Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums: Beiträge zur Grundlegung der jüdischen Geschichte. Hrsg. von Reinhard Mehring / Rolf Rieß. Mit einem Nachwort von Peter Landau [1 ed.] 9783428536276, 9783428136278

Im rechts- und sozialwissenschaftlichen Diskurs der Weimarer Republik war Ludwig Feuchtwanger als Lektor und Syndikus de

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Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums: Beiträge zur Grundlegung der jüdischen Geschichte. Hrsg. von Reinhard Mehring / Rolf Rieß. Mit einem Nachwort von Peter Landau [1 ed.]
 9783428536276, 9783428136278

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Ludwig Feuchtwanger

Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums Beiträge zur Grundlegung der jüdischen Geschichte

Herausgegeben von Reinhard Mehring und Rolf Rieß

Duncker & Humblot

LUDWIG FEUCHTWANGER Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums

Das Bild stammt aus der im Münchner Stadtarchiv liegenden Kennkarte. Diese ist vom 5. Dezember 1938, also nach der sog. „Reichskristallnacht“, vom Polizeipräsidium ausgestellt, in deren Verlauf Feuchtwanger als Schutzlagerjude ins Konzentrationslager Dachau verschleppt worden ist. Sie enthält neben dem Photo auch Fingerabdrücke und den Zwangsvornamen Israel. Wir danken Dr. Andreas Heusler vom Stadtarchiv München für die großzügige Hilfe.

Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums Beiträge zur Grundlegung der jüdischen Geschichte Von Ludwig Feuchtwanger Herausgegeben von Reinhard Mehring und Rolf Rieß Mit einem Nachwort von Peter Landau

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13627-8 (Print) ISBN 978-3-428-53627-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-83627-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Im rechts- und sozialwissenschaftlichen Diskurs der Weimarer Republik war Ludwig Feuchtwanger als Lektor und Syndikus des Verlages Duncker & Humblot ein zentraler Akteur. Er wurde aber auch einer der wichtigsten Autoren der Selbstbesinnung des deutschen Judentums in der Zwischenkriegszeit bis 1938. Das will eine Trilogie der Wiedererinnerung zeigen. 2003 erschien ein erster Band gesammelter Aufsätze zur jüdischen Geschichte;1 2007 folgte der Briefwechsel mit Carl Schmitt,2 einem der Hausautoren des Verlags. Mit dem vorliegenden Band grundlegender Beiträge zur Lage des deutschen Judentums liegt nun Feuchtwangers groß gedachtes Mosaik der „Konstruktion“ einer jüdischen Geschichte in den Grundzügen vor. Der Titel „Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums“ gibt einen Aufsatztitel Feuchtwangers wieder, der über seinem Gesamtwerk stehen könnte. Feuchtwanger zitiert dabei seinerseits berühmte Programmschriften von Adolph von Harnack und Leo Baeck über das „Wesen“ von Christentum und Judentum und rückt sie leicht ironisch und literarisch mit Marcel Proust in den Status einer „Suche“. Das ist für Feuchtwanger bezeichnend. Jede essentialistische Dogmatik war ihm fremd. Alles wurde ihm zur wissenschaftlichen Frage, der er sich über den Forschungsstand näherte. Feuchtwanger war Wirtschaftshistoriker und Jurist, Philosoph und Theologe.3 Aus einer alten Münchner Familie stammend, beobachtete er die nationalistische und antisemitische Aufkündigung des liberalen Projekts der Assimilation und antwortete mit einer Rückbesinnung auf jüdische Traditionen und Kräfte im Rahmen der sog. „Jüdischen Renaissance“4. Seine Publizistik ist formal und inhaltlich unge1 Ludwig Feuchtwanger: Gesammelte Aufsätze zur jüdischen Geschichte, hrsg. v. Rolf Rieß, Berlin 2003. 2 Carl Schmitt / Ludwig Feuchtwanger: Briefwechsel 1918 – 1935. Mit einem Vorwort von Edgar J. Feuchtwanger, hrsg. v. Rolf Rieß, Berlin 2007. 3 Ludwig Feuchtwanger, ein jüngerer Bruder des Schriftstellers Lion Feuchtwanger, wuchs in München auf und machte dort 1904 sein Abitur. Er studierte dann Jurisprudenz, Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie in München, Bonn und Berlin und promovierte 1908 in Berlin bei dem Nationalökonomen Gustav von Schmoller. Er ging dann ins juristische Referendariat und legte 1913 sein 2. juristisches Staatsexamen ab. 1914 wurde er Syndikus des Verlags Duncker & Humblot, dessen Profil er fortan entscheidend prägte. 1915 erhielt er seine Zulassung als Anwalt. Bis 1928 verzichtete er dann fast vollständig auf publizistische Beiträge. Zur Familiengeschichte vorzüglich Heike Specht, Die Feuchtwangers. Familie, Tradition und jüdisches Selbstverständnis im deutsch-jüdischen Bürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2006. 4 Vgl.: Michael Brenner: The Renaissance of Jewish Culture in the Weimar Republic, New Haven 1996, dt.: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000. Vgl.: Thomas

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Vorwort

wöhnlich. Nach einem – an Gustav von Schmoller5 und Lujo Brentano6 geschulten und von der Auseinandersetzung mit Werner Sombart geprägten – wirtschaftshistorischen Frühwerk bis 1914 folgte ein langes, bewusstes Schweigen, bis Feuchtwanger eigentlich erst ab 1928 aus der Reserve des Verlegers heraustrat und sich vehement in die jüdischen Debatten warf. Er publizierte kein einziges Buch, sondern entwickelte seine Gesamtsicht in der kritischen Form von Rezensionen und Sammelbesprechungen. Als Hommes de lettres verwandelten sich ihm seine Überlegungen sogleich in Forschungsfragen. Dabei dachte er nicht impressionistisch. Feuchtwanger hatte dezidierte Positionen und eine klare Gesamtvision vom geschichtlichen „Wesen“ des Judentums. Seine grundsätzlichen Beiträge reagierten auf ein „verändertes Geschichtsbild“, wie es z. B. von dem nationalsozialistischen Historiker Wilhelm Grau7 vertreten wurde, und strebten eine historische Synthese und neue „Konstruktion“ der jüdischen Geschichte an. Der erste Auswahlband dokumentierte Feuchtwangers paradigmatische Familiengeschichte der Mendelssohns und seine rechtshistorische Sicht einer Kontinuität jüdischer Selbstorganisation in Deutschland seit dem frühen Mittelalter. Der vorliegende Band führt nun über den rechtshistorischen Fokus hinaus zur geistesgeschichtlichen Gesamtsicht und theoretischen Grundlegung des geschichtlichen „Wesens des Judentums“. Ende der 20er Jahre trat Feuchtwanger unter dem Eindruck von Franz Rosenzweig und Martin Buber mit „grundsätzlichen“ Revisionen zur Erforschung des Alten Testaments und Leben Jesu hervor. Er kritisierte christlich-dogmatische, soziologische und psychologische Überdeutungen, um die jüdische Geschichte neu zu sehen. Noch in seiner späten Programmschrift zur „Jüdischen Geschichte als Forschungsaufgabe“ neigte Feuchtwanger dabei einem strikten Historismus in der „Schule Rankes“ zu; er schätzte aber auch die entstehende Religionsphänomenologie, die die religiösen Selbstaussagen nichtreduktionistisch aufnahm und die Wahrheitsfrage offen ließ. Sein skeptischer Positivismus schloss es nicht gänzlich aus, dass – mit einer Formulierung Eric Voegelins – die Quelle richtig diagnostiziert“8 sein könnte. So spricht er erneut vom „Wesen“ und „Gang“ des Judentums durch die Weltgeschichte.

Brechenmacher, Deutsch-jüdische Geschichte als Wissenschaft. Zur historischen Entstehung einer akademischen Disziplin, in: Historische Zeitschrift 292(2011), S. 95 – 123 5 Dazu Ludwig Feuchtwanger: Vorwort zu: Gustav Schmoller, Walther Rathenau und Hugo Preuß. Die Staatsmänner des Neuen Deutschland, München 1922. 6 Dazu Ludwig Feuchtwanger: Lujo Brentano, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung (BIGZ) Nr. 19 vom 1. 10. 1931, S. 294 – 295. 7 Vgl.: Matthias Berg: ‚Verändertes Geschichtsbild‘ – Jüdische Historiker zur ‚Judenforschung‘ Wilhelm Graus, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 5 (2006), S. 57 – 84. Vgl.: Patricia von Papen, Vom engagierten Katholiken zum Rassenantisemiten. Die Karriere des Historikers der ‚Judenfrage‘ Wilhelm Grau 1935 – 1945, in: Georg Denzler (Hg.), Theologische Wissenschaft im ‚Dritten Reich‘. Ein ökumenisches Projekt, Frankfurt / M. 2000, S. 68 – 113. 8 Eric Voegelin am 22. April 1951 an Leo Strauss, in: Glaube und Wissen. Der Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Leo Strauss von 1934 bis 1964, hrsg. v. Peter J. Opitz, München 2010, S. 91.

Vorwort

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Seine grundsätzlichen Beiträge und Interventionen schrieb er als kritischer Rezensent in Mußestunden, wie Spinoza seine Gläser schliff, und übernahm als Herausgeber der Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung auch publizistische Verantwortung für die innerjüdischen Debatten. Feuchtwanger war nicht orthodox. Die „religiöse Bereitschaft der modernen deutschen Juden“ beurteilte er auch nach 1933 noch negativ. Er glaubte nicht an den Beruf der Wissenschaft zur religiösen Regeneration und vertrat keine prämodernen oder kulturkonservativen Positionen. Es war nicht zuletzt seine politische Sicht des modernen Antisemitismus, die ihn zur Parteinahme zwang. Deshalb werden hier geistesgeschichtliche Miniaturen zum Scheitern der Assimilation, als Artikelserie um eines „veränderten Geschichtsbilds“ willen, seit 1933 unter Zensurbedingungen verfasst, den grundlegenden Beiträgen zur Erforschung der jüdischen Geschichte vorangestellt. Feuchtwanger konnte seine Gesamtsicht vom Weg des Judentums bis Kriegsbeginn, als er nach dem 9. November 1938 mit seiner Familie nach London emigrierte, aber nur in programmatischen Aufsätzen, Artikel und Rezensionsminiaturen formulieren. Zwar ist ein umfangreiches Typoskript von über 400 Seiten Umfang im Nachlass erhalten, für das er während des Krieges keinen Verlag fand; auch dies sondiert aber den „Gang der Juden durch die Weltgeschichte“ in Form eines Literaturberichts als „Forschungsaufgabe“ und endet in der „mittleren Zeit“ mit der „Verwandlung durch den Islam“. Erstmals werden hier das Vorwort und Inhaltsverzeichnis dieser unvollendeten jüdischen Geschichte aus dem Nachlass veröffentlicht. Das Panorama vom „Wesen des Judentums“, seinem Gang durch die Weltgeschichte, blieb also nicht in bloßer Programmatik stecken, sondern fand eine vorläufige Synthese. Zwar gelangte Feuchtwanger nicht mehr, wie beabsichtigt, „bis zur Gegenwart“; an seine Geschichte von der „alten“ und „mittleren Zeit“ schließen aber seine älteren Beiträge chronologisch fast bruchlos an. Seine ganze „Konstruktion“ der jüdischen Geschichte liegt damit in einzelnen Kapiteln als problemgeschichtliches Puzzle vor. Unsere Auswahl präsentiert nur die Texte. Sie verzichtet auf eine dichte Rekonstruktion der Debattenkontexte und konzentriert sich auf einige Hauptlinien der Krisendiagnose und Antwort. Zwei große Themenbereiche wurden dabei ausgespart: das wirtschaftshistorische Frühwerk bis 1914, das von der Auseinandersetzung mit Werner Sombarts Thesen zur jüdischen Wirtschaftsgeschichte stark geprägt war, sowie spezialistische Beiträge zu innerjüdischen Fragen. Feuchtwanger zielte über die Orthodoxie hinaus auf eine neue jüdische Geschichte. Seine Beiträge heben die tagespolitischen Fragen aus der Polemik in den wissenschaftlichen Diskurs und beeindrucken durch ihr sachliches Ethos und ihre strenge, grundsätzliche Linienführung. Beide Teile des Bandes hätten um weitere Texte erweitert werden können. So ist auch er nur ein Entrée in Feuchtwangers Suche nach dem geschichtlichen „Wesen des Judentums“. Mit der vorliegenden Bibliographie9 kann man sich weiter in die Debatten der Jahre 1928 bis 1938 begeben. Es gibt dafür kaum ein besseres

9 Abdruck in: Ludwig Feuchtwanger: Gesammelte Aufsätze zur jüdischen Geschichte, Berlin 2003, S. 166 – 189.

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Vorwort

Brennglas als den unerbittlich scharfen und redlichen Intellekt Ludwig Feuchtwangers. Die Absicht unserer Edition ist erfüllt, wenn seine Gesamtsicht in den Stücken und Bruchstücken seiner für Tag und Mitwelt geschriebenen Publizistik durchsichtig wird. Reinhard Mehring Rolf Rieß

Inhaltsverzeichnis I. Zur Geistesgeschichte der „deutsch-jüdischen Symbiose“ 1. Leopold von Ranke. Zum Neuerscheinen seiner Meisterwerke (1914) . . . . . . . . . . . . . .

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2. Verändertes Geschichtsbild. Die Emanzipation vor 125 Jahren in neuer Geschichtsbetrachtung – Wilhelm von Humboldt (1935) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Ein Vorkämpfer der deutschen Judenemanzipation: David Friedländer. Zum 100. Todestag (1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Die Religion der Gebildeten. Zum 100. Todestag von Schleiermacher (1934) . . . . . .

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5. Zum 100. Geburtstag Heinrich von Treitschkes (1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Friedrich Nietzsche als Wegbereiter völkischer und judenfeindlicher Strömungen? (1931) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Rezension von Julius Kraft: Von Husserl zu Heidegger. Kritik der phänomenologischen Philosophie (1932) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Macht und menschliche Natur. Philosophische Begründung der Gebundenheit an ein Volk (1931) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9. „ …Vernunft und Wissenschaft – des Menschen allerhöchste Kraft“. Anläßlich des neuen Werkes von Ernst Cassirer (1933) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10. Zwischen 30. Januar und 5. März. Versuch einer Klärung der jüdischen Situation (1933) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11. Grenzen der Vernunft und des Humanitätsideals. Zu dem Erasmusbild von Huizinga (1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“ 1. Zum Tode Adolf von Harnacks (1930) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Grundsätzliches zur Leben-Jesu-Forschung (1928) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Grundsätzliches zur Forschung über das Alte Testament (1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Bibelforschung aus jüdischem Geist. Martin Bubers Erneuerung der Bibel aus dem Geist des Judentums (1932) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 5. Religion heute? Über die religiöse Bereitschaft des modernen deutschen Juden (1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 6. Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums (1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

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Inhaltsverzeichnis

7. „Die Erwählung Israels“. Der richtig verstandene Erwählungsgedanke. Anläßlich des Vortrages und der Lehrkurse Martin Bubers über die Erwählung Israels (1937) 136 8. Die Evangelien als jüdische Quelle (1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 9. „Verantwortung“. Zu einem neuen Buch von Martin Buber (1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 10. Martin Buber – sein Leben und Werk. Zum 60. Geburtstag am 8. Februar (1938) . . . 149 11. Die Sprache als Schicksal und Aufgabe im jüdischen Lebenskreis (1938) . . . . . . . . . . 155 12. Zur Geschichtstheorie des jungen Graetz von 1846 (1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 13. Jüdische Geschichte als Forschungsaufgabe. Der Gang der Juden durch die Weltgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Gezeigt an den Hauptproblemen jüdischer Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Nachwort. Von Peter Landau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Verzeichnis der Druckorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

I. Zur Geistesgeschichte der „deutsch-jüdischen Symbiose“

1. Leopold von Ranke. Zum Neuerscheinen seiner Meisterwerke Karl Lamprecht hat im Jahre 1904 in einem Vortrag in Neuyork eine Charakterisierung der gegenwärtigen deutschen Geschichtswissenschaft gegeben, die heute, nach zehn Jahren, noch in allen Punkten zutrifft. Er hat mit seiner Wortkunst und mit ebenso trefflichen Beweismitteln geschildert, wie das Streben des Pragmatismus, „jeden Einzelvorgang möglichst genuin, geputzt gleichsam gereinigt von Patina und Schmutz, der Überlieferung vorzuführen“, scheitern musste an den Stoffmassen der Überlieferung, die mit ihrem unabsehbaren Wachstum die Vorgänge zusammenhanglos und undurchsichtbar machten. Aus diesem Mißstand entwickelte sich die sogenannte historische Ideenlehre. Sie ordnete die geschichtlichen Ereignisse in „pragmatische Bündel“ und faßte sie zu höheren Einheiten zusammen. Über Männer und Schlachten, die einander in der scheinbar zufälligsten Wahllosigkeit ablösten, wölbte sich alsbald eine transzendentale Idee. Eine Form idealistischer Geschichtsbetrachtung machte sich breit, die namentlich durch Schelling und die gesamte idealistische Philosophie der Romantik aufs regste befördert wurde. Da war es Leopold Rankes Verdienst, den Geschehnissen als solchen wieder zu einem Recht zu verhelfen, ohne die „Idee“ preiszugeben, ohne die Nützlichkeit der in jenen Ideen enthaltenen Begriffsform zur Zusammenfassung namentlich größerer individual-psychischer Ereignisreihen zu verkennen. Ranke war indes zum Glück kein Geschichtsphilosoph, beschrieb selbst in naiver, unermüdlicher Emsigkeit die Vergangenheit und überließ es anderen, über den Sinn der Geschichte und den erkenntnistheoretischen Charakter des Pragmatismus und jener Ideenlehre sich zu verbreiten. Die Werke Leopold von Rankes, des Klassikers der deutschen Geschichtsschreibung, dürfen sich mit den landläufigen „Klassikern“ in vielfacher Beziehung nicht messen; sie verdienen aber gerade in der Gegenwart, nicht nur wie jene Hausinventar zu werden, sondern sie sind auch eines eindringlichen Studiums wert, zur Ergänzung unserer deutschen Gesamtbildung nach der realen Seite hin. Bedarf doch der Deutsche dringender als andere Nationen einer politischen Bildung, die, wenn sie nicht flach bleiben soll und wenn sie nicht ewig am Gängelband offizieller Geschichtsauffassung oder hämischer Parteidogmen geführt sein will, einzig aus ernster und tiefer Geschichtskenntnis geschöpft werden kann. Je mehr um ihrer selbst willen, ohne leidenschaftlichen Hinblick auf irgendwelche Parteibestrebungen der Gegenwart uns diese Kenntnis dargeboten wird (und eben das leistet die Geschichtsschreibung Rankes), desto reiner und größer ist der Erfolg.

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I. Zur Geistesgeschichte der „deutsch-jüdischen Symbiose“

Im Zeitalter der Grimm und Humboldt, der Schleiermacher und Hegel begann Leopold von Ranke zu lehren und zu schreiben. Max Lenz schildert in seiner Biographie Bismarcks auf das anschaulichste die damaligen Zustände im Staate Friedrich Wilhelms III. mit ihren Gegensätzen innerhalb und außerhalb der Berliner Alma mater. Wann hätten je die Studien an der Berliner Universität reicher geblüht als damals? „Die Philosophie war die Krone der Wissenschaften geworden, und in allen Fakultäten wirkten führende Historiker. Indem der Staat die Parteien von den Hörsälen fernhielt, machte er selbst vor ihren Pforten halt; er forderte von der Wissenschaft, daß sie sich auf ihr eigenes Gebiet beschränke, aber er schützte sie dafür gegen die turbulenten Strömungen, die aus fremdartigen und zum Teil sehr illiberalen Sphären gegen sie andrängten und sie in ihren Wirbel zu ziehen suchten. Die universale Tendenz, welche die historischen Wissenschaften in dem Zeitalter Hegels beseelte, hängt mit dieser Unberührtheit durch die wechselnden Meinungen des Tages zusammen. In dieser Atmosphäre der Objektivität hat Ranke sein welthistorisches, die Grenzen der Nationalität und selbst der Bekenntnisse überschreitendes und in die Wurzel des Geschehens eindringendes System entwickelt, zu dem die deutschen Historiker sich aufs neue bekannten.“ Als Leopold von Ranke vor nunmehr fast drei Menschenaltern seine Laufbahn antrat, da begründete er alsbald durch die Energie seiner kritischen Forschung eine neue Wissenschaft, da rief er alsbald durch seine seltene Gestaltungsgabe eine neue Kunst der Geschichtsschreibung ins Leben. An seiner Lehre oder seinen Schriften haben sich seitdem unzählige Jünger herangebildet, aber noch immer steht er da als Meister, mit dessen Leistungen an Umfang, Bedeutung und Glanz sich die keines anderen vergleichen dürfen. Überall in dem weiten Umkreise seiner Werte ist er sich selbst gleich, tief und doch klar, lebendig und voller Haltung, treu hingegeben seinem Gegenstande und doch wieder mit beherrschendem Geiste über ihm waltend. Seit seiner ersten Arbeit anerkannt, das verehrte Haupt einer Schar von bedeutendsten Historikern, so schildert R. M. Meyer Rankes Stellung in der Literaturgeschichte, von Fürsten und Völkern gefeiert, mit Ehren überhäuft, ward der Greis fast der Erbe von Alexander von Humboldts Weltruhm und zentraler Stellung; denn die Führung in der Wissenschaft war von der Naturforschung eine Zeitlang auf die Geschichtsforschung übergegangen. Seine Werte selbst umfassen den gesamten Zeitraum der neueren Geschichte vom Anbeginn des reformatorischen bis an die Grenzen des revolutionären Zeitalters und erstrecken sich innerhalb dieser großen, dreihundertjährigen Periode auf den weiten Kreis der abendländischen Welt, der kulturtragenden, bald kriegerisch entzweiten romanisch-germanischen Völker. Denn nur wer dies ganze gewaltige Gebiet überschaut, wird die welthistorischen Begebenheiten jener Zeiten in ihrer vollen Größe darstellen können; den Kampf der religiösen Bekenntnisse untereinander, wie den des Staats mit der Kirche, das Ringen der modernen Monarchie mit den ständischen Gewalten, den Streit der französischen mit der spanisch-habsburgi-

1. Leopold von Ranke

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schen Macht, deren Erbe in späteren Tagen das neuerhobene Deutschland geworden, um den Vorrang in Europa. Es sind überhaupt die nämlichen Fragen, die noch heut unser geistiges und politisches Leben bewegen, überall sehen wir uns in diesen Rankeschen Geschichtsbüchern auf die Grundlagen unseres öffentlichen Daseins wie unserer inneren Bildung zurückgewiesen. Der jetzt in Hamburg wirkende Historiker Max Lenz hat vor zwei Jahren in einer akademischen Rede von Rankes biographischer Kunst ein liebevolles Bild entworfen und gezeigt, wie diese schon in seinem Erstling, den „Romanisch-germanischen Geschichten“, sich offenbart. Lenz hat auch im Einzelnen nachgewiesen, wie wundervoll es Ranke versteht, „das welthistorische Licht aus der Idee, in der er die Einheit und den Zusammenhang der Begebenheiten erfaßt, hinweg auf Häupter der führenden Persönlichkeiten zu leiten und es in dem ganzen Umkreise seiner Darstellung zu verbreiten, also, daß jeder Winkel davon erhellt und auch die Nebenfiguren, die im Vorbeigehen einmal erwähnt werden, aufleuchten und Gestalt gewinnen“. „Wundervoll zu sehen, wie das Ganze dadurch Einheit und Zusammenschluß erhält, persönliches und allgemeines Leben ineinandergreifen; großartig besonders die Momente, wo er den Reflex dieses Glanzes an den Persönlichkeiten zeigt, in denen sich, wie in Alexander oder Cäsar, die Biographie mit der Weltgeschichte durchdringt“. Ranke erzählt dem Hörer selten, wie die Empfindungen und Äußerungen der Handelnden entstanden, und behauptet niemals, daß ihre Entschlüsse anders hätten motiviert und ausgeführt werden müssen. Gleich einem guten Regisseur hat er alles bereits angeordnet, und lebensvoll schreiten seine Gestalten über die welthistorische Bühne. Deutlich zeigen sich bei ihm die Vorzüge seiner Methode und das Streben, alle Spekulationen abzuwehren, schon in der Vorrede zur „Geschichte der romanischen und germanischen Völker“, dem Werk, das die Geschichte als Wissenschaft eigentlich inauguriert hat, die Erkenntnis als Selbstzweck der Geschichte im Gegensatz zur pragmatischen Auffassung hin, indem er sagte: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Historie zu belehren, beigemessen; so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen ist.“ Diese „Objektivität“ und „Gerechtigkeit“ ist nach dem Tode Rankes vielfach in Mißkredit geraten. Die „armselige Unfähigkeit zur Leidenschaft“ hat man verspottet. „Der zu bloßem Geist zersetzte, leiblicher Reaktionsfähigkeit verlustige Mensch weigert sich zu hassen, zu zürnen, zu lieben und zu kämpfen und versucht aus dieser Not eine Tugend zu machen, indem er vorgibt, alles zu verstehen und alles zu verzeihen“ (Gundolf). Den literarischen Ansturm gegen den timiden Historizismus haben Nietzsches „Unzeitgemäße Betrachtungen“ eingeleitet. Darin ist im zweiten Stück aus den Jahren 1873 / 74 ausgesprochen: „Es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinn, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt.“ Aber später, im „Willen zur Macht“, glaubte gerade Nietzsche die „Objek-

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I. Zur Geistesgeschichte der „deutsch-jüdischen Symbiose“

tivität“ des letzten Jahrhunderts als ein Zeichen der Erstarkung deuten zu müssen. Wo die Menschen ehemals verdammten oder anbeteten, seien sie heute zu kühlen, unbefangenen Zuschauern geworden, den fremdesten und fernsten Gedankenreihen zugänglich. In dieser Objektivität liege keine fatalistische Willensschwäche, sondern sie sei ein untrüglicher Beweis menschlichen Wachstums im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten, erfüllt von Märtyrern und Bekennern, voll von Bewegungen und Taten, denen die Erschöpfung auf dem Fuße folgte. „Diese Menschheit ist weniger effektvoll, aber sie gibt ganz andere Garantien der Dauer, ihr Tempo ist langsamer, aber der Takt ist viel reicher.“ Freilich: Ranke war nicht zum praktischen Politiker geschaffen; ihm war es nicht gegeben, sich aus dem zarten Netz seiner Gerechtigkeiten und Wahrheiten zum derben Wollen und Begehren herauszuwinden. Zu seinem eigenen Glück hat er diese Grenzen seiner Begabung schon am Anfang seiner wissenschaftlichen Wirksamkeit am eigenen Leib erfahren müssen. Als zur Zeit der Julirevolution der preußische Staat nach publizistischen Waffen gegen die Demokratie suchte, fiel die Wahl auf Ranke. Er sollte diese Waffen schwingen. Ohne Glück! Er stritt in einer „politischhistorischen“ Zeitschrift für das Programm der Einheit des germanisch-römischen Völkervereins: eine gedankenblasse Biedermeierei. Heine höhnt über die „gute Seele Ranke“, gemütlich „wie Hammelfleisch mit Teltower Rübchen“. Die Zeitschrift entschlief nach einem Lustrum eines seligen Todes (1836). In Zukunft wandte sich Ranke von der historia militans endgültig ab. Noch ein Wort über Rankes nationale und preußische Stellung. In der milden Luft seines anschaulichen Denkens erschien der Staat wohl als vornehmster Träger menschlicher Geschichte; Ranke aber blieb weit davon entfernt, die freiheitlich höhere Sphäre der geistigen und vor allem der religiösen Bewegungen zu vernachlässigen. Rankes Nationalitäts- und preußische Gesinnung – das hat vor allem Erich Marcks am besten aus seinen Schriften herausgelesen – ist doch ohne jede aggressive und aktive Kraft alles bei weitem mehr Erkenntnis, Überzeugung, Gefühl von wesentlich wissenschaftlicher Art als Wille; die Legitimitätsempfindungen sind persönlich lebendiger in ihm als die eigentlich nationalen und als der preußische Ehrgeiz. Rankes Beziehungen zu seinen Mäzenen, namentlich zu König Maximilian II. von Bayern, waren immer auch vom Standpunkt einer aufrechten Demokratie restlos erfreulich und stellen rein menschlich beiden Teilen ein ehrendes Zeugnis aus. An der Gegenwartsbedeutung der Geschichtsschreibung Rankes kann nach alledem kein Zweifel bestehen. Die neue Textausgabe der Meisterwerke enthält in zehn Bänden die Deutsche Geschichte, das Vermächtnis des Meisters an die Deutsche Nation, ferner die römischen Päpste, die Geschichte Wallensteins und einen Band kleinerer Schriften. Rankes Päpste sind sein Meisterwerk schlechthin. In der allgemeinen Literatur der Dreißigerjahre steht es in erster Reihe, wie es seinem Verfasser denn auch sofort eine Weltberühmtheit einbrachte. In Deutschland selber war es von dem gleichzeitig

1. Leopold von Ranke

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erschienenen „Leben Jesu“ von Strauß an epochemachender Wirkung weit überragt; an unvergänglicher Wahrheit ist es ihm dagegen unendlich überlegen. Von diesem Werk sagt Rankes Biograph Alfred Dove: „Es befreit den Leser, nicht wie jenes durch Krieg, sondern im tiefsten Frieden; mit einem so reinen und glücklichen Gefühl überwundener Gefahr blickt es auf die gewaltigsten Kämpfe der Vergangenheit zurück, wie das selbst ein Ranke in späteren Welttagen wohl nicht völlig wieder vermocht hätte.“ Ob Leopold von Ranke wieder modern werden kann? Wer weiß es? Es wäre kein schlechtes Zeichen für unsere Zeit.

2. Verändertes Geschichtsbild. Die Emanzipation vor 125 Jahren in neuer Geschichtsbetrachtung – Wilhelm v. Humboldt Aus bloßer Neugierde oder aus einem abstrakten Erkenntnistrieb vertiefen wir uns nicht in die jüdische Geschichte. Aus ihr sollen vielmehr Kräfte entbunden und Werte geschaffen werden. Dem Geschichtsschreiber vertrauen wir uns am liebsten an, der leidenschaftslos und vom Zeitgeist bewußt distanziert, aus den Eigengesetzen der Epoche, die er darstellt, die Feststellungen trifft, wie es eigentlich gewesen ist. Unter der Herrschaft von freier Forschung und Lehre – scheint uns – kann diesem Ziel am ehesten nähergekommen werden. Beurteilung und Deutung der festgestellten Tatsachen, Kräfte, Tendenzen, Persönlichkeiten und Einrichtungen werden mit der sichtbar gewordenen Veränderung ihrer Wirkungen und Folgen oft stark wechseln. Bei vielen Sachverhalten, Motiven, Personen gilt auch der Satz, daß nur der Gleiche den Gleichen verstehen könne; von einer Gemeinsamkeit des Denkens, Wollens, Fühlens und Beurteilens kann jedenfalls nicht mehr die Rede sein, wenn wir innerhalb der weiträumigen jüdischen Geschichte in die Nähe der ,,Schnittfläche“ des jüdischen und außerjüdischen Lebenskreises, also der „Beziehungen“ etwa von Deutschen und Juden, namentlich ihrer rechtlichen und sozialen Gestaltung geraten. Das epochale Ereignis der Gleichstellung der Juden mit den Deutschen vor etwa 125 Jahren in Preußen und in anderen deutschen Ländern erfordert in dem historischen Augenblick der Abkehr von dem Prinzip eine Nachprüfung des gesamten Komplexes der deutschen Judenemanzipation. Die innerjüdische Beurteilung einerseits und die Deutung des Vorganges als eines Teiles der deutschen Geschichte andererseits müssen dabei getrennte Wege gehen. Die rein jüdische Wertung der Emanzipation war nie einheitlich, sie hat in der Vergangenheit oft gewechselt und ist heute in einer neuen Wandlung begriffen. Eine Geschichte der einander ablösenden jüdischen Urteile über das mit der Gleichberechtigung Erreichte, über die Motive und Ziele der Gleichberechtigungsbewegung, vor allem über die damit zusammenhängenden jüdischen und nichtjüdischen Persönlichkeiten ergäbe ein buntes Bild. Hier sei an zwei neuere, entgegengesetzte historische Bewertungen von jüdischer Seite erinnert, die besondere Berühmtheit erlangt haben. Vor 45 Jahren hat Achad Haam in dem oft zitierten Aufsatz „Awduth b’thoch cheruth“ („Knechtschaft in der Freiheit“) die Opfer im einzelnen beschrieben, um die die westeuropäische Judenheit die Gleichstellung erkauft hat; sie habe vor allem ihr natürliches Selbstgefühl für ihre „Rechte“ darangegeben und habe sich selbst in die dauernde

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Zwangslage einer ängstlich auf die Stimmung der Wirtsvölker lauschenden Rücksicht versetzt. Im Jahre 1912 erschien zur hundertsten Wiederkehr des Jahrestages der preußischen Judenemanzipation, „zur würdigen Begehung des bedeutsamen „Gedenktages“, das zweibändige Werk von Ismar Freund: „Die Emanzipation der Juden in Preußen“, in der Hauptsache eine Quellenpublikation, der eine zusammenhängende Darstellung der Vorgänge und ihrer Hintergründe vorangestellt war. Hier wird das Ereignis als der epochale endgültige Wendepunkt in der Geschichte der preußischen Juden behandelt. Mitten in den schmerzhaften Prozess der Ausgliederung und Rückgängigmachung der deutschen Judenemanzipation fielen drei Gedenktage, die in diesen Blättern („J. R.“ Nr. 74 v. 14. 9. 34, Nr. 102 / 3 v. 21. 12. 34 und Nr. 28 v. 5. 4. 35) der Anlass zu einer gründlichen Revidierung unserer innerjüdischen Gesamtauffassung von den rechtsgeschichtlichen Vorgängen vor 125 Jahren wurden: der 100. Geburtstag Treitschkes am 15. September 1934, der 100. Todestag David Friedländers am 25. Dezember 1934 und zuletzt der 100. Todestag Wilhelm von Humboldts am 8. April 1935.1 Aber erst neuerdings (im September 1935) wird Wilhelm von Humboldts Anteil an der Lösung des Judenproblems in Deutschland in einem grundlegenden historischen Werk nun auch von nichtjüdischer Seite nicht mehr wie fast durchweg bisher von der Voraussetzung der angeblich längst zur unwiderruflichen europäischen Tatsache gewordenen staatsbürgerlichen Gleichheit behandelt, sondern von der Wertvoraussetzung der natürlichen Lösung der Judenfrage nach dem Grundsatz der reinlichen Scheidung (vgl. „Wilhelm v. Humboldt und das Problem des Juden“ von Wilhelm Grau2, Hanseatische Verlagsanstalt Hamburg 1935). Der Einsatz Humboldts für die Juden erhält hier nicht nur einen der bisherigen deutschen Geschichtsauffassung entgegengesetzten Wertakzent, sondern die Haltung des deutschen Staatsmanns Humboldt zur damaligen Judenfrage wird zum Anlaß einer grundsätz1 [Die genannten Gedenk-Artikel über Treitschke und Friedländer folgen hier I.5 und I.3; Feuchtwanger spricht nachträglich von einer Trilogie der Revidierung der innerjüdischen Gesamtauffassung der Emanzipation.] 2 Wilhelm Grau hat vor einiger Zeit in der Hamburger Zeitschrift „Deutsches Volkstum“ (Septemberheft 1935, Herausgeber Dr. Stapel) einen Aufsatz „Die Judenfrage als Aufgabe geschichtlicher Entscheidung“ veröffentlicht und darin die Grundsätze dargelegt, die seitens der neuen deutschen Historiker-Generation bei der Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland anzuwenden sind. Er gibt der Meinung Ausdruck, daß durch die jüdischen Geschichtsschreiber dieses ganze Kapitel in ein falsches Blickfeld gerückt sei; die deutsche Forschung habe bisher vernachlässigt, an diesen Teil der Geschichte von einem deutschen Standpunkt ohne Berücksichtigung der jüdischen Darstellungen heranzugehen. Wo immer man auf das Problem stoße, müsse es von nun an als „ein Stück deutschen Schicksals empfunden“ und „die Bahn der jüdischen Sehweise verlassen“ werden. Das hier behandelte Buch über Humboldt ist wohl als der erste grundlegende Versuch dieser Art in bezug auf die Emanzipation zu werten; gerade das macht es auch für uns so wichtig. Der Verfasser soll, soweit bekannt geworden ist, auch innerhalb des neugegründeten Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland, dessen feierliche Eröffnung am 19. d. Mts. stattfand, ein Institut für Judentumskunde leiten. [Red.]

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lichen Erörterung der Geschichte jüdischen Einflusses auf die Entwicklung deutschen Geisteslebens genommen. So völlig anders wir von unserem innerjüdischen Standpunkt die Akzente bei der Bewertung von Gestalten wie der Rahel oder von Moses Mendelssohns Tochter, Dorothea Schlegel, zu setzen gewohnt sind, das Urteil über Humboldts Gleichberechtigungsideen hat sich in der letzten Zeit selbst bei Kennern der jüdischen Kultur und Geschichte wie Elbogen, die nicht wie Achad Haam die Emanzipation als Selbstpreisgabe des Judentums schlechthin verneinten, bemerkenswert gewandelt (vgl. Elbogens neueste Geschichte der Juden in Deutschland, Seite 198). Wilhelm v. Humboldt hat schon 1856 seinen klassischen Biographen in Rudolf Haym gefunden, Eduard Spranger hat das philosophische Werk Humboldts, namentlich sein Humanitätsideal, Bruno Gebhardt sein staatsmännisches Wirken dargestellt, die drei Gelehrten unter erschöpfender Auswertung des ausgedehnten Aktenmaterials. 1927 hat dann Kaehler den Nimbus des Humboldtschen „Idealismus“ ziemlich rauh zerstört, indem er nachzuweisen suchte, daß die charakteristische Lebenstheorie Humboldts, das Ideal universaler Selbstbildung des interessanten Individuums, letzten Endes nichts anderes gewesen sei als der Ausdruck eines schöpferischen Unvermögens, einer hilflosen Schwäche des in Wahrheit nicht klassischen, sondern romantischen Persönlichkeitstypus. Auf diesem Weg der totalen Verschiebung der Gesamtansicht Humboldts geht Grau weiter, indem er auch die Judenbeziehungen Humboldts und vor allem seine Judenpolitik umwertet. Es handelt sich hier jedoch für uns um viel mehr als um die wissenschaftliche Andersbewertung eines uns vertrauten Geschichtsbildes, das bisher in der neueren jüdischen Geschichte einen Ehrenplatz einnahm. Hier wird zum erstenmal jüdische Geschichte in Deutschland von der Gegenseite her als Geschichte volksfremder und volksschädlicher Eindringlinge, als Geschichte deutscher Beeinträchtigung durch jüdische Einflüsse dargestellt, nicht etwa gehässig, sondern mit einer bemerkenswerten Stoffbeherrschung und auch methodisch einwandfrei; so wie wenn etwa biblischer Stoff vom anderen Ufer her, von Amalekitern oder von den Ägyptern mit national-amalektischen oder ägyptischen Wertakzenten, jedenfalls ausgesprochen antijüdisch behandelt würde. Wir müssen es uns abgewöhnen, darüber unruhig zu werden, unsere Objektivität zu verlieren und beleidigt zu sein. Ueber „Humboldt und die Juden“ seinen Umgang mit jüdischen Persönlichkeiten, die sich über den Durchschnitt erhoben, über seine judenpolitische Haltung am Wiener Kongreß, über die Statuten der Universität Berlin, ließe sich von unserem innerjüdischem Standpunkt noch sehr viel sagen, das auf alle Fälle anders ausfiele als die bisherige konventionelle jüdische Geschichtsbetrachtung, aber wohl auch ganz anders als Grau es sieht. Wir haben uns jedenfalls die neue Erkenntnis anzueignen, daß Wilhelm von Humboldt, der Judenfreund, die Gleichstellung der Juden befürwortet mit dem Hintergedanken vieler Verfechter der Assimilation, nämlich mit dem deutlichen Hintergedanken der Selbstauflösung des Judentums. Hieraus müssen wir unsere Konsequenzen für die Beurteilung Humboldtscher Ideen zugunsten der Juden ziehen. Wir

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kommen dann im Effekt zu gleichen Ergebnissen wie Grau, aus entgegengesetzten Motiven und mit anderen Ausblicken. Wir dürfen nicht nur mit Genugtuung lesen, was der preußische Staatsmann an Henriette Herz oder David Friedländer schrieb; er wollte in Wahrheit um jeden Preis die Zusammenhänge der Juden mit ihrer Vergangenheit und ihrem Volkstum lösen, ohne Gefühl für die tiefere Bedeutung und die unverlierbaren Züge ihrer durch Abstammung und Geschichte geprägten Sonderart. Das verwandelte Geschichtsbild verdient, wie die neue Geschichtsbetrachtung überhaupt, unsere ernsteste Aufmerksamkeit. Mit dem alten Bild der Geschichte der Emanzipation der Juden in Deutschland kommen wir nicht mehr aus.

3. Ein Vorkämpfer der deutschen Judenemanzipation: David Friedländer. Zum 100. Todestag (25. Dezember 1934) In einem seiner klassischen Aufsätze „Awduth b’thoch cheruth“ (Dem Sinne nach: „die äußere Gleichberechtigung um die innere Unfreiheit erkauft“) hat Achad Haam vor 44 Jahren die mit der Emanzipation gewonnene jüdische Situation in Westeuropa schneidend gekennzeichnet (Max Brod hat in seinem neuen HeineBuch in neuester Zeit wieder an diesen aufwühlenden Essay, der in Band I, S. 121 ff. der neuen hebräischen Achad Haam-Ausgabe und Bd, I, S. 246 der deutschen Ausgabe abgedruckt ist, erinnert): … Wenn unsere westeuropäischen Brüder nicht durch die ihnen gewährten Rechte gefesselt wären, käme es ihnen gar nicht in den Sinn … Missionen oder geistige Ziele des Judentums zu suchen, solange nicht unter ihnen die materielle, „natürliche“ Mission jedes Lebewesens erreicht ist, nach seinen natürlichen Anlagen einer selbstverständlichen Entfaltung seiner Kräfte und Fähigkeiten zuzustreben. Die Juden hätten vor 100 Jahren ihr natürliches Selbstgefühl für ihre „Rechte“ verkauft und sich damit in die Zwangslage einer ängstlich auf die Stimmung der Wirtsvölker lauschenden Rücksicht begeben. Achad Haam fährt dann fort: „Da ich wenigstens für einen Augenblick mich wegwenden möchte von dem furchtbaren materiellen und geistlichen Elend, das mich von allen Seiten in meiner östlichen Heimat umgibt, und Trost suche dort, außerhalb der Grenzpfähle, dort, wo es jüdische Professoren, jüdische Akademiemitglieder … gibt, – dann schillert mir auch dort, durch alle Ehrenzeichen und Titel hindurch, eine zwiefache geistige Knechtschaft, eine moralische und intellektuelle, entgegen. Und wenn mir dann jemand die Frage vorlegen würde, ob ich diese meine Stammesgenossen um ihre „Rechte“ beneide, dann würde ich fest und entschlossen mit einem entschiedenen Nein! antworten“. Max Brod, der die Berliner Judenschaft vor 100 Jahren so glänzend versteht, unterläßt nicht hinzuzufügen: „Bei prinzipieller Zustimmung zu diesem Urteil Achad Haams darf aber doch eines nicht außer acht gelassen werden: die furchtbare, aller Menschenkraft spottende Situation, in die sich gerade jenes Geschlecht der „Erstlinge der Assimilation“ unvorbereitet und plötzlich versetzt sah.“ Nur wer in die innerjüdische Lage in Westeuropa und im Osten, namentlich in Deutschland, von 1500 – 1800 mit allen ihren grauenhaften Verfallserscheinungen – in eine äußerst gefährliche Zersetzung war in dieser Epoche auch das jüdische Eigengut und die jüdische Gesamthaltung geistiger und materieller Art geraten – einen tiefen Einblick getan hat, kann ein gerechtes Urteil über die Vorkämpfer der Emanzipation der deutschen Juden, an ihrer Spitze David Friedländer, fällen. Es mag richtig sein: „Die Scylla der jüdischen Absperrung vermeidend, gerieten sie in die Charybdis der Selbstaufgabe und der damit verbundenen Heuchelei und Hysterie“.

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Aber ebenso unverrückbar steht fest: Das Ziel an sich, das Ziel der Befreiung aus dem menschenunwürdigen Paria-Dasein des von Verachtung und Haßaffekten umspülten Ghettos, der Weg in die allgemeine Kultur, war ein hohes Ziel, der höchsten Mühe edelster Juden wert. In der Tat erschien damals kein Preis zu hoch (übrigens bei allen Richtungen des deutschen Judentums), für den die Freiheit zu erreichen war. Einem David Friedländer standen nicht die unmißverständlichen Erfahrungen des ganzen letzten Jahrhunderts zu Gebote. Er wollte nur unter allen Umständen, um jeden Preis, aus dem Ghetto hinaus, für sich und die preußischen, die Berliner Juden, die er vertrat. So nachsichtig man auch von der strengsten jüdisch, und nur jüdisch betonten Seite her der Gestalt und Wirksamkeit eines Moses Mendelssohn bis heute begegnet, seinem Freund und Schüler, der den deutschen Juden praktisch mit einer unerhörten Zähigkeit und Zielstrebigkeit die Emanzipation erkämpfte, dem Führer der „Generaldeputierten“ der jüdischen Gemeinden Preußens, der die wechselvollen Bemühungen und Vorbereitungen zur Einbürgerung der Juden in das preußische Staatswesen und damit in der Folgezeit in übrigen deutschen Staaten unermüdlich leitete, dem zweitgrößten öffentlichen „Fürsprech“ der deutschen Juden, dem Biedermeier-Schetadlan David Friedländer läßt man nicht das die ganze Situation berücksichtigende Verständnis widerfahren, das die Folge eines unvoreingenommen Studiums seiner ausgedehnten und in die Tiefe gehenden Wirksamkeit sein könnte. Von Heinrich Heine über Graetz bis zum jüngsten national-jüdischen Beurteiler bricht man über David Friedländer den Stab. Noch bei seinen Lebzeiten hat ihm Heine den Rang eines genialen Helfers und Arztes an dem schwer erkrankten jüdischen Corpus abgesprochen und ihn (in einem Brief an Wohlwill vom 2. April 1823) als einen „Hühneraugenoperateur“ gescholten, „durch dessen Ungeschicklichkeit und spinnwebige Vernunftbandage Israel verbluten muß“. Heine wirft ihm und der „Reform“ im allgemeinen eine Verprotestantisierung des Judentums vor; die Reformer unter der Führung von Frieder wollen nichts anderes, meint er, als „ein evangelisches Christentum unter jüdischer Firma“. Heine nahm die Partei des orthodoxen Chacham Bernays gegen die Hamburger liberalen Tempelreformer und auch gegen die Berliner Liberalen, die nach seiner Ansicht dem Judentum neue Dekorationen und Kulissen und dem Souffleur statt eines Bartes ein weißes Bäffchen geben wollen. Viel gröberes Geschütz fährt Graetz auf: er nennt Friedländer einen „Flachkopf“ und spricht seinen Reformbestrebungen die geistige Folgerichtigkeit ab. „Er kaute nur anderer Gedanken wieder und plapperte Stichwörter nach“. „Mit dem praktischen Judentum hatte er gebrochen und sich einige erborgte Gedankenlappen von Mendelssohn zusammengeflickt, … die ihm als geläuterte Religion galten“; … er dünkte sich darum unendlich vorgeschritten“. Auch die neuesten Darsteller wie Dubnow werden der Eigengesetzlichkeit der Gestalt nicht gerecht; und wo sein Wirken nur gestreift wird (zuletzt von guten Kennern der Zeit wie Max Wiener, Siegfried Ucko, Fritz Bamberger), merkt man die alte begreifliche Voreingenommenheit. Wir glauben, daß bei aller Ablehnung der fundamentalen Irrtümer

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Friedländers eine ruhige überlegene Beurteilung ex tunc, aus der Zeit, in der er lebt und ihren Bedingungen, ferner ein Einblick in dieses lange Leben von 1750 – 1834, in die Originalurkunden und Briefe in ihrer seltenen Fülle, auch seine Absichten in ein freundlicheres Licht rücken würde. David Friedländers Leben lief zeitlich dem von Goethe ziemlich genau parallel. Die ersten Zeiten seines Wirkens sind noch tief in die Epoche des Barock-Juden und der Aufklärung eingetaucht. 15 Jahre (von 1771 – 1786) schritt er als treuer, begeisterter Wegebereiter neben Moses Mendelssohn einher, der auch nicht um eine Haaresbreite von der Beobachtung des Religionsgesetzes abwich. Auf diesem Weg folgte ihm Friedländer nicht, umso rückhaltloser blieb er Vollstrecker des Mendelssohnschen Strebens, seine Glaubensbrüder ohne Vorbehalte mitten in die deutsche Kultur hineinzuführen. Die von ihm dazu gebrauchten Mittel trugen ihm den Unwillen der Mitwelt und die schlechte Zensur der Nachwelt ein. Sein Angebot an den Probst Teller, das in die Zeit seines praktischen, mit allen Listen geführten Kampfes um die Aufnahme der Juden in den damaligen Staat als vollberechtigte Staatsbürger fiel, ist häufig mißverstanden worden. Friedländer wollte mit dieser, das Angebot enthaltenden, 1799 anonym erschienenen Broschüre, die sich als „Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herrn Oberkonsistorialrat und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion“ bezeichnete, die Juden in ihrer Erkämpfung der bürgerlichen Freiheit unterstützen. Er, der Aufgeklärte, der mit hingebender Treue das Werk Moses Mendelssohns vollenden wollte, hatte nicht die Absicht, das Judentum preiszugeben, er meinte, mit einem Namenswechsel, gleich wie seine „unaufgeklärten“ Brüder mit einem Schinuj-ha-Schem den Todesengel abzulenken versuchten, er glaubte durch Aufgabe des Wortes „Jude“, mit dem Schwinden dieses Wortes, auf das der Haß und die Verachtung von Jahrhunderten sich gesammelt hatte, seiner Religion und seinen Stammesgenossen eine würdige Stellung neben dem Christentum erstreiten zu können. Dies ist gewiß ein schwerer Mißgriff und zeigt, wie verständnislos jene Generation gegenüber tieferen geschichtlichen Bindungen war; aber – so paradox es klingt – Friedländer wollte dadurch das Judentum „retten“. Das Sendschreiben spricht in höchsten Ausdrücken vom Adel der jüdischen Religion und Sittlichkeit. Man solle nur den Juden die christlichen „Geschichtswahrheiten“, die keine „Vernunftswahrheiten“ seien, etwa den Glaubenssatz von der Gottessohnschaft Christi erlassen, so seien sie bereit, „gewisse Zeremonien“ der protestantischen Religion anzunehmen. Gebe es so einen Weg, vollberechtigte Söhne des Vaterlandes zu werden – das war der Zweck des Sendschreibens – so solle er gegangen werden, und wäre dazu auch das äußere Zeichen des Eintritts in das Christentum, die Taufe (bei gleichzeitiger Bewahrung des Judentums!) nötig. An Friedländers ununterbrochener, unzerstörbarer Anhänglichkeit an die alte jüdische Gemeinschaft, die er mit diesem grotesken Mittel eines freiwilligen Marannentums rehabilitieren will, ist trotz allem nicht zu zweifeln. Seine Pietät für seinen großen Lehrer, dessen hundertjährigen Geburtstag er noch 1829 mitfeiern konnte, sein unausgesetztes Bemühen, die jüdische Gemeinschaft in jeder Richtung, wirtschaftlich, geistig, moralisch zu fördern, ungerechtfertigte Angriffe und Diffamierungen von ihr abzuwehren, leuchtet aus jeder Zeile, aus jeder Äußerung von ihm

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durch. Es ist daher keineswegs ein Widerspruch, wenn der unentwegte Kämpfer für jüdisches Ansehen und Gleichberechtigung dem 1819 gegründeten „Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden“ beitrat, dessen Zielen ein völlig anderes Grundprinzip als ratio und Aufklärung zugrunde lag. Es ist eine Verkennung der Gestalt Friedländers und seiner sich über Generationen erstreckenden bedeutenden Wirksamkeit, wenn der neueste Biograph des „Kulturvereins“, Siegfried Ucko, die Mitgliedschaft Friedländers als einen „lebenden Anachronismus“ bezeichnet. Der Schöpfer des „Lesebuchs für Jüdische Kinder zum Besten der jüdischen Freyschule“ aus dem Jahr 1779, das „Sendschreiben“ an den Probst von 1799 und die Mitgliedschaft am Kulturverein von 1819, das sind keine einander ausschließenden Erscheinungen. Der 79jährige Friedländer bezeugt in einem Brief an Moses Moser, der zu den Gründern des Vereins für Kultur und Wissenschaft der Juden gehörte, seine unbegrenzte Verehrung für Moses Mendelssohn und weist eine Redewendung des jüdischen Geschichtsschreibers Jost mit aller Schärfe zurück, worin dieser von der „Maske und der Heuchelei“ Mendelssohns spricht. David Friedländer, dem Geschlecht der „Erstlinge“ der Emanzipation angehörend, ihr Führer und „Fürsprech“ führte die Juden aus dem Ghetto und hätte sie dabei fast aus dem Judentum selbst herausgeführt. Seine Illusionen und Irrtümer waren die Illusionen und Irrtümer seiner Generation; in jenem Sendschreiben an Teller ist die große Täuschung am handgreiflichsten: „… Der mächtigste Gewinn (!! – A. d. Red.) für die Juden ist auch wohl der, daß die Sehnsucht nach dem Messias und nach Jerusalem aus den Herzen sich immer mehr entfernt, so wie die Vernunft diese Erwartung als Chimäre immer mehr verwarf. Immer möglich, daß einzelne in Klausen verschlossene oder sonst von den Zeitgeschäften sich entfernende Männer noch dergleichen Wünsche unterhalten in ihrem Gemüt; bei dem größten Teil der Juden, wenigstens in Deutschland, Holland und Frankreich, findet der Gedanke keine Nahrung mehr und wird endlich bis zur letzten Spur vertilgt werden.“ Die Geschichte und die „Vernunft“ haben diese Deutung und Prophezeiung widerlegt. Trotzdem ist die Gestalt David Friedländers aus der Geschichte des deutschen Judentums nicht wegzudenken; David Friedländer hat den ehernen Reif des Ghetto gesprengt und den Weg ins Freie gewiesen. Von der Freiheit einen besseren Gebrauch machen als es die Enthusiasten taten, die den ersten Schritt in das Licht zu machen glaubten und dabei Unbefangenheit und innere Freiheit trotz Ehrenzeichen und Titel verloren, ist einer neueren Zeit aufgegeben, die noch vor der Lösung ihrer Aufgabe steht. Friedländer war ein Mann dreier Generationen. Nicht er – ganz gewiß nicht sein verschnörkelt erdachtes „Sendschreiben“ – hat die Berliner Taufbewegung zu Anfang des 19. Jahrhunderts beabsichtigt. Daß diese radikale Assimilationsbewegung einsetzte, deren Vorbote er war, ist eine Wirkung der Zeitverhältnisse. Die „aufgeklärten“ Juden hatten jedes Gefühl für die tiefe Bedeutung von durch Abstammung und Geschichte geprägtes Wesen verloren, sie wollten um jeden Preis die Zusammenhänge mit ihrer Vergangenheit und ihrem Volkstum lösen. Der Gedanke, europäische Kultur zu ergreifen und doch das eigene Volkstum zu bewahren und zu be-

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jahen, lag fern. Ihn konnte vielleicht erst ein späteres Geschlecht, das durch die Assimilation durchgegangen war, erfassen. Die noch heute in Friedländers Fußstapfen Wandelnden dürfen sich auf ihn nicht berufen; denn sie haben nicht mit Mendelssohn und seiner Zeit den Rausch der ersten Berührung mit Europa mitgemacht, und ihnen kann auch nicht zugute gehalten werden, daß sie nicht wissen konnten, was der Judenheit 1834 – 1934 widerfuhr.

4. „Die Religion der Gebildeten“. Zum 100. Todestag von Schleiermacher (gestorben 12. Februar 1834) Es geht um viel mehr als um eine verehrungswürdige Gestalt des deutschen klassischen Geistes und um ihre engen Beziehungen zu den bekannten BiedermeierJüdinnen, zu Rahel Varnhagen, Henriette Herz oder Dorothea Schlegel. Der 100. Todestag des großen Kirchenmannes und Philosophen soll nur der äußere Anlaß sein, in diesen Blättern ein die absolut zentrale jüdische Existenz hart bedrängendes Problem in der hier gebotenen gedrungensten Form neu aufzurollen und es ohne fremde Rücksichten dem Zwielicht zu entreißen, dem es schon viel zu lang (nicht unabsichtlich) bis jetzt überantwortet war. Schleiermacher war nicht mehr noch weniger als der Begründer der modernen Religionsauffassung, der Stifter der noch heute in Westeuropa herrschenden „Religion der Gebildeten“, für die die Schranken der Konfession und des Dogmas nicht mehr existieren, zum mindesten nicht mehr die Lebens- und Denkformen bestimmen. Die Religion des Herzens und des Gefühls unter „Nützlern und Vernünftlern“ wiederzuwecken, Religiosität und „höheren Sinn“ unter Religionslosen zu verbreiten, das setzte sich dieser weithin wirkende Theologe und Philosoph zur Aufgabe, und diese Funktion erfüllten um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts seine berühmten „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern.“ Die Frontstellung der „Reden“ ist beschlossen in der Formel: „Religion ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.“ Moralismus und Intellektualismus sollten damit gleichmäßig abgewehrt werden. Der Religion soll „eine eigne Provinz im Gemüt“ gehören; es ist für sie angeblich charakteristisch, daß sie „auf eine eigentümliche Art das Gemüt bewegt“, daß sie „alle Tätigkeit in ein anstaunendes Anschauen des Unendlichen auflöst“. Die so entstandene Gemütsstimmung wird des näheren von Schleiermacher als „fromme Empfindung“ und später bekanntlich als „schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl“ definiert. Zunächst also ist, was Religion danach auszeichnet, ein passives Verhalten. Es ist nicht zu verwundern, daß die deutschen Juden, als die Ghettomauern etwa gleichzeitig mit dem Auftreten Schleiermachers fielen und die eisernen Bänder des „Gesetzes“ allzu plötzlich barsten, begierig sich der neuen „Religion des Herzens“ anschlossen, ihre alten Gesetze und Gebräuche „verinnerlichten“, bis das, was früher geschlossene unverbrüchliche Seinsform war, sich in frommes pietätvolles Gefühl verflüchtete und von dem Filigranwerk der jüdischen Pflichtenlehre, die täglich, stündlich vom Aufstehen bis zum Niederlegen geübt und gelebt wurde, nur mehr die spärlichen Reste einer immer unverbindlicher werdenden Konvention, ein

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paar Anstandsvisiten und einige verlegen eben noch gehaltene Bräuche übrig blieben. Kants Wort vom gestirnten Himmel, Goethes Verehrung der Sonne als einer Offenbarung des Höchsten, kurz, die bekannte idealistische Erweiterung des Offenbarungsbegriffes, das war der Glaube des Bürgertums im 19. Jahrhundert geworden, und in dieser Richtung lag auch die Religion der gebildeten Juden Westeuropas in dieser Zeit. Die alte voremanzipatorische religiös-gesetzliche Ordnung, die den ganzen Menschen ergriff und alle Lebensgebiete durchdrang, war ein- für allemal gesprengt; eine totale jüdische Ordnung war von nun an für alle jüdischen Richtungen in Deutschland ein nicht wieder herzustellender Zustand, der der Vergangenheit angehörte. Darum sind Schleiermachers Spuren auch sehr deutlich in der westlichen Orthodoxie zu spüren. „Für einen Ostjuden, der aus der Distanz seiner eigenen jüdischen Totalität nach dem Westen schaute, war darum der Abstand zwischen rechts und links von weit geringerem Belang, als sich deutsche Orthodoxe oder Reformierte diesen Unterschied einredeten“ (Max Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, S. 8). Der Prediger des evangelischen Deutschlands wurde der ungesalbte Lehrmeister des deutschen Rabbinats. Wie Kant, der Zerstörer der philosophischen Metaphysik, unter den deutschen Juden die begeistertsten Verehrer und scharfsinnigsten Interpreten fand, so stand von nun an Schleiermacher in den deutschen Synagogen (nicht nur in den Orgelsynagogen) als unsichtbarer Geist neben der Kanzel. Er war, wie ihn sein Biograph Dilthey nannte, in der Tat „der Kant der Theologie“, der „vom Dogma auf die Religion zurückging“, der vor allem die theologische Metaphysik mit ihren Gegensätzen von Rationalismus und Supranaturalismus auflöste. Von David Friedländers „Reden, der Erbauung gebildeter Israeliten gewidmet“ (Berlin 1815) bis Caesar Seligmann („Wo ist die Wahrheit? Drei Reden über Religion und Judentum“; Hamburg 1897) wird die Frage „Was ist wahr?“ nur von der anderen aus „Was ist erlebt?“ gestellt und die „Religion des Herzens“, die subjektive Frömmigkeit vor dem objektiven Glaubensinhalt, der cognitio Dei, gepredigt. Das ist alles nicht verwunderlich. Denn das deutsche Judentum des 19. Jahrhunderts hat schlechthin alle Moden des Geistes mitgemacht und ist unbefangen, völlig naiv in die extravagantesten Verkleidungstücke geschlüpft. Aber daß gerade des weit berühmten romantischen Theologen verführerische Lehre der ureigentliche Gärungsstoff in dem geistigen Verwandlungsprozeß des nachemanzipatorischen Judentums wurde, ist bis jetzt noch nicht deutlich erkannt worden. Nicht nur seine Auflösung des Glaubens und der geschlossenen nicht fragenden, einfach gläubigen Lebensform in subjektive Gefühlsreligion, sondern die bei uns lange so beliebte romantische Abart echter Mystik alten großen Stils, als Kulturmystik und Ästhetizismus unter uns bis heute grassierend, ist auf Schleiermacher in gerader Linie zurückzuführen. Dieser Verwandlungsprozeß und die Einschmelzung romantischen Geistesguts ging deshalb so verdeckt vor sich, weil das religiöse Selbstbewußtsein und die theologischen Auseinandersetzungen im Judentum im Zeitalter der Emanzipation scheinbar eindeutig Front gegen die romantische Religiosität des Gefühls und des Herzens nahmen. Es war in der Tat ein unablässiges Sicherwehren und –

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Erliegen an „das gefühlhafte unmittelbare Bewußtsein“, an die Religion des Herzens statt des rationalen Denkens über Gott oder der wortlosen Befolgung der Gebote. Daß die jüdische Religion im betontesten Sinn dem „Typ Schleiermacher“, seinem psychologischen Frömmigkeitsbegriff widerspricht, hat man wohl immer genau gewußt. Die hervorragenden geistigen Repräsentanten des Judentums haben sich ausnahmslos in der fraglichen Zeit theoretisch, in ihren Äußerungen und Systemen gegen den Schleiermacherschen Religionsbegriff ausgesprochen. Abraham Geiger will das Judentum allein auf die folgerichtige Wahrheit der Idee, nicht auf das Gefühl stellen, aber auch nicht auf eine historische Autorität. Steinheim hat das umfangreichste und eigentümlichste jüdische Religionssystem im 19. Jahrhundert verfaßt. Sein Werk „Offenbarung nach dem Lehrbegriff der Synagoge“ (I. Teil 1835) hat die Aufmerksamkeit in neuester Zeit in erhöhtem Maße auf sich gezogen; Andorn, Schoeps und Max Wiener haben der imponierenden Spekulation Steinheims ausführliche Darstellungen gewidmet. Sein orthodoxer Supranaturalismus, sein Kampf gegen die Psychologisierung der Religion und gegen ihre Umwandlung in pantheistische oder idealistische Metaphysik, sein Verständnis für Hamann und Jacobi richten sich eindeutig gegen Schleiermacher. Man wich jedenfalls eher den praktischen Fragen der Lösung der dogmatischen Bindungen im 19. Jahrhundert aus, geschweige denn daß man eindeutig die gesetzestreue Lebensform abtragen wollte. Aber die Predigt selbst, das Wort an die Gemeinde, die größtenteils sonst nichts mehr „Jüdisches“ hörte, vor allem aber das praktische Endergebnis in dem Kampf der religiösen jüdischen Führer lief am Schluß des 19. Jahrhunderts eindeutig auf Schleiermacher hinaus. Die Glaubenssätze verlieren in den jüdischen „Glaubenslehren“ jener Epoche jeglichen Erkenntniswert, sie sind auf eine einzige Ebene aufgetragene Erbauung. Diese Glaubenssätze des modernen Judentums, „das nichts mehr hält“, vermitteln nicht Erkenntnis oder verbindliche Befehle, sondern „repräsentieren das religiöse Gefühl“. Während man theoretisch und in ausführlichen Religionssystemen sich noch gegen die „romantische Religion“ wehrte, stand man praktisch mitten in ihrer Propagierung, vor allem in der Predigt. Den Stil der Schleiermacherschen „Reden über die Religion“ hat zuletzt Gundolf in einer seiner besten und letzten Schriften einfühlend beschrieben, ihren Inhalt und die ganze unheilvolle Wirkung des „Kirchenvaters des 19. Jahrhunderts“ (wie ihn Harnack nannte) hat der bedeutende Züricher Theologe Emil Brunner in seinem großartigen Werk „Die Mystik und das Wort“ (mit dem Untertitel: „Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers“) in unübertrefflicher Weise nachgezeichnet. „Eine wallende und wehende Anmut des Gesamtflusses“ spürt Gundolf in diesen „Reden“. „Sicherer Griff oder scharfe Zeichnung der Umrisse ist nur in der Polemik gegen die Aufklärer“. „In den positiven Stellen ist Schleiermacher der salbungsvolle Rhetor der Deutschen“. Gundolf geht dem Begriff der „Salbung“ auf den Grund, ja er gerät offensichtlich im Laufe der Erklärung dieses Begriffes stark in Wallung. Wir aber haben triftige Veranlassung, hier Gundolf aufmerksam zu folgen, da seine

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Charakteristik unsere These der Schleiermacher’schen Infizierung der synagogalen und – außersynagogalen Predigt bis auf unsere Tage erhärtet. „Rednerische Salbung entsteht dort“, erklärt Gundolf, „wo der Redner ein Gedachtes als gefühlt vortragen will … Die Region, wo Schleiermachers Erhebungen gedeihen, ist nicht das Herz, sondern das Hirn, aber er will Gefühl und Anschauung zeigen, wo er nur Nachdenken und Vorstellung hat … Schleiermacher ist wesentlich Intellektualist und Empfindungsmensch, doch will er Religion und Pathos daraus machen: daher seine fatale Salbung. Da er unter den derart Beanlagten in Deutschland der weitaus gebildetste und überlegenste Geist war, hat er der Salbung einen Schwung und eine künstlerische Vollendung zu geben gewußt, die vorbildlich wirkte: unter den geistlichen Schönrednern bleibt er der Meister und Verführer. Aber trotzdem hat er eine der widerlichsten Stilerscheinungen in der deutschen Redekunst erst legitimiert: das ölig leere Predigergeschwätz, das mit Schöngeisterei und Herzensfülle kokettiert, und dem wir die umständlich dünne oder massige Schulmeisterei der alten Orthodoxen und Aufklärer noch vorziehen, weil sie ehrlicher ist. Auch hier ist die Vermanschung zwei streng getrennter, wenn schon nicht notwendig sich ausschließender Kräfte, der Religion und der Bildung, das Unreine. Wer vom Heiligen erfüllt ist, der bedarf nicht des Geschmacks, um es heilig vorzutragen, und wer seinen Geschmack bewußt pflegen will, darf sich nicht als Gottbegeisterten aufspielen.“ Das ist ein strenges Gericht. Und noch strenger lautet das Urteil des Theologen Emil Brunner über den Inhalt der Lehre, der er eine unter der Oberfläche christlich aussehender Formulierungen begangene Verfälschung des Christentums und grundsätzliche Andersartigkeit nachweist. Wenn wir heute in Gestalt einer Zentennar-Erinnerung an Schleiermacher die jüdischen Illusionen einer vergangenen Epoche verurteilen, so brechen wir damit den Stab über unsere eigenen Illusionen. Nostra culpa, nostra maxima culpa! Einen nicht mehr rückwärts zu bewegenden geschichtlichen Vorgang, den Prozeß der Entjudung, hatten wir ohne Sentimentalität zu beobachten; unser Ich, den Widerstreit unserer Gefühle mußten wir bei dieser Beobachtung auslöschen. Aber dieses methodisch unerläßliche kühle Unbeteiligtsein geben wir im Augenblick der Beendigung unserer Analyse wieder auf und ziehen daraus die Lehre für unsere turbulente Gegenwart: „Die Religion der Gebildeten“, das ist unsere eigene Religion. Das ist nicht nur die Religion der weitaus überwiegenden Zahl der deutschen Juden, sondern auch das Glaubensbekenntnis der meisten jüdischen Bewohner des Heiligen Landes und der, die sich anschicken hinaufzuziehen. Von zwei „Lebensstilen“ wissen wir in Palästina, von zwei ungleichen Gruppen – beide echte ganz erfüllte Juden – die einander nicht verstehen können. Und immer drängender und drohender wird die Frage, „ob eine tiefgründige Renaissance, eine Neubefruchtung der jüdischen Schaffenskraft bei einer durchgehenden Säkularisierung des Lebens in Palästina möglich ist?, ob die hebräische Sprache und die jüdische Siedlung genügen, die Erhaltung des Judentums zu sichern, ob nicht etwa die weiter und weiter um sich greifende europäisch-amerikanische Egalisierung die ureignen jüdischen Formen und Begriffe überwuchert und zum Erliegen bringt“ (vgl. „Zwei Lebensstile“, Jüd.

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Rundschau v. 14. 10. 1932). Diese Sorge ist heute begründeter als je; sie wird in der Diaspora regelmäßig, wenn der Druck von außen weicht oder nachläßt, zum schleichenden Gespenst des Untergangs des Judentums. Der Zwiespalt des religiösen und areligiösen Judentums in Palästina und bei uns, die Frage nach der „richtigen“ jüdischen Religion ist hier nicht zu lösen. Aber ein gegenseitiges Verständnis wird noch am ehesten erreicht, wenn wir die geistige Herkunft beider Gruppen mit historischer Akribie nachzeichnen. Wir konnten nur eine sehr knappe Skizze einer nicht unwichtigen Seite des historischen Problems geben. Wir können keine intellektuelle Unredlichkeit an die Stelle der „Religion der Gebildeten“, die auch die Religion der meisten westeuropäischen Juden geworden ist, setzen. Daß ihr Begründer der große preußische Patriot und Berliner evangelische Prediger Schleiermacher war, wollten wir anläßlich seines 100. Todestages zeigen.

5. Zum 100. Geburtstag Heinrich von Treitschkes (geboren 15. September 1834) Die Abneigung führender deutscher Historiker gegen den jüdischen Anteil am deutschen Kulturschaffen oder ihre antijüdischen Affekte im Allgemeinen kommen bis zum heutigen Tag meistens nur versteckt oder gelegentlich hervor. Es ist der Ton, der etwa Eduard Meyers, des großen Lehrers der antiken Geschichte an der Berliner Universität, „Geschichte der Entstehung des Christentums“ zu einem „antisemitischen“ Werk bei allen Verdiensten macht. Und andere, heute noch unter uns weilende Historiker machen in ihren der reinen Forschung dienenden Arbeiten aus ihrer anti-jüdischen Haltung, wenn jüdische Fragen auch aus abgelegenen Zeiten und Räumen ihren Weg kreuzen, kein Hehl. Das war auch vor 1933 so. Der einzige deutsche Historiker großen Formats, der in seinem Hauptwerk die jüdisch-deutsche Frage frontal anpackt und mit offenem Visier das hallende Wort: „Die Juden sind unser Unglück“ ausgesprochen und ausführlich begründet hat, war Heinrich von Treitschke, der Berliner Historiker, der vor 60 Jahren, im Jahre 1874, Leopold von Ranke in der Funktion ablöste, der größte Geschichtslehrer der deutschen akademischen Jugend zu sein. „Man kann seine Wirkung als politisch-historischer Lehrer der Generation, die zwischen 1874 und 1896 akademische Bildung genoss und in das politische Leben hinaustrat, kaum hoch genug anschlagen“, schrieb Friedrich Meinecke im Jahre 1914 in seinem berühmten Treitschke-Aufsatz für das Jubiläumswerk „Hundert Jahre deutscher Burschenschaft“. Die Stellung Treitschkes zu den Juden ist von Anfang an aus einem Guß, ohne Bruch und ohne inneren Widerspruch, gleich weit entfernt von Chauvinismus oder Rassenhaß wie von Blindheit für die Rangordnung der Werte, namentlich der Persönlichkeit und der Leistung. In den beiden großen Kapiteln seiner „Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert“ (im 9. Kapitel des III. Bandes und im 7. des IV. Bandes) ist den großen Fragen des Einflusses jüdischen Wesens auf den deutschen Geist Raum und leidenschaftliche Anteilnahme gewährt, wie es in dieser Ausdehnung und lodernden Eindringlichkeit beispiellos in der bisherigen Geschichtsschreibung geblieben ist. Die Thesen der ausgedehnten Abschnitte sind in den letzten 50 Jahren seit ihrem erstmaligen Erscheinen von den Juden ebenso hartnäckig unbeachtet beiseite gelegt worden wie sie von der Generation, die später die deutsche führende Schicht stellte, aufs tiefste eingesogen wurden. Die deutschen Juden hielten sich für vollkommen verteidigt und bestätigt durch Theodor Mommsens ältere Streitschrift gegen seinen Fakultätskollegen: „Auch ein Wort über unser Judentum“, worin Mommsen Treitschkes ähnlich betiteltem Aufsatz aus den „Preußischen Jahrbüchern“ entgegentrat. Die deutschen Juden selbst beschränkten sich darauf zu beteuern, daß sie

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sich in der Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten von keinem ihrer nichtjüdischen Mitbürger übertreffen ließen. Was sprach Treitschke in seinem gewichtigen Hauptwerk der „Deutschen Geschichte“ (mit einer ganz anderen, tieferen und nachhaltigeren Wirkung als in jener älteren Staub aufwirbelnden Flugschrift) über die Gefahren des jüdischen Geistes aus? Wir finden hier in der wirkungsvollsten Form alle jene Gedanken wieder, die uns in den letzten Jahren geläufig geworden sind. In dem heute noch so stark wie am ersten Tag wirkenden Abschnitt „Das junge Deutschland“ läßt der Verfasser auf ein enthusiastisches, auf echtem Miterleben beruhendes Bekenntnis zur idealistischen deutschen klassischen Philosophie, namentlich zu dem Bild ruhiger Majestät und Güte, das ihm aus dem Lebensweg des alten Goethe und aus dem zweiten Teil des Faust entgegenstrahlt, die grau in grau aufgetragene Zustandsschilderung der nachrückenden jungen Generation seit 1830 folgen. „Längst stand diesem neu heraufkommenden Geschlecht fest, daß die burschikosen Witze von Heines Harzreise mehr bedeuten als Goethes Italienische Reise.“ Heine und Börne werden das Vorbild der Jungen, die so tief von dem fremden Geist angefressen waren, „daß sie den eigensten Vorzug der protestantischen deutschen Kultur der Versöhnung von Freiheit und Frömmigkeit gar nicht mehr kannten und schlechterdings nicht begreifen wollten, wie ein starker Geist religiös empfinden könne“. Das laute, ehrfurchtslose Wesen Heinrich Heines wird auf das Schuldkonto des zu rasch und unterschiedslos emanzipierten jüdischen Stammes gesetzt. Aus dem Sonderfall Heine leitet Treitschke seine generelle deutsche Kulturlehre ab: „Seit Heine nach Paris übergesiedelt war, begann sein lyrisches Talent rasch zu versiegen, in dem wüsten, zerstreuten Leben ward sein Herz leerer, sein Gefühl stumpfer. An ein umfassendes Werk durfte er sich ohnehin nicht wagen; denn die künstlerische Komposition großen Stils gelingt meist nur der massiven Kraft der Arier.“ „Um sein zerstückeltes Schaffen zu beschönigen, verkündete er der Welt prahlerisch, daß er sich berufen fühle, zwischen der Gesittung der beiden Nachbarvölker zu vermitteln, und die deutschen Liberalen glaubten ihm treuherzig.“ „Zugleich gebärdete er sich als politischer Flüchtling und sprach weinerlich von seinem Exil.“ Heines Aufsätze zur deutschen Philosophie und Religion erfahren in Treitschkes „Deutscher Geschichte“ zum ersten Mal die Verurteilung, der heute das künstlerische und wissenschaftliche Schaffen der deutschen Juden im Allgemeinen ausgesetzt ist: Unfruchtbarer, undeutscher Esprit, der mit den Dingen spielt, ohne sie zu beherrschen. Aus dem Farbentopf Treitschkes haben seit 50 Jahren sehr viele Pinsel die immer wieder beliebten Töne geholt. Aber man staunt, wie bei dem geistesmächtigen deutschen Historiker die Farben noch ursprünglich sind, auf intimer eigener Kenntnis und einem übermächtigen echten Gefühl beruhen. Seine Analyse von Heines Stil und Schreibweise soll den jüdischen Schriftsteller deutscher Zunge überhaupt treffen. „Heine wurde der Meister des europäischen Feuilletonstils, der Bannerträger jener journalistischen Frechheit, die alle Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens mit einigen flüchtigen Einfällen abtat. Seine internationalen Stammesgenossen, die überall schon, vorerst noch vorsichtig in zweiter Reihe, ihre

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Zeitungsgeschäfte aufschlugen, verherrlichten ihn darum über alles Maß hinaus.“ … „In Heine erschien uns zum ersten Mal ein Virtuos der Form, der nach dem Inhalt seiner Worte gar nicht fragte; … er besaß, was die Juden mit den Franzosen gemein haben, die Anmut des Lasters, die auch das Niederträchtige und Ekelhafte für einen Augenblick verlockend erscheinen lassen, die geschickte Mache … Dies alles war undeutsch von Grund aus.“ Börne, Rahel Varnhagen kommen nicht besser weg. „Die alte Aufklärung glaubte noch an den ewigen Fortschritt der Menschheit, sie hoffte noch auf einen Tag des Lichts … die neue Lehre der Verklärung des Fleisches verhöhnt alles, was Menschen menschlich aneinander bindet.“ In dem Abschnitt „Radikalismus und Judentum“ wird der jüdische Einfluss auf das deutsche Geistesleben im 19. Jahrhundert als verderblich beurteilt. Moses Mendelssohn wollte nichts weiter als seine Stammesgenossen für deutsche Bildung gewinnen unter ehrlicher Verteidigung des Glaubens seiner Väter. Die emanzipierten und glaubenslos gewordenen Juden des 19. Jahrhunderts mußten gerade in Deutschland zersetzend, radikalisierend und auflösend wirken, weil sich ihnen nicht wie in den westlichen Nachbarstaaten ein starkes, selbstverständliches, durchgebildetes Nationalbewusstsein entgegenstellte. Für Treitschke war jedoch keineswegs die anders geartete Rasse das schlechthin zu Dissimilierende; er forderte von den Juden Einordnung und restlose Aufgabe ihrer Eigenart. An eine Zurücknahme der Emanzipation dachte der vorbehaltlos auf dem Boden des deutschen Idealismus, der Menschenrechte und der freien Meinungsäußerung stehende glühende Patriot in keinem Augenblick. „Die edleren und ernsteren Männer der deutschen Judenschaft hatten längst eingesehen, das ihr Stamm nur dann die bürgerliche Gleichberechtigung beanspruchen durfte, wenn er selber seine Sonderstellung aufgebe und ohne Vorbehalt im deutschen Leben aufging.“ „Wenige Jahrzehnte, nachdem Moses Mendelssohn seinen Weckruf hatte erscheinen lassen, wirkten schon überall in Kunst und Wissenschaft begabte Männer jüdischer Abstammung, getaufte und ungetaufte, die sich ganz als Deutsche fühlten und in ihrem Denken durchaus deutsche Züge zeigten: in der Musik Felix Mendelssohn-Bartholdy, in der Malerei Veit, in der Theologie der kindlich gläubige Neander.“ In der Masse der deutschen Juden vermißte Treitschke die lebendige Staatsgesinnung und den konservativen historischen Sinn. Die großen jüdischen Konservativen – Neander, Leo, Stahl – nahm er davon aus und hielt sie den Juden als Muster vor. Im fünften Band der „Deutschen Geschichte“ spricht er von Julius Stahl als von dem „tapferen Staatsrechtslehrer der streng konservativen Richtung, dem einzigen großen politischen Kopf unter allen Denkern jüdischen Blutes.“ „Einem Volk, das seit Jahrhunderten seinen nationalen Staat verloren hatte, mußte die lebendige Staatsgesinnung fremd bleiben; selbst die zwei politischen Schriften Spinozas verdankten ihren Ruhm nur ihrer mächtigen dialektischen Kraft, nicht der politischen Einsicht.“ Treitschke sieht die Lösung der deutschen Judenfrage eindeutig in einer restlosen Assimilation; seine Bedingung war, daß die „israelitischen Mitbürger“ Deutsche werden und „sich schlicht und recht als Deutsche fühlen“, „unbeschadet ihres Glau-

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bens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns allen ehrwürdig sind.“ „Mit der vollzogenen Emanzipation ist auch der alte Anspruch der Juden, eine Nation für sich zu sein, gänzlich hinfällig geworden. In diesem Jahrhundert der nationalen Staatsbildungen können die europäischen Juden nur dann eine friedliche und der Gesittung förderliche Rolle spielen, wenn sie sich entschließen – soweit Religion, Überlieferung und Stammesart dies erlaubt – in den Kulturvölkern, deren Sprache sie reden, aufzugehen. Jedermann erkennt willig an, daß ein Teil der deutschen Juden diesen notwendigen Entschluß längst gefaßt hat und danach handelt; aber ein anderer, ein sehr einflußreicher Teil unseres Judentums denkt durchaus nicht so.“ „Über unsere Ostgrenze dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar strebsamer, hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen.“ Mit Mommsen verband Treitschke die Überzeugung von dem Nutzen einer gesunden Blutsvermischung der Rassen; nur über das Tempo gab es Meinungsverschiedenheiten. Treitschkes Ansicht war nicht weit von der Mommsens entfernt, der meinte, „daß die Vorsehung weit besser als Herr Stöcker begriffen hat, warum dem germanischen Metall für seine Ausgestaltung einige Prozent Israel beizusetzen waren.“ Für das Judentum trat damals Moritz Lazarus auf und sagte in seiner Streitschrift: „Das Judentum ist ganz in demselben Sinne deutsch wie das Christentum deutsch ist. Jede Nationalität umfaßt heute mehrere Religionen, wie jede Religion mehrere Nationalitäten.“ Aber Treitschke erwiderte: „Hier muß ich rundweg widersprechen“; er vertrat die Überzeugung, daß die Deutschen ein christliches Volk seien, zu dem die Juden nicht gehörten. Kein Geringerer als ein intimer Freund Treitschkes, der evangelische Baseler Theologe Franz Overbeck, hat darauf an Treitschke geschrieben: „Peinlicher noch und, um ganz offen zu reden, abstoßender ist mir ein anderer Ton, der aus deinen letzten Veröffentlichungen immer unverzagter herausklingt, ich meine den „christlichen“ … Die Anrufung des Christentums im gegenwärtigen Judenspektakel kann mich doch wohl nicht anders denken lassen, da es mir vollends nur wie eine der Maskeraden erscheint, für welche in moderner Zeit das Christentum nicht für zu gut gegolten.“ Overbeck war ohne Zweifel der rigorosen Meinung, daß, wer glaubt, so nebenbei – ohne entsprechende echte christliche Existenzform – sich als Mittel zum Zweck das Christentum dienstbar machen zu können, zu dessen ärgstem Verräter wird. Genau so leicht wäre die Auffassung Treitschkes von der Unvereinbarkeit einer eigenen jüdischen Nationalität mit den Forderungen der Gleichberechtigung zu widerlegen. „Beansprucht das Judentum gar Anerkennung seiner Nationalität, so bricht der Rechtsboden zusammen, auf dem die Emanzipation ruht. Zur Erfüllung solcher Wünsche gibt es nur ein Mittel: Auswanderung, Begründung eines jüdischen Staates irgendwo im Ausland, der dann zusehen mag, ob er sich die Anerkennung anderer Nationen erwirbt.“ In der großen spannungsreichen Diskussion von Treitschke, Mommsen, Overbeck, Lazarus – von der wir hier nur einen knappen Ausschnitt geben konnten – fehlte der deutsch-völkische Rassegedanke und der zionistische Gedanke. Wären

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diese Ideen damals in den Köpfen der heiß und kampffroh diskutierenden Männer aufgetaucht, sie wären vor 50 Jahren Gedanken geblieben. Wie heute für eherne Wirklichkeiten „Gedanken“, „Ideen“ belanglos sind, so gab es damals zwar das Hin- und Herwogen großer und geisterfüllter entgegengesetzter Ideen, aber es führte von ihnen keine Brücke zur Verwirklichung. Die große Gestalt Treitschkes, die in diesen Tagen allenthalben heraufbeschworen wird, kämpft heute in dem – höchst untheoretischen – Kampfe der Geister um Rasse und Volkstum, um Humanität und deutschen Idealismus, unsichtbar mit. Hier konnte nur an die Positionen vor 50 Jahren erinnert werden, die von den heutigen zwar grundverschieden sind, die aber in besonderem Maß geeignet sind, unser jüdisches Geschick begreifen zu lernen, das heute immer noch so vielen unter uns unbegreiflich ist.

6. Friedrich Nietzsche als Wegbereiter völkischer und judenfeindlicher Strömungen? Die Gedankenwelt Friedrich Nietzsches, dessen Werke soeben, nach Ablauf der 30jährigen Schutzfrist vom 1. Januar 1931 an, in die Reihe der „Klassiker“ eintreten, ist mit dem modernen jüdischen Geist aufs engste und vielfältigste verknüpft. Der dänische Jude Georg Brandes, der leidenschaftliche Vorkämpfer für alle wahre Kunst und Kultur, war der erste Gelehrte von Rang, der im Winter 1887 – 88 Vorlesungen über Nietzsches Philosophie gehalten und von Anfang an seinen Schriften das lebhafteste Interesse entgegengebracht hat. Und unter den Philosophen der allerneuesten Zeit ist keiner so tief in das Phänomen Nietzsche eingedrungen wie der junge jüdische Frankfurter Professor Fritz Heinemann in seinem Grundwerk „Neue Wege der Philosophie“ in dem zentralen Abschnitt „die Revolte gegen den Geist und die bürgerliche Welt“. Zwischen Brandes und Heinemann sind Georg Simmel und Max Scheler (diese beiden verwirrten Nachblüten einer eben zu Ende gehenden spezifisch jüdischen Geistigkeit) die besten Versteher und Interpreten Nietzsches gewesen. Dieser selbst hat sich in seinen Schriften ununterbrochen in der aufwühlenden Art mit dem Judenproblem beschäftigt. In einer sonderbaren Zwiespältigkeit gebraucht auch er das Wort „Jude“ oder „jüdisch“ meistens nicht für die Juden in ihrem geschichtlichen oder gegenwärtigen So-sein, auch nicht für ihre spezifische Lehre, sondern eben zwiespältig, bald nach einem vorweggenommenen mythologischen und konventionellen Bild, das er und die Umwelt sich von den Juden machen, bald in einer Art überhöhter Geschichtsspekulationen. So bewundert er sie als „das Volk der bisher mächtigsten und erfolgreichsten Priesterlichkeit“; sie sind nach der berühmten Stelle in der „Fröhlichen Wissenschaft“: „Das moralische Genie unter den Völkern“, die Begründer „reinlicherer Kopfgewohnheiten in Europa“. Bei dieser positiven Wertung bleibt er aber nur im Hinblick auf die von ihm eigenartig verstandene „Priesterlichkeit“, nämlich im Hinblick „auf die Tiefe, Stärke, Nachhaltigkeit, Unbedingtheit und Unerbittlichkeit des priesterlichen Willens zur Macht, auf dessen unvergleichliche Weisheit, Schlauheit und List in der Wahl der Mittel, auf die Genialität seiner Anpassungskünste und Umdeutungsfertigkeiten“. Richtet Nietzsche dagegen seinen Blick „auf die Tatsache, daß der Priesterwille ein gegen das Leben gerichteter Machtwille des Lebensneides und des bis ins Mark erkrankten, vergifteten, mißratenen Lebens ist“, so wird er zum Bekämpfer des Priesters und gleichzeitig des Juden als der vollkommensten Darstellungsform dieser Art von Krankhaftigkeit. Natürlich hat Klages recht, wenn er bei dieser Vieldeutigkeit das Bewunderte und das Befehdete für zwei unzertrennlich zusammengehörige Seiten

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einer und derselben Sache hält. Nietzsche trug auch hier das Bekämpfte in sich selbst, genauso wie wenn er sich leidenschaftlich als Antirationalist, Anti-Bourgeois, Anti-Demokrat gebärdete; er hatte darum den Kampf gegen Fremdes zugleich gegen sich selbst zu führen. In der Schrift „Zur Genealogie der Moral“ führt Nietzsche packend aus, die europäische Geschichte sei als der Kampf zwischen Rom und Juda aufzufassen, Judäa habe in der Gestalt des Christentums gesiegt. Vor drei Juden und einer Jüdin, als dem Inbegriff aller höchsten Werte beuge sich die halbe Welt: vor Jesus von Nazareth, dem Fischer Petrus, dem Teppichwirker Paulus und der Mutter des anfangs genannten Jesus, Maria. Der Kern seines fünffachen Nein zur übernommenen Kultur und Wertwelt – auch aus der Streitschrift „Zur Genealogie der Moral“ – ist in folgender Stelle enthalten: „Wenn die Unterdrückten, Niedergetretenen, Vergewaltigten aus der rachsüchtigen List der Ohnmacht heraus sich zureden: lasst uns anders sein als die Bösen, nämlich gut! Und gut ist jeder, der nicht vergewaltigt, der niemanden verletzt, der nicht angreift, der nicht vergilt, der die Rache Gott übergibt, der sich wie wir im Verborgenen hält, der allem Bösen aus dem Wege geht und wenig überhaupt vom Leben verlangt, gleich uns, den Geduldigen, Demütigen, Gerechten – so heißt das, kalt und ohne Voreingenommenheit angehört, eigentlich nichts weiter als: wir Schwachen sind nun einmal schwach; es ist gut, wenn wir nichts tun, wozu wir nicht stark genug sind; aber dieser herbe Tatbestand, diese Klugheit niedrigsten Ranges, welche selbst Insekten haben (die sich wohl tot stellen, um nicht „zuviel“ zu tun, bei großer Gefahr), hat sich dank jener Falschmünzerei und Selbstverlogenheit der Ohnmacht in den Prunk der entsagenden stillen abwartenden Tugend gekleidet, gleich als ob die Schwäche des Schwachen selbst – das heißt doch sein Wesen, sein Wirken, seine ganze, einzige, unvermeidliche, unablösbare Wirklichkeit – eine freiwillige Leistung, etwas Gewolltes, Gewähltes, eine Tat, ein Verdienst sei. Diese Art Mensch hat den Glauben an das indifferente wahlfreie „Subjekt“ nötig aus einem Instinkt der Selbsterhaltung, Selbstbejahung heraus, in dem jede Lüge sich zu heiligen pflegt.“ Ein tieferes Eindringen in das mächtige Gedankengebäude Friedrich Nietzsches ergibt zweifelsfrei, daß hinter dieser Entlarvung, dieser feindseligen, schonungslosen Haltung gegen den bildungssatten, nicht mehr über sich hinaus wollenden, die eigene Schwäche und Unredlichkeit vor sich selbst verbergenden, ängstlichen Durchschnittsbürger von heute, daß hinter dieser Haltung ein starker positiver Glaube an den adlig-zuchtvollen souveränen Menschen der Zukunft steckt. Man hat in der bürgerlichen, gebildeten Welt bis 1914 die von Nietzsche ausgesprochenen unbequemen Ideengänge meistens dadurch „entgiftet“, daß man sie als unschädliche Gedankenblasen eines ekstatischen Nihilisten und Aphoristikers abtat. Das geht heute nicht mehr. Max Scheler hat schon im Jahr 1912 das von Nietzsche zum ersten Mal gesehene „Ressentiment“ der bürgerlichen Moral in der glänzenden Schrift „Über Ressentiment und moralisches Werturteil“ wieder entdeckt. Er hat diesen dauernden psychischen Zustand des Sich-was-vor-machens in unserer breiten kleinbürgerlichen Welt in einer Reihe moderner Moralen wiedererkannt, so in

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der Kant’schen Pflichten-Moral, in der Mitleid-Ethik Schopenhauers und in unserer ganzen idealistischen Humanitätsethik. Max Weber hat später in seiner grandiosen Deutung des antiken Judentums als „Verklärung der Pariavolkslage und des geduldigen Ausharrens in ihr Nietzsches und Schelers Gedanken auf die altjüdische Geschichte angewandt.1 Nietzsche will jedenfalls mit jener „Entlarvung“ nicht nur die Juden treffen, wenn auch natürlich deren historisches Schicksal gerade sie zu einer „Vergoldung des Lebensdruckes“, zu einer Idealisierung des gehorsamen Erduldens der Gewalt als höchster Staffel der religiösen Würde disponieren mag. Denn Nietzsche hat an anderen Stellen die Juden gefeiert als das Volk der Pietät gegen die Vorfahren, als Europas älteste und am stärksten gezüchtete Rasse, als das Volk, „welches die Phantasie der sittlichen Erhabenheit höher als irgend ein anderes Volk getrieben hat“, als das Volk, „dem Europa den großen Stil in der Moral, die Fruchtbarkeit und Majestät unendlicher Forderungen verdanke“. Nietzsche besaß wie kein anderer das absolut sichere Organ für die echte ewige Rangordnung, der Werte, für die „ordre du coeur“ und die „logique du coeur“. Das hinderte ihn freilich nicht, bei Beurteilung des „Jüdischen“, das ihn in der Wirklichkeit umgab, in die vulgärsten Vorurteile der Zeit ziemlich ahnungslos zurückzufallen. Ich meine vor allem in der berühmten Analyse „Von der Herkunft der Gelehrten“ (in der „Fröhlichen Wissenschaft“). Ein Jude sei (im Gegensatz zu der naiven Sicherheit der Gelehrten christlicher Herkunft) umgekehrt, „gemäß dem Geschäftskreis und der Vergangenheit seines Volkes“, gerade daran, daß man ihm glaubt, am wenigsten gewöhnt; die jüdischen Gelehrten hielten deshalb „alle“ große Stücke auf die Logik, „das heißt auf das Erzwingen der Zustimmung durch Gründe“. Es scheint besonders Folgendes, was die Auseinandersetzung mit Nietzsche heute wichtiger macht als in den letzten 30 Jahren: Seine Ideen, seine geistige Gesamthaltung sind – meist unterirdisch und anonym – aufs tiefste in die moderne abendländische Denkart eingedrungen. Man gibt sich kaum mehr Rechenschaft darüber, daß eine Reihe von geistigen Moden und von antiliberalen mißverstandenen – gegen die Juden gerichteten – Argumentationen über Diktatur und „die Herrschaft der Minderwertigen“, ihre geistige Nahrung von Nietzsche bezieht. Hier bei Nietzsche ist die Begründung aller antidemokratischen Affekte zu finden. Man hat die Ethik der internationalen Faschismen, an der Spitze Gestalt und System Mussolinis, von Nietzsche abgeleitet und hier eine Antwort zu finden geglaubt auf die Frage: Wer soll der Herr der Erde sein?, die unser Philosoph ungefähr so löst: „Ein höherer Typus Mensch soll herrschen, der starke, große, vornehme Mensch.“ Dieser Typus aber soll planmäßig gezüchtet werden und die einstige hochwertige Herrschaft stellen. Mussolini hat sich selbst öffentlich dazu bekannt, daß er von dem deutschen Denker entscheidend beeinflußt sei. 1 Darüber ausführlich „Morgen“, Jahrg. 5 (1929), S. 600 ff.; „Frömmigkeitsgeschichtliche, psychoanalytische und soziologische Fragestellungen“ (in der alttestamentlichen Forschung). [In diesem Band II.3, S. 101 ff, 110 ff.]

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Nietzsche hat selbst vor seinem geistigen Zusammenbruch das große Wort gesagt: „Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinem Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissenskollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit“. Es ist heute ausgemacht, daß sich der Tiefenpsychologie Nietzsches, die Freud dann systematisch ausgebaut hat, ein viel tieferer Einblick in das wirkliche Seelenleben eröffnet als es einer mechanistischen und intellektualistischen Elementen- und Prozeßpsychologie je möglich gewesen wäre. Hinter den „Tugenden“ haben wir die Laster des individuellen und kollektiven Egoismus, hinter dem „Idealen“ das Allzumenschliche mit schmerzender Deutlichkeit sehen gelernt. Im Grund steht hinter dieser naturalistischen Demaskierung aller psychologischen und scheinheiligen Verdeckungen ein ganz großes Ethos, das sich an das höchste Wollen der Menschen richtet. Es ist zu bequem in den Gedanken Nietzsches nur Zersetzung, Auflösung, Nihilismus zu sehen. Es gibt zu denken, daß der jüdische Geist für Nietzsches Gedankengut, wie wir gesehen haben, immer besonders aufgeschlossen und empfänglich war – die Namen Brandes, Simmel, Scheler, Freud, Heinemann beweisen es –, daß aber gleichzeitig deutsche und italienische Faschisten sich auf ihn berufen. Man kann wohl dem Urteil seines letzten Erklärers in der Grundauffassung zustimmen: „Auch wer mit nüchterner Kritik – und solche tut allerdings bei der Lektüre seiner Schriften not! – Nietzsche gegenübertritt, wird doch anerkennen müssen, daß er große Menschheitsfragen gesehen, leidenschaftlich mit ihnen gerungen und neuartige Antworten auf sie gegeben hat, daß vor allem sein Herz glühte für Erhöhung des Menschentypus, für neuen sittlichen Adel. So ist er und wird er noch auf lange hinaus bleiben, der große Anreger und Erwecker, ein Vorbild mutigster Wahrhaftigkeit und intellektueller Redlichkeit, ein Vorbild, das in uns noch die Redlichkeit und den Mut stärken kann – gegen ihn zu entscheiden, wo Erkenntnis und Gewissen es gebieten.“

7. Rezension von Julius Kraft: Von Husserl zu Heidegger. Kritik der phänomenologischen Philosophie, Frankfurt 1932 Nur wer weiß und miterlebt hat, welche Verheerungen der Freiburger Philosophie-Professor Martin Heidegger in der Erziehung der akademischen Jugend zu einem klaren und einfachen, aber scharfen Denken angerichtet hat, kann die außerordentliche Bedeutung des neuen Buches von Julius Kraft ermessen. Dieses Buch wird, wenn sich der Heideggersche Wortnebel verflüchtigt hat, als eine befreiende Tat von geistesgeschichtlichem Rang erster Ordnung in späterer Zeit gewürdigt werden. Martin Heidegger hat in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ eine Zusammenstellung der aristotelischen Seinserklärung (womit der Fachausdruck Ontologie provisorisch umschrieben sei) mit dem Historismus versucht. Die Elemente, aus denen Heideggers Leistung zusammengesetzt ist, sind leicht in reinerer, klarerer Form in den Werken Diltheys und Simmels (in einer unendlich saubereren und subtileren Sprache) wiederzufinden. Heideggers Modephilosophie musste unserem gesamten „geistigen“ Nationalsozialismus und Edel-Antisemitismus das verhüllende „ideelle“ Bekleidungsstück liefern, in welchem sich brutalster Nihilismus imponierend und wahrhaft „geistig“ ausnimmt. Diese „Existenzphilosophie“ ist auch die Grundlegung der neuen, den Rechtsstaat auflösenden Staatstheorien. Deshalb ist Krafts Kritik so wichtig. Heideggers bombastische Umschreibung trivialer Alltagsweisheiten wird nach ihrer doppelten Funktion erkannt: ihnen den Schein philosophischen Tiefsinns und außerdem manchem Leser den metaphysischen Schauer zu verschaffen. Kraft zitiert mit Recht gleich zu Anfang die Warnung Franz Brentanos, des Ahnherrn aller fruchtbaren Gedanken der Phänomenologie: Wer die Erfolge des Neuplatonismus kennt, der weiß, wie wenig der Schluß von der Größe eines philosophischen Anhangs auf die Größe der Philosophie beweist. Der Inhalt des Buches von Kraft läßt sich für den Laien gemeinverständlich so zusammenfassen: Die phänomenologische Schulentwicklung hat mit Husserls Aufruf zur Philosophie als strenger Wissenschaft begonnen und mit Heideggers Metaphysik (die sich ausdrücklich von der wissenschaftlichen Philosophie lossagt) geendet. Dieser Umschlag einer wissenschaftlichen Bemühung und Gesamthaltung in ihr erklärtes Gegenteil bliebe ein unlösbares Rätsel, wenn nicht bereits in dem phänomenologischen Grundansatz, der Lehre von der Wesensschau, Elemente enthalten wären, die den Weg von dem wissenschaftlichen Ernst Husserls über den anregenden, aber ungebundenen Einfallsreichtum Schelers hin zu Heideggers Ontologie (die sich als gekünstelte Verbaltechnik erweist) freigäben.

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Ein klarer und systematischer Nachweis dieser für das philosophische und kulturelle Gesicht des zwanzigsten Jahrhunderts überhaupt höchst bezeichnenden Zusammenhänge fehlt bisher vollständig. Ihre Darlegung bildet den Inhalt der Schrift von Kraft, die damit eine unerläßlich gewordene Klärung vollzieht. Ihr Ergebnis besteht in einer zwingenden Kritik der unhaltbaren Positionen der Phänomenologie, deren Schicksal ein neuer Beweis für die Unmöglichkeit des „Intuitionismus“ in der Philosophie ist. Die Bedeutung dieser Nachweisung reicht bis in die Erfahrungswissenschaften hinein, vor allem in ihre Methodik, z. B. in den – philosophischen Fehldeutungen stark ausgesetzten – Sozialwissenschaften. Die Untersuchung ist aber auch eine positive, nämlich eine Rückforderung der unverjährten Ansprüche des philosophischen Kritizismus in seinem von Autoritätsgläubigkeit wie von Verwässerung freien, systematischen Grundbestand, der allein den Weg der Philosophie als strenger Wissenschaft, abseits von der Metaphysik unserer Tage, zu bestreiten gestattet. Julius Kraft hat in seinem Buch die produktive Kritik der Heideggerschen Pseudophilosophie glänzend durchgeführt. Er wird – in vielleicht noch abgeklärterer Form – darin von Ernst Cassirer in seiner grundlegenden, gegen Heideggers KantInterpretation gerichteten Abhandlung „Kant und das Problem der Metaphysik“ in den Kantstudien (Bd. 36, Heft 1, Jg. 1931) unterstützt.

8. Macht und menschliche Natur.1 Philosophische Begründung der Gebundenheit an ein Volk Max Scheler hat in einem weithin berühmten Aufsatz „Mensch und Geschichte“ (aus dem Jahre 1926) in einer äußerst scharf umstrittenen Darstellung fünf verschiedene noch jetzt im Abendland herrschende Theorien vom Wesen und Werden des Menschen aufgestellt: 1. Die jüdisch-christliche Theorie des Gottmenschen (Schöpfung des Menschen durch den persönlichen Gott); 2. Die rationalistisch-humanistische Theorie, eine Erfindung der Griechen: die sogenannte Vernunft im Menschen wird als eine Teilfunktion des göttlichen Logos angesehen, der die Welt und ihre Ordnung immer neu hervorbringt. Diese Lehre vom „homo sapiens“ hat heute für ganz Europa den gefährlichsten Charakter angenommen, den eine Idee überhaupt annehmen kann: Selbstverständlichkeitscharakter. Erst Hegel hat wenigstens die Konstanz der menschlichen Vernunft als Mythus erkannt; 3. Die positivistischnaturalistische Theorie: Der Mensch ist nur ein besonders hochentwickeltes Lebewesen. Geist, Willensfähigkeit, Zwecksetzung, Werterschaffung bedeuten nur eine andere Bezeichnung, eine andere Symbolik für eine ähnlich wie beim Tier gelagerte Triebkonstellation; 4. Die dionysische Dekadenztheorie: Der Geist eine Todeskrankheit der Menschheit, eine Art von Schopenhauers „Verneinung des Willens zum Leben“. Der Geist das „Nein“ zu Leben, Trieb, zu Sinnesanschauung, zu Instinkt, kurz „die Todeswunde der Menschheit“; 5. Der postulatorische Atheismus des Ernstes und der Verantwortung: Ein Gott darf und soll nicht existieren um der Verantwortung, der Freiheit, der Aufgabe, um des Sinnes vom Dasein des Menschen willen. Alle diese fünf grundverschiedenen Auffassungen vom Wesen, Aufbau und Ursprung der Menschen muß man in ihren verschiedenen historischen Systemen beherrschen und kennen (Pleßner setzt sie und ein vollkommenes Vertrautsein mit den Problemen der modernen „Philosophischen Anthropologie“ voraus), um überhaupt an die streng fachphilosophischen Gedankengänge des Verfassers heranzukommen; mit irgend einem Tagesproblem steht die in straffster, auch sprachlich nicht leichter Gedankenspannung durchgeführte Schrift in keinem Zusammenhang. Sie ist weder „geistreich“, noch „anregend“, sondern fordert in jedem Satz eigene geistige Entscheidungen, den Willen zur gleichen Logik wie der des Verfassers und das gleich1 Helmuth Pleßner, Professor an der Universität Köln, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht. Berlin 1931 (Verlag Junker & Dünnhaupt).

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mäßige Mit-Voranschreiten in dem eigenwilligen Hergang dieses Gedankenaufbaues. Kein Zweifel: eine streng theoretische Affektenlehre, also eine Theorie der menschlichen Triebe und Leidenschaften, verstanden aus der Grundverfassung des Menschen als einer ursprünglichen Einheit von Geist, Seele und Leib, könnte für die politische Praxis von größtem Nutzen sein. Das will Pleßners Versuch nicht sein; seine Schrift will vielmehr „ein Fundament für die Betrachtung politischer Dinge finden, das der Möglichkeit eines politischen Apriori in der Wurzel philosophischer Überlegung selbst gewachsen ist“; die Philosophie selbst soll „aus dem Geist der Politik“ im Innersten bewegt werden. Also schon die Sachlichkeit, Objektivität und Voraussetzungslosigkeit der politischen Handlung und der vorausgehenden Willensbildung ist nur scheinbar, eine naive Annahme des klassischen Liberalismus. Pleßner stellt und bejaht die Frage, ob die mit der urwüchsigen Lebensbeziehung von Freund und Feind (nach einer berühmten Theorie Carl Schmitts) gegebene politische Sphäre „zur Bestimmung des Menschen“ gehört, nicht nur zu seiner zufälligen, gegenwärtigen äußerlichen physischen Lebenslage. Wohl hält er daran fest, alles was Menschenanlitz trägt, als gleichberechtigte Ausformungen und Weisen des Menschen zu verstehen, also die naturalistische Fassung der Anthropologie mit ihrem engen Rahmen einer biologischen Disziplin zu einer universalen „Menschenkunde“ in dem Sinn zu erweitern, daß der Mensch auch in den außerempirischen Dimensionen des rein Geistigen begriffen wird und seinen Sinn aus den Systemen des menschlichen Geistes empfängt. In der Breite aller Kulturen und Epochen wird das vom Menschen gelebte Leben, seine Äußerungen und Gesetze aufgesucht. Von hier aus kommt der Verfasser zu dem Begriff der „Unergründlichkeit des Menschen“. „Nur wenn und weil wir nicht wissen, wessen der Mensch noch fähig ist, hat es einen Sinn, das leidvolle Leben auf dieser Erde zu ertragen.“ Die Unergründlichkeit seiner selbst ist das um des Ernstes seiner Aufgaben willen verbindliche Prinzip seines Lebens und seines Lebensverständnisses“. „Nur sofern wir uns unergründlich nehmen, geben wir dem eignen noch zu lebenden Leben, geben wir dem vom Menschen gelebten Leben das Gegengewicht des Ernstes, der ihn infolge der Durchrelativierung seiner geistigen Welt und ihrer Demaskierung als seines von ihm hervorgebrachten Jenseits verloren zu gehen droht.“ Das weitaus „Interessanteste“, „Unergründliche“ ist bei Pleßner, wie er – scharf ausgerichtet auf die Erkenntnis-Linie Kants und in Befolgung des von Kant begründeten Frageverfahrens – die genau entgegengesetzte Position von Kant einnimmt, um ihn auf der ganzen Linie zu schlagen. Also Methodenprinzip und der Begriff der „unergründlichen Tiefe“ werden von Kant entlehnt und gegen ihn gekehrt. Kant folgt in der Kritik der reinen Vernunft (bei Pleßner S. 41 f.): „Ich behaupte nun, daß die Transzendentalphilosophie unter allem (sic!) spekulativen Erkenntnis dieses Eigentümliche habe: daß gar keine Frage, welche einen der reinen Vernunft gegebenen Gegenstand betrifft, für ebendieselbe menschliche Vernunft unauflöslich sei, und daß kein Vorschützen einer unvermeidlichen Unwissenheit und unergründlichen Tiefe der Aufgabe von der Verbindlichkeit freisprechen könne, sie gründlich und vollständig zu beantworten, weil eben derselbe Begriff, der uns in

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den Stand setzt zu fragen, durchaus uns auch tüchtig machen muß, auf diese Frage zu antworten, indem der Gegenstand außer dem Begriffe gar nicht angetroffen wird (wie bei Recht und Unrecht).“ Dementsprechend (die erkenntnistheoretischen Gedankengänge über den Unterschied der Erkennbarkeit von Naturobjekten und geistigen Objekten sowie des Sicherheitsgrades der Frageentscheidungen über beide können hier nur abgekürzt wiedergegeben werden): Dementsprechend die formal geschlossene Frage des Naturforschers gegenüber der offenen, unergründlichen Frage jeder geisteswissenschaftlichen Problematik! Das siebente Kapitel „Das Prinzip der Unergründlichkeit oder offenen Frage“ in Pleßners Beschreibung des Weges zur politischen Anthropologie ist innerhalb des mächtigen geschichtsphilosophischen Schrifttums der letzten zwanzig Jahre die denkbar straffste und konzentrierteste Zusammenfassung des gegen Kant und Hegel gerichteten „ontologischen“ Standpunktes: Eine streng historische, nur-historische also nicht dogmatische oder rationale Wirklichkeitserfassung alles Geistigen wird entrelativiert durch die tiefste dem „timiden“ Historismus entgegengesetzte „Begründung“ der Macht der Gegenwart über die Vergangenheit, also der praktischpolitischen Macht über alle „gleichberechtigten“, fremden Wert- und Kategoriensysteme: Das ganze geistige und öffentliche Leben in Europa verbindet den Verzicht auf die Vormachtstellung des eigenen Wert und Kategoriesystems mit der festen Überzeugung in seine Zukunftsfähigkeit (S. 49). „Was sich der Mensch in diesem Verzicht versagt, wächst ihm als Kraft des Könnens wieder zu.“ „Die Entschränkung von aller dumpfen Verlorenheit an irgendeine ungeprüfte Tradition und einseitig fixierte Stellung zu Welt und Leben, von Blindheit gegen das eigene und fremde Wesen, von Unerwecktheit und Undurchsichtigkeit des eigenen Tuns; wie immer auch die Zentralität und Universalität seines eigenen point de vue sich ihm darstellen vermag, sie gestattet ihm nie seine Verabsolutierung.“ Die Schwierigkeit, den Universalitätsanspruch der europäischen Daseinsform mit der Relativität dieser geschichtlich entstandenen Daseinsform in Einklang zu bringen, wird nach Pleßner gelöst durch „die Konzeption des Menschen als Macht nach dem Prinzip der offenen Immanenz oder der Unergründlichkeit selbst“. „In der Fassung seiner selbst als Macht faßt der Mensch sich als geschichtsbedingend und nicht nur als durch Geschichte bedingt.“ Die Gefahr der restlosen Relativierung, die mit dieser Freigabe des Blickes heraufbeschworen ist, wird in der gleichen Blickstellung dadurch wieder gebannt“ (S. 53). Der Mensch schafft sich also seine eigenen Bedingungen selbst in einem festen, unbeirrbaren Entschluß trotz oder besser wegen seines vertieften Wissens um die Geschichtsbedingtheit und Relativität seiner Daseins- und Denkform, seiner Wertskalen und Ideologien. Wir müssen hier einen Augenblick still halten vor dieser modernen Philosophie, während uns der Idealismus des neunzehnten Jahrhunderts noch in allen Gliedern liegt. Es muß hier darauf verzichtet werden, die Zusammenhänge von Pleßners politische Anthropologie mit [der] Philosophie Diltheys, besonders aber mit der Heideggers zu zeigen; wir verweisen auf die klare und feine Arbeit des Freiburger Philosophen Fritz Kaufmann „Geschichtsphilosophie der Gegenwart“ (Verlag Junker

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& Dünnhaupt, Berlin 1931), deren vierter Hauptabschnitt „Geschichtliche Lebensphilosophie und Ontologie der Geschichte“ dem Werk Diltheys und Heideggers in einer überaus geglückten Interpretation gewidmet ist. Nur wer die Rolle genau erfaßt hat, die bei Heidegger die Begriffe „Sorge“ (die Angewiesenheit des Daseins auf Seiendes in der Bedürftigkeit des Seinverständnisses) und „Entschlossenheit“ (Kraft sich von der Haltlosigkeit des Verlorenseins an die Welt und ihre Übereinkünfte freizumachen) spielen, kann ermessen, was diese moderne „Ontologie der Geschichte“ im Grunde bedeutet und wie sie die philosophische Begründung zu einer illusions- und ideallosen Treue zur eigenen Existenz liefern kann, die rohe Gewalt und Macht genauso rechtfertigt wie die selbstloseste Entäußerung und Hingabe eines überirdischen Sektenmenschen. Nicht ohne Schaudern erinnern wir hier an die letzten Seiten des zweiten Bandes von Spenglers „Untergang des Abendlandes“, wo jedem Volk der Untergang vorhergesagt wird, das an „Wahrheit und Recht“ mehr glaubt als an die Steigerung seiner Macht. Diese Formulierung ist viel populärer als die schwierige und zähflüssige philosophische Begründung der Macht als „Bestimmung des Menschen“. Das Ergebnis der Pleßnerschen Philosophie ist: „Der Mensch steht als Macht notwendig im Kampf um sie, d. h. in dem Gegensatz von Vertrautheit und Fremdheit, von Freund und Feind“; er setzt hinzu: „Als Faktum besagt das nichts, was man nicht schon immer gewußt hätte. Die Empirie kann es immer wieder in tausend Variationen bestätigen. Aber darauf liegt nicht der Nachdruck. Die Freund-Feind Relation wird hier vielmehr als zur Wesensverfassung des Menschen gehörig begriffen und zwar gerade dadurch, daß eine konkrete Wesensbestimmung von ihm abgehalten, er als offene Frage oder Macht behandelt wird.“ Und das Recht? Auch darauf erhalten wir eine Antwort: „Das Rechte und damit das Recht „stammt“ zwar nicht aus der Macht, die immer schon errungene Macht ist, wohl aber aus der Mächtigkeit, die sich in der natürlichen Künstlichkeit der je von Menschen eingenommenen und durchgeführten Lebenslagen dokumentiert. Weil er nur lebt, wenn er ein Leben irgendwie führt, und dieses Irgendwie stets den Charakter der Nichtnotwendigkeit, Zufälligkeit, Korrigierbarkeit und Einseitigkeit hat – darum ist ja sein Leben geschichtlich und nicht bloß natürlich, eine Kette von Unvorhersehbarkeiten, die hinterher sinnvoll sind, Versäumnissen und verlorenen Möglichkeiten, aber gerade auch in dem, was es je ist und war, bedeutsam und des Lebens wert – muß der Mensch eine „natürliche“ als die gerechte Ordnung stiften. Diese Stiftung des Rechts ist eine Entdeckung des Rechten und Gerechten, weil der Mensch nichts erfindet, was er nicht entdeckt, und ihm nichts festliegt, als bis es durch ihn festgelegt wird. Jede Satzung ist der Versuch, die wesenhafte Inkongruenz der Situation des Menschen in ihr selbst auszugleichen … In der Durchsetzung des gesatzten Rechts liegt der Sinn der Machtorganisationen bis in ihre technisch komplizierteste Form, den Staat.“ „Das Rechte ist ein Grundcharakter der menschlichen Situation, insofern alles an ihr auf Richtigkeit, Gerechtheit und Gerechtigkeit hin ausgesprochen werden kann.

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Im sich Zurechtfinden, das mit dem Finden des Rechten zusammenhängt, im Richten und den vielen um diese Bedeutung zentrierten Formen des Verhaltens, in der Richtung und im Gerichtetsein auf …, in dem einen Dinge, einer Forderung gerecht zu werden, im recht Machen usw. spricht es sich aus. Unabhängig davon, daß die Findung und Sprechung, Schöpfung und Sicherung von Recht und Gerechtigkeit das eigene Gebiet einer besonderen Rechtspflege ausmachen können, bestimmt es die kategoriale Verfassung des menschlichen Lebens als eine ausgelegt-auslegbaren, gedeutet-deutbaren Lebens.“ „Schon Ich und Du und Wir sagen können bedeutet in der damit vollzogenen Abgrenzung der Sphären des Mein, Dein, Unser, Aller Zurechnungen, die zwar noch keinen expliziten juristischen Charakter tragen, aber eine rechtliche Ordnung des Lebens in allen seinen Äußerungen nötig machen. Weil der Mensch als offene Frage Macht ist, rechnet er sich zu, ermächtigt er und hebt, gezwungen durch die Inkongruenz seines Lebens (das er zufällig als dieses, nicht als ein anderes Leben führt) mit sich – in der Gesetzgebung und Rechtsprechung dieses Zu-sich-ermächtigt-Sein in die Sphäre ausdrücklicher Setzung; weil er nur lebt, wenn er ein Leben führt, weil nur das für ihn „schon so ist“, was er dazu macht. Als einer der zu sich ermächtigt ist, findet der Mensch sich verantwortlich oder frei. Insofern aus dem Prinzip der Macht und des Könnens erhobenen Wesen sein Wille zur Macht stammt, muß dieser Wille den Charakter eines Willens zur Ermächtigung und damit zum Rechten und zur Stiftung des Rechten erhalten.“ Diese Rechtsphilosophie Pleßners – der Kant’schen und Cohen’schen entgegengesetzt – musste in ihrer ganzen gedanklichen Entfaltung hier ausgebreitet werden, weil sie die andere Seite oder notwendige Folge der Erkenntnis des Menschen als ohnmächtigen, unberechenbaren Machtwesens bildet. Noch einmal halten wir einen Augenblick besorgt inne. Für Pleßner ist Philosophie und philosophische Begründung der höchste Grad der unabhängigen, vorurteillosen und gleichzeitig lebensnahen, mit dem Prozeß des Lebens selbst verflochtenen geistigen Tätigkeit, aus der das praktische Verhalten den einzigen Sinn empfängt. Philosophie „darf sich seinen Resultaten, Disziplinen, Problemen verschreiben, weil darin eine Verengung der geschichtlichen Perspektive vollzogen wird“ (S. 73) Und gleichzeitig nimmt seine philosophische Richtung nach dem Vorbild Diltheys „die Sehweise des mit dem Geschehen mitgehenden Historikers, des Erzählers, des Verstehenden, des in Schulterhöhe mit dem sich sprechenden Leben der Leute, der Großen und Kleinen, der Edlen und der Geringen in Kontakt stehenden Menschen zu ihrem Prinzip, um sich eben in dieser Ebene, in der sich für uns alles ereignet, der Ebene von Überraschung und Erinnerung, zu halten“ (S. 75). „Indem wir die Welt auf den Menschen als ihr Zurechnungssubjekt relativieren, mit dem Verzicht auf Absolutsetzung sie ihrem objektiv-ontischen Sinn überlassen und sie dadurch ganz von allen dem Erkennen heterogenen Weit- und Zweckaspekten befreien, wissen wir um die Gebundenheit dieses auf die Bodenlosigkeit des Seienden … gewagten Wissens an eine bestimmte Haltung in und zum Leben. Eine Haltung, die die Weite der Selbstständigkeit, der erkämpften Einsicht, der Entwicklung zu immer höherer

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Souveränität über das Dasein, der Bereitschaft immer auch wieder von vorn anzufangen, in freier Übernahme für verbindlich erklärt.“ Also die Haltung von politischer Entschlossenheit, das Dasein, wie es eben ist, zu leben, ist das Entscheidende. Die Bezwingung der konkreten Situation, der Primat des selbstmächtigen Lebens und der offenen Frage, das Zu-allem-instande-Sein, darauf läuft diese Philosophie als philosophische Menschenkunde hinaus. „Dem Elend und der Herrlichkeit einer blinden Unermesslichkeit ausgeliefert!“ „In seiner Macht scheint der Mensch also auf seine Ohnmacht oder seine Dinglichkeit durch. Er ist eigentlich auch Körper. Von diesem Körper lässt sich der Mensch bis ins Letzte bestimmen … Geburt, Abstammung, Tod haben über ihn Gewalt und stellen sich auf dem gleichen Anspruch auf Essentialität und Universalität, wie ihn der dem Menschen einheimische Bezirk des sich selber aussprechenden Lebens erhebt, seiner Macht entgegen.“ So kommt der Verfasser in dem zwölften Schlusskapitel „Gebundenheit an ein Volk“ zu dem so lange und mühsam vorbereiteten, voraussehbaren Schluss: „Wenn es mit der offenen Fraglichkeit und Unergründlichkeit gegeben ist, daß der Mensch nur als Freund oder Feind gemeinschaftsoffen zu leben vermag, so ist mit der gleichfalls die offene Fraglichkeit zum Ausdruck bringenden Transparenz … ihre Brechung und damit die Volkhaftigkeit seines Lebens und Seins gegeben“ (S. 89). „In dem Gesichtskreis seines Volkes liegen für den Menschen alle politischen Probleme beschlossen, weil er nur in diesem Gesichtskreis, in der zufälligen Gebrochenheit dieser Möglichkeiten existiert. Die Verschränkung von Vorhandensein und Leben, in der keines der beiden den Vorrang hat, erlaubt dem Menschen keine reine Realisierung, weder im Denken noch im Tun, weder im Glauben noch im Schauen, sondern nur die auf ein bestimmtes Volkstum relative, dem er blickhaft und traditional immer schon angehört. Volkheit ist Wesenszug des Menschen wie: Ich und Du sagen können, wie Vertrautheit und Fremdheit, wie Gewagtheit und Eigentlichkeit seines ihm zur Führung überantworteten Lebens.“ Ist nach dieser Inhaltsangabe eines Philosophen von anerkanntem Rang, der in typischer, wenn auch auf jedem Gedanken ursprünglicher Weise die Hinnahme des einfach gegebenen So-Seins gegen jede idealistische oder gar neukantianische Richtung vertritt, ist danach noch ein Wort über die nicht leicht zu unterschätzende Bedeutung einer solchen Lehre für das moderne Judentum zu verlieren? Verblassen danach nicht alle humanistisch-liberalen Ideen, alle homiletischen Wendungen von Gleichheit und Freiheit? Das ist die Frage. Dieses Referat hatte den einzigen Zweck, die Gedanken in aller Gedrungenheit nachzuzeichnen, die das heutige Weltbild von Macht, Politik und Volkheit am tiefsten begründen. Die „Richtigkeit“ dieser Gedanken steht hier vorläufig nicht zur Diskussion. Sie in ihrer ganzen Schwere im doppelten Sinn und mit ihren Konsequenzen durchzudenken, ist Pflicht jedes herkunfts- und situationsbewußten jüdischen Menschen, sie als nicht „gemeinverständlich“ genug wegzuschieben, wäre Selbstaufgabe und Weiterschreiten in der Auflösung des Judentums.

9. „…Vernunft und Wissenschaft – des Menschen allerhöchste Kraft“. Anläßlich des neuen Werkes von Ernst Cassirer Ernst Cassirer, o. Professor der Philosophie an der Universität Hamburg, Die Philosophie der Aufklärung. XVIII, 491 Seiten. Tübingen (Mohr) 1932. Nicht die einzelnen historischen Erscheinungsformen der Aufklärungsphilosophie, sondern ihre bestimmenden Prinzipien und ihren gedanklichen Ursprung behandelt das neueste Grundwerk von Ernst Cassirer, des ausgezeichneten Hamburger Philosophen, des legitimen Nachfolgers von Hermann Cohen. Seinem Schaffen ist wiederholt in diesen Blättern nachgegangen worden; an sein großes dreibändiges Hauptwerk „Philosophie der symbolischen Formen“ (1923 – 1929, bei Bruno Cassirer in Berlin) haben wir bei verschiedenen Gelegenheiten nachdrücklich erinnert. In sieben gedanklich gedrungen und dicht gearbeiteten Kapiteln bekommen wir Einblick in die bewegenden Kräfte des Jahrhunderts der Vernunft, die heute so geschmäht und wegwerfend behandelt wird. Nur eine geläuterte Aufklärung, ein Zeitalter der Vernunft, das das Blendfeuer aller Irrlichter der Seins- und Lebensphilosophie durchschritten hat, mag sie von Klages oder Heidegger kommen, wird (bis neue Erschütterungen eintreten) das stetige und gleichmäßige Ausschreiten der Geisteswissenschaften wieder sichern können. So gewinnt Cassirers neueste große Arbeit heute eine doppelte Bedeutung. Die sieben Kapitel behandeln: Die Denkformen des Aufklärungszeitalters, Natur und Naturerkenntnis der Epoche, Psychologie und Erkenntnislehre, die Idee der Religion, die Eroberung der geschichtlichen Welt, Recht, Staat und Gesellschaft, endlich die Grundprobleme der Ästhetik. Nur wenn „Rationalismus“ und „Vernunft“ eindeutig bestimmt und von allen polemischen Vorurteilen und verschwommenen Redewendungen à la mode sauber gehalten werden, kann mit diesen Begriffen ein geistiges Verhalten getroffen oder ein Zeitalter charakterisiert werden. Statt des deduktiven Systems im 17. Jahrhundert tritt im darauffolgenden die Analyse: Die Beobachtung ist fortan das „Datum“, das Prinzip, und das Gesetz das „Quaesitum“. Die „Vernunft“ wird nicht more geometrico in einem geschlossenen System vorweggenommen, sondern man läßt sie sich allmählich aus der fortschreitenden Erkenntnis der Tatsachen entfalten und sich auf immer klarere und vollkommenere Art bezeugen. Eine neue „Logik der Tatsachen“ ersetzt die Logik des scholastischen oder rein-mathematischen Begriffs. Auflösung, Entzauberung, Entschleierung, aber auch Wiederzusammensetzung und Durchsichtigmachung ist die Funktion des Aufklärungszeitalters.

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Für die konventionelle Beurteilung dieses Zeitalters steht nichts so sehr fest als die irreligiöse und glaubensfeindliche Haltung ihrer Hauptvertreter. Cassirer belehrt uns in dem für uns besonders wichtigen vierten Kapitel über „Die Idee der Religion“, daß eine derartige Betrachtung gerade an den höchsten positiven Leistungen dieser Zeit ahnungslos vorübergeht. „Die stärksten gedanklichen Impulse der Aufklärung und ihre eigentliche geistige Kraft sind nicht in ihrer Abkehr vom Glauben begründet, sondern in dem neuen Ideal der Gläubigkeit, das sie aufstellt, und in der neuen Form der Religion, die sie in sich verkörpert“ (S. 180). Echtschöpferisches Grundgefühl und unbedingtes Vertrauen zur Weltgestaltung und Welterneuerung sind im Gegensatz zu jener landläufigen Meinung die wahren Merkmale des Geistes der Aufklärung. Nur dreht sich von jetzt ab die religiöse Problematik nicht mehr um Dogmen und Pflichtenlehre, sondern um die Art der religiösen Gewißheit. Besonders im Kreise der deutschen Aufklärungsphilosophie ist es nicht die Auflösung der Religion, sondern ihre „transzendentale“ Begründung, die mit allen Kräften angestrebt wird. Cassirer begründet diese Auffassung von der überwiegend positiven Tendenz der Epoche in drei zentralen Abschnitten: Das Dogma der Erbsünde und das Problem der Theodizee. Hier findet man weitaus die bedeutendsten Forschungsergebnisse, die schlagwortartig zusammengefaßt die folgenden Phänomene enthalten: Einspruch der reformatorischen Systeme gegen die fortschreitende Humanisierung des Christentums; Wiederhinwendung der Reformation zur Übernatürlichkeit, Unbedingtheit, Einzigkeit und zur absoluten Autorität des Bibelwortes; anachronistische Auffassung vom religiösen Individualismus der Reformation; Wiederanknüpfung der Aufklärung an den Humanismus; analytisch-methodischer Beweis der Ohnmacht der Vernunft in Pascals Pensées, dagegen hedonistische Philosophie Voltaires; Grundauffassung der Aufklärung: Sünde, Erlösung, Rechtfertigung sind an das Bewußtsein des Subjekts des Tuns unlösbar gebunden. Der zweite zentrale Abschnitt, in dem Cassirer die positive Tendenz der Aufklärung nachweist, behandelt die ldee der Toleranz und die Grundlegung der „natürlichen Religion“ (214 ff.): Nicht der Zweifel, sondern das Dogma ist der gefährlichste Feind des Wissens; nicht die Unkenntnis schlechthin, sondern die Unkenntnis, die sich als Wahrheit ausgibt und sich als Wahrheit durchsetzen will, ist das, was die Erkenntnis in ihrem eigentlichen und tiefsten Kern angreift. Das Prinzip der ethischen Bibelkritik, die Verwerfung der Verbalinspiration wird zum intellektuellen Allgemeingut der Epoche. Voltaires, des großen Atheisten „Traktat über die Toleranz“ (1763) faßt mit dem größten Ernst, mit Ruhe und schlichter Sachlichkeit, knapp und scharf, alle intellektuellen Überzeugungen und Tendenzen der Aufklärungszeit wie in einen Brennpunkt zusammen. Nie ist die jüdische Forderung der Toleranz und Gleichberechtigung über die Treffsicherheit dieser Argumente hinausgekommen; bis heute scheuert sich daran die im gleichen Atem erhobene Forderung der absoluten Unbedingtheit des göttlichen Gebotes in der schriftlichen und mündlichen Lehre wund. Endlich das dritte Hauptproblem innerhalb der aufklärerischen „Idee der Religion“: Religion und Geschichte. Die Synthese rationalen und historischen Geistes, die die Aufklärung vollzieht, schließt die Fähigkeit zu vollem Verständnis der geschichtlichen Welt in sich ein, wenn auch eine vulgäre, aber ober-

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flächliche und unausrottbare Vorstellung dem 18. Jahrhundert ein solches Verständnis abspricht. In Grotius’ umfassendem, an allen Quellen der humanistischen und theologischen Gelehrsamkeit genährten Geist ersteht zum ersten Mal der vollständige Plan der wissenschaftlichen Bibelkritik (S. 251). In höchst einleuchtender Deduktion weiß Cassirer die wesentlich-negative Tendenz der spinozistischen Bibelkritik im Gegensatz zu der positiven Argumentation von der Geschichtlichkeit der Quellen der Religion bei Lessing nachzuweisen. Diese Geschichtlichkeit wird jetzt nicht mehr zur Kritik, zur Widerlegung der Religion aufgerufen, sondern, eben von Lessing, mitten in den Grund- und Ursinn der Religion selbst verpflanzt. „Wenn Spinoza den absoluten Wahrheitswert der religiösen Offenbarung durch den Einblick in ihre Geschichte zu bestreiten sucht, so will Lessing durch diese Einsicht eine Restitution, eine Rettung der Religion vollziehen“ (S. 256 f.). Lichtvoll und in subtiler Gedankenführung wird hier der scharfe Unterschied zwischen Lessing und Mendelssohn, der im allgemeinen noch an der höchst genügsamen traditionellen Fassung der religiösen Begriffe bei Christian Wolff festhält, von Cassirer ans Licht gestellt. In der „Erziehung des Menschengeschlechts“ legt sich dann Lessing das Historische als mit dem Rationalen vereinbar zurecht. Wir müssen es uns in diesen Blättern versagen, zu den beiden mittleren Kapiteln „Die Eroberung der geschichtlichen Welt“ und zu der Gedankenwelt der Aufklärung über Recht, Staat und Gesellschaft vorzuschreiten. – In einem Augenblick, in dem auch das noch mit den geistigen Fragen der Zeit heftig ringende Judentum (wie die Referate auf der Mainzer Rabbinerkonferenz untrüglich zeigen) sich von Kant zu Barth und zu den anderen „dialektischen“ Theologen wendet, darf das neue Werk von Cassirer dem besonderen Studium empfohlen werden. Cassirer sagt u. a. in der Vorrede: „Keine Behandlung der echten Philosophie-Geschichte kann bloßhistorisch gemeint und bloß-historisch orientiert sein. Denn der Rückgang auf die philosophische Vergangenheit will und muß stets zugleich ein Akt der eigenen philosophischen Selbstbesinnung und Selbstkritik sein. Mehr als jemals zuvor scheint es mir wieder an der Zeit zu sein, daß unsere Gegenwart eine solche Selbstkritik an sich vollzieht, – daß sie sich wieder den hellen und klaren Spiegel vorhält, den die Aufklärungsepoche geschaffen – hat … Das Wort: Sapere aude!, das Kant den Wahlspruch der Aufklärung genannt hat, gilt auch für unser eigenes historisches Verhältnis zu ihr … Das Jahrhundert, das in Vernunft und Wissenschaft „des Menschen allerhöchste Kraft“ gesehen und verehrt hat, kann und darf auch für uns nicht schlechthin vergangen und verloren sein; wir müssen einen Weg finden, es nicht nur in seiner eigenen Gestalt zu sehen, sondern auch die ursprünglichen Kräfte wieder frei zu machen, die diese Gestalt hervorgebracht und gebildet haben.“ Müssen wir hier sagen, daß nur von einer geläuterten Aufklärung, von der Wiederanknüpfung an ihre höchsten Ziele, von ihrem tatkräftigen Optimismus, ihrer rückhaltlosen Gläubigkeit die geistige Neubegründung des positiven religiösen Liberalismus ausgehen kann. Wird erst die unnatürliche Gleichsetzung des religiösen und politischen jüdischen Liberalismus ganz überwunden sein, dann sind im Judentum, das dogmatisch und kirchlich viel weniger fixiert ist als etwa die christlichen

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Religionen, die Kräfte freigesetzt, die ein positives religiöses liberales Judentum sammeln und festigen können. Diese Neubefestiger einer eigenen jüdischen schlakkenlos liberalen Position, die dann furchtlos von einer zusammengeschmolzenen Elite wieder errichtet werden muß, wird die geistige Haltung des 18. Jahrhunderts, seinen unbeirrten Vernunftglauben, seine Zweifelsmethode und Fragestellung nach dem letzten Bestand apodiktischer Evidenz zum Vorbild nehmen und auf diesen Wegen, in dieser Gesinnung der absoluten intellektuellen Redlichkeit wieder einen starken echt jüdischen Kern schaffen, um den sich andere jüdische Bildungen einträchtig herumgruppieren.

10. Zwischen 30. Januar und 5. März. Versuch einer Klärung der jüdischen Situation Jeder, der den Gang der Geschichte verstehen und sich gegen Schlagworte und geistige Moden möglichst immun halten will, greift nach dem eben erschienenen Dokument „Die Lehren des Faschismus“ von Mussolini. Es liegt uns vor unter dem Stichwort „Fascismo“ in dem mächtigen nationalen Nachschlagwerk „Enciclopedia Italiana“, Bd. XIV (Editori Treves-Treccani-Tumminelli, Mailand-Rom 1932), außerdem in einer Sonderausgabe: La dottrina del Fascismo con una storia del movimento fascista di Gioacchino Volpe. Bevor Mussolini einen Rückblick auf die letzten zehn Jahre seines Lebens gibt, ertönt eine Art Vorspruch über Wesen und Wert der faschistischen Idee, eine Akklamation, die sich in italienischer Sprache besser ausnimmt: „Für den Faschismus ist die Welt nicht diese materielle Welt, die sich an der Oberfläche zeigt, in der der Mensch ein von allen anderen Individuen getrenntes und für sich alleinstehendes Wesen ist … Der Mensch des Faschismus ist ein Individuum, das Nation und Vaterland verkörpert, gemäß dem Sittengesetze, das Einzelwesen und Geschlechter in eine Überlieferung und eine Aufgabe zusammenschweißt, das den Instinkt des in den kurzen Kreislauf des Vergnügens eingeschlossenen Lebens unterdrückt, um in der Pflicht ein höheres Leben, frei von den Schranken der Zeit und des Raumes zu schaffen; ein Leben, in dem das Individuum durch Selbstverleugnung, durch das Opfer seiner persönlichen Interessen, ja durch den Tod selber jene völlig geistige Wesenheit verwirklicht, in der sein Wert als Mensch wurzelt.“ Es folgen Sätze im gleichen Proklamationsstil: „Er (der Faschismus) faßt das Leben auf als Kampf, in dem der Mensch die Aufgabe hat, sich das zu erobern, was seiner wahrhaft würdig ist, indem er vor allem in sich selbst das physische, moralische und intellektuelle Werkzeug zum Aufbau schafft – für den einzelnen, für die Nation, für die Menschheit.“ Sieht man dieses Gefüge des einleitenden Lehrstücks Benito Mussolinis, das aus der großen, ehrwürdigen Roma so rattenfängerisch zu uns dringt, als Ganzes und jeden Einzelgedanken daraus genauer an, läßt man seine Melodie, seinen Stil, seine Tonhöhe möglichst in der Ursprache der italienischen Laute auf sich wirken, so wird man rasch gewahr, daß die Sätze, in denen der aufhorchenden Welt das neue Licht angekündigt wird, jedem organisierten sozialen Gebilde von heute aufs Spruchband geschrieben werden könnten. Wie jede Bewegung, damit sie sich gegliederte Massen zu verschaffen und zu erhalten vermag, des Manifests, der Fahne, ja der Uniform und des schmetternden Marsches kaum mehr entraten kann, so muß ihr werbendes Programm einen ähnlichen Vorspruch vor sich her führen.

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Sobald Mussolini damit beginnt, die zehn Jahre seiner praktischen Arbeit zu schildern, unterläßt er es nicht, in einem vierfachen Parallelismus zu versichern: „Als ich damals im schon so ferne liegenden März des Jahres 1919 von den Säulengängen des Popolo d’Italia herab in Mailand … meine Anhänger zusammenrief, hatte ich noch nicht die Spur eines gelehrten Planes im Kopf … Der Faschismus war nicht gebunden an eine im Voraus am Schreibtisch ausgearbeitete Lehre; er entstand aus einem Verlangen nach Tätigkeit und war Tätigkeit … In jenen Jahren, die dem Marsch auf Rom vorangingen, ließ die Notwendigkeit zu handeln, keine doktrinären Untersuchungen oder vollständige, gelehrte Ausarbeitungen zu … Die schön gestaltete Lehre … durfte getrost fehlen: dafür gab es etwas viel Entscheidenderes: den Glauben.“ Inzwischen hat sich der Faschismus seine Lehre gebildet. Nach Mussolini besteht sie in folgenden Hauptideen: 1. Kampf und Krieg allein bringen die menschliche Willenskraft zur höchsten Entfaltung und verleihen „die Würde des Adels, die den Mut und die Tugend (virtù) haben, dem Kampf die Stirn zu bieten“. Alle anderen Erprobungen sind Ersatz, weil sie den Mann nicht vor das Entweder-Oder des Lebens oder des Todes stellen. Erziehung zum Kampf, Herausforderung der Gefahren, Ablehnung des ewigen Friedens und aller weltumspannenden Verbrüderungen, ist der neue Stil des italienischen Lebens. – 2. Strikte Ablehnung der Theorien des wissenschaftlichen Sozialismus: „Der Faschismus glaubt heut und immer an das Heilige und Heldenhafte, d. h. an Handlungen, die weder unmittelbar noch mittelbar durch wirtschaftliche Beweggründe bestimmt sind;“ er verneint daher die Forderung des höchstmöglichen Glückes der möglichst Vielen. – 3. Er verwirft die Gesamtheit des demokratischen Systems, seine theoretischen Voraussetzungen und seine Anwendungen; denn er lehnt in der Demokratie die Lüge von der politischen Gleichheit und kollektiven Unverantwortlichkeit, ferner den Mythos der Glücksmöglichkeit der Masse und des unbegrenzten Fortschritts ab. – 4. Angelpunkt der faschistischen Lehre ist die Idee des Staates, sein Wesen, seine Aufgaben und seine Endziele; für den Faschismus ist der Staat etwas Absolutes, dem gegenüber Gruppen und Individuen das Relative sind. Der faschistische Staat ist Wille zur Macht und Herrschaft. Die römische Überlieferung des Imperium ist ihm eine Idee des Antriebes. Also: Anti-Pazifismus, Anti-Sozialismus, Anti-Demokratie, Totaler Staat. Mussolini begründet diese Grundsätze, die er zur Lehre des Faschismus und wie er glaubt zu der europäischen Lehre des 20. Jahrhunderts erhoben hat, mit einem Satze Renans: „Die Vernunft, die Wissenschaft sind Erzeugnisse der Menschheit, aber die Vernunft unmittelbar der Masse beilegen und auch noch darüber abstimmen lassen – das ist ein Hirngespinst; es gehört nicht zum Wesen der Vernunft, daß sie von aller Welt verstanden wird.“ Was kümmert man sich in diesen Blättern um Rom, um Mussolini? Die Grundsätze des herrschenden italienischen Systems sind anerkanntermaßen einer eben im Deutschen Reich nach einer mehr als zehnjährigen Entwicklung zur Herrschaft gekommenen Obrigkeit Modell und Vorbild. Gewiß: der italienische Faschismus ist spontan aus einer bestimmten soziologischen und politischen Lage Italiens entstan-

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den und ist praktisch auf ausschließlich italienische Bedürfnisse und Volksgefühle zugeschnitten. Ebenso gewiß: „Die allgemeine Theorie des Geistes als reiner Akt“ (Teoria generale dello spirito come atto puro) des Philosophen Giovanni Gentile, den Mussolini seinen maestro spirituale genannt hat, hat mit dazu geführt, daß im italienischen Faschismus das Reich (imperio) nicht nur Land, Soldaten oder Wirtschaft, sondern auch Geist und Kultur bedeutet. Am italienischen Faschismus sind deshalb – was nicht zu verwundern ist – italienische Juden, bewußte Juden, mit Leidenschaft als Anhänger und in hohen Ämtern beteiligt. Diese Eigentümlichkeiten haben die Modell-Fähigkeit des Systems Mussolini für die jetzt in der deutschen Reichsregierung und in einer großen Zahl deutscher Länder legal und verfassungsmäßig ans Ruder gelangten beiden Parteien nicht beeinträchtigt. Danach sind die beiden folgenden Fragen in einer jüdischer Zeitung berechtigt, ja unbedingt nötig: 1. Gibt es eine ursprüngliche, unverlierbare, etwa vom Wesen des Judentums herrührende Neigung des deutschen Juden zu Demokratie, Sozialismus, Pazifismus und zur liberalen Staatstheorie, also zu den dem aufsteigenden „europäischen Faschismus“ ausgesprochen feindlichen Prinzipien? 2. Wie steht es mit dem alten, unverbrüchlichen jüdischen Grundsatz: „Jedes Gesetz der Regierung ist für die Juden vorbehaltlos verbindlich“ (dina d’malchutha dina) unter einer Regierung, die ausschließlich von Parteien geführt wird mit dem Prinzip die deutschen Juden nicht als gleichberechtigte Volksgenossen anzuerkennen. Diesen zwei und keinen anderen Fragen haben wir uns unverzüglich mit aller geistigen Energie zuzuwenden, wenn wir uns nicht fatalistisch und bis zum Rande verdrossen und abgestoßen, von allen politischen Dingen um uns herum eine Zeit lang überhaupt abwenden wollen. Die erste Frage ist rasch und eindeutig zu beantworten. Die deutschen Juden sind weltanschaulich und politisch nicht homogen, d. h. ihre praktische religiöse Haltung sowie ihre Grundsätze über Autorität und Freiheit gehen ebenso weit auseinander wie ihre praktischen Interessen und ihre Stellung zur Staatsform, zu Verfassung, zu Demokratie und zum Sozialismus. Die kleine Gruppe der Juden unter den Deutschen spiegelt in sich das gleiche Bild der Zersplitterung in tausend weltanschauliche und politische Schattierungen und Richtungen wieder, in die das deutsche Volk als Ganzes zerfällt. Auch von einer geistigen Nötigung zur sozialistischen und pazifistischen Bewegung, zu Demokratie und Toleranz nach den überlieferten Lehren des Judentums kann keine Rede sein. Die klassischen Bücher der Juden sind erfüllt von Kriegsgeist und kriegerischem Ruhm, und in der historischen Wirklichkeit hat das jüdische Volk wie jedes andere sich der Macht bedient, wenn es sie hatte. „Es hat“, wie jüngst in diesen Blättern ausgeführt wurde, „auf Streitwagen und Rosse vertraut, es hat heldenhaft um seine Freiheit und um seinen Staat gekämpft, wo immer in der geschichtlichen Situation es nur konnte, selbst dort, wo es aussichtslos war, und es hat auch in der Gegenwart, als sich die Gelegenheit bot, sich seinen Platz an der Sonne zu erringen gesucht“. Die Juden waren auch – wenigstens früher – viel zu klug, um nicht ganz genau zu wissen, daß es von nicht großer Durchschlagkraft ist, wenn das Lamm dem Wolfe die Süßigkeit des

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Friedens predigt und wenn vom Ohnmächtigen und von dem in der Minderheit Sitzenden die Argumente ausgehen, daß alles was Menschenantlitz trägt, gleich und gleichberechtigt sei. Dagegen ist eine Hinneigung des deutschen Juden seit der Emanzipation zu den demokratischen, liberalen und sozialistischen Grundsätzen aus leicht begreiflichen Gründen rückhaltlos festzustellen. Diese Grundsätze stammen direkt aus dem Humanitätsideal des 18. Jahrhunderts ab und haben den Juden einst die heißersehnte Freiheit aus dem Ghetto gebracht. Zum Sozialismus, nicht als zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern als zu der sozialistischen Bewegung, die die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in gerechter Weise umzugestalten entschlossen war, hatten gerade die Juden des 19. Jahrhunderts, die von der selbstverständlichen gesellschaftlichen Geltung ausgeschlossen und nur auf Grund besonderer Leistungen oder wirtschaftlicher Macht zugelassen waren, eine besondere natürliche Neigung. Die alten religiösen Bindungen waren in den häufigsten Fällen gelöst; fremd, anschlußbedürftig, heimatlos wußte der Jude vor 100 Jahren in der frühsozialistischen Ära wie kein anderer zu tiefst Recht von Unrecht zu sondern, denn er war selbst als Fremder im Lande Ägypten gewesen. Aus dieser Situation kam hauptsächlich die historische Hinneigung des Juden zum Sozialismus und zur sozialen Bewegung. Die Grundeinstellung des Juden nach seiner Herkunft und der Lehre seiner Väter ist eine durch und durch konservative. Wo praktisch Juden in Westeuropa, besonders in Deutschland, zur aufbauenden Tätigkeit für Volk und Staat herangezogen wurden, haben sie sich als die besten und uneigennützigsten Kräfte bewährt. Viel schwerer ist die zweite theoretische Frage zu lösen: Die Loyalität zu einem ausgesprochen judenfeindlichen Regime, das seinerseits den Juden nicht als Volksgenossen und loyalen Staatsbürger, sondern als Quelle für alles Staatsfeindliche, Volksschädigende ansieht. Die Legalität der judenfeindlichen Obrigkeit macht jeden Widerstand und jede Gegenwehr zum Unrecht und zur Rechtswidrigkeit, zur „Illegalität“. Man muß die reine Theorie dieser Frage auf die Spitze treiben, um gelassen jedes praktische Mittel eines Auswegs zu überprüfen. Das uralte Problem des Widerstands gegen Unrecht und Mißbrauch der staatlichen Macht bleibt bestehen. Der von jeder materiellen Gerechtigkeit absehende Legalitätsbegriff ist zuletzt von dem Staatsrechtslehrer Carl Schmitt (Legalität und Legitimität; München 1932) einer schneidenden Kritik unterzogen worden (namentlich S. 30 – 40: „Legalität und gleiche Chance politischer Machtgewinnung“). „Kann die Mehrheit über Legalität und Illegalität nach Willkür verfügen, so kann sie vor allem ihren innerpolitischen Konkurrenten für illegal, d. h. hors-la-loi erklären und damit von der demokratischen Homogenität des Volkes ausschließen. Wer 51 v. H. beherrscht, würde die restlichen 49 v. H. auf legale Weise illegal machen können. Er dürfte auf legale Weise die Tür der Legalität, durch die er eingetreten ist, hinter sich schließen und den parteipolitischen Gegner, der dann vielleicht mit den Stiefeln gegen die verschlossene Tür tritt, als einen gemeinen Verbrecher behandeln.“ Carl Schmitt kommt zu dem Schluß, daß alles an dem Prinzip der gleichen Chance innerpolitischer Machtgewinnung hängt. Aber dieses Prinzip sei von solcher Empfindlichkeit, daß schon der ernstliche Zweifel an der vollen loyalen Gesinnung aller Beteiligten

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die Anwendung des Prinzips unmöglich macht. Denn man kann die gleiche Chance selbstverständlich nur demjenigen offenhalten, von dem man sicher ist, daß er sie einem selber offen halten würde; jede andere Handhabung eines derartigen Prinzipes wäre nicht nur im praktischen Ergebnis Selbstmord, sondern auch ein Verstoß gegen das Prinzip selbst (a. a. O., Seite 37). Theoretisch bietet auch die Weimarer Verfassung einen „legalen“ Weg mittels qualifizierter Mehrheiten die Juden zu entrechten; allerdings bliebe dabei immer die Hoffnung, daß die Waage sich später auch wieder nach der anderen Seite neige. Wir wissen nicht, wie viel vom Hundert sich bei den Wahlen am 5. März vor die Regierung stellen und wie viele ihr opponieren werden. Die Zählungen vom 31. Juli und 6. November sind im Ganzen gute Anhaltspunkte. Die deutschen Juden sind diesmal vollzählig in der Opposition. Die letzten Jahre haben uns gelehrt, nichts für unmöglich zu halten, Beteuerungen, Proteste oder den Appell an den Gerechtigkeitssinn zu unterlassen und mit kühlster Aufmerksamkeit, die verstärkt wird durch das Bewußtsein der völligen Aussichts- und Wirkungslosigkeit irgendeines praktischen Schrittes im gegenwärtigen Stadium den Gang der deutschen politischen Tragödie zu verfolgen. Über Menschen- und Bürgerrechte eines Teils des deutschen Volkes kann nicht abgezählt werden. Ohne Furcht, ja zuversichtlich und gelassen schreiten wir den Ereignissen entgegen. Ein erhärtetes und völlig sicher gewordenes, geachtetes Judentum wird aus den Wechselfällen unseres staatlichen und politischen Lebens hervorgehen.

11. Grenzen der Vernunft und des Humanitätsideals. Zu dem Erasmusbild von Huizinga Im Hochsommer dieses Jahres jährte sich zum 400. Male der Todestag des niederländischen Humanisten Erasmus von Rotterdam, den meisten heute nur noch aus der Kunstgeschichte vertraut; denn Erasmus ist von den drei größten Malern portraitiert worden, von Albrecht Dürer, Hans Holbein und Quentin Metsys in Antwerpen. Und doch hat die ganze gebildete Menschheit – und aus mehrfachen Gründen ganz besonders die heutige Judenheit – Ursache, den Namen Erasmus nicht zu vergessen. Wir haben das Glück, durch das kongeniale Werk eines wahrhaft erasmischen Beobachters, Psychologen und Skeptikers, des Leydener Historikers Huizinga, dessen jüngste Diagnose des kulturellen Leidens unserer Zeit einen charakteristischen, fast allzu widerstandslosen Widerhall gerade in unseren Reihen gefunden hat, einen unpathetischen, höchst zuverlässigen Führer und Deuter des Lebens- und Gedankenweges des uns am nächsten stehenden Mannes der Luther-Zeit bekommen zu haben. Huizinga erspart uns gelehrte Spezialuntersuchungen, aber er ist auch gleich weit entfernt von interessanter Romanschriftstellerei, die sich leider ja auch längst des Erasmus bemächtigt hat. Dessen richtig verstandener Geist scheint weit und umfassend genug, um Ideale in sich zu beherbergen, die an keine Landesgrenze gebunden sind, und Erkenntnisse, welche niemals veralten. „Als Kind des 16. Jahrhunderts betrachtet“ – so schildert uns Huizinga seinen gemäßigten Idealismus – „scheint er vom allgemeinen Charakter seines Zeitalters abzuweichen. Mitten unter den heftig passionierten, scharf zugreifenden und gewalttätigen Naturen der Großen seiner Zeit steht Erasmus da als der Mann, der zu wenig Vorurteile und etwas zu viel feinen Geschmack hat, der etwas zu kurz gekommen ist an jener „Stultitia“ (zu deutsch am besten „Illusionsfähigkeit“), welche er als das notwendige Lebenselement gepriesen hatte. Erasmus ist der Mann, der zu verständig und zu gemäßigt ist, um heroisch zu sein.“ Diese Charakteristik läßt uns aufhorchen und näher treten. Der Mann hat in der Tat vor 400 Jahren die westeuropäischen Kulturideale mitgestaltet, denen sich etwas verspätet die Judenheit Westeuropas mit Haut und Haaren verschreiben sollte. Deshalb ist der Fall Erasmus auch unsere Angelegenheit. Die Judenheit hat sich seine Ideale zu eigen gemacht: Humanisierung und Veredelung des Machtwillens, Friede und Europäisierung auf religiös-sittlichem Weg! Freie Bahn dem Tüchtigen! Pietas und eruditio! Bildung für jedermann offen, Bildung, das einzig würdige Kampffeld des menschlichen Geistes! Diesen Idealen wird heute von allen Seiten tief mißtraut; sie sind seit langem dem Verdacht ausgesetzt, daß sich unter ihrem Schutz Willens- und Charakterschwäche, zersetzende, ichsüchtige

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und wehleidige Eigenbrötelei, ein literatenhaftes Aesthetentum die letzte Galgenfrist verschaffen wollen. Selbst nervösere und zart organisierte Stimmen, die sich im 19. Jahrhundert gegen die Erziehung zum Humanitätsideal wandten, sind leider von jüdischer Seite geflissentlich überhört oder rein ästhetisch gewertet worden. Vernunft, Frieden, Bildung, Menschlichkeit! Lagarde, der Hochgebildete und Gelehrte, hat die Hochhaltung dieser Ideale als verderblich, undeutsch, unchristlich, scharf bekämpft und sie „eigentlich eine Erziehung zur Homunculität“ genannt. Von Nietzsche nicht zu reden, der gerade die metaphysische Frage über die Rolle der Vernunft und der Humanität am gründlichsten und unbarmherzigsten gestellt hat! „Vernunft ist auch noch im Weisesten die Ausnahme: Chaos und Notwendigkeit und Wirbel der Sterne – das ist die Regel.“ Das Leben und die Ideen des Erasmus, der inkarnierten Vernunft unter den Dämonen, Romantikern, eisernen Willensmenschen und Mystikern des Zeitalters, bleiben für alle Zeiten ein Schulbeispiel, welche wahre Bewandnis es mit der Zurschaustellung und Deklamation jener milden Tugenden der ausgleichenden Friedfertigkeit, des lächelnden Verständnisses für beide Seiten hat. „In jenem robusten 16. Jahrhundert brauchte man die eiserne Kraft Luthers, die stählerne Schärfe Calvins, die Glut Loyolas, nicht die samtene Weichheit des Erasmus.“ Man brauchte ihre Kraft und ihre Glut, aber auch ihre Tiefe, ihre rücksichtslose, vor nichts zurückschreckende Konsequenz, Ehrlichkeit und Offenheit. So aktuell und gegenwartsnah ist uns heute die schwere Enttäuschung, die die Haltung eines Erasmus für die stärkeren Zeitgenossen war, als die Welt in zwei Teile auseinanderzuspringen schien, Entscheidungen und Verzicht auf lieb gewordene Einrichtungen verlangte. Solche Naturen wie die des Erasmus geraten immer wieder in Epochen echter Krisen in den Verdacht der Glätte und Schlaffheit: Luther konnte das erasmische Lächeln und Schönreden nicht ertragen und sprach von dem „tückischen Wesen“ des früher hochgehaltenen Lehrers und Vorbilds. Die von dem holländischen Historiker Huizinga unnachahmlich und kongenial gezeichnete Gestalt bleibt das Urbild aller optimistischen Ahnungslosigkeit und Friedfertigkeit um jeden Preis am Vorabend großer Ereignisse. Das europäische Buch über einen wahrhaft europäischen Gegenstand von Huizinga ist vor mehr als fünfzehn Jahren geschrieben und jetzt erst, zum 400. Geburtstag seines unheldischen Helden, einer breiteren Oeffentlichkeit zugänglich gemacht. Die älteren Erasmus-Bilder, in dem Hutten-Buch von David Friedrich Strauß und viel später das des Meineckeschülers Hajo Holborn (1929), sowie gleichzeitig das von Otto Flake („Ulrich v. Hutten“, 1929) behalten ihren Wert. Aber Huizinga gelang am besten die Analyse einer komplizierten seelischen Struktur. Das Meisterwerk, das der breite Kenner des Humanismus, der verstorbene Münchener Universitätsprofessor Paul Joachimsohn von der weltgeschichtlichen Rolle des Erasmus in der westeuropäischen Geistesgeschichte in der prägnantesten Gedrungenheit vor etwa 10 Jahren (in der Propyläen-Weltgeschichte) entworfen hat, bleibt auch von Huizinga unübertroffen. Joachimsohn zeichnet zunächst den Werdegang des Führers der humanistischen Bewegung und den breiten Bildungsstrom, der von ihm

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ausgegangen ist, wie seine neue Philosophie Religion und Bildung zugleich war, wie sie dem mystischen Drange der Zeit entgegenkam und gleichzeitig alle Ansprüche einer aufklärerischen Kritik befriedigte, indem sie die Ueberlieferung der Religion durch allegorische Deutung zu Sinnbildern einer natürlichen Sittlichkeit machte. Eine solche Vereinigung entgegengesetzter Haltungen entsprach ja auch in den verschiedensten Epochen den Ausgleichstendenzen jüdischer Denker und Führer. Das letzte Ziel des Erasmus war universal und ausgleichend in diesem Sinn, es war auf die Umschaffung der Kirche in eine philosophische und pädagogische Erziehungsanstalt gerichtet, auf die Sittigung der Welt durch Frieden und Bildung, auf eine christliche Einheitskultur, die auf der Uebereinstimmung der Gebildeten aller Länder über die Grundwahrheiten eines christlichen Gemeinwesens beruhte. Den Illusionen des Erasmus sind nur unsere eigenen jüdischen zu vergleichen! Zu seinen Freunden gehörten einst die Hohen und Höchsten, was sich hinterher als eine der großen Werttäuschungen herausstellte, über die er selbst so viel Weltkluges geschrieben hatte. Als er zu Beginn des Jahres 1516 das Neue Testament in der Ursprache in die Welt hinausgehen ließ, verglich er sein Werk in der Widmung an Leo X. mit dem Neubau von St. Peter: und ein Jahr darauf schrieb er an den Papst, daß unter seiner (des Papstes) Führung in diesem Zeitalter, das, wenn irgendeines, das Goldene heißen solle, die drei vorzüglichsten Güter des Menschheitsgeschlechtes ihre Auferstehung feiern könnten: die christliche Frömmigkeit, die schönen Wissenschaften und der öffentliche Friede. Das schrieb Erasmus vor Ausbruch der größten weltgeschichtlichen Zerklüftungen und vor einer neu einsetzenden Epoche heilloser Selbstzerfleischungen der Völker und Glaubensgemeinschaften. Erasmus sah die eigentliche Gefahr nicht und wollte immer wieder im grenzenlosen, im Grunde durch und durch egoistischen Ruhebedürfnis seines kompromissreichen Gelehrtendaseins ausgleichen, Frieden stiften, zu verstehen geben, daß er das Gute im Neuen ja immer schon gesagt habe, und was dererlei uns heute allgemein vertraute Biegungen und Wendungen sein mögen. Der Gang jener äußerst zweideutigen Politik, durch die Erasmus sich bei den Annäherungsversuchen Luthers der Entscheidung zu entziehen, den Frieden bewahren und selbst die Mitte einhalten wollte, ohne sich zu kompromittieren, hat etwas Erschütterndes. „Die Doppeldeutigkeit geht bis ins Tiefste seines Wesens. Viele seiner Aeußerungen im Kampf sind der direkte Ausfluß von Aengstlichkeit und Mangel an Charakter, auch von seiner eingewurzelten Abneigung, sich mit irgendeiner Sache oder Person zu verbinden“ … freilich auch „die edle Illusion, daß es möglich sei, durch Mäßigung, Einsicht und Wohlwollen den Frieden noch zu retten“ (Huizinga, S. 172). Mit dem Rauhen fehlt diesem Mannes auch alles Heftige und Unmittelbare seiner Zeit. Diese Reserve, diese Scheu vor dem Unmittelbaren, seine angeborene Ehrfurcht vor der Vieldeutigkeit alles Bestehenden, machen ihn unfähig, sich furchtlos der neuen Zeit entgegenzustemmen oder rückhaltlos für sie einzutreten. „Die Begriffe der Dinge sind für ihn nicht mehr wie für den Menschen des Mittelalters gleichsam in Gold gefaßte Kristalle oder Sterne am Firmament“ (a. a. O. Seite 140).

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„Was gibt es, das frei wäre von Irrtum“ – „Ich schätze bestimmte Behauptungen so wenig, daß ich mich leicht zu den Skeptikern schlagen könnte“, diese Briefstellen sagen alles. Aus einer solchen Skepsis und Gerechtigkeit entsprang seine einseitige und akademische Auffassung des großen Geschehens um ihn herum; er konnte in der Tat mit seinem feinen ästhetischen schwebenden Geist weder die tiefsten Tiefen des Glaubens noch die harten Notwendigkeiten des menschlichen Zusammenlebens, geschweige denn der Politik begreifen. Erasmus bleibt für uns zum Schluß ein überaus fruchtbares Geschichtsbeispiel für die richtigen Führereigenschaften in Krisenzeiten, für die Fragwürdigkeit hoher Deklamationen in unseren Reihen und für die Folgen eines Mangels von Wachsamkeit infolge von Vernunftoptimismus und schwächlichem Sich-Gehenlassen. Das Nachdenkliche bleibt die schwere Schädigung, welche durch solche Persönlichkeiten unsere eigenen Ideale von Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Bildung und Frieden erleiden. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn wir die Tragik des Erasmus, die jüngst von einem Schriftsteller einigermaßen verzeichnet wurde, als unsere eigene Tragödie und seine Irrtümer als die unseren empfinden. Die Tage gingen vorüber, wo er fast mit Huttenschen Worten – „Es ist eine Lust zu leben“ – das kommende Jahrhundert in froher Begeisterung begrüßt hatte. Der Sturm riß ihm wahrhaftig die Luft vor dem Munde weg, die er zu atmen gewohnt war. Er begann zu ahnen, daß der Vernunft keine Macht über die Fortuna gegeben war, die blind und wahllos ihre Lose schüttet. Erasmus bleibt das Beispiel der Machtgrenzen von Vernunft und Bildung, Menschlichkeit und Friedensliebe in einer Zeit der Machtverschiebungen, aber auch ein ewiges Beispiel dafür, daß jene Prinzipien kraftlos bleiben und aufs schwerste kompromittiert werden, wenn sich mit ihnen nicht furchtlose Charakterstärke, Einsatz- und Verzichtbereitschaft, vor allem aber verstandesklare, unbeirrbare Zielstrebigkeit sowie klaglose Leid- und Handlungsfähigkeit vereinen.

II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

1. Zum Tode Adolf von Harnacks Im Sommersemester 1906 besuchte ich die Frühvorlesung Harnacks an der Berliner Universität: „Einführung in die Evangelien“. In präzisen, scharf formulierten Sätzen legte der große Gelehrte am Schluß jeder Vortragsstunde das Ergebnis nieder; am Leitfaden des entstandenen Vorlesungsheftes las ich das Neue Testament noch viele Jahre. Der eulenartige Kopf mit den zurückgebürsteten grauen Haaren, die Brille auf der scharfen Hakennase, die baltische Sprechweise mit dem gaumigen, etwas verschleierten Tonfall: Das Ganze und das Einzelne jeder Bewegung in diesen prachtvollen Vorlesungen steht unvergeßlich vor mir. Das unbefangene, tiefere Eindringen in die christliche Lehre und in ihre Entstehung aus dem jüdischen Mutterboden hatte auf den jungen jüdischen Studenten, dem die Fragen der eigenen religiösen Praxis auf den Nägeln brannten, die mächtigste Wirkung. Seit dieser Zeit habe ich mich von religionsgeschichtlichen Spezialstudien nie ganz losgelöst, trotz allen Brotstudiums und der täglichen Berufsarbeit. Harnack als erster Anreger und Lehrer in diesen Dingen war deshalb so wichtig, weil man unter seiner Führung ein absolut zuverlässiges, in den Methoden philologisch-kritisches, in den Ergebnissen streng rationales, unromantisches Fundament bekam. Harnack war Textkritiker und Philologe ersten Ranges. Seine mehrbändige christliche Dogmengeschichte, die man an Hand der Texte lesen muß, seine großartige Geschichte der Entstehung und Verbreitung des Christentums in den ersten beiden christlichen Jahrhunderten, besonders sein letztes mustergültiges Werk über den Ketzer Marcion, der das Alte Testament und seinen Gott aus dem christlichen Lehrgebäude mit fanatischer Glut hinauswerfen wollte, sind unübertroffene Meisterleistungen strengster, voraussetzungsloser Wissenschaft. In allen diesen Werken setzt sich der protestantische liberale Theologe mit peinlicher Akribie mit den Lehren des Judentums auseinander; er fand für die Tatsache der Übernahme der jüdischen Grundlehren in das Christentum unter Abwerfung des Systems der jüdischen Pflichtenlehre die Bezeichnung „Entschränkung“ des Judentums. Darin lag ein eindeutiges Werturteil und ein Bekenntnis. Der christliche Theologe konnte nicht über seinen Schatten springen. Die Absolutheit des Christentums evangelischen Bekenntnisses blieb auch für Harnack unantastbar. Aber er half selbst die Waffen unbestechlicher Textkritik und historischer Schulung zu schmieden, mit deren Hilfe man mit seiner eigenen negativen Beurteilung des Judentums nicht allzu schwer fertig werden konnte. „Er häufte Zweifel zentnerschwer und fiel dann wütend drüber her.“ Wie die liberale protestantische Theologie des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts mit einem salto mortale aus dem Trümmerhaufen, den sie angerichtet hatte, wieder zur Absolutheit des Chri-

II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

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stentums kam, habe ich in meiner Einführung zu dem Jesus-Buch von Ditlef Nielsen1 ausführlich geschildert. Ist das einmal ausgesprochen, was Harnack in seinen Vorlesungen über das Christentum und in seiner Dogmengeschichte auf Grund einwandfreier Forschung gesagt hat, so helfen die neuesten Werke der protestantischen dialektischen Theologie trotz ihrer Schärfe gegen das vermeintliche Zerstörungswerk der liberalen Forscher wie Harnack nichts mehr, um das massive alte Glaubensgebäude wieder aufzurichten. Harnack hat jetzt bei seinem Tode keine gute Presse. Das kann in einer Zeit, die mit allen Mitteln den Geist als Widersacher der Seele, das Bewußtsein als Verhängnis schlecht macht, nicht anders sein. Die Zeitmode will nicht mehr wissen, „wie es eigentlich gewesen ist“, sondern erbaut sich aus vielerlei Gründen lieber an der „höheren“ Wahrheit der Mythe und an weitverbreiteten historischen Belletristik. Wenn die unveräußerlichen Denkgesetze und die Methoden unnachsichtlicher Kritik wieder zur Ehre kommen, werden die Forschungen Harnacks für lange Zeit hinaus wieder Richtung und Wege weisen.

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[Hier: II.2.]

2. Grundsätzliches zur Leben-Jesu-Forschung „Ich kann, Gott hab’ Lob, als ein Unparteiischer, Ungefangener einen jeden lesen und bin keiner Sekt oder Menschen auf Erden also gefangen, daß mir nit zugleich alle Frommen von Herzen gefallen… und bin des Irrens und Fehlgreifens an allen Menschen so gewohnt, daß ich keinen Menschen auf Erden darum haß, sondern mich selbs, mein Elend und Kondition in ihnen bewein, erkenn, siehe.“ Sebastian Franck, Geschichtsbibel 1531

Der gewesenen Wirklichkeit stehen wir frei gegenüber. Daß es einmal so und so gewesen ist, verpflichtet uns nicht mehr, einen möglichst ähnlichen Zustand herzustellen. Hoffnungslosigkeit oder Mangel an Furcht sind an dieser Abkehr nicht schuld. Unsere volle Klarheit über die Grenzen der Wiedergabe des Wirklichen, der sogenannten historischen Treue, die Fragwürdigkeit unserer Kräfte zu sehen und darzustellen, wie es eigentlich gewesen ist, haben die echte lautere Geschichtsforschung nur in sich festigen können und eine klare Situation geschaffen. Dieser unbeeinflußbaren, voraussetzungslosen, kritischen Geschichtsforschung gehört das Buch des ausgezeichneten dänischen Gelehrten Ditlef Nielsen in seinem Hauptteil an. Die streng wissenschaftliche Haltung der folgenden Blätter spricht für sich selbst und verteidigt sich an keiner Stelle gegen fremde Wege, den historischen Jesus zu vergegenwärtigen. Fremde Wege, das sind theologische und geschichtsphilosophische Vorbehalte, die den Zugang zu den eindeutig erkennbaren Hergängen, die sich an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit ereignet haben, tyrannisch oder dialektisch abriegeln. Von drei Seiten kommt heute diese Absperrung in der Hauptsache, nachdem neunzehn Jahrhunderte ohne Unterbrechung an einer bewußten oder unbewußten Verdunkelung des Tatbestandes, an seiner Unkenntlichmachung gearbeitet haben. Das „Neue Testament“, d. h. die Vereinigung der darin enthaltenen 27 Schriften zu einem untrennbaren und unantastbaren Ganzen, war ein Werk des „praktischen Interesses“ der altchristlichen Gemeinde und hat die wirklichen Vorgänge, den geschichtlichen Ursprung und den Sinn der einzelnen Dokumente und Schriften, von Anfang an gleich am wirksamsten verwischt und entstellt. Erst in den letzten 150 Jahren haben dann Generationen von Philologen, Historikern und Theologen aller Zungen mit einer beispiellosen Hingabe an die Sache der wissenschaftlichen Wahrheit (in ihrer Unentwegtheit, ihrem bohrenden Spürsinn und in ihrer Beharrlichkeit nur dem echt religiösen Impulse selbst vergleichbar), unter der über den eigentlichen Hergängen lagernden Schicht von Dogmen, Denkgewohnheiten, elementaren Mythenbildungen, kurz, unter einer Schicht aller erdenklichen Arten lichtfernhaltender Glaubensvorstellungen und

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

Wünsche, die noch erkennbaren Spuren wirklicher Ursprünge aufgedeckt und beschrieben. Von drei Seiten hauptsächlich aber kommt, wie angedeutet, gerade heute wieder Verdunkelungsgefahr. Da sind zuerst die Geschichtsphilosophen und tiefsinnigen Deuter der Geschichte, die Verächter des „Historismus“ zugunsten einer „höheren“ Wahrheit, die mit priesterlicher Haltung und in feierlich getragener Tonart anspruchslose Feststellungen philologischer oder historischer Art beiseiteschieben, um die angeblichen echten „seelischen Gehalte“, das „Lebensgefühl“ einer Zeit „geistesgeschichtlich“ zu zelebrieren, das heißt subjektive Erlebnisse und private Gefühle zur Schau tragen, als „wirksame“ Geschichte hinstellen und oft in wunderschöner Rede historischen Feststellungen aus dem Wege gehen. Helmut Berve, der junge Althistoriker, dessen hinreißender Versuch einer Entwicklung des Lebens Alexanders des Großen (Die Antike, Bd. III, 1927, S. 128 ff.) unvergessen bleibt, hat mit dieser Richtung im Jahr 1926 („Gnomon“, 2. Bd., Heft 8, S. 455 f.) abgerechnet. Die stärksten Worte gegen die „gedeutete“ Geschichte, also gegen die nicht einfach schlicht anerkannte, hat Friedrich Gogarten (besonders in seinem Buch „Ich glaube an den dreieinigen Gott“) gebraucht, aber von einem ganz anderen Standort aus und zu einem ganz anderen Zweck als etwa Berve. „Diese Sucht nach Geschichtsphilosophie, die als Pest nachgerade unser heutiges geistiges Leben vergiftet und es verfaulen läßt und die die Geschichte zu einem Spiel der Geistreichigkeit macht, ist der eigentliche Ausdruck für die tiefe Gottlosigkeit, die das heutige Tun und Denken auch da beherrscht, wo man ihr mit ernstester Gedankenarbeit und Geschichtsdeutung beizukommen sucht“ (Gogarten in dem zitierten Buch S. 181). Diese Geschichtsfeindlichkeit überschlägt sich in der Tat heute derart, daß man den Geist schlechthin als „gegenlebiges Prinzip“ zu enthüllen unternommen hat (Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, 4. Aufl., Leipzig 1927, S. 206 f). Vor lauter erkenntniskritischen Purzelbäumen, tiefsinnigen Spiegelfechtereien über die „wirksame“ Geschichte, über die Mythe, die angeblich die „höhere“ Wahrheit darstelle, vor lauter Schwierigkeit, „das Verhältnis der drei Sphären Leben, Wirklichkeit und Wahrheit zueinander“ zu klären, ist man vor der freilich unendlich entsagungsvolleren Arbeit der Klärung des Quellentatbestandes und der einfachen Darstellung des historisch Erkennbaren in gefährlicher Weise abgekommen. Gogartens eigene Gedanken und die der Verfechter der Einzigartigkeit der Christusoffenbarung (ich meine darunter auch Barth, Thurneysen, Peterson, Brunner) bedeuten aber trotz der Treffsicherheit der Angriffe gegen die „gedeutete“ Geschichte die zweite große gegenwärtige Verdunkelungsgefahr für die Erkenntnis des wirklich Gewesenen in den Ursprüngen des Christentums, namentlich des Lebens von Jesus. Gogarten und die Neubegründer des christlichen Offenbarungsbegriffs wenden sich nämlich nur deshalb dagegen, daß die historische Realität, das wahre einfache Perfektum, von den Geschichtsphilosophen in Frage gestellt wird, weil damit auch die Realität der Offenbarung und des Geoffenbarten fragwürdig gemacht wird. Das wahrhaft Geschichtliche ist für Gogarten das grundsätzlich Unerkennbare

2. Grundsätzliches zur Leben-Jesu-Forschung

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und lediglich Anzuerkennende; die gesamte neuere Geschichtsforschung HegelRankescher Provenienz wird auf das Entschiedenste abgelehnt und die Forderung „deutungsloser Verantwortung“ erhoben. Der moderne Geschichtsforscher betrachte die Geschichte nur als ein Werden zu sich her; alles was vor ihm da war, erscheine ihm bloß als der Weg zu seiner eigenen Vervollkommnung, als Ich-Werdung, als „Zu-sich-selbst-Kommen“ des Geistes im menschlichen Bewußtsein und sei für ihn somit wert- und bedeutungslos, weil es nicht mit irgendwelchem Anspruch an das „Jetzt-Ich“ an ihn herantreten könne. Davon mache nicht einmal die christliche Religionsgeschichte in ihrer heutigen Gestalt eine Ausnahme, weil auch sie die Vergangenheit aus der Isolierung des subjektiven Geistes gestalte. Für Gogarten ist der Inhalt der neutestamentlichen Schriften „die Erlösertat Christi“, und diese Erlösertat besteht wiederum in der „Durchbrechung des Ichpanzers“, in der „Aufhebung der bloßen Immanenz“. Die moderne Geschichtsforschung aber gebe nur „das Vergangenheitsbild, das der eingekapselte Mensch sehen will“, der heutige Historiker sei deshalb der Antichrist, der Jesushenker. „Indem er das Einst zum Jetzt in Beziehung setzt, statt umgekehrt die Realität des historisch Gewesenen schlicht anzuerkennen, tilgt er das Du aus der Geschichte, das heißt tilgt er Jesus aus.“ Auch Emil Brunner erkennt dem modernen Historiker den Titel christlich im Sinne des klassischen Christentums ab, weil er von einem allgemeinen Begriff der Religion (und damit der Offenbarung) ausgeht und ihm die Christus-Offenbarung nur eine spezifische, interessante Äußerung des Religiösen sei. Gogarten und die ihm folgen haben nur leider nicht gesehen, daß, wie ihnen ein Kritiker (Erwin Reisner „Zwischen den Zeiten“, 6. Jahrg. 1928, S. 126 f.) entgegengehalten hat, mit dem – meinetwegen anerkannten – Verbot, das Du und die historische Realität zu deuten, doch logischerweise nicht auch die Deutung der Geschichtlichkeit, das heißt der Zeitlichkeit und der mit ihr gegebenen Herabminderung des Du durch das Ich und endlich dieses Ichs selbst verboten sei. Aber die kurze trockene Feststellung dieser „Herabminderung“ genügt dem Historiker, er geht alsbald an die wirkliche Arbeit. Der „orthodoxen“ Anschauung von Friedrich Gogarten, Emil Brunner, Karl Barth ist am tapfersten und ehrlichsten Hugo Greßmann, der unlängst verstorbene Berliner Vertreter der alttestamentlichen Wissenschaft, entgegengetreten („Christliche Welt“ 1927, Nr. 21 Sp. 1050 ff.). Er hat wieder den Mut gehabt, eindeutig zu erklären, daß die Methode der Geschichtsforschung und der wissenschaftlichen Quellenexegese immer dieselbe bleiben muß, „ob es sich nun um die Erklärung des Alten oder Neuen Testaments oder um die der Veden, des Avestas, des Korans oder der Germania des Tacitus handelt“; denn überall sei der Exegese dieser Urkunden dieselbe Aufgabe gestellt, nämlich aus den überlieferten Schriftwerken die Tatsachen festzustellen, die wirklich gewesen sind, oder die Gedanken herauszuarbeiten, die die Verfasser gedacht haben. „Wer wie Barth den Römerbrief auslegt, indem er mit Bewußtsein von den religiösen Bedürfnissen des gegenwärtigen Menschen ausgeht und auf die Gegenwart wirken will, der lehrt uns nicht den Paulus kennen, wie er wirklich war, sondern den Paulus, wie er nach Barth hätte sein müssen, der macht aus einem Brief des Paulus an die Römer einen Brief Barths an seine Gemeinde. Diese Art der Auslegung ist, vom Standpunkt der wissenschaftlichen Exegese aus

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betrachtet, eine Fälschung der Geschichte.“ Das ist das erlösende Wort. „Hier ist uns kein Wort zu scharf“, fährt Greßmann fort (und seine folgenden Worte dürfen auch dem aufklärenden – ja aufklärenden – Buch von Nielsen vorangestellt werden): „Hier müssen wir im sittlichen Zorn reden über eine Art von Theologie, die das Wesen der geschichtlichen Wissenschaft völlig verkennt.“ Die Frage „Was ist Theologie?“ soll hier nicht von neuem angeschnitten werden. Nichts bringt so weit ab von der Erkenntnis der Vorgänge um das Leben von Jesus als die dialektischen Streitigkeiten darüber, wer der wahre Dialektiker sei, Streitigkeiten, über die der Jesuit Erich Przywara am souveränsten und klarsten berichtet hat („Neue Theologie?“ in den „Stimmen der Zeit“, Jahrg. 1925 / 26, Heft XI, S. 348 ff.). Erik Peterson, der Bonner evangelische Theologe, hat in seiner der eben erwähnten Frage gewidmeten Schrift den Satz aufgestellt: „Wenn etwas gegen einen Theologen mißtrauisch machen kann – und mag es sich dabei selbst um Luther handeln –, dann ist es die Größe seiner schriftstellerischen und seiner sprachlichen Leistung.“ Peterson hat gleichzeitig durch seine historisch-philologischen Arbeiten (besonders ΕÍƩ ΘΕOΣ Göttingen 1926) nachhaltig dafür gesorgt, daß sich sein Satz nicht gegen ihn selbst kehrt. Die größte Verdunkelungsgefahr gegenüber der Frage, was es eigentlich um Jesus gewesen ist, kommt jedenfalls von den heutigen theologischen Schriftstellern der Richtung Barth, Brunner, Gogarten. Nicht verschwiegen werden endlich darf aber auch die dritte Art, wie der historischen Wahrheit der Weg versperrt wird, und zwar von der „historischen Theologie“ selbst, oder wie sie auch genannt wird von der „protestantischen liberalen Theologie“, die von der eben angedeuteten orthodoxen Richtung so wuchtig als der Antichrist und Jesushenker verworfen wird. In Albert Schweitzers, des großen Gelehrten und vorbildlichen, liebenswerten Menschen, „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ (1913) sind die nicht zu verkleinernden bahnbrechenden Verdienste der liberalen historischen Theologie aller Schattierungen um die historische Forschung gesammelt und beschrieben; davon kann hier nicht wieder im Einzelnen die Rede sein. Diese Verdienste um die reine Geschichtswissenschaft seien unwidersprochen. Schweitzer hat es einfach und klar gesagt, als er zum Schluß über den „Ertrag der Leben-Jesu-Forschung“ die Summe zieht: „Diejenigen, welche gern von negativer Theologie reden, haben es nicht schwer. Es gibt nichts Negativeres als das Ergebnis der Leben-Jesu-Forschung. Der Jesus von Nazareth, der als Messias auftrat, die Sittlichkeit des Gottesreiches verkündete, das Himmelreich auf Erden gründete und starb, um seinem Werke die Weihe zu geben, hat nie existiert. Es ist eine Gestalt, die vom Rationalismus entworfen, vom Liberalismus belebt und von der modernen Theologie mit geschichtlicher Wissenschaft überkleidet wurde. Dieses Bild ist nicht von außen zerstört worden, sondern in sich selbst zusammengefallen, erschüttert und gespalten durch die tatsächlichen historischen Probleme, die eines nach dem andern auftauchten.“ Infolgedessen bleibt bei Schweitzer der Weisheit Schluß: „Die historische Erkenntnis muß zum Ärgernis für die Religion werden.“ – „Nur die von ihrem Zeitboden gelöste Christusidee, der Geist Jesu, wird die Welt überwinden.“ Damit stehen wir unmittelbar vor dem Schauspiel eines immer wiederkehrenden Salto mortale, den man in jedem liberal-theologischen „Leben Jesu“ beobachten

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kann: Der gemäßigt konservative Flügel genauso wie die extreme Richtung mit ihren bis zur Unerträglichkeit psychologisierenden Neigungen legen zuerst ruhig und besonnen in umfangreichen, umständlichen wissenschaftlichen Kapiteln von erheblichem Niveau nach strenger kritischer Methode (nicht anders wie bei der Exegese sonstiger Literaturdenkmäler der Antike) die Quellen des Lebens Jesu auseinander und kommen schließlich zu dem Ergebnis, das schon vor 54 Jahren in der Habilitations-These Harnacks (1874) in fünf Worten formuliert war: Vita Jesu Christi scribi nequit. Und dann kommt der Salto mortale: Die wissenschaftliche Geschichtsforschung führt, wie bewiesen wurde, nicht weiter; also liegt ein abgesteckter Bezirk für den Glauben vor; das Versagen der Geschichtswissenschaft schafft Raum dem Dogma, dem theologischen Raisonement über die „Übernatürlichkeit“ oder „Übergeschichtlichkeit“ des historisch nicht Erkennbaren. Bei den radikalen Zerstörern des dogmatischen Jesus-Glaubens aus dem Lager der protestantischen liberalen Theologie, den Verfassern der religionsgeschichtlichen Volksbücher (Bousset – Wrede – Jülicher – Wernle – Holtzmann), fällt der Salto mortale in die Kirchenfrömmigkeit etwas anders aus. Im Grunde sammeln aber auch die Anhänger dieser Auffassung „apologetische Feigen von skeptischen Disteln“, wie Harnack resigniert in Anlehnung an den Satz des Evangeliums (Matth. 7, 16 und Luk. 6, 44) gesagt hat. Der Glaube verliere durch das Aufgeben des Dogmas nichts, beschwichtigen sich die Verfasser der Volksbücher selbst. „Das Geheimnis der Person Jesu hängt nicht an der Art ihrer äußeren Entstehung“, sagt Wilhelm Bousset in seinem „Jesus“ (3. Aufl., 21. bis 30. Tausend! Tübingen 1907, S. 3). Und weiter: „Ja, die ersten Kapitel des Lukas werden uns in ihrer wundervollen Schönheit und Poesie erst recht wertvoll und hochbedeutsam, wenn wir sie als Legende betrachten.“ Nach einem kargen, sachlichen Bericht über die Überlieferung und ihre Widersprüche, der freie und große Satz (S. 10 im gleichen „Volksbuch“): „Man wird daher gut tun, allen Versuchen eines ‚Lebens‘ oder einer ‚Geschichte‘ Jesu den Abschied zu geben.“ Dann wieder, nachdem die meisten Erzählungen der Evangelien über das Leben des Jesus als ungeschichtlich, legendär und post festum gedichtet, mit sauberen, unwiderleglichen Methoden erwiesen sind, der kleinlaute Zuspruch: „Sie (die Erzählungen) sind ein schimmernder Kranz, den der dichtende Gemeindeglauben Jesu aufs Haupt gesetzt und tragen so ihren Wert für alle Zeiten in sich selbst.“ Das tun auch die Märchen aus 1001 Nacht. Der Verfasser des Markus-Evangeliums wird sogar vorwurfsvoll gerügt (S. 20): „Es kann nichts verkehrter sein, als wenn der Evangelist Markus und ihm folgend die anderen Evangelien, das Urteil fällt, Jesus habe seine Gleichnisse zum Zwecke der Verstockung des Volkes gesprochen.“ Das sei „dogmatische Weisheit einer späteren Zeit, die nichts tauge“. Jetzt wird verständlich, warum von den modernen „dialektischen“ evangelischen Theologen (besonders Gogarten) Bousset und seinesgleichen, Wellhausen und Troeltsch, die Henker Jesu genannt werden. In Wahrheit sind Bousset, Wrede, Jülicher, Wernle, Holtzmann, die Verfasser der Volksbücher, ebenso wie Wellhausen, der große Kenner beider Testamente und epochemachende Arabist, ferner Ernst Troeltsch, dessen Name nur mit der größten Ehrfurcht ausgesprochen werden sollte, lautere, ehrliche, tapfere Kämpfer, deren große Gelehrsamkeit und intellektuelle Redlichkeit im Streit

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liegt mit ihrem Christentum. Das Kapitel „Die Glaubensbedeutung Jesu“ in Troeltschs herrlicher, unübertroffener „Glaubenslehre“ (München 1925, S. 100 – 117) wiegt ein Dutzend der modernen „antihistorischen“ Dogmatik-Bücher der oben charakterisierten Offenbarungsprotestanten auf. Trotzdem bleiben auch diese so vielgelästerten historischen Theologen Verdunkler der einzigen historischen Wahrheit, denn sie erklären in einem Atem: Die „Abweisung der rein geschichtlichen Forschung soll und darf nicht dem Traditionalismus und Dogmatismus dienen“ – „Unhistorisches und was gesicherter naturwissenschaftlicher Erkenntnis zuwiderläuft, kann auch der Glaube nicht hinnehmen“; andererseits: „Christus ist und bleibt das Geheimnis Gottes, in welchem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen sind.“ Mit solchem Doppelgesicht darf man keine „religionsgeschichtlichen Volksbücher“ schreiben, weil der vertrauende, ungelehrte Leser auf die Weise verwirrt und geblendet wird. Man kann noch weniger, wie es Friedrich Loofs („Wer war Jesus Christus“, 2. Aufl., Halle 1922) oder Martin Kähler („Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus“, 2. Aufl., Photomechan. Druck, Leipzig 1928) tun, vor sich selber die Annahme eines notwendig bedingten und jeder Zufälligkeit enthobenen Geschichtsablaufes, also die Forderung nach deutungsloser Hinwendung zur Realität des dogmatischen Jesus Christus, in aller Strenge ohne Hintertür und Dialektik hinstellen und sich nichts davon erlassen und gleichzeitig sich der kritischen Methode des modernen Geschichtsforschers nicht enthalten. Und damit kommen wir zu der besonderen Bedeutung von Ditlef Nielsens JesusBild. Was hier der hervorragende Kopenhagener Gelehrte, der Herausgeber des großen internationalen Handbuches der altarabischen Altertumskunde, der Verfasser weithin anerkannter Arbeiten auf dem Gebiet der vergleichenden Religionsgeschichte, der Arabistik und Assyriologie uns gibt, ist in den Einzelheiten nichts Neues, als Ganzes jedoch ein neues und souveränes Bild dessen, was wirklich unverrückbar gewesen ist und ein dicker Strich durch gezwungene Wahrheitsverrenkungen auf der einen Seite und durch langweilige „Vermenschlichungen“ des Christuslebens und auf den Sand gebauter flüchtiger, psychologisierender, sentimentaler und rationaler Evangelienharmonien à la Frenssen oder Ludwig. Das Nielsensche Jesusbuch ist in den skandinavischen Ländern längst stark verbreitet und genießt das hohe Ansehen eines Volksbuches. Nielsen erliegt den oben beschriebenen Gefahren der Verschleierung und Zweideutigkeit in keinem Augenblick. Er stellt das historische Problem „Jesus“ mitten hinein in das große Forschungsgebiet vom „Alten Orient“, entlastet die fließende, quellende Darstellung von allem gelehrten Apparat und legt im letzten Teil die Fesseln der reinen Forschung ab, deutet das Wirken Jesus als neue Gesellschaftslehre, als Lehre und Forderung der Brüderlichkeit, als das Gesetz der Liebe gegen das Gesetz der Macht. Diese letzten deutenden und Menschlichkeit fordernden Teile des Buches gehören nicht mehr der wissenschaftlichen Forschung an. Denn die nach den Quellen möglichen Handlungen und Worte Jesu tragen keinen innerweltlichen Sinn in sich. Martin Dibelius (Geschichtliche und übergeschichtliche Religion im Christentum,

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Göttingen 1925) hat zuletzt diesen wahren Charakter der Predigt Jesu eindringlich und schlüssig nachgewiesen (besonders S. 40 ff.1). In Wahrheit hat Jesus auf allen Umbau der Welt verzichtet. Der apokalyptische Glaube an das unmittelbar bevorstehende Weltende ließ ihn religiöse, politische oder gesellschaftliche Einrichtungen dieser Welt ganz gleichgültig ansehen. Nicht irgendwelche ethische Praxis noch in dieser Welt durchzusetzen, war seine Absicht. Es lag ihm nur daran, durch das Gebot dieses oder jenes Verhaltens „dem Menschen zu der bei der Weltwende notwendigen inneren Haltung zu helfen“. „Angesichts der kosmischen Entscheidung fragt man nicht: was ist not für Welt, Volk und Gesellschaft, damit dieser oder jener Zweck erreicht werde? Es ist im wahrsten Sinne des Wortes nur „eines not“: zu wissen, was ich sein soll (nicht: was ich geleistet haben soll), wenn die Ewigkeit hereinbricht. Die Gebote für das menschliche Verhalten – in der alten Welt nicht mehr durchzuführen, in der neuen Welt unnötig – umschreiben nur eine menschliche Haltung; was aussah wie zweckbedingte Ethik, ist unbedingtes Ethos – ein neues Sein im Angesicht des Reiches, in der von allen Bedingtheiten freien Atmosphäre der Ewigkeit, in der Nähe des in die Welt hereintretenden Gottes“ (Dibelius, S. 45). Also Jesu Wort oder Tat hatte gar keinen innerweltlichen Zweck. „Jesu Hilfe dringt gar nicht bis an die Wurzel der sozialen Schäden; er fordert weder Fürsorge für Kranke noch Beschäftigung für Bettler noch auskömmliche Bezahlung für Lohnarbeiter, er redet nicht von wirtschaftlichen und kulturellen Mängeln, nicht von schlechten Wohnungen und schlechten Straßen, nicht von der Deklassierung ganzer Berufe wie der Zöllner, nicht von der unfruchtbaren Häufung des Kapitals“ (Dibelius, S. 48). Die Lehre des historischen Jesus ist keine soziale Botschaft; die Forderung nach Ausgleich der Klassenunterschiede, nach Weltfrieden und Kinderfürsorge, nach Lösung der Frauenfrage und Abschaffung der Sklaverei ist von Jesus nicht erhoben worden. Der Geschichtswissenschaft gehören somit die letzten Teile unseres Buches nicht mehr an, schon nicht mehr der Teil über „das neue Glaubensbekenntnis“. Darum brauchte sich unser Autor bei seinem Urteil über das „Vaterunser“ weder mit den an dieses „übergeschichtliche“ Urteil nicht rührenden Erläuterungen aus Talmud und Midrasch zu Matth. 6, 9 ff. (Strack-Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. I, S. 406 ff.) noch mit den Ausführungen von Dibelius (in dem angeführten Buch S. 66 – 68) über das „Vaterunser“ auseinandersetzen. Da aber der Verfasser selbst entscheidenden Nachdruck auf die geschichtswissenschaftliche, namentlich religionsgeschichtliche Gewichtigkeit seines Jesus-Buches legt und auch der deutsche Verleger dieses Buch der Öffentlichkeit vorlegt aus der Überzeugung heraus, eine wirklich spürbare Lücke unseres landläufigen Bildes über den historischen Jesus zu schließen (nicht eine Lücke der gelehrten Forschung), seien hier zur Ergänzung und zur leichteren Möglichkeit des Weitergehens auf den wissenschaftlichen Wegen, zu denen Nielsen einen allgemeinen Zugang

1 Wilhelm Michaelis, Täufer, Jesus, Urgemeinde (Neutest. Forschungen II,3; 1928) führt jetzt diesen Beweis von Dibelius mit neuen Beobachtungen durch.

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öffnen will, die modernsten Grundwerke kurz genannt, die die Richtigkeit der großzügigen Anlage unseres vorliegenden Buches zeigen und die mit dazu beizutragen berufen sind, der über alles erhabenen Wahrheit und den edlen Absichten des Verfassers den Weg zu bahnen. Mehr als eine zwanglose Folge der wichtigsten Literatur ohne das Streben annähernder Vollständigkeit soll im folgenden nicht gegeben werden. Die vorderasiatische Sprach- und Altertumswissenschaft, die Kultur des alten Orients, in die der Verfasser so glücklich das Leben von Jesus hineinstellt, wird von den Werken zweier Altmeister gekrönt: Fritz Hommel, Ethnologie und Geographie des Alten Orients; seit 1926 ist das über 1100 Seiten starke Werk innerhalb des Handbuchs der Altertumswissenschaft glücklich fertig geworden; und: Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, aus der „Die Zeit der ägyptischen Großmacht“ (4. Aufl., Stuttgart 1928) eben vollkommen neu gearbeitet erschienen ist. Die beiden großartigen Werke, die unmittelbar in den babylonisch-assyriologischen Arbeitskreis einführen, sind: Bruno Meißner, Babylonien und Assyrien, I. Bd. 1920; II. Bd. 1925, und die der Vergleichung der Kultur Israels mit den anderen Kulturen des Vorderen Orients gewidmeten „Altorientalischen Texte und Bilder zum Alten Testament herausgegeben von Hugo Greßmann (2 Bde., Berlin 1926 / 27), ein überwältigendes Material, das in der Tat 3000 Jahre v. Chr. in das volle Licht urkundlicher Geschichte rückt. Dazu J. Benzinger, Hebräische Archäologie (3. Aufl., Leipzig 1927). In das neu entdeckte „Licht vom Osten“ führt vor allem Adolf Deißmanns gleichbetiteltes prachtvolles Werk (4. Aufl., Tübingen 1923) ein. Den Reichtum der einschlägigen Forschungen zeigen der zweite Abschnitt und Teile des dritten von Walter Ottos Kulturgeschichte des Altertums (München 1925). In die Umwelt des entstehenden Christentums und in die damit zusammenhängenden großen wissenschaftlichen Probleme führen von mehreren Seiten ein: Eduard Meyer, Ursprung und Anfänge des Christentums, 3 Bde. (Stuttgart 1921 / 23) und natürlich noch der unentbehrliche Schürer: Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi (4. Aufl., Leipzig 1901 – 1909, 3 Bde. mit Reg.-Bd. 1911). Ferner: Otto Stählin Die hellenistisch-jüdische Literatur (München 1921, aus Christs Griechischer Literaturgeschichte, II. Teil, 1. Hälfte, 6. Aufl.); Harnack, Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten (2. und folgende Aufl., Leipzig 1906 f.); Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligonen (3. Aufl., Leipzig 1927); Reitzenstein und Schaeder, Studien zum antiken Synkretismus (Leipzig 1920); Paul Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen zu Judentum und Christentum (2. Aufl., Tübingen 1912); Norden, Agnostos Theos, Leipzig 1923; Wilhelm Bousset, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter (3. Aufl., neu herausgegeben von Greßmann, Tübingen 1926); Wilhelm Weber, Der Prophet und sein Gott. Eine Studie zur vierten Ekloge Vergils (Leipzig 1925); Edgar Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen (2. Aufl., Tübingen 1924). Die jüdische Umwelt behandelt jetzt besonders eindringlich Gerhard Kittel, Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum (Stuttgart 1926) und das vierbändige, schon kurz erwähnte Monumentalwerk Strack-Biller-

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beck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. I – III (München 1922 / 26), der IV. Band mit den Exkursen ist im Erscheinen. Dieser Kommentar beendigt die Diskussion über den jüdischen Anteil an der Ideenwelt des Neuen Testaments: Trotz der antijüdischen Tendenzen in fast allen Büchern des Neuen Testaments ist sein Geist unverfälschter und echter jüdischer Geist. Joseph Klausners großes hebräisch geschriebenes, in Jerusalem gedrucktes Werk über Jesus von Nazareth (eine englische Übersetzung erschien 1925) ist mit dem ganzen Rüstzeug moderner, namentlich deutscher Forschung gearbeitet und bleibt, allgemein von der Wissenschaft aller Länder anerkannt, mit Richtung gebend für unsere historische Erkenntnis der wahren Vorgänge um Jesu Leben und Streben; es zeigt nicht den Bruch der protestantischen historischen Theologie und gestaltet den Stoff überlegen, umsichtig und erschöpfend. Ferner für eine Reihe von spezielleren Fragen wichtig: Die Bände von Lietzmanns Handbuch zum Neuen Testament, die bekannten „Einleitungen“ in das Neue Testament, namentlich die neuen Auflagen der Kommentare zu den Schriften des Neuen Testaments, Aufhausers Textbuch „Antike Jesus-Zeugnisse“ (2. Aufl., Bonn 1925), dann vor allem „Flavius Josephus vom jüdischen Krieg, Buch I – IV, nach der slawischen Übersetzung deutsch herausgegeben und mit dem griechischen Text verglichen von y Mag. theol. Alexander Berendts (Dorpat) und Dr. theol. Konrad Graß (Dorpat) 2 Teile Dorpat 1924 –27“, dazu Robert Eisler, ʼIησοῦς Βασιλεύς ού Βασιλεύσας (Religionswissenschaft. Bibliothek Bd. 9), Heidelberg 1928f; dieses wichtige Werk beginnt eben in Lieferungen zu erscheinen. Endlich zur Ergänzung Eduard König, Die messianischen Weissagungen des Alten Testaments (Stuttgart 1923). Diese etwa zwei Dutzend Grundwerke, ausschließlich ganz große wissenschaftliche Leistungen von anerkanntem Wert, sollen nur an die Schwelle der vielmaschigen und verwickelten Problemenkreise des „historischen Jesus“ heranführen, und zwar den Nichtgelehrten, der sich nicht auf die Lektüre der Bücher der Bibel beschränken und doch nicht obskuren Traktaten oder einfältiger moderner schöngeistiger Literatur über Christus in die Hand fallen will. Ditlef Nielsens neues Buch ist der beste Schutz dagegen. Die aufgezählten wissenschaftlichen Werke führen dann weiter. Die Grundlagen eines tieferen Studiums aber und einer selbständigen Urteilsbildung über den gewaltigen Komplex religionswissenschaftlicher, historischer und archäologischer Fragen, die sich auf diesen Gebieten öffnen, werden ausschließlich durch strenge sprachwissenschaftliche Schulung, vor allem auch durch das viele Jahre erfordernde Eindringen in die semitischen Sprachen (einschließlich der semitischen Sprache der Keilschriftdenkmäler, des sog. Akkadischen) gewonnen, wozu jetzt Gotthelf Bergsträssers Einführung in die semitischen Sprachen (Sprachproben und grammatische Skizzen), München 1928, der beste zuverlässigste Wegweiser ist. Jesus Christus als Inhalt des Glaubens und als Teil der Religionssysteme der Kirchen mag an Wirkung weiter dem geschichtlichen Jesus unendlich überlegen blei-

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ben. Von dem dogmatischen Jesus war hier nicht zu sprechen. Wenn Theologen aber von dem historischen Jesus und den Urkunden reden, die sein Dasein bezeugen, so kann nur ein einziger Standpunkt als christlich gelten: Die Bibel, die Evangelien sind absolut irrtumslos, weil Gott ihr Urheber, absolut vollkommen und irrtumslos ist. Wissenschaftliche Probleme und historische Schwierigkeiten sind damit im vornherein ausgeschaltet. Die katholische Lehre hat diese Haltung rein bewahrt. Die Dokumente dieser sehr verästelten Lehre sind von Christian Pesch in dem großen Werk De inspiratione scripturae sacrae, Freiburg 1906 (seit 1926 ergänzt durch ein Supplementum continens disputationes et decreta de inspiratione sacrae scripturae) gesammelt und erklärt. Hier steht jeder Satz in seiner lateinischen lapidaren Form wie aus Granit gefügt, gesichert vor Vernunfteinwänden, dreifach gepanzert gegen jede kritische wissenschaftliche Fragestellung. Wie zerzaust und zerbeult nimmt sich dagegen die protestantische Lehre von der göttlichen Wahrheit der Bibel aus! Wohl haben noch Luther, Zwingli, Calvin, ihre zeitgenössischen und späteren Anhänger die absolute Göttlichkeit und Irrtumslosigkeit der biblischen Schriften betont, da sie ja die reine Lehre wieder auf die Bibel zu gründen versuchten. Seit dem 18. Jahrhundert begann dann der kritische Einbruch. Die Versuche, historische wissenschaftliche Kritik mit der Lehre von der Göttlichkeit der Bibel zu vereinigen, haben wir kennengelernt. Es existiert ein ans Herz greifendes, ziemlich unbeachtetes Dokument darüber, zu welchen unlöslichen inneren Verwicklungen bei aufrechten, ehrlichen protestantischen Theologen die geschichtliche Theologie, namentlich die Lehrfächer der Kirchengeschichte und Religionsgeschichte, führen muß. Es sind die schmerzenden Gedanken und flüchtigen Anmerkungen zur modernen Theologie, die Carl Albrecht Bernoulli aus dem Nachlaß keines Geringeren als Franz Overbecks im Jahre 1919 unter dem unpassenden Titel „Christentum und Kultur“ herausgegeben hat. Verkörpert das mächtige in jedem lateinischen Satz hieb- und stichfeste Werk von Pesch die katholische Lehre und ihre Konsequenz, so mag Overbeck für die neuere protestantische von jedem Hauch der wissenschaftlichen Kritik hin und her gewehte Ansicht zeugen. Overbeck nimmt zum Schluß seiner nachgelassenen Aufzeichnungen die protestantischen Theologen vor dem Vorwurf der Unredlichkeit und Heuchelei in Schutz; nur theologische Unbildung könne einen solchen häßlichen Vorwurf zeitigen. „Wären sie (die einen solchen Vorwurf erheben) theologisch gebildeter, so besäßen sie Kenntnis von der unabsehbaren Reihe der Mittel, welche religiös interessierte Menschen besitzen, um sich in ihren Illusionen zu erhalten.“ Hier haben wir den Schlüssel zu der sonderbaren Zwiespältigkeit der modernen Leben-Jesu-Forschung.

3. Grundsätzliches zur Forschung über das Alte Testament I. Der Anteil der Juden an der wissenschaftlichen Erforschung der Bibel. Der Standort der alttestamentlichen Wissenschaft außerhalb der christlichen Theologie Der auffallend geringe Anteil jüdischer Gelehrter an der Forschung des Alten Testaments ist oft beobachtet worden. Innerhalb der allgemeinen Geisteswissenschaften wird das mit diesen Urkunden zusammenhängende Wissen hauptsächlich von den theologischen Fakultäten beider christlicher Bekenntnisse gepflegt. Durch diesen Standort war eine breite ununterbrochene, zeitweise sehr intensive und großartige Beschäftigung mit dem genannten Gebiet durch prinzipiell und ausschließlich nichtjüdische Gelehrte durch viele Jahrhunderte – lange vor der modernen geisteswissenschaftlichen Sehweise – an und für sich gegeben. Als Gelehrte jüdischer Abstammung längst im Rahmen der abendländischen Wissenschaften mit anerkanntem Erfolg mitzuarbeiten begonnen hatten, blieben sie der modernen Wissenspflege der großen klassischen Literatur ihres eigenen Volkes fern. Für Juden und Christen übrigens eine gänzlich unproblematische Selbstverständlichkeit! An den ursprünglichen Grund dieser gegenseitigen Ignorierung, nämlich an den Anspruch der Christen, das wahre Israel zu sein und die daraus hervorgegangene dogmatische Stelle des Alten Testaments im katholischen und protestantischen Lehrgebäude, dachte man bei dieser reinlichen Scheidung schließlich nicht mehr; und der Zustand wurde nicht einmal durch die Ideen und Ereignisse der Aufklärung, der Emanzipation und des Liberalismus von irgendeiner Seite aufzuheben versucht. Die Beschäftigung der Juden mit ihren heiligen Büchern war bis in die neueste Zeit religiös vorgeschriebene Übung und Gottesdienst, nur „wertrational“ (in der Terminologie von Max Weber) betrieben zur Erfüllung eines Gebotes, also kein „sinnhaft“ orientiertes Lesen, etwa um den Wortsinn zu verstehen oder um das Gesetz, die religiösen Vorschriften daraus zu erfahren oder gar um das Verständnis des biblisch-hebräischen Sprachgutes zu fördern. Jedes Gebot oder Verbot in dem reich verzweigten System der jüdischen Lehre wurde wohl aus dem Text der Schrift herausgelesen, aber mittels einer exegetischen Arbeit, die von dem ursprünglichen Wortlaut wenig übrig ließ.1 Die „Mosaische Lehre vom Sinai her“ , ein künstlich an 1 Man gewinnt keine zutreffende Entscheidung aus den Worten der Thora, weil sie verschlossen ist. … Aber aus den Worten der Weisen kann man richtig entscheiden, weil sie die Thora erklären“. Bamidbar Rabba c. 14, 193b.

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den Bibeltext geknüpftes, langsam gereiftes System von religiösen Vorschriften, nicht der Bibeltext selbst wurde in zunehmendem Maße Gegenstand des Nachdenkens und der Erforschung. Die Religionsgeschichte des nachbiblischen Judentums ist die Geschichte der Auslegung der Bibel, genau wie in der Koran-Exegese der verschiedenen Epochen die dogmatischen und gesetzlichen Veränderungen im Islam am deutlichsten zum Ausdruck kommen. Die gegen Textveränderungen gesicherten heiligen Bücher werden von einem gewissen Zeitpunkt der dogmatischen Entwicklung an vor jeder Art der Verständlichmachung abgeschlossen. Die Sprache der heiligen Bücher wird dem natürlichen Wandel der Schrift- und Umgangssprache, in der sie ursprünglich niedergelegt sind, entrückt und so aus der Sphäre der weltlichen Meinung und des „gesunden Menschenverstandes“ herausgenommen. Das war bei allen Religionssystemen so, deren Lehren und Formen an ein Buch, also an eine dem Wortlaut nach festgelegte Urkundensammlung geknüpft sind. Das Bibellesen in heimischen Übersetzungen war nicht nur von der katholischen Kirche sehr genau geregelt (siehe z. B. das Schreiben Innocenz III. „Cum ex coniuncto“ vom 12. Juli 1199 an alle Christen der Diözese Metz in Mirbts Quellen zur Geschichte des Papsttums 4. Aufl. S. 173 f.). Erst infolge dieser Entrückung war es möglich, die späteren Lehren und Dogmen der Buchreligionen für die nähere Erklärung des „göttlichen Wortes“ und seine authentische Interpretation auszugeben. Die vergleichende Geschichte der älteren Exegese, das heißt der Ableitung des Dogmas, der Lehre, aus dem Schrifttext (nicht die Kritik jener Ableitungsmethoden und nicht die Frage, ob und warum diese Methoden „falsch“ oder „richtig“ sind, sondern das geistige Phänomen des „Schriftbeweises“) gehört zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben der Religionssoziologie und der vergleichenden Religionsgeschichte. „Tenach“ (die traditionelle abgekürzte Bezeichnung für die kanonische abgeschlossene heilige Schrift: Thora – Nebijim – Kethubim) trat also auch bei den Juden in den überblickbaren Zeilen von Vollendung des Talmuds an immer mehr beim eigentlichen „Lernen“ im Beth-Hamidrasch in den Hintergrund. Kritik in dem spezifischen, streng an bestimmte Regeln (Middoth) gebundenen Sinn war beschränkt auf die Festlegung und Auslegung der Halacha. Unter diesen Umständen wurde – nicht zu reden von einer Betrachtungsweise nach den heute eindeutigen Methoden wissenschaftlicher Quellenexegese – die selbständige Erforschung des kanonischen Textes in der Ursprache zwar nicht wie im Christentum und Islam infolge der Unterordnung unter der alleinigen charismatisch begründeten Lehrautorität verdrängt, so doch ebenso verpönt und durch eine „mündlich überlieferte“ nach allen Dimensionen ausgebaute Pflichtenlehre ersetzt. Wie namentlich später in den Hochburgen des Talmudstudiums, in Polen, Böhmen, Deutschland, seit etwa 1300 n. Chr. das Lernen und Lehren der „Miqra“ (der heiligen Schrift) vernachlässigt wurde, ist in den bekannten Quellenwerken, namentlich über die Geschichte der Juden in Polen, an drastischen Beispielen gezeigt. Außerhalb der traditionell streng gebundenen Form der Aneigung der „Schrift“ in Synagoge und Beth-Hamidrasch und weit abseits vom christlich-theologischen Lehrbetrieb stehen zwei merkwürdige jüdische Forscher, die für das strenge, unab-

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hängige Wissen um die Bücher des Alten Testaments epochemachend waren, und die die langsame Entwicklung der hergebrachten Forschungsart um Generationen überflügelten: Benedikt Spinoza und Abraham Geiger. Trotz der hoffnungslosen Vereinzeltheit der beiden Gestalten, obwohl ihre beiden großen Werke über die Bibel, von denen gleich näher die Rede sein wird, scheinbar keinen Nährboden hatten, aus keiner sichtbaren Kooperation gleich der überkommenden Behandlungsart der Schrift hervorwuchsen, trotzdem steigen mit dem Namen Spinoza und Geiger zwei grundverschiedene Welten vor uns auf. Spinozas Theologisch-Politischer Traktat, erschienen 1670, wird immer nach seiner Methode und seinen Ergebnissen das Muster selbständiger, unbestechlicher, nur von der Liebe zur Wahrheit geleiteter, souveräner Denkarbeit bleiben. „Spinoza war schon zu seiner Zeit da, wo unsere aufgeklärten Theologen jetzt erst hinkommen“, bemerkt der erste deutsche Übersetzer des Traktats, der herzoglich sachsen-gothaische Sekretär Schack Hermann Ewald (auf S. IV der Einführung der 1787 erschienenen sehr guten Übersetzung). Und Hegel charakterisiert in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (im dritten Band, S. 369, – Bd. XV der ersten vollständigen Hegel-Ausgabe – den Michelet 1836 bei Duncker & Humblot herausgab), sehr kurz aber treffend den Inhalt des Tractatus theologico-politicus so: „Es ist darin die Lehre von der Inspiration, eine kritische Behandlung der mosaischen Bücher und dergleichen, besonders aus dem Gesichtspunkte, daß diese Gesetze sich auf die Juden beschränken. Was spätere christliche Theologen hierüber Kritisches geschrieben haben, wodurch gewöhnlich gezeigt werden soll, daß diese Bücher erst später redigiert werden und zum Teil jünger sind als die babylonische Gefangenschaft, – ein Haupt-Kapitel für die protestantischen Theologen, womit die neueren sich vor den älteren auszeichnen und viel Prunk getrieben haben – dies alles findet sich schon in dieser Schrift Spinoza’s.“ Für den christlichen Zeitgenossen war der Traktat freilich ein Werk des Satans, ein Machwerk „von einem abtrünnigen Juden zusammen mit dem Teufel in der Hölle geschmiedet“, der Verfasser nichts anderes als ein apokalyptischer Bedränger der wahren Religion, der die Autorität der heiligen Schrift bedrohte und der Welt zu zeigen sich erdreistete, wie die heiligen Bücher durch Bemühen der Menschen verschiedene Male umgestaltet und dann mit List zu dem Ansehen göttlicher Urkunden erhoben wurden. Die zeitgenössischen Juden sahen in dem Traktat nur den gefährlichen judenfeindlichen Verrat eines bestochenen Renegaten. Es ist heute anerkannt und (von Leo Strauß gegen Hermann Cohens Analyse der Bibel-Wissenschaft Spinozas) more geometrico bewiesen, daß die dem Traktat nachgesagte „unnatürliche“ Verbindung von Politik und Philologie notwendig eingegangen werden mußte in dem geistesgeschichtlichen Zusammenhang, in dem Spinoza stand, nämlich auf dem steinigen Weg der Befreiung der Wissenschaft von erkenntnisfeindlichen, sagen wir es gleich, so unzeitgemäß es heute klingen mag, auf dem Weg der Befreiung der Wissenschaft „von kirchlicher Bevormundung“. Die Überordnung der autonomen Erkenntnis über die Autorität der Schrift und der Nachweis, daß die Schrift nicht die wesentlichen Erkenntnisse, die man der Vernunft verdankt, enthalte, ja daß die Schrift ihrem eigenen Sinne nach gar nicht Erkenntnisse vermitteln wolle, end-

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lich, daß die im Alten Testament vereinigte, reich verzweigte Literatur nur aus sich selbst, die „Schrift“ aus der „Schrift“, zu erklären sei, das sind im Wesentlichen die von Spinoza errichteten Grundpfeiler, auf denen jede wissenschaftliche Erforschung des Alten Testaments unbestrittenermaßen zu ruhen hat. Der Glaube an die „Wahrheit“ aller Schriftstellen, also der Glaube an die Bibel als Norm jeder Wahrheit und als das wesentliche und unerlässliche Kennzeichen frommer, rechtgläubiger Gesinnung – als Spinoza lebte, tatsächlich noch „eine Wirklichkeit ersten Ranges“ – dieser Glaube (nicht ein Kantisch-Cohenscher Vernunftglauben, der ein theoretisches, begriffliches Verhältnis zu Gott vollzieht) hat keine Beziehung zur Erkenntnis: Das ist die grundlegende These Spinozas und muß gleichzeitig grundsätzlich jeder wissenschaftlichen Erörterung über die Bibel auch heute noch vorangestellt werden. Alles was dieser „voraussetzungslosen“ Wissenschaft nicht entspricht oder nur teilweise entspricht, gehört in das Gebiet der Erbauung, der Technik, willige, dem Staat und der Kirche des Predigers gehorsame Menschen zu erziehen; auf Wahrheit um ihrer selbst willen, also auf „Geltung für die höchste Stufe des Menschengeistes, die autonome philosophierende Vernunft“ kommt es bei dieser Art des Hin- und Herwendens. Auslegens der Bibelstellen – diese Art kann ihrerseits wieder sehr wohl Gegenstand der Wissenschaft im reinsten Sinn sein – nicht an, auch dann nicht, wenn auf weiten Strecken der Darstellung nach streng wissenschaftlichen Methoden verfahren wird. Wir sagten: „Voraussetzungslose“ Wissenschaft. „Voraussetzungslosigkeit“ ist dabei in dem von allen Einschränkungen und Kompromissen geklärten Sinn gebraucht, in dem jüngst Eduard Spranger (in der Sitzung vom 10. Januar 1929 der philosophisch-historischen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaft: Sitzungsbericht 1929 / I) programmatisch den „Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften“ mit aller Schärfe und Umsicht umrissen hat. Also vor allem Festhaltung an einer einzigen unmißverständlichen Wahrheit und Überwindung des Relativismus der Standpunkte! Die Eigenart der weltanschaulichen Voraussetzung ist vielmehr selbst wieder zu wissenschaftlichem Bewußtsein zu erheben und die Auseinandersetzung der Weltanschauungen zum Objekt der Wissenschaft zu machen. Eine jüdische, katholische oder protestantische Bibelwissenschaft kann es daher nach Wesen und Begriff der Wissenschaft schlechthin nicht geben. Die einzig möglichen Stätten und Instanzen der Erforschung des Alten Testaments sind aus diesem Grund nicht die theologischen Fakultäten, sondern die semitische Philologie, die antike Geschichte und die vergleichende Religionswissenschaft. Wie Spinozas Tractatus theologico-politicus, so steht fast 200 Jahre später Abraham Geigers Werk „Urschrift und Übersetzungen der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der inneren Entwicklung des Judentums“ isoliert außerhalb des Zusammenhanges und normalen Ablaufes der Wissenschaftsgeschichte des Alten Testaments, noch heute in einzelnen Teilen grundlegend und nicht überholt, wie Spinozas bibelkritisches Werk geeigneter als jedes Werk vorher die unausweichlichen Grundsätze der streng wissenschaftlichen Betrachtungsweise des A. T. zu klären. Geigers „Urschrift“ erschien 1857. Die Geschichte des Bibeltextes ist ihr Hauptthema: Für alle diejenigen, die die Urschrift für inspiriert hinnahmen, als in sich vollendetes, unan-

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tastbares Wort Gottes, von dem kein Jota, kein Konsonant und kein Vokalzeichen abdingbar ist, also für die Gesamtheit der damaligen gelehrten und ungelehrten Judenheit, war ein solches Unterfangen von vornherein eine Blasphemie, das Unternehmen des Kofer-be’iqar („der die Grundlage leugnet“) in Reinkultur. Denn an der Bibel ging auch die jüdische Wissenschaft, die nur wenige Jahrzehnte vorher so verheißungsvoll begonnen hatte, wie auf stillschweigende Verabredung in weitem Bogen vorbei (Felix Perles in dem Sammelwerk „Abraham Geiger“ Berlin 1910, S. 317). Es wird noch im Einzelnen zu zeigen sein, daß zur Befreiung der Wissenschaft vom A. T. aus ihrer Isoliertheit, in welcher sie als eifersüchtig gehütetes Dominium der Theologie getrennt von der allgemeinen semitischen Altertumswissenschaft Jahrhunderte bis heute gehalten wurde, in den Bahnen fortgefahren werden muß, die vor mehr als 70 Jahren Geiger betreten hat. Heute kann es allerdings auch für jüdische Gelehrte nur mehr um diese Befreiung gehen. Denn für eine eigene spezifisch jüdische Wissenschaft von der Bibel ist die Zeit endgültig verpaßt. Im Jahr 1848 konnte Geiger noch mit vollem Recht sagen (S. 317 des oben genannten Sammelwerkes über Abraham Geiger): „Die höhere Blüte der jüdischen Theologie würde sich in einer wissenschaftlichen, biblischen Exegese und einer gesunden, biblischen Kritik entfalten. … Gerade auf diesem Gebiet wird sicherlich die jüdische Wissenschaft wieder den Höhepunkt gewinnen, wie sie ihn unter den Arabern für die frühere Zeit eingenommen hatte: es wird sich dann zeigen, wie den Juden ihre Bibel doch ein wahrhaft geistiges Eigentum sei, das sie mit der rechten heiligen Scheu, aber auch mit echter Vertrautheit zu behandeln wissen. Jene Willkürherrschaft, die christliche Exegese und Kritik üben bei unleugbar großen Verdiensten, hat Bestand, solange sie von jüdischer Seite ignoriert wird; man wird vom Ignorieren dann doch einmal abgehen und durch geistige Freiheit und Sicherheit den Herrscherstab erringen.“ Die Hoffnungen Geigers von einer höheren Blüte der jüdischen Theologie durch voraussetzungslose bibelwissenschaftliche Forschungen sind nicht in Erfüllung gegangen. Die Gründe dieses Versagens liegen in der tragischen Geschichte des ersten Jahrhunderts der „Wissenschaft des Judentums“, deren einzelne Phasen Elbogen (in der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, Berlin 1922) zuletzt noch einmal eindringlich und objektiv beschrieben hat. Noch tiefer, wenn auch subjektiver und leidenschaftlicher, hat Franz Rosenzweig im Jahr 1920 in einer flammenden Anklageschrift (jetzt wieder abgedruckt in dem Sammelband „Zweistromland“ Berlin 1926, S. 32 ff., dazu „Morgen“ III. Jahrg. Heft 2) auf den Mangel jüdischer Leistungen auf dem Gebiet der abendländisch betriebenen jüdischen Wissenschaft gedeutet und eine in allen Punkten auch heute noch zutreffende Erklärung dafür gegeben. „Forschung und Lehre, Wissenschaft und Unterricht: unter uns sind sie gestorben“, darin gipfelt seine Anklage. Ganz unabhängig von den wiederholten Feststellungen und Begründungen dieses Versagens, die am besten in den Schriften von Elbogen, Perles und Rosenzweig nachzulesen sind, sollen hier aus der geistigen Gesamtlage des heutigen europäischen Judentums ganz kurz die Ursachen abgeleitet werden, warum die Juden in der wissenschaftlichen Erforschung ihres eigenen Buches der christlichen For-

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schung so gut wie nichts an die Seite stellen können. Die äußeren Ursachen sind ohne weiteres klar; sie werden vielleicht indirekt, aber desto eindringlicher durch ein paar Sätze Nietzsches aus „Jenseits von Gut und Böse“ in Erinnerung gebracht. „Daß es Bücher gibt, so wertvolle und königliche, daß ganze Gelehrtengeschlechter gut verwendet sind, wenn durch ihre Mühe diese Bücher rein erhalten und verständlich erhalten werden, – diesen Glauben immer wieder zu befestigen, ist die Philologie da. – Philologie ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor allem eins heischt, beiseite gehen, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden, als eine Goldschmiedekunst und – Kennerschaft des Wortes, die lauter feine, vorsichtige Arbeit abzutun hat und nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht. Gerade damit aber ist sie heute nötiger als je mitten in einem Zeitalter der Arbeit, will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit allem gleich fertig werden will, auch mit jedem alten und neuen Buch: – sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heißt langsam, tief, rückund vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen.“ Wie konnte also bei den Westjuden des 19. oder gar des 20. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Erforschung der Bibel aufkommen oder sich Geltung verschaffen? Aber neben diesen äußeren „dringenden“ Abhaltungsgründen ist der Tiefstand des Anteils der Juden an der wissenschaftlichen Bibelforschung in der allgemeinen Haltung der drei großen Hauptrichtungen der neueren Judenheit zur Bibel, zur „Lehre“, zur freien Forschung überhaupt begründet. Um mit den „Schatzbehältern“ des Judentums, der modernen Orthodoxie zu beginnen: Auch der jüdische Glaube ist seit der Vorlesung des Gesetzes durch Esra im 5. Jahrhundert genauso wie später der christliche Glaube, Bibelglaube, und zwar in dem oben entwickelten Sinne. Welches der Text dieses von Esra aus Babylon gebrachten vom Perserkönig sanktionierten Gesetzes war, auf das das Volk feierlich verpflichtet wurde und wie sich der Prozeß abspielte, in dessen Verlauf dieses Gesetz zu einem Buch göttlichen Ursprungs, heiligen, unantastbaren und inspirierten Inhalts erhoben wurde, ist durch eine imponierende Forschungsleistung von Generationen von Historikern und Theologen in den letzten hundert Jahren immer mehr aufgehellt, wenn auch bis heute nicht zweifelsfrei festgestellt worden. Jedenfalls ist es gelungen, die Tatsache einer fortschreitenden Veränderung des Bibeltextes seit Esra bis zum Abschluß des Talmuds einwandfrei aufzudecken, soweit wir auch noch von einer klaren Geschichte dieses Textes entfernt sind.2 Das Ergebnis der Entwicklung seit Esra war: Die Vorstellung von der „kanonischen Dignität“ des Buches und das absolute Fernbleiben des rechtgläubigen, gesetzestreuen Judentums in ununterbro2 Die konventionelle Lehrmeinung, daß das Gesetzbuch Esras der von ihm selbst geschriebene, als Offenbarung ausgegebene „Priesterkodex“, also hauptsächlich der zweite Teil des Buches Exodus, der ganze Leviticus und der erste Teil Numeri gewesen sein soll, ist nicht als gesichertes wissenschaftliches Ergebnis hinzunehmen, ebenso wenig wie die damit eng zusammenhängende Theorie von der Zusammensetzung der Fünf Bücher Moses (aus der Überlieferungsschicht JE, vermehrt um D und zusammengearbeitet mit dem alten Bestand der Priesterschrift, der seinerseits vermehrt gewesen sein soll um das sog. „Heiligkeitsgesetz“ und andere sakralrechtliche Ordnungen, das Ganze „redigiert“ von Esra).

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chenem Generationenwechsel bis in die Zeiten der modernen jüdischen Orthodoxie von allem Rationalismus, also von aller philosophischen Gottes- und Offenbarungslehre wie vom Subjektivismus (mystisches Gotterleben als Offenbarung) und von historischen Spekulationen über ein Werden der Bibel. Für die Orthodoxie ist die Bibel, das heißt die massoretische, also die mit allen Mitteln vor Veränderungen geschützte Buchstabenfolge, das Wort Gottes schlechthin, somit in allen Teilen vollkommen und irrtumlos. „Wer sagt, die Thora sei nicht vom Himmel, der hat keinen Anteil an der zukünftigen Welt“ (Mischna-Traktat Sanhedrin 10, 1). Und in dieselbe Rangstufe kanonischer Geltung, als schlechthin verbindlicher geoffenbarter Wille Gottes, rückten später „Propheten“ und „Schriften“.3 Diese streng jüdische Richtung sagt ganz einfach bis heute: Die Erkenntnis Gottes und was wir tun sollen und unterlassen müssen, ist aus der schriftlichen und mündlichen Lehre zu schöpfen. Die Lehre ist der Inbegriff der Forderungen Gottes an sein Volk. „Nicht an der Vernunft messen wir das Wort Gottes in der Schrift, sondern am Wort Gottes in der Schrift messen wir die Vernunft und jegliche Wissenschaft.“ Bei einer solchen Haltung ist naturgemäß kein Raum auch nur für den leisesten Ansatz einer unbefangenen Betrachtungsweise der Bücher des Alten Testaments in der Art der Betrachtung eines anderen Literaturdenkmals. Denn mit dem Vorgang des Glaubens an die Heiligkeit, also an die Sonderstellung der Thora, der Propheten und der Schriften vollzieht sich in dem Gläubigen ein Denkprozeß, wird ein Schluß gezogen über ihre literarische Entstehung und über die philologisch-kritische Unantastbarkeit des durch die Massora gesicherten Textes. Da gibt es kein Ausweichen wie etwa: „Wenn Wellhausen recht hätte, würde das unseren Glauben nicht berühren.“ Gegen derartigen – verständlichen – Mangel an Bereitschaft zu Ende zu denken empfiehlt es sich, das (mit den Supplementen) fast 700 eng bedruckte Seiten starke lateinische Quellenwerk des Jesuiten Christian Pesch genau zu lesen: De Inspiratione sacrae scripturae. Im zweiten dogmatischen Teil ist hier u. a. die vor- und nachtridentische Doktrin der katholischen Kirche vorgeführt, die auch die letzte gedankliche Unklarheit über die Bedeutung und die begrifflichen Konsequenzen des Offenbarungscharakters der Schrift beseitigt. Der erste historische Teil des Peschschen Werkes enthält übrigens auch die Ansätze der Doktrinen des Judentums über die Inspiration der Bibel. Die Geschichte des jüdischen Offenbarungsbegriffs ist noch nicht geschrieben. Auch nach der unbestrittenen Lehre des Judentums sind die zur sinnlichen Wahrnehmung des göttlichen Wortes behilflichen Mittel, also die zeitlich und örtlich gebundene Schrift- und Umgangssprache der Bibel, ihr sorgfältig abgezählter Konsonanten- und Vokalbestand, bedingungslos inspiriert und einer Veränderung durch menschliche Vernunft entzogen. Rosenzweigs Feststellung („Morgen“, Jahrg. IV, Heft 3), daß sich die heutige europäische jüdische Orthodoxie wegen ihrer Stellung zur Bibel außerhalb des Judentums jedes geistigen Einflusses und in3 Daß die Entstehung des Schriftbegriffes der Synagoge von der Ausprägung eines scharfen Kanonbegriffes durch mehrere Jahrhunderte nachweisbar getrennt war und über die Doppelheit der Kanonbildung bei den Palästinensern und den Alexandrinern, kann hier nicht gehandelt werden.

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nerhalb des Judentums aller werbenden Kraft beraubt hat, ist demnach zwar an und für sich richtig, es fragt sich nur, ob Expansion und Propaganda nach innen und außen zu den erstrebenswerten Zielen des frommen, gesetzestreuen Juden gehört. Die Liberalen! Man sollte meinen, in ihren Händen wäre die Pflege der modernen Bibelwissenschaft in freiem, aber jüdischem Sinn am besten aufgehoben. Tatsächlich sind indes die Liberalen in ihren Lehrbetrieben der Wissenschaft des Alten Testaments jederzeit in gemessenem Abstand ausgewichen. Man lese darüber bei Rosenzweig in der schon erwähnten Sammlung „Zweistromland“ ausführlich nach. Die religiösen liberalen Juden sind nun eben über den Religionsbegriff Schleiermachers noch nicht hinausgekommen; für die geistig Führenden unter ihnen ist die Religion doch hauptsächlich eine heilige Musikbegleitung des Lebens, die Bibel das erhabenste Mittel ernster Erbauung. Religion ist ihnen vor allem kein Wissen, sondern „unmittelbares Bewußtsein“. „Intellektualismus“ und bloße Wissensübermittlung treten hinter allgemein ethischen Forderungen, nach denen sie die Bibel werten, zurück. Die Bibel ist ihnen Organ des tieferen Lebensverständnisses oder gleich der Kunst, Erhöhung und Vergeistigung des Lebens, aber weder die einfache Mitteilung eines wunderbaren, übernatürlichen Wissens von Gott und göttlichen Dingen, noch eine literarische Urkunde, mit modernen, kritischen Methoden erforschbar wie das Nibelungenlied oder Homer. Dem Durchschnitt ist sie nicht mehr als Erbauungsgelegenheit oder Anlass, Zitate daraus bei passenden Gelegenheiten in die gemessene Rede einzustreuen und der Predigt Fülle und religiöses Kolorit zu verleihen. Abraham Geiger blieb völlig vereinsamt. In einzelnen Fällen sehen wir jüdische liberale Gelehrte die Forschungen der protestantischen Wissenschaft gereizt und mit unzulänglichen Mitteln ablehnen oder umgekehrt „in achtungsvollem Abstand“ hinter ihr einherschreiten. „Was hier schon vieux jeu ist, wird dort als dernier cri genommen“, so kann man Rosenzweigs bittere, aber in jeder Hinsicht gerechte Kritik abwandeln. Das religiöse liberale Judentum ist die herrschende Religion innerhalb des abendländischen Judentums und ist eben wie die herrschende Religiosität in Europa aus allen Eigenschaften zusammengesetzt, die man an dieser immer wieder feststellen kann: Eine Mischung aus Moralismus, Sentimentalität, „gesundem Menschenverstand“ und Kulturmystik, einer Zwillingsschwester des Ästhetizismus. Bleibt der Zionismus! Wie weit bei ihm die Wiedergewinnung einer allgemeinen Einsicht in die historischen Formen des Judentums, in seine Religion, sein früheres Schrifttum, seine alte, große Buchkultur hinter der politischen und kolonisatorischen Aktivität zurückblieb, ist oft im Kreis seiner eigenen Anhänger, besonders von der Gruppe des „Misrachisten“, eindringlich kritisiert worden. Die strenge, rein gelehrte Bibelwissenschaft ist wohl die am wenigsten vordringliche Sorge der herrschenden Richtung im Zionismus. So haben die Hoffnungen Geigers auf eine moderne jüdische Bibelwissenschaft im kritischen Sinn keine Aussicht irgendwo in Erfüllung zu gehen. Geblieben ist dagegen (trotz eines imponierenden Ausbaues der christlichen Wissenschaft vom Alten Testament nach den verschiedensten Richtungen hin, die Gegenstand der fol-

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genden Darstellungen sein sollen) die von Geiger in jenen Sätzen aus dem Jahr 1848 festgestellte „Willkürherrschaft der christlichen Exegese und Kritik bei unleugbar großen Verdiensten“. Seit 1857, dem Erscheinungsjahr von Geigers „Urschrift“, ist dann die europäische Wissenschaft auf den Gebieten der vergleichenden Religionsgeschichte, der semitischen Philologie, der Geschichte des Alten Orients, der Archäologie – unabhängig vom theologischen Lehrbetrieb – unbeirrt weiter fortgeschritten. Damit war eine völlige Veränderung der Forschungsziele, die mit dem Alten Testament zusammenhängen, gegeben. Die christliche Theologie hält trotzdem bis heute an dem Anspruch fest, die auf das Alte Testament bezügliche Forschung, die philologischen und historischen Fundamente eingeschlossen, weiterzupflegen. Dieser Anspruch bedeutet ein schweres Hindernis für die Befreiung des Alten Testaments aus seiner wissenschaftlichen Isolierung und ein Hindernis für die unbeirrte sachliche Behandlung der offenen Fragen. Theologie in dem strengen gereinigten Sinn, den am schärfsten neuere evangelische Theologen (hier sei nur auf die Schrift von Erik Peterson „Was ist Theologie?“, ferner auf die Bücher von Emil Brunner „Die Mystik und das Wort“ und „Religionsphilosophie evangelischer Theologie“ hingewiesen) formuliert haben, hat mit den sprachwissenschaftlichen, religionsgeschichtlichen und archäologischen Fragestellungen, denen allein sich eine erschöpfende Erkenntnis der Literatur des Alten Testaments erschließen kann, nichts zu tun. Seitdem die katholische und evangelische Theologie den Gedanken von der heiligen Schrift des Alten Testaments als der Vorbereitung des Christentums nicht mehr als den leitenden Gesichtspunkt ihrer Art der Behandlung des Alten Testaments betrachtet und diesen Grundgedanken der christlichen Lehre nur mehr als historischen Grund und zur Verbrämung und Rechtfertigung ihres Monopols anführt, ist jede innere Rechtfertigung, das Alte Testament den genannten weltlichen Lehrfächern streitig zu machen, weggefallen. Das Alte Testament als göttliche Offenbarungswahrheit, als „Zeugnis von der Gottesoffenbarung in Jesus Christus“ – Christus rex et dominus scripturae – ist Gegenstand des christlichen Glaubens und der christlichen Theologie. Das Alte Testament, wie andere große religiöse Urkunden, als eine zufällige historisch bedingte Einheit, eine Sammlung von Urkunden verschiedenartigster Herkunft, ist Forschungsgegenstand des kritischen Philologen und Historikers. Ohne vorbehaltlose Lösung des denkenden Geistes aus den harten und unbedingten Bindungen der unverbrüchlichen Lehren der Offenbarungsreligionen des Judentums und Christentums über die Bibel als über das Wort Gottes ist ein Zugang zu den Schriften des Alten Testaments als zeitgebundener Literaturdenkmäler nicht möglich. In welchem Zustand finden nun jene profanen philologisch-historischen Disziplinen die Wissenschaft vom Alten Testament in dem Augenblick vor, in welchem sie dieser Forschung selbständige Wege und Ziele im Rahmen der semitischen Altertumswissenschaft weisen wollen? Denn an die Arbeiten, an denen bisher zum allergrößten Teil die Theologie beteiligt war, hat ja sowohl die Literaturwissenschaft, wie die semitische Sprachwissenschaft, die vergleichende Religionsgeschichte, die Archäologie und die Geschichte des Alten Orients anzuknüpfen, wenn sie selbst

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dieses Wissensgebiet verwalten will, wenn auch bei dieser Übernahme naturgemäß viele früher geleistete Arbeiten abgetragen werden müssen. Wenn wir in den nächsten Abschnitten darauf verzichten, bei Behandlung einzelner wichtiger Spezialfragen regelmäßig philosophische und erkenntnistheoretische Schutzvorrichtungen gegenüber außerkritischen oder „gemäßigt kritischen“ Standpunkten beizufügen, so sei hier bei Beginn dieses Versuches einen Überblick über ausgewählte neuere Probleme der alttestamentlichen Forschung zu geben, nachdrücklich ein für alle Mal gesagt: Die folgende Darstellung tritt auf mit dem Anspruch, den positiven unangreifbaren Wahrheitsbefund und ausschließlich wissenschaftliche Erkenntnisse zu geben; sie verneint die Möglichkeit verschiedener wissenschaftlicher Standpunkte, etwa einer konservativen oder kritischen, einer traditionellen oder „neueren“ Auffassung. Für die wissenschaftliche Erkenntnis gibt es auch hier nur einen einzigen Weg, den Weg, den die Analyse jedes Literaturdenkmals vorschreibt. Jede andere Betrachtung scheidet hier aus und könnte nur selbst wieder Gegenstand kritischer Beobachtung sein. Wir treiben hier also einen bewußten, rein rationalen Methodenmonismus. Die theologische Frage, ob die Erkenntnis selbst Vermessenheit, also eine Sünde ist, die Einwendungen, daß die Geisteswissenschaften doch an den zufälligen geistigen Gehalt und an die geistige Gestalt unserer fragwürdigen Gegenwart gebunden seien, ferner, „daß alles geisteswissenschaftliche Verstehen von der geistigen Weite und Reife der Forscherpersönlichkeit abhänge“, endlich, „daß alles Verstehen unbewußt oder bewußt aus einer weltanschaulichen Grundhaltung herauskomme und nur vermöge dieser Herkunft Basis für die letzten Wertsetzungen werden könne“ – lauter geläufige und von Spranger in dem schon zitierten Akademievortrag über den Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften unübertrefflich behandelte Betrachtungen, können jenen Anspruch nicht erschüttern. II. Aus dem Problemkreis „Die altorientalische Umwelt der Bibel“ Wir deuten zuerst aus dem viel erörterten Problemkreis „Die altorientalische Umwelt der Bibel“ einige Fragestellungen an. Vom bibelzentrischen Standpunkt gingen diese Fragen im 19. Jahrhundert aus; heute ist auch für die Erkenntnis der Urkunden des Alten Testaments am meisten dann zu erwarten, wenn die ägyptische und vorderasiatische Altertumskunde in strengster Selbstbeschränkung ihre eigenen Wege geht und sich Aufgaben und Methoden nur aus der ihr eigentümlichen Begriffs- und Stoffwelt heraus vorschreiben läßt. Lotungen der Volksseele, des religiösen spezifischen Gewichts, dann Prioritätsfragen, Urteile über kulturelle Höhenlagen, „Bestätigungen“ werden besser auf den Kanzeln der Synagogen und Kirchen zelebriert. Das Studium der Urkunden, die unmittelbar von der babylonisch-assyrischen und ägyptischen Geschichte, Religion und Kultur zeugen, ist heute zur eigenen getrenn-

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ten Aufgabe der beiden großen Fachgebiete der Ägyptologie und Keilschriftforschung geworden. Lesung, Überblick und Kontrolle fremder Forschungsergebnisse ist nur demjenigen mehr möglich, der – auf dem Hintergrund einer umfassenden Fachbildung und Methodenbeherrschung in der semitischen Sprachwissenschaft und antiken Geschichte – sich das Eindringen in den Stoff zur Lebensaufgabe gemacht hat. Die Möglichkeit eines selbständigen Urteils für Nichtspezialisten ist nur deshalb nicht hoffnungslos, weil große europäische Gelehrte der beiden Fächer neben ihren Spezialarbeiten zuverlässige Grammatiken, Glossare, Chrestomathien, Übersetzungen und Darstellungen des Gesamtgebietes mit einem stets überprüfbaren kritischen Apparat in entsagungsvoller Weise verfasst haben. Diese Arbeiten setzen den geschulten Kenner sprachwissenschaftlicher Methoden, der im Indogermanischen oder Semitischen zu Hause ist, recht gut in den Stand, in die Grundlagen des Ägyptischen und Akkadischen (mit diesem einheimischen Namen pflegt man jetzt die beiden Dialekte der semitischen Sprache der Keilschriftdenkmäler, das Assyrische und Babylonische, zu bezeichnen), namentlich auch in die Literaturen der verschiedenen Perioden dieser Kulturkreise einzudringen. Wer also Ermans Ägyptische Grammatik (nach dem neuesten Stand der wunderbaren vierten Auflage), die Setheschen Lesestücke, ferner Friedrich Delitzschs Assyrische Lesestücke und das Ungnadsche Elementarbuch über das Assyrisch-Babylonische mit den KeilschriftTexten regelrecht erlernt hat, der ist mit all seinen klassisch-arabischen, althebräischen und aramäischen Kenntnissen und Erfahrungen, die allerdings unerläßlich sind, zwar noch kein Ägyptologe und kein Spezialist der Keilschriftforschung. Aber zu ihm sprechen jetzt die Text- und Bilderbücher, die einer Vergleichung der Kultur Israels mit den anderen Kulturen des Vorderen Orients dienen, eine ganz andere Sprache als zu demjenigen, der die Urkunden – aus dem Boden ihrer eigenen Sprache in die modernen westeuropäischen Sprachen verpflanzt – unkritisch hinnehmen muß. Aus der Fülle dieser Art wissenschaftlich sehr wertvoller Ausgaben von Texten und Bildern seien hier im Vorbeigehen genannt: Die altorientalischen Texte und Bilder zum Alten Testament, die Hugo Greßmann, der vor kurzem verstorbene Vertreter des Alten Testaments an der Berliner Universität, mit Unterstützung hervorragender Sachkenner des Ägyptischen, Babylonisch-Assyrischen und Südsemitischen herausgegeben hat, ferner die Neubearbeitung des großen Ermanschen Ägypten-Werkes durch Hermann Ranke, Yahudas ausdrücklich auch für Nichtägyptologen geschriebene Untersuchungen über die Sprache des Pentateuch in ihren Beziehungen zum Ägyptischen, Bruno Meißners bewundernswertes Wagnis, jetzt schon eine vollständige und geschlossene Kulturgeschichte von Assyrien und Babylonien zu geben, das Textbuch zur Religionsgeschichte von Eduard Lehmann-Lund und Hans Haas, in welchem Hermann Grapow, Benno Landsberger und Heinrich Zimmern die ägyptischen, babylonisch-assyrischen und hethitischen Texte bearbeitet haben, die vielbändige Reihe „Der Alte Orient“, die seit 1903 bis heute in einfachen klaren Darstellungen dem Nichtfachmann tendenziöse Aufklärung über diese Gebiete gibt, die neuesten Darstellungen aller Gattungen der ägyptischen und babylonisch-assyrischen Literatur von Max Pieper und Bruno Meißner, Delaportes stoffreiche Rekapitulation „La Mésopotamie“ und die neue Sammlung von 122 In-

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schriften der altassyrischen Könige von Jtiti bis Salmannassar I. in transskribierten Texten und Übersetzungen, mit einem reichen gelehrten Apparat versehen. Alle diese umfassenden Werke heben die Isolierung der Welt des Alten Testaments auf und sprengen die Absperrung der Bibelforschung als theologischer Disziplin. Aber die Erfahrung und die zusammenhängende Lektüre jener Texte lehrt nun doch, daß die Unzahl von Hymnen und Gebeten, Epen und Inschriften, Gesetzen und Ritualtexten in einer europäischen modernen Sprache oft merkwürdig leer und gespensterhaft und in den erhaltenen, häufig zerfetzten Stücken wie die beweiskräftigste Folie gegenüber der Urgewalt der vertrauten, quellenden Bibeltexte roh und barbarisch wirkt. Stellt man sich auch außerhalb der Gefühlswelt, der sich der moderne abendländische Leser und Forscher der Bibel kaum entziehen kann, so läßt sich die Wirkung etwa der deutsch übersetzten babylonischen Psalmen, der Hymnen, Klageund Leichenlieder mit der eindrucksvollen Kraft unserer Thehillim (Psalmen des Alten Testaments) nicht messen. Ganz anders fällt das Urteil aber dann aus, wenn wir wie in ein Uhrwerk in das Gedankengefüge und die eigentümliche Seh-, Denkund Redeweise der zu vergleichenden altorientalischen, außerhebräischen Urkunden hineinsehen können, dadurch, daß uns ihre Schriftzeichen mit ihrer kaum zu bewältigenden Fülle von Bild- und Lautwerten und ihr Sprachbau wenigstens in den elementaren Grundzügen geläufig geworden sind. Nur mit dem Werden der größten Erfindungen der Technik vergleichbar ist schon allein die Entzifferungsgeschichte der Hieroglyphen und der Keilschrift. Dazu kommt nun das persönliche Erlebnis der grammatikalischen Präzision und der vollkommenen sicheren Lesbarkeit einer umfassenden, in den letzten Jahrzehnten neu aufgefundenen Literatur. Damit erst stellt sich das Sicherheitsgefühl des „Wissen-Könnens“ ein und wird der kontrollierbare und in jedem Augenblick regulierbare Prozeß der eigenen Urteilsbildung ermöglicht, die allein zu sicheren Forschungsergebnissen führt. Die Zuversicht in die Schlüssigkeit eines Wahrheitsbeweises, verbunden mit der steten Bereitschaft zur Einräumung einer nicht zu schließenden Erkenntnislücke, söhnt mit der Unvollkommenheit jener Sprachdenkmäler aus; denn infolge des Klangmangels und der erheblichen Lücken, besonders auch in der Kenntnis des ägyptischen Sprachaufbaues, stehen wir immer wieder vor einer einfachen Unerkennbarkeit des Textes und des Sinnes. Daß wir genau in der gleichen Lage bei unzähligen Bibelstellen sind, ist später noch zu erörtern. Unbedingt sicher bleibt, daß die tiefe Versenkung in den Geist der objektiv und zuverlässig wiedergegebenen Texte aus jenen alten Kulturkreisen nicht nur die Vorfrage über die Entstehungsgeschichte großer Teile der Literatur des Alten Testaments, also die Zusammensetzung und den Sinn „der etwa einzeln herauszuschälenden Quellen“ mitbeantworten hilft, sondern auch den Sinn und die Absichten des „abschließenden Redakteurs“, der das Ganze des Alten Testaments auf eine Ebene brachte, besser verstehen lehrt. Nur das Eindringen in die neuen Texte, verbunden mit der Möglichkeit selbständiger Nachprüfung des Urtextes ermöglicht zunächst das bloße Sehen neuer Probleme, neuer Probleme über den Zusammenhang und die Verwandtschaft der Literaturformen und Reli-

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gionsanschauungen im alten Orient, der Bräuche und Lebensäußerungen in diesen Ländern, neuer Probleme über ihren Ursprung und ihre Wanderung, über Umbildungen, Bedeutungswandel und Neuprägungen, über ursprüngliche oder abgeleitete Hergänge, Vorstellungen und Darstellungsformen im Alten Testament. Das Thema der politischen, religiösen und allgemein-kulturellen Umwelt des Alten Testaments steht heute mit Recht im Mittelpunkt der Forschung. Ein Stoffgebiet für sich ist die Forschung der politischen Geschichte Vorderasiens in ihrer Verknüpfung mit den Schicksalen Israels. Da der „Redakteur“, oder sagen wir ruhig Autor des Alten Testaments, die Geschichte des Volkes Israel vom Gottesgedanken aus deutet und sie in den Rahmen eines bestimmten moralisch-religiösen Schemas einfügt, überdies nur eine kurze Zeitspanne und einen engen Raum überblickt, kann man in diesen Schriften Sinn und Maß für die politische Problematik eines Staatswesens auf der Länderbrücke zwischen Ägypten und Mesopotamien nicht suchen. Die Bücher „Genesis“ bis „Könige“ bilden ein zusammenhängendes Werk, das die Geschichte Israels von der Weltschöpfung an4 behandelt, und das seine vorliegende Gestalt und scharf ausgeprägte Tendenz einem jüngeren nachexilischen Verfasser verdankt, dem wir das Epitheton biblischer Herkunft „Von Gottes Gnaden“ zuerkennen müßten, befände sich dieses Beiwort nicht im deutschen Sprachschatz elend mißhandelt und verbraucht. Die von diesem Verfasser bereits in literarischer Bearbeitung vorgefundenen Stoffe, Gesänge, Erzählungen, Annalen, Listen und Urkunden liegen zeitlich weiter zurück. Die Sicherheit, mit der manche Vertreter des Alten Testaments diese älteren Stücke datieren und aufteilen, steht in einem starken Mißverhältnis zu dem Mangel an sprachgeschichtlichen und stilkritischen Einzeluntersuchungen wie sie etwa vorliegt in der Arbeit von Arno Kropat aus dem Jahr 1909 über „Die Syntax des Autors der Chronik, verglichen mit der seiner Quellen, ein Beitrag zur historischen Syntax des Hebräischen“. Erkennung gemeinsamen zusammengehörigen Sprachgutes und eigentümlichen Sprachgebrauches, nach den grammatikalischen Formen, nach der Syntax und dem Stile muß erst unter Zuhilfenahme der erprobten Mittel der indogermanischen Sprachwissenschaft ermöglicht werden, ehe so sichere Behauptungen aufgestellt werden dürfen. Der sprachgeschichtlichen Betrachtung steht entgegen, daß Schreiber und Punktatoren (Naqdanim) bis zum 7. Jahrhundert nach Chr. den Texten verschiedenster Epochen der Sprachentwicklung innerhalb des Alten Testaments die uniforme Gestalt der synagogalen Aussprache und Lesart ihrer höchst unkritischen Zeit aufgedrückt und die Spuren der grundverschiedenen Herkunft und Entstehungszeit absichtlich ausgetilgt haben. Die gleiche Neigung zur Uniformierung des Textes ist ja bei der Geschichte des Kanons des Neuen Testaments und des Koran zu beobachten. Ob diese Schwierigkeiten beim Alten Testament überwunden werden können und ob ein vormassoretischer Text oder wenigstens ausreichende Teile davon für derartige sprachhistorische Unterscheidungen, die bei den ausgesprochen nachexilischen und mit Aramäismen durchsetzten Partien des Alten Testaments schon heute nicht zu 4

Bis zum Regierungsantritt Ewilmerodachs von Babylon 561 vor Christus.

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schwer durchzuführen sind, künftig allgemein, besonders auch für die Geschichtsbücher und die Propheten zu rekonstruieren sein wird, ist die Frage. Es muß einer besonderen Untersuchung (hier in einem gemeinverständlichen Schlußkapitel oder in einer Fachzeitschrift) vorbehalten werden, die Versuche und Methoden der letzten drei grundlegenden Publikationen des Bonner Semitisten Paul Kahle auf ihre Tauglichkeit zu dieser Rekonstruktion zu beurteilen, und das Problem noch einmal zu formulieren, das in der Frage gipfelt: Können Spuren einer Textbewegung vor der Vereinerleiung des Konsonantentextes und vor der Festlegung der Aussprache durch eine komplizierte Punktation noch erkannt, angeordnet und für die Gewinnung eines vormassoretischen Textes gebraucht werden? Spuren in der rabbinischen Literatur wären nach dem Vorgang Aptowitzers genau so zu berücksichtigen. Hier sei einstweilen nachdrücklich auf jene drei Werke Kahles hingewiesen: „Masoreten des Ostens“, 1913, das ist die Herausgabe und Untersuchung der ältesten babylonischen punktierten Handschriften des Alten Testaments und der Targume, dann die „Masoreten des Westens“, 1927, die Edition und Erklärung von Handschriftenresten nach dem palästinischen Punktationssystem mit Nachweisversuchen über wichtige Abweichungen von dem Einheitstext, endlich die Lichtbilderzusammenstellung von 70 weiteren babylonischen Handschriftenfragmenten unter dem Titel „Die hebräischen Bibelhandschriften aus Babylonien“ (1928). Daß ohne geschulte sprachwissenschaftliche Vorarbeiten ein Gesamtbild der politischen und kulturellen Geschichte Vorderasiens und die Eingliederung der Urkunden des Alten Testaments im Rahmen dieser Geschichte noch nicht möglich ist, zeigt mit aller Deutlichkeit der gegenwärtige Stand der Forschung. Diese Forschung ist über archäologische, philologische und historische Spezialprobleme noch kaum hinausgekommen. Beschreibung, Analyse und Deutung von einzelnen Denkmälern oder zusammengehörenden Urkunden oder Inschriften muß noch vorläufig Mittelpunkt der wissenschaftlichen Tätigkeit bleiben. So ist die sogenannte „Vorgeschichte Israels“, also seine Geschichte vor der Einwanderung in Palästina, durch eine Reihe außerordentlicher Funde erleuchtet worden. Die Konfrontation mit dem Alten Testament knüpft immer noch hauptsächlich an eine Reihe schon älterer, sehr gut beschriebener Funde an, darunter an erster Stelle an das Gesetzbuch des Hammurapi aus dem Jahr 2000, das die ausführlichste Bearbeitung seit der Auffindung im Jahr 1902 nach allen Seiten gefunden hat. Diese Gesetzessäule, der große schwarze Steinblock im Louvre, bedeutet auch einen Markstein in der Wissenschaftsgeschichte, vor allem eine bleibende, von Grund aus veränderte Einsicht in die sogenannte mosaische Gesetzgebung. An die Entdeckung des Gesetzbuches von Hammurapi knüpft sich die schlechthin größte Umwälzung aller Begriffe über das Alte Testament seit Menschengedenken. Schon 15 Jahre vorher, 1887 / 88, fand man in Tell el-Amarna in Mittelägypten die Tontafeln mit der umfassenden politischen Korrespondenz der Pharaonen Amenophis III. und IV. mit ihren Vasallen, den palästinischen Stadtfürsten, in babylonischer Schrift und Sprache; diese Urkunden beleuchten die in der althellenischen „Geschlechterpolis“ ähnlichen Verhältnisse um 1400 in Palästina aufs deutlichste.

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Hier begegnet man zum ersten Male dem Namen von Jerusalem – Ur-sa-li-im-mu – und seinem damaligen Stadtfürsten: Abdi-Hipa, der sich so aufgeregt gegen den Vorwurf des Abfalles von Ägypten in mehreren Briefen an den Pharao verteidigt und um Truppen gegen die Nomadenschwärme der Habiri bittet. Was diese Habiri sind, ist trotz scharfsinniger Vermutungen5 nicht geklärt. Aber geklärt ist, daß weder Name noch Ursprung der heiligen Stadt mit den Hebräern, Israeliten oder Juden etwas zu tun haben. Die weiteren hierher gehörigen zahlreichen Keilschrift-Funde, die die Berichte und Urkunden des Alten Testaments von der Gegenseite her stützen und ergänzen, besonders die Texte von Boghazköj (im nördlichen Kappadokien), der Stätte der allen Hethiterhauptstadt, ferner die assyrischen Königsinschriften von 1100 – 600 v. Chr., sind oft beschrieben und gewürdigt worden. Die stilistische Studie über die vorderasiatischen Königs- und Fürsteninschriften im Eucharisterion (Festgabe für Gunkel, S. 278 ff.) von Sigmund Mowinckel, dem wir auch die besten Arbeiten über die Psalmen in den letzten Jahrzehnten verdanken, ist charakteristischerweise eine Vorarbeit zu einer stilistischen Untersuchung der Denkschrift des jüdischen Statthalters Nehemia, die nach Stil und Art der vorderasiatischen Königsinschriften verfasst ist.6 Auf die Sagenvergleichung, die assyrisch-babylonischen Parallelen zu den biblischen Urgeschichten (Schöpfung und Paradies – Die Flutsage – Das GilgameschEpos – Die Geburtslegende Sargons – Etanas Himmelfahrt) kann hier nicht eingegangen werden; das wesentliche Material ist mustergültig von Ebeling in der schon erwähnten Greßmannschen großen Sammlung „Altorientalische Texte und Bilder zum Alten Testament“ ausgebreitet. Bei der Erörterung der religionsgeschichtlichen Problematik wird darauf zurückzukommen sein. Zuletzt hat der Leipziger Assyriologe Zimmern (in der Phil.-hist. Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften am 15. Dezember 1928) die wichtigsten babylonischen Mythen behandelt, die mit den Vorstellungen über Leiden, Tod, Auferstehung zusammenhängen, und die hethitischen, jüdisch-christlichen und griechischen Parallelen gezogen. Näher muß hier dagegen über die jüngsten programmatischen Ausführungen Benno Landsbergers, des bedeutendsten deutschen Assyriologen, berichtet werden, die vor kurzem unter dem Titel „Die Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt“ in der Zeitschrift Islamica, Bd. II, S. 355 ff., 1926, veröffentlicht wurden. Die altorientalische Kulturwelt bedarf einer Erklärung aus sich selbst heraus, nicht als „Vorstufe“ 5 Literatur bei Hommel, Ethnologie und Geographie des Alten Orients, S. 181 Fußnote I und S. 571 Fußnote 4; beste Darstellung des Problems bei Julius Lewy, Habiru und Hebräer in der Oriental. Lit. Ztg. Bd. 30 (1927; Sp. 738 ff. u. 825 ff.); sehr angreifbar die neueste Behandlung der Frage bei Eduard Meyer (Geschichte des Altertums 2. Bd. I. Teil, 2. Aufl. 1928, S. 342 ff.) in dem Abschnitt „Eindringen der semitischen Nomadenstämme ins Kulturland. Aramäer und Israeliten.“ 6 Wie alttestamentliche Quellen und Keilschrifttexte, die ein und dasselbe Ereignis enthalten, methodisch-kritisch zu behandeln sind, zeigt die Abhandlung von Julius Lewy, Sanherib und Hizkia in der Orient. Lit. Ztg. Bd. 31 (1928; Sp. 150 ff.).

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einer nur in der Vorstellung des Betrachters „gültigen“ Kultur. Dieser Grundgedanke Landsbergers wird in die Frage eingekleidet: Wie weit ist es mit Hilfe der Philologie möglich, eine alte fremde Kultur ohne die Stütze einer bis auf den heutigen Tag fortdauernden Tradition lebendig und treu wiederherzustellen? Landsberger zeigt bei Beantwortung dieser Frage anschaulich, zu welchen Irrtümern die Betrachtungsweise einer Kultur wie der babylonischen als einer Vorstufe eines uns geläufigen komplizierten Gebildes führen muß. Einem wohl durchforschten Stoff gegenüber mag nach Landsberger diese Art der geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise angehen, als Forschungsprinzip einem unbekannten Stoff gegenüber muß sie unser Blickfeld einengen, weil sie eben „den Entwicklungsbegriff, dessen Erklärung erst durch unsere Arbeit zu erzielen ist, trotz seiner Verschwommenheit voraussetzt“. Man dürfe also Babylonien und Ägypten nicht als unsere geistigen Väter oder als die Vertreter des Typus einer sogenannten Halbkultur ansehen. Die humanistische Betrachtung eines alten babylonischen oder ägyptischen Textes – und genauso eines Textes aus dem Alten Testament – zum Zwecke des tieferen Verständnisses des eigenen Lebens und der Gegenwart führt also direkt ins Finstere und verhindert gerade das Verständnis des Fremden. Landsberger wendet seine Theorie zunächst im Gebiet der semitischen Sprachwissenschaft mit Glück an. „Auf der ersten Stufe des Verständnisses für eine fremde Kultur können wir die Gedankenelemente nur durch eine Menge einfacher Gleichungen ausdrücken, die sich in Grammatik und Lexikon zusammengestellt finden, z. B. Endung: -um = Nominativ-Singular, Wurzel halak = „gehen“. Aber solche Vollgleichungen sind nur in beschränktem Maße möglich, meist müssen wir uns mit Teilgleichungen begnügen von der Art: ein Teil des babylonischen Begriffes x deckt sich mit einem Teil des deutschen Begriffes y.“ „Wenn wir wirklich verstehen wollen, so müssen wir die Eigenbegrifflichkeit einer Kultur aufsuchen.“ Also: Das Imperfekt in einer Sprache, der Polytheismus in der Religion oder die Kaufehe in einem Rechtssystem sind Typen, welche die vergleichende Kulturwissenschaft aufstellt. Aber sie genügen nicht für das Auffinden des Eigenbegrifflichen. „Weder ärmlich-rationale Zurechtmachung des Philologen noch seichte Typologie des Kulturvergleichers, der mit einem abstrakten formalen Schema für alle die verschiedenen Objektivationen des menschlichen Geistes auskommen soll!“, so lautet die Forderung Landsbergers, die im vollen Umfang auch für die klassische hebräische Literatur gilt. Man muß beispielsweise über die Tempora im Semitischen ausgedehnte Studien gemacht haben, sich der starken Differenzierung der gewöhnlichen Bezeichnungen wie Präsens, Präteritum, in den einzelnen semitischen Sprachzweigen, der ganz spezifischen Nuancen etwa des hebräischen im Gegensatz zum akkadischen Verbum bewußt geworden sein, um nach dem Tempuswechsel Quellenscheidungen vorzunehmen, wie es nach bekannten Vorgängen Hölscher in seiner Arbeit über Quellen und Redaktion des Buches der Könige (Eucharisterion, Festgabe für Gunkel, S. 158 ff.) tut. Hier muß der Gebrauch des präterialen Waw-Perfektums eine eigene Anschauung Hölschers über die Reform des Königs Josia von 621 stützen, indem die Perfektsätze als Sonderbericht, der dem „deuteronomistischen Redakteur“ zuzuschreiben ist, aus dem übrigen „elohistisch“ erklärten Zusammenhang herausgehoben werden. Über die Vorfrage der reichen Thematik

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des Perfekts im Alten Testament wird dagegen von Hölscher nichts gesagt, so daß die Beweise in der Luft hängen. In dem Hinweis auf die archäologischen Funde der letzten Jahrzehnte, die unserem Forschungsgebiet neue Ziele gegeben haben, darf eine Erinnerung an die zunehmende Wichtigkeit der Ausgrabungen in Palästina nicht fehlen. Das imposante Werk von Pater Hugues Vincent aus dem Jahre 1907 „Canaan d’après l’exploration récente“ war seinerzeit epochemachend für das Verständnis der altisraelitischen Geschichte. Die neuesten Vorgänge und Ergebnisse sind in den Berichten von Peter Thomsen enthalten, dessen ältere Schrift „Die neueren Forschungen in PalästinaSyrien“ (1925) über Literatur und Problemstellung gute Auskunft gibt.7 Die ägyptischen Urkunden und Denkmäler traten für die Forschung des Alten Testaments gegenüber den babylonischen Funden zunächst etwas zurück, sie waren aber von Anfang an sehr bedeutend und gewinnen in den letzten Jahren noch an Wichtigkeit. Zu den älteren außerordentlichen Entdeckungen gehört die sogenannte „Israel-Stele“, die Flinders Petrie 1896 in den Ruinen von König Menephtas Totentempel bei Theben gefunden hat. Menephta, um 1225 v. Chr., ist wohl „der Pharao des Auszugs“ gewesen. Dafür spricht der Text auf dem Stein, ein Siegeslied aus der Zeit des neuen Reiches, der zuerst von dem Münchener Ägyptologen Wilhelm Spiegelberg veröffentlicht, kommentiert und übersetzt worden ist. Die Literatur darüber ist allgemein bekannt und zugänglich. Auf Zeile 27 ist der Name Israel in eigentümlichem Zusammenhang erwähnt: „… Israel ist verdorben, es hat keinen Samen (mehr); Palästina ist zur Witwe geworden“. Zum ersten Male begegnet hier der Name Israel in einer ägyptischen Inschrift. „Die Lesung Isir’r und die Deutung auf Israel ist völlig sicher. Die ägyptische Schreibung charakterisiert überdies Israel deutlich als Stamm oder Volk (nicht wie Kanaan, Askalon, Gezer, Jenoam als Land), und ebenso fest steht die Tatsache, daß dieser Stamm zur Zeit des Menephta, also um 1250 v. Chr., in Palästina war. Jede andere Auffassung ist schlechterdings unmöglich; Israel ist hier mitten unter den besiegten palästinensischen Gegnern genannt, man muß es also in Palästina suchen“ (Spiegelberg). Die Beziehung zwischen diesem Israel und den verwandten in Ägypten angesiedelten Stämmen ist das Problem. Auch Erman sagt: „Da es (Israel) zwischen palästinensischen Ortsnamen angeführt ist, muß es auch in Palästina gewohnt haben“. Lehmann-Haupt (Israel, seine Entwicklung im Rahmen der Weltgeschichte 1911) hat diese Folgerung später ausdrücklich bestritten, seine Gründe sind nicht durchschlagend. Da ist ferner die Erzählung des Lebens des Sinuhe und seiner Abenteuer in Palästina (Greßmann, Texte I, S. 55 ff); die Geschichte spielt in der Zeit des Königs Sesostris I. (etwa 1980 – 1935) und ist nach Hermann Ranke am Ende der 12. Dynastie (um 1780 v. Chr.) verfasst. Sinuhe, ein Gefolgsmann des Kronprinzen Sesostris, muß nach Palästina-Syrien fliehen, und wir erfahren, daß es schon im Anfang des 2. Jahrtausends unabhängige Stadtfürsten in Palästina gegeben hat und daß das Land damals hochkultiviert war. 7 [Es folgt die „Fortsetzung“: II. Aus dem Problemkreis „Die altorientalische Umwelt der Bibel“.]

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Die ägyptische Literatur, von der ältesten Epoche über die Zeiten des alten, mittleren und neuen Reiches zur Ramessiden- und späteren Zeit, liegt heute in vorbildlich edierten Texten und Darstellungen vor und ist mit den schon genannten Hilfsmitteln nicht allzu schwer auf ihre „Richtigkeit“ nachprüfbar. Ermans Chrestomathie „Die Literatur der Ägypter“ (1923), die neueste Darstellung von Max Pieper im Handbuch der Literaturwissenschaft (1927), Hermann Rankes Ägyptische Texte zum Alten Testament in der mehrfach erwähnten Greßmannschen Sammlung (1926) und Hermann Grapows Auswahl in dem ebenfalls schon oben zitierten Textbuch zur Religionsgeschichte (2. Aufl. 1922) bieten das Vergleichsmaterial in großer Fülle. Außer dem Siegeslied Menephtas und der Geschichte des Sinuhe ist in letzter Zeit Echnatons Loblied auf die Sonne aus dem Reformationsversuch von Amarna (1300 v. Chr., vgl. Greßmann-Ranke, Texte S. 15 ff.) in Zusammenhang mit dem Alten Testament gebracht worden. Namentlich Hermann Gunkel geizt auch bei dieser Gelegenheit nicht mit geistreichen Vermutungen und Deutungen von „Parallelen“ und setzt sich mit Siebenmeilenstiefeln über die Arbeit der Einzelwissenschaft hinweg. In seinem großen Psalmen-Kommentar (1926) ist zu Psalm 104 Echnatons Sonnengesang abgedruckt und (S. 453) dazu bemerkt: „Das Gedicht ist auch in Einzelheiten Psalm 104 ziemlich ähnlich und durch irgendwelche Vermittlungen, vielleicht auf dem Wege über Phönizien, sein Vorbild“. Max Pieper, der Ägyptologe, ist kein Theologe wie Gunkel; trotzdem leitet er in seiner ägyptischen Literaturgeschichte die Würdigung des „Gesprächs eines Lebensmüden mit seiner Seele“ (aus dem mittleren Reich, etwa 2000 – 1800 v. Chr.) so ein: „In den Zeiten der Not im alten Israel sind die Propheten aufgetreten, die die gewaltige Aufgabe gelöst haben, die Religion zu verinnerlichen, die ihrem Volk einen seelischen Ersatz schufen für die materielle Not. Ertrage in Ruhe, was Dir Gott schickt, Gott wird es Dir vergelten, Du mußt in der Not Deinem Gott doppelt treu sein. Es ist eine Entwicklung, die schließlich zur Überwindung des Judentums geführt hat. Ansätze zu einer solchen Wandlung hat es auch im alten Ägypten gegeben, das Gespräch eines Lebensmüden beweist es“. So Pieper, der damit ein klassisches Beispiel für eine absolut befangene, in ein typisches protestantisch-theologisches Vorurteil befangene Interpretation jenes merkwürdigen und ergreifenden Gesprächsspieles gibt. Auch beim Lied des blinden Harfenspielers von der Vergänglichkeit alles Irdischen (um 1300 v. Chr., bei Ranke-Greßmann, S. 28 ff.) wäre die alttestamentliche Parallele nicht schwer. Das größte Aufsehen hat das vor 6 Jahren (1923) in den Egyptian Hieratic Papyrs in the British Museum veröffentlichte Weisheitsbuch des Amenem-ope aus dem 10. Jahrhundert erregt. Über die Übereinstimmung dieser in 30 Kapitel eingeteilten Weisheitslehre mit den Sprüchen Salomons hat Erman („Eine ägyptische Quelle der Sprüche Salomos“, Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1924) sehr positiv geurteilt. Die Forschungen über die gemeinsame Wurzel sind noch nicht abgeschlossen (vgl. Pieper S. 89 f.)8 Das Eindringen in die spezifischen 8 Erman hat schlüssig nachgewiesen, daß sich das dritte Buch der Sprüche Salomos zum Teil (Spr. 22, 17 – 23, 11) wörtlich mit der ägyptischen Spruchweisheit des Amen-em-ope

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Denkformen aller dieser sehr verschiedenen Zeiträumen angehörenden Literaturdenkmäler, die Arbeit sauberer, gewissenhafter Tatsachenermittlung und reinlicher Textwiedergabe ist vorläufig noch so wichtig, eine plastische Vorstellung der ägyptischen Religion in den Hauptepochen der drei Reiche noch so wenig gefördert, daß man hier Vergleiche mit der Vorstellungswelt des doch auch wieder sehr komplexen Alten Testaments noch ganz beiseitelassen muß. Heinrich Schäfer, der angesehene Kenner der ägyptischen Kultur, hat jüngst anlässlich der Frage der vergleichenden Weitung ägyptischer Kunst (Deutsche Literaturzeitung 1929, S. 707 f. und „Die Antike“, Bd. III, S. 187 ff.) eindringlich und mit guten Gründen vor der Abgabe „intuitiver“, expressionistischer Urteile über die ägyptische Religion gewarnt. Unter Wahrung der äußeren Form hat die Religion in Ägypten in unaufhörlicher innerer Umwandlung gestanden. „Die Religionsforschung ist eines der allerheikelsten Gebiete innerhalb der Ägyptologie, dessen eigentliche Schwierigkeit nur der Fachmann recht würdigen kann“ (Schäfer). Mit Schlagworten wie „Magie“ – „Polarität“ – „Struktur“ und mit Worringerschen Konstruktionen ist hier nichts getan. Die ältere Arbeit des Theologen Albrecht Alt, Israel und Ägypten (1909) und das Werk des Liverpooler Ägyptologen Eric Peet, Egypt and the old Testament (1922) stellen die in Frage kommenden Tatsachen aus der alten Geschichte der Berührung zwischen Ägyptern und Israeliten übersichtlich zusammen. Seit Herder im Jahre 1782 die Frage der Verwandtschaft der ägyptischen Sprache mit dem Hebräischen erörtert und aus rein spekulativen und gefühlsmäßigen Gründen verneint hat („Von Geist der Ebräischen Poesie“, 1. Ausgabe Dessau 1782; besonders Teil I, S. 317 ff.), hat man infolge der zahlreichen und zwar im Brennpunkt der früheren und späteren jüdischen Geschichtserzählung stehenden Beziehungen zwischen Ägypten und der Bibel nach den sprachlichen Zusammenhängen immer wieder Umschau gehalten. Das sprachliche Problem ist in neuester Zeit bei der Erörterung des Ursprungs des Alphabets gelegentlich der neuentdeckten Sinaischrift wieder näher erörtert worden (siehe auch die Aufsätze von Rudolf Hallo, „Morgen“, Jahrg. I, Heft 2 und Jahrg. II, Heft 1 und 2). Das gesamte Material darüber enthalten die beiden (aus den Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 1916 / 17 zusammengestellten) Abhandlungen von Kurt Sethe mit dem Ergebnis des ägyptischen Ursprungs des semitischen Alphabets. Die Frage ist aber noch keineswegs geklärt. In einem weitläufig angelegten Werk, das oben schon gestreift wurde, hat nun vor einigen Monaten A. S. Yahuda unter dem Titel: „Die Sprache des Pentateuch in berührt. Das Problem bleibt, die unbestrittene Eigentümlichkeit der israelitischen Spruchdichtung zu sehen und darzustellen. Zu der neugefundenen Lehre des Amen-em-ope in ihrem Zusammenhang mit der vorexilischen Spruchdichtung Israels hat Greßmann in der Zeitschrift für alttestamentliche Wissenschaft (Bd. 42; 1924, S. 272 ff.) den Wissenschaftsstand am besten ausgebreitet und später dem gleichen Thema eine ebenso reiche wie feinfühlende allgemeine Darstellung in der Schrift „Israels Spruchweisheit im Zusammenhang der Weltliteratur“ (S. 35 ff.) gewidmet: eine der schönsten Arbeiten dieses großen, so früh dahingeschiedenen Gelehrten.

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ihren Beziehungen zum Ägyptischen“ (Erstes Buch 1929) begonnen, nach den ägyptischen Elementen in der Bibel auf sprachwissenschaftlicher Grundlage systematisch zu forschen. Yahuda ist ein großer Kenner der semitischen Sprachen, allerdings mehr im Sinne orientalischer unmethodischer Gelehrsamkeit. Sein Hauptwerk aus dem Jahre 1912, die erste Herausgabe des arabischen Urtextes des Kitāb al hidaja, des religionsphilosophischen Werkes des Bachja ibn Josef ibn Paquda ist eine anerkannte exakte Leistung auf dem schwierigen Feld der arabisch-hebräischen Literatur und Religionsphilosophie. Das Unternehmen Yahudas, die ägyptischen Elemente in der althebräischen Sprache zu analysieren, erhebt den Anspruch einer streng sprachwissenschaftlichen Arbeit. Forschungsziel ist die Sammlung und Behandlung von Einzelworten, Einzelstellen und Abschnitten aus der Bibel (und zwar vorläufig nur aus der Joseph- und Exodusgeschichte, aus dem Schöpfungsbericht und aus einem kleinen Teil der Erzväter-Erzählungen), die auf ägyptische Wortbildungen und grammatikalische Formen (identische Konsonantenkörper, Nominalbildungen, Bildung von Eigennamen), namentlich aber auf ägyptische Syntax und ägyptische Stil- und Ausdrucksformen (Redewendungen, sprichwörtliche Redensarten) und auch auf ägyptischen Kulturstoff (Titel und Ämter, Eigennamen, Ableitung von Sprachbildern) zurückgehen. In den noch nicht erschienenen Bänden soll (nach dem Vorwort) die Untersuchung anderer Teile des Pentateuchs auf die ägyptischen Elemente hin vorgenommen, besonders auch die Sakral- und Gerichtssprache, die priesterlichen und kultischen Einrichtungen und die dabei verwendeten Ausdrücke, die Namen und Attribute Gottes, die gewerblichen und technischen Arbeiten bei der Herstellung der Stiftshütte und der heiligen Geräte sowie die dafür geschaffenen Kunstausdrücke behandelt werden. Bibelkritische Folgerungen zieht der Verfasser zwar nicht, er verspricht, seine Stellung zum Problem der Komposition des Pentateuch später nach vollständiger Veröffentlichung der sprachlichen Materialien festzulegen, dagegen trägt er eine scharf umrissene Meinung über die Entstehungszeit des Pentateuch vor: Die herrschende Auffassung, wonach die Hauptteile, in denen babylonische Spuren am deutlichsten sind, darunter vor allem Schöpfungsbericht, Paradies-Erzählung, Sintflutsage, Sündenfall, Turmbau von Babel und Patriarchengeschichten, aus der Zeit des Exils im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. stammen, sei falsch, vielmehr seien erstens die Abschnitte des Fünfbuches, die als Ereignisse der vorägyptischen Epoche gedacht sind, zweitens die Erzählungen der Bibel über den ägyptischen Aufenthalt der Hebräer, von Genesis 39 gleich nach dem Auftreten Josephs in Ägypten bis zum Siegeslied des Moses Exodus 15 und drittens die Teile über die Wanderungen auf der Sinai-Halbinsel und in der Umgebung bis dicht an den Jordan, „in einer abgeschlossenen einheitlichen Schriftsprache innerhalb der im Pentateuch selbst gegebenen zeitlichen und räumlichen Grenzen“ entstanden. Der von den Israeliten vor der ägyptischen Epoche gebrauchte kanaäische primitive Dialekt aus den vorägyptischen Wohnstätten habe sich durch den langen Aufenthalt in Ägypten infolge der Annahme derjenigen Merkmale, die im allgemeinen Sinn eine literarische Sprache von einer primitiven Mundart unterscheiden, also durch Übernahme der Bestandteile, die ein hohes Kulturniveau widerspiegeln, und mittels eines entsprechenden sprachlichen Bedeutungswandels zu einer literarischen Sprache

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aufgeschwungen, die ägyptischen Sprachgeist und ägyptischen Sprachgebrauch, ferner intimste Vertrautheit mit ägyptischer Art durchgängig und „in allen Punkten auf allen im Pentateuch behandelten Gebieten“ deutlich verrate. Zufälligkeiten und Reminiszenzen seien ausgeschlossen, es sei vielmehr evident, daß die Sprache des Pentateuch sich im ägyptischen Milieu der 18. und 19. Dynastie gebildet habe und daß eo ipso die Abfassung nur in der Zeit erfolgt sein könne, in der Israel in Ägypten war. In den Dienst dieser von Yahuda selbst vorausgenommenen These ist die Vorführung des gesamten sprachlichen Stoffes der folgenden Einzeluntersuchungen gestellt, die in sich abgeschlossene Exkurse darstellen über Lehnworte, Redewendungen, syntaktische und stilistische Ausdrücke, assonantische Namensdeutungen, endlich über Analogien und Abgrenzungen gegenüber dem Akkadischen. Der Schwerpunkt des Werkes liegt in diesen Einzeluntersuchungen. Die These selbst ist mit dem bis jetzt vorgeführten Material nicht genügend gestützt, sie hängt ohne die in Aussicht gestellten (S. XXVIII, Fußnote 2) Darlegungen über die Komposition des Pentateuchs (vorägyptische, ägyptische und nachägyptische Zeit) in der Luft und enthält offensichtliche Irrtümer über die Möglichkeit einer Erkenntnis des Ursprungs und der Entstehungsgeschichte einer uns nur in so fertiger Gestalt vorliegenden Sprache wie des althebräischen Dialektes. Es ist auch früher nicht in Abrede gestellt worden, daß dem Sammler oder Verfasser der biblischen Geschichtsbücher unter dem mehr oder weniger bei der Übernahme schon literarisch geformten Überlieferungsgut, woraus er schöpfte, alter, sicher auch viel ägyptisch tradierter oder aus dem Ägyptischen übersetzter Stoff vorlag. Solche Herübernahmen – oft ohne verbindende Naht mit dem Text der Umgebung – sind durch die ganzen kanonischen Bücher hindurch, am greifbarsten bei den späten ausgesprochen nachexilischen Büchern, zu beobachten und mittels exakter Sonderung der grammatikalischen und syntaktischen Formen sowie des Sprachgutes festzustellen. Anlehnung und Herübernahme aus älteren, geläufigen Teilen gehören zu den bekanntesten Erscheinungen des biblischen Stils. Die schon einmal erwähnten Untersuchungen von Kropat über die Syntax des Autors der Chronik waren gerade deshalb so ertragreich, weil für etwa ein Drittel des Bestands der Chronik die älteren Bücher die Vorlage waren; auf diese Weise war es nicht schwer, diese älteren Bücher mit den entsprechenden Kapiteln der Chronik zu vergleichen und typische syntaktische Abweichungen festzustellen. Im Buch Esther kommen trotz des geringen Umfanges nicht weniger als 20 – 25 Stellen vor (die gewöhnlichen Phrasen: ’im-masa’thi-chen etc. nicht gerechnet), die glatte Entlehnungen von Sätzen, Satzteilen oder Satzfärbungen aus älteren Teilen des Alten Testaments sind, darunter gut die Hälfte aus der Josephsgeschichte, ganz ähnlich im Buch Daniel; denn beide Male, bei Esther und Daniel, bilden ähnliche Situationen, nämlich die Verhältnisse an einem fremden Hof und das Emporkommen einer jüdischen Persönlichkeit, das Thema. Es ist das große Verdienst von Yahuda, in einer Reihe von Einzelabhandlungen die ägyptischen Elemente in den von ihm behandelten Teilen der „Fünf Bücher“ systematisch herausgearbeitet und frühere kleine Arbeiten darüber (etwa Gustav Karlberg, Über die ägyptischen Wörter im Alten Testament 1912) auf umfassender Grundlage ergänzt zu haben.9 Aber zu der Entstehung der hebräischen Sprache hat er mit sei-

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nem Buch keinen Beitrag geliefert. Die Folgerung aus dem Material, daß sich in der Zeit des ägyptischen Aufenthaltes der Israeliten die klassische hebräische Sprache aus einem primitiven kananäischen Dialekt entwickelt habe, oder daß sie etwa (nach Karl Wolfskehl im 1. Morgenblatt der Frankfurter Zeitung vom 12. 1. 1929) „die absichtsvolle Schöpfung eines einzelnen, des Moses“, gewesen sein soll, ist geradezu abenteuerlich und mit keinem Schein bewiesen, nicht zu reden von einem Beweis der „Echtheit der 5 Bücher Mosis,“ d. h. der „Richtigkeit der Tradition gegenüber den bibelkritischen Feststellungen“. Die herrschende Annahme von dem verhältnismäßig jungen Alter auch der ältesten Schichten der im Alten Testament erhaltenen Sagenüberlieferung ist durch Yahuda nicht widerlegt. Überdies ergibt sich bei näherer Prüfung der Yahudaschen Randglossen und Interpretationen zu den einzelnen Stellen, daß die unerläßlichen sprachwissenschaftlichen Methoden der Betrachtung eines antiken Textes, dazu noch eines reinen Konsonantentextes, vielfach vom Verfasser nicht genügend beobachtet sind. Möglichkeiten, die für den Sprachforscher nur zu einer glatten Feststellung einer unwiederherstellbaren Verderbtheit des Textes führen können, werden von Yahuda zu Wahrscheinlichkeiten, ja zum Range bestimmter Behauptungen über Wortlaut und Sinn der Stelle erhoben. Ein einziges, ganz typisches Beispiel: Unter den „gewöhnlichen Ausdrücken und Redewendungen nach dem Ägyptischen“ behandelt Yahuda die Exodus-Stelle I, 21: „… Er (Gott) machte ihnen (den hebräischen Hebammen zur Belohnung ihrer Gottesfurcht) Häuser (hebräisch: Battim)“. So die wörtliche übliche Übersetzung und Auffassung, übrigens auch einiger klassischer jüdischer Exegeten! Es ist in der Tat in dieser Stelle alles unklar: die drei hebräischen Worte, gleichzeitig die Glieder des dreiteiligen Satzes, sind – eine Folge des spezifischen Charakters des althebräischen Satzbaues – schlechterdings nicht mehr verständlich. Yahuda erklärt den Satz so: „… Sie (nämlich die Hebräer – der Plural ist nach anderen dem massoretischen Text gleichwertigen Texten unbestreitbar ebenso gerechtfertigt wie der Singular) machten für sie (die Götzenfiguren) Schreine“ (Verhüllungen der Götzenbilder, um sich der von dem Pharao befohlenen Aufstellung und Bewachung der ägyptischen Götter und Schutzbilder zu entziehen). „Pharao wird befohlen haben, in allen Häusern der Hebräer Bilder von schreckenerzeugenden Gottheiten, wie z. B. der Göttin Sechmet, gewissermaßen als furchterregende Wächter aufzustellen, damit die Hebräerinnen sich vor ihnen fürchten und das Geheimnis der Knabengeburten für die Beseitigung solcher schrecklichen Beobachter preisgeben sollten.“ Als Gegenmaßregeln machten nun die Hebräer „Battim“, wörtlich „Häuser“, das sind nach ägyptischem Sprachgebrauch Hüllen vor dem bösen Blick der Götzen. Diese Erklärung ist aber nicht mehr als eine der vielen möglichen Ausdrucksabsichten des Sammlers der Geschichtserzählungen des Exodus; der Grad ihrer Wahrscheinlichkeit ist in das subjektive Ermessen des heutigen Lesers gelegt, scheidet also für die 9 Wie allgemein geläufig das Problem seit Jahrzehnten ist und mit welchen präzisen Mitteln die Lösung versucht wurde, lehrt beispielsweise der Aufsatz von Spiegelberg (in der Ztschr. d. Deutschen Morgenland. Gesellsch. Bd. 53, 1899; S. 653 ff.) „Eine Vermutung über den Ursprung des Namens JHWH.“

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sprachwissenschaftliche Erkenntnis ganz aus. Die Stelle ist ihrem Sinne nach nicht mehr zu rekonstruieren. Die zahlreichen Erklärungen darüber, ob sie von Raschi oder von Ehrlich oder von Yahuda kommen, können selbst nur wieder Objekt einer Geschichte der Exegese sein. Wäre die Erklärung von Exodus I, 21 durch Yahuda richtig, was ganz gut sein kann, so bewiese die Herübernahme eines solchen durch und durch dem Geist des Pentateuch-Redakteurs widersprechenden Gedankengutes wieder nur ebenso wie die Aufnahme anderer ähnlicher heidnischer, „unjüdischer“ Partien die Richtigkeit der alten Annahme, daß unverarbeiteter, fremder Traditionsstoff durch jenen „Sammler“ bei der Abfassung verwendet worden ist, keineswegs aber trotz der großen Zahl viel deutlicherer Ägyptizismen die Entstehung des Pentateuchs um ca 1250 v. Chr. Der populäre Einwand, warum wir es so viel besser wissen können wie Epochen, die nicht nur zeitlich, sondern auch nach ihrer Fühlweise den überlieferten Ereignissen näher standen und „noch dazu durch das von wissenschaftlicher Strenge, Akribie und Hingabe nicht zu ersetzende Geheimnis der seelischen Verbundenheit in der eignen Vorzeit wurzelten“ (Wolfskehl in der oben erwähnten Anzeige), dieser Einwand gehört jener wissenschaftsfeindlichen, schöngeistigen Sphäre an, die wir hier schon öfters charakterisiert haben und der Yahudas Buch nicht zugerechnet werden will, denn Yahuda weiß es ja besser als der Schlußredaktor der Bibel, der Hieroglyphen nicht mehr lesen konnte.10 Es kann keine Rede davon sein, daß die von Kuenen, Dillmann, Wellhausen im 19. Jahrhundert errichteten Fundamente der Pentateuchkritik, namentlich die Theorie der Zusammensetzung dieser Bücher aus vier Hauptquellenschriften und ihrer Entstehungszeit von Yahudas Forschungen ins Wanken gebracht sind. Diese sind nur ein neuer, sehr gewichtiger Anlass, die bisherigen vier fragwürdigen Gruppen von Schulargumenten für eine Stoffscheidung (Unterschied im Gottesnamen, im Sprachgebrauch, in der allgemeinen religiösen, ethischen, politischen und rechtlichen Vorstellungswelt sowie Wiederholungen und gestörter Zusammenhang) endlich einmal viel schärfer außerhalb der Theologie im Rahmen der Wissenschaften der Semitistik, der vergleichenden Sprachwissenschaft und der Ägyptologie von Grund aus neu zu untersuchen. Yahudas sehr wichtige Einzelergebnisse, aus denen er viel zu weittragende und falsche Schlüsse für den Ursprung des Pentateuchs und der hebräischen Sprache zieht, bringen namentlich für das in neuerer Zeit von Rudolf Smend und Otto Eißfeldt herausgearbeitete Sondergut des Pentateuchs, die sogenannte Laienquelle (nach dem Vorschlag von Eißfeldt mit dem Siglum L zu bezeichnen) wesentliche und neue Unterscheidungsmittel. Aus der außerordentlich großen Anzahl der Einzelarbeiten der Assyriologen und Ägyptologen, Forschungen, die sich allmählich zur vollen Eingliederung des Alten Testaments in die Welt des Alten Orients zusammenschließen, sollten die wenigen 10 Nach Abfassung dieses Aufsalzes erschien die Besprechung des Y.’ schen Buches von Ernst Sellin (Deutsche Lit. Ztg. v. 18. 5. 29, Sp. 937 ff.), der den Grundgedanken Y.’s für verfehlt erklärt, die Behandlung der Sagen der Vorzeit im zweiten Teil aber für einen neuen großen Wurf hält, der die bisherige babylonische Ableitung definitiv beseitigt.

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angeführten älteren und neueren Beispiele aus der Literatur und den Texten nur die Art zeigen, wie heute oft nach zufälligen Funden wissenschaftliche Fragestellungen gewählt und behandelt werden. Die Abgrenzung der Hebräer im Einzelnen innerhalb der semitischen Welt oder des mittelmeerländischen Kulturkreises in den vorchristlichen zwei bis drei Jahrtausenden ist noch keineswegs geklärt, nicht einmal die Bestimmung des Standorts ihrer religiösen Vorstellungswelt gegenüber den Religionen Kanaans und der Großreiche. Ägypten ist vor Babylonien wieder stärker im den Vordergrund getreten; Sprache, Religion, Recht der Hethiter ist zurzeit ein Forschungsziel von größter Wichtigkeit auch für die Verhältnisse, die das Alte Testament schildert. Das schwierigste Problem, das noch in den Anfängen steht, ist die Frage von ägäischen Elementen im alten Israel, die Ähnlichkeit griechischer und israelitischer Anschauungen. Das neue Reallexikon der Vorgeschichte, eine der größten deutschen wissenschaftlichen Kollektivleistungen der Nachkriegszeit, ist eine Fundgrube des aufschlußreichsten Stoffes über das Hineinragen der kleinasiatisch-ägäischen Welt in den Vorstellungs- und Formenkreis des Alten Testaments. An diese Fragen, zu denen eine sehr große Literatur bequem erreichbar ist, kann hier nur kurz erinnert werden. Wenn trotz des angedeuteten Forschungsstandes Synthesen, allgemeine zusammenhängende Darstellungen einer Geschichte Israels in seiner Umwelt (meist mit den großen Abschnitten: Vorgeschichte – Kananäische Epoche – Assyrisch-babylonisches Zeitalter – Persische Zeit – Hellenistische und römische Vorherrschaft) immer wieder gewagt werden, so treten hier auf Schritt und Tritt grobe wissenschaftliche Unzulänglichkeiten auf, und was der Stoff noch nicht hergeben kann, wird häufig durch Annahmen ersetzt, die von zufälligen, isolierten, in ihrer Deutung oft unsicheren Funden oder Einfällen schwach gestützt werden. Einige neuere „synthetische“ Arbeiten seien hier kurz charakterisiert. Wer in Berlin in den zwei ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts studiert hat, erinnert sich der in 4 bis 5 Semester eingeteilten prächtigen weltgeschichtlichen Vorlesungen von Hans Delbrück. Diese sind jetzt (1923 – 1929), bisher in fünf Bänden, wissenschaftlich stark unterbaut, veröffentlicht. Der Genuß, den die Lektüre der lebendigen, sprudelnden Darstellung des alten Lehrers bietet, ist ein ungewöhnlich hoher. Was hier im ersten Band unter dem Titel „Israel und die Jahwe-Religion“ als Geschichte von der Einwanderung in Gosen 1380 bis zur zweiten Rückkehr Nehemias 423 auf 25 Druckseiten geboten wird, ist eine in der Gruppierung und Formulierung selbständige, mit hohem Schwung und viel Witz vorgetragene Verarbeitung der älteren alttestamentlichen Forschungen von Wellhausen, Kittel, Budde, Gunkel, Greßmann und Eduard Meyer. Delbrück beginnt mit der Erörterung der bekannten Analyse des Wortes „Jahwe“, eines Konventionalwortes wie „Jehova“ – zwei höchst unheilige Wortbildungen! – und gibt damit den charakteristischen Auftakt zur Tonart und Methode der folgenden für den gegenwärtigen Stand der alttestamentlichen Forschung bezeichnenden Darstellung. „Auch als die Erklärung (nämlich, daß das Wort Jehova aus einem Mißverständnis entstand) gefunden war, dauerte es noch lange, bis sie allgemein angenommen wurde – auch Ranke schreibt

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„Jehova“ – und von dem Alttestamentler Ewald in Göttingen wird erzählt, daß, als er einmal bei einer akademischen Feier das Gebet zu sprechen hatte, er es begann: „Jahwe, wir erscheinen vor Deinem Angesicht, Jahwe, wir bitten Dich, Jahwe, den der unwissende Kollege Gesenius in Halle noch immer Jehova nennt“ (Hans Delbrück, Weltgeschichte I, 94). Ebenso schnurrig ist dann die weitere Behandlung der tausendjährigen jüdischen Geschichte. In den Sätzen über die Begründung der jüdischen Theokratie der Neuordnung des Priestertums durch Esra steckt die Grundauffassung Delbrücks, die alte theologische Thesen weiterschleppt; hier heißt es (S. 127): „Unter der Herrschaft dieses Priestertums verpuppt sich die Gottesverkündigung der Propheten in eine kleinliche Heils- und Zuchtanstalt. In dem Schauen des Jesaias hatte Israel der Missionar des ihm geoffenbarten Gottes bei allen Völkern werden sollen. Statt einer für alle Welt gültigen Norm der Gerechtigkeit ist aber ein jüdisches Ritualgesetz aufgestellt worden, das das Heil der Seele in äußere Formen setzt, durch die freilich die ganze Erhabenheit und Innigkeit des von den Propheten gewonnenen ethischen Monotheismus immer wieder hindurchleuchtet.“ Diese Art der Geschichtsschreibung kann sich über die „historische Belletristik“ von Außenseitern nicht beklagen, denn sie widerspricht der Grundforderung, die wir an die wissenschaftliche Beurteilung der Schriften des Alten Testaments genauso wie an die andrer antiker literarischer Denkmäler und historischer Urkunden stellen, nämlich der Forderung, einen Text, eine Situation aus sich zu erklären und zu deuten und nicht mit – noch dazu dogmatischen – Maßstäben einer selbst wieder fragwürdigen, durchaus zeitlichen und zufälligen Kulturlage wie der des liberalen Protestantismus des 19. Jahrhunderts. Fragestellung und Fragebeantwortung Delbrücks zeigen überall noch das vorwissenschaftliche Stadium der isolierten alttestamentlichen Forschung, in welcher das Eigenleben, die „Eigenbegrifflichkeit“ des Gegenstandes noch nicht erkannt war. „Von dem Sabbath darf man als sicher annehmen, daß er nicht israelitischen Ursprungs ist“ (S. 121). „Um dem Volk das so überaus harte Gesetz (der im Jahr 444 ausgegebene Priesterkodex ist gemeint) auferlegen zu können, wurde es ihm dargestellt als das uralte, von abtrünnigen Geschlechtern vergessene Gesetz der Väter“ (S.130). „Die erhabene erste Schöpfungsgeschichte, das Werk der sieben Tage im ersten Kapitel der Genesis, das einst für uralt galt, stammt erst aus dem Priesterkodex, also aus denselben Jahren, als Sophokles seine Dramen dichtete“ (S. 130). Wie Delbrücks weltgeschichtlicher Abriss hängt auch Max Webers berühmtes Fragment über das antike Judentum, das den dritten Band seiner „Religionssoziologie“ füllt, von der Stoffbehandlung der modernen protestantischen Forschung ab, die der Verfasser hoch einschätzt. Trotz einer genialen durch und durch souveränen Betrachtungsweise der jüdischen Geschichte als des Werdens eines „Pariavolkes in einer kastenlosen Umwelt“ sind die Beweisstücke, die Max Weber für seine Intuition beibringt, ausnahmslos fertig bezogen aus dem Arbeits- und Ideenmagazin der protestantischen theologischen Wissenschaft vom Alten Testament, das heißt aus dem von Wellhausen, Gunkel, Kittel usw. präparierten und zerlegten Alten Testament. Max Weber ist es indes mehr um eine Zuordnung der in dieser Literatur vor-

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gefundenen historisch bedingten politischen, rechtlichen und sozialen Institutionen zu einer allgemeinen zeitlosen Kategorie des zu beschreibenden „soziologischen“ Gebildes zu tun. Beispiel: Das Sozialrecht der israelitischen Rechtssammlungen im Verhältnis zum Geist anderer Rechte, dann die „Berith“ (der Jahwe-Bund), die Erklärung dieses Bundesbegriffes aus „einer Dauerbeziehung grundbesitzender Kriegersippen zu Gaststämmen als rechtlich geschützter Metöken (Wanderhirten, Gasthandwerkern, Kaufleuten und Priestern)“. Also immer ist es die soziale und ökonomische Seite, losgelöst von der zufälligen einmaligen Situation, die Max Weber interessiert. Jene oben geforderte philologisch besonnene tendenzlose und „eigenbegriffliche“ Schau wird dabei allzuhäufig der These vom Pariavolk zum Opfer gebracht. Die prachtvolle und spannende Behandlung der Erzväter-Geschichten (besonders S. 58 ff.) „als ganz spezifisch pazifistischer Erscheinungen“ ist deshalb letzten Endes ein Feuerwerk, das einer ruhigen Analyse des Textes nicht standhält. Spröde Tugend, vertrauensvoll gottergebene Demut und Gutmütigkeit mit einer von ihrem Gott unterstützten geriebenen Verschlagenheit seien die unheldischen Züge dieser „Helden“: so hoch das Alter der Erzväter-Erzählungen hinaufzurücken sei, den pazifistischen, unheldischen Akzent in der vorliegenden Fassung hätten erst die besondere Redaktion „der theologischen Literatenkreise“ speziell der sog. Elohist und die deuteronomische Schule geschaffen. „Es sind das Züge von Pariavolksethik, deren Einfluß auf die Außenmoral der Juden in der Zeit ihrer Zerstreuung als internationales Gastvolk nicht unterschätzt werden dürfen, und die mit dem sehr ausgeprägten gläubigen Gehorsam zusammen erst das Gesamtbild der von der Tradition verklärten inneren Haltung dieser Schicht geben. Diese aber ist unzweifelhaft eine Schicht von, als machtlose Metöken, zwischen wehrhaften Bürgern sitzenden Kleinviehzüchtern.“ Johannes Hempel, der Greßmanns Methoden noch vertieft und verfeinert hat, macht sich in seiner frömmigkeitsgeschichtlichen Studie „Gott und Mensch im Alten Testament“ (1926) – in der sich im Übrigen eine bewundernswerte Weite des Blicks und Einfühlungsgabe mit der sichersten philologischen Kennerschaft verbindet – die Konstruktion Max Webers zu eigen (S. 86, vor allem in dem Kapitel S. 205 ff. über die „Soziologische Bestimmtheit der Jahweforderung“); er verliert dadurch bei der Beurteilung wesentlicher Teile des Alten Testaments den sonst so sicheren selbständigen Blick für das eigentlich Ursprüngliche, ganz Eigenartige des biblischen Stoffes und für die eigentümlichen Denkformen seines abschließenden Sammlers. Auf Max Weber hat der bekannte Gedanke Nietzsches von der christlichen Liebe als der „feinsten Blüte des Ressentiments“, also von der damit identischen jüdischen Frömmigkeit als der triebgehemmten Verinnerlichung aus dem Schicksal der Lebensbeeinträchtigung, aufs stärkste eingewirkt; die Umbildung der Nietzsche’schen Idee bei Scheler (in seiner großen Abhandlung in der ersten Fassung vom Jahr 1912 „Über Ressentiment und moralisches Werturteil“) ist das Leitmotiv in der Auffassung der israelitisch-jüdischen Geschichte bei Max Weber geworden. Die faszinierende aufregende Formulierung Nietzsche-Scheler-Weberscher Provenienz raubt leider immer wieder schlichteren, aber ganz echten selbständigen

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Kennern das Selbstbewußtsein und das Vertrauen in die bessere rechtmäßig und ehrlich erworbene eigene Einsicht der Wirklichkeit des Textes. Die Beispiele Delbrück und Max Weber sollten hier grundsätzlich zeigen, wie sehr heute noch „synthetische Versuche“ – in dem einen Fall Einordnung in die allgemeine politische Weltgeschichte der mittelländischen Welt, in dem Fall Weber eine „soziologische“ Einzwängung in die idealtypisch konstruierten Gebilde der menschlichen Gesellschaft – die Gefahr in sich schließen, von der wissenschaftlichen Basis abzugleiten und zur Belletristik zu werden. Gewiß: „Die politische Geschichte des Volkes Israel läßt sich an keinem Punkt der Entwicklung anders treiben denn als Teil der vorderorientalischen Geschichte“ (Hempel) und ebenso sicher muß kulturgeschichtlich die im Alten Testament noch sichtbare ältere Geschichte Palästinas als ein Ringen um seine Zugehörigkeit zur mediterranen Welt im engeren Sinne, andererseits die allgemeine Vorstellungs- und Formenwelt des Alten Testaments, also die Geistesgeschichte Israels im Rahmen der vorderasiatischen Kultur gesehen werden: Aber diese Eingliederung bleibt vorläufig noch ein ideales Ziel, und zunächst muß noch die Einzelforschung in dem mehrfach besprochenen Sinn die ägyptischen, akkadischen, hethitischen Texte, vor allem aber die Texte des Alten Testaments selbst bearbeiten, ordnen und aus sich interpretieren. Es gibt einige neuere „synthetische“ Werke, die viel zurückhaltender als etwa Delbrück oder Weber, das Problem der Stellung Israels in seiner Umwelt gefördert haben: es seien aus der großen Anzahl hier noch drei bedeutende Darstellungen erwähnt, die Hempel jüngst Anlass gaben, einen kurzen, aber instruktiven Abriss der Wissenschaftslage zu geben. Auf Hempels bedeutende „frömmigkeitsgeschichtliche“ Arbeiten wird in einem besonderen Abschnitt noch später einzugehen sein. Da ist zuerst der Grundriss der jüdischen Geschichte von Abraham bis Herodes d. Gr. von Norman H. Baynes (Reader for history of the Roman Empire an der Universität London) „Israel amongst the nations“ (1927); hier ist ein Beispiel für eine konservative sehr vorsichtige Beurteilung des Geschichtswertes der in der Hauptsache nach Wellhausen geschiedenen Quellen. Ferner: William Robertson Smith (weiland Professor für Arabisch an der Universität Cambridge), Lectures on the religion of the Semites (3. Aufl. herausgegeben von Stanley A. Cook; London 1927). Die eine Hauptidee von Smith ist die gemeinschaftsstiftende Wirkung des Opfermahles im gemeinsemitischen Kult; ob man mit Hempel die „vorwaltende mystischkollektive Denkart“, die sich in den Vorstellungen „Bund“, „Frieden“, „Segen“ äußert, zur gemeinsamen Charakterisierung der semitischen Religionen neben der Smithschen Grundthese beiziehen darf, kann hier nicht erörtert werden. Die Bücher der beiden Engländer mit ihren reichen Literaturangaben gehören jedenfalls zu den Veröffentlichungen, welche über das Problem der altorientalischen Umwelt der Bibel sehr zuverlässig unterrichten, besser als die vielen neueren „gemeinverständlichen“ Bücher, die, abgesehen von sehr schiefen, unwissenschaftlichen, oft auch mit ungenauem Material vorgeführten Vergleichen zwischen den Kulturleistungen der Babylonier und Israeliten, eine überflüssige theologische Apologie des Alten Testaments sind. Zu den brauchbarsten, das Hauptmaterial enthaltenden Werken über die Frage „Israel unter

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den Völkern“ gehört Benzingers Hebräische Archäologie, die jetzt neubearbeitet in dritter Auflage mit reichen Abbildungen erschienen ist. Das Land Palästina und seine Bewohner bis zum Eindringen hellenischer Kultur, dann die „Privataltertümer“ (Nahrung, Kleidung und Wohnung; die Familie und ihre Sitte; die Gesellschaft; die Berufsarten; die Wissenschaften; Maß- und Münzwesen; die Kunst), die „Staatsaltertümer“ (Verfassung und Verwaltung, Recht und Gericht, das Kriegswesen) und endlich die „Sakralaltertümer“ (der Ort des Gottesdienstes in den verschiedenen Zeiten, die Priester, Opfer und Feste, die Vorstellungen von Rein und Unrein) werden hier mit der vielleicht etwas zu weit getriebenen Tendenz, die Kultur Israels als „Nuancierung einer vorderorientalischen Gemeinkultur“ hinzustellen, in ausgezeichneter Weise unter Verwertung des großen Ertrags der Ausgrabungen und mit sehr zuverlässigen Quellen und Literaturnachweisen vorgeführt: ein Durchblick durch die Welt des Alten Testaments wie er anschaulicher nicht gedacht worden kann. Das Riesenmaterial ist hier in bewundernswerter Weise bewältigt, wenn man auch die Schlußfolgerungen und Thesen Benzingers als viel zu bestimmt empfindet, etwa (S. 176) daß die Keilschrift auch bei den Hebräern die Schrift der Religion und der Verwaltung bis auf Hiskia gewesen sei. Man hat bei derartigen typischen unbewiesenen Behauptungen immer wieder Ursache, sich darüber zu wundern, daß im Schrifttum der protestantischen Vertreter der alttestamentlichen Wissenschaft so oft statt der einfachen Feststellung der Lückenhaftigkeit des Stoffes, die einen sicheren Schluß nicht gestattet oder statt der Abwägung von Wahrscheinlichkeitsgraden oder gar an Stelle von vagen Möglichkeiten, um die es tatsächlich vielfach geht, strikte und uneingeschränkte Affirmationen gesetzt werden. Selbst Rudolf Kittel, der Leipziger Altmeister der Wissenschaft vom Alten Testament, der gründlichste Erforscher und Darsteller der alten Geschichte Israels, an dessen großem Geschichtswerk man das vorsichtige Abwägen der verschiedenen Möglichkeiten, das Graben bis auf die Wurzeln und eine weite Berücksichtigung der ganzen Kultur- und Geisteswelt der Nachbarn Israels mit Recht rühmt, genügt den Forderungen einer philologisch und historisch einwandfreien, die Grundprinzipien einer elementaren mathematischen Wahrscheinlichkeitslehre beobachtenden Beweisführung häufig nicht. Den gleichen Mangel weist eine der besten, übersichtlichsten und reichsten Darstellungen des gesamten Stoffes, die Geschichte der israelitischen Religion von Gustav Hölscher auf. Hölscher, der Bonner Theologe des Alten Testaments, der Nachfolger von Meinhold, weicht in wesentlichen Grundfragen von der „herrschenden“ Lehre ab. Er hat gegen Greßmann eine vorexilische jüdische Eschatologie energisch bestritten und versetzt auch die Abfassung des heutigen Textes des Deuteroniums in die Zeit nach dem Exil, widerspricht also der seit de Wette allgemein gelehrten Identifikation dieses Buches mit dem nach den Königsbüchern (II. Kön. 22 ff.) unter Josia gefundenen Gesetzbuch. Obwohl man Hölscher vor allem als den scharfsinnigen Erforscher des Hesekielbuches und der Geschichte der Kanonizität des Alten Testaments, also wegen ganz großer Leistungen zu verehren hat, darf man seine philologisch-historische Kritik der Bücher Ezra-Nehemia als verfehlt bezeichnen. „Man braucht die Geschichtlichkeit der Fi-

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gur Esras vielleicht nicht ganz zu leugnen“ (Hölscher bei Kautzsch-Bertholet, 4. Aufl., Bd. II, S. 494). Die bevorstehende Veröffentlichung der neuen Untersuchungen des Königsberger Semitisten Hans Heinrich Schaeder über Esra an Hand des philologisch-methodisch (in sprach-, namentlich stilvergleichender Methode) dargebotenen iranischen und semitischen Urkundenmaterials wird den sonderbaren Spuk einer Vorstellung von der „Reform Esras als legendenhaften Reflexes der Reformen, die sich seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts in der Judenschaft vollzogen haben“ (siehe jetzt nach dem Vorgang von Eduard Meyer bei Hölscher, Geschichte der israelitischen und jüdischen Religion, S. 140), endgültig bannen. So wogt, was an wenigen Beispielen zu beweisen war, auf dem von der protestantischen Theologie beherrschten Forschungsfeld vom Alten Testament – das Verdienst großer Gelehrter wie Hempel, Kittel, Greßmann, Hölscher, Sellin und sehr vieler anderer bleibt dabei unangetastet – alles, Fragestellung und Fragebeantwortung, durcheinander; die scheinbar festesten Bollwerke der Bibelkritik sind ins Wanken geraten und die Konstruktionen, Behauptungen, Quellenscheidungen und Beweisführungen stehen einander diametral gegenüber. Die mehrfach hier als ordnende Retterin aufgerufene Sprachwissenschaft auf vergleichender Grundlage wird das Schiedsamt übernehmen müssen. Dabei ist das bisherige Maß der Kritik nicht etwa einzudämmen, sondern auszudehnen, zu verschärfen und auf bewährte, in der Altphilologie und indogermanischen Sprachwissenschaft geübte Grundsätze zurückzuführen.

III. Frömmigkeitsgeschichtliche, psychoanalytische und soziologische Fragestellungen Die Eingliederung der alttestamentlichen Urkunden in die Welt des alten Orients ist nur die Vorarbeit und Vorbereitung zu dem Verstehen der alttestamentlichen Eigenwelt, zu dem Erfassen ihrer starken Ursprünglichkeit, namentlich ihrer absoluten religiösen Werte und der Eigenart ihrer sprachlichen Äußerung. Die Formen des Denkens und Erlebens, die in den Sprachdenkmälern sichtbar werden, das in diesen Formen sich verbergende religiöse Eigengut bleibt der vornehmste Gegenstand jeder Betrachtungsweise des Alten Testaments. Die Ergründung dieses verschollenen Bewußtseinszustandes muß allerdings um einen sehr teueren Preis erkauft werden, um den Preis des eigenen Ausgeschlossenseins von der analysierten Frömmigkeit, der, solange sie noch echt ist und lebt, ein solches Wissen von sich selbst verschlossen bleibt. Ein Zeitalter, in dem es erlaubt ist und das fähig ist, das „Heilige“ zu zergliedern, die seelischen Vorgänge beim Gebet mikroskopisch zu sichten, das aussprechen kann, was bei der „Zerknirschung“ vor sich geht, eine Zeit, welcher Herkunft und Ablauf des Verbundenheits- und Abstandsgefühls zum Göttlichen in verschiedenen Religionssystemen geläufig geworden sind, ist außerhalb der lebendigen atmenden Gläubigkeit und abseits von der reinen unreflektierten vertrauenden Hingabe an Gott geraten.

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„Frömmigkeitsgeschichte“ ist eine Abart der vergleichenden Religionsgeschichte und wird noch im Umkreis der sich „Theologie“ nennenden Universitätsdisziplinen erforscht und gelehrt, eine zufällige, von der Geschichte des abendländischen Bildungswesens bedingte Erscheinung. „Frömmigkeitsgeschichte“ ist nach einer Definition des Marburger alttestamentlichen Forschers Baumgartner eine neuerdings am Alten und Neuen Testament wie auch in der allgemeinen Religionsgeschichte geübte Arbeitsweise, die im Unterschied zur „religionsgeschichtlichen“ nicht die äußere Geschichte der zu beschreibenden Religion, ihre Einrichtungen, Lehren und Führer untersucht, sondern die „innere Haltung“ ihrer Anhänger, eben die „Frömmigkeit“, und zwar in all ihren Formen und Wandlungen. Die neue Methode will die bisherigen, namentlich literarkritischen und religionsvergleichenden, formgeschichtlichen und allgemein historischen Wege der vollkommenen Durchdringung der Welt des Alten Testaments beibehalten, aber nach einer wichtigen Seite ergänzen. Typisch sind für diese Forschungsart die Arbeiten von Johannes Hempel, vor allem „Die israelitischen Anschauungen von Segen und Fluch im Lichte altorientalischer Parallelen“ (Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Bd. 79, 1925, S. 20 – 110) und das oben schon erwähnte größere Werk Hempels „Gott und Mensch im Alten Testament“ (1926) mit dem Untertitel „Studie zur Geschichte der Frömmigkeit“. Das Programm der zuletzt genannten Studie ist, „die inneren Schwingungen aufzuweisen, die bei den einzelnen Kultakten, Glaubensvorstellungen und Hoffnungsbildern die Seele des alten Israeliten durchzittern“. Die Durchführung im Einzelnen enthält eine Fülle mustergültiger Interpretationen von ganzen Partien und Stellen des Alten Testaments, sie zeigt dabei eine Durchdringung und Gliederung des Stoffes, eine Beherrschung des Sprachwissenschaftlichen, nicht nur des Hebräischen und Aramäischen, daß man hier von einem bis jetzt unerreichten Höhepunkt der alttestamentlichen Wissenschaft evangelischer Färbung sprechen kann. Weit über ihr eigentliches Thema hinausgehend bieten die Hempelschen Arbeiten überdies einen tiefen Einblick in das weitschichtige Gebiet der Forschungen des Alten Testaments in allen ihren Abarten und Verschlingungen mit anderen Wissenschaften, vor allem auch mit den neuen systematischen und religionspsychologischen Forschungen. Die bisherigen weitverzweigten Ergebnisse sind verwertet und selbständig gefördert, so daß man berechtigt ist, nach diesem besten Repräsentanten die historische Theologie in ihrer heutigen Verfassung im ganzen zu beurteilen. Hempel erfüllt vor allem die erste Forderung, den gegebenen Stoff zuverlässig historisch philologisch zu sichten. In fünf sich stofflich nicht immer gegenseitig ausschließenden Hauptabschnitten, deren Mittelstück „Die prophetische Botschaft“ ist, veranschaulicht er die Formen der im Alten Testament vorkommenden religiösen Empfindungen, aufgereiht an dem „polaren“ Gegensatzpaar Abstandsgefühl-Verbundenheitsgefühl. Vergleichsobjekt, mindestens Richtungspunkt ist durchgängig die spätchristliche systematische Glaubenslehre evangelischen Bekenntnisses. Das Hempelsche Buch repräsentiert eine typische Forschungsrichtung und ist charakteristisch für die Arbeiten des soziologisch beruflich

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fest umrissenen Forschungskreises um die Zeitschrift für alttestamentliche Wissenschaft. Diese Arbeiten tragen deutlich den Charakter des Glaubenszeugnisses, sind also in ihren Ergebnissen Bekenntnis, „Wissenschaft“ allein in dem Sinn eines jeden systematisch geordneten Denkens, das sich nur in einem traditionell und schulmäßig gegebenen Kreis fester Lehren bewegt, diese erhaltend und beweisend, aber nicht selbständig forschend und findend. Die Wiedererzeugung, die Vergegenwärtigung der religiösen Grundgefühle, denen die Beschreibung und die Quellennachweisung bei Hempel gilt, also die „Aufweisung der inneren Schwingungen der einzelnen Frömmigkeitsakte“ wird trotz der ständigen Ausrichtung des alt- testamentlichen Gedankengutes auf die christliche Lehre in keinem Punkt der Darstellung erreicht. Im Gegenteil, es bleibt der Eindruck unbeteiligter kulturhistorischer Studien, die bei allem tiefgehenden Einfühlungsvermögen im Einzelnen nie auch nur herankommen an die unmittelbare Eindrucksstärke der behandelten Texte in unzerstükkeltem Zustand, etwa bei ihrer ursprünglichen Verwendung im Kult und später in der Synagoge. Es ist manchmal so, als ob Hempel die Sitten und Gebräuche eines australischen Stammes mit großem völkerkundlichen Verständnis schilderte. Die „Vergegenwärtigung“ des Materials geschieht mit den Mitteln der in der evangelischen Theologie gebräuchlichen Systematik, mit deren modernen gelehrten Arbeiten sich Hempel überall klar und überlegen auseinandersetzt. Die „Segen-Fluch“-Arbeit gehört der vergleichenden Religionsgeschichte und Religionspsychologie an. Ihr besonderer Reiz besteht darin, daß hier die zuverlässigen alttestamentlichen Beweisstücke – sauber museal gereinigt – aus dem Umbildungsprozeß von einer noch der primitiven magischen Welt angehörenden – „präreligiösen“ – Frömmigkeit zu einem leidenschaftlichen, von hohem Ethos getragenen persönlichen Gottesglauben ausgestellt werden. Das ordnende und säubernde Verfahren läßt besonders eindrucksvoll die schon mit den literarkritischen Methoden gesonderten Schichten auseinandertreten. „Die Verwurzelung im Magischen“ bleibt auch noch sichtbar in der Zeit hochentwickelten Gottesglaubens. Das Alte Testament wird als Kreuzpunkt zweier verschiedener Welten vollkommen deutlich. Dadurch, daß eine Reihe unbehauener Blöcke über die große, verschiedenen Epochen angehörende Literatur des Alten Testaments verstreut ist, können zwei, ja mehrere getrennte, einander nicht mehr verstehende Welten, die „der Redakteur“ mit großer Kunst verkittet und in eine ganz große eigentümliche einheitliche Idee von Gott und vom Menschen eingetaucht, gleichsam galvanisiert hat, durch sorgsame wissenschaftliche Analyse wieder auseinander genommen werden. Die Besonderheit der israelitischen Religion wird durch reiches Parallelmaterial vor allem aus dem Hellenentum und aus den westsemitischen Inschriften klar. Der Kampf zwischen Religion und Magie in der Bibel wäre das große Thema, das nach der umfassenden Zusammenstellung bei Hempel nun souverän dargestellt werden müßte, ohne den Ehrgeiz und das Verpflichtungsgefühl, die Beherrschung des letzten Stands oft abseits liegender wissenschaftlicher Kontroversen in sprengenden Fußnoten nach jedem Satz zu zeigen, die häufig für sich kleine Monographien darstellen.

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Auch das große Buch von Hempel „Gott und Mensch“ bleibt trotz der Gliederung und trotz der übrigen schon erwähnten Vorzüge letztlich Stoffhäufung. Bei aller Eindringlichkeit, mit der an ganz tiefe einzelpsychische und kollektivseelische Vorgänge herangespürt wird, und bei aller immer objektiv am Text haftenden Zuverlässigkeit brechen manchmal die Feinheiten der Unterscheidungen Hempels vor Überspitzungen und Spaltereien ab; die verschiedenen Tönungen und Schattierungen fließen ineinander über. Bei der wichtigen Untersuchung der einen Seite des altisraelitischen religiösen Grundgefühls, der „Furcht vor Jahve“ ist das Ergebnis: Der Abstand des Menschen von Jahwe ist Machtlosigkeit und Unwürdigkeit, wobei Macht und Würde (Heiligkeit) Jahves höchst individuelle Züge tragen. Diese Abstraktion ist zunächst dünn gegenüber der Wucht des Urtextes, der „erklärt“, ja selbst übersetzt, trotz den ausgesuchtesten Worten Eigengehalt, Leben und Wirkung verlieren muß. Zum Beispiel die Furcht, die Nähe Gottes im ekstatischen Erleben wird mit diesen Worten erklärt: „Das Gefühl für das „Ganz Andere“, für das aller menschlichen Berechnung Entzogene des göttlichen Tuns, für das Sinnlose seines Wütens gegen den ohnmächtigen Menschen, der weder durch Drachenstärke (Hiob 7, 12) noch durch Sünde (Hiob 7, 20) ihm etwas antun kann, für das an keine Rechtsnorm Gebundene, schlechthin Gewaltige seines Handelns, vor dem der Mensch in Bangen und Grauen sich beugt, lebt in solchen Ausbrüchen und Bildern, … lebt vor allem, uralte Gefühle der Dämonenfurcht mit sich führend, in den Schilderungen des Zornes Gottes selbst und des Tages, an dem sein Grimm sich entlädt und in seinem Feuer das Haus Israel wie das Silber im Ofen zerschmilzt (Ezechiel 22, 22), Menschen und Tiere, Bäume und Früchte verzehrend, ohne daß einer zu löschen vermag.“ Dieses Gefühl wird dann weiter in den Zusammenstellungen Jahves mit allem Grauenerregenden aus dem menschlichen und natürlichen Bereich vorgeführt und sogar in seinem psychophysischen Ablauf (z. B. Jesaia 21, 3 ff.; Hiob 4, 12 ff.) geschildert. Im Stimmungsgehalt des Kults findet Hempel eine Komponente aus einer „anderen Frömmigkeit“, die durch Vertraulichkeit im Verkehr mit Gott, wohl durch Ehrfurcht, aber ohne Furcht, gekennzeichnet sei. Hier lägen Stücke vor, die in einer anderen Frömmigkeit wurzeln und in diesem Punkt nicht assimiliert seien. Das Bangen vor der Nähe Jahves im Tempel und im Kult weise auf Traditionen des ältesten vorkananäischen Israels hin oder stehe in merklicher Spannung zu den im Lande üblich gewordenen Formen des Gottesdienstes. Hempel beobachtet in der gesamten Gottesvorstellung, sehr ins einzelne gehend und jede Quellenstelle minutiös deutend und vergleichend einen Prozeß des Nachlassens des Bewußtseins um die persönliche Nähe Jahves, überhaupt des magischen Elements in der Vorstellung des Unsichtbaren, und zwar in zwei Hauptmotiven: Steigerung der Transzendenz, Wegfall altisraelitischer Einrichtungen, die Jahves Gegenwart verbürgen. Hier liest der Verfasser zu viel aus dem Text heraus und überschätzt die wissenschaftlich noch erkennbaren textlichen Unterscheidungsspuren. Auch sonst, besonders in dem Kapitel über die „Doppelseitigkeit des Gefühls gegenüber der Nähe Gottes“, sind die religionspsychologischen Distinktionen, vor allem der Begriff der „Gefühlspolarität“ überspitzt. Das religiöse Sehnsuchtsgefühl sei in der israeliti-

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schen Frömmigkeit im allgemeinen nur schwach entwickelt, diese Frömmigkeit wachse aber in der Vorstellung vom Leben in und bei Gott als des einzigen „Lebens“ im vollen Sinn des Wortes (z. B. Psalm 73, 25 f.) über alle Diesseitigkeit der Sehnsucht weit hinaus, sie sei eben nicht reine Furcht, aber sie sei auch nicht schrankenlose Sehnsucht der Einswerdung. In der Verschränkung von religiöser Phänomenologie mit Textkritik und mit einem ganz handfesten Entwicklungsbegriff aus der historischen Theologie des 19. Jahrhunderts möchte man Hempel keine Nachahmer wünschen, vor allem wenn diese nicht wie Hempel selbst mit so vorzüglichem gelehrten Rüstzeug und mit so feinem Sinn für geistesgeschichtliche Nuancen vorgehen. Der „Geschichte der Gottesfurcht“ innerhalb des Alten Testaments, die Hempel gibt, kann man kaum mehr folgen. Die stärkere Verbindung der Jahve-Furcht bei dem „Elohisten“ mit dem Sittlichen, umgekehrt „die sie zugleich auch wieder dämpfende Wirkungssphäre“ dieser Furcht in der rational berechnenden Weisheitslehre, diese Abschattierungen, läßt der unbefangen betrachtete Text nicht zu; sie sind auch bedenklich mit dem Erbfehler des protestantischen alttestamentlichen Betriebs des 19. Jahrhunderts belastet, Quellenscheidungen um jeden Preis zu geben und ihre Kriterien zu übertreiben. Die zusammenhängenden Untersuchungen Hempels über die Propheten sind von besonderer Bedeutsamkeit: Die prophetische Botschaft ist keine ethische, humane, den äußeren Kult überwindende Lehre, sondern despotische Willensäußerung der Gottheit für einen bestimmten Fall. Beim Prophetismus handelt es sich in der Tat um eine durchaus arteigene religiöse Erscheinung, die nicht verhumanisiert oder verethisiert werden darf. „Das prophetische Erlebnis besitzt Zwangscharakter“. Also die Propheten folgen einem unwiderstehlichen Zwange Jahves. Nicht in mystischer Versenkung, nicht in beseligender Vision und Verzücktheit, sondern „als verzehrenden, niederwerfenden Willen“, erfahren die Propheten die Nähe Jahves. Der „Geistbraus“ – ruach – (im Unterschied von anderen Begriffen des Alten Testaments von „Geist“ und „Seele“) dringt auf den Propheten ein, wirft ihn um, nimmt ihm die Handlungsfreiheit und lenkt ihm die Zunge zu schrillen Befehlen. Die Propheten, die dem Volk und dem König zumuten, nur auf Gott zu vertrauen und auf das Wunder zu warten, geben damit keine politischen, innerweltlich weitblickenden und menschlich klugen Ratschläge, weil etwa die Gewalt gegen die Übermacht doch nichts ausrichten könne. Diese rastlose sich blind hingebende Zuversicht in Jahves Hilfe nach dem Vorgang Max Webers massiv materiell, „soziologisch“ zu deuten als das Mittel einer wehrlosen Minderheit, der die trostlose tatsächliche Lage zum Frömmigkeitsideal wird, habe ich schon früher als Verirrung gekennzeichnet. Die wirtschaftlich und politisch bedingte Wehrlosigkeit soll sich nach der bekannten Deutung bei den Propheten in eine gottvertrauende friedliche Geisteshaltung „umgesetzt“ haben, die als Stärke und Festigkeit des Glaubens an die überragende Macht Jahves schon von sehr früher Zeit her ohne jene historische Situation der Wehrlosigkeit vorhanden gewesen sei. Hier ist nur so viel richtig: Die überblickbaren Verhältnisse des alten vorderasiatischen Orients in der ersten Hälfte des vorchristlichen Jahrtausends las-

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sen es nicht zu, die Absichten der Propheten als eine Art abstrakten Widerstands der sittlichen Ideen gegen den Machtstaatsgedanken zu deuten; dafür fehlen gewiß alle geistesgeschichtlichen Voraussetzungen. Aber genauso unzugänglich ist der „Geist des Alten Orients“ für die psychoanalytische Konstruktion von der „Vergoldung des Lebensdrucks“: Weil der Prophet und seine Anhänger nicht mit Schwert und Spieß streiten können, so wird ihr Ideal der Mensch, der friedlich unter den Menschen lebt „im Vertrauen auf die ihm nahe Gottesstimme“. Hier haben Max Webers Visionen unglücklicherweise Schule gemacht. Seine Konstruktion von der literarischen Exilsprophetie als der letzten Stufe der in der altisraelitischen Religiosität von jeher in der Anlage keimhaft vorhandenen Neigung zur „Verklärung der Pariavolkslage und des geduldigen Ausharrens in ihr“ besticht sichtlich Hempel bei seiner Charakterisierung der israelitischen Ethik, trotz aller Einschränkungen wie, man solle das Schlagwort von der Sklavenmoral gewiß nicht mißbrauchen. In Max Webers grandiosem Fragment ist die geradezu schwelgerische Entfaltung der Idee vom jüdischen Pariavolk und der positiven Wertung der Selbsterniedrigung das große Schaustück des Ganzen; in den Dienst der These „von der miserabilistischen Ethik des Nichtwiderstandes“, von der Theodizee des antiken Judentums als einer Apotheose des Leidens, des Elends, der Armut und der Häßlichkeit ist schließlich bei Weber die Stoffauswahl und jede Einzelbeobachtung gestellt, in einer ästhetisch außerordentlich anziehenden Einseitigkeit, aber wissenschaftlich schlechthin ohne Gültigkeit. Religiöser Schauder in der Vorstellung vom unbedingten Ausgeliefertsein an die Gottheit, das „Wurmgefühl“ des uns als „Deuterojesaias“ geläufigen nachexilischen Propheten und Psalmisten, ist mit einer ungebrochenen, dem Ressentiment entgegengesetzten heroischen primitiven Haltung, die sich mit Gewalt jeder Lebensbeeinträchtigung entgegenstellt, durchaus vereinbar und tritt im Alten Testament, sowie in den vorgelagerten Kulturen Babyloniens und Assyriens oft vereinigt auf. Der Gesang vom gehorsamen Erdulden der Gewalt dagegen als höchster Staffel der religiösen Würde und Ehre vor Gott, die enthusiastische Verklärung des Leidens als des Mittels, der Welt zum Heil zu dienen ist wohl bei „Jesaias“ und in den „Psalmen“ ureigenes jüdisches Gewächs wie nur irgendeine der ganz großen elementaren Dichtungen, die noch Kult, Historie und Gesang in einem sind; aber das einzelpsychische Sichzurechtlegen des Schicksals, das wir verklärten Leidenshochmut nennen – wir Armen und Verfolgten sind die wahrhaft Auserwählten und Frommen – ist eine in der Völkergeschichte in allen Verschalungen immer wiederkehrende Äußerung des Selbstbewußtseins einer Gruppe, die Schranken ihrer Macht empfindlich verspürt und als geschlossene Minderheit in eine homogene herrschende Umwelt geraten ist. Das dritte Grundgefühl: Die soziale Regung, die wieder von zwei einfachen einleuchtenden Grundmotiven angefacht wird, nämlich von der Erinnerung an das eigene Schicksal, „Denn Knechte wart ihr im Land Ägypten“ und von der Lohnverheißung nach dem Tod. Wie nun diese drei Grundgefühle – der unbedingten Abhängigkeit von Gott, des Nichtwiderstandes als wohlgefälliger religiöser Haltung und

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drittens der Caritas – in ihrem Zusammenklang zur Tugend der Demut in den jüdisch-christlichen Vorstellungen werden, das wäre das zweite große Thema, das der alttestamentlichen neueren Forschung zu stellen ist. Ganz von Max Webers nervösem Künstlertum, von seiner meisterhaften Darstellung der Entstehung des jüdischen Pariavolkes gebannt, finden die Vertreter der historischen Theologie nicht zu ihren bescheideneren Aufgaben zurück. Der Nietzsche-Gedanke vom Ressentiment, von der Sittlichkeit als Triebeinschränkung, von der Sklavenmoral bleibt im Kern – zunächst nach dem Inhalt der Aussage – eine typisch „heidnische“ Wertung, in moderner Wortverkleidung ein alter aus den rhetorischen Religionskämpfen der Antike bekannter Vorwurf, den namentlich Augustin immer wieder durch sein ganzes Schrifttum zurückweist: Das Christentum habe die Menschen demütig, unmännlich und schlaff gemacht und damit auch dem kraftvollen Machtstaatsgedanken des römischen Reichs das Rückgrat gebrochen. Das Wiederaufleben dieses Vorwurfs seit Machiavell ist oft geschildert worden. Die „unterschwellige“ Umdeutung der Demut zur unterirdischen ins Jenseits transponierten Rachsucht und die „Enthüllung“ der sich nicht widersetzenden Ergebung in Gottes Willen als Ressentiment ist im Übrigen eine grob naturalistische, wissenschaftlich untaugliche Betrachtungsweise, die schon angesichts der vor uns liegenden aktuellen lebendigen zuckenden Menschenseele versagt und die bei Anwendung auf eine fremde historische Situation wie die des vorexilischen oder nachexilischen Juden zu keiner wissenschaftlichen Erklärung führen kann. Man wende die „Entlarvungspsychologie“ beispielsweise auf das Kernstück der Theologie Calvins – unbedingte Unwürdigkeit des Menschen und das Wunder der göttlichen Gnade – schulgerecht an und man wird die heillose Trivialisierung und Vereinerleiung dieses beliebten „Erkenntnismittels“ gewahr. Was man bei der Einzelseele sich mit dem Vorgang der „Verdrängung“ zurechtlegt, dem pflegt man jetzt bei der Beobachtung des Verhaltens menschlicher Gruppen mit der Etikette „Ideologie“ auf den Grund zu gehen. Das Wort „Ideologie“ hat seit Hegel und Marx einen Bedeutungswandel erfahren, darf aber, um nicht wertlos und verwaschen zu werden, nicht im Sinne eines wertfreien Gedankensystems gebraucht werden, sondern muß auf die Bezeichnung einer Art hypokritischer, eine Schwäche oder einen Zwang zu einer Idee oder zu einem selbstgewählten Ziel umfälschender Ablehnung oder Rechtfertigung weg- oder herbeigewünschter sozialer Zustände beschränkt bleiben. Beide Begriffe – Verdrängung und Ideologie – entbehren bei der Betrachtung alter Kulturen eines Erkenntniswertes, weil eine Loslösung des ErkenntnisSuchenden von seinem Objekt und seiner geschichtlich-gesellschaftlich zufälligen Situation nicht möglich ist: Die Scheidung der Oberflächentatsachen des Bewußtseins von den „eigentlichen“ Vorgängen im Unbewußtsein, also der Versuch, hinter den Schleier zu sehen, und an die „wahren“ Motive heranzukommen, scheitert an dem beschauenden Subjekt, das auch wieder ein Oberflächenbewußtsein und Unterbewußtsein hat und nicht über seinen eigenen Schatten springen kann. Wenn irgendjemand, so ist der europäische Theologe (mindestens so tief wie der moderne europäische Jude) bei Betrachtung kollektiver Gegenwartsvorgänge politischer und wirtschaftlicher Art gespalten.

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

Max Webers „Religionssoziologie“, die als großartiger, synthetischer Versuch einer zusammenhängenden Geschichtsschreibung „Israel unter den Völkern“ schon oben betrachtet wurde, ist ein fragmentarisches Provisorium, der titanisch aufgetürmte Schlußstein seines plötzlich abgerissenen nationalökonomischen Lebenswerkes, eine positiv-kritische Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung von Karl Marx auf das Gedankengut des Alten Testaments. Max Weber hat sich, wie schon früher angedeutet, der ihm von den alttestamentlichen Gelehrten evangelisch-theologischer Provenienz zugerichteten gebrauchsfertigen Bauteile unkritisch – was er selbst bedauert – bedienen müssen. Wenn jetzt die historischen Theologen das von Weber psychoanalytisch „veredelte“ Rohprodukt zurückübernehmen, so sind heillose methodische und sachliche Verwirrungen zu befürchten und bereits eingetreten. Die alttestamentlichen Forscher wenden unbekümmert Ergebnisse der Triebpsychologie, die in Nietzsche ihren entscheidenden Bahnbrecher gefunden hat, auf das Religiöse an, indem sie alles „Dynamistische“ und „Magische“, also das Urphänomen des Religiösen, als „präreligiös“ dekretieren und sich der Illusion hingeben, das Christentum als „absolute Religion“ von dieser Sehweise ausnehmen zu können. Ernst Troeltsch hat (in seiner Schrift „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte“ 1902; 3. Auflage 1929) die Unehrlichkeit, so zu verfahren, bekannt, ist jedoch mit diesem Bekenntnis so gut wie allein geblieben. Der einfache Bestand der alttestamentlichen Texte wird durch die triebpsychologische Exegese verzerrt. Der Forscher, der die modernen Theorien vom Ressentiment, vom Lebensneid und von der Psychologie des Pariavolks auf die Welt des Alten Testaments anwendet, begibt sich in die Gefahr, daß zur methodischen Klärung zunächst sein eigenes „Notideal“ genauer untersucht wird, mit dem er eine fremde Welt überlegen mißt. Greßmann hat in seiner berühmten programmatischen Wanderung durch die Aufgabenkreise der alttestamentlichen Forschung sich viel zu viel von dem „Streben“ versprochen, „über die theologischen Begriffe hinaus in das gefühls- und triebmäßige Leben einzudringen, das neben der Vorstellungswelt einhergeht und für die Entwicklung vielleicht wichtiger sei als diese“. Mit etwas mehr Vorbehalt spricht er allerdings von dem Wert der eigentlichen psychoanalytischen Methoden, wie sie von Freud ausgebildet und von Mythologen und Ethnologen teilweise übernommen worden sind. Der Ergänzung der theologischen Betrachtungsweise durch eine streng methodische religionsgeschichtliche, ethnologische und völkerpsychologische Erfassung der reichen Literatur des Alten Testaments kann allerdings nicht mehr ausgewichen werden. Als Muster durchdachter, sich von Einfällen und Konstruktionen streng fernhaltender religionsgeschichtlicher Forschungsweise sind neben den oben schon erwähnten englischen Werken, namentlich von William Robertson Smith, die Arbeiten von Alfred Bertholet, etwa die kleine aber ertragreiche Schrift „Das Dynamistische im Alten Testament“ (1926) wichtig. Eine andere Frage ist, ob dabei die Freudschen Methoden und Lehren anzuwenden sind. Carl Clemen, der Bonner Gelehrte, dem wir auch eine übersichtliche und zuverlässige Religionsgeschichte

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Europas (zunächst bis zum Untergang der nichtchristlichen Religionen) verdanken, hat sich jüngst der Mühe unterzogen, die große, fast unübersehbare Reihe von psychoanalytischen Arbeiten Freudscher Richtung, die der Religionswissenschaft neue Wege weisen wollen, durchzuarbeiten. In einem umfassenden Referat führt er11 die Fülle meist angelsächsischer Untersuchungen über die bekannten Fragen (Oedipussage – Sagen aus der Kindheit von Helden – Totem und Tabu – Couvade – Pubertätsriten – Schätzung der Erde – Trauer- und Bestattungsgebräuche) eindringlich und plastisch vor. Der monotone Pansexualismus dieser immer gleichen groben Erklärungen hat längst eine so erschreckende Popularität erlangt, daß nur der Ton angeschlagen werden muß, um an die hier gemeinte Art von „Wissenschaft“ zu erinnern. „Wir wissen, daß die Beschneidung ein Kastrationsäquivalent darstellt, welches das Inzestverbot auf das wirksamste unterstützt.“ Oder: „Der Fall des kleinen Hans, dessen beständige Angst, von einem Pferde gebissen zu werden, Freud als den infantilen Ausdruck unbewußter Kastrationsangst aufgeklärt hat.“ Und so weiter in ewig gleicher Melodie. Clemen hat gründlich, umsichtig und ruhig nachgewiesen, daß diese meist auf den „Ödipuskomplex“ hinauslaufende Behandlung der Religionsgeschichte willkürlich, unhaltbar, eine fixe Idee sei. Der „neue Weg“, den Freud und seine Schüler der Religionswissenschaft weisen wollen, ist ein Irrweg. Sieht man einige neuere typische – von Clemen nicht behandelte – Werke an, welche altjüdische, im Alten Testament wurzelnde Lehren und Vorschriften psychoanalytisch deuten, so steht man regelmäßig vor einem platten trivialen Naturalismus, einer naiven willkürlichen Handhabung irgendwo herausgebrochener Quellenstellen aus zweiter Hand. Ob Theodor Reik auf 130 Seiten das Schofarblasen – immer an Hand der Bibelstellen – als Teil eines uralten, auf den totemistischen Kult zurückgehenden Rituals deutet und mit den Pubertätsriten der Wilden auf umständliche Weise in Zusammenhang bringt oder ob der Geograph Passarge in engem Anschluß an Freud und Reik (ohne beide zu nennen) in einem abenteuerlichen, von allen guten Geistern verlassenen umfangreichen Buch den Jahvekult der Bibel aus der „Zweigeschlechterreligion“ des primitiven Naturmenschen und der „religiösen Heiligkeit des Geschlechtsakts“ ableitet, es ist immer die gleiche monotone rohe Vereinerleiung und willkürliche verständnislose Verzerrung des subtilen, fein nuancierten biblischen Stoffes. Eingehender muß noch die neuere Anwendung „soziologischer“ Methoden auf das Alte Testament behandelt werden. Wer etwa in den letzten zwanzig Jahren die deutsche und ausländische soziologische Literatur berufsmäßig begleitet und durchgesehen hat, kennt das hoffnungslose Chaos, die beispiellose Dissonanz dieser angeblich arteignen Wissenschaft und kann danach den naiven Optimismus beurteilen, mit dem auf die relativ gediegene Wissenschaft vom Alten Testament die „Soziologie“, die unter einer Art Beschwörungsformel modischer Wortweisen und Sätze vor sich gehende Aufreihung eines nach Gegenstand und Verfahren ungeklär-

11 Carl Clemen, Die Anwendung der Psychoanalyse auf Mythologie und Religionsgeschichte. Leipzig 1928.

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ten und widerspruchsvollen Gemengsels erkenntniskritischen, psychologischen, historischen, sozialökonomischen und völkerkundlichen Stoffes aufgepfropft werden soll. Man staunt über die Überschätzung der fremden Disziplin und über die richtungslose Willkür, mit der von Theologen in „soziologischen“ Vokabeln eigentlich nichts weiter als „Kulturgeschichte“, „Sittengeschichte“, „Hebräische Altertümer“, „Recht und Wirtschaft in der Bibel“ in der ältesten höchst fragwürdigen Manier weiter traktiert werden. Weder wird der Ansatz einer „Kulturlehre“, also der vielverflochtene Kulturgehalt der Gesellschaft einer bestimmten Epoche oder ein einzelnes ausgesondertes Kulturgebiet, etwa inhalterfüllte Verbände spezifisch gesellschaftlichen Charakters (Volk, Familie, Klasse nach einer neuen Ordnungsidee) in diesen Arbeiten sichtbar, noch geht es unter Weglassung der spezifischen historischen Kulturinhalte um die geordnete, an den historischen alttestamentlichen Befunden demonstrierte Erörterung von sozialen Beziehungen und Beziehungsgebilden. Zwei neue von der protestantischen Theologie im allgemeinen mit besonderer Auszeichnung behandelte Arbeiten müßten eine eindringliche Warnung sein, die alte traditionelle alttestamentliche Forschung durch eine fragwürdige „soziologische“ Behandlung zu „vertiefen“. Die Schrift von Abram Menes „Die vorexilischen Gesetze Israels im Zusammenhang seiner kulturgeschichtlichen Entwicklung“ (Beiheft 50 zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft) und das Beiheft zur gleichen Zeitschrift von M. Lurje „Studien zur Geschichte im israelitisch-jüdischen Reiche von der Einwanderung in Kanaan bis zum babylonischen Exil“ sind (trotz vieler guter Einzelbetrachtungen und der Beherrschung des nicht nationalökonomischen wissenschaftlichen Rüstzeugs) in der Gesamtauffassung ein deutlicher Rückschritt in der Forschung. Analyse und Kritik der Thesen von Menes müssen hier unterbleiben. Die Entstehung des israelitischen Gesetzes aus der Wirtschaft und Gesellschaft des Volkes abzuleiten, ist an und für sich ein wichtiges Forschungsziel. Menes verbaut sich eine geschlossene, sicher in den Quellen ruhende Vorstellung von den Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen als Hintergrund der legislativen Bestandteile des Alten Testaments durch gewagte Vermutungen und durch eine ziemlich primitive Herübernahme moderner wirtschaftlicher Vorstellungen und Bezeichnungen auf die alte Welt. Das Bundesbuch (Exodus 20, 23 bis 23, 19) sei das Programm der Jehurevolution im 9. Jahrhundert; es handle sich hier nicht um damals schon geltendes Recht, sondern um eine sozialrevolutionäre Reform zur Eindämmung der fortschreitenden Versklavung der freien Bauernschaft; dieser Prozeß sei durch das Aufkommen der Geldwirtschaft hervorgerufen. Die Sinaierzählung stelle dagegen nur einen sagenhaften Reflex der Vorgänge dar, die mit der Einführung des Bundesbuches verbunden waren. Das Schwergewicht liegt bei Menes in seiner sozialen Theorie von der revolutionären Herkunft des Deuteronomiums als Schöpfung der herrschenden Partei des am haarez, des Proletariats, während der Regierungszeit Josias in einer Zeit fortschreitender Geldwirtschaft und Proletarisierungsgefahr. Die an vielen Stellen sehr geglückte Analyse des 5. Buches Mose enthält Analogien zur antiken Gesetzgebung und will den Beweis führen, daß wir in

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Hauptteilen des Buches den revolutionären Utopismus der verschuldeten Bauernmassen vor uns haben. Auch der Bericht über die Auffindung des verschollenen Gesetzes im Tempel im 18. Regierungsjahr des Josia (II. Kön. 22 u. 23) sei wieder nur „Spiegelung“ in den Köpfen einer späteren Generation; und zwar sei für die Beurteilung jenes Berichtes das unbestritten nachexilische Huldaorakel (II. Kön. 22, 17 ff.) entscheidend. Im Übrigen haftet die Fragestellung sowie die Gesamtbeurteilung der deuteronomischen Gesetzgebung und der sozialen Situation in der Bibel bei Menes an modernen Begriffen aus den Vorstellungen der heutigen Wirtschaftswelt und artet an manchen Stellen (z. B. S. 87) grotesk zu einer anklagend-pathetischen Geste gegen die bestehende kapitalistische Wirtschaftsordnung aus: „Wenn sich mancher moderne Gelehrte, der mit den gegenwärtigen Verhältnissen durchaus zufrieden ist, gegen die „orientalischen Könige“, die unfähig waren, einen Rechtsstaat zu gründen, entrüstet, so vergißt er dabei, daß die Propheten gegen den modernen „Rechtsstaat“ ebenso zu Felde ziehen würden wie gegen den altisraelitischen Staat. Die altisraelitischen Kapitalisten, die ihr Geld nicht ohne Zinsen darleihen wollten, und rückständige Schuldner von Haus und Hof verjagten, waren nicht besser und nicht schlechter als ihre modernen Genossen; was ferner die ungerechten Richter anlangt, so kommen unsere Richter in der sozialistischen und kommunistischen Presse unserer Zeit nicht besser weg.“ Die wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Urteile von Menes kranken an einer unscharfen dilettantischen Handhabung der einfachsten nationalökonomischen Begriffe. Zu einem neuen vollgültigen Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des antiken Judentums genügt, wenn nicht eine Ansammlung atomistischer Realitäten und Merkwürdigkeiten entstehen soll, die historische und sprachwissenschaftliche Tatsachenbeherrschung allein nicht. Nur das enge Miteinander von durchgebildeter Wirtschaftstheorie mit methodisch sicherer Geschichtsschreibung kann eine klare Einsicht verschaffen in die uns hier beschäftigende, mit dem Religiösen noch unlöslich verknüpfte Welt der wirtschaftlichen und sozialen Zustände, vor allem in die vergangene Gedankenwelt von Wert, Ziel und Hergang der Handlungen im menschlichen Zusammenwirken, die wir Wirtschaften nennen. Wirtschaftstheoretisch zwar anspruchsvoller, aber in noch höherem Maße aus heutigen Gesinnungen, Trieben und Zuständen deutet Lurje (Dozent in Moskau) in seiner eben erwähnten Schrift die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im israelitisch-jüdischen Reich. Die „nichtsnutzigen, leichtfertigen Menschen“ (Richter 9, 4), „leichte und überschäumende Männer“ nach Buber-Rosenzweig, die nach dem Tode Gideons Abimelech für seinen Überfall dingt, sind nach Lurje „richtiger Arbeitslose“. Und im Deborah-Lied gibt ihm die Stelle „eine, zwei Sklavinnen für jeden Mann“ (Richter 5, 30: „einen Schoß, zwei Schöße auf den Kopf des Wehrmanns“ nach Buber-Rosenzweig) Anlaß zu der tiefsinnigen, „für die soziale Struktur Altisraels wichtigen“ Frage: „Gibt es in dieser Zeit schon öffentliche Dirnen?“ Gleichwertig ist die Feststellung: „Die Bestimmung über den Sabbat im Bundesbuch kann als das erste Arbeitszeitgesetz bezeichnet werden.“ Kategorien und Einteilungen aus Max Webers „Wirtschaftsgeschichte“, eines aus nachgelassenen Bruchstücken von Vorlesungsnachschreibungen herausgegebenen Torsos, überträgt

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Lurje sorglos auf alttestamentliche Verhältnisse. Seinem Buch stellt er das Motto aus dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx voran: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“. In der Weise hat schon Karl Kautsky vor 20 Jahren (1908) zum abschreckenden Beispiel eine umfangreiche Geschichte vom Ursprung des Christentums geschrieben. Menes und Lurje sind von der führenden anerkannten protestantischen Wissenschaft des Alten Testaments für gut befunden worden. Selbst bei Hempel und Kurt Galling beobachtet man diese unglückliche Handhabung Max Weberscher Vokabeln und ebenso die wenig kritische Anwendung marxistischer, von Max Weber leicht gewandelter Begriffe auf biblische Zustände und Vorgänge. In Hempels Büchern und vor allem bei Galling sind die sonstigen Vorzüge und die Eindringlichkeit wissenschaftlicher Forschung so überragend, daß die unscharfen wirtschaftswissenschaftlichen und „soziologischen“ Urteile nur einen Schönheitsfehler ausmachen. Galling hat sich mit seinen beiden Arbeiten „Die Erwählungstradition Israels“ (1928) und „Die israelitische Staatsverfassung in ihrer vorderorientalischen Umwelt“ (erweiterter Vortrag auf dem Bonner Orientalistentag 1928; jetzt 1929 als Heft 3 / 4 im 28. Band der Reihe „Der Alte Orient“ erschienen) an die Spitze der alttestamentlichen Wissenschaft gesetzt. Die Selbstaussagen des Alten Testaments über die Erwählung knüpfen an den Auszug aus Ägypten und an die Erzvätertradition an; Galling weist nach, daß beide Erzählungen zwei verschiedene nebeneinander laufende Traditionskerne bilden. Das nationalreligiöse Erwählungsbewußtsein, auf den zwei Traditionsgrundlagen ruhend, hat den Juden im Grunde die Selbstsicherheit und den felsenfesten Glauben eingepflanzt, jedenfalls der jüdischen Frömmigkeit einen besonderen Gehalt gegeben. Die Beweisführung Gallings in dieser Arbeit und in der oben erwähnten über den altjüdischen Staat dringt zu den verschiedensten Problemen der alttestamentlichen Forschung vor, die souverän und selbständig in dichtester sachlicher Konzentration bewältigt und überall positiv gefördert wird. Nur wo Galling in die Nähe geschichtsphilosophischer und „soziologischer“ Fragen kommt, versagt er und wird unselbständig. Ich breche hier die Wanderung durch die heutige Forschung des Alten Testaments ab, da die rein spezialwissenschaftlichen, namentlich philologischen Fragen, ebenso die sich an die einzelnen Teile des Alten Testaments knüpfenden Spezialprobleme hier nicht erörtert werden können. Ich muß es mir auch versagen, an den Beispielen von Greßmanns Nachlasswerk „Der Messias“ und der Kollektivarbeit über die „Bibel“ im vierten Band der Enzyklopaedia Judaica die neuen sichtbaren Keime einer schöpferischen Bibelwissenschaft zu zeigen. Ein allgemeiner Überblick, wie ich ihn in diesen Blättern begonnen habe, gäbe an und für sich zu einschneidenden Vorschlägen über eine Änderung der Forschungsrichtungen Anlaß, ja noch mehr, verpflichtet vielleicht zu einer eigenen exemplarischen positiven Besserleistung.12 An einer anderen Stelle soll demnächst 12 [Die Formulierung lässt sich als lose Ankündigung einer eigenen jüdischen Geschichte deuten, wie Feuchtwanger sie mit seinem Typoskript „Jüdische Geschichte als Forschungsauf-

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der Versuch unternommen werden, in jener geforderten Aufhebung der Isolierung der Forschung über das Alte Testament einen entschiedenen Schritt vorwärts zu machen und aus dem ausgefahrenen Kreislauf der eben geschilderten Art von Fragen und Antworten herauszutreten.

gabe“ realisierte. Ein Großteil seiner Publizistik der Jahre 1928 bis 1938 steht damit unter dieser programmatischen Aufgabe.]

4. Bibelforschung aus jüdischem Geist. Martin Bubers Erneuerung der Bibel aus dem Geist des Judentums Das zeitlich und räumlich weit auseinander liegende Schrifttum, das in den Urkunden des Alten Testaments vorliegt, ist nicht aus einem Guß in dem Sinne, daß ein einheitliches, eindeutiges Welt- und Geschichtsbild dieses Werk geformt hätte. Es sind Urkunden jüdischer Geisteshaltung. Aber jede Epoche, jeder Kulturkreis hat sich immer von neuem die Bibel angeeignet; von ihr wurde zwar die abendländische Menschheit in ihrem Denken und Verhalten bestimmt, aber auch umgekehrt vollzog sich eine Umschmelzung und Angleichung des Textverständnisses von Volksgeist zu Volksgeist. Die nationale Aneignung der Bibel in Deutschland, Bibel und deutsche Kultur, sind seit langem Gegenstand einer besonderen Wissenschaft geworden. Die spezifisch jüdischen Bemühungen um das eigene alte Erbgut gingen ihren besonderen Weg, mündeten indes nach der Emanzipation in eine wenn auch merkwürdig geringe Beteiligung an der allgemeinen modernen Bibelforschung ohne besondere Note, verliefen also im Gefolge der christlich-theologischen Wissenschaft des Alten Testaments und deren Fragestellung. 1848 sprach Abraham Geiger die bestimmte Erwartung einer künftigen „modernen jüdischen Bibelwissenschaft eigener Art“ aus; er erwartete mit Ungeduld, daß gerade auf diesem Gebiet „die jüdische Wissenschaft wieder den Höhepunkt gewinnen werde, wie sie ihn unter den Arabern in der früheren Zeit eingenommen hatte“. „Es wird sich dann zeigen“, bemerkte Geiger, „wie den Juden ihre Bibel doch ein wahrhaft geistiges Eigentum sei, das sie mit der rechten heiligen Scheu, aber auch mit echter Vertrautheit zu behandeln wissen.“ „Jene Willkürherrschaft“, fuhr er fort, „die christliche Exegese und Kritik üben bei unleugbar großen Verdiensten, hat Bestand, solange sie von jüdischer Seite ignoriert wird; man wird vom Ignorieren dann doch einmal abgehen und durch geistige Freiheit und Sicherheit den Herrscherstab erringen.“ Warum sich diese Hoffnung nicht erfüllen konnte, ist oft beschrieben worden; der Anteil der Juden an der wissenschaftlichen Erforschung der Heiligen Schrift und der Standort der alttestamentlichen Wissenschaft außerhalb der christlichen Theologie sind im „Morgen“ (V. Jahrgang, 1929, Nr. 2, 3 und 6) ausführlich dargestellt worden.1 Eine eigene jüdische, aber doch kritische, die Ergebnisse der modernen Bibelwissenschaft nicht ignorierende Erforschung und Verständlichmachung der biblischen Urkunden ist erst durch Martin Buber angebahnt worden. In der Buber-Rosen1 Vgl. Ludwig Feuchtwanger, Grundsätzliches zur Forschung über das Alte Testament, hier II. 3, S. 77 – 117.

4. Bibelforschung aus jüdischem Geist

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zweigschen Bibelübersetzung, von der bis jetzt in elf Bänden die 5 Bücher Moses, die vier historischen Bücher Josua, Richter, Samuel, Könige und die beiden Propheten Jesaias und Jeremias vorliegen, wird noch einmal der heroische Versuch gewagt, das ursprüngliche lebendige Wort der Bibel nachzuformen. „Wobei unter Nachformen“ – nach einer Erklärung Bubers in seiner Abhandlung „Über die Wortwahl in einer Verdeutschung der Schrift“ – „nicht das geistwidrige Unterfangen, eine vorgefundene Form in andersartigem Material zu wiederholen, zu verstehen ist, sondern das Streben, in der andersgesetzlichen Sprache, in die übertragen wird, eine Entsprechung, Entsprechungen zu schaffen.“ Hinter jeder Wortwahl, jedem syntaktischen Ausdruck, hinter der Wort- und Satzstellung, der Zeilenanordnung steht eine wissenschaftliche und sprachkünstlerische Entscheidung. Fast gewaltsam entwinden die Übersetzer den heiligen Text der Trivialisierung, der er anheim gefallen war, machen ihn unter höchster Kraftanspannung mit Absicht ungeläufig, heben Wortlaut und Rhythmus von dem Gewohnten geflissentlich ab und wollen so gleichsam den ursprünglichen Verfasser zwingen, sein altes Erleben, das er in die hebräische Sprache umgegossen hat, in der deutschen Sprache zu wiederholen. Das mußte mißlingen. Denn das Umsetzen des Bibeltextes in die neue Sprache kann bei aller Feinhörigkeit des denkbar besten Übersetzers nichts anders sein als ein Umgestalten in eine andere Art des Erlebens. Die hebräische Sprache der Bibel, „das lauschende Sprechen, das sich hier eingetragen hat“, in die hochdeutsche Sprache übertragen, heißt nämlich nichts anderes als eine Sprache, die hauptsächlich dem Ohr verständlich sein soll, in die typische Sprache des geschriebenen Wortes verwandeln. Denn die hochdeutsche Sprache ist nun einmal ,,in und mit dem riesigen Anwachsen der Kulturmacht des schriftlichen Verkehrs in Gelehrsamkeit, Recht, Staat, Geschäftsleben geboren“‘ (Hankamer). „Ihre Syntax ist eine Syntax des Auges.“ So entstand bei dem heißen Bemühen, einer typischen Schriftsprache den Klang des Urtextes mitzuteilen, manches im ersten Augenblick des Lesens Unverständliche, Gewaltsame. Von einer wiedergewonnenen Bibel für den unbefangenen, philologisch und literarisch nicht speziell ausgebildeten Laien kann jedenfalls bei dem Buber-Rosenzweigschen Übersetzungswerk nicht die Rede sein. Wer dagegen den hebräischen Text damit zusammenhält und außerdem bei jedem Wort und jedem Satz die dahinter sich auftürmende Kontroversliteratur kennt, sieht sich in Besitz eines wertvollen Kommentars voll wichtiger Neuentdeckungen gesetzt. So entstand bald die begreifliche Absicht der Übersetzer, einen ausgearbeiteten modernen Kommentar zu der verdeutschten Bibel zu geben. Ursprünglich wollte Buber die Ergebnisse seiner Bibelstudien unter dem Titel „Der biblische Glaube“ vereinigen. Die Einengung der Aufgabe erwies sich indes sofort als zwingend. Auf das biblische Zentralproblem der Entstehung des Messianismus und der sich daran knüpfenden großen christologischen Frage sollte die Hauptkraft konzentriert werden, und zwar in einem dreibändigen Werk, wovon der erste Band vor uns liegt.2 Darin 2 Martin Buber, Professor der Religionswissenschaft an der Universität Frankfurt a. M., Das Kommende. Untersuchung zur Entstehungsgeschichte des Messianischen Glaubens. Bd. I: Königtum Gottes. XX, 260 Seiten. Berlin, Schocken-Verlag, 1932.

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soll dargestellt werden, wie es zur „politischen“ Hauptidee des Judentums, zum Messianismus kommt. Diesen messianischen Glauben will Buber aus der ursprünglichen, streng geschichtlichen theokratischen Forderung der israelitischen Frühzeit verständlich machen. Also die historische Realität, nicht eine spätere Illusion oder etwa eine theologische Spekulation hat die messianische Erlösungshoffnung Israels geschaffen. Die herrschende Lehre führte innerhalb der bisherigen modernen alttestamentlichen Forschung diese Messias-Hoffnung auf fremde Herkunft zurück und behauptete eine Wanderung der „Idee“ von Ägypten über die Amoriter zu Altisrael und zu den Propheten. Um die Forscherleistung Bubers einem im Allgemeinen mit der herkömmlichen Universitätstheologie weniger vertrauten Leserkreis vollkommen deutlich zu machen, sei hier eine gedrungene Skizze von der bisherigen wissenschaftlichen Vorstellung über die Ursprünge der jüdischen „Eschatologie“ eingeschaltet, eine Skizze, die zu geben Buber selbst nicht zu seinem Aufgabenkreis zählt. Unter „Eschatologie“ versteht man die Lehre von den letzten Dingen, die Vorstellung von dem großen Drama der Endzeit, mit dem nach jüdischem und christlichem Glauben diese Weltzeit ende, und eine neue ewige Zeit des Heils anbricht. Die wesentlichen Momente in diesem Zukunftsdrama sind nach jüdischer und christlicher Anschauung: das große Gericht am Tage Jahwes über die Feinde Gottes, also über die Heiden und Abtrünnigen Israels, die Rettung eines Restes der von dem Strafgericht Verschonten auf dem Zionsberg, der Einzug Jahwes in seinen Tempel zur Besteigung seines Thrones und der Beginn seiner Königsherrschaft über die Welt, des Reiches Gottes als einer Zeit des Segens und Friedens, der Erneuerung der Schöpfung und der Neustiftung des Bundes zwischen Gott und den Seinen. Ohne genaue Kenntnis dieser Vorstellungsreihe bleibt eine Hauptseite des jüdischen und christlichen Glaubens, besonders auch die Eigentümlichkeit der unlösbaren Verkettung beider Religionen, unverstanden. Die Frage nach dem Ursprung der Eschatologie ist für eine orthodoxe Betrachtung gegenstandslos; denn für sie ist diese ganze Lehre göttlichen, übernatürlichen Ursprunges, von Gott den Propheten eingegeben und in Kraft des Heiligen Geistes niedergeschrieben. Nach der Brechung dieses reinen Glaubens durch die historisch-rationalistischen Methoden galten eben die Verfasser der biblischen Prophetenbücher als die Schöpfer der Lehre von den letzten Dingen. Wie sich der Gedankenprozess im Einzelnen bei den verschiedenen Propheten-Gestalten vollzog, war also Sache der literarischen Kritik mit ihren rein philologischen Unterscheidungsmitteln. Ernst Sellin hat in seiner wichtigen Gedächtnisrede auf Greßmann ausgeführt: ,,Für die alttestamentliche Forschung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Eschatologie eine etwas unbequeme Zutat zu der alttestamentlichen Literatur; denn fast das ganze Interesse verschlang die stufenmäßige Entstehung des israelitischen Gesetzes, der geschichtlichen Urkunden und die Gestalten der Propheten.“ Die eschatologischen Abschnitte erklärte diese ältere, auch heute noch herrschende Forschung so, daß die Erwartungen der Propheten von dem Untergang ihres Volkes mit allerhand selbständigen Bildern von Naturkatastrophen ausgeschmückt worden seien und daß diese

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Bilder seit dem babylonischen Exil unter den Einfluss babylonischer Mythen vom Weltuntergang gerieten. So habe sich, später auch unter iranischer Einwirkung, eine Heilseschatologie für Israel herausgebildet, in deren Mittelpunkt nach dem großen staatlichen Zusammenbruch der künftige König aus dem Hause Davids, der Weltheiland, getreten sei. Im Jahr 1905 schrieb dann Greßmann sein berühmtes Buch über den „Ursprung der israelitisch-jüdischen Eschatologie“. Während bis dahin die literarkritische Schule die Lehre von der Endzeit und die Messiashoffnung für jünger als die Propheten erklärte, versuchte Greßmann den Nachweis, daß es schon vor dem Exil eine ursprünglich aus der Fremde stammende volkstümliche Eschatologie und Messiasvorstellung in Israel gegeben habe und daß die Propheten sie aus dem Volksglauben „entlehnt“ hätten. Ihr Ursprung reicht nach Greßmann in die Zeit Davids zurück und ihre Blüte fällt nach ihm in das 8. und 7. Jahrhundert. Serubbabel bedeutet nur den letzten Nachtrieb eines bereits absterbenden Glaubens; eine völlig neue Gestalt sei dann der Gottesknecht von Jesaias 53. Greßmann ist später (1926) ausdrücklich der These von Galls, ausgesprochen in seiner religionsgeschichtlichen Studie zur vorkirchlichen Eschatologie „Basileia tu theu“ entgegengetreten; die These von Galls lautete: „Das jüdische Gesetz ist in seiner Entstehung und seinem Werden nicht ohne die messianische Hoffnung zu verstehen. Beide sind in nachexilischer Zeit aus derselben religiösen Stimmung der werdenden palästinischen jüdischen Gemeinde entstanden“. Die „Unheilseschatologie“ (die Lehre von Strafgericht und der Vernichtung des Hauptteils Israels) und die „Heilseschatologie“ (die Erwartung des Messias) reichen dagegen nach Greßmann in die alte Volksreligion zurück; starker fremder Einfluss sei bei dieser alten vorexilischen „Volksreligion“ und bei ihrer nachexilischen Umgestaltung am Werk gewesen. Ohne den Hintergrund der modernen wissenschaftlichen Kontroversen namentlich aus der protestantischen alttestamentlichen Forschung bleibt Buber, trotz seiner absoluten Selbständigkeit in allen Entscheidungen, unverständlich. Für ein altgläubiges Judentum etwa, das den massoretischen Bibeltext als unantastbares, nicht zeitbedingtes, göttliches Wort aus einem Guß zu betrachten pflegt und diesen zeitlosen Text außerhalb der Sphäre des menschlichen Meinens und der Wandelbarkeit menschlicher Geistentwicklung stellt, für ein solches Judentum sind die Fragen und Antworten Bubers gegenstandslos. Dasselbe gilt für die katholische alttestamentliche Forschung. („Die rationalistischen Hypothesen, welche die Erscheinung des israelitischen Prophetentums erklären wollen, versagen gegenüber dem tatsächlichen Bilde, welches das A. T. von den Propheten entwirft“.3) Der christlichen Forschung liberal-protestantischer Prägung konnte der Messiasglaube Israels erst zu einer historisch-wissenschaftlichen Frage werden, als man sich rationalistisch sagte, daß die Erwartung der Propheten immer auf die unmittelbar bevorstehende Zukunft gehe und die Deutung des Messias auf Christus zum Objekt der gelehrten Dogmengeschichte und Geschichte der Exegese wurde. Die Schule Wellhausens wollte den messianischen Glauben rein zeitgeschichtlich und 3

Goettsberger, Einleitung in das Alte Testament. 1928, S. 281.

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

psychologisch verstehen als Sehnsucht nach einem idealen Friedensfürsten gegenüber den Nöten der Gegenwart; für diese Schule waren die Vorstellungen vom letzten göttlichen Strafgericht, also die gesamte eigentliche „Eschatologie“ spätere, nachexilische Zusätze. Dem trat eben 1905 Greßmann entscheidend entgegen. Greßmann blieb aber nicht bei seinen Ansichten von damals stehen; er trug sich mit dem Gedanken einer völligen Neubearbeitung durch Behandlung eines umfassenden inzwischen angewachsenen Materials, das die vergleichende Religionsforschung und die Archäologie in großer Fülle darbot. Als Greßmann 1927 frühzeitig starb, fand sich in seinem Nachlaß ein anscheinend so gut wie druckfertiges Manuskript, das der bedeutende alttestamentliche Theologe Hans Schmidt 1929 herausgab unter dem Titel „Der Messias“: ein großes imponierendes Werk, das wohl durch die Beherrschung des religionsgeschichtlichen und philologisch-historischen Stoffes ausgezeichnet ist, dem aber leider trotz der entsagungsvollen Herausgebertätigkeit die letzte innerliche Geschlossenheit und Abrundung fehlt. Aus der Fülle der Gedanken und Monographien, aus denen dieses große Nachlaßwerk besteht, hebt sich jetzt jedenfalls der Grundgedanke von dem hohen Alter der israelitischen Eschatologie und von ihren Zusammenhängen mit den Nachbarkulturen mit aller Deutlichkeit ab. So wichtig in der Forschungsgeschichte die Gesamtansicht und die Einzelergebnisse von Greßmann bleiben und so wenig man bei einer tieferen, kritischen Betrachtung der neuen Buberschen Leistung von einer Zusammenstellung mit dem großen Messias-Buch des großen christlichen Gelehrten absehen kann, – das „Königtum Gottes“ bleibt ein durch und durch selbständiges Werk von eigenem Wuchs: die erste große jüdische Behandlung des biblischen Stoffes auf rein wissenschaftlicher Grundlage, zunächst nur der erste Teil eines größeren Ganzen; ein streng gelehrtes Werk, das bei aller Gedankenfülle immer wieder zu einer exakten philologischen Textinterpretation zurückkehrt und doch in jeder Zeile lebendig bleibt, das insbesondere bei aller subtilen Vertrautheit mit den Einzelheiten und letzten Feinheiten des Faches neue Wege geht. […]4 Man muß das Ganze des ersten Bandes auf sich wirken lassen, dann die zahllosen Einzelprobleme, die hier gefördert werden, genau betrachten, immer aber die allgemeine Geschichtsansicht, die durch das ganze Werk vernehmlich verkündet wird, sich vergegenwärtigen: dann aber wird kein Zweifel mehr möglich sein, daß mit dieser neuen bibelwissenschaftlichen Gesamtansicht Martin Bubers eine neue Situation in der alttestamentlichen Forschung geschaffen ist. Zum ersten Mal ersteht eine eigene jüdische kritische Bibelwissenschaft – jüdisch und kritisch zugleich –, die sich ihre Wege und Ziele nicht von fremden Tendenzen vorschreiben läßt. Die Hegemonie der christlichen Theologie in der modernen Wissenspflege der Bibel wird zum ersten Mal nicht einfach als unabänderlich hingenommen; durchbrochen könnte sie nur durch eine systematische Wissenschaftsorganisation in Gestalt von jüdischen Lehrstühlen und Forschungsanstalten werden. In den theolo4 Feuchtwangers eingehend referierender „Gang durch die acht Teile des Werkes“ (S. 214 – 222) wurde hier weggelassen.

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gischen Fakultäten der beiden christlichen Bekenntnisse wurde bisher das Wissen um das Alte Testament durch Jahrhunderte gepflegt; ursprüngliches Motiv war die bekannte dogmatische Stellung des Alten Testaments im katholischen und protestantischen Lehrgebäude. Auch als viel später die vergleichende religionsgeschichtliche Forschung, die semitische Sprachwissenschaft und die Profangeschichte der Antike die Bibel in ihre Domäne aufgenommen hatten, gaben weiter die christlichen Theologen den alttestamentlichen Studien die Richtung. Die Fragwürdigkeit einer historisch-philologischen Bibelwissenschaft ist allerdings in der neuesten Phase der theologischen Diskussion immer deutlicher erkannt worden. Man fragte sich immer eindringlicher, was für das Alte Testament eigentlich „Geschichte“ ist, und worin für seinen Glauben die letzten Wurzeln seiner Gewißheit um die Wirklichkeit liegen. Die bedeutenden protestantischen alttestamentlichen Theologen Hempel, Weiser und Eichrodt haben sich in den letzten Jahren an dieser Diskussion lebhaft beteiligt. Durch die dialektische Theologie und die Befürworter der pneumatischen Exegese soll der alttestamentlichen Theologie ein anderes Ziel gesteckt werden; diese Richtungen sagen: Mit Hilfe der historischen Forschung ist das innere Wesen des Alten Testaments nicht zu erkennen; dieses liegt in der „Offenbarungswirklichkeit, die vom Alten Testament bezeugt wird“. Hempel sagt dagegen: Ist „Offenbarung“ Wirken Gottes in einer bestimmten Zeit und konkreten Lage, so ist sie notwendig zeitgeschichtlich bedingt. Dann aber sind wie für alle zeitbedingten Erkenntnisgegenstände, namentlich für die Interpretation eines historischen Textes, einzig und allein die rationalen empirischen Methoden anzuwenden wie für jeden anderen Text: es geht um die „Erkenntnis des Erkannten“, das Nachdenken eines Vorgedachten. Ginge es allerdings um Texte einer noch gültigen Rechtsordnung, so könnte es nicht bei der Feststellung des vom Gesetzesverfasser gemeinten Sinnes bleiben, da die der praktischen Rechtsanwendung dienende juristische Interpretation (im Gegensatz zur philologischen) sich auf den objektiv gültigen Sinn der Rechtsordnung, also den Zweck des staatlichen Gesetzes, nicht auf den bewußten – privaten – Willen des Textverfassers zu richten hat. Die Frage bleibt: Verläßt Buber bei seiner doppelten Bibel-Interpretation, seinem zusammen mit Franz Rosenzweig unternommenen Übersetzungswerk und in dem vorliegenden Kommentar „Königtum Gottes“, den Bereich des Eigenlebens des Textes? Trifft er den vom Redaktor gemeinten Sinn? Die fremden Tendenzen der alttestamentlichen Forschung protestantischer und auch katholischer Färbung sind natürlich beseitigt, die Eigenbegrifflichkeit der jüdischen, der biblischen Welt ist wieder hergestellt. Aber Buber geht in seinem Eindringungselan doch weiter als es an sich mit Hilfe der Philologie und der vergleichenden Religionswissenschaft möglich wäre, eine alte, fremd gewordene Kultur ohne die Stütze einer bis auf den heutigen Tag fortdauernden Tradition lebendig und treu wiederherzustellen. Der Entwicklungsbegriff und der Vorstufenbegriff ist wohl bei Buber abgeschafft. Aber die Ungleichheit der hebräischen Bibelsprache und des Hochdeutschen macht das Sinnverstehen zu einem fast hoffnungslosen Unterfangen. Nie wurde das, worum es hier geht, so deutlich ausgesprochen als es Fichte in der berühmten vierten Rede seiner

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„Reden an die deutsche Nation“ über die Ausdrucksmöglichkeiten verschiedener Sprachen in klassischer Weise tat. Wohl ist die Hauptthese dieser grandiosen vierten Rede von allen Seiten als unhaltbar aufgegeben, daß nämlich „der Deutsche eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache redet, die übrigen germanischen Stämme eine nur auf der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber tote Sprache“.5 Aber unmittelbar einleuchtet die Schwierigkeit des Buberschen Bibelverstehens aus der Art, wie Fichte – und nach ihm keiner in dieser Hellsichtigkeit – den Unterschied der Bezeichnungsmöglichkeiten des Sinnlichen und Übersinnlichen in verschiedenen Sprachen eingesehen hat. Nicht die größere oder geringere Stärke des Sinns fürs Übersinnliche in den beiden Völkern macht nach Fichte den Unterschied in der Ausdrucksmöglichkeit zweier Sprachen aus, „der Unterschied sei vielmehr lediglich durch die Verschiedenheit ihrer sinnlichen Klarheit, damals, als sie Übersinnliches bezeichnen wollten, begründet“ (ebenda, Seite 429). Und weiter: „So richtet alle Bezeichnung des Übersinnlichen sich nach dem Umfange und der Klarheit der sinnlichen Erkenntnis desjenigen, der da bezeichnet.“ Buber hat in der berühmten Abhandlung „Über die Wortwahl in einer Verdeutschung der Schrift“ Rechenschaft über die besonderen sprachtechnischen Aufgaben einer Bibelübertragung in unserer Zeit abgelegt. Was von der Übertragung gilt, gilt vielleicht in noch höherem Maß von der Exegese und Geschichtsdeutung. Erst jetzt nach dem neuen biblischen Kommentar über eine wichtige Seite des biblischen Glaubens wird man mit besonderem Verständnis, aber auch nicht ohne erheblichen Zweifel den Schlußabschnitt Bubers aus jener Abhandlung „Über die Wortwahl“ lesen, der lautet: „So durchleuchtet unsere Arbeit das Palimpset, sie dringt unter die Wachsschicht, darauf die Völker die „Bibel“ ihrer religiösen Bedürfnisse und Ausdrucksformen geschrieben haben, und die Grundschrift erscheint. Jenes riesenhafte Werk des Menschengeistes heißt in Wahrheit Geschichte, diese heißt das Buch. Jenem gebührt die Ehre, eine Menschheit um das Buch versammelt zu haben, diesem aber das Recht, in einer späten und besinnungheischenden Stunde dieser Geschichte von dieser Menschheit entdeckt und geschaut zu werden. Schwerer wird’s sein, mit ihm zu leben als mit jenem: es wird nicht verhehlen, daß es widerspruchsvoll und ärgerlich ist wie die Welt. Aber auch noch sein Widerspruch und sein Ärgernis haben Weisung zu verschenken.“

5

Fichtes Werke, Ausgabe von Medicus, Bd. V, S. 436.

5. Religion heute? Über die religiöse Bereitschaft des modernen deutschen Juden Die drei Warnungen vor dem Nihilismus, der Phrase und der Rechtgläubigkeit Erste Warnung: … „Nein, nichts ist dem wirklichsten Sein gegenüber, nicht einmal das Nichts, wiewohl der Gegensatz des Theisten – in der Mitte ist der Plauderer, der Mann mit den vielen Wörtern, der Pantheist – nicht der Atheist ist, sondern der Nihilist. Wehe, wer hier irrt. Gibt er dem Nichts auch nur das leiseste Sein in sich, so macht er es zu einem zweiten Gott, zu Gott Selber – als wirkliches Sein: die aktive Allmächtigkeit Gottes.“ Theodor Haecker, Was ist der Mensch? S.49 Zweite Warnung: „Gott sei Dank! Ich, so wenig ich mit Religion zu tun habe, bin für die mit diesem Ausruf ausgedrückte Empfindung nicht unempfänglich, schrecke eher vor ihr und vor ihrem Ausdruck, als einem Mißbrauch des Namen Gottes, zurück, als daß ich mich dabei gerne aufhielte.“ Franz Overbeck, Christentum und Kultur, S. XXXVI Dritte Warnung: „Samson Raphael Hirsch forderte gewissermaßen auch den Austritt aus der Wissenschaft.“ Isaac Breuer, Der neue Kusari, S. 57

I. Die Religion des modernen Westeuropäers, und zwar seine Anteilnahme an den Formen seiner Konfession, einschließlich Kenntnis und Befolgung ihrer Lehren, wie auch seine Aufgeschlossenheit für das Religiöse im allgemeinen, kann systematisch innerhalb einer umfassenden Konfessionskunde erfasst werden. Symptome religiöser oder areligiöser Haltung – etwa Kirchgang oder Leichenverbrennung – können statistisch registriert werden, durch Spezial-Enquêten kann man selbst in verwickeltere innere Motivbildungen Einblick bekommen. So wurden beispielsweise in jüngster Zeit aufschlussreiche und geschickt angeordnete Versuche gemacht, um brauchbare Unterlagen für die Lösung des (katholischen) Katechismusproblems zu erhalten; zu dem Zweck wurden die Katechumenen selbst systematisch um ihre Einstellung zum religiösen Bildungsbuche befragt. In dem Fragebogen an Erwachsene hieß es z. B.: „Haben Sie nach Ihrer Schulentlassung wieder für sich einen Katechismus in die Hand genommen und gelesen?“ Eine andere Frage lau-

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

tete: „Glauben Sie, daß die Religionswahrheiten auswendig gelernt werden müssen, damit wir unseren Glauben kennen und leben?“ Es ist im Folgenden nicht beabsichtigt, Ergebnisse oder Wege derartiger religionskundlicher Forschungen auf jüdischem Gebiet zu beschreiben. Damit aber, ohne die Vorarbeiten und Sicherungen von Fragebogen, Tabellenwerken und anderen statistischen Versuchsanordnungen zur Exploration der Gläubigkeit einer Bevölkerungsgruppe, subjektive, bekenntnismäßige oder gar literarische und willkürliche Urteile über die hier zu prüfende religiöse Disposition des heutigen deutschen Juden ausgeschaltet oder zum mindesten als solche leicht kenntlich gemacht seien, muß unserer Ausdrucksweise, in erster Linie den Vokabeln „Religion“ und „religiös“, der größte Grad der Eindeutigkeit und Inhaltsbestimmtheit ohne jede homiletische Konzession gegeben werden. „Religion heute?“, „der Weg des modernen Menschen zu Gott“, vor allem die Frage nach der religiösen Bereitschaft des Juden im Deutschland von 1933 / 34, der sich am Ende einer unwahrscheinlich abenteuerlichen Entwicklung als ohne sein Zutun unabänderlich so geworden vorfindet, – alle diese Fragen können ohne Erregung und Beklommenheit unvoreingenommen und abgewogen nur dann erörtert werden, wenn dem Beantworter der höchste Grad rückhaltloser Offenheit, die ihn doppelt und dreifach zur verschärften Wachsamkeit über jede eigene Äußerung verpflichtet, eingeräumt und auferlegt ist. Ist es nicht so, daß der Blinde von der Farbe spricht, wenn der „moderne Mensch“, der „moderne“, der „neue“ westliche Jude, also der bindungslose, von Gott und Religionsgesetz gelöste heutige Durchschnittsjude, über Religion urteilt? Reicht seine westöstliche Bildung, selbst wenn sie sich zu einer innigen fachlichen und überfachlichen Vertrautheit mit dem Wissensgut des Ostens und Westens erweitert hat, zu einer Legitimation, hier mitzusprechen, aus? Oder hat er nicht vielmehr seinen Anspruch darauf verwirkt gerade durch seinen „Abfall“, eben weil er nicht zum ,,Am-ha-arez“ gehört, praktisches Chasiduth kennen gelernt hat oder sogar darin aufgewachsen ist? Es bleibt dabei: die „religiösen“ Äußerungen des „Aufgeklärten“ müssen sich ihre Autorität und Gültigkeit immer von neuem ohne fremde Hilfe schaffen, durch die Stärke ihrer nicht für die Stunde und nicht für die, die Ruhe und Sicherheit vorziehen, bestimmten Argumente. „Die Großen sind nicht die Weisesten, und die Alten verstehen nicht das Recht“ (Hiob 32, 9). Von einer Übersteigerung des rational-aktiven Persönlichkeitsgedankens oder noch deutlicher von der Unbelehrbarkeit und dem Hochmut des „ichgebundenen Unglaubens“, über den geschrieben ist „Eritis sicut deus“ (Genesis 3, 5), empfinden wir unsere Position am weitesten entfernt. Die hier zu lösende Aufgabe ist, die religiöse Disposition im heutigen Judentum zu prüfen. Wir machen uns diese Prüfungspflicht nicht dadurch leicht, daß wir an tausenderlei Symptomen eine gesteigerte „Religiosität“ feststellen. Wir würden uns, wenn wir so vorgingen, unbemerkt in dem alten Fahrwasser des religiösen Idealismus befinden mit seiner „Religion der Gebildeten“, die die Juden des 19. Jahrhunderts für ihre alten Bindungen eintauschten. Unter den Hauptideen dieses „Idealismus“ nimmt die der „Individualität“ eine besondere charakteristische Stelle ein: Jeder Mensch trägt sein individuelles Gesetz

5. Religion heute?

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in sich selbst; die Aufgabe des Menschen ist die Ausbildung seiner Persönlichkeit. Mit Haut und Haar hatte sich das Judentum diesem Ideal verschrieben, unter dessen absoluter Herrschaft die Judenheit ihre alten Gesetze und Bräuche „verinnerlichte“, in Wahrheit ihre ureigene geschlossene unverbrüchliche Seinsform, die gebieterisch jedes Tun bestimmte, für die „Religiosität“, das gelegentliche fromme pietätvolle Gefühl drangab. Eine Verstärkung dieses gehobenen Ichgefühls, die vermehrte Bereitschaft zum religiösen Erlebnis als Abrundung der harmonischen Persönlichkeit infolge der gegenwärtigen deutsch-jüdischen Situation, schätzen wir nicht als einen Schritt der Rückkehr zum Judentum, sondern als Rückfall in eine Verfallsepoche ein. Es lohnt sich bei der Disposition zu solcher Religiosität in unserer Zeit zur Vermeidung von Mißverständnissen und Enttäuschungen noch kurz zu verweilen. Es handelt sich um die unter uns bis heute grassierende romantische Abart echter Mystik, eine Art ästhetischer Kulturmystik. Die „Religion“ wird vom Denken und Wollen losgelöst. Sie ist weder Erkenntnis noch Moral und steht mit diesen beiden Funktionen in keinem ursächlichen Zusammenhang. Sie ist nur Gefühl und Anschauung, ohne Verpflichtung und ohne Fürwahrhalten. So wird begreiflich, daß diese „Religion des Herzens“ die Religion des aktiven, tüchtigen, zielstrebigen IchMenschen des 19. Jahrhunderts wurde, die gerade ganz besonders dem deutschen Juden lag, der es zu etwas gebracht hat und der vor allem das Eine strikte ablehnte: das jüdische Leben in seiner Ganzheit wiederherzustellen. Auch „Gott“, „Sünde“, „Rückkehr“ sind für den gebildeten Religiösen dieser Stufe keineswegs verschwunden; aber sie haben sich in der Religion, die nur mehr passives Verhalten, feierliche Stimmung ist, verwandelt: von der Existenz der „Sünde“ etwa und ihrer allgemeinen Verbreitung ist man wohl durchdrungen; aber „Sünde“ ist für diese idealistische Religionsauffassung, zu der die Orgel die adäquate Begleitung ist, nichts anderes als die allgemein verbreitete Beharrlichkeit und Trägheit der sinnlichen Stufe in der Entwicklung des Bewußtseins. Die „Bekehrung“, die Rückkehr, die Teschuwah ist nach dieser idealistischen Auffassung „der Aufstieg der sinnlichen Weltansicht zur Höhe des Kantischen Denkens“. Kein Zug mehr aus dem altjüdischen Erbe, für das „Sünde“ das Nichthalten der Gebote, die Vernachlässigung der Pflichtenlehre, und Teschuwah die reuige Rückkehr zu ihr ist. Die „idealistische Erneuerung“, das ist „die Einkehr in uns selbst“; das „Böse“ ist der Ungehorsam gegen das Gebot des Wohlwollens und der Menschlichkeit, ohne daß man sich „zersetzend“ mit der Frage quält, welcher Wirklichkeitsbestand denn mit der „reinen Liebe“ oder der „Humanität“ und ihren Geboten gemeint sei. Wir befinden uns mit dieser Analyse mitten in der Epoche der „phraseologischen Kultur“ mit ihrer taktvollen wohltemperierten Religiosität. „Denken und Fühlen bestand in der Epoche der Phrase aus der spontanen, vorbewußten Bemühung, sich einem generellen Denken und Fühlen anzugleichen, das für gesollt galt“ (José Ortega y Gasset). Es gab freilich schon vor der Jahrhundertwende und um 1900 eindringliche Warner. Sie verhallten bei Juden und Christen ungehört. Der junge Schweizer Theologe Walter Nigg hat vor wenigen Jahren (1931) in einem Werk,

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dem in einem Zeitalter des endlosen gleichgültigen Büchermachens die Auszeichnung des Verschollenbleibens zuteil wurde und wegen dessen „Gerechtigkeit“ man an unserer Zeit nicht verzweifelt, die Gestalt Franz Overbecks, des tapferen und treuen Torhüters, heraufbeschworen, „als eines der instruktivsten Beispiele für die Folgen des Zustands, in welchem das Christentum zur bloßen Titulatur und selbstverständlichen Bezeichnung herabgesunken ist“. „Dadurch war es ihm möglich, inmitten der Christenheit … in der christlichen Religion erzogen zu werden, sich dem speziellen Studium derselben zuzuwenden, dann Kandidat der Theologie und schließlich sogar Lehrer des Christentums für angehende Verkündiger desselben zu werden, ohne je einmal in nähere Berührung mit der Frage zu kommen, ob es ihm im eigenen Leben möglich sei, selbst ein Christ zu werden!“ Und der bedeutende verstorbene Berliner Kirchenhistoriker Karl Holl wandte sich schon im Jahr 1900 in einer bemerkenswerten Abhandlung in der „Christlichen Welt“ (jetzt wieder abgedruckt in Holls „Gesammelten Aufsätzen zur Kirchengeschichte“, Bd. III, 1928) gegen die damalige allgemeine Forderung an den „religiös Gebildeten“, daß er die Anschauungen Andersdenkender schone, daß er fühle, wo andere verletzt werden könnten, daß er darum in der religiösen Aussprache sich Zurückhaltung auferlege, den Gegensatz nicht herauskehre und allein das allgemein Religiöse, das Positive, das „Erbauliche“ betone. Der Aufsatz ist überschrieben: „Über den Takt in der Religion“ und warnt vor dieser Haltung des Taktes, in welcher er „ein böses Symptom des heutigen Christentums“ sieht. Man verstattete nur dem Propheten, dem religiösen Heros, aber nicht dem gewöhnlichen Christen schroffes unversöhnliches Auftreten, das Andersdenkende abstoßen konnte. Die westeuropäische Judenheit ist aus dieser „phraseologischen Kultur“ bis heute noch nicht herausgetreten, weil sie nicht weiß, was sie an ihre Stelle setzen soll. Wohl wurde der Ruf zur Rückkehr aus dem Lager der Orthodoxie Frankfurter Prägung lauter und lauter; aber er mußte völlig wirkungslos an den deutschen Juden abprallen. Warum fanden die Gesetzestreuen, die glaubten und darin bestärkt wurden, daß ihre Zeit gekommen sei, keinen Widerhall? Lag es an der traditionellen Harthörigkeit des Unglaubens, an der Oberflächlichkeit, Bequemlichkeit und hochmütigen Unbelehrbarkeit des aktiv-rationalen Judentyps der Zeit, an seiner Unwissenheit, der Herzensverhärtung der Führer oder Geführten? Oder lag es an dieser Orthodoxie selbst, ihren unvollziehbaren unzeitgemäßen Forderungen? Oder etwa an dem Nichtzwingenden und Nichtbezwingenden der Argumente, vielleicht an dem Endzustand ihrer Lehre, die unter dem Grundsatz „Tora im Derech Erez“ (d. h. Gesetzestreue und Weltoffenheit) trotz dem alten gleichen Wortlaut und dem gleichen äußeren Tun ohne die Möglichkeit jüdischer Vollkultur ihren Ursinn und damit ihren Lebensodem einbüßte. II. Warum verneinen wir die Frage, ob heute wirklich bei uns der Boden für eine Rückkehr zur Religion der Väter in der Gestalt der beispielhaften Schule von

5. Religion heute?

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S. R. Hirsch vorbereitet ist? Nach dieser Lehre hat unser Verhalten bedingungs- und vorbehaltlos nur eine Quelle: die Heilige Schrift, in der die Vorschriften der mündlichen Lehre, das Filigrannetz einer systematischen Pflichtenlehre und Lebensordnung, in geheimnisvoller Weise unsichtbar eingezeichnet sind. Die Tora, einfach das von Gott diktierte geltende Gesetz der jüdischen Nation, das genaue Gegenteil eines persönlichen Erlebnisses. Die Erkenntnis Gottes und was wir tun sollen und zu unterlassen haben, ist aus der schriftlichen und mündlichen Lehre zu schöpfen. Die göttliche Lehre ist der Inbegriff der Forderungen Gottes an sein Volk. „Nicht an der Vernunft messen wir das Wort Gottes in der Schrift, sondern am Wort Gottes in der Schrift messen wir die Vernunft und jegliche Wissenschaft.“ Der Weg zu dieser Art von Judentum ist in neuester Zeit von Isaac Breuer in dem 450 Seiten starken Gesprächsbuch „Der neue Kusari“ in authentischer Form neu gewiesen worden. Scholem hat recht mit seiner Kritik: „Wenige Losungen geschichtlichen Formats sind mit so furchtbarer Drastik ad absurdum geführt worden, wenige muten heute so chimärisch an wie diese.“ Es handelt sich in der Tat um eine Phantomwelt, in der die verlorene Geschlossenheit und Ganzheit des altjüdischen Lebens genau so wenig wieder hergestellt wurde wie auf dem Boden der „liberalen Assimilation“. Den Gläubigen, den alten Frommen wies S. R. Hirsch einen Weg der Versöhnung mit der modernen entgotteten Fortschrittswelt und zeigte ihnen die Möglichkeit zur unbedenklichen Aufgabe der alten, nur in der autonomen abgeschlossenen Kehilla zu verwirklichenden altjüdischen Lebensform mittels eines Systems von Fiktionen und Symbolen, wodurch jede Vorschrift der alten Pflichtenlehre (zuletzt kodifiziert im Schulchan-aruch) aufrechterhalten und mit der Welt des Kapitalismus, der Welt der Eisenbahnen und Aktiengesellschaften vereinbar gemacht wurde. Dieses „Vehikel einer Assimilation“ brach in der Tat mitten entzwei, als jener Lebensschwung des Fortschritts, der Schienenwege, des Dampfschiffs, des Parlamentarismus und Weltbürgertums von der ganz anderen Welt des Kinos und Radios, des Flugzeuges, der Maschinengewehre und des autoritären Staatsapparates im Osten und Westen abgelöst wurde. Das Zeitalter der „Aufrichtigkeit“ brach an und hatte sich sofort gegen zwei feindliche Fronten zu verteidigen, gegen die „Phrase“ und gegen die „Barbarei“. Rathenau sah einseitig in der heraufziehenden „Entblößung der Dinge“ nur die drohende „Vertikal-Invasion der Barbaren“, er fürchtete die „action directe“ unter Ausschaltung des Mittelbaren, Vermittelnden, Konventionellen. Aber es konnte damit doch immerhin auch eine Wegfegung der Phrase, der falschen Fiktion, ein Verlassen der höflichen, hohlen Umwege verbunden sein. Jedenfalls gelang es nicht mehr, einer unverbogenen deutsch-jüdischen Jugend die neuorthodoxe Klitterung „Tora-im-derech-erez“, die Vereinbarkeit der sich gegenseitig ausschließenden Haltungen von weltoffener kapitalistisch-rationaler Lebensform und unbedingter Unterwerfung unter das Gebots- und Verbotssystem des Josef Karo mit Aussicht auf Dauer und begeisternde Anziehungskraft plausibel zu machen. Dieses Bild von Gott und der Welt, von S. R. Hirsch vor 100 Jahren im Schutze der SchleiermacherSchellingschen Gedankensysteme, aber noch in echt jüdischem Geiste mit genialem Schwung voller Suggestionskraft entworfen, kann in den Nöten dieser Tage auch die heranwachsende Generation nicht mehr fesseln und fürs Leben verpflichten. Die

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

Bereitschaft zur religiösen Erneuerung und zur Rückkehr, die neueste große Chance in der jüdischen Schicksalsgeschichte, konnte, wie man heute historisch festzustellen imstande ist, der deutschen Orthodoxie keinen inneren oder äußeren Kräftezuwachs bringen.

III. Bedrückt überschauen wir die unerbittlichen Ergebnisse unserer bisherigen Feststellungen: wir beobachten in unserer Mitte eine infolge der neuen Schicksalswende zweifellos vorhandene weite Aufgeschlossenheit für das Religiöse als Gefühl und Erlebnis, aber ohne Tat und Entscheidung. Als Weg der Rückkehr zum Judentum konnten wir diese religiöse Disposition nicht werten, sie führt eher an dem alten Judentum vorbei. Wir fanden aber auch den Weg der Rückkehr zum gesetzestreuen Glauben deutscher Prägung für uns verbaut und ungangbar. Gibt es somit nach Ablehnung der Scheinideale des reformatorischen Judentums des 19. Jahrhunderts keine andere Möglichkeit echter jüdischer Religiosität außerhalb der Orthodoxie für den westlichen „neuen“ Juden? Diese Frage zu verneinen, stände im Widerspruch zu dem seit fast einem Menschenalter sichtbaren heißen Ringen um die richtige jüdische Wahrheit, gerade im deutsch sprechenden jüdischen Kreis. Als Beispiele für viele andere verlebendigen wir uns die Gedankenleistungen und Anrufe eines Franz Rosenzweig, Buber, Max Wiener, Juda Bergmann, Leo Baeck, Isaac Breuer, Joseph Carlebach, Eli Munk, Ernst Simon. War das alles nur Literatur, Gedankenspiel, Stilkunst, Predigt, mehr oder minder unverbindliche Philosophie, gesalbte oder ungesalbte Spekulation im luftleeren Raum ohne die Kraft der Umwandlung? Man sagt uns immer wieder: „Es gibt heute sicher eine ganze Anzahl junger jüdischer Menschen, die an die Möglichkeit einer neuen Religiosität außerhalb der Orthodoxie glauben, etwa im Sinne der von Buber und Rosenzweig vertretenen Anschauungen.“ Wir fürchten, die geist- und sinnreichsten, auf Kant, Hegel, Cohen bis Heidegger aufgebauten Werke über den Zusammenbruch und das klägliche Versagen der selbstherrlichen Vernunft, können dem besten Willen zur Rückkehr nur in einem sehr langsamen Reifeprozeß den Boden bereiten, in den meisten Fällen jedoch nur achtungsvolle Enttäuschung bereiten. Das liegt nicht an den Einzelleistungen, nicht an den Persönlichkeiten der Verfasser. Vom „Gesetz“, der Tora, ist dadurch noch nie jemand weggeführt worden, aber auch nicht zum Halten der Mizwoth hingeführt. Und wir hören weiter von dem „eigentlichen“ Ausweg, dem zionistischen Ideal, wenn es sich bewußt bleibt, daß der Zionismus zwar nicht als religiöse Erneuerungsbewegung entstanden ist, daß er sich aber keineswegs „einen geschichtsfreien Raum“, ein unverbindliches Territorium für eine neue gesamtjüdische Existenz, für welche die hebräische Sprache und die jüdische Siedlung genügen könnten, gewählt hat. Hier überschreiten wir die uns gestellte Aufgabe, die uns nur zu sprechen erlaubt von dem innerhalb des Kreises der westeuropäischen Bildungsund Lebensform aufgewachsenen, sich für die geistige jüdische Haltung unserer Gemeinschaft verantwortlich fühlenden modernen „neuen“ Juden und von ihrer re-

5. Religion heute?

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ligiösen Bereitschaft. Die echte religiöse Aufgeschlossenheit der Jugend und der Massen, die sich vor allem in Palästina ein neues Leben suchen, ist eindeutig ganz anders zu beurteilen und zu behandeln. Über diese Frage sprechen wir nicht aus Eigenem, sondern folgen der erprobten Autorität des Rabbiners Eli Munk gesetzestreuer Richtung. Er lehnt auch für diesen Kreis das Prinzip „Tora-im-derech-erez“ von Rabbiner Hirsch und Isaac Breuer aufs entschiedenste ab: „So reichen Segen dieses Programm auch unzweifelhaft für uns deutsche Juden gebracht hat, so ist doch in keiner Weise einzusehen, warum es nun besser sein soll als die von den Tora-Größen anderer Länder vertretene Bildungsform, und warum unbedingt alle Juden der Welt an dieser Abart des deutschen Wesens genesen müssen. Breuer legt diesem Prinzip eine Universalität der Bildung unter, die weder durch Hirschs Auffassung noch durch die Praxis gerechtfertigt erscheint. Wir erstreben eine aus der Universalität rein jüdischer Bildung hervorgehende Kultur, zumal die rein religionsgesetzlichen Voraussetzungen jenes Hirschschen Prinzips trotz allem immer noch problematisch erscheinen. Das heilige Land soll eine heilige Kultur empfangen. Unsere Erziehungserfolge berechtigen uns nicht, die Prinzipien dieser Erziehung den Juden anderer Länder aufzuzwingen.“ Und was bleibt für uns, die zurückbleiben? Neue „Richtlinien“, wie sie jüngst wieder der Rabbiner der Hamburger Tempelgemeinde, Dr. Italiener, forderte? Im Interesse der alle Juden umfassenden Gemeinschaft ist danach die Beobachtung bestimmter gemeinsamer Religionsgesetze unter Zurückgreifung auf das alte jüdische Religionsgesetz autorativ zu fordern. Und wie nützen wir die Chance? Wie schaffen wir der Bereitschaft zur Umkehr ein solides Strombett, wenn die „religiöse Disposition“ wieder abebbt? Wir können unter keinen Umständen eine intellektuelle Unredlichkeit an die Stelle der „Religion der Gebildeten“ setzen. Es gibt nur ein Mittel, das Entsagung und Geduld fordert: Lernen – Lernen – Lernen. Auf allen Wegen, mit allen Methoden! Hebräisch, Bibel (in traditioneller Weise und nach Art der modernen Bibelwissenschaft), Geschichte, Gegenwartskunde. Teilnahme an unseren Gottesdiensten aller Richtungen! Eindringen in die unvergängliche Welt unserer Gebete, der großen klassischen Urkunden, in denen das „Heilige“, das Rätsel der „Gottesnähe“ aufbewahrt ist. Die Möglichkeit des Selbsterlebnisses schaffen, damit man es selbst inne werden kann, daß hier die „Urworte“ jeder religiösen, demütigen, vom Ich und der Welt gelösten Haltung stehen. Nur so lernen wir wieder unser eigenes Blut und Gut kennen. Wir kennen es viel zu wenig, als daß wir selbst geeignete Gesetzgeber, Aufrichter eines „Minimalgesetzes“, Verfasser von „Richtlinien“ sein könnten. Erst wenn wir mehr gelernt haben, unser eigenes Geistesgut in allen Formen durchforscht, die wirkenden Kräfte selbständig geprüft haben, dann ist die Zeit für ein neues Synhedrion gekommen.

6. Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums Auf der Suche nach Zugangsmöglichkeiten zu einer eigenständigen jüdischen Kultur geraten die meisten deutschen Juden, die ohne Wahl unter dem Druck von außen auf diese Suche hinausgestoßen wurden, zunächst ins Leere, nämlich auf „Literatur“, auf bedrucktes Papier, auf Worte, während sie wie eine glückliche Umwelt statt Bücher und Gedanken gemeinsame Wege und Ziele gewiesen haben möchten, wirkliche, greifbare Ideale, in deren Richtung durch konkrete massive Vorbereitungshandlungen täglich marschiert werden kann. Der herkunftssichere, bescheidenstolze Jude unter uns – es gibt viele und liebenswerte davon in allen möglichen Schalen – bedurfte keines Kompasses und keiner Rückenstärkung. Aber die meisten deutschen Juden, deren Gesicht nur nach der nichtjüdischen Umwelt gerichtet war, sahen sich plötzlich ins Weglose ausgesetzt. Rückkehr – Umkehr! Der Appell von der Kanzel, die Aufrufe, die eindringende Formulierung in unserer jüdischen Presse, in ausgezeichneten Abhandlungen und Büchern, sie sind ein Kinderspiel gegen den Kampf und das Herzeleid der intellektuell redlichen, aufrechten deutschen Juden, der besten deutschen Mitbürger, die beruflich in Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft, als Ärzte, Rechtsanwälte, Beamte oft anerkannte Leistungen von Rang für das Gemeinwohl aufzuweisen haben und die nun so unvorhersehbar von einer machtvollen Regierung mittels einer keineswegs ab irato konstruierten, sondern von langer Sicht formulierten und gefestigten Volkstums-Ideologie als Deutsche degradiert wurden und – hier beginnt die Tragödie – anders als jene herkunftbewußten und zukunftssicheren Schicksalsgefährten keine Rückverbindung zum jüdischen Sein mehr finden können. Denn sie vermögen die „Lehre“, das „Wesen“, Geschichte, Literatur und Sprache, kurz die Wege des Judentums zwar wie andere fremde Kulturkreise sehr gut mit den modernen Erkenntnismitteln zu verstehen, zu deuten, sich in die alten Gedankengänge zu versetzen, ja oft sich für das verkannte, ungerecht zurückgesetzte geistige Gut ihrer Väter zu erwärmen. Aber sie können sich und die Umwelt nicht im Unklaren darüber lassen, daß ihnen die rasche innere Aneignung einer arteigenen jüdischen Kultur schlechthin unmöglich ist, da eben das organische Wachsen während Generationen nicht durch einen Willensakt ersetzt werden kann. So kommt es in den meisten Fällen zur Resignation, zu einem Nichtmehr-Mittun; die Zahl der an und für sich unter uns häufigen Vereinsamten, Vergrämten und Asozialen wächst. Im besten Fall beschränkt man sich auf die Sorge für den gefährdeten Nachwuchs, den man wenigstens aus der Gefahrenzone entfernen will. Es wird sichtbar, daß der deutsche Jude in den letzten 150 Jahren seit der Emanzipation der ehrbarste, anständigste, nur auf Sicherheit und Gefahrlosigkeit bedachte Bürger geworden ist, dem das Ausgesetztsein unserer Väter schlechthin unerträglich

6. Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums

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ist und in dessen Brust die sämtlichen seelischen Prozesse, die wir als Illusionierungsvorgänge bezeichnen, sofort abzulaufen beginnen, sobald echte Gefahren kommen. Wie wenige von uns wagen es wirklich, unseren Kindern im vollen Ernst ein an Leid, Erschütterungen, an Untergang und Wiederauferstehen reiches, bewegtes, gefährdetes, aber dem ewigen Werte nahes Leben auch nur zu wünschen, geschweige denn, daß wir es uns selbst freiwillig wählen – satt einer kleinen Umwelt des vorsichtigen Ausgleichs, der Schliche und Kompromisse und abgestoßen von der großen Welt der Mächtigen und Herrschenden. Es bleibt uns nur, wenn wir nicht im Alltag und in der bloßen Nahrungssorge ersticken wollen, Resignation und Skepsis zu überwinden und uns noch einmal auf die Suche zu begeben; unbestechlich von Phrasen-Schwaden (von innen und draußen) ruhig auszuspähen nach eigenen objektiven Werten, nach einer eigenständigen jüdischen Sonderart, nach dem objektiven Geist eines nicht nur konfessionellen Judentums, das den meisten unter uns aufoktroyiert wurde, zunächst ohne Sinn, ohne Richtung und Inhalt. Auf dieser Suche stoßen wir wieder auf ein „kleines“ Buch. Der Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Berlin, Dr. Juda Bergmann, ließ soeben eine kaum 200 Seiten starke Schrift: „Das Judentum – Gedanke und Gestaltung“ (Berlin bei Rubin Mass 1933) erscheinen, das dem Unkundigen zu einem hellen ersten Einblick verhilft, dem Kundigen aber noch viel mehr gibt, indem es ihn durch diese beweiskräftige, wissenschaftlich gut gesicherte Auswahl von Antithesen den ungeheureren geistigen Reichtum, die solide Tragfähigkeit, die von jeder partikulären Enge und einseitigen „Gesetzlichkeit“ entfernte Aufgeschlossenheit des Judentums noch einmal in einer glücklichen Zusammenschau zeigt. Indem der Strom des jüdischen Seins seit seinem Ursprung unablässig durch die Kulturen fast aller bewohnten Länder zog, vermischten sich in ihm die Erkenntnisse, Erfahrungen, Sehnsüchte, Wunschbilder, Erlebnisse und Glaubensvorstellungen der verschiedensten Zonen und Zeiten. Rabbiner Bergmann gibt durch seine zwingende Konfrontierung der in keiner anderen Gemeinschaft ohne Gefahr des Auseinanderbrechens und spurlosen Versinkens möglichen geistigen Gegensätze die beste Antwort auf die dringliche Frage nach dem wahren und echten „Wesen“ des Judentums. Die folgende ganz kurze Inhaltsanalyse soll den Umriss der neun Abschnitte nachzeichnen: Der Prophet und der Philosoph: Philo von Alexandrien umfaßte Mose und Plato mit gleicher Liebe, er war der erste Träger des philosophischen Judentums, das um eine Versöhnung zwischen dem Philosophen und dem Propheten gerungen. Moses Maimonides, Abraham ibn Esra, Spinoza und Mendelssohn sind den Weg der Philosophie gegangen; die Propheten, die Gesetzeslehrer und die Gegner des Maimonides blieben die Hüter der Religion. Der Prophetismus – die irrationale Hingabe des Lebens, nicht eine humane und gütige Moralität aus dem 19. Jahrhundert – ist der tiefste Daseinsgrund, die unsterbliche Seele und das ewige Leben des Judentums geworden.

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

Die zweite Antithese: „Gesetz und Herz!“ Erbauer, Erzieher und Erhalter des religiösen Lebens und der Gemeinschaft konnten nur die Gesetzeslehrer mit ihren Spezialvorschriften und Sonderanweisungen für alle Einzelzüge des menschlichen Erdenwandels sein. An zwei Frömmigkeitsäußerungen, dem Gebet und der Liebestätigkeit ist die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit von Freiheit und Gebundenheit im Sinn des Judentums nachzuweisen. Enthusiasmus, Ausschüttung der Seele bleibt mit einer streng rationalen Kasuistik jedes Schrittes, den der Fromme tut, vereinbar. „Autorität und Freiheit“, das dritte Gegensatzpaar, „Askese und Lebensfreude“ das Vierte! Die palästinischen Rabbinen, die Träger der „mündlichen Überlieferung“, waren überzeugt, daß ihre Schriftdeutung nicht etwa ein Neues schaffe, „sondern nur den von Uranfang in der Schrift geborgenen Schatz hebe und dem Volke aufschließe“ (S. 52). Die Kritik gegen die Autorität der mündlichen Lehre kam indes in keiner Epoche, in keinem Raum des jüdischen Daseins zum Schweigen. Die Einheit des Judentums ist seit der Zerstreuung durch keine kirchliche Glaubensverfassung mehr gesichert; Glaubensformel, Dogma und Rechtgläubigkeit haben deshalb nie wie im Christentum und im Islam beherrschende Bedeutung gewonnen. Im schlechten und im guten Sinn ist durch das Fehlen dieser eisernen Klammern das jüdische Schicksal bestimmt worden. Wäre der Schulchan-Aruch, die Befolgung der religiösen Pflichtenlehre konstitutiv für die Zugehörigkeit zum Judentum und die Nichthaltung gewisser Grundpflichten ein Ausschließungsgrund, dann wäre die Judenheit der Welt zu einer bedeutungslosen Sekte geworden. Wo bleibt aber dann das Bleibende, das Wesentliche im Judentum? Angesichts seiner Weiträumigkeit, der Vernunft und nicht fragende Gläubigkeit, härteste Gesetzlichkeit und spontane Herzenswärme, Magie und abstrakteste Glaubensinnigkeit, Innerweltlichkeit und Weltflucht, Mystik und Aufklärung keine unvereinbaren Gegensätze sind, – wo findet man hier die Konstante, den „Objektiven Geist“ ? Alles Psychologische, alle praktische „Menschenkenntnis“ scheidet aus. Aber ablösbar, tradierbar kann auch mitgeteiltes Wertempfinden sein. Freilich Irrtümer und Vorurteile haben dieselbe Objektivität und Tradierbarkeit wie Wahrheiten. Lassen uns vielleicht andere bekannte Darstellungen vom Wesen des Judentums deshalb so unbefriedigt, weil sie sich über das, was vom „Objektiven Geist“ aussagbar ist, über objektive Gestalthaftigkeit und Tradierbarkeit der geistigen Inhalte nicht genügend Rechenschaft ablegten? Es handelt sich um die überindividuelle Grundgestalt des Geistes des Judentums, herausdestilliert aus der zeitlichen, regionalen und personalen Fülle seiner zeitbedingten Formungen, nicht um die Lehre, die – wenn erst die hermeneutischen Grundsätze feststehen – aus den kanonischen Urkunden leicht herauslösbar wäre. Wo aber fasse ich den vielberufenen „Geist“ der Judenheit, ihre charakteristischen Ideen, Ziele, Tendenzen, Leistungen, Geschehnisse um sie und mit ihnen, gemeinsame Schicksale, woraus eben ihr „Geist“ verstehbar wäre? „Hebräisch schnell gelernt“, etwas Palästinakunde, der wackere „Weigl“ und Baecks „Wesen“, damit allein ist ein Zugang zum Judentum, auch zum Wissen davon, nicht erschließbar.

6. Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums

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Bergmann läßt die Unendlichkeit und Schönheit der Aufgabe ahnen und spannt den Rahmen für die geistesmächtige, vielgestaltige, keineswegs eindeutige oder in sich abgeschlossene Welt der historischen jüdischen Seinsformen. Die ersten vier Antithesen lernten wir kennen. Das fünfte Gegensatzpaar lautet: „Glaube und Volksglaube“. Magie, Amulette, Dämonen- und Geisterbeschwörung hatten neben tiefster und reinster Religiosität von jeher im Judentum Platz. Der Aberglaube mit seinen „kindlichen“ und sinnlichen Vorstellungen war auch unter den zum Aufgeklärtsein, zum Zweifel und zur „rein geistigen“ Religion von jeher so sehr disponierten Juden in allen Zeiten mächtig. „Kontinuität und Entwicklung“! So stark war im Judentum die Macht der Tradition, daß religiöse Institutionen und Gebräuche sich erhielten, selbst als sie ihren religiösen Sinn verloren hatten; daneben vollzog sich in den Jahrhunderten ein einschneidender Wandel der religiösen Sitte und des ethischen Empfindens. „Mannigfaltigkeit und Einheit“! Aus dem Judentum ging Philo hervor, der die Toragebote in Sinnbilder umdeutete, und Akiba, der aus jedem Buchstaben der Tora ein unverbrüchliches Gebot ableitete. Die ganze reiche Kultur des hellenistischen Judentums, die von vielen Millionen durch den ganzen Körper der nachklassischen Antike und bis über die mesopotamische Ostgrenze hinausgetragen wurde, ist planmäßig und mit erschütterndem Erfolg vernichtet worden. „Das Talmud-Judentum hat seine griechisch redende Schwester getötet, ihre Stätte zerstört und den Pflug darüber geführt.“ Strenge Exklusivität war die Bedingung jüdischer Fortexistenz, aber in der Abschließung hat es niemals das Weltgefühl und den weltweiten Horizont verloren. Die jüdische Lehre zog durch die Welt und schritt durch die Zeiten, veränderte sich dabei, aber das Judentum erhielt sich und sah in einer ununterbrochenen Kette Völker und Reiche um sich versinken, Geistesströmungen abfließen und hochtrabende, als neu und unwandelbar ausposaunte Ideen und Grundsätze verblassen und kraftlos werden. Weise und wissend lernte die Judenheit einer älteren Zeit die Anbetung des Erfolges verachten, dessen Größe niemals die Größe des auf dem Weg zum Erfolg zugefügten Unrechts aufhebe. Aber der europäische emanzipierte Jude des 19. und 20. Jahrhunderts machte sich selbst dieser Anbetung schuldig und wurde furchtbar dafür bestraft. Er mußte erst gewaltsam von außen wieder auf seine fremde Herkunft und sein arteigenes Sein, auf den „Geist des Judentums“ gestoßen werden. Er hat den Weg zur Suche nach ihm soeben von Neuem angetreten.

7. „Die Erwählung Israels“. Der richtig verstandene Erwählungsgedanke. Anläßlich des Vortrages und der Lehrkurse Martin Bubers über die Erwählung Israels Die Vorstellung von der „Erwählung Israels“ schließt eine geschichtlich und „religionsphänomenologisch“ gleich bedeutsame Tatsache in sich, die man entgegen allen vagen und landläufigen Schlagwörtern vom „Auserwählten Volk“ scharf umreißen muß, um sich das vorurteillose Verständnis nicht zu erschweren. Es geht um die Tatsache, daß das jüdische Volk des Glaubens war und noch ist, von Gott zu seinem besonderen Eigentum gemacht zu sein, nicht durch naturhafte Abstammung und Zeugung, sondern mittels willentlicher Setzung in geschichtlicher Zeit. Um diesen Glauben dreht sich die innere Problematik des Judentums überhaupt. Förderung und Gefährdung der jüdischen Religion – nicht unserer säkularisierten Religiosität oder Frömmigkeit – wechseln nach diesem richtig verstandenen Glauben von der Erwählung Israels in einem beständigen Auf und Ab miteinander ab. Die jüdische Vorstellung von ihrer göttlichen Auserwählung hat später in dem Erwählungsbewußtsein der christlichen Gemeinde und in der Bildung des Volks- und Staatsbewußtseins moderner Nationen – etwa des englischen Volks- und Staatsbewußtseins – sonderbare und oft beschriebene Nachwirkungen gehabt. Wenn hier von einer „religionsphänomenologischen“ Betrachtungsweise gesprochen wurde, so ist damit nur die angestrengte Bemühung gemeint, ganz deutlich zu verstehen, was sich hier in der jüdischen Religion und Geschichte „zeigt“, und zwar an Wesentlich-Menschlichem zeigt. Der holländische Gelehrte G. van der Leeuw hat die umfassendste und präziseste „Phänomenologie der Religion“ (Tübingen 1933) geschrieben und zum Schluß auch den Begriff des „Verständnisses“ sowie des religiösen „Phänomens“ ausführlich erklärt. Denn ein „Versteher“ in dem gemeinten Sinn muß sich ja immer auf den Einwand gefasst machen, daß hier ein Blinder von der Farbe spreche. Van der Leeuw unterstreicht die Behauptung, daß sich ein solches „Verständnis“, wenn es auch in das „Wesen“ der Dinge dringt, im Bereich des „Menschlichen“ hält. Er setzt aber fast schalkhaft, in einer Art Selbstironie hinzu: „Es sei denn, daß der Versteher zu viel vom Professor erworben, zu wenig vom Menschen, behalten hat“; und er zitiert C. K. Chestertons drastischen Satz über das „religiöse Erlebnis“: „Wenn der Barbar dem Professor erzählt, daß es einst nichts gab als eine große befiederte Schlange, so ist der gelehrte Mann überhaupt kein Sachverständiger in dieser Materie, wenn er sich nicht inwendig erbeben fühlt und halbwegs versucht, zu wünschen, daß der Barbar recht hätte.“

7. „Die Erwählung Israels“

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Was sich in dem Sachverhalt der Erwählung Israels in der Bibel „zeigt“, wird durch eine saubere Textinterpretation der biblischen Stellen zwar noch nicht ganz „verständlich“, aber der Gedankenstoff kann auf diese Weise am besten übersichtlich gemacht werden; und so kann auch mittelbar die religionsphänomenologische Tatsache des Glaubens an eine göttliche Erwählung der religionsgeschichtlichen Klärung näher gebracht werden. Jede Art der tiefsinnigen „Betrachtung“ oder Erbauung soll ausgeschaltet bleiben. Die Selbstaussagen der Bibel über die Erwählung wären bei einer Gesamtdarstellung zu trennen von der Frage nach den diesen Aussagen zugrunde liegenden historischen Vorgängen; und ein dritter Fragenumkreis hätte sich systematisch-theologisch mit der göttlichen Erwählung Israels zu befassen. Hier beschränken wir uns auf die Auswahl einiger Textstellen. wobei von dem Gang der Erklärung Martin Bubers in seinen Vorträgen, Bibelkursen und Schriften oft abgewichen wird. Man geht in der Tat am besten von den beiden Amos-Stellen aus: „Seid ihr mir nicht wie die Mohrensöhne, Söhne Israels?“ – So spricht der Ewige –, „habe ich nicht Israel aus dem Land Ägypten herausgebracht, – und die Philister aus Kaftor, und die Aramäer aus Kir?“ (Amos 9,7)

Also Wanderung und Landannahme hat Israel vor den anderen Völkern nicht voraus. Auch das Schicksal der übrigen Völker wird von Gott geleitet, ohne eine Vorrangstellung „seines“ Volkes. Darauf deutet auch Jesaja: An jenem Tag wird eine Straße von Ägypten nach Assyrien sein, kommen wird Assyrien zu Ägypten und Ägypten zu Assyrien und dienen werden sie, Ägypten mit Assyrien. An jenem Tag wird Israel das Dritte zu Ägypten und zu Assyrien sein, ein Segen in der Mitte des Erdlands wozu der Ewige der Scharen es gesegnet hat, sprechend: Gesegnet Ägypten, mein Volk, und Assyrien. Werk meiner Hände, und Israel, mein Eigentum.“ (Jesaia 19, 23 – 25)

Scheinbar in Widerspruch die zweite Arnos-Stelle: Nur euch hab ich erwählt aus allen Erdensippen, Drum ahnde ich an euch All eure Sünden. (Amos 3,2)

Der Ausdruck ‫( ידע‬außer bei Amos 3, 2 auch in Gen. 18, 19; Ex. 33, 12; Hos, 13, 5; Jer. 1, 5) für „erwählen“, „ausersehen“ wechselt mit dem häufiger gebrauchten

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

‫בחד‬, das dann namentlich in der späteren Gebetssprache eine besondere Gefühlsfarbe erhält. Gemeint ist in allen Fällen – in den Texten verschiedenster Herkunft und Entstehungszeit – daß Israel aus göttlichem Ratschluß zum „erstgeborenen Sohn“ Gottes (Ex. 4, 22; Hos. 11, 1) in der Völkerwelt herausgerufen ist, aber unter der absoluten Bedingung besonderer Bewährung. Die Auserwählung ist in keiner Zeit des jüdischen Bestandes, in keinem Winkel und in keinem Kopf der vielräumigen und vielköpfigen jüdischen Geschichte als Privileg, als eine Annehmlichkeit oder als Grund des äußeren Stolzes oder der nationalen Ehre aufgefaßt worden, sondern ausschließlich als Verpflichtung und Aufgabe. Das Versagen gegenüber dieser besonderen göttlichen und ewigen Aufgabe, Vorbild im Verzichten auf jede Art zu sein, wird als Grund der Verstoßung angesehen, des tiefen Abgrundes, in den die Judenheit immer wieder geraten ist. Wie ihr eine Verwünschung seid worden unter den Weltstämmen. Haus Jehuda, Haus Israel, so befreie ich euch, daß ihr ein Segen werdet (Secharja 8, 13)

„Daß ihr ein Segen werdet“: Es ist das „Leitwort“ des Abraham-Segens „Und du sollst zum Segen werden“, das hier wieder vorkommt (Gen. 12, 1 – 3). Der Segen soll von dem einen Volk zu allen Völkern der Erde kommen. Dieser „Heilsuniversalismus“ wird weder als „Beglückung“ noch als „Missionsidee“ richtig verstanden. Daß vielmehr die richtig erkannte Forderung des „Am-s’gullah-mikol-haammim“ (Deut. 7, 6) keine Überhebung bedeutet, sieht jeder, der im 5. Buch Mose einen Vers weiter liest: Erfolg, Größe, Sieg im landläufigen Sinn gelten hier nicht als Werte. Und weiter stimmen alle biblischen Äußerungen zur „Erwählung“ darin überein, daß die „Aussonderung“ nicht etwa wegen einer besonderen Rechtschaffenheit und Herzensreinheit Israels oder etwa um einer eigenen jüdischen „Begabung“ willen stattgefunden hat, vielmehr war die Erwählung unverdiente göttliche Gnade, die bei Nichtbewährung Israels in eine besondere Gefährdung und Bestrafung umschlägt. (Deut. 7, 7 f.; 9, 5; 14 ,1 – 2; 26, 17 – 19; 32, 11.) „Der Begriff des Bundes, im dem sich für israelitisches Denken die Beziehung des Volkes zu Gott entscheidenden Ausdruck verlieh, stellt die Besonderheit israelitischen Gotterkennens von vornherein fest.“ Für die scharfe Erfassung eines Gesamtbildes der alttestamentlichen Glaubenswelt ist es unentbehrlich, diesen zentralen Bundesbegriff jenseits jeder Aktualität oder gar angewandten Ethik klar zu machen, und was damit gemeint ist, klar zu zeigen. „Am Fuß des Sinai das große Opfer darbringend“, läßt Mose das Blut der Tiere in zwei Hälften teilen. Die eine sprengt er an den Altar, die andere, zunächst in Becken verwahrte, an das Volk, nachdem er es auf „die Urkunde des Bundes“ (Ex. 24, 7) verpflichtet hat, und spricht dabei die sakramentale Formel: „Das ist das Blut des Bundes, den der Ewige mit euch schließt auf alle diese Worte“ (Martin Buber, Königtum Gottes 2. Aufl.

7. „Die Erwählung Israels“

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1936; S. 111 f. u. besonders S. 254 ff.). In der Bundesschließung, seinem Ritual, seiner Geschichte und in seinem Wesen, ist jedenfalls ein Grundbestandteil der urisraelitischen Gotteserfahrung enthalten; die zentralen Sätze stehen im 2. Buch Mose, Kap. 19, 4 – 6 (Buber, a. a. O., Seite 124 f. und Seite 268 f.): So sprich zum Hause Jacobs, melde den Söhnen Israels: Selber habt ihr geseh’n, was ich an Ägypten tat, ich trug euch auf Adlerflügeln und ließ euch kommen zu mir. Und jetzt, hört ihr, hört auf meine Stimme und wahrt meinen Bund, dann werdet ihr mir aus allen Völkern ein Wesensgut. Denn mein ist die Erde all, ihr aber sollt mir werden ein Königsbereich von Priestern, ein ausgesonderter Stamm. Dies ist die Rede, die du zu den Söhnen Israels reden sollst.

So die klassische Stelle aus Schemoth: „Ein Gott spricht, der die ganze Welt sein nennt, aber innerhalb dieses seines Besitzes sich aus dem unter den Völkern erkorenen Israel, wenn es nur den Bund wahrt, den er mit ihm schließen wird, ein mere proprium, ein Allod machen will: ein ausgesonderter Königsbereich soll es ihm dann werden“ (Buber, a. a. O., Seite 125). Das sakral-feierliche Wort „Mamlechethkohanim“ (ein Reich von Priestern) darf nicht nur von der kultischen (priesterlichen) Funktion her gefaßt werden; sondern die Grundbedeutung für „Kohen“ (der zur Verfügung Stehende, Aufwartende, Aufrechtstehende) weist auf die zum unmittelbaren Dienst Verpflichteten. Das bundesbrüchige Israel trifft doppelte Strafe. Das Wesentliche bleibt „der Tatcharakter der Gottesoffenbarung“. Die göttliche Selbsterschließung wird nicht spekulativ erfaßt, nicht in der Form einer Lehre dargeboten, sondern der Gott greift handelnd in das Leben seines Volkes ein: als Ziel und Krönung der machtvollen Errettung aus dem Haus der Knechtschaft erscheint die Stiftung einer dauernden Bundesordnung. Israel ist damit eine feste normierte Haltung auferlegt; und es ist in den Erwählungstraditionen kein Zweifel gelassen, daß der gestiftete Bund keine sichere Schutzwehr ist, hinter der man seine eigenen Interessen in kluger Benützung der göttlichen Macht pflegen könnte, sondern daß dieser Bund den ganzen Menschen beansprucht und zu restloser Hingabe aufruft. Der einheitliche Zusammenklang der verschiedenen biblischen Traditionsstränge, die sich auf die Auserwählung Israels beziehen, ist immer wieder in allen Äußerungen dieser eigenartige Elite-Gedanke, dem die Idee der äußersten Gefährdung und des Sturzes in den Abgrund beigemischt ist für den Fall, daß die Forderung des beispielhaften Angespanntseins nicht erfüllt wird. Der Segen kehrt sich dann in den

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

Fluch. „In Israel erfolgt im Lauf seiner Geschichte keine Säkularisierung des profanen Rechts, sondern seine bewußte Eingliederung in den Gotteswillen, der die ganze Volksexistenz trägt. Auch der Staat ist ein Stück Gotteswirklichkeit, das sich aber nicht wie sonst im alten Orient im Gottkönigtum und im Staatskult mit seiner komplizierten Maschinerie von Opferverordnungen, Orakelwesen und Priesterhierarchie verkörpert, sondern in der Unterwerfung des ganzen Volkslebens unter die Ordnungen des Gottesbundes, die allen Volksgliedern an der göttlichen Segnung ihres konkret-irdischen Daseins gleichen Anteil geben“ (Eichrodt). Eine scharfe und unmittelbare Interpretation der biblischen Texte mit alten oder modernen Mitteln kann zu keinem anderen Ergebnis über das, was mit dem „auserwählten Volk“ gemeint sei, kommen. Jüdische und nichtjüdische Erklärer des Alten Testaments waren von jeher in diesem Resultat einig. Der beißende Spott über das „Auserwählte Volk“, dessen äußerer Zustand Jahrhunderte lang über die ganze bewohnte Erde hin in einem grellen Widerspruch zu der biblischen Berufung stand und der christlich-dogmatischen, im Alten Testament angelegten Auffassung von dem wegen seiner Nichtgewährung und Verweltlichung gezüchtigten Volk recht zu geben schien, ist zur geschichtsbildenden Kraft geworden. Um den wahren Sachverhalt der biblischen Sätze hat man sich außerhalb der Ideologie im christlichen Abendland wenig gekümmert. Dagegen ist innerjüdisch die „Auserwählung“ – auch im Volk – immer textgerecht verstanden worden. Die Auserwählungsstellen sind jederzeit im jüdischen Volksleben geläufig geblieben und nie in Vergessenheit geraten. Der richtig verstandene Erwählungsgedanke ist das Mittelstück der jüdischen Existenzbejahung geblieben.

8. Die Evangelien als jüdische Quelle Die Berichte über die Taten und Worte von Jeschu-ha-Nozri, der als „Christus“ in die Menschheitsgeschichte eingegangen ist, wurden erst von einem späteren, von den Augen- und Ohrenzeugen durch eine zeitliche und weltanschauliche Kluft getrennten Geschlecht literarisch zu den Evangelien des Neuen Testaments geformt. Auswahl und Redaktion geschahen für den Gebrauch der frühchristlichen Gemeinde in enger Anlehnung an die Ausdrucksweise und an die Art des Fühlens und Denkens der spätjüdischen Bet- und Glaubensgemeinde. Die neutestamentlichen Urkunden, vor allem die drei ersten Evangelien, sind dementsprechend lebendige Zeugnisse für den Glauben und die Hoffnungen der alten, sich als das wahre Israel fühlenden Christenheit, während sie als Geschichtsquelle für das gelebte Leben Jesu viel weniger ergiebig sind. In der umfassenden und vielverzweigten internationalen Forschung der neutestamentlichen Zeitgeschichte herrscht heute Übereinstimmung über den Quellenwert der Urkunden, welche die Begebenheiten um das Leben und Ende Jesu überliefern. Man kann dieses letzte Forschungsresultat vielleicht am abgewogensten mit dem Satz des anerkanntesten Kirchenhistorikers der neuesten Zeit wiedergeben: „Durch die umgestaltende Tätigkeit der Überlieferung hindurch sehen wir weithin das echte Gestein zuverlässiger Kunde, auf dem der Historiker aufbauen kann – wenn anders er die Quellen des Urchristentums nach der gleichen Methode behandelt wie alle anderen Quellen auf dieser Welt“ (Lietzmann, Geschichte der Alten Kirche I, 34 f). Die in den Evangelien enthaltenen Nachrichten über Jesus von Nazareth bestehen aus in sich abgeschlossenen Überlieferungsstücken von Predigten, Sentenzen, Gleichnissen, Legenden, die von einer späteren Hand, wahrscheinlich um 100 n. Chr., für die Zwecke kirchlicher Gemeinschaftsveranstaltungen, zur Vorlesung im Gottesdienst und zur Derascha – einer Art homiletischer Ausdeutung des Schriftwortes – zusammengestellt worden sind. Hier liegen keine Geschichtserzählungen vor, sondern Glaubensstücke, Bekenntnisse, die nach der Katastrophe Jerusalems aus dem schon fixierten Glauben der kleinen christlichen Sekte heraus bewußt zum heiligen Buch als Pendant zu den heiligen Büchern des Alten Bundes komponiert wurden. Erst seit dem Anfang des dritten Jahrhunderts sind in der Kirche siebenundzwanzig in griechischer Sprache geschriebene Schriften als apostolisch und kanonisch anerkannt worden und zu den auch weiterhin als Zeugnis göttlicher Offenbarung beibehaltenen Büchern des „Alten Testaments“ hinzugetreten. Der Weg zurück zu jenen als „Botschaft von Jesus Christus“ aus dem Neuen Testament herauszuschälenden Einzelstücken von den Kompositionen der kanonischen Evangelien aus ist nicht allzu schwer zu verfolgen: Dieser Weg ist nichts an-

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

deres als der Hergang der „Überlieferung“. Wie die Weiterspinnung und Deutung des altbiblischen Wortes ist auch der sich daran anschließende Vorgang der „Tradition“ des gedeuteten, durch Menschen erschlossenen und gepredigten göttlichen Wortes die geistige Art des Spätjudentums gewesen. „Tradition und Schriftbeweis“ sind die von den Juden übernommenen Pfeiler und Bauweisen des christlichen Lehr- und Glaubensgebäudes geworden. Erst der Einblick in Wesen und Sachverhalt von „Tradition“ und „Schriftbeweis“ erschließt Gefüge und Sinn der im „Neuen Testament“ vereinigten Literaturdenkmäler. Die Evangelien sind mehrere Menschenalter nach Jesus geschrieben. Überlieferte Geschichten von ihm und Sprüche aus seinem Mund, wie sie mündlich und schriftlich weitergegeben wurden, haben sich eingeprägt und wurden vorgelesen. Sie erhielten eine immer festere Form; Katastrophen und Generationen waren vorübergegangen, bis die Traditionsstücke in der griechischen Sprache schriftlich niedergelegt wurden – nicht in der aramäischen Muttersprache von Jesus selbst, sondern in der damaligen Weltsprache und in der Denkform der christlichen Mission. Die Zusammenfügung zu den siebenundzwanzig kanonischen Schriften aber war das Werk einer noch späteren Zeit. Der älteste Evangelist Markus hat beispielsweise bei der Redaktion der alten tradierten Teile nur wenig geändert, die späteren Evangelisten dagegen haben Verbindungen herzustellen, Deutungen hinzuzufügen, einen fortlaufenden Zusammenhang der Erzählung durchzuführen gestrebt. Soweit der heute kaum noch bestrittene historische Vorgang der Komposition und der Entstehung des Neuen Testaments, im Besonderen der Evangelien! So gewagt es nach diesem gesicherten Tatbestand ist, am Grund des Evangeliums ein Stück jüdischer Geschichte aufzudecken – wie man wohl am Fuße, an der Wurzel einer Sage oder eines Mythos Vorgänge und Zustände, die einst wirklich auf der Erde gewesen sind, mit verfeinerten historischen Methoden aufzuspüren vermag –, so trifft der jüdische Historiker doch ins Schwarze, wenn er nach dem Wesen und der Weise der mündlichen Überlieferung im Judentum fragt und auf solche Weise aus der Antwort – über das Verständnis des Hergangs der Tradition, in der auch die christlichen Glaubensbücher entstanden sind – echtes historisches jüdisches Geschehen, jüdische Denk- und Handlungsweise bloßlegt. Leo Baeck geht so vor in seinem neuen Buch „Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte“ (Berlin 1938 – Bücherei des Schocken-Verlags Nr. 87). Ehe wir zeigen, wie Baeck aus der jüdischen Überlieferungsweise das Evangelium als jüdisches Buch verstehen lehrt und mit welcher Einschränkung uns hier eine legitime Deutung des im Evangelium Niedergelegten gegeben erscheint, soll ein Blick auf die älteren jüdischen Bemühungen um ein Verständnis der Jesu-Zeugnisse geworfen werden. Die seit dem Antritt der christlichen Weltherrschaft sehr begründete öffentliche Zurückhaltung des jüdischen Schrifttums vor dem neutestamentlichen Stoff hat mit der Sprengung der geschlossenen jüdischen Lebensordnung, also seit der Emanzipation, aufgehört. Isaak Markus Jost sah in seiner großen jüdischen Geschichte, die durch Graetz ungebührlich verdunkelt wurde, noch die absolute Gegenposition des alten Christentums gegenüber dem Jüdischen; für ihn

8. Die Evangelien als jüdische Quelle

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war die Geschichtsmächtigkeit des altchristlichen Erlösungs- und Messiasglaubens, in welcher „das Judentum der Beschneidung“ als der Todfeind angesehen wurde, noch etwas Selbstverständliches, ohne daß Jost selbständige kritische neutestamentliche Studien gemacht hätte. Die späteren jüdischen Forscher, die Jost an historischer Kritik und Methode überragen, haben einseitig das Schwergewicht darauf gelegt, die rein jüdische Herkunft Jesu und seines Gedankengutes im Kleinen und Großen nachzuweisen. Das Jesusbild von Graetz ist im Wesentlichen der triviale historische Jesus der zeitgenössischen kritischen Leben-Jesu-Forschung. Die Variante bei Dubnow, der voll Humanität und Nachsicht mit dem edlen Schwärmer bedauert, daß die „mystische Ideologie“ des Jesus von Nazareth das jüdische Volk vom Boden der geschichtlichen Wirklichkeit habe losreißen wollen, geht an dem Unterscheidenden und Gegensätzlichen in den Urkunden der Botschaft Jesu ebenso vorüber wie die früheren und späteren jüdischen Darsteller. Auch bei den besten, nicht aus abgeleiteter Literatur, sondern aus den Quellen schöpfenden jüdischen Kennern der Epoche und ihrer Geschichtsprobleme überrascht eine merkwürdige Vereinfachung und Monotonie, mit der der Herzensadel, der tiefsittliche Ernst und die Lebensheiligkeit des evangelischen Christus auf seine ungebrochen jüdische Geistesart zurückgeführt und mit seiner Gesetzesfrömmigkeit erklärt wird. Klausners 1922 in hebräischer Sprache veröffentlichtes Werk „Jesu-ha-Nozri“ bleibt trotz der Verwertung der hebräischen Quellen und trotz des jüdisch-nationalen Vorzeichens im Fahrwasser der liberalen protestantischen Theologie, in der Sehweise der „Religionsgeschichtlichen Volksbücher“ vor mehr als dreißig Jahren. Obwohl diese Stimme vom Skopus-Berg und von Talpiot kommt und trotz der hebräischen Sprache sind Ton und Schule Heidelbergs und Jenas von 1900 nicht zu verkennen. Klausner vermißt bei Jesus – an Hillel gemessen – das spezifische Volksgefühl. Sein Jesus-Werk charakterisiert sich selbst durch zwei Hauptteile. „Wenn wir die Wunderberichte und einige mystische Aussagen, deren Tendenz die Vergöttlichung des Menschensohnes ist, beiseitelassen und uns nur an die in den Evangelien überlieferte Sittenlehre und an die Gleichnisse halten, dann kann man die Evangelien als eine der herrlichsten Sammlungen ethischer Worte, die es gibt, ansehen.“ Moralistische Aufklärung also und humanistische Säkularisierung der religiösen Urkräfte im Evangelium – beides führt Klausner weit ab von dem eigentlichen Anliegen der christlichen Urkunden. Noch bezeichnender ist für die perspektivische Verzerrung seines Jesu-Bildes eine zweite Leit-These: „In den Evangelien gibt es nicht eine moralische Bestimmung, die nicht im Alten Testament, der außerkanonischen jüdischen Literatur, im Talmud und Midrasch, soweit sie aus dem Umkreis der Zeit Jesu stammen, ihre Parallele hätte. Und dabei handelt es sich nachweislich immer um altes Gut jüdischer Ethik und zum Teil um wörtliche Übereinstimmung mit Formulierungen aus Jesu Mund.“ Hinter einer solchen Betrachtungsweise steht die Apologie und die unwiderstehliche Banngewalt, mit der im 19. Jahrhundert die geschichtswissenschaftliche Darstellung im jüdischen Kreis in erster Linie und um jeden Preis die Unbezweifelbarkeit der jüdischen Kultur- und Europafähigkeit in den Vordergrund rückte.

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

Die große historische Zeugniskraft der Evangelien für die jüdische Geschichte besteht darin, daß wir hier nach vorsichtiger Wegräumung vieler Verdeckungen und Verkehrungen tief in jüdisches Leben und Denken hineinblicken können. Wie Baeck in einer gedrungenen Darstellung das Evangelium als Urkunde jüdischer Glaubensgeschichte auswertet, ist von größtem, spannendem Interesse. Er trägt die christlichen Übermalungen ab und hat ein einzigartiges jüdisches Literaturdenkmal in der Hand. Auf dem unsichtbaren Hintergrund einer weltweiten, ungemein verästelten, nie stillstehenden Forschungsarbeit, an der seit Jahrhunderten die Generationen und Völker in allen Kultursprachen, mit den verschiedensten Zielen, Idealen, Methoden beteiligt sind, wird hier Klarheit und Übersicht über die rein jüdischen Aufbauelemente der Evangelien gewonnen. Was eine solche von dem verwirrenden Gerüst der gelehrten Arbeit befreite Klarlegung des jüdischen Kerns der Botschaft Jesu bedeutet, lehrt den Außenstehenden ein Blick in die reinen Stoffsammlungen der neuesten Zeit in unserer nächsten Reichweite, seien es die an die Verwandlungen des Judentums ganz nah heranführenden Wortmonographien in dem Kittelschen „Wörterbuch“, seien es der weitläufige Kommentar von Strack-Billerbeck zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch oder die Bände der neutestamentlichen Zeitschriften und die älteren großen Werke von Schürer und Eduard Meyer. Dazu kommt eine nie abreißende Einzelforschung der Philologen, Historiker und Theologen! Baeck hat trotz der Vielfältigkeit der Probleme und der kaum übersehbaren, aus den Grenzgebieten herüberragenden sprach- und religionswissenschaftlichen, archäologischen und kirchengeschichtlichen Forschungsergebnisse ein bewundernswert abgewogenes und vielseitiges Bild des Weges zu den Evangelien als Zeugnissen unserer Geschichte und unserer ureigenen Geisteshaltung gezeichnet. Die christlichen Bücher sprechen ja nicht unmittelbar zu uns, sie weisen uns vielmehr unerbittlich ab und bekämpfen uns mit den schärfsten Waffen. Im selbstbewußten Judentum der Zerstreuung gab es ein sehr sicheres Gefühl für das absolut Trennende. Den Namen Jesu sprach kein Jude aus, und die „Toldot-Jeschu“, die jüdische Karikatur der evangelischen Wundergeschichten, deuten auf einen Abgrund zwischen den Wertordnungen auf beiden Seiten. Deshalb ist die Führung, der Zugang zu den Evangelien das Vordringlichste. Die Herauslösung eines von späteren Zutaten gereinigten „Urevangelismus“, der eigentlichen „Botschaft Jesu“, ist das jetzt im ganzen gesicherte Ergebnis von Forschergenerationen. Baeck erkennt dieses Urbild an – im wesentlichen in der Fassung, die ihm zuletzt Dibelius gegeben hat – und beansprucht es für das Judentum. Seine Musterleistung besteht in der nahtlosen Darbietung und Deutung dieses jüdischen Fundaments. Über dieses Methodische hinaus gibt Baeck in vollendeter Klarheit eine geistige Entscheidung, die wir nicht bis zum Ende mitvollziehen können. Auch wenn man imstande ist, nach Freilegung der oberen überdeckenden Schichten auf den Wegen, die Baeck selbst so eindringlich weist, zum Ursprünglichen und Jüdischen, zu einem alten jüdischen Urevangelium vorzudringen, so bleibt doch die Persönlichkeit, das Leben Jesu verborgen. Baeck sieht in dem alten Evangelium, das er erschließt,

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die „edlen Züge eines Mannes, der während erregter, gespannter Tage im Lande der Juden lebte und half und wirkte, duldete und starb, eines Mannes aus dem jüdischen Volke, auf jüdischen Wegen, im jüdischen Glauben und Hoffen, dessen Geist in der Heiligen Schrift wohnte, der in ihr dichtete und sann und der das Wort Gottes kündete und lehrte, weil ihm Gott gegeben hatte, zu hören und zu predigen.“ Die alten nicht-christlichen Jesus-Zeugnisse, die immer noch auf einem halben Oktav-Blatt bequem Platz finden, ergeben jedoch ebenso wenig ein geschichtswissenschaftlich gesichertes „Leben-Jesu“ wie die neutestamentlichen Schriften; man könnte also das wiedergewonnene Urbild mit demselben Recht stoisch-menschlich deuten („Widersteht nicht dem Übel“) wie auch als spätjüdisch, d. h. scharf geschieden von dem alles andre als stoisch-menschlichen Alt-Israel der vorexilischen Ur-Bibel. Trotz des Einwands dagegen, dem im Evangelium kaum mehr sichtbaren historischen Jesus jüdische Züge zu verleihen, hellt das Buch von Baeck auf eine gültige Art das Evangelium als jüdische Geschichtsquelle auf. Indem es die Weise der jüdischen Tradition und den Umgang mit dem Schriftwort im Judentum, endlich Logik und Stil dieses „Weiterdichtens“ scharf aufzeigt, wird der Weg freigemacht, das Besondere der Evangeliumstradition zu erweisen. Diese Tradition stellt sich dabei als identisch mit der Überlieferungsform in der jüdischen Welt und auch mit ihrem Geist heraus. Die griechisch-römische Welt hat die alte Überlieferung in der christlichen Missionspredigt umgeformt; noch tiefer hat darin das jüdische Volksgeschick, die Zerstörung des Tempels im Jahre 70 eingeschnitten. Es wurde zum christlichen Glaubenssatz, daß Gott sich von Israel abgekehrt habe; das veränderte die Botschaft von Jesus, der das bevorstehende Verhängnis gewußt haben muß und dem nun entsprechende Andeutungen in den Mund gelegt werden. Die endgültige Trennung vom jüdischen Volk und vom Judentum war die weitere Folge der Katastrophe des Jahres 70. Die christliche Gemeinde und Überlieferung stehen von jetzt ab scharf und eindeutig gegen die Juden, mit denen sich noch Jesus und die Apostelgemeinde eins gewußt haben. Alle Verkündigung und Niederschrift spricht jetzt von diesem Wandel. Die Spuren aller dieser Veränderungen führen zu einer deutlichen Scheidung des Ursprünglichen von dem nachträglich hinzugekommenen. „Manches in den Evangelien bietet das Bild eines Palimpsests, über die alte Kunde ist Neues gleichsam hinübergeschrieben worden. Aber im ganzen ist es doch möglich, zu dem Ursprünglichen hindurchzugelangen.“ Die gut gewählten Beispiele und die Ergänzungen durch die Wiedergabe der ursprünglichen Stücke aus den neutestamentlichen „Begebenheiten“ sowie aus den Sprüchen und Gleichnissen runden Baecks neues, überaus dicht und prägnant gearbeitetes Evangeliumbuch zu einem wissenschaftlichen kleinen Wunderwerk und zur besten Einführung in klassische Urkunden unserer jüdischen Geschichte ab.

9. „Verantwortung“. Zu einem neuen Buch von Martin Buber Martin Buber: Die Frage an den Einzelnen. Berlin, Schocken-Verlag 1936. 124 Seiten. Es soll versucht werden, die neuen „ungeläufigen“ Gedankengänge Martin Bubers über richtig und falsch verstandenen Individualismus in die „Geläufigkeit“ unseres täglichen Sprechens und Denkens zurückzuverwandeln. Aufs peinlichste müssen dabei die Gefahren der Trivialisierung und „gemeinverständlichen“ Vereinfachung auf Kosten der gedanklichen Strenge vermieden werden. Das Strenge und Befremdende entspringt gerade hier am allerwenigsten einer ergrübelten und überspitzen, privaten Eigenbrötelei oder gar einer literatenhaften Manier des Wortestellens und Wohlklanges. Der Meister des Wortes schöpft aus den Untiefen der Sprache noch das Letzte des Ausdrückbaren. Es geht Buber um das Durchdenken des Begriffs und der Konsequenz zur Verantwortung im harten Sinn des Wortes, also um das Gewissen. Pascal, Augustin, Kierkegaard wird hier auf den Grund gesehen. Rückzug von der Welt ist uns nicht mehr gestattet. Das „Erzgebot“ lautet: Den Kampf um die Wahrheit, um das richtige Handeln im Gewissen immer wieder kämpfen und sich ihm nicht durch die Flucht in ein schützendes „Ein-für-allemal“ entziehen. Diese Flucht ist heute im allgemeinen Anschluß an eine politische, weltanschauliche, religiöse Gruppe. Ist der Anschluß erfolgt, „dann ist alles endgültig geordnet, die Zeit des Sich-entscheidens ist vorüber. Man braucht fortan nichts anderes zu tun, als die Bewegung der Gruppe mitzumachen. Nie mehr steht man am Kreuzweg, nie mehr hat man unter den möglichen Handlungen die rechte zu erwählen; es ist entschieden.“ Innerhalb der menschlichen Beziehung zu Gott bedeutet nach Buber ein solcher Rückzug aus der Verantwortung den „Sturz aus dem Glauben“, seinen faktischen Sturz, „wie laut und nachdrücklich auch er ihn nicht bloß mit dem Munde, sondern sogar mit der die innerste Wirklichkeit überschreienden Seele selber fortbekennt.“ Die Forderung des immer neuen Vollzugs des Glaubens und der unverkürzten „totalen“ Einverleibung dieses Glaubens in das gelebte Leben liefe, wenn man es ernst damit meint, beim Durchschnittseinzelnen, mit dessen Mitgliedschaft die historisch entwickelte Religionsgemeinschaft rechnen muß, auf einen sang- und klanglosen Abfall von der „Kirche“ oder „Synagoge“ hinaus. Die Verkürzung der Forderung dagegen hält unsere Gemeinden aufrecht. Trotzdem bleibt das an den Einzelnen gerichtete „Alles oder nichts“ im Grunde der einzig mögliche Befehl; aber wenn ich wirklich das, „was

9. „Verantwortung“. Zu einem neuen Buch von Martin Buber

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Gott von mir für diese Stunde verlangt“, immer erst in dieser Stunde, und nicht eher, erfahre, so bleibt kein Platz mehr für die Unverbrüchlichkeit der religiösen Pflichtenlehre im Judentum. Die Gewißheit, die durch ein immer waches Gewissen erzeugt wird, kann in der Tat nur eine personenhafte sein und ist sicherlich eine höchst „ungewisse Gewißheit“. Buber sagt nicht mehr und nicht weniger, als „daß der Einzelne, d. h. der verantwortlich Lebende, auch seine politischen Entscheidungen jeweils nur von jenem Grunde seines Daseins aus, an dem er des Geschehens als der göttlichen Rede an ihn inne wird, rechtmäßig vollziehen kann, und daß er, wenn er diese Gewärtigkeit des Grundes sich von seiner Gruppe abschnüren läßt, Gott die aktuale Erwiderung verweigert.“ Die Raubtier-These Spenglers und seiner Vorgänger sieht Buber als eine Verleugnung der menschlichen Wesenheit und als eine Verfälschung der menschlichen Geschichte. Der Unterscheidung von Freund und Feind als Kriterium des Politischen, dessen richtig verstandenes Wesen doch die Gerechtigkeit und dessen Ziel der Friede ist, will Buber einen methodischen Irrtum nachweisen. Wofür die FreundFeind-Theorie und der Satz „Macht geht vor Recht“ der Ausdruck ist, kann mittlerweile keinem klaren Kopf entgangen sein. Der Staat als sichtbare Form der Autorität erweist sich als eingesetzte Macht und Verantwortung. „Das Alte Testament weiß in Geschichten von Königen Israels und in Geschichten von Fremdherrschern von der Abartung der Rechtmäßigkeit in Unrechtmäßigkeit und der Vollmacht in Widermacht zu berichten. Wie kein staatsphilosophischer, so führt auch kein staatstheologischer Begriff über die Glaubenswirklichkeit der menschlichen Person und ihrer, sei es Knecht, sei es Kaiser, Verantwortung für das öffentliche Wesen von Mensch zu Gott hinweg.“ Die Person ist durch die fortschreitende Kollektivierung in Frage gestellt; ebenso ist die Wahrheit dadurch in Frage gestellt, daß sie politisiert wird. Für die geborenen Einzelgänger und ewigen Wahrheitssucher eine unheimliche Situation! Buber kommt gegenüber der Relativierung des Wahrheitsbegriffs durch die „Soziologie des Wissens“ zu der entscheidenden Erkenntnis, daß die Kraft des echten Wahrheitsstrebens des mit der Gesamtheit seines Wesens erkennen wollenden Einzelnen die „ideologischen“ Bande seines sozialen Soseins an entscheidenden Punkten sprengen kann. Die Lähmung des menschlichen Werbens um die reine Wahrheit hat – man muß es gestehen – mit der Zersetzung des menschlichen Glaubens durch die bekannten „wissensoziologischen“ Deduktionen von Scheler und Mannheim angefangen. Nun will man die Geister zurückrufen: „Not tut der Glaube des Menschen an die Wahrheit als an das sie alle gemeinsam Tragende, in sich Unzugängliche, aber dem real um die Wahrheit Werbenden sich im Faktum der bewahrungsbereiten Verantwortung Erschließende.“ Das neue Buch von Buber ist gegen das Phantom des „Kollektivs“, gegen die Zersetzung des Wahrheitsbegriffs und gegen den Machiavellismus gerichtet. Geläuterte Einsichten, gereifte Erkenntnisse, die klarste und in die Tiefen der Ursachen dringende Übersicht der Verwirrungen, Täuschungen und Irrtümer der gegenwärtigen Menschheit, endlich der Einblick in unsere eigenen Illusionen und Fehlgänge

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

machen diesen Traktat über die Verantwortung jenseits der Tagesfragen zu einem Zeitbuch, das die denkbar durchdachtesten Antworten auf die großen Hauptfragen unseres scheinbar ausweglosen geistigen Daseins gibt. Die ernsten Forderungen, die das ungewöhnliche Buch an jeden Einzelnen in unserer Mitte stellt, können nicht überhört werden.

10. Martin Buber – sein Leben und Werk. Zum 60. Geburtstage am 8. Februar I. Geburtsjahr und Geburtsort zeichnen sich in dem imponierenden Lebenswerk Martin Bubers, das man seit 1900 vollkommen deutlich – geradezu aktenmäßig – verfolgen kann, unverwischbar ab. Aber dieser menschlichen, jüdischen und literarischen Arbeit könnte man annähernd nur gerecht werden, wenn es gelänge, die Überwindung jener Daten – „Wien“ und „1878“ – zum Hauptthema einer Beschreibung des Ganges von Martin Buber, seit den 90er Jahren bis heute, zu machen. Nichts ist so unzureichend und unzulänglich für ein solches Unternehmen als ein Zeitungsaufsatz. Jenen Weg heute „angemessen“ nachzuzeichnen, angemessen einem Leben, dem zartester Takt und kritischer Aussagewille Ein- und Ausatmen ist, hieße eine kompendiöse Zeit- und Sprachkritik des letzten Menschenalters schreiben. Buber hat im Übrigen bereits so kongeniale Biographen und Deuter gefunden, daß nur durch Distanzierung und Selbstauflösung1 des Geschichtsschreibers ein Bild dieses verschlungenen und verzweigten Lebens- und Gedankenweges geboten werden könnte, wobei auch von dem Versteckspiel des Wortes zwischen dem, was es einerseits ausdrücken will und dem, was es andererseits gegen seinen Willen offenbart, die Rede sein müßte. Die eiskalte Antwort auf die Frage, was nun eigentlich wirklich hinter diesem unablässigen Äußerungswillen steckt, der sich vor uns aufbaut, in einer erstaunlichen Reihe sprachmächtiger, gedankenreicher und systematischer Bücher – darunter Kostbarkeiten des sprachlichen Ausdrucks und des präzisen Gedankenaufbaus – diese Antwort hier zu geben, kann nicht die heutige Aufgabe sein. Martin Buber hat vor zwanzig Jahren in unnachahmlicher Schlichtheit und zugleich edler sprachlicher Geprägtheit von seinen frühsten Jugendtagen in Wien und in Galizien, von seiner flüchtigen, bald wieder ins Unbewußte entgleitenden Begegnung mit der chassidischen Welt und von dem Haus seines Großvaters Salomon Buber, des Midraschforschers, erzählt. („Mein Weg zum Chassidismus“, jetzt wieder abgedruckt in der schönen Sammlung „Die Chassidischen Bücher“). Er sah damals diese Welt, in die er später so tief eindrang, von der Höhe des vernunftbegabten2 Menschen und wurde früh dem ganzen Judentum entfremdet. „Bald nachdem 1 Feuchtwanger hat sein Exemplar korrigiert. Die nachfolgenden Korrekturen stammen von seiner Hand. Statt „Selbstauflösung“ muss es heißen „Selbstauslöschung“. 2 Statt „Vernunftbegabten“ lies „vernunftstolzen“

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

ich das großväterliche Haus verließ – Salomon Buber machte sich keine Gedanken über das Judentum, aber er hatte das Judentum selber in sich – nahm mich der Wirbel des Zeitalters hin.“ „Bis in mein zwanzigstes Jahr, in geringerem Maße auch noch darüber hinaus, war mein Geist in stetiger und vielfältiger Bewegung, in einem von mannigfaltigen Einflüssen bestimmten, immer neue Gestalten annehmenden Wechsel von Spannungen und Lösungen, aber ohne Zentrum und ohne wachsende Substanz: es war wahrhaftig der „Olam ha-Tohu“, die „Welt des Wirrsals“, die mythische Wohnstätte der schweifenden Seelen, worin ich lebte – in beweglicher Fülle des Geistes, aber wie ohne Judentum, so auch ohne Menschlichkeit und ohne die Gegenwart des Göttlichen.“ Die Wiederherstellung des Zusammenhangs und die Wiederverbindung mit dem Judentum kam dann wie bei so vielen an der Jahrhundertwende vom Zionismus. In den Blättern „Mein Weg zum Chassidismus“ ist dazu angemerkt: „Keiner bedarf der rettenden Verbindung mit einem Volkstum so sehr wie der vom geistigen Suchen ergriffene, vom Intellekt in die Lüfte entführte Jüngling; unter den Jünglingen dieser Art und dieses Schicksals aber keiner so sehr wie der jüdische. Die anderen bewahrt die von Jahrtausenden ererbte, zutiefst eingeborene Bindung an heimatliche Erde und volkstümliche Überlieferung vor der Auflösung; der Jude, auch der mit einem seit gestern erworbenen Naturgefühl und einem ausgebildeten Verständnis etwa für deutsche Volkskunst und Sitte, ist von ihr unmittelbar bedroht, ist ihr, wofern er nicht zu seiner Gemeinschaft heimfindet, preisgegeben. Und der blinkendste Reichtum an Intellektualität, die üppigste Scheinproduktivität (nur der Verbundene kann wahrhaft produktiv sein) vermögen den Aufgelösten nicht für die heiligen Insignien des Menschentums, Wurzelhaftigkeit, Verbundenheit, Ganzheit, zu entschädigen“. So schrieb Buber 1917. Dem gewöhnlichen Nationalismus und dem zionistischen Bekenntnis allein stand er von Anfang an meilenweit fern. Es kam ihm auf die Verwandlung der jüdischen Seele an. Aber damit greifen wir einer erst viel späteren Haltung Bubers weit vor. Er hat sich seit Begründung des modernen Zionismus mit Leidenschaft dem Kernstück des die alten religiösen Lebensordnungen ersetzenden „Nationalismus“, dem „Sacro egoismo“, seinem Ziel der Machtsteigerung und seinen Wegen der „Staatsraison“ eindeutig in aller Schärfe entgegengestemmt und – als Fortsetzer Achad Haams – statt des politischen Tatwillens und der sozial-wirtschaftlichen Forderungen eine kulturelle und geistige Wiedergeburt des jüdischen Volkes – das hieß zunächst im Jahre 1900 Förderung der jüdischen Literatur, Kunst und Wissenschaft – als das nähere Ziel angesehen. Erst lang nach 1900, seit seiner Wiederentdeckung der mystischen Strömung im Judentum, vor allem des Chassidismus, verläßt Buber sein Kultur- und Vernunftoptimismus; er läßt immer mehr das Ästhetisch-Literatenhafte hinter sich. So sehr er sich zeitlebens ein sich stets verfeinerndes Sprachempfinden und eine weite Aufgeschlossenheit für die verschiedenartigsten Kulturseelen, für die Tiefen und Formen religiöser Erlebnisse und Kultformen aller Zeiten und Länder bewahrt und später als Forscher auf dem Gebiet der vergleichenden Religionsgeschichte sich einen angesehenen Namen erworben hat, sein eigentliches leidenschaftliches Anliegen wird

10. Martin Buber – sein Leben und Werk

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nun das Judentum in Vergangenheit und Gegenwart. Er reift unbewehrt von Amt und Brot, aber auch unbewehrt3 von Talar und Kanzel, zum Erwecker und Lehrer der Judenheit in Deutschland.

II.4 Jahrzehnte ging bei Buber die schmucklose unsichtbare Tag- und Nachtarbeit des Gelehrten auf weitgestreckten und abgelegenen Gebieten neben der literarischen Arbeit einher. Dazu der praktische Dienst als Redner und Lehrer! Es kann hier der enge Zusammenhang seiner gereiften Erkenntnis des Judentums, die er von seinem Studium des Chassidismus aus gewonnen hat, mit seinen allgemeinen philosophischen Einsichten von Gott und Welt nicht gezeigt werden. Die eigentümliche Verbindung neukantianischer Elemente mit einer irrationalistischen Metaphysik läuft bei Buber auf die Wiederentdeckung eines einzigen überweltlichen Gottes als einer fremden und völlig „andersartigen Wirklichkeit hinaus, die mit der Welt und Israel eine einmalige geschichtliche Schicksalsgemeinschaft sich „selbst“ gewählt hat. Hier liegen die größten Schwierigkeiten der religionsphilosophischen Ideen Martin Bubers. Er wird der Mehrzahl ehrlicher Juden seine Lehre vom Weltgeschehen als von der Zwiesprache zwischen Gott und Menschheit sowie von der Weltgeschichte als des eigenen selbstgewollten göttlichen Schicksals trotz der Eindringlichkeit und Sicherheit aller sprachlichen Deduktionen nicht näher bringen können. Umso nachhaltiger haben seine großartigen Deutungen des Judentums von 1911 – 1919 bis heute nachgewirkt, mit dem Ergebnis, daß in der Gegenwart überall wo uns besonnene und wahrhaft geklärte Anschauungen über den Sinn unserer jüdischen Existenz entgegentreten, die alte Zerspaltenheit in orthodoxe, liberale und zionistische Richtungen in Wahrheit überwunden ist. Zuerst der Zionismus: „Bubers jüdischer Nationalismus stellt neben dem Romain Rollands und Rabindranath Tagores eine der reinen Formen des sittlich-menschlichen Nationalismus dar.“ Der Sicherung durch überkommene Vorschriften in der Orthodoxie setzt er die Entscheidung aus tiefstem jüdischen Wesensgrunde, „die Ergriffenheit des ganzen Menschen in dem auf Gott gerichteten und gesammelten Dienste jeder Handlung“ gegenüber. In dem „Wort an die Juden und an die Völker“, der siebenten und letzten großen Rede aus dem Jahre 1918 über das Judentum (unter dem Titel „Der heilige Weg“ 1919 erschienen) wird weithallend den Gesetzestreuen geantwortet, mit der feierlichen Eröffnung: „Wir ehren das Gesetz, die von ehrwürdigen Mächten geschmiedete Rüstung des Volkstums“. Der religiöse Liberalismus eines Moritz Lazarus wird gewogen und zu leicht befunden. In der Epoche des Weltkriegs reift Bubers religiöses Gemeinschaftsgefühl. Er sieht nach den Ereignissen der Jahre 1917 bis 1922 einen neuen Weg des Zionismus. 1927 lässt er sich darüber im Heiligen Lande aus: Lies „unbeschwert“ statt unbewehrt Die im Druck erschienene Überschrift „Deuter des Chassidismus“ ist als „Falsche Überschrift“ gestrichen worden. 3 4

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„Der Zionismus hat in seiner modernen Form drei Stufen durchlaufen. Zuerst war er politischer Staatszionismus. Dann wandelte er sich zum Kulturzionismus. Beide aber waren von der Wirklichkeit absehend Zwecksetzungen, die schaffen wollten, was geschichtlich oder organisch entsteht. Nun muß der Zionismus zu Wirklichkeits-Zionismus werden, zu demütiger Hingabe an dieses Land mit seinen Problemen … Es gilt den Dienst am Aufbau des Landes, ohne danach zu fragen, was daraus werden soll … Palästina soll kein Judenstaat werden, wie der politische Zionismus glaubt, auch kein kulturelles ausstrahlendes Zentrum, wie der Kulturzionismus erhofft hat, sondern eine Lebenswirklichkeit des Judentums, das in seiner Gänze an Palästina teilnimmt; durch das Leben im Lande und durch die Werkverbundenheit von der Diaspora aus … So wird das einzigartige Aufeinanderangewiesensein von Volk und Land aus innerer Lebenssehnsucht zu innerlich durchglühtem Lebenswerk für die gesamte jüdische Gemeinschaft werden: eine neue gemeinsame Wirklichkeit Israels, ein gemeinsames Werk aller Juden, ein Werk von Geschlecht zu Geschlecht, das die historische Kontinuität der dreitausend Jahre fortführt“.

III. Die Bibel, „der biblische Glaube“, das Geheimnis des Phänomens der Sprache, Geschichte und Soziologie der Religionen der Menschheit, in den letzten fünf Jahren eine intensive jüdische Erziehungsarbeit haben Bubers erstaunliche Energie in seinem sechsten Lebensjahrzehnt voll in Anspruch genommen. Das große Übersetzungswerk der heiligen Schrift liegt jetzt zum größten Teil in 15 Bänden bis zu dem eben erschienenen „Buch der Gleichsprüche“ (Mischle) vor. Über die Absichten und Aufgaben der neuen Schriftverdeutschung gibt eine reiche Sammlung von Aufsätzen der beiden Übersetzer Buber und Rosenzweig Rechenschaft. In dieser Aufsatzreihe „Die Schrift und ihre Verdeutschung“ (1936) ist ein sprachphilosophischer und sprachwissenschaftlicher Schatz verborgen. Wer diese gewichtigen Abhandlungen – z. B. über den Leitwortstil in der Erzählung des Pentateuchs oder zur Verdeutschung der „Preisungen“ – nicht ganz in sich aufgenommen hat, weiß nichts von dem Sachverhalt und von den Zielen der Buber’schen Bibelübersetzung, die heute zu den unentbehrlichsten Kommentaren der Heiligen Schrift zählt. Die Bibel ist für Buber keine Urkunde wie ein anderer zu interpretierender antiker Text, sondern Urkunde der wahren Geschichte der Welt. „Sie fordert von der menschlichen Person, in diese wahre Geschichte das eigne Leben einzubetten, so daß ich im Ursprung der Welt meinen Ursprung und in ihrem Ziel mein Ziel finde. … Die Schrift, Urkunde der Geschichte einer Welt, die zwischen Schöpfung und Erlösung schwingt, einer Welt, der in ihrer Geschichte Offenbarung widerfährt, – eine Offenbarung, die mir widerfährt, wenn ich da bin: von hier aus verstehen wir den Widerstand des heutigen Menschen, als einen Widerstand seines Wesens.“ Ohne Verständnis für diese religiöse Geschichtsanschauung wird man trotz der feinsten sprachwissenschaftlichen und religionsgeschichtlichen kritischen Sonde, die hier der Verfasser souverän handhabt, dem ersten zusammenhängenden größeren bibel-

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wissenschaftlichen Werk, das Buber im Jahre 1932 vorgelegt hat: „Königtum Gottes“, nicht gerecht werden können. Das Thema, das hier unter umfassender Beherrschung des religionsgeschichtlichen und archäologischen Materials behandelt wird, gehört zu dem Fragenbereich der Entstehung des Messianismus. In acht Kapiteln erweist Buber in dem Band für die Frühzeit Israels die Glaubensvorstellung eines Volkskönigtums Gottes als eine aktuell-geschichtliche im Gegensatz zu der bisher herrschenden wissenschaftlichen Auffassung einer fremden Herkunft der Messiashoffnung. Der Weg des heute Sechzigjährigen vom aufgeklärten, kulturstolzen Aestheten und Sprachkünstler zum ethischen Mystiker, der Aufstieg und die Konzentration zum Forscher der Religionswissenschaft und zum Erneuerer eines im Vorsatz geeinten und vertieften Judentums ist begleitet von unendlich beziehungsreichen Nebenwegen zu allen Bezirken des europäischen Kultur- und Geisteslebens. Aber diese Seitenpfade – von Buber nie spielerisch oder dilettantisch, sondern mit der ganzen Energie seiner arbeitsfrohen, die Hauptsache sehenden Persönlichkeit begangen – münden immer wieder in die Hauptstraße seiner „Judentumsforschung“ und jüdischen Erziehungsarbeit. Martin Bubers Wirken in den letzten fünf Jahren für die Judenheit in Deutschland, die Fortschritte seiner bibelwissenschaftlichen Arbeiten, vor allem seine umfassende, planmäßige pädagogische Leistung, der Jugend und den Erwachsenen das strenge Textwort der Bibel nahezubringen und so einen fundierten Zugang zu einer erfüllten jüdischen Existenz zu suchen, das alles steht auf einem besonderen Blatt. Aber diese praktische und still forschende Tätigkeit in der Studierstube wird bei Buber in fast rhythmischen Intervallen begleitet von seinem Sichgedrängtfühlen, die Judenheit seiner engeren und weiteren Umgebung aufzurütteln. Dieser Drang zum pathetischen Anruf an das Gewissen des einzelnen, vor der Fürsorge und vor aller politischen und sozialen Sorge, ist zuletzt am kraftvollsten und nachhaltigsten in der Schrift „Die Frage an den Einzelnen“ (1936) hervorgebrochen. Der Sprecher jener sieben Reden über das Judentum kann sich nicht verleugnen. Aber wie ist er gewachsen! Man müßte jeden Satz aus diesem wichtigsten jüdischen Buch der letzten zwei Jahre neu unterstreichen. Das „Erzgebot“ Bubers lautet (in dem Aussprechen dieses Gebots hat er sich nicht „gewandelt“): Der Kampf um die Wahrheit, um das richtige Handeln im Gewissen, ist immer wieder zu kämpfen; man darf sich ihn nicht durch die Flucht in ein schützendes „Ein-für-allemal“ – in Wirklichkeit eine Denkträgheit und Herzensverhärtung – ersparen. Die „Religion“ und die „Gewissenhaftigkeit“ sind keine geordneten Neben- oder Unterabteilungen unseres Lebens. In dem genannten Buch „Die Frage an den Einzelnen“ ist nach innen und außen für jedermann, der noch anredbar ist, das Nötige unmissverständlich gesagt. Dieses Buch ist unter anderen auch gegen den Wahn des „Kollektivs“ und gegen die Zersetzung des Wahrheitsbegriffs gerichtet. Der Anruf aus dem Jahre 1919 „Was ist zu tun?“ ist darin wiederholt und erweist sich als unvermindert gültig und gewichtig, ebenso wie der Traktat aus dem Jahre 1930 „Die Politik und wir“ über das ewige Auseinanderklaffen von politischem Erfolg und religiös-ethischer Haltung. Die pä-

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dagogisch-praktische und die spekulativ-philosophische Provinz im Schaffen Martin Bubers in den letzten drei Jahrzehnten sind in Wahrheit ein umfassendes einheitliches Gebiet. Darin zu reisen und Entdeckungen zu machen, das Gefühl des Betroffenseins dabei zu bekommen, kann als ein nicht zu verachtendes Heilmittel in unseren wahrlich großen Gegenwartsnöten nicht angelegentlich genug empfohlen werden. Diese nüchterne Empfehlung reicht nicht annähernd heran an die uns heute aus dem Herzen dringende Dankbarkeit, die jeder Wissende und Verantwortliche in unserer Mitte dem Meister der Sprache, dem Forscher und Erzieher Martin Buber ohne Einschränkung schuldet. Bis zum Jahre 1930 ist das gesamte ungewöhnlich weitverzweigte Schrifttum Bubers und über ihn in der Biographie von Hans Kohn: Martin Buber – Sein Werk und seine Zeit, ein Versuch über Religion und Politik (1930; Schocken-Verlag) verzeichnet. – Die Hauptschriften Bubers sind jetzt im Schocken-Verlag vereinigt; die wichtigsten Stücke der letzten Jahre (außer der 15bändigen Bibelübersetzung) sind: A. Chassidismus und Mystik: 1. Der Große Maggid und seine Nachfolge; 1937. 2. Die Legende des Baalschem; 1932. 3. Die chassidischen Bücher; 1928. 4. Deutung des Chassidismus; 1935. B. Deutung des Judentums: 1. Kampf um Israel; 1933 (Reden und Schriften 1921–1932). 2. Die Stunde und die Erkenntnis; 1936 (Reden und Aufsätze 1933–1935). 3. Die Frage an den Einzelnen; 1936. 4. Zion als Ziel und Aufgabe; 1936. C. Bibel: 1. Königtum Gottes; 2., erw. Aufl. 1936. 2. Die Schrift und ihre Verdeutschung; 1936.

11. Die Sprache als Schicksal und Aufgabe im jüdischen Lebenskreis Daß das Wort als Mittel der Gemeinschaft mehr als der Gedanke, der einsame Geist, die Menschen zueinander führt, ist oft ausgesprochen worden. Das trifft für das Wort in allen Sprachen zu. Denn die Sprache überhaupt und jede besondere Sprache verkörpert eine übernationale, über ihren Geltungsbereich hinausreichende universelle Sinngemeinschaft. Es liegt im Wesen jeder Sprache, daß sie – wenn auch oft unentfaltet – jedem Erlebnis und jeder Verständigung gewachsen ist, in dem Sinn, daß sie auf irgendeine Weise zum Ausdruck jedes Willens, jedes Gedankens, jedes Gefühls, wo es sich regt, befähigt ist und darauf hindrängt. Keiner Sprache, auch der primitivsten nicht, bleibt irgendein Sinn grundsätzlich unausdrückbar. Gegenüber der menschenverbindenden Funktion der Sprache, jener „gewissen Einerleiheit zwischen allen Sprachen“, scheint das Trennende der verschiedenen Sprachen zu verblassen, von denen jede nicht nur eine Welt für sich ist, sondern eine eigene Welt in und aus sich erschafft. Doch die Verschiedenheit der Sprachen besteht, und nicht bloß in einer Andersartigkeit der Schälle und Laute, der Grammatik und des Wortschatzes, sondern in einer anderen Art des Sehens und Ordnens der Erfahrungswelt. Die verschiedenen Idiome bilden die natürliche Scheidewand der Völker und Länder. Da indes eine Sprache keine Größe aus der Ordnung der Natur, sondern eine Erscheinungsform des Geistes ist, spricht hier nicht, wie bei der Abstammung und der biologischen Beschaffenheit, eine undurchbrechbare Schicksalsmacht ihr Machtwort. Es gibt einen Wechsel der Sprachgemeinschaft, so beschränkt die freie Wahl des Einzelnen sein mag, sich die Sprache, in welcher man denkt und fühlt, herauszusuchen und sie mit einer anderen zu vertauschen. Sich klar werden über die Grenzen, welche die Muttersprache und das Hineingeborenwerden in eine Sprachgemeinschaft dem Einzelschicksal und dem Volksschicksal setzen, und gleichzeitig eine Vorstellung gewinnen von der Erschließbarkeit der Welt des Geistigen und des Fremdseelischen durch das Instrument der „fremden“ Sprache, heißt in der Sprache ein doppeldeutiges Phänomen im Schichtenbau des menschlichen Lebens erkennen: Die Sprache prägt Weltbild und Denkweise einer Gruppe; mittels der Sprache vermögen wir aber auch die natürlichen Schranken der voneinander getrennten Völker oder biologisch unterscheidbaren Menschengruppen durch Verständigung, durch Verstehen zu durchbrechen. Die Sprache ist Schicksal und Aufgabe in einem. Im jüdischen Lebenskreis lag und liegt in der Sprachenfrage ein eigentümliches Erkennungszeichen der jüdischen Besonderheit und Andersartigkeit. Immer wieder

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

werden die Stimmen derjenigen laut, die über eine „Fremdheit“ in dem lebendigen Hebräisch, das in Palästina gesprochen wird, bitter klagen. Sie meinen damit, das hebräische Wort fordere den hebräischen Gedanken, während die meisten, die sich heute des Hebräischen zum Umgang im Heiligen Land bedienen, ein aus anderen Sprachen übersetztes und dadurch verarmtes, volapükmäßiges Hebräisch sprechen. Bialik selbst hat sich darüber ausführlich und anklagend ausgelassen: ,,Es ist ein Geschlecht von Ignoranten und Amhaarazim, das wir hier heranwachsen sehen. Sie verstehen Hebräisch zu schwätzen, „Hedad“ zu schreien, hebräische Lieder zu singen und von Erez-Jisrael zu träumen, jedoch die hebräische Sprache kennen sie nicht richtig. … Dieses junge Geschlecht hat die Grundlage der Sprache aus den Quellen, aus Bibel, Midrasch, Gemara nicht erlernt.“ Auch andere große Kenner der hebräischen Sprache, z. B. J. Abramowitz (Mendele Mocher Sforim) vermissen den hebräischen Geist in dem Gebrauchshebräisch des Alltags und der Zeitungen. Wir wissen, daß sich hierin durch das still wirkende Beispiel guter Erzieher, die wie Bialik, Mendele und viele andere das Sprachgewissen der hebräisch Sprechenden und Schreibenden geschärft haben, vieles heute gebessert hat. Es ist kein Zweifel: Die Sprachen – besonders das Hebräische – sind durch und durch Geschichte, das heißt Überlieferung. In der echten Sprache, in der man denkt und spricht, in der Muttersprache, weiß der Sprechende selbst sich traditions- und geschichtsgebunden; von ihr gilt, daß sie „für ihn denkt“. Sie denkt für ihn, weil er in ihr denkt. Das Hebräisch einer Generation des Übergangs und der Doppelsprachigkeit ist aber leider der außerhalb der Geschichte stehenden künstlichen Gemeinsprache, dem Esperanto oder Volapük, in manchem nicht unähnlich. Wie diese Idiome ist jenes Neuhebräisch im Grunde Produkt einer Übersetzung, point d’honneur in Erez-Israel, recht eigentlich jedoch nur sprachliches Verständigungsmittel, hinter welchem die Muttersprachen der Sprechenden, etwa die polnische, jiddische, deutsche Sprache deutlich hörbar sind. So löst sich die paradoxe Erscheinung auf: Als „tote“ Sprache – wie das Lateinische oder Altgriechische – bleibt bei vielen guten hebräischen Philologen und Religiösen unter uns das alte klassische Hebräisch der Bibel und das nachbiblische „Neuhebräisch“ (etwa der Mischna) Träger eines wenn auch vergangenen Lebens, noch heute das höchst zeugungskräftige Glied eines System der Sprachenverwandtschaft, einer großen alten Kultur und einer imponierenden geschlossenen Lebensordnung. Das Esperanto-Hebräisch des traditionsabgewandten Palästina-Einwanderers teilt dagegen mit der künstlichen Gemeinsprache deren Starrheit und Ausdrucksarmut, aus welcher die Erlösung erst durch eine Rückkehr in die Muttersprache kommt, wenn nicht eine bewußte unablässige Weiterbildung und gute Spracherzieher den toten Punkt überwinden helfen. Im Falle des in Palästina hebräisch Sprechenden mit einer nicht-hebräischen Muttersprache wird das innere Wesen der Sprache, die ja viel mehr als ein Instrument der Mitteilung und Mittel der äußeren Verständigung ist, besonders klar. Durch die Sprache, in die wir hineingeboren werden, gliedern wir uns der Überlieferung einer sprachlichen Verständigungsgemeinschaft stillschweigend und von selbst ein und

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werden, ob wir wollen oder nicht, zum Mitträger dieser Überlieferung. Wir wollen handeln und denken in ihr; wir haben unter den Sprachindividuen unsere Muttersprache nicht gewählt. Aber wenn wir auch mit einer unverbrüchlichen Naturgesetzlichkeit von der Geburt her in einer bestimmten Sprache und damit in einer mit der Sprache unmittelbar gegebenen Weltanschauung denken und sprechen, so bleibt uns doch hier ein hohes Maß der Wahlfreiheit, andere Sprachen später zu erlernen und weit über die bloße Verständigung es bis zum Denken in der neuen Sprache zu bringen. Eine unmittelbare Erfahrung und schmerzliches Erlebnis von vielen Gebildeten unter uns in diesen Jahren war es, daß sie sich im Lesen einer fremden Sprache mit großer Sicherheit zurechtfanden, während das Sprechen und Hören dahinter zurückblieb und kaum mehr zum Fließen gebracht werden konnte. Andere wieder haben erlebt, daß ihnen nach Herkunft und Neigung die hebräische Sprache der Bibel und des religiösen Gebrauchs im Ohr lag, ja im Lesen und Vorlesen ihre unverminderte Leuchtkraft und die Schallfülle der Vox humana beibehielt, während die praktische Verwendung im Alltag – etwa auf einer Palästinareise – ein Stümpern blieb. Es ist nicht neu, daß die verstandesmäßige Beherrschung einer zweiten Sprache, ja die Fertigkeit, sich spontan darin auszudrücken, an die Vollkommenheit der Muttersprache nicht nur nicht heranreicht, sondern zeitlebens nur äußeres Herrschaftsmittel der Verständigung und klaren Mitteilung bleibt, nie zum Gedanken-, Willens- und Gefühlsträger wird. Beim lebendigen Gebrauch einer „fremden“ Sprache im religiösen Bereich – die Hauptbeispiele sind das Hebräische und das Kirchenlateinisch – verhält es sich indes ganz anders. Aus dem Lesen und Hören eines alten hebräischen Textes mag einem von selbst der exakte Sinn und der beziehungsreiche Klang in Kopf und Herz strömen, so selbstverständlich fließend, wie wenn das Auge den Zeilen einer muttersprachlichen Schrift entlang eilte oder das Ohr ein vertrautes Lied hörte; und derselbe intime Kenner und Liebende der hebräischen Sprache kann versagen, wenn er hebräisch praktisch sprechen oder hören soll. Wie der katholische Klerus die Gebete und liturgischen Formeln lateinisch spricht und die Kundgebungen der höheren kirchlichen Instanzen in dieser Sprache abgefaßt werden, so war im geschlossenen jüdischen Lebenskreis früherer Zeiten, ohne Anwartschaft auf ein rabbinisches oder lehrmäßiges Amt, die Kenntnis der hebräischen Sprache neben der Muttersprache eine unumgängliche Voraussetzung jüdischen Lebens. Kenntnis der Mutter- und Umgangssprache und Kenntnis der heiligen Sprache trugen und tragen dabei eine total verschiedene Weise des Kennens, dem Hergang und dem Sinne nach, in sich. Die heiligen Worte werden von solchen Kennern ebenso wenig als tote Formeln heruntergemurmelt, wie umgekehrt die profane Sprechweise in der Muttersprache von einem höheren Verständnis für Geist und Kultur in der Sprache getragen sein muß. Beide Male, in der lateinischen Kirchensprache wie in jenem Hebräisch, ist im Lernen und Beten die Sprache weder tot, noch fremd oder künstlich. Die hebräische Umgangssprache des russisch oder deutsch sprechenden Palästina-Einwanderers trägt dagegen oft krampfhafte Züge des Künstlichen, Starren, ja Fanatischen.

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

In Ländern mit verschiedenen Sprachen, besonders aber in Nationalitätenstaaten mit geschlossenen minderheitlichen Siedlungen ist es häufig zu einer eigenartigen Doppelsprachigkeit einiger Bevölkerungsteile und zum Auseinanderklaffen von Mutter- und Staatssprache gekommen, wobei die lebendige Sprache im religiösen Gebrauch als dritte Sprache eine durchaus nicht untergeordnete Rolle für sich weiterspielen kann. Die gut verstandene und gelernte Fremdsprache dringe im Vergleich zur Muttersprache nicht ins Herz, sagt man gewöhnlich. Der Sachverhalt ist nicht so einfach, wenn man die drei Begriffe Muttersprache – Fremdsprache – Religiöse Sondersprache in ihrem Tiefenausmaß voll erfaßt. Das Problem der Muttersprache, ihrer Einzigkeit und sonst unerreichbaren seelischen Kraft bleibt das Problem der Sprache überhaupt. Auch eine Mischsprache kann – das wissen wir aus der jüdischen Kultur- und Geistesgeschichte – zur Muttersprache werden, ein Idiom also, in welchem die Denk- und Gliederungsverhältnisse verschiedener Sprachen deutlich unterscheidbar sind. Aber zwei Muttersprachen kann es bei der gleichen Person nach dem Begriff der Muttersprache nicht geben. Das frühzeitige Erlernen einer oder mehrerer Fremdsprachen, besonders in Grenzländern, Streifen- und Randstaaten vielleicht durch eine Misch- als Muttersprache begünstigt – ist von dem einmaligen Sprechenlernen des Kindes scharf zu trennen. Sprechen-Lernen und Sprachen-Lernen sind grundverschiedene Hergänge. Die Muttersprache umfängt den sie Sprechenden als Schicksal ohne sein Zutun: auch Robinson oder Kaspar Hauser können ihm nicht entrinnen. Sprachenlernen ist und bleibt ein Übersetzen, Sprechenlernen ist das erste bestimmte Erkennen und Denken. Der Wiederanschluß an die alte, nie versunkene oder starr gewordene hebräische Sprache ist eine einzigartige Frage für sich, die auch völlig anders beantwortet werden muß als die Wiederbelebung toter Kultursprachen. Die tote Sprache ist in ihrer Art erstarrt; aber ihre Starrheit ist nicht von der Art des starren Systems einer erfundenen künstlichen Gemeinsprache wie das Esperanto. Die altgriechische oder aramäische Sprache ist immerhin Träger eines einmal erklungenen und voll gelebten Lebens. Als Glieder eines Systems der Sprachverwandtheit leben die klassischen toten Sprachen auf ihre Art, indem sie allein geschichtliche Vergangenheit bezeugen, ihre Wiederbelebung wäre zum Scheitern verurteilt, weil in ihnen ein gänzlich anderes für sich seiendes Leben abgeschlossen liegt; ihr unterbrochener geschichtlicher Zusammenhang, ihre historische Kontinuität kann nicht künstlich wiederhergestellt werden. Das Lateinische beispielsweise hat sich im Französischen, Italienischen, Spanischen, Englischen fortgesetzt und lebt gleichzeitig als Kirchensprache ein eigentümlich behütetes und konserviertes Leben für sich. Anders das Hebräische: hier gilt es nicht tote Gebeine mit Sehnen und Fleisch zu umkleiden. Die hebräische Sprache hat in doppelter Weise ein ununterbrochenes, starkes, vielen Aufgaben gewachsenes Leben geführt: im jüdischen Volkskörper seit Verlust der eigenen Staatlichkeit das Leben der Religion, die bis zur Emanzipation mehr als Ritus und Dogma Inhalt der jüdischen Lebensordnung war, und zweitens als lebendige Zwischenverbindung zwischen den Judenheiten der Diaspora in der weltweiten

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Zerstreuung in den mittelalterlichen Epochen des Ostens und Westens. Das weitere Schicksal der hebräischen Sprache ist dem jüdischen Geist der im alten jüdischen Land Sprechenden anvertraut und vom Schicksal des Landes selbst und seiner Kultur, die sich ja darin ausspricht, untrennbar. Daneben aber bleibt das Hebräisch der Diaspora, bei aller Befruchtung hinüber und herüber, in einer Eigenentwicklung, die in der Wiedergabe technischer Wendungen zurückbleibend, im Geistigen eines Tages desto bedeutsamer werden könnte. Doch wie dem auch sei, entscheidend für eine Sprache sind zuletzt immer die Menschen, die sich in ihr zum Ausdruck bringen und sie in sich zum Ausdruck durchringen. Haben sie Tiefes, Neues, Bedeutendes zu sagen, so schenkt es ihnen die Sprache, wie sie die Sprache wieder verfeinern und bereichern. Dem geistig Verstummenden aber wäre die herrlichste Sprache unnütz, leer und kalt – wie die Muskeln leben die Sprachen nur, wenn sie bewegt, benutzt, beansprucht werden. Tausende von Juden siedelten in den letzten Jahren in einen ihnen fremden Sprachbereich über. Aber aus Zwang und Plage des Lernens ist vielen von ihnen ein unschätzbarer Gewinn fürs Leben geworden. Sie entdeckten neue Länder, fühlten sich in das Denken und Fühlen anderer Völker ein und wurden so immer selbst bewußter. Viele, für welche die hebräische Sprache noch vor wenigen Jahren ein geheimes Grauen war, eine seltsam verdrängte Jugenderinnerung, ein Alpdruck, den man wegwischte, sind inzwischen zu Bewunderern und unablässig still lernenden Kennern der großartigen althebräischen Geschichte und der späteren spannenden jüdischen Verwandlungen geworden. Die Sprache kann also ein großes Mittel werden, uns das Schicksal bejahen, ja lieben zu lernen.

12. Zur Geschichtstheorie des jungen Graetz von 1846 Der in diesem Bändchen gebotene Neudruck der Skizze von Graetz „Die Konstruktion der jüdischen Geschichte“ entspricht dem Erstdruck in der von Zacharias Frankel herausgegebenen „Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums“ (im 3., letzten, Jahrgang 1846 auf den Seiten 81 – 97; 121 – 132; 361 – 381; 413 – 421)1. Diese Publikationsstelle und der Herausgeber Frankel sind für den Standort der jüdischen Geschichtstheorie des jungen, damals neunundzwanzigjährigen Graetz charakteristisch. Die 1844 gegründete Zeitschrift hatte sich als Aufgabe vorgenommen, „das Judentum nach seiner religiösen Seite zu beleuchten und die Lösung der Frage, wie nicht aus einer zerstörenden, niederreißenden Reform, sondern aus der Lehre des Judentums selbst die Fortentwicklung desselben hervorgehen müsse, zum Bewußtsein zu bringen.“ Die drei Jahrgänge, die 1844 bis 1846 erschienen sind, bezeugen einen prächtigen Elan des positiv-historischen Judentums gegen „Reform“ und „Orthodoxie“, die Beiträge ein tiefes von der Wurzel her erworbenes jüdisches Wissen, in moderner Methode dargestellt, ohne historischphilologisches Spezialitätentum. Aber Zacharias Frankel mußte nach dem dritten Jahrgang, der noch Graetzens „Geschichtskonstruktion“ bringen konnte, den Versuch aufgeben, ein einheitliches konservatives Judentum zu schaffen, der jüdischen Gesamtheit „eine Vertretung ihrer geheiligten religiösen Interessen zu zeigen, die mit Mäßigung beginne und fortschreite, die erhalten und mit religiösem Ernst, fern von Starrheit, wie von verwerflichem Leichtsinn, auftreten wolle“. Eine solche Gesinnung, die auch Graetz teilte, mußte in Deutschland von der Mitte des Jahrhunderts der Materialisierung, dem „Aufstieg“ und der religiösen Gleichgültigkeit der jüdischen Massen weichen: das deutsche Judentum klaffte endgültig in zwei Konfessionen auseinander, zwischen denen eine indifferente Überzahl kein höheres Ideal kannte als Koryphäen der Industrie und des Kommerzes, der Advokatur und der Medizin zu werden, und rasch entjudete. Die extremen Flügel, Reform und Orthodoxie, schlossen sich streng voneinander ab und gerieten gegenseitig außer Fühlung. Frankel und Graetz wandten sich rein gelehrten Arbeiten zu. Die Skizze von Graetz ist mehr als eine interessante geschichtsphilosophische Konstruktion: mit ihr nimmt der Versuch, das Judentum bei uns nach der Emanzipation noch einmal religiös-konservativ zu einigen, ein Ende. In der Skizze ist aber gleichzeitig auch der Anfang einer bestimmten Art des historischen jüdischen Selbstverständnisses gelegen, die sich von dem auf viel selbstsichereren Füßen stehenden jüdischen Bewußtsein des objektiven „judentümlichen“ Geistes in der ersten 1

Die weggelassene Anmerkung enthält lediglich Druckhinweise.

12. Zur Geschichtstheorie des jungen Graetz von 1846

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Jahrhunderthälfte sichtbar abhebt. Die „Konstruktion“ ist das Programm der elfbändigen, 1853 bis 1876 erschienenen „Geschichte der Juden“ von Graetz, die von der vorangegangenen Ideenbegründung entscheidend abweicht und in der früher eindeutigen Selbstverständlichkeit des jüdischen Selbstbewußtseins unsicher geworden ist. Aus den flackernden Angriffen, die in dem großen Geschichtswerk so oft gegen „Mittelalter“, gegen außer- und innerjüdischen „Fanatismus“, gegen die großen mystischen Strömungen im Judentum aller Epochen, gegen den „Talmudismus“, der 1846 noch so verständnisvoll gedeutet wurde, ausbrechen, ist der Geist der JostHegel-Rankeschen Schulung (vom Geist des Lehrers S. R.Hirsch nicht zu reden) gewichen, während die Prolegomena noch davon erfüllt sind. Läßt man heute die alten Gegner des großen Graetzschen Geschichtswerks, die jüdischen und nicht-jüdischen, die es religiös oder aus rein wissenschaftlichen Gründen ablehnten, an sich vorüberziehen, so ist man überrascht über die Verschiedenartigkeit der Voraussetzungen, von denen aus die scharfen Ablehnungen kamen; sie kamen von S. R. Hirsch und von Abraham Geiger, von Steinschneider, Jost und Zunz, von Harry Bresslau und von Heinrich v. Treitschke. Diese jüdische Geschichte hat in der Tat wenig vom Geist Leopold v. Rankes und ist von Anfang an von jüdischer und nicht-jüdischer Seite aufs heftigste befehdet, vom überlieferungstreuen Judentum (S. R. Hirsch im ,Jeschurun‘) als „Produkt der verwerflichsten Leichtfertigkeit und der leichtsinnigsten Ungründlichkeit“ abgewiesen worden; sie steht heute unserer Geschichtsauffassung und unseren Ansprüchen an eine jüdische Geschichte ferner als die jüdische Geschichtstheorie des jungen Graetz von 1846. Diese selbst und das spätere Geschichtswerk waren nur möglich, nachdem vier geistige Großtaten eben geleistet waren oder in den 40er Jahren bereits in voller Entfaltung standen. Es ist ein vierfaches Werk, von dem aus Graetzens „Konstruktion“ wie auch der spätere ausgeführte Bau erst gerecht beurteilt werden können: 1. Graetz hatte von Hegel gelernt, daß geschichtliches Wissen ohne die Sinngebung des lebendigen systematischen Problembewußtseins nicht geschichtliches Verstehen ist. In den Jahren 1842 – 45 ist ihm auf der Universität Breslau dieses Grundprinzip durch den Hegel-Schüler Christian Julius Braniss (1792 – 1873) deutlich geworden, und der noch wenige Jahre früher durch S. R. Hirsch zum gesetzestreuen Judentum Zurückgeführte vollzog zum zweiten Mal eine Schwenkung. Am 16. Dezember 1836 hatte der neunzehnjährige Graetz an den Verfasser der „Neunzehn Briefe über Judentum“, die den jungen Oldenburger Landrabbiner Samson Raphael Hirsch zum Verfasser hatten, geschrieben: „Ew. H. W. ahnen es wohl nicht, daß Ihre göttliche Epistel auf hundert Meilen ein Herz gefesselt, das, wie von magischer Kraft angezogen, unwiderstehlich zu dem Verfasser derselben hin flattert. Wenn diese ‫ﬡנדת ﬠםון‬, dieses vom Schmutze falscher Ansichten gereinigte Judentum der erstaunten Welt ein wunderbares, nie gesehenes Meteor erscheinen, so sind sie mir, feurigem, nach Wahrheit strebenden Jüngling ein helles Sonnenlicht, das mir die Dunkelheit erleuchtet, und mir den Abgrund zeigt, in den er unwiederbringlich gestürzt wäre. Ew. H. W., der Sie die Motive des zeitigen Strebens unsrer Glaubensbrüder und die Ursachen des grellen Abstands der Denkart unseres Saeculums von

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

dem der Vergangenheit so sonnenklar dargetan, werden den Kampf, der in einem Herzen zwischen der geerbten und durch eine schiefe und schillernde Talmudhermeneutik gebildeten Religions- und Weltansicht und einer von profanen heidnischen, sogar antijüdischen Autoren hervorgehobenen und jener schnurstracks zuwiderlaufenden Zeitgeisteransicht rege wird, erklärlich finden. Ein solcher dauernder und verwundender Kampf hätte bei mir bald der Irreligiosität das Übergewicht gegeben; schon schwebte ich an dem höllischen Rande, ach, unwiderruflich verloren; – da erschienen Ew. H. W. Briefe, wonach ich sofort hastig griff, jede Zeile, mir ein rettender Engel, gierig verschlang, und welche das Eis des starren schrecklichen Skeptizismus von meinem Herzen schmelzte, und meine Gefühle und Gesinnungen in reine und echtjüdische verwandelte.“ Die umfassende methodische jüdische Ausbildung, von der das große Graetzsche Geschichtswerk, namentlich die reichen noch heute schlechthin unentbehrlichen Exkurse Zeugnis ablegen, hat Graetz von Samson Raphael Hirsch in einem beispiellos intensiven dreijährigen Lehrgang im eigenen Haus des Oldenburger Rabbiners erworben. Aber dann wendete sich der 25jährige im Banne der an der Universität Breslau herrschenden Denkformen zum zweiten Mal vom religiösen Judentum strenger Observanz ab. Der bekannte Sturz der Hegelphilosophie bald nach dem Tode Hegels im Jahr 1831 betraf keineswegs die Grundlage seines Geschichtsdenkens: im Gegenteil die Lehre vom „objektiven Geist“, das ganz selbständige Interesse am geschichtlichen Gang als solchem und die Frage nach dem Sinn des Tatsächlichen blieben trotz der allgemeinen Abwendung vom Hegelschen Panlogismus und seiner dialektischen Spekulation bestehen. „Die Konstruktion der jüdischen Geschichte“ von 1846 übernimmt die ureigene Entdeckung Hegels, daß gerade der „antithetische“ Charakter der Systemfolge in der Geschichte der Philosophie etwas eminent Positives sei. Mittels dieser Hegelschen Dialektik nimmt Graetz der Orthodoxie seines väterlichen Freundes Hirsch ihre Absolutheit und gibt sie für eine der vielen „Auffassungen“ vom Judentum aus; er ist neun Jahre nach jenem überschwänglichen Brief so hegelisch durchtränkt, daß er verblüffenderweise die sich gegenseitig ausschließenden jüdischen Sinngebungen von Samuel Hirsch, Steinheim, Ben Usiel (S. R. Hirsch) und Mises alle für wahr erklärt, „wenn sie als einzelne Momente des absoluten Grundprinzips des Judentums aufgefaßt werden“, wodurch doch offenbar der Sinn des Ausschließlichkeitsanspruchs des „Tora min haschamajim“ eines S. R. Hirsch ins Gegenteil verkehrt wird. 2. Graetz hatte aber 1846 auch von Leopold v. Ranke, namentlich aus den 1834 – 36 erschienenen Teilen der „Fürsten und Völker von Süd-Europa“, die heute unter dem Titel „Die römischen Päpste“ bekannt sind, die Lehre von den Eigentendenzen verschiedener Zeitalter und Völker übernommen. Durch diese fruchtbare historische Ideenlehre Rankes wurde die These Hegels von der stetig fortschreitenden Entwicklung des absoluten Geistes bedeutsam umgestaltet und das Schwergewicht auf die Eigengesetzlichkeit der historischen Tatsachenabläufe verlegt. Die exakte Geschichtsforschung erhielt damit ihre besondere abgegrenzte Aufgabe neben der Geschichtsphilosophie. „Was den einzelnen europäischen Völkern recht war, sollte

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nun nach Graetz auch für die jüdische Nation billig sein. „Wo sich mannigfaltige Eigentümlichkeiten, in sich selber rein ausgebildet, in einem höheren Gemeinsamen begegnen“, dort sei das wahre „Europa“ des echten Historikers. Die nationalen Individualitäten gelte es in der Historie aufzusuchen, in ihrer „Sonderung und reinen Ausbildung“: diese schon 1836 in der Abhandlung „Die großen Mächte-Fragmente historischer Ansichten“ (Historisch-politische Zeitschrift, herausgegeben von Leopold Ranke, II. Band, S. 1 – 51) von Ranke klargestellten Grundsätze wendet der jüdische Geschichtsschreiber auf die damals bereits von Jost gesichteten und einigermaßen geordneten Stoffmassen an. 3. Außer Hegel und Ranke kam das große 1820 – 29 erschienene Geschichtswerk von Marcus Jost der „Konstruktion“ wie auch der späteren „Geschichte“ von Graetz in viel höherem Maße zugute als man bisher annahm. Jost hat viel später (in der Einleitung zu seiner dreibändigen „Geschichte des Judentums und seiner Sekten“, 1857 – 59) bescheiden einen wissenschaftsgeschichtlichen, mit durch Graetz hervorgerufenen Irrtum richtiggestellt: „Noch in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts war selbst die Geschichte der Schicksale und Tätigkeiten der Juden während der zwei Jahrtausende ihrer Zerstreuung ein unbekanntes Land. Erst nach unserem schwachen Versuch, dies verlassene Gebiet anzubauen, begann man dessen Fruchtbarkeit wahrzunehmen.“ Im 10. Band seiner jüdischen Geschichte hat Jost selbst im Einzelnen nachgewiesen, welche überraschende Regsamkeit jüdische Geschichtsforscher seit etwa 1830 entfaltet haben und wie große positive Leistungen ernster unabhängiger Wissenschaft, in strenger philologisch-historischer Schulung erwachsen, bis 1846, also bis zu dem geschichtstheoretischen Versuch von Graetz, das emanzipierte Judentum in Deutschland gezeitigt hat. 4. Endlich muß als vierter großer Beitrag, der die geschichtsphilosophische und geschichtspragmatische Leistung von Graetz ermöglicht hat, die Gesamterscheinung, Geist und Gestalt der neuen „Wissenschaft des Judentums“ genannt werden. Wenn die reine voraussetzungslose Wissenschaft über ein lebendiges Gebilde, noch dazu über ein so quicklebendiges, volksähnliches, eben aus dem Ghetto hoffnungsgeschwellt ans Licht drängendes Gewimmel wie die Judenschaft in den deutschen Territorien hereinbricht, dann scheint allerdings für das lebendige Judentum eine große Gefahr in Sicht, denn „die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“. Und in der Tat: Gibt nicht das erste Jahrhundert, in der diese „Wissenschaft des Judentums“ herrschte, der Erfahrung recht, daß von Philosophie und Wissenschaft keine Verjüngung einer Religion oder eines Volkskörpers kommen kann? Noch gar die Erneuerung einer eigenartigen „Massenerscheinung“, die beides gleichzeitig ist! Kann die „Wissenschaft“ einer Theokratie, der ihr Instrumentarium abhanden gekommen ist, wieder Priester und Führer geben? Sie kann nur erklären, wie sie verlorengingen. Aber es blieb eine „Lehre“ ohne institutionellen Träger und ein Volkskörper ohne Staat übrig. Um daraus wieder eine Einheit und ein lebensfähiges Gebilde zu machen, war in Wahrheit im westeuropäischen 19. Jahrhundert die „Wissenschaft des Judentums“ das einzige Mittel, das noch helfen konnte. Ohne ihr Bewußtmachen und Verstehenlehren wären auch

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die noch aufrechtgebliebenen Säulen und Stümpfe zusammengefallen. „Die Juden müssen sich wiederum als rüstige Mitarbeiter an dem gemeinsamen Werke der Menschheit bewähren; sie müssen sich und ihr Prinzip auf den Standpunkt der Wissenschaft erheben, denn dies ist der Standpunkt des europäischen Lebens“, so lautete die Forderung von Zunz, der den Grundsatz aufstellte, das Jahrhundert damit erfüllte und die reinsten und dauerndsten Werke aus diesem Geiste schuf. Als Graetz seine Geschichtstheorie aufstellte und sieben Jahre später der erste Band des Geschichtswerkes, der vierte aus der Reihe über das talmudische Zeitalter, erschien, war es in Deutschland schon so weit, daß ohne die Wissenschaft des Judentums – ein dem alten traditionellen Lernen und der uralten Buchgläubigkeit eher entgegengesetztes als entsprechendes Prinzip – kein Judentum mehr denkbar war. So beschaffen war dieses Judentum damals, so gefährdet und so wissenschaftlich gebildet wie kaum in einer früheren Epoche seiner Existenz, das Zeitalter Philons vielleicht ausgenommen. In Westeuropa war jedenfalls ein jüdisches Selbstgefühl nur von dieser Seite her, der Wissenschaft, möglich; das hat Graetz nach langem innerem Sträuben eingesehen und seine Geschichte im Schutze dieser „Wissenschaft des Judentums“ geschrieben. Hegel und Ranke, Jost und Zunz, ohne die in diesen vier Männern verkörperten scharf umrissenen Ideen und praktischen Beispiele wäre Graetz undenkbar. Die Geschichtskonstruktion von Graetz verdient aber nicht nur wegen ihres großen ideengeschichtlichen Hintergrundes, der hier skizziert wurde, aus der Vergessenheit gehoben zu werden, sie ist auch ein wichtiges Dokument der Geschichte unserer nationalen Besinnung, der Widerstände, die sie fand und durch die sie sichtlich geläutert wurde. In unserer hier wieder abgedruckten Skizze befindet sich ein kaum sichtbarer, aber höchst bezeichnender Bruch, der heute der Schatten von etwas Bedeutsamem ist. Gleich am Anfang spricht es Graetz für die damalige Zeit ziemlich kühn aus, „das Judentum sei im strengen Sinn gar nicht Religion …, sondern ein Staatsgesetz“. Kein Geringerer als Hermann Cohen hat noch 1917 in diesem Satz „eine verdächtige Reminiszenz aus Spinozas Verlästerung des Judentums“ erblickt. Und dann heißt es in der Skizze von Graetz weiter: „Das Gesetz ist die Seele, das Heilige Land der Leib dieses eigentümlichen Staatsorganismus.“ … „Die Tora, die israelitische Nation und das Heilige Land stehen in einem, ich möchte sagen, magischen Rapport, sie sind durch ein unsichtbares Band unzertrennlich verknüpft“; das „sublimierte, idealisierte Judentum“ (hier möchte Graetz aus der Hegel-Rankeschen Umklammerung ausbrechen) sei nur ein „Schatten“, eine „trockene Hülse“. Kurz „das Judentum sei keine Religion für das Individuum“. So lehnt sich der Verfasser am Anfang seines Traktats noch gegen den Zeitgeist auf. Aber da fällt ihm schon Zacharias Frankel, der Herausgeber, in den Arm und schreibt zu der Verhöhnung des „idealisierten“ Judentums eine eigene „Widerlegung“ in Form einer mehrseitigen Fußnote. Frankel „berichtigt“ in der Anmerkung den „irrigen Standpunkt“ seines Mitarbeiters: Der Monotheismus sei kein sekundäres Prinzip; die Politisierung und Lokalisierung des Judentums sei ein irreligiöses Prinzip, mit dem jüdischen Wesen unvereinbar. Denn: „Welche Verbindlichkeit könnte die Tora für den von

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diesem Boden Fortgerissenen haben? Die Hoffnung auf die Wiederherstellung des Staates und auf den Messias dürfte ein schwaches Relief für eine solche Verpflichtung haben.“ Hermann Cohen zeigt sich 1917 entzückt über Zacharias Frankel: „Hier können wir uns an einem Glanzpunkt der ruhigen Klarheit, der gediegenen Sicherheit, der Gesundheit, wie nicht minder aber auch der philosophischen Tiefe erfreuen, welche Frankel bei diesem verhängnisvollen Ansturm bewiesen hat.“ Bei Graetz hatte sich inzwischen am Schluß seiner Abhandlung, der in der Zeitschrift erst ein halbes Jahr später als der Anfang erscheinen konnte, der „Sturm“ wieder gelegt: er sieht es zum Schluß als eine Aufgabe der „judentümlichen Gottesidee“ an, „eine religiöse Staatsverfassung zu organisieren, die sich ihrer Tätigkeit, ihres Zweckes und ihres Zusammenhanges mit dem Weltganzen bewußt ist“, was auf ein Einschwenken in das zitierte Grundprinzip von Zunz hinauslief, das längst für das Jahrhundert vorgeschrieben war. Und der Herausgeber Z. Frankel setzt wieder voller Genugtuung eine Fußnote an den versöhnenden Schlußsatz: „Der Herr Verfasser hat in einer Nachschrift eine weitere Auseinandersetzung seiner früheren Äußerung (Märzheft) … gegeben und die dortige Rüge abzuwenden versucht. Wir freuen uns, daß der Verfasser im Wesentlichen mit unserer Ansicht übereinstimmt, und bedauern nur, wegen Gedrängtheit des Raumes diese Nachschrift hier nicht wiedergeben zu können.“ Damit ist der geistesgeschichtliche Standort der Graetzschen „Konstruktion“ in dem strengen wissenschaftlichen Sinn ihres Urhebers wieder sichtbar gemacht. Überblickt man heute unbefangen diese hier zum ersten Mal im Zusammenhang gebotene Begründung der jüdischen Geschichtswissenschaft – sie ist, wie eingangs schon mitgeteilt wurde, vor 90 Jahren stückweise in einer ziemlich exklusiven, heute schwer erreichbaren Zeitschrift erschienen und seither niemals wieder gedruckt worden – so bleiben die Tiefe und Gültigkeit der geschichtsphilosophischen Fundierung, die Meisterung des Stoffes und seine sichere Systematisierung bewundernswert und unübertroffen. In dieser Weise sind bis heute Inhalt und Bedeutung der jüdischen Geschichte nicht wieder herausgestellt worden: als Forschungsaufgabe und praktische Weisung für das Gesamtjudentum, das nach der Emanzipation in einen euphorischen Zustand geriet und, scheinbar „befreit“, gefährdeter dastand als je vorher in den turbulenten Epochen seiner Selbstbehauptung. Die großen Geschichtsschreiber der Völker dekretierten, daß der Gang des Judentums durch die Weltgeschichte mit dem Verlust des Landes und dem Auftreten des Christentums beendet sei. Neuere Historiker rücken den Zeitpunkt etwas hinauf: für viele sei hier als Beispiel die Auffassung Oswald Spenglers angemerkt, der zufolge es für das Judentum „etwa seit Jehuda Halevi keine Geschichte mehr gab.“ Dabei hatte schon Graetz das Jüdische aller Zeiten und Länder wieder „geschichtswürdig“ gemacht, indem er den Gegenstand und die Idee der jüdischen Geschichte in ihrer Eigengesetzlichkeit zeigte. Kein Gemisch von „Merkwürdigkeiten“ um die Juden in allen Epochen und Weltteilen, sondern ein eigenes historisches Kontinuum, durch seine eigene Idee zusammengehalten: so präsentierte sich dank der Graetzschen „Konstruktion“ nunmehr der jüdische Organismus. Aber dieser durch eine gleichmäßige

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östlich-westliche, religiös-weltliche Durchbildung erhellte Kopf sah an einem Scheideweg der jüdischen Geschichte wie keiner seiner Zeitgenossen Folgendes: In dem halbbewußten, taumelnden Zustand nach der Befreiung aus dem Ghetto konnte sich das Judentum noch nicht auf seine inneren Kräfte besinnen und in sich seinen Schwerpunkt finden. Es mußte sich zunächst einmal frei fühlen, seine geistigen Kräfte im freien Spiel mit denen der Völker messen, zu sich kommen „von der Treibjagd, die siebzehn Jahrhunderte lang mit ihm bis zur Atemlosigkeit angestellt wurde.“ Es mußte erst wieder in Ordnung kommen nach Gefangenschaft und Verwilderung, sein eigenes unentstelltes Gesicht, das unkenntlich geworden war, wieder entdecken. Diese Situation wird von Graetz in seiner genialen Geschichtstheorie in voller Schärfe erkannt, und diese Erkenntnis auf der Stelle durch eine scharfe Belichtung des Stoffes der jüdischen Geschichte und ihrer tragenden Idee, die sich von der Idee anderer Volksindividualitäten unterscheidet, fruchtbar gemacht. Er schreitet zu Beginn seines Essai rasch durch das Fegefeuer der Hegelschen „Geist“Lehre und stößt auf die Substanz der jüdischen Stoffmassen, an deren umsichtige Umordnung er sofort tatkräftig und wissend geht. „Monotheistische Idee“ – „Talmudismus“: mit diesen Schlagworten, vorgefaßten Meinungen ist nichts anzufangen. „Ihr könnt das Judentum einem Sublimierungsprozeß unterwerfen, … so habt ihr doch nur einen Schatten umarmt.“ Das Judentum ist keine persönliche Religion und auch keine Religion der Gegenwart, sondern ein theokratisches, staatsähnliches Gebilde der Zukunft. Aus den Höhen und Niederungen der jüdischen Geschichte liest Graetz die Zukunft des jüdischen Volkes, dem Geschick anderer Völker unähnlich, ab. In das Netz dieser „Konstruktion“ sind die amorphen Stoffmassen der chaotischen Geschichtsabläufe schon, vorläufig, skizzenhaft, jedoch mit souveräner Sicherheit, eingetragen; nur die Ausmalung und Verbindung fehlen noch. Die später in dem großen Geschichtswerk ausgemalten Stücke lassen oft die geniale Skizze nicht wiedererkennen. Die Wiederweckung der Graetzschen Geschichtstheorie ist aus den angedeuteten Gründen viel mehr als eine interessante Ausgrabung; diese Konstruktion ist von der Gegenwart, die wieder Verständnis dafür gewonnen hat, auszufüllen.

Literaturhinweis Die Geschichtskonstruktion des jungen Graetz hat in neuerer Zeit zwei bedeutende geistesgeschichtliche Behandlungen erfahren: Hermann Cohen, Graetzens Philosophie der jüdischen Geschichte im 61. Jahrgang (1917) der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, S. 356 bis 366 (wiederabgedruckt in Cohens Jüdischen Schriften, Berlin 1924, III S. 203 – 212); ferner: Max Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation; Berlin 1933, S. 217 bis 227. Von diesen Beurteilungen weicht die eben gebotene Darstellung nach Neuüberprüfung des gesamten Materials ab. Für alle mit Hegel und Ranke zusammenhängenden Fragen sei hier an Stelle eines ausführlichen Literaturkatalogs auf das Werk von Ernst Simon, Ranke und Hegel (München und Berlin 1928), Beiheft 15 der Historischen Zeitschrift, hingewiesen.

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Über Zacharias Frankel findet man ein Schrifttum-Verzeichnis in dem von M. Brann herausgegebenen Sammelwerk: Zacharias Frankel, Gedenkblätter zu seinem 100. Geburtstage; Breslau 1901 (mit einem lückenlosen Verzeichnis der Schriften und Abhandlungen Frankels 1831 – 1875). Zur „Wissenschaft des Judentums“ jetzt: Siegfried Ucko, Geistesgeschichtliche Grundlagen der Wissenschaft des Judentums (Motive des Kulturvereins vom Jahre 1819), in der Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland, Jg. V, Heft 1: S. 1 – 34 (1934). – Festschrift zu Simon Dubnows 70. Geburtstag, Berlin 1930. Für die Einreihung von Jost und Graetz in die jüdische Geschichtsschreibung vgl. den Artikel Historiographie (von mehreren Verfassern) in Band VIII der Encyclopädia Judaica (S. 107 – 155). Über die Gesamterscheinung Graetz unterrichtet: Josef Meisl, Heinrich Graetz. Eine Würdigung des Historikers und Juden zu seinem 100. Geburtstag; 184 Seiten, Berlin 1917. Die Biographie von Meisl ist vor allem auch wegen ihres dokumentarischen Anhanges (Bibliographie, Denkschriften und Urkunden über die Palästina-Reise von Graetz, Originalbriefe) wichtig; die Darstellung der an den Kampf Treitschkes gegen Graetz (Treitschke, Ein Wort über unser Judenthum, 1879 / 80) anknüpfenden Vorgänge ist bei Meisl (S. 110 bis 116; Anmerkungen Nr. 50 – 57 zu Kap. IV) einseitig. – Außer dem Buch von Meisl enthält das Sonderheft der „Monatsschrift“ zum 100. Geburtstag von Graetz (61. Jg., Heft 9 – 12; Breslau 1917) und das darauffolgende Heft (62. Jg., Heft 1 – 3; ebenda 1918) grundlegende Beiträge über das Leben und die Geschichtsschreibung Graetzens (von Brann, Güdemann, Cohen, Porges, Treitel, Bloch, Baron). Die Literatur zu Graetzens 100. Geburtstag (1917) leidet ebenso wie die Nachruf-Literatur (1891) an homiletischen Exzessen.

13. Jüdische Geschichte als Forschungsaufgabe. Der Gang der Juden durch die Weltgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Gezeigt an den Hauptproblemen jüdischer Geschichtswissenschaft Vorwort Die Absichten dieses Werkes über die weltgeschichtlichen Hauptprobleme der jüdischen Geschichte sind dreifacher Art: Erstens in dem Gestrüpp der über hundertjährigen modernen Einzelforschung einen neuen Überblick über den Stand der Wissenschaft von der Geschichte des jüdischen Volkes zu gewinnen. Diese Gesamtschau wird im Folgenden in einem Rundgang durch alle Geschichtsräume zu erreichen versucht, wobei an gewissen Haltepunkten auf einzelne Fragen eingehend begründete, über sie hinausweisende Antworten gegeben werden. Das zweite Anliegen ist, eine falsche Geläufigkeit und allzu früh herbeigeführte Glätte der Geschichtserzählung rückgängig zu machen. Die Weltgeschichte des jüdischen Volkes kann nicht in einer zusammenhängenden Geschichtserzählung harmonisiert werden, so oft man auch den Anschein zu erwecken versucht hat, als ob dies durch umsichtige Einteilung der Zeiten und Räume möglich wäre. Das verhältnismäßig einfache Instrumentarium der Völker- und Staatengeschichte versagt hier. Zu viele Wissenschaften, Forschungsmethoden, tote und lebendige Sprachen müssen zur Meisterung der jüdischen Geschichte wechselweise angesetzt werden. Aber selbst im Fall einer idealen allseitigen west-östlichen Fachbildung in einem einzigen Geschichtsschreiber könnte die Geschichte des jüdischen Volkes zeitgerecht und eigengesetzlich nicht ohne Zuhilfenahme fremder Maßstäbe und ohne Kompilation ungeprüft übernommener Forschungsergebnisse aus entlegenen Gebieten und Sprachen dargestellt werden. Nur einer ständigen Forschungsstätte von gleich gerichteten, in der absoluten Hochhaltung der Wissenschaft um ihrer selbst willen geeinten, im Übrigen aber kritischen und selbständigen Forschern, Lehrern und Schülern, kann die große Aufgabe jüdischer Geschichtswissenschaft überantwortet werden. Dieses Werk soll – das ist sein drittes Ziel – die Notwendigkeit einer solchen Stätte erweisen, es ist ihre Programmschrift. Die großen unerforschten Fragen der jüdischen Geschichte sollen hier in ihrer Ungelöstheit mit aller Schärfe ohne Scheinresultate in dem Wirbel, in dem sie sich trotz aller Glättungsversuche bei tieferer Quelleneinsicht noch bieten, neu gestellt werden. Die Auswahl ist so getroffen, dass die Gesamtheit der erörterten Geschichtsgegenstände schließlich einen Blick über das Ganze der jüdischen Geschichte ver-

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mittelt. Jedem der vierundzwanzig Kapitel gehen zur Unterstützung dieser Absicht ausführliche Zeit- und Merktafeln und eine ausgewählte Quellen- und Literaturübersicht voran. Die literarischen und quellenmäßigen Belege, ferner die Auseinandersetzungen mit fremden Meinungen bleiben einem eigenen Band vorbehalten. In dem vorliegenden Textband sind die wichtigsten literarischen Nachweise regelmäßig beigesetzt oder mitverarbeitet, an direkter Vorführung der ursprünglichen Texte und besten Facheinsichten ist nicht gespart. Auch ohne Quellenband soll hier schon einsichtig werden, dass wir noch vor einer großen Aufgabe stehen. Wenn die Urgewalt der noch nicht gelösten Geschichtsfragen den Leser anspringt, so sind die Absichten dieses Werkes erreicht. Aus jeder Zeile der folgenden Darstellung soll hervorgehen, dass es gerade das Ungewöhnliche, mit der Geschichte anderer Gruppen nicht Vergleichbare ist, was den Gang der Juden durch die Weltgeschichte ausmacht. Die Fragen müssen streng gestellt und die Antworten dürfen nicht durch Vorwegnahme eines leicht eingehenden Ergebnisses vorschnell gegeben werden. Aus jeder Zeile dieses Werkes soll daher weiter hervorgehen, dass der Spezialforschung der Vorrang vor der künstlichen oder künstlerischen Schaffung einer verführerischen Atmosphäre und Gegenwartsnähe gebührt, dass infolgedessen allein die historisch-philologische Methode und strengste Ermittlung der Wahrheit auf den Wegen, welche die Schule Rankes gelehrt hat, zum Ziele führen kann. Die Grundschulung für jüdische Geschichte müssen heute in verstärktem Maße semitische Philologie, besonders hebräische und arabische Sprachwissenschaft, ferner die systematische Aneignung der rabbinischen und der Islam-Wissenschaft bilden. „Geschichte“ verdient ihren Namen nur dann, wenn sie für jeden Ort, für jeden Moment, für jede Persönlichkeit und Gruppe das besondere Profil, die Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit der Situationen und Gegenstände, der Konstellationen und Denkmöglichkeiten herauszuarbeiten imstande ist. Nachdem der jüdische Geist allen Völkern voraneilend in den biblischen Büchern die hohe Gabe echter unbefangener Geschichtsschreibung gezeigt hatte, schien er sich verausgabt zu haben: die jüdische Phantasie spürte nach dem Ablauf der altjüdischen Geschichte nur mehr das Gleiche und Typische, einen einzigen Rhythmus, in jeder Situation des jüdischen Volkes und seiner Glieder. Die Antinomie der jüdischen und allgemeinen Geschichte zeigt sich auch in diesem eingezirkten prähistorischen Denken des jüdischen Stammes, der dafür auch niemals dem timiden, alles relativierenden Historizismus unterlag. Für kein Volk galt in so starkem Maße wie für das jüdische Volk die Einsicht, dass die Tiefe der Aneignung der Vergangenheit die eigentliche Quelle der Zukunft bleibt und dass der jüdischen Gemeinschaft vom Aufstehen bis zum Niederlegen der Sinn für echte Geschichtlichkeit nicht nachdrücklich genug eingeprägt werden kann.

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

Inhalts-Verzeichnis: [I.] Die alte Zeit. Vom Einbruch der Israel-Stämme in Kanaan bis zur Ausweisung der Juden aus Palästina unter Kaiser Hadrian 1200 vor bis 135 nach Chr. 1. Kapitel: Das Werden des Volkes Israel. Einbruch der Israel-Stämme in Kanaan – Das Erwählungsereignis – Moses und Josua – Siedlungsskizze – König David – Gesetz und Propheten – Von der Teilung des Reichs bis zum Untergang – Der Untergang der beiden Reiche – Jesaija und Jeremia. 2. Kapitel: Die Urkunde der Volkwerdung, das „Alte Testament“. Methoden der Bibelforschung – Die philologisch-historische Aufgabe – Aufdeckung der literarischen Formen und der Quellenkomposition – Grenzen der Zerlegbarkeit – Die Geschichtsschreibung der Bibel – Die orientalische Umwelt (Beziehungen der biblischen Schriften zum ägyptischen und babylonisch-assyrischen Sagenstoff) – Die Bibel als historische Quelle – „Altes Testament“ als unteilbares „heiliges Buch“. 3. Kapitel: Der Beginn des Lebens unter den Völkern. Exil und Rückkehr – Jecheskel – Lehrer und Soferim im Exil – Unter persischer Herrschaft – Die Grundsätze von Esra richten ein neues Judentum auf – Der neue Tempel. 4. Kapitel: Begegnung mit Hellas und Rom und die weltgeschichtlichen Folgen. Anfänge des Systems der Pflichtenlehre – Anfänge der Diaspora – Ihre Verstärkung seit Alexander dem Großen – Parsismus und Anfänge der Hellenisierung – Der Makkabäerstaat – Unter der Herrschaft Roms (Edom und Israel). 5. Kapitel: Despectissima pars gentium. Fortsetzung der Hellenisierung des Judentums – „Kirchenstaat“ – Strabo 85 vor Chr. über die Verbreitung des jüdischen Volkes – Das Polis-Netz der Mittelmeer-Diaspora – Alexandreia – Das jüdische Politeuma – Brief des Kaiser Claudius 41 nach Chr. an den Präfekten von Alexandreia („Weltpest“) – Philonischer Bericht – Philons und Hillels Rechtfertigung des Religionsgesetzes – Annäherung von Palästina und Diasporajudentum – Religionsgeschichtliche Stellung Philons: sein mystischer Glaube und sein „Rationalismus“ – Gewaltlose Herrschaft der Vernunft und Glaube an den ethischen Adel des jüdischen Volkes – Der Untergang der philonischen Gedanken im Judentum: Septuaginta, Philon, Josephus als Bildner des christlichen Abend- und Morgenlandes – Die Juden unter eigenen Fürsten – Belehnung des Herodes mit dem Königtum über die Juden – Die Blüte des Landes unter Herodes – Charakteristik seiner Herrschaft – Herodianische Städtegründungen – Nach dem Tode des Herodes 4 vor Chr. – Die Prokuratoren Roms – Die Juden als despectissima pars gentium; ihr Widerstand und ihre Selbstbehauptung. 6. Kapitel: Der jüdische Stamm ohne Land und Staat. Der Staat von Rom vernichtet, die Lehre von Christus entthront – Die Katastrophe des Jahres 70 – „Der Rest Israels“ als unverdaulicher Geschichtsstoff in der Weltgeschichtsschreibung – Alleinherrschaft der Peruschim und ihres Gesetzesbegriffs – Das Gesetz und die Hoffnung – Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter – Die messianische Hoffnung tritt an die Stelle des politischen Willens – Geschichte der Messias-Idee – Der historische Zeithintergrund in der Offenbarung Johannes und im vierten Esrabuch – Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde – Verwandlung des weltoffenen Hellenismus und Entpolitisierung des Judentums.

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7. Kapitel: Exkurs über die Entstehung des Christentums aus dem Judentum und die LebenJesu-Forschung Die Urkunden des „Neuen Testaments“ – Das eigentliche Anliegen des frühen Christentums – Nicht aus der Bergpredigt, sondern aus dem vierten Evangelium ist das Wesen des Christlichen, wodurch es sich vom Jüdischen unterscheidet, ersichtlich – Geschichte der jüdischen Leben-Jesu – Forschung und die Kritik an dieser Forschung – Geschichtliche und übergeschichtliche Religion im Christentum – Gesetzestreue Juden als Jesu-Gläubige der Urgemeinde – Das Ende der Gemeinschaft zwischen Synagoge und Urgemeinde – Die Forderung der „Freiheit vom Gesetz“ durch Paulus – Verwandlung des Christentums und Entfernung von der Lebensordnung und Ethik des Judentums – Von der Urgemeinde zur Weltreligion – Die evangelische Lehre verschwindet hinter der Christologie – Die historische Zeugkraft der Evangelien für die jüdische Geschichte – Der historische Jesus – Die Verworfenheit der Juden als unabänderlicher göttlicher Wille nach dem Johannes-Evangelium – Das Christentum usurpiert das jüdische Erstgeburtrecht und die jüdische Erwählung – Die eschatologische Grundlage der Bergpredigt – Der Johannes-Prolog – Die Judentheorie des Römerbriefs – Die Zerstörung Jerusalems entscheidet das Schicksal des Christentums. 8. Kapitel: Die Leben-Jesu-Forschung hellt die Wegkreuzung des jüdischen Geschichtswegs auf. Geschichte der alten Kirche und Geschichte der Synagoge – Historisch-kritische Forschung und Glaubensdeutung – Formgeschichte des Evangeliums – „Die Schule der Wahrhaftigkeit“ – Eschatologische Bedingtheit der Botschaft Christi. [II.] Die mittlere Zeit. Von dem Verlust des Staates und Landes bis zur Emanzipation. 1. Kapitel: Rückzug aus Europa und neues Zentrum im Talmud. „Mittelalter“ in der jüdischen Geschichte – Auseinandersetzung mit der spätrömischen Welt – Schicksale der römisch-griechischen Diaspora bis Konstantin – Die wirtschaftlich-sozialen Umstände des Untergangs der antiken Welt – Beginn der Neublüte der babylonischen Judenheit – Das römische und persische Reich, die beiden Augen der Welt – Der Sieg der Kirche unter Konstantin und die Bedeutung des christlichen Staatskirchentums für die Juden – Jüdische und christliche Märtyrer – Die Kirchengeschichte von Eusebius von Cäsarea – Weltläufigkeit der Kirche und Weltflucht der Juden – Tertullians Schutzschrift für das Christentum („Die Christen vor den Löwen!“) – Mailänder Konstitution von 313 – Trennung des Osterfestes von der Pessachfeier – Kaiser Julian – Der babylonische Talmud – Standort des babylonischen Talmuds in Zeit und Raum; seine literarische Form; sein Geschichtsdenken – Die syrischen Kirchenväter – Die syrische Literatur und Sprache – Die Lehre Manis in ihrer Bedeutung für die jüdische Geschichte – Herkunft der manichäischen „Häresie“ aus dem Spätjudentum (ethischer Rigorismus und Minimalisierung der Weltbeziehungen) – Verhältnis der babylonischen Juden zu Mani – Der Talmud als „Pompeji der Altertumskunde“. 2. Kapitel: Verwandlung durch den Islam. Islamwissenschaft und jüdische Geschichte – Muhammed – Die drei jüdischen Stämme in Medina und ihr Schicksal – Jüdische Wiedergeburt und Selbstbehauptung unterm Islam – Geonica – Die Geonim kanonisieren den Talmud – Verpflanzung der talmudischen Traditionswissenschaft in den Westen – Die jüdische Ableitung der Tradition im Verhältnis zur islamischen Pflichtenlehre und islamischen Traditionswissenschaft („Sunna“ und „Hadith“) – Die Tätigkeit der babylonischen Akademien vom 7. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts – Jüdische

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II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“

Selbstbehauptung in der arabischen Umschmelzung – Gestaltwandel des Judentums durch den Islam – Jüdisch-arabische Philosophie als Problem jüdischer Geschichte – Hauptthema der jüdisch-arabischen Religionsphilosophie – Der jüdische Kern der arabisch-jüdischen Philosophie – Der Islam als Rahmen der jüdischen Geschichte – Jehuda Halewi Persönlichkeit, Werk und Nachwirkung – Der „Kusari“ – Die Chazaren – Jüdisch-arabisches Leben von 750 bis 1250 – Rationalistisch-moralphilosophische und spekulativ-mystische Reihe jüdischer Philosophen – Erklärung der mangelnden Resonanz der jüdischen Philosophie im jüdischen geschichtlichen Leben – Einordnung der Einzelforschung über jüdische Dichtung und Philosophie in die allgemeine jüdische Geschichte – Das Karäerproblem als Zentralproblem jüdischer Geschichte – Rambams Mischne Tora – Die ethischen Tendenzen. 3. Kapitel: Neue Keime aus den Resten der Mittelmeer-Diaspora im christlichen Abendland des Frühmittelalters.

Nachwort Von Peter Landau

Der von Reinhard Mehring und Rolf Rieß herausgegebene Aufsatzband der Beiträge Ludwig Feuchtwangers zum Wesen des Judentums und zur jüdischen Geschichte vereinigt Texte, die fast alle im Jahrzehnt zunehmender Anfeindung und Verfolgung der deutschen Juden zwischen 1928 und 1938 verfasst wurden. Sie machen uns mit einem Autor vertraut, der eine bewundernswerte Kenntnis der deutschen Geistesgeschichte mit tiefen Einsichten zum jüdischen Weg seit der Zeit des alten Orients verbinden konnte, ermöglicht durch seine umfassende Verarbeitung der theologischen, orientalistischen und althistorischen Forschung. Dabei dient die Objektivität historischer Erkenntnis, für die sich Feuchtwanger bereits 1914 primär auf die Maßstäbe Leopold v. Rankes beruft, stets dem angestrebten Ziel, das Wesen des Judentums in der Besinnung auf die biblischen Grundlagen zu erfassen. Es ist daher kein Zufall, dass er auf Martin Buber und dessen Bibelübersetzung vielfach verweist. An der kritisch-historischen Forschung zum Alten Testament haben nach Feuchtwanger Juden lange Zeit keinen Anteil gehabt; jedoch könne die Bibelwissenschaft weder exklusiv protestantisch, katholisch oder jüdisch sein. Als erster habe dann Martin Buber eine kritische jüdische Bibelwissenschaft begründet. Feuchtwanger bekennt sich wiederholt zu Maßstäben der Geschichtsforschung auch für die biblischen Texte und zur Aufgabe des Vergleichs der Überlieferung Israels mit der ägyptischen und Keilschriftliteratur. Er betont die Bedeutung der Sprache der Bibel für die Identität des Judentums gegenüber versuchten Erklärungen aus gemeinsamer Abstammung. Die Sprache ist für ihn ein Mittel, Abstammungsgrenzen zu überwinden. Damit beruht das Judentum nach ihm auf seiner eigenen kulturellen Tradition, die in der Schrift begründet ist, wofür sich Feuchtwanger auf Leo Baeck beruft. Eine Rückkehr der deutschen Juden zur Orthodoxie nach der Epoche eines liberalen Judentums hält Feuchtwanger für unmöglich, geht aber vom biblischen Gedanken der Erwählung Israels aus, der eine Verpflichtung für die deutschen Juden auch in der Gefährdung seit 1933 und zugleich das „Mittelstück für die Existenzbewahrung“ sei. Wiederholt bezieht sich der Münchner Autor dabei auf Martin Buber und dessen Glauben an die Wahrheit gegenüber seinerzeit modischen Relativierungen der Wahrheitsfrage durch die Wissenssoziologie. Die Aktualität dieser von Mehring und Rieß neu entdeckten Aufsätze beruht darüber hinaus nicht zuletzt auf der überaus klaren Auseinandersetzung Feuchtwangers mit großen Namen der deutschen Geistesgeschichte. Er erkennt die immense Bedeutung Schleiermachers für das Selbstverständnis des liberalen deutschen Juden-

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Nachwort

tums im 19. Jahrhundert; der Theologe einer Religion des Herzens sei ein „ungesalbter Lehrmeister des deutschen Rabbinats“ gewesen; für liberale deutsche Juden sei Religion „die heilige Musikbegleitung des Lebens geworden“. Die Illusionen führender jüdischer Repräsentanten des bürgerlichen Zeitalters, von denen sogar die Akzeptanz der christlichen Taufe bei gleichzeitiger Bewahrung des Judentums erwogen wurde (David Friedländer), kennzeichnet er als grotesken Irrtum. Er bewertet die Emanzipation und bürgerliche Gleichberechtigung der deutschen Juden im 19. Jahrhundert durchaus ambivalent, da das Ziel oft die Selbstauflösung des Judentums durch restlose Assimilation gewesen sei. In der Forderung nach Assimilation entdeckt Feuchtwanger sogar Parallelen zwischen Autoren wie Wilhelm von Humboldt und Heinrich von Treitschke. Ambivalent bleibt auch seine Bewertung Nietzsches und Max Webers in ihren Urteilen über das Judentum und die jüdische Geschichte. Er bekämpft die von Nietzsche beeinflusste Begriffsbildung Max Webers, indem er darauf insistiert, dass jüdische Frömmigkeit nicht adäquat als Ideologie eines sog. Pariavolks erfasst werden könne. Aufschlussreich ist auch Feuchtwangers Kritik an Heidegger bereits 1932 und seine positive Bewertung Ernst Cassirers, dessen Buch „Philosophie der Aufklärung“ im gleichen Jahr erschien. Schließlich sind auch Feuchtwangers Akzente bei der Beurteilung der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung bemerkenswert. Er hebt hier die Leistungen Adolf v. Harnacks und Albert Schweitzers hervor und wendet sich gegen eine „Verdunklungsgefahr“ durch die dialektische Theologie, deren Ablehnung historischer Forschung in der Theologie er überaus kritisch sieht. In diesem Zusammenhang ist schließlich seine Einschätzung von Ernst Troeltsch zu erwähnen, dessen Name mit Ehrfurcht zu nennen sei. In vielen Fällen entsprechen die geistesgeschichtlichen Einschätzungen bei Feuchtwanger der heutigen Forschung eher als die mancher seiner berühmten Zeitgenossen. An das Ende des Aufsatzbandes haben die Herausgeber eine Skizze aus dem Nachlass „Jüdische Geschichte als Forschungsaufgabe“ gestellt. Das Inhaltsverzeichnis für diesen Band zeigt, dass sich Feuchtwanger auch mit dem Einfluss jüdischen Denkens auf den Islam auseinandergesetzt hat. In dieser Skizze findet man die Bewertung: „Für kein Volk gilt in so starkem Maße wie für das jüdische Volk die Einsicht, dass die Tiefe der Aneignung der Vergangenheit die eigentliche Quelle für die Zukunft bleibt.“ Bei diesem Satz denke ich an den Anfang des Romans „Joseph und seine Brüder“ von Thomas Mann, der wie Ludwig und Lion Feuchtwanger mit München verbunden war: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ Es gibt eine geistige Verwandtschaft zwischen Ludwig Feuchtwanger und Thomas Mann. Beide waren Zeitgenossen der deutschen Katastrophe des 20. Jahrhunderts.

Verzeichnis der Druckorte I. Zur Geistesgeschichte der „deutsch-jüdischen Symbiose“ 1. Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde, 15. Jg. Heft 19, 1. Juli 1914, Sp. 1309 – 1313. 2. Jüdische Rundschau, Jg. 40, Nr. 86 vom 25. Oktober 1935, S. 1. 3. Jüdische Rundschau, Nr. 102 / 103 vom 21. Dezember 1934, S. 5. 4. Jüdische Rundschau, Nr. 12 vom 9. Februar 1934, S. 3. 5. Jüdische Rundschau, Nr. 74 vom 14. September 1934, S. 3. 6. Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 1 vom 1. Januar 1931, S. 1 –2. 7. Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 20 vom 1. Oktober 1932, S. 298 – 299. 8. Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 20 vom 15. Oktober 1931, S. 209 – 211. 9. Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 1 vom 1. Januar 1933, S. 1 – 2. 10. Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 4 vom 15. Februar 1933, S. 29 – 31. 11. C.V.Zeitung. Allgemeine Zeitung des Judentums, 15. Jg. Heft 44 (1936) vom 29. Oktober 1936, 3. Beiblatt.

II. Zur Rekonstruktion des geschichtlichen „Wesens“ 1. Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 13 vom 1. Juli 1930, S. 207 – 208. 2. Ditlef Nielsen, Der geschichtliche Jesus. Verlag Meyer & Jessen, München 1928, S. 1 – 21. 3. Der Morgen. Monatsschrift der Deutschen Juden 5 (1929), S. 173 – 185, 185 – 193, 264 – 279, 600 – 614. 4. Der Morgen. Monatsschrift der Deutschen Juden 8 (1932), S. 209 – 224 (hier um die Seiten 214 – 222 gekürzt). 5. Der Morgen. Monatsschrift der Deutschen Juden 10 (1934), S. 245 – 252. 6. Der Morgen. Monatsschrift der Deutschen Juden 9 (1934), S. 429 – 432. 7. Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Nr. 3 vom 1. Februar 1937, S. 49 – 51. 8. Der Morgen. Monatsschrift der Deutschen Juden 14 (1938), S. 202 – 207. 9. Jüdische Rundschau, Nr. 100 vom 15. Dezember 1936, S. 3. 10. Israelitisches Familienblatt, Hamburg / Berlin, Nr. 5 vom 3. Februar 1938, S. 3.

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Verzeichnis der Druckorte

11. Der Morgen. Monatsschrift der Deutschen Juden 14 (1938), S. 271 – 276. 12. Die Konstruktion der jüdischen Geschichte. Eine Skizze von Heinrich Graetz, hrsg. von Ludwig Feuchtwanger. Berlin 1936, S. 97 – 108. 13. Nachlass Ludwig Feuchtwanger, Leo Baeck Institute, New York, Collection Feuchtwanger Box 8, Folder 1.