einwohnenden Beschaffenheiten ohne Glauben zu erkennen.

– Acr. log. § 163 ad W. § 11, n. 1 [Cap. III: De propositionibus seu thetica]: Clara cognitio per sensationem est EXPERIENTIA LATIUS DICTA, per sensationem immediate acquisita est EXPERIENTIA STRICTIUS DICTA.

Eine klare Erkenntnis, die durch die Empfindung erlangt wird, ist eine SOGENANNTE ERFAHRUNG, eine klare Erkenntnis, die unmittelbar durch die Empfindung erlangt wird, ist eine GENAUERE ERFAHRUNG.

– Acr. log. § 164 ad W. § 11, n. 2 [Cap. III: De propositionibus seu thetica]: CERTITUDO est conscientia veritatis, quae si completa fuerit, est CERTITUDO STRICTIUS DICTA (plena, geometrica, mathematica); hinc CERTA NOBIS sunt, quorum veritatem clare cognoscimus […], STRICTIUS CERTA NOBIS sunt, quorum veritatem complete cognoscimus […], i. e. sine formidine oppositi.

Die GEWISSHEIT ist das Gewissen um die Wahrheit, das, wenn es vollständig ist, eine (völlige, geometrische, mathematische) GEWISSHEIT IM STRENGEREN SINNE ist; daher sind UNS GEWISSE Dinge, deren Wahrheit wir klar erkennen; UNS STRENGER GEWISS sind Dinge, deren Wahrheit wir vollständig, d. h. ohne Angst, daß das Gegenteil zutreffen könnte, erkennen.

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– Acr. log. § 165 ad W. § 11, n. 3 [Cap. III: De propositionibus seu thetica]: Conceptus, cuius possibilitatem […] propositio affirmans, cuius convenientiam, negans, cuius repugnantiam extremorum clare cognosco, mihi certa sunt […].

Ein Begriff, dessen Möglichkeit, ein bejahender Satz, dessen Zusammenstimmen mit den äußersten Folgen des Bejahten, ein verneinender Satz, dessen Widerstreit mit den äußersten Folgen des Verneinten ich klar erkenne, sind mir gewiß.

– Acr. log. § 166 ad W. § 11, n. 4 [Cap. III: De propositionibus seu thetica]: PROPOSITIO per experientiam nobis complete certa, est INTUITIVA, ex aliis vero cognita, DISCURSIVA.

Ein Satz, der uns durch die Erfahrung vollkommen gewiß ist, ist ein ERFAHRUNGSSATZ; ein Satz, der von uns aus anderem wirklich erkannt wird, ist eine FOLGERUNG.

– Acr. log. § 358 ad W. § 4, n. 1 [Cap. VII: De scientia, fide, opinione, errore seu dialectica et sophistica]: Assensus, cuius ratio, sine qua non, testimonium est, FIDES PURA, quem testimonio tribuimus, licet etiam sine hoc rationem ad assensum sufficientem habuissemus, FIDES MIXTA est. Si partim creditur aliquid, partim sentitur, oritur CONNUBIUM FIDEI ET EXPERIENTIAE; si partim creditur, partim concluditur aliunde, quam ex testimonio, oritur CONNUBIUM RATIONIS ET FIDEI. Hinc concipitur CONNUBIUM EXPERIENTIAE, RATIONIS ET FIDEI quotiescunque concurrunt ad unius eiusdemque dandam certitudinem.

Eine Zustimmung, deren Grund als notwendige Bedingung ein Zeugnis ist, ist der REINE GLAUBE; eine Zustimmung, die wir einem Zeugnis geben, mag es auch sein, daß wir ohne dasselbe einen hinreichenden Grund zur Zustimmung gehabt hätten, ist ein BEKRÄFTIGENDER GLAUBE. Wenn etwas teils geglaubt, teils empfunden wird, erwächst daraus das BAND DES GLAUBENS UND DER ERFAHRUNG; wenn etwas teils geglaubt, teils aus etwas anderem als aus einem Zeugnis geschlossen wird, erwächst daraus das BAND DES GLAUBENS UND DER VERNUNFT. Daher wird es als VERSCHWISTERUNG DES GLAUBENS, DER VERNUNFT UND DER ERFAHRUNG verstanden, wann immer diese zur Gewißheit, die einer und derselben Sache zuzusprechen sein soll, zusammenkommen.

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– Acr. log. § 359 ad W. § 4, n. 2 [Cap. VII: De scientia, fide, opinione, errore seu dialectica et sophistica]: Si non, nisi credenda, velimus experiri, vel aliunde, quam ex testimoniis deducere; si non nisi aliunde, quam ex testimoniis, deducenda aut experienda, velimus credere, CONFUNDITUR FIDES CUM RATIONE VEL EXPERIENTIA.

Wenn wir Dinge, die nicht anders als zu glauben sind, erfahren oder anderswoher als aus einem Zeugnis ableiten wollen; wenn wir Dinge, die nicht anders als anderswoher als aus einem Zeugnis abzuleiten oder zu erfahren sind, glauben wollen, geschieht eine VERMENGUNG DES GLAUBENS MIT DER VERNUNFT ODER DER ERFAHRUNG.

– Acr. log. § 360 [Cap. VII: De scientia, fide, opinione, errore seu dialectica et sophistica]: RATIO FIDEI ET EXPERIENTIAE CONTRADISTINCTA est complexus iudiciorum sine fide et experientia philosophice cognoscendorum, eorumque certorum complexus est SCIENTIA FIDEI ET EXPERIENTIAE CONTRADISTINCTA pura, cuius praemissas nec iudicia intuitiva nec testimonia ingrediuntur. [Corrolarium:] Ubi definit ratio pura et connubium rationis et experientiae per philosophiam et Mathesin: ibi incipit fides ordinum inter eruditos, qui superiores dicuntur. Non theologi tantum, sed et ICti, et medici, quantum a philosopho differunt, est credere.

Die VON DER ERFAHRUNG UND VOM GLAUBEN UNTERSCHIEDENE VERNUNFT ist das Gesamt der Urteile, deren Wahrheit ohne Glauben und ohne Erfahrung philosophisch erkannt werden muß, und das Gesamt von deren gewissen Urteilen ist die REINE, VOM GLAUBEN UND VON DER ERFAHRUNG UNTERSCHIEDENE WISSENSCHAFT, in deren Vordersätze weder Erfahrungsurteile noch Zeugnisse eingehen. [Zusatz:] Wo die reine Vernunft und das Band der Vernunft und der Erfahurung durch die Philosophie und die Mathematik aufhören: Dort beginnt der Glaube der Klassen der Gelehrten, die höhere Gelehrte genannt werden. Nicht nur dem Theologen, sondern auch dem Richter und dem Mediziner ist, soweit sie sich vom Philosophen unterscheiden, das Glauben zu eigen.

– Acr. log. § 361 ad W. § 5, n. 1 [Cap. VII: De scientia, fide, opinione, errore seu dialectica et sophistica]: DEXTERITAS TESTIS est sufficientia virium eius ad proponendum eius, quod testatur, veritatem, eiusque propensio ad testandum, quae testanda novit, est SINCERITAS.

DIE GESCHICKLICHKEIT ODER TÜCHTIGKEIT EINES ZEUGEN ist das Ausreichen seiner Kräfte, die Wahrheit dessen, was er bezeugt, auszusagen, und

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seine Neigung zum Bezeugen dessen, was er als zu Bezeugendes erfahren hat, ist die AUFRICHTIGKEIT DES ZEUGEN. – Acr. log. § 362 ad W. § 5, n. 2 [Cap. VII: De scientia, fide, opinione, errore seu dialectica et sophistica]: Qui vera testari potest et decernit, certo vera testatur […]. Hinc dexteritas et sinceritas testis sunt requisita ad veritatem testimonii, et quidem sufficentia […]. His ergo certis nascitur certitudo; his probabilibus probabilitas testimonii […].

Wer Wahres bezeugen kann und zu bezeugen beschließt, der bezeugt mit Gewißheit Wahres. Daher sind die Tüchtigkeit und die Aufrichtigkeit des Zeugen erforderlich für die Wahrheit eines Zeugnisses, und sie sind gewiß ausreichend. Aus diesen gewissen Dingen erwächst mithin die Gewißheit, aus den wahrscheinlichen Dingen erwächst die Wahrscheinlichkeit des Zeugnisses.

– Acr. log. § 363 ad W. § 5, n. 3 [Cap. VII: De scientia, fide, opinione, errore seu dialectica et sophistica]: TESTIMONIUM certae, vel probabilis fidei, i. e. cuius auctorem dextrum et sincerum satis ad rem datam testandam fuisse nobis vel certum, vel probabile est, FIDE DIGNUM; testimoniis fide dignis non credens est INCREDULUS.

Ein Zeugnis eines gewissen oder wahrscheinlichen Glaubens, d. h. das Zeugnis, dessen Urheber tüchtig und ehrlich genug gewesen ist, die gegebene Sache zu bezeugen, ist für uns entweder gewiß oder wahrscheinlich, ein GLAUBWÜRDIGES ZEUGNIS; und jemand, der glaubwürdige Zeugnisse nicht glaubt, ist UNGLÄUBIG.

– Acr. log. § 364 ad W. § 5, n. 4 [Cap. VII: De scientia, fide, opinione, errore seu dialectica et sophistica]: Testimoniis dubiis aut improbabilibus credens est CREDULUS. Inter credulitatem et incredulitatem datur tertium […].

Wer zweifelhaften oder unwahrscheinlichen Zeugnissen glaubt, ist LEICHTGLÄUBIG. Zwischen der Leichtgläubigkeit und der Ungläubigkeit gibt es ein Mittleres.

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§ 14 Quae iam per ipsam naturam non licent solum, sed etiam iniunguntur homini omni, circa religionem omnem (Eth. §§ 11–149); non licent solum, sed et requiruntur ab eodem circa religionem, quae ponitur supernaturalis, e. c. Christiana (§§ 4–10). 1) Vitare ignorantiam et errorem omnem vincibilem (Eth. § 34), 2) non esse erga errores et ignorantiam circa sacra, vel suos vel aliorum vincibiles, indifferentem, 3) cavere notiones crassas (quibus contraponuntur exactae), praeiudicia et animum sophisticum (Eth. § 35).

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§ 14 Was schon durch seine eigene Natur nicht nur erlaubt ist, sondern auch jedem Menschen in bezug auf jede Religion auferlegt ist, dies ist ihm auch in bezug auf eine Religion, die als übernatürliche gesetzt wird, z. B. die christliche, nicht nur erlaubt, sondern wird von ihm auch gefordert: 1) Die Unwissenheit und jeden besiegbaren Irrtum zu vermeiden, 2) nicht gleichgültig zu sein gegenüber sowohl eigenen Irrtümern und Unwissenheit als auch gegenüber Irrtümern und Unwissenheit anderer in bezug auf Heiliges, 3) sich vor groben Begriffen (die genauen Begriffen entgegenzusetzen sind), vor Vorurteilen und vor einem sophistischen Gemüt, der Lust an Trugschlüssen, zu hüten.

– Eth. §§ 11–149: Pars I: Generalis, Cap. I: Religio. – Eth. § 34 [Pars I: Generalis, Cap. I: Religio, Sect. II: Vera Dei cognitio]: Ne sis indifferens plenarie erga vel tuos vel aliorum errores, et ignorantiam vincibilem theologicam […], multo minus laudi ducas, aut pro sancta habeas vincibilem divinorum ignorantiam appetiturus […].

Sei nicht völlig gleichgültig gegen deine oder gegen die Irrtümer anderer und gegen die besiegbare theologische Unwissenheit, und noch weniger mögest du jemanden loben oder für einen Heiligen halten, der eine besiegbare Unwissenheit im Hinblick auf das Göttliche begehren will.

– Eth. § 35 [Pars I: Generalis, Cap. I: Religio, Sect. II: Vera Dei cognitio]: Errorem et ignorantiam circa divina vincibilem quum fugere obligeris […], simul obligaris ad tollenda, sine quibus tolli nequeunt, vincibilem in divinis confusionem […], notiones de iisdem crassas […], praecipitantiam in iudicando de theologcis […] et in probandis divinis ANIMUM SOPHISTICUM […], s. studium crypticis paralogismis negotium aliis facessendi

Weil du dazu verpflichtet bist, den Irrtum und die besiegbare Unwissenheit gegen das Göttliche zu fliehen, bist du zugleich, da diese ohne sie nicht beseitigt werden können, dazu verpflichtet, die besiegbare Verwirrung in göttlichen Dingen, grobe Begriffe über dieselben, die Übereilung in der Beurteilung theologischer und im Beweisen göttlicher Dinge zu beseitigen

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Texteditionen

[…]. Obligaris potius ad cognitionem divinorum, quam assequi potes, exactissimam […]. Exacta divinorum cognitio est ORTHODOXIA […].

und ein SOPHISTISCHES GEMÜT oder das Streben, anderen mit versteckten Fehlschlüssen Schwierigkeiten zu bereiten, zu vermeiden. Vielmehr bist du zu der genauesten Erkenntnis des Göttlichen, die du erlangen kannst, verpflichtet. Die genaue Erkenntnis des Göttlichen ist die REINE GOTTESERKENNTNIS.

IV. Der Inhalt der Praelectiones nach den Überschriften der Abschnitte PARS PRIMA. PROPAEDEUTICA.

ERSTER TEIL PROPAEDEUTIK

CAP. I. RELIGIO CHRISTIANA. [§§ 4–14]

KAP. I DIE CHRISTLICHE RELIGION

CAP. II. SCRIPTURA SACRA.

KAP. II DIE HEILIGE SCHRIFT

SECTIO I. PRIMUM PRINCIPIUM. [§§ 15–32]

ABSCHNITT I DER ERSTE URSPRUNG

SECTIO II. ARGUMENTUM THEOPNEUSTIAE SCRIPTURAE SACRAE PRIMUM. [§§ 33–47]

ABSCHNITT II DAS ERSTE ARGUMENT FÜR DIE THEOPNEUSTIE DER HEILIGEN SCHRIFT

SECTIO III. CREDIBILITAS REVELATIONIS STR. DICTAE. [§§ 48–59]

ABSCHNITT III DIE GLAUBWÜRDIGKEIT DER OFFENBARUNG IM STRENGEN SINNE

SECTIO IV. CREDIBILITAS REVELAT. SCRIPTAE ET IN BIBLIIS. [§§ 60–67]

ABSCHNITT IV DIE GLAUBWÜRDIGKEIT DER OFFENBARUNG IN DEN BIBLISCHEN SCHRIFTEN

SECTIO V. ARGUMENTA EXTERNA PRO Θεοπνευςτία S. SCRIPTURAE RELIQUA. [§§ 68–74]

ABSCHNITT V WEITERE ÄUSSERE ARGUMENTE FÜR DIE THEOPNEUSTIE DER HEILIGEN SCHRIFT

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SECTIO VI. ARGUMENTUM PRO Θεοπνευςτία S. S. INTERNUM PRIMUM. [§§ 75–94] SECTIO VII. DE ORDINE ET STILO SCRIPTURAE SACRAE. [§§ 95–100] SECTIO VIII. ARGUMENTUM PRO S. S. Θεοπνευςτία INTERNUM SECUNDUM. [§§ 101– 104] SECTIO IX. ARGUMENTA PRO Θεοπνευςτία S. S. COMPLETE CERTA. [§§ 105–118] SECTIO X. DE INSPIRATIONE VERBORUM &c. [§§ 119–126] SECTIO XI. DE DIVINA PERFECTIONE SACRAE SCRIPTURAE. [§§ 127–138] SECTIO XII. DE TESTIMONIIS SCRIPTURAE SACRAE. [§§ 139–144] SECTIO XIII. DE DIVISIONE SACRAE SCRIPTURAE. [§§ 145–149] SECTIO XIV. DE ARTICULIS FIDEI. [§§ 150–159] CAP. III. THEOLOGIA. SECTIO I. DE NOTIONE THEOLOGIAE. [§§ 160–172]

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ABSCHNITT VI DAS ERSTE INNERE ARGUMENT FÜR DIE THEOPNEUSTIE DER HEILIGEN SCHRIFT ABSCHNITT VII ÜBER DIE ANORDNUNG UND SCHREIBART DER HEILIGEN SCHRIFT ABSCHNITT VIII DAS ZWEITE ARGUMENT FÜR DIE THEOPNEUSTIE DER HEILIGEN SCHRIFT ABSCHNITT IX VOLLKOMMEN GEWISSE ARGUMENTE FÜR DIE THEOPNEUSTIE DER HEILIGEN SCHRIFT ABSCHNITT X ÜBER DIE VERBALINSPIRATION ABSCHNITT XI ÜBER DIE GÖTTLICHE VOLLKOMMENHEIT DER HEILIGEN SCHRIFT ABSCHNITT XII ÜBER DIE ZEUGNISSE DER HEILIGEN SCHRIFT ABSCHNITT XIII ÜBER DIE EINTEILUNG DER HEILIGEN SCHRIFT ABSCHNITT XIV ÜBER DIE GLAUBENSARTIKEL KAP. III DIE THEOLOGIE ABSCHNITT I ÜBER DEN BEGRIFF DER THEOLOGIE

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Texteditionen

SECTIO II. THEOLOGIA THETICA. [§§ 173–182]

ABSCHNITT II DIE THETISCHE THEOLOGIE

SECTIO III. PRIMUM THEOL. THETICAE PRINCIPIUM. [§§ 183–187]

ABSCHNITT III DER ERSTE GRUNDSATZ DER THETISCHEN THEOLOGIE

PARS SECUNDA. THEOLOGIA STRICTISSIME DICTA.

ZWEITER TEIL DIE THEOLOGIE IN STRENGESTEM SINNE

CAP. I. NOMINA DEI œggrafa. [§§ 188–195] CAPUT II. PERFECTIONES DIVINAE. [§§ 196–209]

KAP. I DIE EINGESCHRIEBENEN NAMEN GOTTES

CAP. III. TRINITAS.

KAP. II DIE GÖTTLICHEN VOLLKOMMENHEITEN

SECTIO I. ILLUSTRATIONES. [§§ 210–217]

KAP. III DIE TRINITÄT

SECTIO II. PROBATIONES. [§§ 218–241]

ABSCHNITT I ERHELLUNGEN

SECTIO III. CONSECTARIA THEOLOGICA. [§§ 242–250]

ABSCHNITT II BEWEISE

CAP. IV. OPERATIONES DEI. SECTIO I. CREATIO ET PROVIDENTIA. [§§ 251–264] SECTIO II. DE ANGELIS. [§§ 265–278] SECTIO [III]. DIVERSUS ANGELORUM STATUS. [§§ 279–286]

ABSCHNITT III THEOLOGISCHE FOLGESÄTZE KAP. IV DIE WERKE GOTTES ABSCHNITT I SCHÖPFUNG UND VORSEHUNG ABSCHNITT II ÜBER DIE ENGEL ABSCHNITT III DER VERSCHIEDENE STAND DER ENGEL

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PARS TERTIA. ANTHROPOLOGIA.

DRITTER TEIL ANTHROPOLOGIE

CAPUT I. STATUS INSTITUTIONIS. [§§ 287–295]

KAP. I DER STAND DER ERSTEN EINRICHTUNG

CAP. II. STATUS DESTITUTIONIS. SECTIO I. LAPSUS. [§§ 296–303] SECTIO II. LAPSUS HOMINUM. [§§ 304–311] SECTIO III. IMPUTATIO PECCATI ADAMITICI. [§§ 312–326] SECTIO IV. CONSEQUENTIA LAPSUS HUMANI. [§§ 327–330]

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KAP. II DER STAND DER VERLASSENSEINS ABSCHNTT I DER FALL ABSCHNITT II DER FALL DER MENSCHEN ABSCHNITT III DIE ZURECHNUNG DER ADAMITISCHEN SÜNDEN ABSCHNITT IV FOLGEN DES MENSCHLICHEN FALLES

SECTIO V. PECCATUM HAEREDITARIUM. [§§ 331–349]

ABSCHNITT V DIE ERBSÜNDE

SECTIO VI. PECCATA ACTUALIA. [§§ 350–358]

ABSCHNITT VI DIE TATSÜNDEN

SECTIO VII. GRADUS PECCATORUM. [§§ 359–365]

ABSCHNITT VII GRADE DER SÜNDE

SECTIO VIII. QUAEDAM PECCATORUM CLASSES RELIQUAE [§§ 366–371]

ABSCHNITT VIII EINIGE WEITERE KLASSEN VON SÜNDEN

SECTIO IX. PECCATA VOLUNTARIA ET INVOLUNTARIA [§§ 372–375]

ABSCHNITT IX FREIWILLIGE UND UNFREIWILLIGE SÜNDEN

SECTIO X. PECCATUM IN SPIRITUM SANCTUM. [§§ 376–382]

ABSCHNITT X DIE SÜNDE GEGEN DEN HEILIGEN GEIST

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Texteditionen

SECTIO XI. RELIQUIAE IMAGINIS DIVINAE. [§§ 383–387]

ABSCHNITT XI SPUREN DER GOTTESEBENBILDLICHKEIT

SECTIO XII. LIBERUM ARBITRIUM. [§§ 388–399]

ABSCHNITT XII DER FREIE WILLE

CAP. III. STATUS RESTITUTIONIS INCHOANDAE VEL GRATIAE.

KAP. III DER STAND DER EINZULEITENDEN WIEDERHERSTELLUNG ODER DER GNADE

SECTIO A. CHRISTOLOGIA. ART. I. DE PERSONA CHRISTI. [§§ 400–408] ART. II. NATURAE CHRISTI. [§§ 409–426] SECTIO III. UNIO PERSONALIS. [§§ 427–436] SECTIO IV. CONSECTARIA UNIONIS PERSONALIS. [§§ 437–441] SECTIO V. PRIMUM GENUS COMMUNICATIONIS IDIOMATUM. [§§ 442–448] SECTIO VI. SECUNDUM GENUS COMMUNIC. IDIOMATUM. [§§ 449–475] SECTIO VII. TERTIUM GENUS COMMUNIC. IDIOMATUM. [§§ 476–481] SECTIO VIII. OFFICIUM CHRISTI REDEMTORIUM. [§§ 482–506]

ABSCHNITT A CHRISTOLOGIE ART. I ÜBER DIE PERSON CHRISTI ART. II VOM WESEN CHRISTI ABSCHNITT III DIE PERSONALUNION ABSCHNITT IV FOLGESÄTZE AUS DER PERSONALUNION ABSCHNITT V DIE ERSTE ART DER LEHRE VON DEN ZWEI NATUREN ABSCHNITT VI DIE ZWEITE ART DER LEHRE VON DEN ZWEI NATUREN ABSCHNITT VII DIE DRITTE ART DER LEHRE VON DEN ZWEI NATUREN ABSCHNITT VIII DAS ERLÖSENDE AMT CHRISTI

Baumgarten · Praelectiones

SECTIO IX. OFFICIUM CHRISTI PROPHETICUM. [§§ 507–509] SECTIO X. OFFICIUM CHRISTI SACERDOTALE. [§§ 310–511] SECTIO XI. SATISFACTIO CHRISTI. [§§ 512–514] SECTIO XII. BENEDICTIO ET INTERCESSIO CHRISTI. [§§ 515–517] SECTIO XIII. OFFICIUM CHRISTI REGIUM. [§§ 518–519] SECTIO XIV. REGNUM NATURAE ET POTENTIAE[.] [§§ 520–522] SECTIO XV. REGNUM GRATIAE. [§§ 523–525] SECTIO XVI. REGNUM GLORIAE. [§§ 526–527]

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ABSCHNITT IX DAS PROPHETISCHE AMT CHRISTI ABSCHNITT X DAS PRIESTERAMT CHRISTI ABSCHNITT XI DIE WIEDERGUTMACHUNG DURCH CHRISTUS ABSCHNITT XII DER SEGEN UND DIE FÜRSPRACHE CHRISTI ABSCHNITT XIII DAS KÖNIGLICHE AMT CHRISTI ABSCHNITT XIV DAS REICH DER NATUR UND DER MACHT ABSCHNITT XV DAS REICH DER GNADE ABSCHNITT XVI DAS REICH DER HERRLICHKEIT ABSCHNITT XVII DER STAND DER ERNIEDRIGUNG

SECTIO XVII. STATUS EXINANITIONIS. [§§ 528– 529]

ABSCHNITT XVIII DER STAND DER ERHÖHUNG

SECTIO XVIII. STATUS EXALTATIONIS. [§§ 530–534]

ABSCHNITT XIX DIE EMPFÄNGNIS CHRISTI

SECTIO XIX. CONCEPTIO CHRISTI. [§§ 535–536]

ABSCHNITT XX DIE GEBURT UND DIE ERZIEHUNG CHRISTI

SECTIO XX. NATIVITAS ET EDUCATIO CHRISTI. [§§ 537–538]

ABSCHNITT XXI DAS LEIDEN CHRISTI

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SECTIO XXI. PASSIO CHRISTI. [§§ 539–540]

ABSCHNITT XXII DIE GOTTESVERLASSENHEIT CHRISTI

SECTIO XXII. DERELICTIO CHRISTI DIVINA. [§§ 541–544]

ABSCHNITT XXIII DER TOD CHRISTI

SECTIO XXIII. MORS CHRISTI. [§§ 545–546]

ABSCHNITT XXIV DIE GRABLEGUNG CHRISTI

SECTIO XXIV. SEPULTURA CHRISTI. [§§ 547–548]

ABSCHNITT XXV DER HINABSTIEG CHRISTI ZU DEN TOTEN

SECTIO XXV. DESCENSUS CHRISTI AD INFEROS. [§§ 549–550]

ABSCHNITT XXVI DIE AUFERSTEHUNG CHRISTI

SECTIO XXVI. RESURRECTIO CHRISTI. [§§ 551–552]

ABSCHNITT XXVII DIE HIMMELFAHRT CHRISTI

SECTIO XXVII. ADSCENSUS CHRISTI IN COELUM. [§§ 553–554]

ABSCHNITT XXVIII DER SITZ ZUR RECHTEN GOTTES

SECTIO XXVIII. SESSIO AD DEXTRAM DEI. [§§ 555– 559] SECTIO XXIX. ¢nakefala…wsij tîn p£ntwn ™n tù cristú. [§§ 560–586]

ABSCHNITT XXXIX DIE ANAKEPHALOIOSIS VON ALLEM IN CHRISTUS

GEORG FREIDRICH MEIER Alexander Gottlieb Baumgartens Leben Herausgegeben von Dagmar Mirbach

Einführung Die Schrift Alexander Gottlieb Baumgartens Leben ist der 1763 bei Hemmerde in Halle publizierte Nekrolog Baumgartens von Georg Friedrich Meier (1718–1777). Meier, Schüler Baumgartens, der nach Erhalt der venia legendi (1739) und der Berufung Baumgartens nach Frankfurt an der Oder dessen Kollegien übernahm, lehrte zeitlebens (ab 1748 als Ordinarius) alle Fächer der Philosophie an der Academia Fridericiana in Halle und hinterließ selbst ein überaus umfangreiches philosophisches Werk, das sich zu einem guten Teil den Anregungen, Vorgaben und zum Teil auch Vorlagen (teils in Form von Kollegheften) Baumgartens durchaus verpflichtet weiß – was Meier an zahlreichen Stellen dokumentiert, so etwa in der Vorrede zu den Anfangsgründe[n] aller schönen Wissenschaften (1738–50, 2. Aufl. 1954–59), in der Vorrede zu seiner Philosophische[n] Sittenlehre (1753–61, 2. Aufl. 1762–74) und in seiner deutschen Ausgabe von Alexander Gottlieb Baumgartens […] Metaphysik (erste Aufl. 1766).1 Meier setzt seinem verehrten Lehrer und akademischen Vorgänger in Halle mit dieser Nachschrift ein Denkmal. Sie ist von den insgesamt vier zeitgenössischen Denkschriften auf Baumgarten – als deren weitere Verfasser Thomas Abbt, Georg Friedrich Förster und Johann Gottfried Herder zu nennen

Vgl. Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, 3 Bde., Halle 1748–50 (2., verb. Aufl. 1754–59; Nachdruck Hildesheim 1976), Bd. 1, III: „Er [Baumgarten] hat in einem Collegio über die Ästhetik, die Anfangsgründe des schönen Denkens, in kurzen lateinischen Paragraphen ausgeführt. Ich habe mir dieses Collegium ausgebeten, und ich habe darüber schon einigemale gelesen, bis ich nunmehr, mit Genehmigung des Herrn Profeßors, den ersten Theil [der Anfangsgründe] in der gegenwärtigen Gestalt dem Druck übergeben habe“; vgl. Georg Friedrich Meiers […] philosophische Sittenlehre, 4 Teile, Halle 1753–58, Teil 1, 3 (Doppelseite): „Ich habe, des Herrn Professor Baumgartens in Frankfurth an der Oder philosophische Sittenlehre [Baumgartens Ethica philosophica (1740, 2. Aufl. 1751)], zum Grunde gelegt, und ob ich gleich kein blosser Uebersetzer dieses gründlichen Buchs gewesen bin, so bin ich es doch wohl zufrieden, daß man meine Schrift nur für eine weitere Ausführung der Baumgartischen Sittenlehre hält“; vgl. [Georg Friedrich Meier:] Alexander Gottlieb Baumgartens […] Metaphysik, Halle 1766 (neue, vermehrte Aufl., hg. von Johann August Eberhard, Halle 1783). 1

Aufklärung 20 · © Felix Meiner Verlag 2008 · ISSN 0178-7128

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sind2 – der insgesamt ausführlichste und detaillierteste Nekrolog und damit das wichtigste Zeitzeugnis zu Leben und Werk Baumgartens. Der Text, der bislang weder in einem Nachdruck noch in einer neueren Edition zur Verfügung stand, wird hier – allein unter Aussparung des von Meier angefügten eigenen Schriftenverzeichnisses – vollständig wiedergegeben.3 Der Nekrolog wird damit nicht nur der Forschung und der interessierten Leserschaft leichter zugänglich gemacht. Er erscheint auch besonders geeignet, die in diesem Jahrbuch der Aufklärung angestrebte integrative Sicht auf Alexander Gottlieb Baumgartens theoretisches Gesamtwerk abzurunden. Dagmar Mirbach (Tübingen)

Thomas Abbt, Leben und Charakter Alexander Gottlieb Baumgartens, in: Rintelsche Intelligenzblätter 1763; Th. A., Leben und Charakter Alexander Gottlieb Baumgartens, Halle 1765 (wiederabgedruckt in den Ausgaben von Thomas Abbt, Vermischte Werke, Berlin, Stettin 1780 und Frankfurt, Leipzig 1783, jeweils im vierten Teil, 213–244); [Johann Christian Förster], Johann Christian Försters der Weltweisheit öffentlichen Lehrers auf der Friedrichs-Universität zu Halle Charactere dreyer berühmter Weltweisen nämlich Leibnitzens, Wolfs und Baumgartens, Halle (2., veränd. Aufl.) 1765; Johann Gottfried Herder, Entwurf zu einer Denkschrift auf A. G. Baumgarten, J. D. Heilmann und Th. Abbt; Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften (1767), in: J. G. H., Sämmtiche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1877–1913, Bd. 32, 175–192. 3 Der Text wurde nur behutsam bearbeitet. Die Orthographie wurde nach dem Original belassen, auffällige Schreibweisen sind im Text durch ein eingefügtes [!] gekennzeichnet. Auch die Zeichensetzung wurde beibehalten, zusätzliche Einfügungen von Satzzeichen an schlecht lesbaren Stellen der Vorlage wurden ebenfalls in eckige Klammern gesetzt. Die im Originaltext in Majuskeln verschiedener Größe in Fettdruck hervorgehobenen Wörter (insbes. Namensnennungen) und lateinische Termini wurden, ebenso wie Werktitel im abschließenden Verzeichnis, einheitlich kursiv, Meiers Wiedergabe der letzten Worte Baumgartens, im Originaltext ebenfalls fett hervorgehoben, wurde in doppelte Anführungszeichen gesetzt. Die Originalpaginierung (nach dem Titelblatt, einer Leerseite und der unpaginierten ersten Seite der Vorrede) ab S. 4 bis S. 54 erscheint in eckigen Klammern jeweils zu Beginn der entsprechenden Seite des Originals. Das hier nicht wiedergegebene Schriftenverzeichnis von Werken Meiers ist im Original auf zwei unpaginierten Seiten nach S. 54 angefügt. Als Vorlage wurde eine über die Fernleihe der Universitätsbibliothek Tübingen besorgte Kopie auf der Grundlage einer Mikrofiche-Ausgabe der Schrift aus der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Sign. At 9432 MF, verwendet. Ein besonderer Dank gilt Frau Susanne Viehmann, Universitätsbibliothek Marburg, für die Hilfe bei der erneuten Verifizierung des Standorts der Vorlage. 2

Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, beschrieben von Georg Friedrich Meier. Halle im Magdeburgischen, verlegt von Carl Hermann Hemmerde, 1763.

Vorrede. Ich übergebe hiermit dem geneigten Leser die Lebensgeschichte eines der würdigsten Weltweisen, die in diesem Jahrhunderte gelebt haben, und ich beobachte dadurch zugleich die Pflicht der Dankbarkeit gegen einen meiner besten Lehrer und Wohlthäter. Wenn ich in derjenigen Art zu denken und zu schreiben, welche sich für die Historie schickt, mehr Uebung und Geschicklichkeit besäße; so würde ich, so wohl mir selbst, als auch der Erwartung der Verehrer dieses Gelehrten, ein grösseres Genügen leisten. So viel kann ich versichern, daß ich alle Schmeicheley verhütet habe. Sie ist ohnedem unnöthig, wenn man einen solchen Mann, dergleichen Baumgarten war, als ehrwür- [4] dig vorstellen will. Ich habe mich daher aufs genaueste, an die historische Wahrheit, gehalten. Sehr vieles, von dem Leben diese Weltweisen, weiß ich aus meiner eigenen Erfahrung. Das übrige, was mir unbekannt seyn mußte, habe ich theils aus den Nachrichten, die er von seinem eignen Leben hinterlassen hat, genommen; theils aber aus den Nachrichten, welche mir der Herr Stadtrichter Winterfeld zu Franckfurt an der Oder, und der Studiosus Herr Voigt gegeben haben. Sie sind beyde in der letzten Kranckheit, und bey dem Absterben des seligen Mannes, zugegen gewesen, und ich bin denenselben sehr verbunden, daß sie mir dasjenige, was sie wußten, gütig mitgetheilt haben. Auf der Königl. Preußischen Friedrichsuniversität im November 1762. G. F. Meier. [5] Alexander Gottlieb Baumgarten ist, den 17 Junius 1714. in Berlin gebohren. Sein Vater war Jacob Baumgarten, damaliger erster Garnisonprediger, und nachheriger Prediger der evangelischen Gemeinde des Friedrichswerders und der Dorotheenstadt, und seine Mutter Rosina Elisabeth, eine gebohrne Wiedemannin. Er war der fünfte unter sieben Brüdern, und er verlohr seine Mutter in dem dritten Jahre seines Alters. Seine Großmutter mütterlicher Seite, Anna Barbara Wiedemannin, eine gebohrne [K]ubitz, übernahm seine und seiner Brüder Erziehung, und vertrat bey ihnen Mutterstelle.

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Sein Vater erzog seine Söhne, so genau als möglich war, nach Locks Regeln. Daher rechnete es derselbe zu den Vorrechten und Obliegenheiten der Erstgeburt, daß der ältere Bruder der Lehrer der jüngern seyn [6] müsse. Sein Bruder Samuel Eusebius, welcher ohngefähr drey Jahr älter als er war, kan demnach als einer seiner ersten Lehrmeister angesehen werden. Dieser muste ihm, auch in den Sp[iel]stunden, die biblischen Geschichte [!] erzehlen. Er faßte diese Geschichte mit so vieler Begierde, daß er je eher je lieber lesen zu lernen wünschte, damit er selbst erfahren könnte, ob sich alles dergestalt verhalte, wie es ihm sein Bruder erzehlt hatte. Auch alsdenn, wenn er den öffentlichen Vortrag seines Vaters anhörte, wünschte er ofte recht sehnlich, einen Menschen zu kennen, den er offenhertzig fragen dürfe, ob alles sich denn eben so verhalte, wie es sein Vater versichert. So legte sich in seiner Kindheit sein philosophisches Genie frühzeitig an den Tag, und man muß diese Wissensbegierde, als eine bloß natürliche Regung und Würksamkeit dieses seines philosophischen Kopfs, betrachten, welcher zur gründlichen Untersuchung der Wahrheit von der Natur selbst gebildet war. Die ersten Anfangsgründe im Latein, lernte er von einem Hauslehrer, vornemlich aber genoß er den ersten Unterricht von seinem ältesten Bruder Siegmund Jacob. Sein Vater starb, da er kaum das achte Jahr zurück gelegt hatte, und er behielt von demselben in seinem Gemüthe, das Bild eines freudigen doch ernsthaften Tugendfreun- [7] des in der Gottseligkeit, zurück. Und dieser Begriff von seinem Vater, welcher sich schon in der Kindheit seinem Gemüthe tief eingeprägt hatte, schafte ihm Zeitlebens vielen Nutzen, wenn er, in den folgenden Zeiten, von dem rechtschaffenen Wesen der Geistlichen verschiedene widrige Urtheile hören muste. Er konnte sich dabey allemal eines Geistlichen erinnern, welcher ein rechtschaffener Mann war. Dieser würdige Geistliche hinterließ, ausser einem ansehnlichen Büchervorrathe, seinen Söhnen wenig [vä]terliches Erbtheil. Demohnerachtet hatte er, in seinem letzten Willen, nicht nur den Verkauf seiner Bücher verboten; sondern auch auf eine ungemein edle Art verordnet: daß keiner seiner Söhne Stipendien, Freytische, oder andere Wohlthaten, welche für ärmere Leute gestiftet worden, suchen oder annehmen solle, daß sich ein jeder derselben mit dem Seinigen behelfen, und GOtt um diejenige Weisheit anflehen solle, welche einen Menschen vermögend macht, mit Wenigem in der Welt zufrieden zu seyn. Ausserdem verordnete sein Vater, daß alle seine Söhne in Halle studieren, und sich der Gottesgelahrtheit widmen solten. Kurtz vor seinem Tode sagte er, ausser vielen andern christlichen Ermahnungen, öfters zu seinen Söhnen: „Filii, sic agite, vt vobis multi, vos ne multis indigeatis.“ Unser Baumgarten hat diese väterliche Ermahnung nicht nur Zeitle- [8] bens im Gedächtnisse behalten, sondern sie auch beständig in Ausübung gebracht. Er liebte seinen Vater so zärtlich, daß ihm die Rührung, mit welcher er denselben zu Grabe begleitete, eine Kranckheit verursachte.

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Seine beyden ältesten Brüder begaben sich auf das Pädagogium in Halle, und er blieb allein mit seinem jüngsten Bruder, Nathanael, unter der Aufsicht seiner Großmutter. Der Consistorialrath und Probst zu St. Nicolai, Michael Rolof, damaliger Inspector und Amtsgehülfe seines seligen Vaters, vertrat an ihm und seinen Brüdern die Stelle des Vaters. Derselbe brachte es durch seine gütige Vorsorge dahin, daß ihm der Hoffrath Krackau erlaubte, den Unterricht Herrn Martins Christgau, welcher noch jetzt als Rector an der Rathsschule in Franckfurt an der Oder steht, und welcher damals der Hauslehrer seines ältesten Sohns war, zu geniessen, ja er nahm ihn öfters, bey den damals gewöhnlichen Werbungen, in sein Haus und an seinen Tisch. Herr Christgau war ein vortreflicher Lehrer, und er genoß von ihm die schönste Anweisung in allen schönen Künsten und in den Wissenschaften, welche ein junger angehender Gelehrter auf den niedrigern Schulen lernen muß. Sonderlich führte ihn derselbe, zu der lateinischen Dichtkunst, auf eine sehr geschickte Art an. [9] Baumgarten fühlte einen solchen starken Trieb zu derselben in sich, daß er einige Jahre hinter einander täglich lateinische Verse machte; und daß er so gar des Sontags die nachgeschriebenen Predigten ins Latein übersetzte, und ins lateinische Sylbenmaaß brachte. In der hebräischen Sprache brachte ihn dieser Lehrer so weit, daß er in der folgenden Zeit, bloß durch seinen eigenen Fleiß, in den Stand gesetzt wurde, die hebräische Sprachkunst auf der Universität mit grossem Beyfall zu lehren, und philologische Collegia über einige Bücher des alten Testaments zu lesen. Herr Christgau brauchte die vortreflichsten Mittel, um den Fleiß seiner Schüler zu erhalten und aufzumuntern, indem er sie ofte etwas zur Belohnung ihres übrigen Fleisses lehrte. Wenn sie in den übrigen Schulübungen den gehörigen Fleiß angewendet hatten, gieng er mit ihnen spatzieren, und erklärte ihnen z. E. eine Stelle aus dem Terenz. Die angenehme Hoffnung einer solchen Belohnung war bey ihnen ein beständiger und edler Antrieb, an ihrem übrigen Fleisse nichts ermangeln zu lassen. Als Herr Christgau im Frühlinge des Jahrs 1727. Subrector an der Schule zum grauen Kloster in Berlin ward, folgte ihm Baumgarten mit seinen bisherigen Mitschülern dahin, und setzte in der ersten Classe dieser Schule seinen Fleiß fort. Im Herbste [10] dieses Jahrs muste er sich nach Halle begeben. Herr Doctor Francke nahm ihn in sein Haus, und an seinen Tisch. Er gieng aufs Waysenhaus in die Schule, wo sein ältester Bruder damals Inspector der lateinschen [!] Schule war; und er saß anderthalb Jahr in der Selecta, nachdem er einige niedrigere Classen durchgegangen war. Er hat sich selbst in der folgenden Zeit für sehr glücklich geschätzt, daß er in demjenigen Alter, in welchem die Natur die Stimmen der Verführung würde zu verstehen angefangen haben, an einem Orte sich befunden, wo er beständig auf eine nähere Art zu dem Zwecke geführt ward, um dessentwillen er gebohren worden: und wo die weise Einrichtung gemacht worden, daß junge Gemüther, durch bestän-

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dige Uebung, und durch beynahe gänzliche Entziehung aller andern Gelegenheiten die Zeit hinzubringen, im Stande sind, auf eine selbstthätige Art zu reifen, wenn auch gleich manche Lehrer nicht die geschicktesten und gelehrtesten seyn solten. Im Jahr 1730. um Michael bezog er die Universität in Halle. In der Gottesgelahrtheit hörte er Breithaupten, Langen, Zimmermann, und Herrn D. Francken. In der Philologie den verstorbenen Michaelis, und den noch lebenden Herrn D. Michaelis. Schul[tz]e unterrichtete ihn im syrischen, arabischen und in der griechischen Sprache, und dieser Ge- [11] lehrte ward ihm so gewogen, daß er ihn eines besondern Umgangs würdigte, aus welchem er niemals weggieng, ohne in der Kenntniß der Müntzen, der Alterthümer, und anderer gelehrten Sachen, etwas gelernt zu haben. In der Weltweisheit hat ihn niemand, ausser seinem ältesten Bruder, mündlich unterrichtet. Schon in der Schule des Waysenhauses hatte er, unter dessen Anweisung, die verschiedenen Theile der Weltweisheit erlernt, und auf der Universität hörte er bey ihm noch ein Collegium über die Politic. Er übte sich auch bey ihm im Disputiren. Und als derselbe Adjunct der theologischen Facultät ward, setzte er sich auch, durch den Unterricht desselben, in der Gottesgelahrtheit fester: so daß sein Bruder, auch in diesem Theile der Gelehrsamkeit, sein vornehmster Lehrer gewesen. Ausserdem folgte er in allem, und sonderlich in der ganzen Einrichtung seines Studierens, dem Rathe und der Vorschrift seines Bruders. Baumgartens academisches Leben fiel eben in denjenigen Zeitpunct, in welchem, die Wolfische Philosophie auf der Hallischen Universität zu lehren, verboten war. Demohnerachtet ward er unvermerckt, zu einer gründlichen Untersuchung derselben, geleitet. Nach einem dreyjährigen academischen Studieren [12] wuchs bey ihm, nach Maaßgebung seiner zunehmenden Erkenntniß, auch das Bewußtseyn des Mangels einer gründlichen Gewißheit in vielen Stücken. Er faßte daher den Vorsatz, gleichsam von forne wieder anzufangen, um eine rechte Gewißheit zu erlangen. Er hatte, sehr viele Beschuldigungen wider Wolfen, gelesen und gehört. Allein sein eigenes Nachdenken, das Urtheil seines Bruders von der Wolfischen Weltweisheit, welches nach und nach immer g[e]linder wurde, sein fleißiger Umgang mit geschickten Studenten, welche aus Jena nach Halle kamen, und sein eigener mehrmaliger Besuch der Universität Jena, wo er, Reuschen, Carpoven, Kölern und Hambergern, selbst mit der grösten Aufmerksamkeit hörte: alle diese Ursachen bewahrten ihn vor der Uebereilung, dasjenige gänzlich zu verdammen, was er selbst noch nicht genungsam untersucht und geprüft hatte. Eben dadurch entstand bey ihm das Verlangen, die Wolfische Philosophie selbst gehörig zu prüfen. Zu dem Ende las er Wolfens Anweisung, wie man seine Schriften lesen müsse, und konnte unmöglich in Wolfens Rathe etwas gefährliches finden: daß man nemlich vor allen Dingen sich

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aus der Mathematik einen ächten Begriff von einem Beweise machen müsse, welcher eine gründliche Ueberzeugung würken soll. [13] Nun hatte er sich zwar schon in der Mathematik von einem Studenten, mit Namen Bauman, unterrichten lassen, und hörte auch noch einmal die reine Mathematik bei Otto, der hernach Professor wurde. Demohnerachtet gieng er noch einmal vor sich Wolfs lateinische mathematische Werke dergestalt durch, daß er alle darin ausgelassenen Sätze ergäntzte, und in vielen Lehrsätzen bis auf die allerersten leeren Sätze hinaufstieg, und er erlangte dadurch die Fertigkeit in gründlichen Beweisen. Unter diesen seinen ernsthaften Bemühungen ward ihm von seinem Bruder gerathen, in einer obern lateinschen [!] Classe auf dem Waysenhause täglich eine Stunde zu lehren, in welcher die mehresten Stunden der Woche den lateinischen Dichtern, und die übrigen der Vernunftlehre, gewidmet waren. Und so ward er, nach Wolfens Vorschrift von der Mathematik zur Logik geleitet, und er verfuhr in seinem eigenen Nachdenken mit desselben lateinischer Logik eben so, wie er seine mathematischen Werke durchgedacht hatte. Er muste zwar, bey seinem Unterrichte auf dem Waysenhause, die Vernunftlehre des Heineccius zum Grunde legen. Doch war seine eigene Uebung dabey um so viel grösser, je mehr er sich nach der Vorschrift der Wolfischen Vernunftlehre bemühete, die Sachen, [14] welche Heineccius in seinem Buche vorgetragen hatte, deutlich und gründlich zu denken. Sein Unterricht in der Dichtkunst auf dem Waysenhause gab ihm die erste Gelegenheit, darauf zu denken: ob denn die schon lange so genannten schönen Wissenschaften dasjenige gar nicht werden könnten, was sie hiessen, und ob man nicht von ihnen allgemeine gewisse Gründe bündig solte erweisen können. Doch blieb bis jetzt, die fleißige Uebung seiner Schüler in der Dichtkunst, noch sein bester Kunstgriff, welcher auch nicht unnütz war, da er das Glück hatte, Liebe und Gelehrigkeit bey seinen damaligen Schülern zu finden. Der Herr Professor und Rector Reichard in Magdeburg, und Herr Wippel, Prorector des grauen Klosters in Berlin, sind zwey schätzbare Früchte seines damaligen geschickten und fleißigen Unterrichts. Als sein Bruder ordentlicher öffentlicher Lehrer der Gottesgelahrtheit geworden war, zog er zu ihm in sein Haus. Unter andern Veranstaltungen, welche sein Bruder in seinem öffentlichen Lehramte der studierenden Jugend zum Besten machte, erlaubte er auch einigen ältern Studenten, täglich eine Stunde in seinem Hörsale ein Capitel aus der hebräischen Bibel zu erklären, dergestalt, daß ein jeder derselben nach der Reihe die Stelle des Lehrers vertrat. Baumgarten ward un- [15] ter diese Gesellschaft mit aufgenommen, und er bekam dadurch eine schöne Gelegenheit, sich im academischen Vortrage zu üben. Er erwarb sich, ausser diesem Vortheile, auch eine wahre Ehre. Seine Geschicklichkeit fieng an unter den Studenten bekannt zu werden, und ein Vertrauen zu ihm zu erwecken. Es baten ihn demzufolge einige,

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um ein Collegium über Wolfs Vernunftlehre. Er versuchte es in der Stille, die Weltweisheit zu lehren, und seine Studierstube ward voll von solchen, die nach Vernunft fragten. Sein Vater hatte ihn, durch seinen letzten Willen, an seinen ältesten Bruder als an seinen andern Vater, und an seine Großmutter als an seine einzige Vormünderin, gewiesen. Sein Bruder regierte demnach sein ganzes Studieren, und dieser samt seiner Großmutter befahlen ihm, Magister der Weltweisheit zu werden. Er ward solches im Anfange des 1735. Jahrs, und er hielt deshalb seine Inauguraldisputation, unter dem Vorsitze des noch lebenden Herrn Doctor Michaelis, mit grosser Geschicklichkeit und mit einem allgemeinen Beyfall. Im Sommer dieses Jahrs fieng er, seine academischen Vorlesungen, an. Und da es um diese Zeit unvermerkt wiederum erlaubt ward, die Wolfische Weltweisheit in Halle zu lehren: so las er öffentlich über Wolfs Ver- [16] nunftlehre, und in der Philologie setzte er seine bisherige Arbeit, mit einigen Studenten[,] gemeinschaftlich fort. In eben diesem Sommer hielt er als Präses die Disputation, wodurch [er] nach den academischen Gesetzen sich völlig das Recht erwarb, die Weltweisheit öffentlich zu lehren. Vor sich selbst gieng er obgedachter Maassen die Metaphysik durch, und Bülfinger sonderlich leistete ihm dabey Hülfe. Im folgenden Winter las er die Metaphysik. Und weil, das Verbot der Wolfischen Metaphysik, damals noch nicht aufgehoben war; mußte er, seine eigenen Sätze, seinen Zuhöreren in die Feder dictiren. Aus diesen Sätzen ist hernach seine Metaphysik entstanden, die er dem Drucke übergeben. Ausserdem las er in diesem halben Jahre über den Esaias, und über Dantzens hebräische Grammatik. Sein emsiger Fleiß war ohne Zweifel eine von denjenigen Ursachen, welche ihn dergestalt entkräfteten, daß er, aus der Gefahr eines Blutsturtzes, in die Gefahr einer auszehrenden Kranckheit, binnen kurtzer Zeit verfiel. Er mußte demnach im Herbste des 1736. Jahrs seine so schön grünende Hoffnung im academischen Lehren aufgeben, sie in ihrer ersten Blüte verlassen und nach Berlin gehen, um seine vorige Munterkeit wiederum zu erlangen. Seine Kräfte wurden da- [17] selbst würklich wieder hergestelt. Gegen das Ende des Jahrs kam er nach Halle zurück, und mit dem Anfange des neuen Jahrs 1737. las er die natürliche Gottesgelahrtheit mit ungemeinem Beyfalle. Um Ostern ward die Anzal seiner Zuhörer ungemein groß, dergestalt, daß er die Vernunftlehre auf der Wage in dem grossen theologischen Hörsaale lesen muste. So lange er noch in Halle war, las er die Vernunftlehre, die Metaphysik, das Recht der Natur, die philosophische Sittenlehre gewöhnlicher Weise, mit einem ununterbrochenen Fleisse. Einer geschlossenen Anzal von Zuhörern las er noch einmal über den Esaias, und einer andern Anzal einen philosophischen Cursus über Herr Gottscheds philosophisches Handbuch, er ließ aber mit der Zeit die Philologie andern Lehrern über. Ausserdem las er einmal die philosophische Historie, und die philosophische Encyclopädie. In jener war er vornemlich bemü-

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het, die Meinungen der alten Weltweisen, und der verschiedenen Secten derselben, nach unserer heutigen Denkungsart so deutlich zu erklären als möglich, sie in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, und in einem jedweden Lehrgebäude den ersten Grundsatz zu finden, welcher gleichsam der erste Schrit ist, den ein Weltweiser zu seinen übrigen wahren oder falschen Meinungen gethan hat. In dieser suchte er, vor allen Dingen, einen sehr weitläuftigen [18] Entwurf zu der ganzen Weltweisheit zu verfertigen. Er rechnete dahin die Mathematik, und alle schöne [!] Künste und Wissenschaften, samt allen denjenigen Wissenschaften, die man von je her mit eigenen Namen benennt, und sie irgends um einer Ursache willen zur Weltweisheit gerechnet hat. Hierauf erklärte er einen jeden dieser Theile aufs genaueste, zeigte den Umfang seines Gegenstandes, handelte von seinen Nutzen, und führte die besten Schriftsteller an, die von demselben gehandelt haben, um dadurch seinen Zuhörern eine nützliche Kenntniß der Bücher, welche zur Weltweisheit gehören, beyzubringen. Gegen das Ende des Jahrs 1737. ward er ausserordentlicher öffentlicher Lehrer der Weltweisheit in Halle, und trat sein neues Amt mit einer Einladungsschrift an, in welcher er von der Ordnung im Besuchen der philosophischen Lesestunden auf hohen Schulen handelte, die aber erst im folgenden Jahre gedruckt ward. Im Jahr 1739. um Weyhnachten solte er auf Befehl des Königs als ordentlicher Lehrer der Weltweisheit nach Franckfurt an der Oder gehen, woselbst, nachdem Heineccius diese Universität verlassen hatte, kein ordentlicher Lehrer der Weltweisheit gewesen war. Da er nun um diese Zeit, seine angefangenen [19] Lesestunden, noch nicht bis zur Hälfte gebracht hatte; so entstand unter der grossen Menge seiner Zuhörer eine wahre Betrübniß, nicht nur überhaupt über den Verlust eines Lehrers, den sie so sehr liebten und verehrten, sondern auch darüber, daß ihm nicht einmal erlaubt seyn solte, bis Ostern in Halle zu bleiben, um wenigstens seine in demselben halben Jahre angefangenen Lesestunden zu Ende zu bringen. Es vereinigten sich daher beynahe hundert derselben, und wendeten sich durch eine Bittschrift unmittelbar an den König, um wo möglich Baumgarten in Halle zu lassen, oder wenigstens ihm die Erlaubniß zu ertheilen, bis nächst kommende Ostern daselbst zu bleiben. Der König erlaubte das letzte. Er wolte aber der Universität in Franckfurt an der Oder wieder aufhelfen, und ihr gleichsam eine neue Munterkeit einflössen, daher mußte er das erste abschlagen. Baumgarten gieng also 1740. um Ostern nach Franckfurt an der Oder, und brachte seinen hallischen Fleiß mit dahin. Er trat sein Amt daselbst mit einer Rede, bey dem Antritte der Regierung des jetzigen Königs, in lateinischen Versen an. Er verwaltete alle academischen Aemter, wie sie ihn der Reihe nach trafen, mit der größten Redlichkeit zum Vortheil der franckfurtischen Universität. Er hielt die öf-

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fentlichen Disputationen, welche [20] die Verfassung dieser Universität fodert. Er lehrete alle Theile der Weltweisheit wie in Halle, und las zum erstenmale daselbst die Aesthetik, und eine Einleitung in die ganze Weltweisheit. Er las die Naturlehre, und die Wissenschaft der Rechte und Pflichten des gesellschaftlichen Zustandes. Er wendete sich wieder zu der Philologie, und las über den Esaias und die hebräische Grammatik. Und da er von einigen daselbst studierenden lutherischen Theologen ersucht ward, ihnen die Dogmatik zu lesen: so lehrete er auch die geoffenbarte Gottesgelahrtheit, und legte dabey seine eigenen Sätze zum Grunde, die er seinen Zuhörern in die Feder dictirte. Sein Vater hatte, alle seine Söhne, der Gottesgelahrtheit gewidmet. Das war eine Ursach, warum Baumgarten sich immer, neben der Weltweisheit, mit der Gottesgelahrtheit und der Philologie beschäftigte. Er war überdies fest entschlossen, niemals ein theologisches Amt zu suchen, er war aber auch eben so fest entschlossen, keins auszuschlagen. Der letzte Wille seines Vaters war also, was diesen Punct betrift, nicht zugleich der Wille der göttlichen Vorsehung; und Baumgarten that von seiner Seite alles, was die strengste Pflicht nur irgends von ihm fodern konnte, um dem letzten Willen seines Vaters, so viel in seinem Vermögen stand, gemäß zu leben. [21] Im Jahr 1741. den 18. April verehelichte er sich zum erstenmale mit Jungfer Alemanninn, des Hofraths Alemanns in Berlin Tochter. Sie starb im Jahr 1745. ohne Kinder gebohren zu haben. Den 22. October 1748. verehelichte er sich zum andernmale mit Jungfer Justina Elisabeth, Johann Jacob Albinus, Amtm[an]ns in Bischofssee, jüngsten Tochter. Aus dieser Ehe leben noch zwey Kinder, Eleonora Justina, welche den 6. Junius 1751. gebohren, und Carl Gottlieb, welcher den 11. Mertz 1759. gebohren worden. Einige Wochen nach seinem Tode, den 28. August 1762. gebahr seine Witwe einen Sohn, welcher aber kurtz nach seiner Geburt starb. Die letzten zwölf Jahre seines Lebens sind, wenn man nach den gewöhnlichen Begriffen des menschlichen Geschlechts urtheilen soll, eine für ihn unglückliche und elende Zeit gewesen. Im August 1751. warf er, nach einem wieder erneuerten Fieber, das erstemal Blut aus der Brust. Er ward dadurch so schwach, daß er alle seine Lesestunden aufgeben muste. Wider alles menschliche Vermuthen erholte er sich wieder so weit, daß er von 1752. bis 1753. das Rectorat bey der Universität verwalten konnte. Im Jahr 1755. fieng er wiederum eine Stunde an zu lehren. Allein seine auszehrende Kranckheit war, mit allen übrigen fürchterlichen Zufäl- [22] len, die damit verbunden waren, so abwechselnd, daß er seine Lesestunden bald halten, bald alle seine Arbeiten aussetzen muste. Zu dieser seiner eigenen höchst beschwerlichen Kranckheit geselleten sich, viele andere Unglücksfälle. Die Seinigen lagen um ihn herum kranck, und 1758. verlohr er, bey der Einäscherung der Stadt Cüstrin durch die Russen, einen grossen Theil seines Vermögens, welchen er dahin zur Sicherheit gebracht hatte. Selbst in Franckfurt muste er, viele Erfahrungen von den Drangsalen

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des Krieges, sammlen. Mitten unter diesen Trübsaalen, die seine Seele umstürmten, genoß er des höchsten Vergnügens der grösten menschlichen Glückseligkeit, und durch sein Leiden wuchs er in demselben. Allemal, wenn er in dem Laufe dieser zwölf Jahre, seiner Kranckheit wegen, seine gelehrten Geschäfte aussetzen muste, und doch stark genung war, nicht müßig zu seyn, studierte er die heilige Schrift, und fand sonderlich in den Reden JEsu ein tägliches Wolleben. Er schrieb seine erbaulichen Betrachtungen über dieselben auf, und er hat einige Bände Handschriften hinterlassen, welche ein Beweis seines vernünftigen Gottesdienstes sind, durch welchen er sich beständig in der Gottseligkeit übte und stärker machte. [23] Um Ostern 1762. schien sein Gesundheitszustand so gut zu seyn, daß er seine gewöhnlichen Sommervorlesungen, über das Recht der Natur und über die Vernunftlehre, mit dem größten Beyfalle anfangen konnte. Allein den 9. May dieses Jahrs nahm seine letzte Kranckheit ihren Anfang, indem sein beynahe zwölfjähriges auszehrendes Fieber ausserordentlich stark wurde. Mit der größten Gewalt, die er sich selbst anthat, las er den folgenden Tag noch das Recht der Natur. Allein als er in sein Zimmer zurück kam, ward er ohnmächtig, und muste sich ins Bette legen. Den folgenden Montag gab er, seine Lesestunde über das Recht der Natur, zur Bestürtzung seiner Zuhörer auf. Weil er aber lebendig überzeugt war, daß ein rechtschaffener Mann seinen Posten so lange behaupten müsse, bis es ihm völlig unmöglich wird; so dictirte er im Bette die Vernunftlehre einem Studenten, der seinen übrigen Zuhörern das nachgeschriebene wiederum dictiren muste. Allein nach zwey Tagen muste er auch diesen seinen gelehrten Beschäftigungen, und folglich aller seiner academischen Arbeit ein Ende machen. Den 19. May brachte er seine häuslichen Umstände in Ordnung, und übergab dem Herrn Stadtrichter Winterfeld die Vormundschaft über seine Kinder. Bloß die Sorge [24] für die Seinigen, die er hinterlassen solte, verursachte ihm noch Bekümmerniß. Von diesem Tage an solte der letzte Auftrit seines Lebens angehen, und er solte ein Beyspiel zurück lassen, wie ein christlicher Weltweiser sterben könne. Tag und Nacht waren um ihn herum die Seinigen, der Herr Stadtrichter Winterfeld, der Her[r] [P]rediger Thiele, und die Studenten Herr Albinus, Senftleben, Voigt und Bindemann, die er eines besondern freundschaftlichen Vertrauens würdigte. Diese sind die Augenzeugen der letzten Ausbrüche seiner Tugenden, und sie sind von ihm bis auf den letzten Augenblick seines Lebens noch unterrichtet worden. Den 20. May früh nach 8. Uhr rührte ihn der Schlag, da er aus dem Bette aufgestanden, und sich erkältet hatte. Der Mund war ihm dadurch verzogen. Demohnerachtet ward sein Gemüth nicht unterdrückt. Er nahm, obgleich in einer schwer zu vernehmenden Sprache, von den Seinigen Abschied, ermahnete sie aus GOttes Wort, und erwartete den Tod mit Freuden. Doch er erholte sich wieder, der Mund ward wieder

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gerade, und die Sprache vernemlich. Als den 21. May Herr Voigt vor sein Bette trat, reichte er ihm seine gelähmte Hand, und sagte: „fühlen sie nur, sie ist schon morsch todt.“ Hierauf ließ er alle Umstehen- [25] den von sich gehen, damit er desto ungehinderter seinen Betrachtungen nachhängen könne. Den 22. May konnte er sich selbst wieder im Bette aufrichten, und die Umstehenden mit langen Unterredungen aufmuntern. Unter andern [!] sprach er von der Freudigkeit im Tode, und rief dabey aus: „[S]erenitas animi est demonstratio demonstrationum. Die hat der Christ allein, die Vernunft weiß nichts davon.“ Hierauf verbannete er alle Gelehrsamkeit von seinem Bette mit dem Ausdrucke: „Wer mir davon sagen wird, der hat meinen Haß.“ Er verlangte ein Buch, um zu versuchen, ob er noch lesen könne. Es wurde ihm ein Gesangbuch gereicht. Als er aber mit vieler Mühe kaum eine Zeile gelesen hatte, gab er es zurück, und sa[g]te: „Das heißt herunter gekommen! Nun kan ich nicht mehr deutsch lesen.“ Den 23. May früh um 5. Uhr bekam er einen heftigen Krampf. Die Augen starrten, die Hände wurden kalt, und er blieb bis 8. Uhr in diesem Zustande, in welchem man sein Ende erwartete. Gegen Mittag war dieser Zufall vorbey. Er redete viel von seinem Tode, und als man ihn fragte, wie er begraben seyn wolte, sagte er: „je academischer, je besser.“ Er befahl, daß man ihn ne- [26] ben seine erste Frau in der Kirche begraben solte, und bat die Frau Professorin, daß sie sich bey ihrem künftigen Ableben eben diesen Ort des Begräbnisses wählen möchte. Um 2. Uhr Nachmittags besuchte ihn sein Artzt, der Herr Doctor Eber[t]i, und gab ihm seiner Kranckheit wegen, gute Versicherungen. Anfänglich wolte er denenselben keinen Glauben geben, bis er sich endlich auf des Artztes bitten in einem Spiegel besahe. Er gab denselben mit den Worten zurück: „Ja gewiß, das ist doch noch der alte Alexander Baumgarten. Ich glaubte schon eine poßierliche Gestalt anzutreffen, aber er sieht doch noch eben so aus, als wie er auf seinem Stuhle im Auditorio saß.“ Hierauf ward er ganz munter, und führte, des Anblicks seiner gelähmten Hand ohnerachtet, frölichere Gespräche. Er ließ sich die Zeitungen vorlesen, und stelte darüber Betrachtungen an. Er besaß in Absicht auf seinen Tod eine solche gesetzte und standhafte Unerschrockenheit, daß er durch den Anblick desselben nicht betäubt wurde. Er behielt noch Stärke genung übrig, um die Begebenheiten der gegenwärtigen Welt auf eine nützliche Art zu betrachten, und so gar seine schon gestorbene Hand mit einer Art der Lustigkeit anzusehen. Eine überwiegende, finstere und anhaltende, Traurigkeit versetzt das Gemüth gewiß nicht in denjenigen Zustand, welcher im Sterben der allerbeste ist. [27] Bis den 24. May hatte man immer noch einige Hoffnung zur Genesung. Allein gegen den Abend dieses Tages rufte er seine Ehegattin zu sich, und legte ihr die unerwartete Frage vor: „Ob sie ihn könne sterben sehen?“ Als dieselbe nun vor Bestürtzung nicht alsobald antworten konnte, verlangte er, daß sie ihn so gleich

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verlassen, und den Herrn Prediger Thiele zu ihm schicken möchte. An diesen ließ er eben dieselbe Frage ergehen. Und als derselbe mit ja geantwortet hatte, sagte er zu ihm: „gut, so setzen sie sich.“ Hierauf durfte eine Zeitlang kein anderer zu ihm kommen. Den 25. May bezeugte man ihm eine Freude über seine anscheinende Besserung, und über die vermuthliche Genesung. Er antwortete aber: „Ganz gewiß nicht. Glauben sie meiner zwölfjährigen Erfahrung. Octo dies morior. Sechs Tage bin ich schon gestorben, nun noch zwey Tage.” Diese Prophezeyung traf aufs genaueste ein. Uebrigens redete er diesen ganzen Tag sehr munter, unter andern [!] von den [!] mit Rußland geschlossenen Frieden, und von den Angelegenheiten der Studenten. In diesen Tagen besuchte ihn Herr Prediger Splittgerber zu einer Stunde, da er sehr schwach war, und wolte ihn mit sei- [28] nem Gebete stärken. Er sagte zu demselben: „Das ist nur ein Ceremoniel. Wenn ich mich nicht eher zubereitet hätte, nun wäre es Zeit! Doch beten sie.“ Der letzte Tag seines Lebens war der 26. May, und er zeigte sich an denselben [!] in aller seiner nachahmungswürdigen Vollkommenheit. Früh gegen 8. Uhr fand sich, nach einer ausserordentlichen Hitze ein anhaltender starker Husten ein, und er warf verschiedene Stücken Lunge aus. Das letzte Stück schien blosse Haut zu seyn. Er sahe es mit Gelassenheit an, und befiehlte es selbst eine zeitlang. Er verlangte hierauf seinen kleinen Sohn noch einmal zu sehen, und sprach mit betrübter Miene: „Ach! der braucht noch einen Vater?“ [!] Herr Voigten trug er auf, diesem Kinde den Spruch beyzubringen: wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich gehen, wenn er sich hält nach deinem Worte. Er setzte hinzu; „aus diesen Worten ist meine ganze Theologie entstanden.“ Als Herr Stadtrichter Winterfeld zu ihm sagte: ich finde, daß ihre Seele in guter Ruhe ist, antwortete er: „Ja, die hat der Christ allein.“ Zu einer andern Stunde dieses Tages sagte er: „Hier hilft nicht der Philosoph, nicht der Theologe, der Glaube allein. Mein alter Glaube, auf den sterbe ich, ist demonstra- [29] tio demonstrationum.“ Ferner: „mein Herz trauet auf GOtt durch JEsum Christum, das ist mein Glaubenbekenntniß; das ist mein Glaubensbekenntniß nach allen symbolischen Büchern des lutherischen Glaubens.“ Desgleichen: „was ich ihnen gesagt, sagen sie meiner Frau, ihrer Frau, meinen Kindern, allen meinen guten Freunden; so wahr mir GOtt helfe durch seinen Sohn JEsum Christum.“ Bey den letzten Worten legte er die Hand auf sein Herz. Um 11. Uhr fand sich das Röcheln am Herzen ein. Er sahe Herr Voigten eine Zeitlang an, und sagte endlich mit ungemein freudiger Miene zu ihm: „Verstehen sie

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diese Sprache wohl? Sie sagt: Baumgarten du solst nun kommen.“ Hierauf lag er eine Zeitlang in tiefer Betrachtung stille. Endlich wiederholte er etlichemal die Worte: „GOtt ist gerecht, ich aber bin strafbar.“ Herr Voigt ward darüber bekümmert, weil er meinte, diese Ausrufung rühre aus einer Angst vor dem Tode her. Er faßte das Herz zu ihm zu sagen: [„]Lieber Herr Professor, wir wissen ja, daß JEsus die strafende Gerechtigkeit GOttes ausgesöhnt hat.[“] Worauf Baumgarten ihm entgegen rief: „ja, das weiß ich, und darum bin ich eben so freudig.“ [30] Kurz nachher verwandelte sich mit einemmale seine Sprache. Er fieng an sehr schwer und gebrochen zu reden. So gleich nahm er von seiner Ehegattin den beweglichsten Abschied, empfahl sie der göttlichen Vorsorge, traf noch einige Verordnungen, und ließ sie mit der Bitte von sich, daß sie ihn nicht eher wieder sehen mögte, als bis er schlafen würde. Hierauf nahm er, von seinen übrigen Verwandtinnen, Abschied. Und da eine derselben taub ist, so muste Herr Voigt ihr die Worte aufschreiben: „GOtt ist über mich, ich muß nun schlafen.“ Den Herrn Doctor Eberti empfieng er mit der Anrede: „Nun muß ich schlafen.“ Der Herr Doctor nahm weinend von ihm Abschied, und nach einem langen traurigen Stillschweigen frug er ihn: ob er grosse Schmertzen am Hertzen empfände? Er antwortete: „Nein, mein Hertz ist ruhig in dem Blute JEsu. Dies ist mein Glaubensbekenntniß. Darauf will ich leben und sterben, so wahr mir GOtt helfe, Amen.“ Bey diesen Worten schlug er sich an die Brust, und wieß gen Himmel. Hernach sahe er Herr Voigten an, und sprach: „Merken sie sich das.“ So dann legte er die Hand auf ihn, und von demselben auf den Herrn Doctor. Um 4. Uhr des Nachmittages ward seine Sprache ganz unvernehmlich. Er redete [31] zwar sehr vieles zu Herr Voigten, allein da ihm endlich dieser versicherte, er könne nicht verstanden werden, wieß er sehr ofte gen Himmel, machte Creutzer in die Luft, und schrieb mit dem Finger auf dem Bette. Als man ihn aber noch nicht verstehen konnte, verlangte er Feder und Papier. Eilend ergriff er die Feder, zeichnete mit grosser Munterkeit ein Creutz, und schrieb sehr leserlich darunter: „Das heißt JEsus von Nazareth.“ Sein Hertz war so voll von dem Erlöser, daß er kein Mittel ungebraucht ließ, dessen seine sterbende Natur noch mächtig war, um dieses an den Tag zu legen. Nach Mitternacht zwischen den [!] 26. und 27. May, nachdem sich seine Sprache etwas wieder gefunden hatte, ließ er den Herrn Stadtrichter Winterfeld zu sich rufen, fragte, was die Seinigen machten, und sagte zu den Umstehenden: „Bittet GOtt, daß er mich balde auflöse.“ Nach 2. Uhr reichte er Herr Voigten seine sterbende Hand, und unter vielen unvernehmlichen Reden verstand Herr Voigt zuletzt: „Nun werde ich bald selig seyn.“

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Und dieses erfolgte nach 3. Uhr in der Nacht, im 48. Jahre seines Alters. Er verschied ohne Verzückungen und ängstli- [32] chen [!] Geberden, mit seiner bisherigen heldenmüthigen Miene. Kurtz vor seinem Tode schien er erfahren zu wollen, ob er mit gebrochenen Augen noch sehen könne. Er winckte, daß der Schirm vor dem Lichte weggenommen werden, und daß von den gegenwärtigen Personen eine nach der andern vor ihm [!] kommen solte. Er fiehlte auch ofte an seine Nase, Wangen und den Puls. Er erkundigte sich dabey nach der Uhr, und starb mit völligem Gebrauche seines Verstandes. Den 29. May wurde er, seiner Verordnung gemäß, mit den academischen Gebräuchen beerdiget, nachdem der Rector der Universität öffentlich jederman, zu der letzten Pflicht gegen den Verstorbenen, eingeladen hatte. Die Verehrer des seligen Baumgartens werden, folgenden öffentlichen A[n]schlag, gerne lesen; weil derselbe, als ein öffentliches rühmliches Zeugniß der ganzen franckfurtischen Universität von den Verdiensten desselben, anzusehen ist. [33] EHEV LACRIMABILIS FATI NECESSITAS NOBIS PRO DOLOR ERIPVIT VIRVM INCOMPARABILEM AD AVGENDAS SCIENTIAS NATVM ET FACTVM SVA DOCTRINA SVIS MERITIS FVLGENTEM CVIVS VIRTVTES NVLLA OBLITTERABIT INVIDIA ALEXANDR. GOTTL. BAVMGARTEN PHILOS. D. ET PROF. P. O. EHEV EHEV QVEM EX DIVTVRNO MORBO RESTITVTVM SIBI GRATVLABANTVR MVSAE VIADRINAE QVEM DOCENTEM ITERVM SPISSA CINGEBAT CORONA ILLA NOBIS ERIPVIT NECESSITAS DECVS HOCCE[ ]EREPTVM MOESTA LVGET ACADEMIA SEMPERQVE LVGEBIT HEV D[E]LVSA SPES OBMVTVIT OS QVOD CEV ATTICA APIS VERBA MELLE DVLCIORA FVNDEBAT OBRIGVIT DEXTRA HEV DEXTRA FIDESQVE QVOD MORTALE ERAT EXVIT

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EVOLAVIT HAEC CAELESTIS ANIMA AD SVPEROS AD SVVM FRATREM QVEM SIBI EREPTVM AD[H] C LVGET ACADEMIA HALENSIS IAM CANDIDVS MIRATVR LIMEN OLYMPI IAM VIDET QVANTA SVB NOCTE NOSTRA DIES SEPVLTA IACET IAM VERITATEM QVAM ANHELABAT PLENO ORE HAVRIT [34] PIETAS A NOBIS POSTVLAT VT MANIBVS TANTI VIRI BENE PRECEMVR VT VLTIMVM IPSI PRAESTEMVS OFFICIVM O TRISTE OFFICIVM EXVVIAE QVAS HIC DEPOSVIT SVO TVMVLO CONDENDAE SVNT D. XXVIIII MAII HORA IIII POMERIDIANA AD FVNVS HOC DEDVCENDVM [P]ROCERES ACADEMIAE SPECTATISSIMOS MAGISTRATVS CIVICOS AMPLISSIMOS RELIQVA CIVITATIS ACADEMICAE MEMBRA OMNIVM ORDINVM OMNEMQVE IVVENTVTEM ACADEMICAM GENEROSISSIMAM ATQVE NOBILISSIMAM INVITAT ATQVE VT HOC FVNVS LONGO AGMINE ORDINIBVS PARIBVS IVNCTISQVE BINI[S] NVMERO SEQVI VELINT ROGAT 10. LVDOVICVS VHLIVS, ACAD. [H]. T. RECTOR L. S. [35] Baumgarten besaß, einen vortreflichen moralischen Gemüthscharacter. Er liebte die Religion mit so vieler Aufrichtigkeit, daß er von Jugend auf mit grosser Begierde die Lehren derselben lernte, und sie auch mit Neigung ausübte. Er wandte seine ganze Weltweisheit zu ihrem letzten und vornehmsten Zwecke an, indem er dadurch die Erkenntniß von göttlichen Dingen aufklärte, und sich von den Wahrheiten der christlichen Religion durch dieselbe besser überzeugte. Seine mannigfaltigen Leiden brauchte er als heilsame Beförderungsmittel seiner Gottseligkeit, dergestalt, daß er als ein christlicher Socrates sterben konnte. Er handelte

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in allen Vorfällen nach demjenigen, was er nicht nach Eigensinn sondern nach Ueberzeugung für recht hielt, mit unerschütterter Standhaftigkeit. Er war ein zärtlicher Ehegatte, ein liebreicher und redlicher Vater, und er liebte seinen ältesten Bruder nicht bloß als einen Bruder, sondern auch als einen Vater aus Dankbarkeit. Er war ein munterer und angenehmer Gesellschafter. Wenn aus seinen Gesichtszügen die reitzendeste Freundlichkeit hervorlächelte, so fieng er schon an das Hertz dessen, der ihn zum erstenmale sahe, zu erobern; und er vollendete diese Eroberung in kurzer Zeit, weil, aus seinen Gesprächen, starke Vernunft, Artigkeit, Gefälligkeit und redliche Menschenfreund- [36] schaft hervorleuchtete. Wer seine Freundschaft gewonnen hatte, besaß einen redlichen wahren Freund. Und wenn man sein Freund war, ließ man sich gerne von ihm strafen. Er that es freundlich wie der Gerechte, und dachte groß genung, um sein ganzes Unrecht zu erkennen, wenn er ja manchmal überzeugt ward, daß er gegen jemanden nicht recht gehandelt hatte. Philosophie und seine ganze Gelehrsamkeit brauchte er nicht bloß zur Parade, sondern er sahe sie an, und brauchte sie auch als eine grössere Verbindlichkeit, alle menschlichen Tugenden mehr als diejenigen auszuüben, welche weder Weltweise noch andere Gelehrte sind. Und dergestalt verherrlichte er seine Weltweisheit, und seine übrige Gelehrsamkeit, durch die gesellige und freudige Ausübung der Religion und der übrigen Tugenden. Wenn man ihn als einen Gelehrten betrachtet, so hat er sich von Jugend auf dergestalt gebildet, wie sich ein Mensch bilden muß, wenn er ein wahrer Gelehrter werden will. Er suchte eine grosse Stärke in den Sprachen und alle demjenigen, was man zu den Humanioribus rechnet, zu erlangen, und daß er sie würklich erlangt hat, hat er genungsam in der That erwiesen. Vornemlich erlangte er eine tiefsinnige und gründ[37] liche Einsicht in die Weltweisheit. Sein Kopf war vorzüglich systematisch. Alles, was er dachte, ward System. In die Chaos, der Wahrheiten und der Meynungen der alten Weltweisen, brachte er Ordnung, und in seinem Verstande wurden Welten der Wahrheiten und Meynungen daraus. Er schrenckte seinen Fleiß nicht bloß in die Untersuchung einiger philosophischer Wissenschaften ein, sondern er durchdachte den ganzen Umfang der Weltweisheit, so weit er unter Menschen bekannt ist. Ausserdem trieb er die schönen Wissenschaften, die Historie, die Gottesgelahrtheit, und verstand von den römischen Rechten so viel, als zur Weltweisheit nützlich ist. Er lernte seine Gelehrsamkeit nicht bloß durch das kunstmäßige Studieren, sondern er machte sie durch den Umgang mit der Welt auch brauchbarer und gefälliger. Er glaubte nicht, daß man bloß dadurch geschickt genung sey, ein Lehrer zu seyn, wenn man gelehrt ist. Ehe er ein academischer Lehrer ward, übte er sich lange Zeit vorher im gelehrten Vortrage. Daher bestieg er kaum den academischen Lehrstuhl, als er sich schon Liebe, Hochachtung und Vertrauen erwarb. Er war der erste, welcher die Wolfische Weltweisheit, [38] nachdem die Zeit ihrer Verfolgung zu Ende

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war, in Halle doch ohne Sectirerey recht merklich wieder in Schwang brachte. Die Anzal seiner Zuhörer war ungemein groß. Er las seine Collegia mit unermüdetem Fleisse, und unausgesetzt. Seine Kranckheit hätte ihn ofte entschuldigen können, allein sein Gewisen verwarf diese Gemächlichkeit. Er glaubte niemals, in irgends einer Wissenschaft weit genung gekommen zu seyn. Daher vermehrte und verbesserte er immer seine Dictaten, und Schriften. Sein academischer Vortrag war ungemein gründlich. Die gelehrte Beredsamkeit floß ihm ohne Anstoß zu, und er hielt seine Vorlesungen mir grosser Munterkeit, und Lebhaftigkeit. Er machte das tiefsinnige und gründliche durch artige Einfälle und Schertze angenehm, allein niemals hat jemand von ihm unflätige, unkeusche und pöbelhafte Spasse gehört. Seine Zuhörer hatten einen freyen Zutritt zu ihm, er begegnete ihnen liebreich, wie ein väterlich gesinnter Lehrer, und er wurde im Gegentheil von ihnen feurig geliebt. Als er von Halle weggehen muste, war ein weit ausgebreitetes Wehklagen unter den Studenten; und hinter seinem Sarge in Franckfurt gieng, die Menge seiner Zuhörer, als eine Familie Verwäyseter einher. [39] Seine gewesenen Schüler, welche zu einigen tausenden in Deutschland verstreuet sind, wissen durch die gründliche Einsicht in die Weltweisheit, die sie ihm verdanken: daß sein mündlicher gelehrter Vortrag, ein untrüglicher Beweis seiner grossen und wahren Gelehrsamkeit und Geschicklichkeit in den Gaben gewesen, die ein Lehrer besitzen muß. Er hat aber auch folgende Schriften hinterlassen, welche das, von der Vollkommenheit seiner Einsichten in die Weltweisheit, gefällte Urtheil bey allen denjenigen rechtfertigen können, welche ihn nicht von Person gekannt haben.

Philosophische Schriften. 1. Metaphysica. Sie kam das erstemal im Jahr 1739. heraus, und sie ist bereits zum viertenmal wieder aufgelegt worden. Bey einer jedweden neuen Auflage hat der Verfasser sie verbessert, und in der letzten hat er die metaphysischen Kunstwörter ins deutsche übersetzt. Wenn die deutsche Sprache mit der Zeit, eine wahre gelehrte Sprache, werden soll; so muß sie unter andern [!] auch [40] wortreich genung werden, damit man im Stande sey, alle nöthigen Begriffe in der Gelehrsamkeit deutsch auszudrucken. Es macht sich demnach ein jeder Gelehrter auch um die deutsche Sprache verdient, welcher die gelehrten Kunstwörter seiner Wissenschaft in gute deutsche Wörter übersetzt. In der neuen Vorrede zur zweyten Auflage vertheidiget der Verfasser, seine Metaphysic, wider einige Einwürfe; und in der Vorrede zur dritten vertheidiget er theils seine Erklärung eines Gedichts, theils aber beantwortet er einige Einwürfe, welche jemand wider den Satz des zureichenden Grundes, bey der Beurtheilung seiner Metaphysic, gemacht hatte. Alle gründliche Kenner der Metaphysic werden

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diese Schrift, unter die besten metaphysischen Compendia, rechnen. Sie enthält mehr metaphysische Wahrheiten, als manche weitläuftige Systemata. Der Verfasser hat die Metaphysic, mit dem principium rationati, bereichert. Er hat, die Lehre von den Wunderwerken, in ein neues und besseres Licht gesetzt. Er hat das principium indiscernibilium in einem weitern Umfange angenommen, als die Erfinder desselben. Er hat die Lehre von den [41] Monaden, und von der vorherbestimmten Uebereinstimmung mehr nach Leibnitzens als Wolfens Denkungsart angenommen, und die letztere zu demonstriren versucht. Er hat in der Psychologie, die [Na]tur der Seelenkräfte, genauer untersucht als andere Weltweise, und er hat noch mehrere der wichtigsten Lehren der Metaphysic in ein deutlicheres philosophisches Licht gesetzt, als seine Vorgänger gethan haben. Seine Denkungsart und seine Schreibeart sind vorzüglich systematisch, kurz und tiefsinnig. Daraus muß nothwendig fliessen, daß sie schwer zu verstehen sind. Und wer nicht gewohnt oder im Stande ist, eben so zu denken, dem müssen beyde dunkel seyn. Es ist aber unbillig, dieses dem Verfasser als einen Fehler anzurechnen, weil seine Schriften dazu bestimmt sind, durch einen mündlichen Vortrag erläutert zu werden. 2. Ethica philosophica. Sie kam im Jahr 1740. zum erstenmal heraus. In diesem 1762. Jahre erscheint die dritte Auflage. In der [42] Vorrede zu der zweyten Auflage vertheidiget er sich sehr schön, wider den Vorwurf der Dunckelheit. Die dritte Auflage fieng er selbst zu besorgen an. Er vermehrte und verbesserte seine Gedanken, und verdeutschte die Kunstwörter. Diese Verbesserungen hören aber, bey dem 192. Absatze, auf. Das folgende ist bloß nach der vorigen Ausgabe abgedruckt, und damit doch einige Gleichförmigkeit beobachtet werde, sind die deutschen Bebennungen bis ans Ende hinzugefügt. Der Verfasser hat, von andern philosophischen Sittenlehrern, viel vorzügliches. Er hat die Pflichten gegen GOtt viel besser abgehandelt, als andere. Er hat sich damit nicht begnüget, eine jedwede Pflicht richtig zu beweisen, sondern er hat sie auch zugleich, aus den edelsten Bewegungsgründen, hergeleitet, damit seine Sittenlehre das Hertz von innen gehörig zu verbessern eine Anweisung gebe. Er hat, durch die genauesten Erklärungen, die Charactere der Tugenden und Laster aufs richtigste gezeichnet. Man kann aus seiner Sittenlehre vollständig lernen, was man thun muß, und wie man es thun muß, wenn man die Tugend ausüben will; und die Abhandlung, von den beson- [43] dern Pflichten in den verschiedenen Zuständen eines Menschen, gehört auch zu den Vorzügen dieser Sittenlehre. 3. Aesthetica. Der erste Theil kam 1750 und der andere 1758. heraus. Es ist ein Werk, welches von dem Verfasser nicht vollendet worden. Bey allen Kennern der schönen Wissenschaften wird ihm diese Wissenschaft, von der er der Erfinder ist, allemal Ehre bringen. Und wenn philosophische Köpfe, welche die Music, Malerkunst, und alle

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übrige schöne Künste ausser der Rede[-] und Dichtkunst, verstehen, die aesthetischen Grundsätze auf dieselbe [!] werden anwenden: so wird der einzige Einwurf, der bisher mit Artigkeit und vielem Scheine wider die Aesthetic gemacht worden, gänzlich wegfallen. Man sagt nemlich, es sey ein vortrefliches Unternehmen, die ersten Grundsätze aller schönen Künste und Wissenschaften philosophisch abzuhandeln. Allein die Baumgartensche Aesthetic enthalte nur, [44] die ersten Grundsätze der Rede- und Dichtkunst. Wer diese Aesthetic gehörig einsieht, ist eines andern überzeugt. Zugleich hat der Verfasser, seine grosse Belesenheit in den alten Dichtern und in den Lehrern der Beredsamkeit, in dieser Schrift an den Tag gelegt. 4. Initia philosophiae practicae primae. Diese Schrift ist im Jahr 1760. herausgekommen, und sie ist ein kurtzes sehr gründliches Compendium der allgemeinen practischen Weltweisheit. Der Verfasser hat, sonderlich die Lehre von der Zurechnung und von dem Gewissen, vorzüglich gut abgehandelt. 5. Acroasis logica. Diese Vernunftlehre ist, aus den Dictaten zu des Freyherrn von Wolf Ver- [45] nunftlehre, entstanden. Der Verfasser hat sonderlich, die 12. letzten Capitel der Wolfischen Vernunftlehre, vortreflich erläutert, und vorzüglich die Lehre von der Wahrscheinlichkeit, von der Auslegungskunst, und der Beurtheilung der Bücher, bereichert. 6. Dictata iuris naturae ad Koeleri exercitationes iuris naturalis. Diese Schrift hat der Verfasser nicht zu Ende gebracht. Er fieng an, seine Dictaten von neuem umzuarbeiten, und die natürlichen Rechte der Menschen in dem Zustande der Natur, in vielen Stücken viel genauer aus einander zu setzen, als es andere Lehrer des Naturrechts gethan haben. Allein der Tod unterbrach diese Arbeit. Damit aber dieses Werk nicht ganz unvollständig bleiben möchte, so sind die übrigen Dictaten ohne Veränderung abgedruckt worden. Ein Gelehrter wird mehrentheils wenig geehrt, wenn andere Gelehrte seine Werke nach ihrer eigenen Art zu denken fortsetzen.

[46] Disputationen. 1. Disputatio chorographica inauguralis, notiones superi et inferi indeque adscensus et descensus in chorographiis sacris occurentes, e[v]ol[v]ens. Diese Streitschrift hat er unter dem Vorsitze des Herrn Doctors, Christian Benedict Michaelis, den 26. Februar. 173[5] vertheidiget, und hat dadurch die Magisterwürde erlangt.

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2. Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus[.] Sept. 1735. respond. Nathan. Baumgarten. Dieses ist seine Disputation, durch welche er völlig das Recht erlangte, die Weltweisheit öffentlich zu lehren, und die erste gelehrte Schrift, welche er dem Drucke übergeben. Sie ist sein erster Versuch, welcher sehr glücklich gerathen. Er hat in derselben zuerst den Entwurf zu seiner Aesthetic gemacht, und seine tiefe Einischt in das Wesen eines Ge- [ 47] dichts an den Tag gelegt. Man sagt nicht gar zu viel, wenn man sie sein Meisterstück nennt. 3. Exercitia demonstrandi in nonnullis Syllogismi affectionibus. Octobr. 1735. Auctor resp. Jo. Christoph. Decker. Die folgenden hat er als Praeses in Franckfurt gehalten. 4. Tentamen demonstrationis mathematicae qua existentiam corporum angelicorum probat, Maj. 1741. Auctor resp. Carol. Frid. Goede. Diese Disputation ist hernach in der Gestalt eines philosophischen Tractats wieder aufgelegt worden. 5. de vi et efficacia ethices philosophicae. Dec. 1741. Auctor resp. Samuel Wilh. Spalding. [48] 6. de precibus continuis. Januar. 1742. Auctor resp. Jo. Sam. Dietrich. 7. de abnegatione philosophica. Mart. 1742. Auctor resp. Jo. Frid. Goldbeck. 8. de amicitia inimicorum philosophica. April 1742. Auctor resp. Jo. Ge. Goldbeck. 9. de Vitiis Quasiphilosophorum ethicis, dissertatio [I.] de pietati contariis. Decembr. 1742. Auctor resp. Jo. Gottfr. Ben[e]ke. 10. Dissertatio periodica historiam sententiarum de genesi aeris informans[.] Maj. 1744. resp. Jo. Christian. Lehmann. [49] 11. Scenographia iuris socialis primarii. Septembr. 1746. resp. Christian. Ludov. de Brand. 12. Dissertatio periodica de disciplinis oeconomico-politico cameralibus. Febr. 1747. resp. Jo. Daniel Sc[w]echten.

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Texteditionen

13. Dissertaio inauguralis de fidei in philosophia vtilitate, quam ad primos philosophorum honores impetrandos, Sept. 1750. defendit auctor Ge. Christoph. Wilh. Bülow. 14. Dissertatio periodica an philosophia sit sapientia mundi. Febr. 1751. resp. Mich. Erdmann Gebauer.

[50] Programmata und andere Schriften. 1. de ordine in audiendis philosophicis per triennium academicum quaedam praefatus acroases proximae aestati destinatas indicit Alex. Gottlieb Baumgarten. Dieses war seine erste Schrift, nachdem er in Halle ausserordentlicher Professor der Weltweisheit geworden. Er verwirft den Rath, vermöge dessen ein Student entweder die ganze Weltweisheit im Anfange seiner academischen Jahre, oder zum Beschlusse derselben, hören soll. Seiner Meynung nach soll er alle halbe Jahre ein philosophisches Collegium, neben den Collegiis die zu seiner Hauptwissenschaft gerechnet werden müssen, hören, und zeigt, in welcher Ordnung er die philosophischen Wissenschaften nach einander lernen soll. [51] 2. Gedanken vom vernünftigen Beyfall auf Academien, wonebst er zu seiner Antritsrede und ersten franckfurtischen Lesestunden eingeladen. 1740. Diese Schrift ist hernach 1741. in Halle vermehrt wieder aufgelegt worden, in Octav. Er zeigt, worauf sich dieser Beyfall gründen muß, und erzehlt auch die gewöhnlichen Kunstgriffe, wodurch manchmal der academische Beyfall erhalten wird, und durch welche academische Lehrer sich ofte lächerlich und verächtlich machen. 3. Serenissimo potentissimo principi Friderico, Regi Borussorum marchioni brandenburgico S. R. J. archicamerario et electori, caetera, clementissimo domino felicia regni felicis auspicia, a d. III. Non. Quinct. 1740. professoris viadrini munus agressus, gratulabatur Alexander Gottlieb Baumgarten. [52] Dieses ist ein lateinisches Gedicht, welches er nach den Gesetzen der franckfurtischen Universität, bey dem Antritte seines Amts, als eine Antrittsrede öffentlich hielt, und ist eine Probe seiner Geschicklichkeit in der lateinischen Dichtkunst. Sein Bruder, Nathanael Baumgarten, hat dasselbe in deutsche Verse übersetzt, und unter folgendem Titel in Quart drucken lassen: Allerunterthänigster Glückwunsch bey dem erfreulichen Antrit der erfreulichen Regierung des allerdurchlauchtigsten und großmächtigsten Königs und Herrn, Friedrichs, Königs in Preussen u. s. w. 4. Scriptis, quae moderator conflictus academici disputauit, praefatus, rationes acroasium suarum Viadrinarum reddit, Alex. Gottl. Baumgarten. 1743.

G. F. Meier · Baumgartens Leben

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Hier erzehlt der Verfasser alle Collegia, die er in Franckfurt würklich gehalten, vertheidiget sich wider einige unfreund- [53] liche Einwürfe eines Gegners, und theilt den Lesern viele vortrefliche Betrachtungen über die philosophischen Wissenschaften mit. 5. Philosophische Briefe von Aletheophilus, Franckfurt und Leipzig 1741. Bey der grossen Menge der moralischen Wochenblätter hatte der Verfasser den Einfall, ein theoretisches philosophisches Wochenblatt zu schreiben. Er muste aber mit dem 26. Stücke aufhören, ob er gleich viele nützliche Materien abgehandelt hatte; weil, die wenigsten Liebhaber der Wochenblätter, ein Vergnügen an tiefsinnigen Betrachtungen finden. Die Gelehrten, welche gute Schriften schreiben, sind von zweyfacher Art. Die ersten schreiben tiefsinnig nach den Regeln der mathematischen Methode, und sind denenjenigen ähnlich, welche das Gold aus der Erde graben, es ausschmeltzen, und von der [54] fremden Materie reinigen. Die zweyten empfangen dieses Metal aus den Händen der ersten, und verarbeiten es in t[a]usenderle[y] Formen, wodurch es ange[n]ehmer in die Augen fällt, und zum Gebrauche für mehrere Menschen bequemer wird. Es ist noch die Frage, welche Art den Vorzug verdient. So viel ist gewiß, Schriftsteller von beyden Arten sind dem menschlichen Geschlechte unentbehrlich, und die letztern könnten ohne den [!] erstern keine wahre Verdienste erlangen. Alle wahre Kenner einer gründlichen Weltweisheit, werden es aufrichtig bedauren, daß Baumgarten durch seine langwierige Kranckheit und durch seinen frühen Tod, verhindert worden, mehrere Schriften der Welt mitzutheilen. Eine jede Materie gewann unter seiner Bearbeitung viel, indem er entweder ihren Umfang erweiterte, oder die Erkenntniß derselben vollkommener machte.

AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von Lothar Kreimendahl, Monika Neugebauer-Wölk und Friedrich Vollhardt. Gegenstand des Jahrbuches ist die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Der Gedanke der erkenntnisfördernden Kraft der offenen, unparteiischen Diskussion war eine der wichtigsten Überzeugungen des Jahrhunderts. Es ist diese Grundhaltung der Aufklärung, die auch die Anlage des Jahrbuches bestimmt. Das Streben nach Interdisziplinarität war eine dominierende Tendenz und Ausdruck der Integrationskraft der Epoche. Der Umbruch des kulturellen und zivilisatorischen Selbstverständnisses sowie die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft wurde von ihm mitbestimmt. Auch dieser Idee versucht die Aufklärung zu entsprechen. Fachübergreifend angelegt, wird die Aufklärung thematisch flexibel Ergebnisse und Perspektiven der verschiedenen Forschungsdisziplinen im Hinblick auf die jeweiligen sachlichen Schwerpunkte zusammenführen, die durch Kurzbiographien, Diskussionen sowie Forschungs- und Literaturberichte ergänzt werden. Anschrift der Redaktion Dr. Marianne Willems, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, D-80799 München. Tel.: (089) 21 80 62 20 E-mail: [email protected]

Bezugsbedingungen Das interdisziplinäre Jahrbuch Aufklärung erscheint im Umfang von mindestens 240 Seiten. Der Bezugspreis für den Jahrgang beträgt im Abonnement in Relation zum Umfang ab € 58,– zzgl. Versandspesen (Inland €.3,– / Ausland €.5,–). Einzelbände kosten ab €.68,– zzgl. Versandspesen. Mitglieder der „Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts“ bestellen Abonnements über die Geschäftsstelle der Gesellschaft (c/o Herzog August Bibliothek, Postfach 1364, D-38299 Wolfenbüttel) zum ermäßigten Mitgliederpreis ab €.42,– bzw. ab €.49,– pro Band, jeweils zzgl. Versandspesen (s.o.). Das Jahrbuch Aufklärung und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. * * * © Felix Meiner Verlag, Richardstraße 47, D-22081 Hamburg. Tel. (040) 29 87 56-0, Fax (040) 29 87 56 20. Email: [email protected] Das Verlagsprogramm kann im Internet unter www.meiner.de eingesehen werden. ISSN 0178-7128.