Gesammelte Aufsätze zur jüdischen Geschichte: Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Rieß [1 ed.] 9783428508730, 9783428108732

Ludwig Feuchtwanger (1885-1947), Verfasser einer Reihe gehaltvoller, luzider Aufsätze zur jüdischen Geschichte, ist im S

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Gesammelte Aufsätze zur jüdischen Geschichte: Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Rieß [1 ed.]
 9783428508730, 9783428108732

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LUDWIG FEUCHTWANGER

Gesammelte Aufsätze zur jüdischen Geschichte

Ludwig Feuchtwanger

Gesammelte Aufsätze zur jüdischen Geschichte Von Ludwig Feuchtwanger

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von RolfRieß

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-10873-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Geleitwort Jeder kennt Lion Feuchtwanger, aber kaum jemand kann mit seinem Bruder Ludwig heute etwas anfangen. Warum sich dies ändern sollte, hat Rolf RieB eindrucksvoll mit den von ihm gesammelten und kommentierten Beiträgen dokumentiert. Ludwig Feuchtwanger stammte aus einer der angesehensten Münchner jüdischen Familien, einer Familie, in der bayerische Traditionen und orthodoxes Judentum sich nie widersprochen haben. So manches Mitglied der Familie traf sich am Schabbat nach dem Gebet in der Synagoge zum Stammtisch im Hofbräuhaus. Ludwig löste sich zwar von den Traditionen, blieb aber dem Judentum tief verhaftet. Als Herausgeber der Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung zwischen 1930 und 1938 war er für eines der, wichtigsten intellektuellen Erzeugnisse des deutschen Judentums in seinen letzten Stunden verantwortlich. In den Worten Ernst Simons betrieb auch Ludwig Feuchtwanger in jener schweren Zeit den "Aufbau im Untergang". Die hier versammelten Artikel bilden eine repräsentative Auswahl der Schriften Ludwig Feuchtwangers zum Judentum. Die bis heute nur spärlich dokumentierte Geschichte der Juden in München erhielt einige ihrer wichtigsten Beiträge aus der Feder Feuchtwangers. Sie sind hier gemeinsam mit wissenschaftlichen Betrachtungen zur Geschichte der Österreichischen Juden versammelt. Einen weiteren großen Block stellen die Zeitfragen dar, die angesichts der alles andere als bequemen Zeit auch auf das Dilemma im Judentum der zwanziger und dreißiger Jahre hinweisen. Hierbei setzt sich Feuchtwanger durchwegs kreativ und mitunter überraschend mit dem zunehmenden Antisemitismus auseinander. Ein weiterer Schwerpunkt der vorliegenden Aufsatzsammlung schließlich ist Ludwig Feuchtwangers geistiger Begegnung mit Moses Mendelssohn gewidmet. Obwohl es sich hierbei um einen historischen Bereich handelt, der über ein Jahrhundert zurückgreift, wird doch gerade in Feuchtwangers Mendelssohn-Rezeption der Geist seiner eigenen Zeit sichtbar. So wie sich Feuchtwanger in seinem erstmals hier von Rolf RieB veröffentlichten Briefwechsel mit Carl Schmitt mit dem Rationalismus und der Aufklärung auseinandersetzt, so bedeuten sein Studium und seine Kritik Mendelssohns auch eine Absage an den Geist, der das deutsche Judentum während des 19. Jahrhunderts geprägt hatte. Verschwunden ist der oftmals naive Fort-

Geleitwort

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schrittsglaube, auch der Glaube an die Emanzipation; dennoch soll Mendelssohn als der Begründer eines modernen Judentums gerettet werden. Ganz im Geiste der Weimarer Jahre will Feuchtwanger zeigen, daß Mendelssohn "nicht der verschrieene Rationalist war", sondern daß auch viel Irrationales und Gefühlsmäßiges in seinen Schriften sichtbar wird. Hätte das eine Generation vorher noch als Beleidigung des großen Aufklärungsphilosophen gegolten, so war es nun der Versuch einer Ehrenrettung in einer Zeit, in der nach Feuchtwanger gilt: ",Aufklärung' und ,Judenemanzipation' sieht der moderne Zeitgenosse häufig nur mehr als recht fragwürdige Errungenschaften und Nathan den Weisen als ein langweiliges, verstaubtes Theaterstück an ... ". Ludwig Feuchtwanger war, wie sein Bruder Lion, Teil der Renaissance jüdischer Kultur während der Weimarer Republik und danach auch des "Aufbaus im Untergang" der Nazizeit Seine Tätigkeit für die jüdische Presse, das von ihm geleitete Jüdische Lehrhaus wie auch seine zahlreichen Schriften zur jüdischen Vergangenheit und Gegenwart ließen erkennen, wie sich die jüdische Gemeinde nach dem 1. Weltkrieg hätte entwickeln können, wenn sie die richtigen Rahmenbedingungen gehabt hätte. So aber konnten Ludwig Feuchtwanger und seine Kollegen, die sich bis zuletzt um die Aufrechterhaltung jüdisch-kultureller Werte in einer Zeit der Barbarei bemühten, nur das leisten, womit Gershorn Scholem den jüdischen Bibliographen Moritz Steinschneider zitierte: dem deutschen Judentum ein ehrenvolles Begräbnis gewährleisten. München, im April 2001

Michael Brenner

Vorwort des Herausgebers Zum Abschluß des Bandes möchte ich noch kurz auf einige Eigentümlichkeiten hinweisen. Die Rechtschreibung mag manchen Leser fehlerhaft vorkommen. Der Grund hierfür liegt in den Eigentümlichkeiten der Feuchtwangerschen Schreibweise, die teilweise auch durch die Benutzung amerikanischer Schreibmaschinen bedingt ist. So wurde die Rechtschreibung der Originalmanuskripte beibehalten. Der Herausgeber verwendete für seinen Text die alte Rechtschreibung. Daher kann es vorkommen, daß auf einer Seite zwei unterschiedliche S-Schreibungen vorkommen. Dies sollte aber den Leser nicht verwirren, sondern die historische Authentizität der Texte wahren. Zu guter Letzt bleibt mir nur die Dankesschuld abzutragen, was ich gerne tun will. Herrn Professor Dr. Edgar J. Feuchtwauger sei für vieWiltige Unterstützung gedankt, Herrn Professor Dr. Michael Brenner für ein freundliches Vorwort und Professor Norbert Sirnon für die Aufnahme in das Programm des Verlags Duncker & Humblot. Ohne sie wäre das Buch nicht entstanden. Danken will ich aber auch meinem Vater Anton RieB, dessen Hilfe beim Erfassen des Textes mit dem Computer ich des öfteren auf eine Geduldsprobe stellen mußte. Für alle Fehler aber übernimmt der Herausgeber die Verantwortung und hofft auf Nachsicht und Belehrung durch ein nachsichtiges Publikum. Pentling, im August 2002

Ralf Rieß

Inhaltsverzeichnis I. Moses Mendelssohn

1. Moses Mendelssohn, der große Philosoph. Zu seinem 200. Gedenk-Geburtstage (geb. 6. Sept. 1729) (1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Das Bild Moses Mendelssohns bei seinen Gegnern bis zum Tode Hegels. Ein Beitrag zum Neuaufbau der geistigen Gestalt Mendelssohns (1929) . . .

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3. Die Töchter Moses Mendelssohns (1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4. Der Streit um den Geist Moses Mendelssohns. Anläß1ich seines 150. Todestages 4. Januar 1936 (1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 II. Jüdische Geschichte und Rechtsgeschichte in Bayern, Österreich und England 1. Jüdisches und römisches Recht. Studie über die Herkunft der Collatio legum Mosaicarum et Romanarum (1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Die Erforschung der Rechtsgeschichte der Juden (1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3. Aus der Geschichte der Juden in Österreich. Anfange und erste Siedlungen im Frühmittelalter (1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4. Zur jüdischen Geschichte in Österreich - Verbreitung und Selbstbehauptung im Mittelalter (1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5. Die Haltung des kurbayerischen Kanzlers Alois von Kreittmayr in Judensachen. Die Juden in Bayern vor 200 Jahren (1930) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 6. Vor 650 Jahren. Ein Gedenktag aus der Geschichte der Juden in München (1935) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 7. Neuere Geschichte. Verwandlungen 1837-1887-1937 (1937) . . . . . . . . . . . . . 87 8. Der hebräische Brief der Münchener Juden vom Jahre 1381 an die Straßburger Juden (1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 9. Jüdische Vergangenheit in England und Deutschland. Ein Vergleich und der Versuch einer Interpretation der neuestenjüdischen Geschichte (1947) 105 111. Zeitfragen im Angesicht des Nationalsozialismus 1. Die Judenfrage (1930) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2. Das wirtschaftliche Schicksal des deutschen Judentums (1933) .. . . . . ... .. 115

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Vorwort des Herausgebers

3. Das unentstellte Gesicht des Judentums (1933) ...... . .......... . .. . . ... 120 4. Die Gestalt des "Verworfenen Juden". Ein Versuch über Mythenbildung (1933) ..................... . . .................. . . .................. 125 5. Mythos und Wirklichkeit unserer Zeit. Vom Anteil der Rasse am Wesen des jüdischen und christlichen Geistes (1934) ..... . . . .................. 133 6. Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums (1934) ............. ... . . 141 7. Gegenwartskunde. Plan und Aufgaben einer Soziologie der modernen Judenheit (1934) ............... . ................... . .......... .. ...... 147 8. Gibt es eine eigenständige jüdische Kultur? (1938) . . . . .................. 153

Verzeichnis der Druckorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Bibliographie der Schriften Ludwig Feuchtwangers .. . . .......... . ....... 166 Aufsätze in Zeitschriften und Zeitungen ........... . ................... 166 Über Feuchtwanger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 ~achwort

des llerausgebers . .. . . . ......... .. ...... .. . .. .... . .. .... . .... 190

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

I. Moses Mendelssohn

1. Moses Mendelssohn, der große Philosoph Zu seinem 200. Gedenk-Geburtstage (geb. 6. Sept. 1729) Bei dem Namen Moses Mendelssohn pflegt der gebildete Deutsche an "Vernunftreligion" und "Aufklärung", also an die Befreiung des Denkens und Glaubens aus der Bevormundung von fremden Vorschriften zu denken, ferner an den Freund Lessings, der in seiner dramatischen Dichtung "Nathan der Weise" 1 sich Moses Mendelssohn zum Modell des Titelhelden nahm. "Aufklärung" und "Judenemanzipation" sieht der moderne Zeitgenosse jedoch häufig nur mehr als recht fragwürdige Errungenschaften und Nathan den Weisen als ein langweiliges, verstaubtes Theaterstück an, das vor 150 Jahren seine Uraufführung erlebte, vor dem er heute einen gemessenen respektvollen Bogen macht. Nur eine kurze Besinnung jenseits des Schlagworts und Konversationslexikons bringt uns darauf, daß wir in Mendelssohn einen klaren, ausgezeichneten deutschen Denker zu verehren haben, der das klassische Zeitalter Goethes2 und Schillers3 vorbereiten half, einen der besten deutschen Schriftsteller, dessen Stil Jahrzehnte unbestritten auch vom Gegner als vorbildlich anerkannt wurde. Die hohe Achtung, die seine selbstlose, edle und kluge Menschlichkeit genoß, konnte nicht ohne Einfluß bleiben und auf das allgemeine Vorurteil gegen die Juden in Deutschland, die bis dahin ohne staatsbürgerliche Gleichberechtigung, in Ghettos eingesperrt, ein mit der seit Rousseau4 laut verkündeten Menschenwürde unvereinbares gedrücktes und verachtetes Dasein in den deutschen Territorien und Städten führten. Jetzt wurde diese allgemein-herrschende Voreingenommenheit erschüttert. 1 Lessing, Gotthold Ephraim (22.01.1729-15.02.1781), Schriftsteller, Philosoph. Lessings Drama "Nathan der Weise" (1779) ist das Hauptwerk, das die religiöse Toleranz einfordert. Lessing war mit Mendelssohn sehr gut befreundet. Vgl.: Brich Schmidt, Lessing. Die Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, 4. Aufl. Berlin 1929. Vgl.: Wilfried Barner, Lessing. Epoche-Werk-Wirkung, 5. Aufl. München 1987. 2 Goethe, Johann Wolfgang von (28.08.1749- 22.03.1832), deutscher Klassiker, Schriftsteller. Vgl.: Nicolas Boyle, Goethe. Der Dichter in seiner Zeit, 2 Bände, München 199511999. 3 Schiller, Friedrich von (17 .11.1759-09.05.1805), deutscher Klassiker, Schriftsteller, Historiker. Vgl.: Helmut Koopmann, Schiller-Handbuch, Stuttgart 1998. 4 Rousseau, Jean-Jacques (1712-02.07.1778), französischer Philosoph der Aufklärung. Vgl.: Louis Ducros, Jean-Jacques Rousseau, 3 tom. Gem!ve 1970.

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I. Moses Mendelssohn

An einem Oktobertag des Jahres 1743 zog der vierzehnjährige, bettelarme, schwächliche und verwachsene Judenknabe in Berlin ein. 5 Zwanzig Jahre später erkannte ihm die Königliche Akademie der Wissenschaften in Berlin den Preis für eine philosophische Abhandlung über "Die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften"6 zu. Mitbewerber war Immanuel Kant7 . Mendelssohn erhielt den ersten, Kant den zweiten Preis. Das allgemeine Erstaunen der Zeitgenossen über den "jüdischen Sokrates" war grenzenlos, und Johann Heinrich Voß8 sang in seiner von Liebe durchwärmten, niederdeutschen Idylle "Luise", die einst alt und jung in helles Entzücken versetzte: " ... Wir freu'n uns Alle, die Gutes getan nach Kraft und redlicher Einsicht, Und die zu höherer Kraft vorleuchteten; freu'n und mit Petrus, Moses9 , Konfuz 10 und Homer11 , dem liebenden und Zoroaster 12, Und, der für Wahrheit starb, mit Sokrates 13 , auch mit dem edeln Mendelssohn! Der hätte den Göttlichen nimmer gekreuzigt."

Mendelssohns Abhandlung "Phädon" oder "Über die Unsterblichkeit der Seele" 14, heute nur mehr dem Literarhistoriker genießbar, war das berühm5 Vgl.: Heinz Knobloch, Herr Moses in Berlin. Auf den Spuren eines Menschenfreundes, Berlin 1979. 6 Vgl.: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hrsg. v. Ismar Elbogen u. a., Stuttgart 1972, Band 2, S. 268-330. 7 Kant, Immanuel (22.04.1724-12.02.1804), Philosoph des deutschen Idealismus. Vgl.: Kar! Vorländer, Immanuel Kant, 4. Auflage Harnburg 1986 . (zuerst Leipzig 1911). 8 Voß, Johann Heinrich (20.02.1751-29.03.1826), Schriftsteller. Vgl.: Wilhe1m Herbst, Johann Heinrich Voß, Leipzig 1872 (Neudruck Bem 1970). Vgl.: Johann Heinrich Voß, Luise. Ein ländliches Gedicht, in: ders., Poetische Werke. Erster Theil Berlin o. J. (1879), S. 16. 9 Moses, Figur des Alten Testaments, die aber schillernd bleibt und historisch nicht genau greifbar ist. Auch seine Rolle differiert zwischen Religionsstifter, Gesetzgeber, Prophet, Priester u. a. Vgl.: Gabrielle Oberhänsli-Widmar, Mose/Moselied/Mosesegen/Moseschriften, in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 23 (Berlin/ New York) 1994, S. 330--357. 10 Konfuzius (551 v.Chr.-479 v.Chr.) chinesischer Philosoph. Vgl.: Heinrich Roetz, Konfuzius, München 1995. ll Homer (2. Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr.), erster Schriftsteller des europäischen Kulturkreises. Vgl.: Joachim Lactaz, Homeros, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike Bd. 5, hrsg. von Hubert Cancik und Helmut Schneider, Stuttgart/ Weimar 1998, Sp. 686--699. 12 Zoroaster (ca 630 v. Chr.--ca 553 v. Chr.), Religionsstifter Alt-Irans. Vgl.: Walter Hinz, Zoroastres, in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 2. Reihe, 19. Halbband, hrsg. von K. Ziegler, München 1972, Sp. 774-784. 13 Solerates (470 v. Chr.-399 v.Chr.), Philosoph, Begründer der philosophischen Grundlagen westlicher Kultur. Vgl.: Andreas Patzer (Hrsg.), Der historische Sokrates, Darmstadt 1987. Vgl.: Wolfgang H. Pleger, Sokrates. Der Beginn des philosophischen Dialogs, Reinbek 1998.

I. Moses Mendelssohn, der große Philosoph

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teste Buch seiner Zeit. Von uns aus gesehen, bleibt Mendelssohns größte Leistung die deutsche Bibelübersetzung. 15 Was Luther 16 den Deutschen, das gab Mendelssohn seinen Glaubensgenossen, die er mit seiner Bibelübertragung der deutschen Bildung zuzuführen half. Mirabeau 17 , der französische Freiheitsheld, schrieb eine besondere Schrift über Mendelssohn und verglich die Bestrebungen Mendelssohns für die Gleichberechtigung seiner Glaubensbrüder mit den gleichartigen Bemühungen Turgots 18 und der neuen nordamerikanischen Freistaaten um die allgemeinen Menschenrechte. Man macht sich heute kaum eine Vorstellung von der allgemeinen Teilnahme an Mendelssohns frühem Tode, am 4. Januar 1786. Herder 19 und Kant, Hamann20 und Jacobi21 , die Großen und Kleinen der deutschen Literatur, beteiligten sich in bewegten Worten an der Trauer. Als ein geschichtliches Unrecht bezeichnet es der bis heute unübertroffene Schilderer jener Literaturepoche, Hermann Hettner22, daß unter den Gestalten am Denkmalsockel Friedrich des Großen in Berlin Unter den Linden die Gestalt Mendelssohns fehlt. "Wie kläglich", bemerkt Hettner, "sind wir wieder abgefal14 "Phädon" oder "Ueber die Unsterblichkeit der Seele", Berlin/Stettin 1767. Vgl.: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Bd. 3,1, hrsg. v. Ismar Elbogen u.a., Stuttgart 1972, S. 6-128. 15 Vgl.: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Bd. 9,1 und 9,2, hrsg. v. Ismar EI bogen u. a., Stuttgart 1993. 16 Luther, Martin (10.11.1483- 18.02.1546), Reformator, der die Bibel ins Neuhochdeutsche übersetzte und so die deutsche Sprache neu begründete. Vgl.: Martin Brecht, Martin Luther, Stuttgart/Berlin 3. Aufl. 1986/87. 17 Mirabeau, Honore Gabriet Riquetti Je Comte de (09.03.1749-04.04.1791), französischer Politiker, Mitglied der gemäßigten Fraktion der Nationalversammlung. Vgl.: ders., Sur Moses Mendelssohn, sur Ia reforme politique des Juifs .. . Londres 1787. Eine deutsche Übersetzung erschien noch im selben Jahr in Berlin. Vgl.: Alfred Stern, Das Leben Mirabeaus Bd. 1, Berlin 1889, S. 208 ff. 18 Turgot, Anne-Robert-Jacques, Baron de l'Aulne (10.05.27-18.03.1781), Wirtschaftler und französischer Finanzminister, Anhänger der Physiokraten. Vgl.: Edgare Faure, La Disgräce de Turgot, Paris 1961. 19 Herder, Johann Gottfried (25.08.1744-18.12.1803), Theologe und Philosoph. Vgl.: Rudolf Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt, Berlin 1954 (zuerst Berlin 1877-1885). 20 Hamann, Johann Georg (27 .08.1730-21.06.1788), Schriftsteller, Philosoph. Vgl.: Rudolf Unger, Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert., 2. Auflage 1963. Vgl.: Oswald Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, München 1988. 21 Jacobi, Friedrich Heinrich (25.01.1743- 10.03.1819), Schriftsteller und Philosoph, Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Kaufmann. Vgl.: Klaus Hammacher, Jacobi, in: Neue Deutsche Biographie 10, S. 222 ff. 22 Hettner, Hermann (12.03.1821-29.05.1882), Professor der Kunstgeschichte und Museumsdirektor in Dresden. Vgl.: Heinz Otto Burger, Hettner Hermann, in: Neue Deutsche Biographie 9, S. 32 f. Vgl.: Hermann Hettner, Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, Leipzig Theil II, S. 151.

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I. Moses Mendelssohn

len von jener unbefangenen Anerkennung des rein Menschlichen, für das Mendelssohn einer der begeistertsten Propheten und Apostel gewesen!" Während die Zeitgenossen Mendelssohns, besonders sein großer Gegner Hamann, der Magus des Nordens, in neuerer Zeit liebevolle Darstellungen gefunden haben, ist Mendelssohns geistige Gestalt bisher nicht behandelt;23 wir haben nur - auch die umfangreiche Biographie Kayserlings24 ist nichts anderes - die Nebeneinanderreihung merkwürdiger Begebenheiten eines ungewöhnlichen Lebensganges, nichts weiter. In Berlin ist jetzt die Herausgabe einer erschöpfenden Jubiläumsausgabe von den besten Kennern geplant. Die Einleitung stellt zum ersten Male die geistige Gestalt Mendelssohns dar. Anläßtich der 200. Wiederkehr des Geburtstages am 6. September plant seine Vaterstadt Dessau eine größere Feier. Ihren Mittelpunkt bildet eine Ausstellung von Werken, Briefen und sonstigen Dokumenten des Philosophen. An der Feier beteiligen sich auch die Nachkommen von Moses Mendelssohn, Franz von Mendelssohn25 und Paul von MendelssohnBartholdy26, die den großen Besitz an persönlichen Erinnerungen ihres Ahnen der Ausstellung zur Verfügung gestellt haben.

23 Diese Bemerkung kann heute nicht mehr aufrechterhalten werden. Vgl.: Alexander Altmann, Moses Mendelssohn. A biographical study, University of Alabama Press 1973. 24 Kayserling, Meyer (17.06.1829-21.05.1905), Rabbiner und jüdischer Historiker. Vgl.: Encyclopaedia Judaica Bd. 9, (Berlin 1932) Sp. 1106 f. Vgl.: Meyer Kayserling, Das Leben und Werk von Moses Mendelssohn, Leipzig 1862. Vgl.: Deutsche Biographische Enzyklopädie 5, S. 481. 25 Mendelssohn, Franz von (29.07.1865-13.06.1935), Bankier. Vgl.: Deutsche Biographische Enzyklopädie 7, S. 58 26 Mendelssohn-Bartholdy, Paul von (1879-1956), Direktor der I.G. Farbenindustrie bis 1933. Vgl.: Michael Engel, Paul Mendelssohn Bartholdy, in: Neue Deutsche Biographie 7, S. 58 ff.

2. Das Bild Mendelssohns bei seinen Gegnern bis zum Tode Hegels Ein Beitrag zum Neuaufbau der geistigen Gestalt Mendelssohns Ein zufalliges Geburtstagsdatum scheint notwendig, um endlich auch das Bild Moses Mendelssohns 1 zu befreien von der konventionellen literaturund kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise, um nun endlich auch seine geistesgeschichtliche Position zu bestimmen, wie dies für seine Zeitgenossen, namentlich Hamann2 längst geschehen ist. Der Frage darf nicht ausgewichen werden, ob eine Gegenwart, zu der eben derselbe Hamann, dann Sailer3 , Baader4 , K.ierkegaard5 , kurz alle Gegner eines optimistischen Vernunftglaubens vernehmlicher sprechen als die Führer der "Aufklärung", berufen ist, das Versäumte nachzuholen. In den allerneuesten Iiterargeschichtlichen Darstellungen Mendelssohns ist kein Ansatz gemacht, die vielfach beklagte rein sensationelle Sehweise vom "jüdischen Sokrates6 " aufzugeben. Oskar Walzef gibt in seiner 1928 begonnenen großangelegten, noch nicht vollendeten Darstellung deutscher Dichtung von Gottsched8 bis zur 1 Mendelssohn, Moses (06.09.1729-04.01.1786), bedeutendster jüdischer Philosoph der Neuzeit. Vgl.: Alexander Altmann, Moses Mendelssohn. A biographical study, University of Alabama Press 1973. 2 Hamann, Johann Georg (27.08.1730-21.06.1788), Philosoph. Vgl.: Rudolf Unger, Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert., 2. Auflage 1963. Vgl.: Oswald Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, München 1988. 3 Sailer, Johann Michael (17.11.1751-20.05.1832), Theologe, Bischof von Regensburg. Vgl.: Georg Schwaiger, Johann Michael Sailer. Der bayerische Kirchenvater, Zürich 1982. Vgl.: Johannes Vonderach, Bischof Johann Michael Sailer und die Aufklärung, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 5 (1958), S. 257-273 und 384-403. Vgl.: Raimund Lachner, Johann Michael Sailer, in: Traugott Bautz (Hrsg.), Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Bd. 8 (1994), Sp. 1182-1197. 4 Baader, Franz Xaver von (27.03.1765- 23.05.1841), Theologe und Philosoph der katholisch-mystischen Gegenrevolution. Vgl.: Hans Grass), Baader, in: Neue Deutsche Biographie 1, S. 474 ff. 5 Kierkegaard, Sören (05.05.1813-11.11.1855), Theologe und Philosoph. Vgl.: Frithiof Brandt, Sören Kierkegaard. Sein Leben - seine Werke, Kopenhagen 1963. 6 Sokrates (470 v.Chr.-399 v.Chr.), Philosoph, Begründer der philosophischen Grundlagen westlicher Kultur. Vgl.: Andreas Patzer (Hrsg.), Der historische Sokrates, Darmstadt 1987. Vgl.: Wolfgang H. Pleger, Sokrates. Der Beginn des philosophischen Dialogs, Reinbek 1998. 2 Feuchtwanger

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I. Moses Mendelssohn

Gegenwart ( l) als Mendelssohnbild auch heute nicht viel mehr als eine Paraphrase des Zurufs der "Xenien"9 an Nicolai 10: Zur Aufklärung der Deutschen hast Du mit Lessing 11 und Moses mitgewirkt; ja, Du hast ihnen die Lichter geschneuzt.

Walzel verläßt erst wieder die althergebrachten Pfade der Literaturgeschichtsschreibung, wo er der Gestalt Johann Georg Hamanns neue, und zwar höchst reizvolle Seiten abzugewinnen weiß. Der vor kurzem verstorbene Leipziger Literaturhistoriker Albert Köster 12 widmet in seinem wichtigen Nachlaßband aus dem Jahre 1925 über die deutsche Literatur der Aufklärungszeit (2) Mendelssohn die ausführlichste Zeichnung seit Erich Schmidts 13 (3) allzu weltmännisch sicherer, an den Problemen vorbeischlendernder Würdigung unseres Philosophen und nach Hermann Hettners14 (4) immer noch unerreichter, enthusiastisch bejahender Schilderung seiner "stillen, aber weitgreifenden Wirksamkeit". Köster deutet wohl richtiger und nüchterner als Hettner auf den eigentlichen Hauptgrund von Mendelssohns merkwürdig breite Wirkung bei den Zeitgenossen, indem er sich Lichtenbergs 15 Bemerkung zu eigen macht: Wenn Mendelssohn kein Jude gewesen wäre, zu einer Zeit, als jüdische Schriftsteller noch selten waren, so wären seine Leistungen neben denen von Abbt 16 und Garve 17 kaum auf7 Walzel, Oskar (28.10.1864-29.12.1944), Professor für deutsche Literaturgeschichte. Vgl.: Gunter Reiss, Materialien zur Ideologiegeschichte der deutschen Literaturwissenschaft Bd. 1, Tübingen 1973, S. 129. Vgl.: Kürschners Deutscher Literaturkalender, Nekrolog 1936-1970 (1973), S. 496. Vgl.: Peter Salm, Drei Richtungen der Literaturwissenschaft, Scherer-Walzel-Staiger, Tübingen 1970, S. 37-73. 8 Gottsched, Johann Christoph (02.02.1700-12.12.1766), Professor der Philosophie, Schriftsteller. Vgl.: Kurt Wölfel, Gottsched, in: Neue Deutsche Biographie, s. 686 f. 9 Xenien: Höhepunkt der Zusammenarbeit zwischen Goethe und Schiller. 10 Nicolai, Friedrich (18.03.1733-06.01.1811), Verleger, Schriftsteller. Vgl.: Horst Möller, Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Frankfurt/M 1974. 11 Lessing, Gotthold Ephraim (22.01.1729-15.02.1781), Schriftsteller, Freund Mendelssohns. Vgl.: Brich Schmidt, Lessing. Die Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, 4. Aufl. Berlin 1929. Vgl.: Wilfried Bamer, Lessing. Epoche-WerkWirkung, 5. Aufl. München 1987. 12 Köster, Albert (07 .11.1862-29.05.1924), Professor und Literaturhistoriker. Vgl.: Joachim Müller, Köster, Albert, in: Neue Deutsche Biographie 12, S. 403 ff. 13 Schmidt, Brich (20.06.1853-30.04.1913) Professor der Germanistik in Berlin und Direktor des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar. Vgl.: Oskar Walzel, Brich Schmidt, in: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 1913, S. 385-397. 14 Hettner, Hermann (12.03.1821-29.05.1882), Professor der Kunstgeschichte und Museumsdirektor in Dresden. Vgl.: Heinz Otto Burger, Hettner, Hermann, in: Neue Deutsche Biographie 9, S. 32 f. 15 Lichtenberg, Georg Christoph (01.07.1742-24.02.1799), Physiker und Philosoph. Vgl.: Wolfgang Promies, Lichtenberg, 3. Aufl. Reinbek 1987.

2. Das Bild Mendelssohns bei seinen Gegnern

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gefallen (5). Aber Köster geht doch eiskalt und ahnungslos an der geistigen Gestalt vorüber, wenn er von M. nur zu sagen weiß: "Seine größte Tugend war die Vorsicht . . . Man stellt zu hohe Ansprüche an ihn, wenn man ihn als Philosophen an anderen großen Denkern mißt ... Die ganze Unregsamkeit der Popularphilosophie zeigte sich, als Rousseaus 18 "Heloise" erschien und der arme Mendelssohn nun diese seelischen Vorgänge gefühlsmäßig miterleben sollte. Das ging über den Horizont der ganzen Trivialaufklärung und ihres neuen Sokrates hinaus" (6). Gegenüber einer solchen allerneuesten, hinter dem Hergebrachten vielleicht noch zurückbleibenden "Wesensschau" bieten zwei zwar vorläufige, aber bis an die Wurzeln vorstoßende Skizzen die sichere Gewähr, daß wir eine bleibende Vertiefung unseres Mendelssohnsbildes erwarten dürfen: Fritz Bambergers 19 Vortrag bei der Jahresversammlung der "Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums" im Jahre 1928 über "Die geistige Gestalt Moses Mendelssohns" (7) und der Beitrag Ernst Cassirers20 zu der letzten Festschrift der Akademie für die Wissenschaft des Judentums (8) über "Die Idee der Religion bei Lessing und Mendelssohn". Baroberger und Cassirer beteiligten sich nicht mehr an der wohlwollenden, mehr oder minder, temperierten beifälligen Betrachtung eines merkwürdigen Lebenslaufes, sondern suchen das eigentliche "Verständnis" von Gehalt und Gestalt dieses edlen, zerbrechlichen Gefäßes. Ein neuer wissenschaftlicher Beitrag zu dem Verständnis der "Struktur" und "Gestalt" Mendelssohns soll hier aus dem Mißverständnis einiger Zeitgenossen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts versucht werden. Es ist nämlich exakt nachzuweisen, daß vor der kuriosen Naturerscheinung des in deutscher Sprache vernünftig philosophierenden und schreibenden Juden aus dem Stamme einer mythologischen und eigentlich nur theologisch in 16 Abbt, Thomas (25.11.1738-03.11.1766), Philosoph, Kritiker und Mathematiker. Vgl.: Hans Erich Bödeker, Thomas Abbt. Patriot, Bürger und bürgerliches Bewußtsein, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1981, S. 221-253. 17 Garve, Christian (07.01.1742-01.12.1798), Philosoph. Vgl.: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, begründet von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber, Bd. 54 (Leipzig), S. 90-121. Vgl.: Wolfgang Riede!, Christian Garve, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache Bd. 4, hrsg. von Walther Killy, Gütersloh/München 1992, S. 86 f. 18 Rousseau, Jean-Jacques (28.06.1712-02.07.1778), Philosoph und Verfasser der ,,Julie ou la Nouvelle Heloise" (1761). Vgl.: Louis Ducros, Jean-Jacques Rousseau, 3 tom. Geneve 1970. 19 Bamberger, Fritz (07.01.1902-?), Professor der Philosophie, Rabbiner. Vgl.: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration II, S. 51. 2° Cassirer, Ernst (28.07.1874-13.05.1945), Professor der Philosophie. Vgl.: Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Modeme, Berlin 1997. 2*

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seiner Nochexistenz erklärbaren Spezies Mensch, daß über dem Anblick dieses Schauspiels auch die Besten der Zeit weder zu einem Sinn-, noch zu einem Sach-, oder gar zu einem Seel- oder Motivationsverstehen (9) des Komplexes "Moses Mendelssohn" vordrangen; sie sahen sich vielmehr ziemlich ratlos vor einer verwirrenden Doppelgestalt, vor der alten Judenfigur, die von jeher gleichsam zur deutschen, europäischen Landschaft, zum Stadtbild gehörte, wie die Koppe vor dem Weichbild, der Dom, der Brunnen: für Besinnlichere ein von der geistigen und körperlichen Umwelt grell abstechendes, unheimliches Geschöpf ein Warnungszeichen in der natürlichen und göttlichen Weltordnung. Jeder Zusammenhang dieses geächteten Volkes mit dem Volk der Bibel war durch die Lehre von der Christenheit als dem "wahren Israel" aus dem Bewußtsein ausgestrichen. "Ein zu pfiffiger Hebräer, als daß ein ehrlicher Christ mit ihm auskäme" (10), so urteilt selbst Herder summarisch über Mendelssohn. Auf der anderen Seite rätselhafterweise ein Gleichgesinnter, in manchem vorbildlicher Denker und Kunstrichter! "Der hätte den Göttlichen nimmer gekreuzigt!" Das Jüdische war zudem auch in seinem Schaffen betont, in "Jerusalem" sogar philosophisch begründet. Was man sich von einem Juden zu versehen hatte, war in den Jahrhunderten starres, schlechthin unlösliches praelogisches und praekausales Vorstellungsgut geworden, auch bei den größten, gutwilligsten Zeitgenossen (11). Die während dritthalb Jahrtausende ungebrochene geistige Voraussetzung zu diesem Bild in der abendländischen Welt, der alte Glaube an die eine christlich-kirchliche Kulturgesellschaft, außerhalb derer es kein menschenwürdiges Dasein gibt, war viel zu kurz vor der hier behandelten Zeit, eigentlich erst seit Spinoza21 , kritisch angetastet worden, als daß eine andere Spiegelung oder gar eine gegenseitige Verständigung möglich gewesen wäre. In der christlichen universalen Seinshierarchie hatte der Jude wie jedes Schöpfungsding einen fest umrissenen Platz. Nur so ist zunächst das Bild zu erklären, das sich im Kopfe Hamanns von Mendelssohn malt (12). Eine Betrachtung dieses Gegensatzpaares von dem Mißverstehen der "Sokratischen Denkwürdigkeiten" in den Literaturbriefen (13) an, bis 25 Jahre später Hamann dem staatskirchenrechtlichen Traktat "Jerusalem"22 über die Duldung und Gleichberechtigung der Juden gegen die Absolutheit des Christentums, seine eigenen Glaubensartikel "Golgatha und Scheblimini"23 über die Einzigartigkeit des altlutherischen 21 Spinoza, Baruch (24.11.1632-21.12.1677), jüdischer Philosoph. Vgl.: Helmut Seidel, Spinoza zur Einführung, Harnburg 1994. Vgl.: Alan Donagan, Spinoza, Brighton 1988. 22 Vgl.: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Bd. 8, hrsg. v. Ismar Elbogen u.a. Stuttgart 1983, S. 99-204. 23 Vgl.: Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke Bd. III, hrsg. v. Josef Nadler, Wien 1951, S. 291- 320.

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Glaubens entgegenspritzte, eine solche Betrachtung führt weit über die literarhistorische Einsicht in eine geistesgeschichtlich entscheidende Epoche hinaus, mitten in das Zentralproblem der Auseinandersetzung und gegenseitigen Abstoßung elementarer, polar entgegengesetzter geistiger Typen und Verhaltungsweisen gegenüber dem Religiösen. "Unser öffentlicher sowohl als Privatcharakter zeigt angeborene Gramschaft", schreibt Mendelssohn 1762 an Hamann (14). Man kann, ohne sich auf triebpsychologische Pfade locken zu lassen, die Andersgeartetheil der Grundstruktur der zwei geistigen Gestalten in Folgendem sehen: Hamann ist zunächst schon der äußeren Form seiner Werke Fragmentist wie sein Zeitgenosse Justus Möser24, sein literarisches Schaffen ist aphoristisch; "körnicht, aber etwas dunkel" empfindet Mendelssohn die "Sokratischen Denkwürdigkeiten (15). Hamann will keine Frage systematisch lösen, er gibt keine Formeln, sondern zerstreute Andeutungen; seine Prägungen kann man als vollsaftigen Naturalismus und urwüchsigen Wirklichkeitsdrang bezeichnen (16)." Nur keine leeren, abgezogenen Begriffe, die scheue ich wie stille tiefe Wasser" (17). Der jüdische Philosoph dagegen wägt und dreht jedes Wort, jeden Satz dreimal, bis er in den langsamen, vorsichtigen, lehrhaften Vortrag paßt. Jeder Gedanke gehört zu einem spekulativ gewonnenen, vollständig ausgearbeiteten Urteil mit einem bestimmt gehaltenen, ruhigen und festen Tenor, von weitläufigen Gründen unterbaut. Der Stil ist auch im Fall Hamann und Mendelssohn der Mensch selber. Der Hauptunterschied liegt indes in den Grundlinien der Ideen! In der Aesthetik hebt Hamann ganz bewußt das Genie, das Originale, Ursprüngliche, Schöpferische heraus aus den Regeln und Gesetzen, die nur Krücken für die Lahmen seien (18). Die steife äußerliche abstrakte Bindung "des Schönen" an die Begriffe Vollkommenheit und Zweckmäßigkeit, die bei Wolff25 , Sulzer26 und Mendelssohn einen so langweiligen, vom Wesentlichen der Kunst weit entfernten Hauptbestimmungsgrund des Aesthetischen abgeben müssen, spielt bei Hamann keine Rolle; noch vor Herder27 weiß es Hamann: "Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts"(19). Kunst ist für Hamann der ursprünglichste Ausdruck des inneren Lebens. Davon hat Mendelssohn keine Ahnung.

24 Möser, Justus (14.12.1720--07.01.1794), Jurist. Vgl.: William F. Sheldon, Justus Möser, in: Neue Deutsche Biographie 7, S. 687 ff. 25 Wolff, Christian Freiherr von (24.01.1679-09.04.1754), Professor der Philosophie. Vgl.: Wemer Schneiders, Wolff Christian, in: Deutsche Biographische Enzyklopädie 10, S. 571. 26 Sulzer, Johann Georg (16.10.1720--25.02.1779), Philosoph. Vgl.: Walter Killy, Sulzer Georg, in: Deutsche Biographische Enzyklopädie 9, S. 631. 27 Herder, Johann Gottfried von (25.08.1744-18.12.1803), Theologe, Schriftsteller und Philosoph. Vgl.: Rudolf Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt, Berlin 1954 (zuerst Berlin 1877-1885).

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Die weiteste Kluft zwischen den beiden tut sich aber in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit auf. Hier war ein gegenseitiges Verständnis von vomherein nach der verschiedenen Wurzel der beiden Persönlichkeiten ausgeschlossen, und gerade das gegenseitige Mißverständnis verschafft in das grundverschiedene Weltverhältnis jedes der Zwei den tiefsten Einblick. Bei dieser Nebeneinanderstellung lassen sich die alten Schubfächer "Aufklärung" und "Romantik" schlechthin nicht mehr brauchen. Hamann ist Realist, aber in einem scharf umrissenen, gläubig-positiven Sinn. "Ich will den Berlinischen Idealismus des Christentums und Luthertums widerlegen durch einen historischen und physischen Realismus. Idealismus und Realismus sind nichts als entia rationis, wächserne Nasen, Christentum und Luthertum sind res facti, lebendige Organe und Werkzeuge der Gottheit und Menschheit (20). Seyn ist freylich das Ein und alles jedes Dinges. Aber das 'tuov der alten Metaphysik hat sich leider! in ein Ideal der reinen Vernunft verwandelt, dessen Seyn und Nichtseyn von ihr nicht ausgemacht werden kann. Ursprüngliches Seyn ist Wahrheit, mitgetheiltes ist Gnade (21). Die ganz konkrete Fülle der Wirklichkeit, das Faktum und Perfektum, liegt für Hamann in der Bibel; im Glauben, in dem einfachen Fürwahrhalten des darin Erzählten ist ihm die Wendung von der subjektiven Existenz zum objektiven göttlichen Handeln begründet. Es ist Luthers echter, massiver, orthodoxer Realismus, für den - ohne subjektive und geschichtlich relativierende Erweichung - das Christentum weitab von der Idee der Toleranz einzig gültig ist. An Hamann ist die neuere evangelische dialektische Theologie mit ihrer Kernanklage der idealistischen Philosophie als Verfälschung des Christentums zur Reife gekommen (22). In "Jerusalem" und der Gegenschrift "Golgatha und Scheblimini" wird der eben beschriebene Gegensatz von Hamanns Realismus und Mendelssohns "vernünftiger Religion" vollkommen deutlich, aber gleichzeitig auch die absolute Verständnislosigkeit Hamanns und der christlichen Umwelt gegenüber Mendelssohns geistiger Gestalt. Hamann schrieb gelegentlich des Spinoza-Streites (am 16. Jan. 1785) an Jacobi (23): "Die Wahrheit zu sagen, sehe ich den Philosophen mit Mitleiden an, der erst von mir einen Beweis fordert, daß er einen Körper hat und daß es eine materielle Welt gibt." Dieser Satz ist auch gegen Mendelssohns "vernünftige Spekulationen" in "Jerusalem" gerichtet. Hamann argwöhnt (ebenso seine Freunde Jacobi, Herder, Goethe) hinter der humanen Aufgeklärtheil Mendelssohns müsse noch eine ganz besonders raffinierte Rabulistik und "echt hebräische Pfiffigkeit" stecken, anders ließe sich seine unentwegte Verteidigung des Judentums verbunden mit seiner Forderung der strengen minutiösen Gesetzestreue nicht erklären. Am meisten machte dieses Gespenst eines vermeintlichen "Pferdefußes des Stockjudentums" 30 Jahre später dem bedeutenden Frankfurter Staatsmann und vielseitigen Gelehrten Johann Friedrich von Meyer (24)28 zu schaffen, der "Golgatha" im Jahr 1818 wieder ausgrub, sorgfältig edierte und mit einer weitläufigen Vorrede

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versah: "Wir ließen ihm seine Betriemen, wenn er uns nur die unsrigen abbinden half (S. XX). Der Jude, der sein Gesetz hat und hält, so weit möglich, hat einen Stab zum Wandeln in dieser Welt; das sah auch Mendelssohn klug genug ein, aber er machte sich kein Gewissen daraus, dem Christen den seinigen zu nehmen" (S. XXI). Keiner anderen Nation, das ist die tiefe Einsicht Johann Friedrich von Meyers, sei das Irrationale des Glaubens so eingefleischt und eine seichte Vernunftgläubigkeit so innerlich entgegengesetzt wie den Juden. "Zur Zeit, wo die Juden in schwererem Druck waren, waren sie, um das Heiligtum ihrer Thora gesammelt, zufriedener als jetzt. Seitdem sie in das bequeme äußere Leben der Christenwelt eingeflochten sind, wundern sie sich, daß diese noch ein Unterschied machen könne. Ehedem stritten sie für die Wahrheit und Reinheit ihres Glaubens ... Jetzt ist allerwärts jener Allglaube eingetreten, der ... auch alles Positive als gleichgültige Gestaltung des Unendlichen, als Gedicht behandelt" (S. XXVII ff.). Die größte Schulddaranhabe Mendelssohn. "Schreiben wir denn dieses nun als Feinde der Juden? Wohl keineswegs. Wir wüßtens nicht besser anzufangen, um diese Nation unglücklich zu machen, als wenn wir wünschten, daß Mendelssohns Geist auf ihr beruhen möchte. Hat Mendelssohn die Juden kultiviert, so hat er sie auch geirrt, und in einen unseligen Sandweg geleitet, wo man nicht weiter kommt, und am Ende liegen bleibt und verschmachtet". An diese Sätze hat, seitdem sie vor fast 120 Jahren ausgesprochen worden sind, niemand mehr erinnert. Hier geht es nicht um ihre Richtigkeit oder Irrtümlichkeit, sondern um das grandiose Mißverstehen des Wollens und Denkens M.' s durch seine Zeitgenossen. Tatsächlich hat nämlich M. einen ähnlichen, höchst "realistischen" unspekulativen Gedanken, wie Hamann in der oben zitierten Briefstelle von dem bedauernswerten Philosophen, der erst beweisen muß, daß er einen Körper hat und daß es eine materielle Welt gibt, in Bezug auf sein eigenes Judentum mit aller Deutlichkeit schon 1770 in der Bonnet-Lavater-Affäre29 ausgesprochen: "Ob ich Vorortheile für meine Religion habe, kann sich selbst nicht entscheiden, so wenig ich wissen kann, ob mein Odem einen üblen Geruch habe" (25). Die Mahnung an die Glaubensbrüder in "Jerusalem": "Schicket euch in die Sitten und in die Verfassung des Landes, in welches Ihr versetzt seid; aber haltet auch standhaft bei der Religion Eurer Väter. Traget beider Lasten, so gut Ihr könnt" (26), glaubte M. philosophisch schlüssig begründet zu ha28 Meyer, Johann Friedrich von (1772-1849) Jurist, Schriftsteller und Theaterdirektor, der sogenannte Bibel-Meyer. Vgl.: J. Hamberger, Meyer, Johann Friedrich v.M., in: Allgemeine Deutsche Biographie 21, S. 597 ff. 29 Bonnet, Charles (13.03.1720-20.05.1793), Naturforscher. Lavater, Johann Caspar (15.11.1741-02.01.1801), Theologe in Zürich. Vgl.: Wolfgang ProB, Lavater, in: Neue Deutsche Biographie 3, S. 746-750.

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ben. In Wahrheit suchte M. mittels des "Schlangenbetruges der Sprache unter ebenso verschiedenen als mannigfaltigen Wortgestalten" mittels der Lehrmeinungen der Philosophie, "die nichts als eine alphabetische Schreiberei menschlicher Spekulation, und dem wandelbaren Mond- und Mondenwechsel unterworfen ist", den naiven selbstverständlichen "Realismus" seines Glaubens, die sichere Geschlossenheit seines Gesamtdaseins, die "Pollypraxie" seiner täglichen religiösen Handlungen mit der Unausweislichkeit logisch-mathematischer Evidenz zu umkleiden. Als Mendelssohn im "Jerusalem" diesen Versuch machte, war das Zeitalter der Aufklärung längst abgeklungen. Das Urteil Hegels30, gelegentlich der Rezension von Harnanus Gesammelten Schriften, über die Berliner Aufklärung (Nicolai, Mendelssohn, Teller31, Spalding32, Zöllner33 (27) hat sich im Wechsel der Anschauungen eines Jahrhunderts als unumstößlich und tief begründet erwiesen, keineswegs als einseitige Auffassung des Kant-Hegelschen deutschen Idealismus, allerdings ohne jedes Verständnis des Juden M. Selbst mit der landläufigen Lessing-Mendelssohn-Legende hätte diese bis heute beste Beschreibung der europäischen geistigen Lage von 1750-1780 aufräumen müssen, wenn Hegels Kritik nicht als gelegentliche Rezension so gut wie außerhalb der Oeffentlichkeit erschienen wäre. "Lessing", heißt es da, "längst gleichgültig gegen das Berliner Treiben, lebte in Tiefen der Gelehrsamkeit wie in ganz anderen Tiefen des Geistes, als seine Freunde (gemeint ist Mendelssohn), die vertraut mit ihm zu seyn meinten, ahneten (28). Eine geistesmächtige Opposition hatte schon um 1770 gesiegt, die souverän über die abstrakte Spekulation der natürlichen Religion in Theologie und Moral hinwegschritt und bis zu den Quellen des frommen Erlebens selbst vordrang. Gegenüber Herders "Ältester Urkunde des Menschengeschlechts" (1774 ), seinem kurzen Taktat "Von der Ebräischen Elegie" 30 Hege!, Georg Wilhelm Friedrich (27.08.1770-14.11.1831), Philosoph der den deutschen Idealismus vollendet hat. Vgl.: Arseni Gulyga, Georg Wilhelm Friedrich Hege!, Frankfurt/M. 1974. 31 Teller, Wilhelm Abraham (09.01.1734-{)8.12.1804), Oberkonsistorialrat in Berlin. Vgl.: Klaus-Gunther Wesseling, Wilhelm Abraham Teller, in: Traugott Bautz (Hrsg.), a. a. 0., Bd. 11 ( 1996), Sp. 627-636. 32 Spalding, Johann Joachim (01.11.1714-22.05.1804), Oberkonsistorialrat in Berlin. Vgl.: Thomas K. Kuhn, Johann Joachim Spalding, in: Traugott Bautz (Hrsg.), a.a.O., Bd. 10 (1995), Sp. 868 ff. Vgl.: Andreas Urs Sommer, Sinnstiftung durch lndividualgeschichte. Johann Joachim Spaldings "Bestimmung des Menschen", in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte Bd. 8 (2001) S. 163-200. Vgl.: Andreas Urs Sommer, Johann Joachim Spalding, in: Markus Vinzent (Hrsg.), Metzlers Lexikon christlicher Denker, Stuttgart/Weimar 2000, S. 641. 33 Zöllner, Johann Friedrich (24.04.1753-12.09.1804), Oberkonsistorialrat in Berlin, Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Volksaufklärer.

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(1781), und den beiden großen Büchern "Vom Geist der Ebräischen Poesie" (1782/83) wirkt Mendelssohns philosophische Begründung des Judentums bis zum heutigen Tag blaß und schemenhaft. Die großen Errungenschaften der "Aufklärung", ihre geistigen Fundamente, die Leibniz34 und Locke35 , Hobbes36 und Spinoza errichtet hatten, blieben freilich unveräußerlicher europäischer Besitz. Mendelssohn und die Popularaufklärung um ihn herum haben diese Hauptidee jedoch nur in Kleingeld umgemünzt. Zu der sich gegen die Trivialisierung des Religiösen erhebenden Opposition gehörten die Besten der Zeit: Goethe, Herder, Hamann, Jacobi, Johannes von Müller37. "Das Bedeutsame" ist, sagt der neueste und beste Kenner der Zeit, Paul Wernle38 (29), "daß die Führer dieser Opposition Männer von freiester, modernster Bildung, von unermeßlicher literarischer und geschichtlicher Belesenheit, von völliger Weltoffenheit waren, die, von dem reflektierten, künstlichen und moralistisch kleinlichen Wesen des Zeitgeistes unbefriedigt, zu den Quellen des Lebens strebten, um in voller Unmittelbarkeit und genialer Ursprünglichkeit alles Große, Tiefe und Göttliche auf sich wirken zu lassen". Der Führer der Aufklärungsgegner war Hamann. Gewiß bleibt "Golgatha und Scheblimini" an allgemeiner Spontanität, gedanklicher Schlagkraft und religiösem Ursinn dem religionspolitischen Traktat "Jerusalem" weit überlegen. Aber weder Hamanns noch Herders noch Jacobis Einfühlungsvermögen reichte zu der Ahnung aus, daß der sich so spekulativ-abstrakt, vernünftig-moralisch gebärdende Jude, an dessen persönlicher Verehrung es kein Zeitgenosse fehlen ließ, viel stärker als jeder von den souveränen Opponenten selbst mit dem tiefsten irrationalsten Gefühl im Religiösen, in dem starken Glauben an die "Realität" von Bibel und Offenbarung (im Sinne Hamanns) sowie der jüdischen Pflichtenlehre eingebettet war, so sehr auch die Theorien über das Judentum im zweiten Teil von "Jerusalem" darüber hinwegtäuschen.

34 Leibniz, Gottfried Wilhelm, Freiherr von (0 1.07 .1646--14.11.1716), Philosoph und Mathematiker. Vgl.: Heinrich Schepers, Leibniz, in: Neue Deutsche Biographie 4, s. 121-131. 35 Locke, John (29.08.1632- 28.10.1704), Philosoph. Vgl.: Reiner Specht, John Locke, München 1989. 36 Hobbes, Thomas (05.04.1588--04.12.1679), Philosoph und Staatstheoretiker. Vgl.: Wolfgang Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, Harnburg 1992. 37 Müller, Johannes von (03.01.1752-11.05.1809), Minister, Staatsekretär im Königreich Westfalen, Historiker. Vgl.: Mattbias Pape, Müller Johannes von, in: Neue Deutsche Biographie 18, S. 315-318. 38 Wemle, Paul (01.05.1872-11.04.1939), Professor für neuere Kirchengeschichte, Dogmengeschichte und Geschichte des protestantischen Lehrbegriffs. Vgl.: KlausGunther Wesseling, Paul Wemle, in: Traugott Bautz (Hrsg.), a.a.O., Bd. l3 (1998), Sp. 872-879.

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Mattbias Claudius39, der "Wandsbecker Bothe", der hellste und warmherzigste unter den zahlreichen neugierigen Zuschauern des Mendelssohn-Jacobi-Streits, war der einzige, der den tieferen Sachverhalt von der inneren Unabhängigkeit der Mendelssohn'schen Theorien von Vernunftgründen richtig erkannte. "Herrn Mendelssohns Bekanntschaft ist mir nicht beschieden gewesen", heißt es am Schlusse der denkwürdigen Rezension von Claudius von 1786 über Mendelssohns Abwehrschrift "An die Freunde Lessings" (30); "aber ich habe ihn als einen hellen forschenden Mann mit vielen Andern geachtet; und als Jude habe ich, wie man sagt, ein tendre für ihn, um seiner großen Väter und um meiner Religion willen." Nur eine solche noble Gesinnung machte den wahren Deutschen und christlichen Volksschriftsteller, übrigens im Verein mit Herder, Hamann, Jacobi einen ganz entschiedenen Gegner der "Aufklärung", zu einem schärferen und hellsichtigeren Erkenner der irrationalen Seite von Mendelssohns Wesen als alle anderen gelehrten und ungelehrten, jüdischen und christlichen Beurteiler bis zur Gegenwart. Mattbias Claudius ist der einzige Schriftsteller, der in dem Spinoza-Streit die richtige Frage stellt und implizite die richtige Antwort gibt: "Worte tun nichts zur Sache; und um wie viel ist denn in der Sache, das was Herr Mendelssohn sagt, von dem verschieden, was Herr Jacobi sagt?" (31 ). Für Mendelssohn lag eine Relativierung des Glaubens, wie sie von Herders Betrachtung der religiösen Urkunden als Quellen des frommen Erlebens ausging, außerhalb des Bereichs innerer Möglichkeit, weil diese Betrachtungsweise unvereinbar mit seiner Gewißheit von der Absolutheil des Judentums gewesen wäre. Denn in Wahrheit waren seine Beweisgründe gegen die Verabsolutierung des Christentums, gegen den christlichen Staat rein politischer Natur, in einer politischen Kampfschrift für die Juden aufgestellt. Die Hauptthese in ,,Jerusalem", daß der Jude an das Gesetz, auch an das "Ceremonialgesetz" absolut gebunden sei, und "uns unsere Vernünftelei nicht von dem strengen Gehorsam befreie" (32), stürzt in der Tat alles Spekulative, gegen das Hamann so zornig wettert, wieder um. "Die Ehrfurcht vor Gott zieht eine Grenze zwischen Spekulation und Ausübung, die kein Gewissenhafter überschreiten darf' (33). Die Darlegungen des Verhältnisses von Religion und Staat im ersten Teil von "Jerusalem" sind nichts anderes als die Wolffschen Grundsätze des Naturrechts (34). Die der staatskirchlichen momentanen Lage der Juden entsprechenden Thesen im zweiten Teil von "Jerusalem" waren zum großen Teil nachweisbar aus der protestantischen "Übergangtheologie", der sog. "vernünftigen Orthodoxie" (35) hergeholt; dazu gehört insbesondere die Lehre von den drei Wahrheiten, von dem Fehlen der Glaubensartikel, eines Dogmas oder Zwanges im Ju39 Claudius, Mattbias (15.08.1740--21.01.1815), Schriftsteller. Vgl.: Herbert Rowland, Mattbias Claudius, Boston I 983.

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dentum, die Definition des "Ceremonialgesetzes", endlich die Anweisung sich in die Sitten des Landes zu schicken, also "zween Herren in Geduld und Ergebenheit zu dienen". Daß diese höchst anfechtbaren Theorien und Anweisungen später zur Hauptsache, zur Schullehre des im 19. Jahrhundert in Europa zur Herrschaft gelangten Judentums gemacht wurden, dafür ist Mendelssohn nicht verantwortlich. Der noch zu leistende Neuaufbau der geistigen Gestalt Mendelssohns wird aus dem Kontrast zu der ragenden, uns in den letzten Jahren so nahe gerückten Gestalt Herders, seiner gesamten geistigen, namentlich religiösen Stellung in seiner Zeit die wichtigsten Aufbauelemente herholen müssen. Die Grundlinien dieses Gegensatzes seien hier in der nötigen Kürze gezogen (36). Zwischen Goethe und Herder zerriß im Jahre 1796 eine Weltanschauung in zwei Stücke, nachdem sich in den beiden Persönlichkeiten zwei sich ausschließende deutsche Kulturtypen scharf ausgeprägt hatten. Das war in den Beziehungen Mendelssohn-Herder unmöglich, weil beide nicht auf gleicher Ebene miteinander umgingen, einander nicht als gleiche Menschen beurteilten und sahen. M. war in den Augen Herders genau so wie in denen Goethes, im Grund genommen bloß eine interessante Abnormität, trotz aller uns immer wieder begegnenden vornehmen Einhaltung der persönlichen Achtungsformen, in Wirklichkeit nicht mehr als eine Kuriosität des damaligen Welttheaters. Das beispiellos geschlossene, harmonische, starke Einzelwesen Moses Mendelssohns mit den friedliebenden, fast ängstlichen Zügen war für die beiden wie für die damaligen, gebildeten Deutschen, ja Europäer insgesamt, eine fremde, unzugängliche Welt, trotz der gleichen sprachlichen Ausdrucksformen und des gleichen Gesprächthemas. Es wäre menschlich ungerecht und wissenschaftlich eine Spielerei, Herders und Mendelssohns Schrifttum gegeneinander zu wägen und zu messen. Hier geht es nicht mehr wie bei dem Gegensatzpaar Goethe-Herder um zwei nach Gaben, Schicksal, Temperament, Weltverhältnis und Leistungen von einander abstechende Persönlichkeitstypen, sondern um zwei Menschen von verschiedenen Planeten, mit verschiedenem Wurzelstock, von verschiedenem Stoff, trotz der allgemeinen Tendenz der Zeit, deren Strom beide trug. Deshalb könnte auch eine erschöpfende Vergleichung der philosophischen, ästhetischen, literaturkritischen, sprachkünstlerischen und theologischen Seite des Schrifttums von Herder und Mendelssohn zur Wesensermittlung der beiden Köpfe relativ wenig beitragen, obwohl diese Arbeit sehr dringend ist. Denn Herder war, das stellt sich jetzt mehr und mehr heraus, der eigentliche Schöpfer der deutschen Bildung, des modernen geschichtlichen Denkens, "der Befreier und Verkünder des anonymen Volkes", das heißt der Entdecker der Volkstumsindividualitäten überhaupt. "Vergeblich würde man nach einem knappen Schlagworte suchen für die unübersehbare gedankliche Schöpfung dieses Mannes, die fast auf jedem Gebiet öffentlichen, geistigen, wissenschaftlichen Lebens die Geleise für die rol-

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Iende Entwicklung der kommenden Menschenalter festlegte (37). Von Herder geht eine schöpferische Umwälzung aus, ohne daß wir uns bei Begegnung scheinbar neuer geistiger Entdeckungen jedesmal seines Namens bewußt werden. Mendelssohn war als deutscher Schriftsteller mit all seinen so oft herausgestellten ästhetischen und kritischen Verdiensten eine Modegröße wie etwa Garve und Abbt, als Jude dagegen mit seinem eigenen noch ganz geschlossenen Volkstum aufs innigste - ganz wortlos - verwachsen, als Führer aus dem geistigen und politischen Ghetto von überwältigender, sprengender Wirkung. Die Verteilung dieser Doppelrolle ist im 19. Jahrhundert bis heute aus einer leicht begreiflichen Tendenz verwirrt worden. Die Begegnung Herder-Mendelssohn, vorurteilslos von allen Seiten betrachtet, stellt die eigentliche, in ihrer Art großartige geschichtliche Bedeutung M.' s wieder nach den wirklichen Vorgängen heraus. Nach der ästhetisch-philosophischen und literarhistorischen wie nach der theologisch-religiösen Seite sind heute neue Feststellungen möglich. In seinen Ratschlägen an junge Theologen hat Herder den Mendelssohn' sehen ästhetischen Schriften ganz unbefangen die richtige Stelle angewiesen: "Mich dünkt der schöne Ton, der in Mendelssohns Briefen über die Empfindungen herrscht, ist ein jugendlicher glücklicher Nachhall des englischen Philosophen" (gemeint ist Shaftesbury40) (38) Über M. als Kritiker hat eine neueste Arbeit von Max Wedel41 aus der Schule von Petersen und Roethe42 neue Ergebnisse gefördert (39), die zunächst einmal beweisen, daß M. auch als Kritiker nicht der verschrieene Rationalist war, der dem Genie schwache und dürre Satzungen vorschrieb. Vielmehr verstand M. schon sehr einfühlend das Individuum "mit seiner Einmaligkeit, seinem Irrationalismus und seinen unbegreiflichen Gefühlskomplexen". Die Exaktheit, mit der Wedel Mendelssohns und Herders Anteil an der Rezension von Ramlers43 Oden in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek im Gegensatz zu den Annahmen Suphans44 vorgenommen hat (40), gewährt jetzt eine tiefe Einsicht in die verschiedene Art, in der Herder und M. ihr Kritikeramt ansahen. Es mag richtig sein, daß 40 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper of (26.02.1671-15.02.1713), Schriftsteller und Politiker. Vgl.: Christian Friedrich Weiser, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben, 2. Aufl. Darmstadt 1969 (Leipzig/Berlin 1916). 41 Wedel, Max promovierte 1927 mit der Dissertation "Herder als Kritiker" bei Julius Petersen. Vgl.: Max Wedel, Herder als Kritiker, Berlin 1928 (=Germanische Studien Heft 55). 42 Petersen, Julius (05.11.1878-22.08.1941 ), Professor der Germanistik in Berlin, Präsident der Goethe-Gesellschaft. Vgl.: Gunter Reiss, Materialien zur Ideologiegeschichte der deutschen Literaturwissenschaft Bd. 2, Tübingen 1973, S. 140. Roethe, Gustav (05.05.1859-17 .09.1926), Professor der Germanistik in Berlin, Vorsitzender der Goethe-Gesellschaft. 43 Ramler, Kar! Wilhelm (25 .02.1725-11.04.1798), Schriftsteller, Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Vgl.: Wilhelm Eggebrecht, Ramler, in: Pommersehe Lebensbilder 4, Köln/Graz 1966, S. 153-167.

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man die "Abstrahierende Kritik der Übergangszeit" bei M. nicht so schulmäßig von der "Erlebniskritik" Herders scheiden kann, weil Kritik im 18. Jahrhundert nicht einen sorgfältig abgrenzbaren Tätigkeitsbereich bedeutet, sondern Grundstimmung der aufklärerischen Lebenshaltung überhaupt, philosophische Kontrollinstanz des universalen geistigen Zusammenhangs ist (41). Es ist ferner richtig, daß bloße Belege bei dem ungeheuren Umkreis des Herder' sehen Schaffens in den drei Epochen noch nicht Erweise eines spezifischen Stils, etwa des Stils der Erlebniskritik oder ganz allgemein einer spezifischen geistigen Haltung im Gegensatz zu der M.' s sind. Die Wedelschen exakten Distinktionen, die aber natürlicher Weise die großen ineinander flutenden Zusammenhänge künstlich zur Erstarrung bringen müssen, machen uns jedenfalls vollständig sicher in der aus noch viel unmittelbareren Quellen gerechtfertigten Deutung der geistigen Gestalt M.'s. Wenn Herders vielgerühmtes, angeborenes, einmaliges Genie darin bestand, sich wie keiner in fremde Seelen aller Zeiten und Völker zu versetzen, so befähigte M. jüdisches Erbgut und Schicksal, in seinen Kritiken regelmäßig, beharrlich, gerecht, schlicht, vorsichtig-rational, nicht willkürlich, rhetorisch, subjektiv, fremdes Denken und Fühlen abzutasten, klug und fein zu analysieren oder bewußt zu verstummen, wenn auf den kühlen Pfaden der Kunstregel und der Vernunft elementaren Kräften in einer Kunstleitung oder den echten Äußerungen eines Volkstums im Lied, der Dichtung, in der religiösen Urkunde nicht beizukommen war. Hier noch einiges zur sonderbaren gegenseitigen Grundhaltung der beiden Gestalten und zu den religiösen-theologischen Kontrasten, zur Bestätigung der These vom verschiedenen Erdreich und der Irrkommensurabilität der Persönlichkeiten, um die es hier geht. Von der Debatte Herders mit Mendelssohn über die Unsterblichkeit Ende der 60iger Jahre über die persönliche Begegnung in Pyrmont fünf Jahre später bis zu Herders Urteil im Spinoza-Streit am Lebensende Mendelssohns sind die eigentümlichen und schwankenden Beziehungen der Beiden eben so oft beurteilt wie gründlich mißverstanden worden (42). Mit der Alternative Abneigung gegen die Juden oder Zuneigung zu ihnen geht die Deutung der vor uns ausgebreiteten gegenseitigen Äußerungen im vomherein fehl. Mendelssohn sah vollkommen klar und instinktsicher, als ihm Herder trotz seiner hohen Einschätzung des "Phädon" in Pyrmont aus dem Weg ging. M. teilte später seine Empfindungen darüber Herder unverhohlen mit (43): "Je näher in Lehre, desto entfernter im Leben. Diese Sprache hat mir so mancher rechtschaffene Mann in Ihrer Lage zu verstehen gegeben, daß sie mich an Ihnen nicht befremdet"; er schreibt diese zwar weltkluge, aber 44 Suphan, Bemd (18.01.1845-09.02.1911), Professor, Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar. Vgl.: Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog Bd. 16 ( 1911 ), Totenliste.

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wenig noble Attitude seiner eigenen "bürgerlichen Lage" zu: "Diese bedarf allezeit mehr passive als aktive Herablassung". Und genau so offen schreibt er (44) an Herder bei der Uebersendung der Pentateuchübersetzung (als Gegengabe für Herders "Offenbarung Johannis"): "Auch ich habe Kinder, die ich erziehen soll. Zu welcher Bestimmung? ob im Sachsengothaischen bei jeder Durchreise ihren jüdischen Kopf mit einem Würfelspiel zu verzollen oder irgend einen kleinen Satrapen das Märchen von den nicht zu unterscheidenden Ringen zu erzählen, weiß nur der, der uns all unsere Pfade vorgemessen". M. macht sich also trotz seiner Freundschaft mit den Großen und Weisen seiner Zeit keine Illusion; sein Gleichmut, sein inneres Wissen um die Eitelkeit des literarischen Betriebes, um die tiefe Artverschiedenheit, die ihn von seinen christlichen "Freunden" trennt und über die keine Gleichheit der philosophischen Theorien hinweghilft, seine Großmut und seine verzichtende Klugheit, alles das macht ihn im höheren Sinn zum Sieger und zum Überlegenen, allerdings nicht philosophisch-literarisch. Denn der größere Schriftsteller bleibt Herder. Herders wahre Meinung über M. kommt in seinen intimen Briefen an Hamann zum Ausdruck. Man halte gegeneinander, was Herder an M. über "Jerusalem" (45) und an Hamann über "Golgatha" (46) schreibt, und man zweifelt nicht mehr, in welchem Lager er steht. An Hamann läßt er sich über "Golgatha und Scheblimini" so aus: "Ich habe mich geschämt, da ich Ihr starkes Gefühl vom Geist des Juden- und Christentums mir in die Seele sprechen härte. Das ist der reine alte Glaube, den sie schildern; oder es gibt keinen". Und zwei Tage vor dem Tod M.'s (47) in der Jacobi-Affäre: "Mendelssohn ist zu alt und ein zu klassischer Philosoph der Deutschen Nation und Sprache, daß er sich belehren ließe und ein pfiffiger Ebräer, als daß ein ehrlicher Christ mit ihm auskäme. In seinen Morgenstunden hat er unseren Jacobi auf eine so listige Art den blanken Hintern gezeigt und seinen Schatten von Lessing, (denn es ist gewiß nicht Lessing selbst, den er da als den matten Hirsch etc. etc vormahlet) aus dem Gefecht zu bringen gesucht, daß er durch diese Vorrükkung der Steine schon gewonnen hat ... Es ist sonderbar, daß in dem alten Mann der versteckte Haß gegen die Christen von Tag zu Tag mehr hervortreten scheinet: denn allenthalben bringt er, wo mit der eiskalten Wolf. (Mod.) Wortphilosophie nicht weiter auszukommen ist, die Christen als gebohrne oder wiedergehahme Schwärmer ins Spiel und mit dieser geheimen bittersten Intoleranz ist alles Disputieren am Ende". Später in dem berühmten Stück der Adrastea "Bekehrung der Juden" (48) hat Herder der Judenfrage seiner Gegenwart (also um 1800) ein herrliches ideenreiches Bekenntnis gewidmet, das man nicht mit den Augen eines enttäuschten, keinen Unterschied findenden Liberalen des späteren 19. Jahrhunderts lesen darf. "Feines scharfsinniges Volk, ein Wunder der Zeiten! Nach der genialischen Glosse (zu 1 Mos. 33,4)45 eines seiner Rabbinen liegen Esau46 und Israel47 einander weinend am Halse; beide schmerzt der

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Kuß, aber sie können nicht auseinander (49). Die Argumente aus Mendelssohns "Jerusalem" von der absoluten Verbindlichkeit des Ceremonialgesetzes für den Juden werden von Herder deutlich, zwar ohne Zitierung, aber fast wörtlich übernommen, jedoch nicht zum Beweis der Richtigkeit von M.'s Forderung der Toleranz und Gleichberechtigung, sondern zum Erweis des Gegenteils. "Die Religion der Juden ist, wie sie selbst sagen, ein Erbstück ihres Geschlechts, ihr unveräußerliches Erbteil. Nur der Gott ihrer Väter, der ihnen diese Gebote auferlegte, (meinen sie) kann sie ihnen entnehmen, und zwar nicht anders als durch einen so feierlichen Akt, als die Gesetzgebung am Sinai selbst war. Das Volk ist und bleibt also auch in Europa ein unserm Weltteil fremdes Asiatisches Volk" (50). Das folgert Herder aus Mendelssohns These: "Was Gott gebunden hat, kann der Mensch nicht lösen", während M. daraus die Trennung von Staat und Kirche und das notwendige Eigenrecht der jüdischen Religionsgemeinschaft bei voller Gleichbehandlung mit der christlichen abgeleitet hatte, was von Herder gleich bei Erscheinen von "Jerusalem" in einem Brief an Mendelssohn (51) mit einem achselzuckenden Bedauern als Utopie abgetan worden war. Eine abgerundete Konfrontierung der theologisch-religiösen Grundansichten M.' s mit denen Herders dürfte sich nicht auf die Idee der Religion bei beiden Denkern beschränken, in der Art etwa wie Ernst Cassirer jüngst Lessing mit M. verglichen hat (52). Es geht auch nicht darum, den Stoff der 12 Bände von Herder über "Religion und Theologie" mit den Ideen der schmächtigen Gelegenheitsschriften und Bemerkungen im dritten Band der M.' sehen Gesamtausgabe auf eine Linie zu bringen, das Trennende und Verbindende daraus festzustellen. Der Generalsuperintendent und Hofprediger schrieb gelegentlich des Todes von Lessing in einer melancholisch-romantischen Stimmung aus Weimar an den jüdischen Buchhalter nach Berlin, an den "weisen, unbestochenen, gütigen Mendelssohn", zarte und gute Worte, in denen er sich über M.'s andersgeartete und höhere Autorität geistige Dinge zu beurteilen ein schmerzliches Selbstbekenntnis abrang (53): "Freilich stehen Sie ungemein freier und reiner als ich in meinem Stande, wo ich so viel tragen, schonen muß ... Unser armer Erdball dreht sich noch der reinen Sonne so fern, und so abwechselnd in Witterungen und Jahres45 Mos. 33,4: "Esau lief ihm entgegen, umarmte ihn und fiel ihm um den Hals, er küßte ihn, und sie weinten." 46 Esau: Der erstgeborene Sohn Isaaks und Rebekkas und der Zwillingsbruder Jakobs, Ahnherr der Edomiter. Er wird zum Typus des gottlosen Menschen stilisiert, der wegen seiner bösen Gesinnung von Gott verstoßen wurde. Vgl.: Ulrich Hübner, Esau in: Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 3, Freiburg u. a. 1995, Sp. 858. Vgl.: Manfred Weippert, Edem und Israel, in: Theologische Realenzyklopädie IX, Berlin/New York 1982, S. 291-299. 47 Ebenda.

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zeiten, daß wir uns in Meinungen einander nicht quälen oder verfolgen sollten. Auch in verschiedenen Gängen und Irrgängen kommen wir gewiß, früher oder später zu einer Burg der Wahrheit ..." Der Brief endet: "Da Lessing hin ist, hat Deutschland Sie, wenn Sie auch nur stillwirkender Zeuge sind, vor so vielen andern nötig". Der Inhalt der M.' sehen religiösen Schriften rechtfertigt an sich diese Einschätzung nicht. Trotzdem bleibt es evident, daß wir in M. einen homo religiosus reinster Prägung, "unvernünftigster Absurdität" vor uns haben. Der ursprünglichen und trotzdem tiefdurchdachten Art seiner Religiösität kommt vielleicht nur die religiöse und theologische Höhenlage des jüngeren Herder der Bückeburger Zeit gleich. Gewiß, nirgends in Mendelssohns Publikationen ist die Spur zu finden eines Durchdrungenseins von dem irrationellen Unwert der trügerischen Unmittelbarkeit des Menschen von hier und jetzt zu Gott, wie es Hamann und der Bückeburger Herder gefühlt haben. Aus jeder Schrift M.'s schwimmt uns vielmehr das milde Licht des rationalen Optimismus auch über die weltlich-überweltlichen Beziehungen entgegen. Aber wer sich einmal eingefühlt hat in den gleichmäßigen frommen Alltag dieser Judenseele, in ihre "stillwirkende Zeugenschaft", weiß zuverlässig, wie es Herder selbst an besinnlichen seltenen Tagen vor den Weimarer Jahren ganz genau erfaßt hat: Die Gotteserkenntnis dieses grundvernünftigen stillen Mannes, sein ganzes Dasein besteht in der unwandelbaren Gewißheit von den unübersteigbaren Grenzen alles menschlichen Habens und Seins, besteht in der resignierten gehorsamen Anerkennung des absoluten unergründlichen Seinswillens und vor allem in dem uralten Wissen um die Geschichte seines eigenen schicksalsgeschlagenen, an Seele und Körper entstellten, "auserwählten" Volkes, in der aus dieser Blutsgemeinschaft stammenden unverbrüchlichen Gewißheit von der Unmöglichkeit der rationalen Aufhebung des Lebensparadoxon und von der Nutzlosigkeit des Sich-dem-Schicksal-Entziehens durch Wortflucht und Literatur. Das ist vielleicht die Lösung des Rätsels, warum Herder, der einem Jahrhundert die Gedankenrichtung vorgeschrieben hat, von dem "weisen, unbestochenen, gütigen Mendelssohn" sprach, ihn als dem würdigsten Treuhänder Lessings huldigte und ihn in einem Atem - da der "Geist" (vielsinniges Wort!) der Zeit, aller Zeiten, über ihn kam - als den "pfiffigen Ebräer, mit dem kein ehrlicher Christ auskommt", abtat. Wir sehen in Herder heute nicht mehr hauptsächlich, wie es noch Haym48 und Kühnemann49 taten, den Verfasser der "Ideen", den pantheisierenden, die Religion humanisierenden, zwischen Kultur und Religion vermittelnden "liberalen" Denker, den Kulturprotestanten, der das Christentum relativiert, 48 Haym, Rudolf (05.10.1821-27.08.1901), Professor für Literaturgeschichte. Vgl.: Ernst Horwald, Haym Rudolf, in: Neue Deutsche Biographie 8, S. 152 f. 49 Kühnemann, Eugen (28.07.1868-21.08.1946), Philosoph. Vgl: Friedrich Holz, Kühnemann Eugen, in: Neue Deutsche Biographie 13, S. 205 f.

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sondern den Verfasser der bis jetzt in den Winkel gedrückten theologischen Werke der späteren Bückeburger Jahre. Innerhalb der neuesten gründlichen Spezialuntersuchungen über Herder - Wedels Studie über den Kritiker Herder und die wichtigen Erkenntnisse daraus für das kunstkritische Schaffen M.' s sind oben berührt worden - ist zuletzt der Religion und Theologie Herders von Martin Doerne50 eine prinzipielle, äußerst geglückte Darstellung gewidmet worden (54). Der orthodoxe, altlutherische Herder der 70iger Jahre steht damit ganz klar vor uns, und vielleicht lernen wir künftig an ihm auch wieder den Mendelssohn vertrauter kennen, der die Realität der altjüdischen Pflichtenlehre in den Mittelpunkt seiner religiösen Idee stellt, nicht den Wegbereiter des religiösen Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Halten wir uns nur an die im dritten Band der "Schriften" vereinigten religiösen Äußerungen M.'s, so sehen wir, daß nirgends die Gedankenlinien der protestantischen "vernünftigen Orthodoxie", wie sie seit Beginn des 18. Jahrhunderts von Leibniz und Locke festgelegt wurden, von M. verlassen sind. In ihrer höchst gefabrdeten Lage gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte die protestantische Theologie in das Gewand der "Vernunft" schlüpfen müssen, um das alte Erbe Luthers für die neue Zeit zu bewahren und zu schützen. Es bietet einen seltsamen Anblick, wie sich mit Hilfe M.' s jetzt auch die jüdische Lehre dieses Gewandes der systematischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts bedient. Seltsam zusammenhanglos schlottern die erborgten Kleider um Talmud und Schulchan-Aruch51 , eine gefahrliehe Mummenschanz, auf die die ernüchternde Demaskierung erst im 20. Jahrhundert gefolgt ist. Man hat zur Legitimation der "vernünftigen" Religion M.'s die arabisch-jüdische Philosophie herangezogen. Ein gefahrliebes Beginnen ohne Kenntnis der arabischen Philosophie aus den ersten Quellen! Daß die Vereinerleiung des arabisch-jüdischen Rationalismus des Maimonides52 mit der Metaphysik von Leibniz fehlgeht (55), sei hier trotz der hohen Autorität von Ernst Cassirer zu behaupten gewagt. Der Einzelbeweis muß einer subtilen Spezialuntersuchung vorbehalten bleiben. Der nur religionsgeschichtlich (nicht visionär) erlaßbare religiöse Gehalt des Judentums 50 Doeme, Martin, (20.03.1900-D2.09.1970), Professor für praktische Theologie in Göttingen, Theologe des Neuluthertums. Vgl.: Friedrich Wilhelm Bautz, Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon Bd. I (1975), Sp. 1348 f. 51 Talmud: (Hebräisch) Studium; nächst der Bibel das Hauptwerk des Judentums, abgeschlossen im Jahre 500. Schulchan-Aruch: (Hebräisch) Gedeckter Tisch; jüdische Gesetzessammlung verfasst von Josef Karo (1488-1575) in Palästina. 52 Maimonides, (Moses R. Moses ben Maimon) (1135-1204), bedeutendster jüdischer Philosoph des Mittelalters, Jurist und Arzt. Vgl.: Abraham J. Henschel, Maimonides. Eine Biographie, Berlin 1935 (Neuausgabe 1992). Vgl.: MauriceRuben Hayoun, Maimonides. Arzt und Philosoph in Mittelalter. Eine Biographie, München 1999.

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hat weder mit Aristoteles53- Maimonides noch mit Leibniz-Mendelssohn etwas zu tun, am wenigsten aber mit dem Geist des philosophischen Idealismus. Dagegen ist der Zusammenhang M.'s mit der protestantischen "vernünftigen Orthodoxie" ein ganz enger. Von der reformatorischen Position, dem Realismus der altlutherischen Offenbarungsreligion war diese Übergangstheologie weit abgeglitten (56). Die idealistische Philosophie vollends verfalschte den Geist Luthers und der Reformation. Denn diesem Geist kommt alles auf die Untrüglichkeit des streng objektiven, unveränderlichen Gotteswortes an. Wer dieses Wort nicht annimmt, ist unweigerlich ausgeschlossen aus dem um das Heil gescharten Volk Gottes und damit aus der Kirche und aus dem christlichen Staat. Das persönliche religiöse Leben für sich, "das Fühlen der Seele" ohne absolute Bindung an das geoffenbarte Wort ist nach dem Geiste Luthers Verbrechen und Schwärmerei. Seit dem radikalen Pietismus und seit Voltaire54 bis heute - Hermann Cohen, 55 und Ernst Cassirer eingeschlossen - hat man diese "starren" Züge der lutherischen Religion, die den autonomen neueren Menschen nicht liegen oder unverständlich sind, dem "Mittelalter", dem Katholizismus zugerechnet. In Wahrheit bedeutete die Reformation eine viel stärkere Bindung an das unveränderliche "Wort Gottes" als der Katholizismus an die christliche Lehre. Paul Wernie hat in seinem epochemachenden Werk über den schweizerischen Protestantismus im 18. Jahrhundert klar auseinandergelegt, wie die vernünftige Orthodoxie im unbewußten Abfall von Luther mittels der Leibniz'schen Philosophie, der folgenden Aufklärungsbewegung Vorbereitungsdienste tat und später in die idealistische Philosophie einmündete. Hier ist die Position Mendelssohns. M. bediente sich jedoch - ohne sich des Woher und Wohin bewußt zu sein (57) - der Philosophie von Leibniz und Locke in den seichteren Wolff' sehen Formen nur als schützender Hülle, um der Zersetzung der religiösen Formen des Judentums bei der geforderten bürgerlich-politischen Vermischung der Juden mit der Umwelt vorzubeugen. Er kapsehe das Wesentliche des Judentums, die Pflichtenlehre, seine Lebensordnung, die es zusammenhielt, künstlich ab, indem er sie zu dem höheren Zweck ihrer Konservierung philosophisch unscheinbar machte, als "Ceremonialgesetz" etikettierte und sie, als außerhalb der Vernunft stehend, als sakrosankt 53 Aristoteles (384 v. Chr.-322 v. Chr.), zusammen mit Platon und Sokrates der einflussreichste griechische Philosoph der Antike. Vgl.: Ulrich Charpa, Aristoteles, Frankfurt/M/New York 1991. 54 Voltaire, Fran~ois-Marie Arouet (21.11.1694-30.05.1778), Philosoph. Vgl.: Alfred Noyes, Vo1taire. Dichter, Historiker, Philosoph, München 1976. Vgl.: Hanna Emrnrich, Das Judentum bei Voltaire, Breslau 1930. 55 Cohen, Hermann (04.07.1842-04.04.1918), Professor der Philosophie, Neukantianer. Vgl.: Julius Ebbinghaus, Cohen Hermann, in: Neue Deutsche Biographie 3, s. 310-313.

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aus der philosophischen Debatte ausschied. M. verwandelte aber letzten Endes doch das Judentum, ohne es zu wollen, ebenso von Grund auf in ein ethisches Kulturjudentum, wie die idealistische Philosophie das Luthertum in den humanistischen liberalen Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts. Schließlich sahen sich Judentum und Protestantismus zum Verwechseln ähnlich.M.'s Absicht, ohne Veränderung des religiösen Gehalts, unter strikter Wahrung der Gesetzestreue, die Juden in die abendländische Kultur einzuordnen, mißlang, weil die alte dogmatische Lebensordnung, das ist in Wahrheit das so unverfänglich klingende "Ceremonialgesetz", mit dieser Einordnung weder praktisch noch der Idee nach in Einklang zu bringen war. Entweder die alte Lebensordnung oder die neue Einordnung mußte bei Verwirklichung der M.' sehen Forderung in die Brüche gehen. Diese Spannung ist bis heute ungelöst. In Herders Wandlung von der dialektischen Theologie seiner Bückeburger Jahre zu seinem leibnizisch aufgefaßten Spinozismus in den fünf Gesprächen über Gott von 1787 (58) verkörpert sich die Drehung vom alten offenbarungsgläubigen Christentum zum autonomen Denken und zur autonomen Ethik; in der Tat ist in dieser idealistischen Philosophie die Verbindung zum Christentum und zur Reformation abgerissen. Eine Verbindung mit ihr zum Judentum hat nie bestanden. Mendelssohn hat diese Wandlung nicht mitgemacht, er lebte "im Gesetz" und verteidigte das Gesetz. Nach dieser - hier nur skizzenhaft beschriebenen - Auftindung der geistigen Position Mendelssohns wäre es ein Leichtes, an Hand der Quellen den Gegensatz Lavater-Mendelssohn und auch den (gegen die herrschende Ansicht) existierenden Grundkontrast Lessing-Mendelssohn näher darzustellen. Nach den tiefgehenden neueren Forschungen des Literarhistorikers Janentzk/6 (59) und des Theologen Wernie (60) über Lavater wird in der künftigen kritischen Mendelssohnausgabe das Bild Lavaters zu neuer überparteilicher Anschauung gebracht werden. Der Schlüssel zu Lessings Begriff der Religion im Gegensatz zu M. bleibt jene oben zitierte Hege1stelle (61) ; ohne - allerdings negative - Ausrichtung auf die epochenmachende Arbeit von Ernst Cassirer wird das Mendelssohn-Lessing-Problem nicht mehr gelöst werden können. Jacobis 57 Lebensepochen, im Mittelpunkt der geistes-geschichtlich denkwürdige Mendelssohn-Jacobi-Streit58, müßten an Hand des reichen Mate56 Janentzky, Christian (20.01.1886-), Professor für deutsche Sprache und Literatur in Dresden. Vgl.: Wer ist wer?, 12. Aufl. (1955), S. 611. 57 Jacobi, Friedeich Heinrich (25.01.1743-10.03.1819), Schriftsteller und Philosoph, Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Kaufmann. Vgl.: Klaus Hammacher, Jacobi, in: Neue Deutsche Biographie 10, S. 222 ff. 58 Vgl.: Heinrich Scholz, Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, Berlin 1916. 3*

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rials jetzt ganz neu dargestellt werden, was auch zu den großen Aufgaben jener Edition gehört. Es darf dann aber die sehr beträchtliche Glaubensphilosophie des philosophierenden Privatmannes von Pempelfort59 , der erst im Alter der Kathederphilosophie ebenbürtig wurde, nicht mehr weiter im Schatten der idealistischen Philosophie gehalten werden. Als literaturgeschichtliche Merkwürdigkeit und als philosophierender Dilettant zwischen Kant und Fichte verschwindend, ist Jacobi im 19. Jahrhundert, bis heute, nie nach seinem hohen Rang und seiner weiten Wirksamkeit eingeschätzt worden. Neben Hamann bleibt Jacobi der geistesmächtigste Antipode M.'s, seine Ideen werfen auf M.' s geistige Gestalt den hellsten Reflex. Bleiben noch zwei in ihren Beziehungen zu M. bisher ganz unbeachtete ebenbürtige scharfe Gegner und große Verehrer M.'s zugleich: Johannes von Müller60 und Johann Michael Sailer61 . Aus der Gegenüberstellung M.' s mit jeden dieser beiden aufgeklärten Aufklärungsfeinde, zwei Persönlichkeiten größten Ausmaßes - wozu ein reiches noch auszuschöpfendes Material teilweise schon vorliegt, teilweise in einiger Zeit zusammengetragen sein wird - kann man sich eine Erhellung der irrationalen Seite der Gestalt M' s erwarten wie sie, nach einer ganz anderen Richtung nur noch von Hamanns und Herders Mißverständnis gekommen ist. Niemand in der an geistigen Größen so reichen Zeit, außer Herder und vielleicht noch Johann David Michaelis62 , den Verfasser des "Mosaischen Rechts", war so bewegt von der Geschichte und Kultur der Juden, war ein so umfassender Kenner ihres vergangenen Wesens wie Johannes von Müller, der Universalhistoriker, der große Geschichtsschreiber der Deutschen in deren klassischem Zeitalter (62). Er, der von Gundolf'3 an historischer Einfühlung, an großem Sinn und darstellerischer Kraft neben Ranke64 gestellt wird, hat die Schriften M.'s "als das vorzüglichste Muster deutscher Prosa" bezeichnet (63). Derselbe Mann hat aber gleich nach Erscheinen von Herders "Geist der Ebräischen Poesie" auch geschrieben (64): "Ich finde alles in demselben außer Pempelfort: Name des Wohnortes von Jacobi in der Nähe von Düsseldorf. Johannes von Müller. Vgl.: Anm. 37. 61 Johann Michael Sailer. Vgl.: Anm. 3. 62 Michaelis, Johann David (27.02.1717- 28.08.1791), Orientalist, Mitbegründer der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Vgl.: Christoph Bultmann, Michaelis Johann David, in: Neue Deutsche Biographie 17, S. 427 ff. 63 Gundolf, Friedeich (20.06.1880-12.07 .1931 ), Literaturwissenschaftler aus dem George-Kreis. Vgl: Clemens Nentjens, Friedeich Gundolf. Ein biobibliographischer Apparat, Bonn 1969. 64 Ranke, Leopold von (21.12.1795-23.05.1886), Historiker und einer der Hauptvertreter des vom deutschen Idealismus beeinflußten Historismus. Vgl.: Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988. 59

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Christus, und ich finde nichts in der jüdischen Religion, wenn man ihr Christus nimmt". Johannes von Müller hat leidenschaftlich auf Seiten Jacobis an dem Spinozastreit teilgenommen und doch objektiv ähnlich wie Mattbias Claudius, erkannt: "Es ist doch ungemein auffallend, daß selbst er (Mendelssohn) die Unzulänglichkeit der Spekulation fühlte" (65). An diesem Geist und an Sailers (66) unbestechlichem Sinn für alles, was sich zu seiner Zeit an echten und eigentümlichen geistigen Kräften regte, wird sich auch die geistesgeschichtliche Situation von M. weiter klären. Es wird sich an dem Verhältnis der Beiden zu M. herausstellen, daß der Begriff "Aufklärung" für die tiefere Erkenntnis ihrer angeblichen Vertreter genau so unbrauchbar ist, wie der Begriff der "Romantik". Johann Michael Sailer, der mit 30 Jahren, als die "Kritik der reinen Vernunft" ( 1781) erschien, schon "pensionierter" Dogmatik-Professor der Universität Iogoistadt war und als Bischof von Regensburg 1832 die Augen schloß, hat als einziger katholischer Theologe seiner Zeit die Verbindung mit der allgemeinen deutschen Kultur hergestellt und zeitlebens aufrechterhalten. Er hat sich mit dem Vernunftglauben M.'s am eigenartigsten auseinandergesetzt "Mit Sailer erscheint ein neuer Typ katholischer und christlicher Frömmigkeit". Auch Sailer hatte wie M. bis heute unter der Ungerechtigkeit einer Identifizierung mit der "religionsfeindlichen Aufklärung" zu leiden. Und doch ist an seine Ideen in Wahrheit die religiöse Erneuerung des Katholizismus geknüpft. "Vor dem Stolz des Wissens ist er nicht zurückgetreten, sondern hat seinen Ansprüchen auf den Grund gesehen; keiner Idee ist er furchtsam zur Seite ausgewichen ... besonnen und ruhig . . . hat er, wenn auch bisweilen verkannt, in Einfalt und Liebe wie die Geister so die Herzen sich bezwungen". M. war ein echter Geistesverwandter Sailers. Das reiche verzweigte Werk dieses Kirchenfürsten und Ketzers, besonders die bevorstehende Sammlung seines ungewöhnlich ausgedehnten Briefwechsels mit den Besten der Zeit, wird mit das wahre Wesen M.'s enthüllen helfen. Nicolai65 (67) hat ihn ganz mißverständlich den "katholischen Lavater" genannt. Bis jetzt findet man - bei Kayserling66 (68) - nur Sailers Lehrer und Meister, den Exjesuiten Benedict Stattler67 (69) erwähnt, nur beiläufig als Unbekannten aus dem "Troß" der Angreifer von M.'s "Jerusalem". Mehr als der Namen Stattler und der Titel seines Kampfbuches "Wahres Jerusalem" (1787) wird nicht genannt. Und doch wird Stattlers gegen M. gerichtete Vgl.: Anm. 10. Kayserling, Meyer (17.06.1829-21.05.1905), Rabbiner und jüdischer Historiker. Vgl.: Encyclopaedia Judaica Bd. 9. ( Berlin 1932), Sp. 1106 f. Vgl.: ders., Das Leben und Werk von Moses Mendelssohn, Leipzig 1862. Vgl.: Deutsche Biographische Enzyklopädie 5, S. 481. 67 Stattler, Benedict, (30.01.1728-24.08.1797), katholischer Theologe der Aufklärungszeit, Stadtpfarrer, Exjesuit. Vgl.: Raimund Lachner, Benedikt Stattler, in: Traugott Bautz (Hrsg.), a.a.O., Bd. 10 (1995) Sp. 1230-1235. 65

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Apologie des christlichen Staates im Zusammenhang mit den Schriften Sailers der künftigen, geistesgeschichtlich gerichteten M.-Forschung den würdigsten und ergiebigsten Gegenstand bieten. Anmerkungen 1. 0. Walze[, Deutsche Dichtung von Gottsched bis zur Gegenwart (im Handbuch der Literatur-Wissenschaft) Bd. 1, S. 94; S. 193 f über M. anläßtich Goethes Prometheus und Lessings Nathan; S. 152 ff. über Hamann.

2. Albert Köster, Die deutsche Literatur der Aujklärungszeit, herausgegeben von Julius Petersen. Heidelberg 1925, S. 212 ff. 3. Erich Schmidt, Lessing. 4. A. Berlin 1923, besonders Band 1, S. 249 ff. 4. Hermann Hettner, Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert. 2. Aujl. Braunschweig 1872. 2. Buch, S. 208 ff. 5. Köster a. a. 0., S. 212. 6. Köster a. a. 0., S. 213.

7. MGWJ 73, 81 ff. (1929); Bamberger verweist auf die ausführlichere Darstellung in seiner Einleitung zum ersten Band der Jubiläumsausgabe von Mendelssohns Schriften. 8. Festgabe zum zehnjährigen Bestehen der Akademie f d. Wissenschaft des Judentums, Berlin 1929; S. 22 ff. 9. Mit Rothacker wird hier die Meinung vertreten, daß das soziale und wirtschaftliche Gebiet am wenigsten geeignet ist, das Problem des Verstehens zu klären; trotzdem sei hier die aus dem Bereiche der Nationalökonomen genommene Einteilung der Verslehensweisen hier provisorisch übernommen; denn hier soll keine Erkenntnistheorie getrieben, sondern nur kurz mit den in sich klaren Unterscheidungen Sombarts die Kompliziertheit der Gestaltdeutung überhaupt angedeutet werden (siehe Verhandlungen des 6. deutschen Soziologentages in Zürich, Tübingen 1929, S. 208 ff.). Die drei lnterpretationsprinzipe Fritz Heinemanns: Das Verstehen der Welt aus dem Verstande, aus der irrationalen Sphäre der Seele und aus dem ganzen Menschen halte ich für die Geistesgeschichte für fruchtbarer als die oben hilfsweise eingeführte Sambartsehe Unterscheidung (vgl. Fritz Heinemann, Neue Wege der Philosophie, Leipzig 1929, S. XXI). 10. Urteil Herders und Hamanns über Mendelssohn: Friedrich Heinrich Jacobi Werke, IV. Bd. 3. Abtlg. Leipzig 1819, S. 143; Otto Hoffmann, Herders Briefe an loh. Georg Hamann (Berlin 1889), S. 223. 11. Julius Bab dringt in seinen Aufsätzen "Goethe und die Juden" ("Morgen" 11, 1 u. 2) über die peripherische Zusammenstellung von Äußerungen Goethes hinaus zu dem Kernproblem vor, wenn er (s. 46) zur Erklärung der Goetheschen Vorurteile prinzipiell über die Stellung historischer Persönlichkeiten zu den Juden ausführt: "Die Ökonomie des Lebens verlangt es, daß jeder, auch der größte Mensch, an hundert einzelnen Punkten, die für sein Lebenswerk nicht von ent-

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scheidender Wichtigkeit sind, sich einfach von der Tradition tragen läßt und ihre Formeln bequem übernimmt". 12. Hamann hat das Forschungsinteresse in den letzten Jahren mächtig angezogen. Das Schrifttum bis zum Jahr I92I ist erschöpfend aufgeführt in der gut gearbeiteten Zusammenstellung: J. G. Hamanns, ausgewählt und herausgegeben von Widmaier (Leipzig I92I) S. 426 ff. Roths achtbändige Gesamtausgabe (seit I82I) und Gildemeisters sechsbändiges monströses unkritisches Hamann-Werk (seit I857; die 2. Ausgabe der ersten Bände ist nur eine Titelaujlage) sind immer noch unentbehrlich. Rudolf Ungers Biographie aus dem Jahr I9II wird noch für lange hinaus unerreicht bleiben. Der beste Kenner Hamanns ist jetzt Fritz Blanke, der Nachfolger Watther Köhlers auf dem Züricher Lehrstuhl für Kirchengeschichte. In das Herz des Hamann-Problems kann nur die theologische Betrachtungsweise, besonders die Gegeneinanderstellung Hamanns, Kierkegaards und der .,dialektischen Theologie" hineinführen. Wer H. als Mystiker oder als Erzvater der Romantik sieht, wer ihn gar noch wie Gervinus (Geschichte der Deutschen Dichtung IV 4 , 398 f) oder wie Kayserling (in seiner Mendelssohn-Biographie) sieht, ist nie von der großartigen Spontanität dieses witzigen und tiefen Geistes berührt worden. Blanke gibt in seinem erweiterten Vortrag .,J. G. Hamann als Theologe " (Tübingen I928), in seiner Züricher Antrittsvorlesung v. 22.06.I929 über H. 's Philosophie des Wortes (mir nur nach Auszügen aus der N. Züricher Zeitung bekannt) und in dem Aufsatz .. Hamann und Lessing" (Ztschr. f systematische Theologie V, I88ff.) die neueste Literatur seit I92I sowie die von Unger nicht ganz gewürdigte religiöse Seite H. 's. Eindringlich neuestens auch: Ewald Burger, J. G. Hamann. Schöpfung und Erlösung im Irrationalismus, Göttingen I929. I3. II3. Literaturbrief; Schriften (womit von jetzt ab die ?bändige Gesamtausgabe der Werke von M. von I843 bezeichnet sei) IV, 2. Abt. S. 99 f Dazu HamannMendelssohn-Briefwechsel in Schriften V, 427 ff. Auch Unger 357, 709. Ueber Mendelssohns Rezension der .,Kreuzzüge" im 254. Literaturbrief Martin Sommerfelds grundlegendes Werk .,Friedrich Nicolai und der Sturm und Drang" (192I), s. 127 f I4. Schriften V, 430. I5. Schriften IV, 2. Abt. 99. I6. Unger 493. I7. Burger, Hamann S. 29. I8. Unger 277. I9. Roth II. 255. 20. Hamann an Jacobi am 23.4.I787: Jacobis Werke IV/3 S. 34I f Dieser Brief H. 's über Jacobis Schrift aus d. Jahr I787 .,David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus" (Jacobis Werke II. I ff.) bleibt grundlegend für den Zentralbegriff .,Realität" bei Hamann; der Begriff ist das Verbindungsglied der modernsten orthodox-protestantischen, der Aufklärung und ebenso dem deutschen Idealismus abgewandten realistischen Offenbarungstheologie mit dem Geist von Hamann. Die Theologie von Barth, Gogarten, Peterson, Emil Brunner und des Kreises um die Zeitschrift .. Zwischen den Zeiten", will eine Erneuerung

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refonnatorischer Erkenntnisse für unsere Zeit sein und richtet sich gegen allen rationalen Optimismus, auch in der vertieften Fonn der deutschen idealistischen Philosophie; ihr ist die neuprotestantische, humanistische, das Christentum relativierende Art seit Schleiennacher genau so wie die damit verwandte jüdische liberale Religionsphilosophie des I9. Jahrhunderts, deren Hauptbestandteile Mendelssohn'sches und Schleiennacher'sches Gedankengut sind, das Irreligiöse schlechthin. 2I. Jacobis Werke I, 392; der Wolff-Mendelssohn'sche Seins- und Vernunftsbegriff hat mit dem metaphysischen Seinsprinzip des deutschen Idealismus noch nichts zu tun und bezieht sich nur auf die menschliche Vernunft, nicht auf die Gesamtvernunft alles Wirklichen. Den metaphysischen Idealismus Kants und dem Vernunftsoptimismus der deutschen Popularaufklärung steht der "Realismus" Luthers, Hamanns, Kierkegaards in extremer Ablehnung gegenüber. 22. Zum Gegensatz des gereinigten Luthertums zur deutschen idealistischen Philoso-

phie (während fast das ganze I9. Jahrhundert die deutsche Klassik und den deutschen Idealismus als höchste Eifüllung des Christentums gelehrt hat) vgl. jetzt auch Helmut Groos, Der deutsche Idealismus und das Christentum, I927 und Kurt Leese, Der deutsche Idealismus und das Christentum, I927.

23. Jacobis Werke IV, 3. Abt. S. I9. 24. Ueber Johann Friedrich von Meyer (1772-I849) ADB 2I, 597; R~ 13,42 f Meyer ist im Sinn Hamanns und der erwähnten orthodoxen protestantischen Richtung der allerneuesten Zeit "Offenbarungsrealist"; er veranstaltete i. J. IBIB in liebevoller Pietät eine zweite Auflage von "Golgatha und Scheblimini"; diese hatte er von den vielen entstellenden s.Zt. von Hamann selbst beklagten Druckfehlern der ersten Ausgabe sorgsam gesäubert und ihr eine fast 50 Seiten starke Vorrede über Hamann gegen Mendelssohn vorangestellt. Die Vorrede Meyers ist bisher unbeachtet geblieben, sie ist weitaus die kongenialste Deutung von "Golgatha" und enthält eine negative Deutung von M. 's Lebenswerk, wie sie seitdem in dieser ruhigen Eindringlichkeit und gemessenen Schäife nicht wieder vorgetragen wurde. 25. Schriften 11/, 65.

26. Schriften 11/, 355. 27. Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik I828 No. 77-88, I09-114, Hegels Werke, Vollst. Ausg. Bd. I7 (I 835 ), S. 38 ff. Diese umfassende Würdigung Hamanns gelegentlich der Besprechung der Roth'schen Hamann-Ausgabe tritt in dem Jerusalem-Golgatha-Streit auf Hamanns Seite (S. BI f) und weist die in Mendelssohns "Jerusalem" übernommenen Wolff'schen Grundsätze des Naturrechts zurück. Die deutsche Aufklärungsphilosophie, insbesondere Mendelssohn, ist im 3. Band von Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Hegels Werke Vollst. Ausgabe Bd. IS, S. 529 Jf.) sehr scharf, aber mit tiefen und schlüssigen Gründen kritisiert. "Flachheit der philosophischen Einsicht" und "Ignoranz selbst über das äußerlich Historische der spinozistischen Philosophie" werden Mendelssohn in dem Atheismus-Streit von Hege[ vorgewoifen. "Seine , Morgenstunden' sind trocken walfisehe Philosophie, so sehr diese Herren auch heitere platonische Fonn ihren strohernen Abstraktionen zu geben sich bemühten " (S. 537).

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28. Hegels Werke Bd. 17, S. 42. 29. Paul Wernle, Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert. Bd. Il. ( 1925) s. 255. 30. "Zwei Rezensionen etc. in Sachen der Herrn Lessing, M. Mendelssohn und Jacobi" (1786). "Sämtliche Werke des Wandsbecker Bothen" V: Teil S. 101 ff.; Besonders S. 116: "Hr. M. gibt ja offenbar eine Erkenntnis und Ueberzeugung zu, die nicht von Vernunftgründen abhängt, und die sicherer ist als jene! Er braucht ja die Spekulation bloß: eine Erkenntnis, die er schon hat, zu modifizieren". Dazu die köstliche "Korrespondenz zwischen mir und meinem Vetter, angehend die Orthodoxie und Religionsverbesserungen" (Wandsbecker Bothe III. Teil, 1778; S. 106 jf.): "Die Religion aus der Vernunft verbessern, kämmt mir freilich ebenso vor, als wenn ich die Sonne nach meiner alten hölzernen Hausuhr stellen wollte". Der Vetter fragt an, "ob die Philosophie ein Besen sei, den Unrat aus dem Tempel auszukehren; und ob ich meinen Hut tiefer vor einem Orthodoxen oder philosophischen Herrn Pastor abnehmen muß". Die Antwort fällt gegen die Vernunft und gegen das "natürliche Gefühl" für die Orthodoxen aus. Umso bemerkenswerter die Verteidigung Mendelssohns gegen Jacobi! 31. Claudius V, 119. 32. Schriften lll, 356. 33. Schriften lll, 356. 34. Hegels Werke Bd. 17, S. 81. 35. Ausführliches über diese wichtige Richtung Anm. 56. 36. Außer der Ausgabe von Suphan (Berlin 1877-1909) ist die alte 12bändige Ausgabe der theologischen Werke Herders, herausg. v. J. G. Müller, noch unentbehrlich. Neben Hayms und Kühnemanns Herder-Biographien für Mendelssohn wichtig die beiden Briefsammlungen: "Aus Herders Nachlaß". Ungedruckte Briefe von Herder etc. 3 Bände. Franlifurt a. M. 1856157; bes. Bd. Il, 211 ff. und Herders Briefe an loh. Georg Hamann, Berlin 1889. Schriften V, 582 ff. Ferner: Max Wedel, Herder als Kritiker (Ehering German. Studien 55), Berlin 1928; dazu Benno v. Wiese i. d. DLZ 1928, Sp. 1599 ff. - Martin Doerne, Die Religion in Herders Geschichtsphilosophie Leipzig 1927; dazu Johachim Wach i. d. DLZ 1927, Sp. 2590 ff. Bei Wedel und Doeme ausführt. weitere Literatur. Gundolf, Goethe, Berlin 1916, S. 88 ff. und Nadler (außer in Bd. lll seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften; Regensburg 1924), Goethe oder Herder "Hochland" XXII/I ( 1924) S. 1 ff. 37. Nadler i. "Hochland" a. a. 0. 38. "Briefe, das Studium d. Theologie betreffend" Teil /, 347 (Bd. IX der Müller'schen Ausgabe). 39. Siehe Anm. 36; daneben bleibt Sommerfelds (Siehe Anm. 13) Analyse der M. 'sehen ästhetischen und kritischen Urteile (s. Personenregister S. 398 und M.) Richtung gebend. 40. Wedel 86 ff. 41. Benno v. Wiese a. a. 0. (s. Anm. 36).

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42. Es liegt in der Anlage der Kayserling'schen M.-Biographie, dieser Zusammentragung von Belegen über Mendelssohn-Ehrungen, daß hier kein Ansatz zur Erfassung der beiden Geister zu finden ist; aber auch nicht bei Graetz Bd. 11, s. 249. 43. Schriften V, 585. 44. Nachlaß II, 219. 45. Nachlaß II, 230 f 46. Ho.ffrrumn, 195. 47. Hoffmann, 222 ff. 48. Suphan 24, 61; Haym II, 793; Kühnemann2 602; Graetz 11, 249. 49. Suphan 24, 67. 50. Suphan 24, 63. 51. Nachlaß II, 230 f 52. Siehe Anm. 8. 53. Nachlaß II, 220 ff. 54. Siehe Anm. 36 55. Cassirer (Anm. 8) S. 40. 56. Wernie (Anm. 29) /, 468 ff. Auch Troeltsch, Leibniz u. die Anfänge des Pietismus; Ges. Schriften IV, 488 ff., Bes. 508 f Das wichtigste u. zuverlässigste Werk über diese Zusammenhänge, bes. über die "Übergangstheologie" des ersten Viertels des 18. Jahrh. in Deutschland: A. F. Stolzenburg, Die Theologie des Jo. Franc. Buddeus u. des Chr. Matth. Pfaff. Ein Beitrag zur Geschichte d. Aufklärung in Deutschland. Berlin 1926; dazu Wilhelm Koepp i.d. Dl.Z 1928 Sp. 123 ff. Nicht zu vergessen: Johannes Kühn, Toleranz und Offenbarung, Leipzig 1923. 57. Überaus charakteristisch für das, was M. vom Christentum wußte: Verzeichnis der auserlesenen Büchersammlung des seligen Herrn Moses Mendelssohn. Berlin 1786. 58. Suphan 16, 401 ff.; Haym //, 284 ff.; Kühnemann2 428 ff. 59. Christfan Janentzky, J. K. Lavaters Sturm und Drang im Zusammenhang seines religiösen Bewußtseins. 1916. 60. Wernie (Anm. 29) Il/, 221-284; dort S. 221 Fußnote 2 ausführlich die Literatur. 61. Anm. 28. 62. 1752-1809. ADB 22, 587 ff. Johannes von Müllers sämtliche Werke, herausgegeben von Johann Georg Müller, 40 Bände 1831-1835. Ueber J. v. Müller jetzt vorallem Gundolf, Cäsar (Berlin 1924) 244-250. 63. Brief an Bonsfetten v. 22.1.1784 (Werke 36, 29). 64. Werke 30, 112. 65. An Jacobi v. 20.10.1786 (Werke 38, 33).

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66. 1751-1832, ADB 30, 178 ff. Georg Aichinger, Johann Michael Sailer. Freiburg i.B. 1865. Jetzt vor allem: Philipp Funk, Von der Aufklärung zur Romantik. München 1925; S. 63 ff.; Sailer und sein Kreis. Hubert Schiel, Der unbekannte Sailer; Hochland XXVJ/10 (1929), S. 415 ff. Bei Schiel die ältere und neuere

Literatur. Die unmittelbaren Zusammenhänge mit M. (auf dem Weg über Lavater, Hamann, Jacobi) werden deutlich bei Karl Eschweiler, loh. Mich. Sailers Verhältnis zum deutschen Idealismus (Festschrift f Karl Muth 1927; S. 292324). Die Veröffentlichung der Briefe Sailers ist für 1932 geplant. Herr Hubert Schiel teilt mir auf meine Anfrage über Mendelssohn-Briefe in den von ihm zu edierenden Handschriften freundlichtst mit, daß er zur Zeit durch Reisen von seinem Material getrennt und erst November 1929 in der Lage sei, Auskunft zu geben.

67. Nicolais Werke Vll, 91; dazu Funk a. a. 0., S. 75. 68. 2. Aufl. S. 414. 69. Aichinger 27 f, 45 f, Funk 74 f, 81 f StattZers Hauptwerk .. Wahres Jerusalem

oder über religiöse Macht und Toleranz in jedem und besonders im katholischen Christentume, bei Anlaß des Mendelssohn'schen Jerusalem" (Augsburg 1787) bedaif noch einer sorgfältigen Untersuchung.

3. Die Töchter Moses Mendelssohns Wer in die gewölbeartigen unteren Räume des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt eintritt, wird auf den ersten Blick von einem dreiteiligen Riesenwandgemälde gebannt, das die Einführung der Künste in Deutschland durch das Christentum darstellt. In der poetisch verklärten Art der romantischen Nazarener thront im Mittelbild die allegorische Figur der Religion, rechts flankiert von dem predigenden Bonifatius 1 neben der umgehauenen Eiche, an deren Stelle ein frischer Lebensquell herausspringt. Die Überwindung des Heidentums durch die Mission der christlichen Kirche soll so symbolisiert werden. Links die Gestalten von Rittertum, Poesie und Musik, dann die drei Schwesterkünste Architektur, Plastik und Malerei, vor allem aber die beiden Seitenflügel, die allegorischen Gestalten der ltalia und der Germania! Das galt vor hundert Jahren als der künstlerische Ausdruck edler frommer deutscher Gesinnung, zur Abwehr der antichristliehen Mächte des Umsturzes und der Aufklärung. Der berühmte Maler des dieser repräsentativsten Verherrlichung christlich-germanischen Geistes war Philipp Veit2, der vierte Sohn und das jüngste Kind von Moses Mendelssohns3 ältester Tochter Brendel4 , aus ihrer ersten Ehe mit dem strenggläubigen, von Moses Mendelssohn selbst ausgesuchten Berliner jüdischen Bankier Sirnon Veit5 . Erst lange nach der Geburt Philipps lernte Brendel, die später berühmte 1 Bonifatius, Winfried (672175-05.06.754), englischer Missionar, der die "christliche Grundlegung Europas" anstieß und als "Apostel Deutschlands" verehrt wird. Vgl.: Theodor Schiffer, Winfried Bonifatius und die christliche Grundlegung Europas, 2. Aufl. Darmstadt 1972. Vgl.: Arnold Angenendt, Bonifatius, in: Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 2, Freiburg u.a. 1994, Sp. 575 f. 2 Veit, Phitipp (1793-1877), Maler der Lukasgruppe, 1830-43 Direktor des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt/M. Vgl.: Allgemeines Lexion der bildenden Künstler (Thieme-Becker) Bd. 34 (Leipzig 1926), S. 183 ff. 3 Mendelssohn, Moses (06.09.1729-04.01.1786), bedeutendster jüdischer Philosoph der Neuzeit. Vgl.: Alexander Altmann, Moses Mendelssohn. A biographical study, University of Alabama Press 1973. 4 Mendelssohn, Brendel oder Dorothea (24.10.1763-03.08.1839), verheiratet in erster Ehe mit Sirnon Veit (Anm. 5), in zweiter Ehe mit Friedrich Schlegel. Vgl.: Max Ring, Lorbeer und Cypresse, Berlin 1870, S. 161-194. Vgl.: Sebastian Hensel, Die Familie Mendelssohn 1729-1847. Nach Briefen und Tagebüchern, Freiburg/ München 1959, S. 47-61. Vgl.: Heike Frank, " ... die Disharmonie, die mit mir geboren ward, und mich nie verlassen wird ... ". Das Leben der Brendel!Dorothea Mendelssohn-Veit-Schlegel (1764-1839), Frankfurt/M. 1988. Vgl.: Carola Stern, "Ich möchte mir Flügel wünschen". Das Leben der Dorothea Schlegel, Reinbek 1990.

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Romantikeein Dorothea Schlegel6 , ihren späteren Mann Friedeich SchlegeC kennen. Der gleiche Philipp Veit - zeitlich und körperlich dem Ghetto des 18. Jahrhunderts noch in Atemnähe - folgt in den deutschen Befreiungskriegen Kömer8 nach Breslau, geht zusammen mit Eichendorff zu den Lützower Jägern, wechselt das Regiment und tritt bei den Reitenden des brandenburgischen Kürassierregiments im V. Kleistischen Armeekorps ein, mit seinem Leutnant, dem Dichter de Ia Motte Fouque 10, aufs innigste verbunden. Der Enkel Moses Mendelssohns macht die Schlachten bei Dresden, Kulm und Leipzig mit, zeichnet sich im Krieg besonders aus, wird zum Leutnant ernannt, erhält das Eiserne Kreuz und wird der weithin anerkannte, mit Aufträgen überhäufte Maler christlich-germanischer Prägung, mit Comelius 11 und Overbeck 12 zusammen Führer einer großen künstlerischen Richtung, deren Vertreter er an gläubiger Innigkeit, Einfühlung in Kirche und Mittelalter übertrifft. Seinem großartigen Bild in Rom, die Krönung der auf den Wolken schwebenden Maria, wird ein unerreichter Stimmungsgehalt nachgerühmt mit der Eindrucksgewalt, "daß man vor einem Werke alter beglückter Zeiten zu stehen meint." Diese Zusammenhänge, deren Deutung hier unterbleiben soll, werden wieder wach, wenn man Moses Mendelssohns geistige Gestalt, seine Welt, sein Werk und seine Wirkung, von heute aus, mit neuen Perspektiven, über5 Veit, Sirnon (25.05.1754.01.10.1819), Bankier in Berlin. Vgl.: Hermann M. Z. Meyer, Moses Mendelssohn Bibliographie. Mit einigen Ergänzungen zur Geistesgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 335. 6 Schlegel, Dorothea (Vgl.: Anm. 4). Vgl.: Heinrich Pinke, Über Friedrich und Dorothea Schlegel, Köln 1918. 7 Schlegel Friedrich (10.03.1772-12.01.1829), Philosoph und Schriftsteller. Vgl.: Heinrich Pinke, Über Friedrich und Dorothea Schlegel, Köln 1918. Vgl.: Ernst Hehler, Friedrich Schlegel, Reinbek 1966. 8 Körner, Theodor (23.09.1791-26.08.1813), Schriftsteller und Lyriker. Vgl.: Hasko Zimmer, Auf dem Altar des Vaterlandes. Religion und Patriotismus in der deutschen Kriegslyrik des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1971. 9 Eichendorff, Joseph Freiherr von (10.03.1788-26.11.1857), Schriftsteller. Vgl.: Wolfgang Frühwald/Pranz Heiduk, Joseph Freiherr von Eichendorff, Frankfurt/M 1988. Vgl.: Günther Schiwy, Eichendorff. Der Dichter in seiner Zeit, München 2000. 10 Fouque, Friedrich de Ia Motte (12.02.1777-23.01.1843), Offizier und Schriftsteller. Vgl.: Amo Schrnidt, Fouque und einige seiner Zeitgenossen. Biographischer Versuch, 2. Auf!. Darmstadt 1960. 11 Cornelius, Peter von (23.09.1783-06.03.1867), Maler. Mitglied der Nazarenergruppe. Vgl.: Saur Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker Bd. 21, München/Leipzig 1999, S. 243-246. 12 Overbeck, Friedrich (03.07.1789-12.11.1869), Maler. Mitglied der Nazarenergruppe. Vgl.: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler (Thieme-Becker) Bd. 26 (Leipzig 1932), S. 104 ff.

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schaut und sich Gedanken macht darüber, was alles nach und auch durch Mendelssohn hinterher kam, wie sich namentlich die deutschen Juden im 19. Jahrhundert bis auf unsere Zeit entwickelt haben. Die Mutter Philipp Veits, Dorothea, war Moses Mendelssohns Liebling, deren Erziehung er besondere Sorgfalt gewidmet hat. Ihre neueste Biographin, Gertrud Bäumer13 , nennt sie die erste der modernen ,jüdischen jungen Mädchen". Ohne Anmut und ohne Leichtigkeit, aber verwöhnt und prätentiös, demütig und stolz zugleich, voll blinder weiblicher Parteilichkeit, glaubt sich Dorothea über das grundehrliche, ja edle Wesen ihres jüdischen einfachen Mannes, der sich als Charakter von ungewöhnlichem Ausmaß auch später mehr als der genialere Friedrich Schlegel 14 bewährte, hoch erhaben. Ihr trübes Geschick und der Zauber ihrer Persönlichkeit, trotz ihrer Häßlichkeit, ihre großen geistigen Gaben, ihre leidenschaftliche Hingabefähigkeit sind oft geschildert worden. Wilhelm von Humboldt15 erklärt sie für die erste Frau der Zeit an Geist und Charakter. Und der Philosoph Fichte 16 - der Nährvater und rocher de bronze des deutschen Antisemitismus schrieb über sie an seine Frau (am 20. August 1799): "Das Lob einer Jüdin mag aus meinem Munde besonders klingen. Aber diese Frau hat mir den Glauben, daß aus dieser Nation nichts Gutes kommen könne, benommen. Sie hat ungemein viel Geist und Kenntnisse, bei wenig oder eigentlich keinem äußeren Glanze, völliger Prätensionslosigkeit und viel Gutherzigkeit. Man gewinnt sie allmählich lieb, aber dann von Herzen." Den Wahrheits- und sittlichen Reinlichkeitsfanatismus, der Dorothea so oft mit anderen romantischen Damen in Konflikt brachte, hatte sie von ihrem großen Vater. Aber ganz anders wie der bedächtige, nach rückwärts und vorwärts schauende, feinfühlige Vater, warf sie sich mit lodernder Leidenschaftlichkeit an eine Idee, die einmal Besitz von ihr ergriffen hat, ohne Rücksicht auf das, was daraus entstehen konnte. Ihr Übertritt zum Protestantismus und später zum Katholizismus ist keiner Zweckmäßigkeitserwägung entsprungen. Über Dorothea Mendelssohn und die Romantik gibt es ein umfangreiches weitverästeltes Schrifttum. Unmittelbar zu uns spricht sie nur aus ihren zahlreichen und langen Briefen, die namentlich auch zu den von ihr überwundenen Zeiten "des alten Judentums", das sie "verabscheut", und zu der von ihr gehaßten Aufklärung parteiisch und impulsiv Stellung nehmen. 13 Bäumer, Gertrud (12.09.1873-25.03.1954), Politikerin, Frauenrechtlerin und Schriftstellerin. Vgl.: Werner Huber, Gertrud Bäumer. Eine politische Biographie, Diss. München 1970. Vgl.: Gertrud Bäumer, Studien über Frauen, Berlin 1928. 14 Vgl.: Anmerkung 7. 15 Humboldt, Wilhelm von (22.06.1767-08.04.1835), Staatsmann, Philosoph und Schriftsteller. Vgl.: Paul R. Sweet, Wilhelm von Humboldt, Columbus/Ohio 1978 ff. 16 Fichte, Johann Gottlieb (19.05.1762-27.01.1814), Philosoph. Vgl.: Hermann Zeltner, Fichte, in: Neue Deutsche Biographie 5, S. 122-125.

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Der beste Kenner dieser abstoßend-anziehenden Gestalt, in der wir so viel von ihrem jüdischen Erbgut, in allen Lebensstadien, wiedererkennen, Josef Körner17, urteilt über sie: "Daß Dorothea in so fragwürdiger Lage sich durchzusetzen, überall wo sie mit dem Freunde hinkam, gesellschaftliche Anerkennung, ja Sympathie zu erwerben wußte, ist wohl das beste Zeugnis für den Zauber ihrer Persönlichkeit. Nicht siegte sie mit den üblichen Waffen ihres Geschlechts, denn weibliche Reize gingen ihr ab. Eine etwas derbe Gestalt mittlerer Größe, ausgesprochen jüdischer Gesichtstyp mit unweiblich harten Zügen, ein starkes Kinn hätte sie geradezu häßlich erscheinen lassen, wenn nicht wunderbare schwarze Feueraugen die unschönen Züge belebt und durchgeistigt, eine lieblich-sanfte Stimme den allzu männlichen Eindruck ihres Äußeren gemildert hätten". Später war sie eine fromme Katholikin geworden, mit dem inbrünstigen Eifer der romantischen Konvertitin; aber durch und durch jüdisch klingen aus ihren Tagebuchnotizen die Erwägungen dazu: "Ob ich glaube? - Das wage ich noch nicht zu behaupten: aber ich weiß, daß ich wahrhaftig an den Glauben glaube." Dann allerdings ging sie vorbehaltlos, "mit restloser Aufopferung ihres doch so scharfen Intellekts" zum Katholizismus über, in besinnungsloser Hingabe, die man wohl mit Recht, als eine Art Überkompensation eines nie versiegenden inneren Widerstandes und Widerspruchs gedeutet hat, der auf diese Weise übertäubt und vergewaltigt werden sollte. Dorotheas Schwester Henriette 18, der dritten Tochter Mendelssohns, die Rahel 19 in ihren Briefen "das Feinste und Tiefste nennt, was sie gekannt habe", eignete nach Schilderungen der Zeitgenossen "ein stillerer Zauber, ein gehaltenerer Ernst; sie war weniger expansiv und bedachtvoller auf Äußerlichkeiten, indes es innerlich vielleicht nichts Glühenderes und Reichhaltigeres noch Zarteres gab, als sie." Als der Vater starb, war die 1775 geborene jüngste Tochter erst elf Jahre alt. Vermögen war kaum vorhanden. Henriette war übrigens wie der Vater klein und etwas verwachsen. So blieb sie unverheiratet, eignete sich eine hohe Bildung an, wurde zunächst Erzieherin in reichen jüdischen Häusern in Wien und Paris. Dort unterhielt sie später eine Pension für Kinder. Henriette blieb immer gehalten und bedächtig. Ihre bescheidene Pariser Wohnung wurde der Sammelplatz für Dichter, 17 Körner, Josef (15.04.1888--09.05.1950), Germanist und Titularprofessor. Vgl.: Rüdiger Wilkening, Josef Körner, in: Neue Deutsche Biographie 12, S. 386 f. Vgl.: Ralf Klausnitzer, Josef Körner. Philologe zwischen den Zeiten und Schulen. Ein biographischer Umriß, in: Josef Körner Philologische Schriften und Briefen, hrsg. von Ralf Klausnitzer, Göttingen 2001, S. 385-461. 18 Mendelssohn, Henriette ( 1775--09.11.1831). Vgl.: Sebastian Hensel, a. a. 0., s. 61-74. 19 Vamhagen, Rahel (15.05.1771-17.03.1833), Schriftstellerin. Vgl.: Hannah Arendt, Rahe! Vamhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, 7. Aufl. München 1987.

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Künstler und Gelehrte: Frau von Stael20, Benjamin Constant21 , die Brüder Humboldt22, Spontini23 , August Wilhelm Schlegel24, Chamisso25 und viele andere Persönlichkeiten von geistigem Rang verkehrten in ihrem Haus. Gleich ihrer Schwester Dorothea machte sie ein sehr unvorteilhaftes Äußeres durch höchste Weltbildung und durch besondere Anlagen des Herzens wett. Auch Henriette ist später zum katholischen Glauben übergetreten; die Häuser, in denen sie als Erzieherin diente, "spielten schon allesamt vom alten zum neuen Testament hinüber." Als sie 1831 in Berlin, im innigen Verband mit der Familie ihres Bruders Abraham26, des Vaters von Fe1ix Mendelssohn Bartholdy27 , starb, schrieb Zelter28 (26. November 1831) über sie an Goethe29: "Es gehört doch zu den Besonderheiten, wenn ein Berlinisches Judenmädchen, ohne Persönlichkeit, zur Dame eines der ersten Pariser Standeshäuser geworden, gar keinen Abstand in Sprache, Sitte und ökonomischem Benehmen bemerken läßt. Seit den zehn Jahren, da sie nun wieder in Berlin von mir so oft und gern gesehen worden, habe ich kaum ein französisches, englisches oder italienisches Wort aus ihrem Munde gehört, vielmehr sprach sie das klarste, fließendste Deutsch, mit einer Heiterkeit, in der ich deine ,Schöne Seele' (Frauengestalt aus Wilhelm Meisters Lehrjahren) zu erkennen glaubte."

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2 Frau von Stael (22.04.1766-14.07.1817), Schriftstellerin. Vgl.: Christopher Herold, Madame de Stael. Herrin eines Jahrhunderts, München 1966. 21 Constant, Benjamin (25.10.1767-08.12.1830), Schriftsteller und politischer Theoretiker. Vgl.: Lotbar Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Mainz 1964. 22 Humboldt, Wilhelm und Alexander. Vgl.: Hanns G. Reissner, Alexander von Humboldt im Verkehr mit der Familie Josef Mendelssohn, in: Mende1ssohn Studien Bd. 2 (Berlin 1975), S. 141-182. 23 Spontini, Gaspare (14.11.1774-24.01.1851), italienischer Opemkomponist, der auch Richard Wagner beeinflußte. Vgl.: Riemann Musik Lexikon. Personenteil Bd. 2, Mainz 1961, S. 710 f. 24 Schlegel, August Wilhelm (08.09.1767-12.05.1845), Philologe, Schriftsteller. Vgl.: Ruth Schirmer, August Wilhelm Schlegel und seine Zeit, Bonn 1986. 25 Chamisso, Adelbert von (30.01.1781-21.08.1838), Schriftsteller und Naturforscher. Vgl.: Wemer Feudel, Adelbert von Chamisso. Leben und Werk, Leipzig 1970. 26 Mendelssohn, Abraham (10.12.1776-19.12.1835), Sohn von Moses Mendelssohn, Bankier und Stadtrat in Berlin, Vater von Felix Mendelssohn Bartholdy. Vgl.: Sebastian Hensel, Die Familie Mendelssohn, a. a. 0. 27 Mendelssohn-Bartholdy, Felix (03.02.1809-04.11.1847), Komponist. Vgl.: Heinrich Eduard Jacob, Felix Mendelssohn und seine Zeit, Frankfurt/M 1959. 28 Zelter, Carl Friedrich (11.02.1758-15.05.1832), Komponist, Musikerzieher und Freund Goethes. Vgl.: Walther Victor, Carl Friedrich Zelter und seine Freundschaft mit Goethe, Berlin 1960. 29 Goethe, Johann Wolfgang von (28.08.1749-22.03.1832), deutscher Klassiker, Schriftsteller. Vgl.: Nicolas Boyle, Goethe. Der Dichter in seiner Zeit, 2 Bände, München 1995/1999.

3. Die Töchter Moses Mendelssohns

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Moses Mendelssohns zweite Tochter, Recha (Reikel)30, ist die glanzloseste unter den drei Schwestern. Sie wurde früh an den Mecklenburgischen Hofagenten Mendel Meyer31 verheiratet. Die Ehe war keine glückliche und wurde frühzeitig aufgelöst. Recha gründet dann eine Pensionsanstalt für junge Mädchen in Altona und lebte später in Berlin ebenfalls in der Familie ihres Bruders Abraham. Als Jüdin ist sie 1831 gestorben. Man darf das Geschick von Mendelssohns Töchtern und das der Generationen seiner Kinder und Enkel nicht ohne weiteres als die Folge seines eigenen Lebenswerkes ansehen. Das Kapitel der Konversionen und Judentaufen bald nach Moses Mendelssohns Tod ist noch nicht geschrieben; mit den einfachen Kategorien der "Assimilation", des "Nationalismus" und der "Gesetzestreue" kommt man hier nicht aus. Die lautere Gestalt Moses Mendelssohns wird durch Schicksale, Talente und Taten seiner Nachkommen weder verdunkelt noch bestrahlt. Aber auch der Abschnitt von Mendelssohns Töchtern ist ein Blatt Geschichte und Gegenwart der Juden in Europa und in Deutschland.

30 Mendelssohn, Recha bzw. Rebekka (18.07.1767-24.04.1831), Tochter Moses Mende1ssohns und seit dem 30.04.1783 verheiratet mit Johann Martin Meyer. Vgl.: Siegfried Silberstein, Kammeragent Nathan Meyer, Neustrelitz und A1tona, in: Jahrbuch für die jüdischen Gemeinden Schleswig-Holsteins und der Hanse-Städte Nr. 7, Hamburg, 1935, S. 60--64. 31 Mendel Meyer, Johann Martin, mecklenburgischer Hofagent, Kaufmann in Neustrelitz. Vgl.: Anm. 30.

4 Feuchtwanger

4. Der Streit um den Geist Moses Mendelssohns Anläßlich seines 150. Todestages 4. Januar 1936 Nach unserer leidigen Art der Jahrhundert und Halbjahrhundert-Feier ist jetzt nach kaum viel mehr als sechs Jahren, vor denen wir den 200jährigen Geburtstag gefeiert haben, der 150. Todestag von Moses Mendelssohn 1 (am 4. Januar) im Kalender verzeichnet. Im Herbst 1929 ist das Bild des deutsch sprechenden jüdischen Philosophen von fleißigen Händen sauber überholt und seine Wirksamkeit für die deutsche Judenheit vielfach neu gedeutet worden. Denn die sogenannte jüdische Selbstbesinnung datiert bei uns keineswegs von 1933 - dieser Irrtum ist in diesen Blättern schon wiederholt nachdrücklich richtiggestellt worden - und schon vorher wußte man Emanzipation und alles was zu ihrer inneren Vorbereitung geschah, den ganzen Komplex der Fragen, die mit der "Aufnahme" der Juden in den westeuropäischen Kulturkreis zusammenhing, richtig einzuschätzen. Das vieldeutige Wortpaar: Assimilation - Dissimilation, das man jetzt auch manchmal mit den Vokabeln: Angleichung - Ausgliederung wiedergibt, legt sich allerdings wie ein Schleier vor die konkreten Vorgänge und verwischt die scharfen erhellenden Begriffe. Sonst wäre es nicht möglich, noch heute bei der Neubewertung jener so oft beschriebenen Gruppenvorgänge "Assimilation" und ihrer Rückbildung den hundertjährigen Willen des Juden zum Deutschtum mit dem Willen des Deutschen zur Antike zu vergleichen, um Verständnis und Entschuldigung für den damals angebahnten Vermischungsprozeß zu finden. Einer solchen Entschuldigung, noch dazu mit so unzureichenden Mitteln, bedarf es gar nicht. Gerade die nicht konventionell gesehene Gestalt Mendelssohns und seiner Zeit läßt uns die schlechthin zwingende Unaufhaltsamkeit der Befreiung aus dem Ghetto unmittelbar einsehen. Hinter den abstrakten Formeln der Menschen- und Bürgerrechte, von den einen als weltgeschichtliche Offenbarungen gepriesen, von den anderen als hohles Pathos verachtet, steckt die allgemeine Einsicht der Epoche, wieweit man mit der Omnipotenz des Staates am Ende des Absolutismus gekommen war und die Hoffnung, daß unermeßliche Kräfte für die Allgemeinheit frei würden, wenn Tüchtigkeit und Leistung, nicht mehr Herkunft 1 Mendelssohn, Moses (06.09.1729-04.01.1786), bedeutendster jüdischer Philosoph der Neuzeit. Vgl.: Alexander Altmann, Moses Mendelssohn. A biographical study, University of Alabama Press 1973.

4. Der Streit um den Geist Moses Mendelssohns

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und Privilegien zum Besten menschlicher Gemeinschaften eingesetzt werden könnten. Die jüdische Lehre und das am Ende dieser Entwicklung sich in Westeuropa vorfindende, ziemlich zerzauste, aber noch im ganzen homogene jüdische Gesamtcorpus neigte im allgemeinen mehr zu den Grundsätzen der Autorität und Allmacht des als Teil der göttlichen Macht empfundenen Staates, der Blutgebundenheit und konservativen Selbstbescheidung; diese Judenheit des Barockzeitalters zeigte (gegen Sombart2 sei es hier ausgesprochen) noch wenig Affinität für Freiheit und Schrankenlosigkeit des Individuums. Es bedurfte der größten Anstrengung späterer Köpfe, um von den jüdischen Lehrer die Ideologien für Freiheit und Gleichheit herbeizuschaffen. Als dann die Schranken - nicht von den Juden - unter dem absoluten Zwang des Zeitgeistes durchbrachen waren, gab es allerdings kein Aufhalten. In dem Denken und Wirken von Moses Mendelssohn wird die schneidende Diskrepanz zwischen dem einfachen, unwandelbaren Judesein, dem gleichmäßigen frommen Alltag einer furchtlosen Judenseele und dem anspruchsvollen Ideengebäude, das nur Rechtfertigung dieses unbegründbaren Daseins von ihm selbst mit errichtet wurde, fast schmerzhaft grell sichtbar. Der naiv selbstverständliche ,.Realismus" von Mendelssohns Glauben, die sichere Geschlossenheit seines Gesamtdaseins, namentlich seine ungebrochene streng traditionelle Lebenspraxis sticht seltsam ab von der Vagheit der rationalen Begründung dieser Treue. ,.Die Ehrfurcht vor Gott zieht eine Grenze zwischen Spekulation und Ausübung, die kein Gewissenhafter überschreiten darf', damit will Mendelssohn in seinem staatskirchenrechtlichen Traktat ,.Jerusalem"3 aus dem Jahre 1783, das so mächtig auf die Religionsphilosophie Kants4 und über Hegels5 "Theologische Jugendschriften" auf die späteren klassischen idealistischen Systeme eingewirkt hat, Aufklärung und strenge jüdische Bindung in Einklang bringen. Die Willkür dieser Begründung (wie überhaupt das Mißlingen des immer wiederkehrenden Versuches, die jüdische Lehre als beweisbare Wahrheit hinzustellen) zeigt 2 Sombart, Wemer (19.01.1863-18.05.1941), Nationalökonom und Soziologe. Sein Buch ,,Die Juden und das Wirtschaftsleben" (Leipzig 1911) rief eine heftige Kontroverse sowohl unter Juden als auch unter Nichtjuden hervor. Vgl.: Friedrich Lenger, Wemer Sombart 1863-1941. Eine Biographie, München 1994. Vgl.: Jürgen Backhaus (Ed.), Wemer Sombart 1863-1941. Social Scientist, 3 Vol., Marburg 1996. 3 Mendelssohn, Moses, Jerusalem, in: ders., Gesammelte Schriften III, (Nachdruck der Ausgabe von 1863), Hildesheim 1972, Seite 255-362. 4 Kant, lrnmanuel (22.04.1724-12.02.1804), Philosoph des deutschen Idealismus. Vgl.: Kar! Vorländer, lrnmanuel Kant, 4. Auflage Harnburg 1986 (zuerst Leipzig 1911). ~ Hege!, Georg Wilhelm Friedrich (27 .08.1770-14.11.1831 ), Philosoph, der den deutschen Idealismus vollendet hat. Vgl.: Arseni Gulyga, Georg Wilhelm Friedrich Hege!, Frankfurt/M. 1974. Vgl.: Kurt Wolf, Die Religionsphilosophie des jungen Hege!, Diss. München 1960. 4*

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I. Moses Mendelssohn

sich deutlich, als später Herder6 die Argumente aus Mendelssohns "Jerusalem" von der absoluten Verbindlichkeit des Zeremonialgesetzes für den Juden (in dem berühmten Stück der Adrastea "Bekehrung der Juden") zwar übernimmt, aber daraus nicht wie Mendelssohn die Folgerung der Toleranz und Gleichberechtigung, sondern genau des Gegenteils zieht: "Die Religion der Juden ist, wie sie selbst sagen, ein Erbstück ihres Geschlechts, ihr unveräußerliches Erbteil. Nur der Gott ihrer Väter, der ihnen diese Gebote auferlegte (meinen sie), kann sie ihnen entnehmen, und zwar nicht anders als durch einen so feierlichen Akt, als die Gesetzgebung am Sinai selbst war. Das Volk ist und bleibt also auch in Europa ein unserem Weltteil fremdes asiatisches Volk". So schrieb Herder7 um 1800, Herder, der eigentliche Schöpfer der deutschen Bildung, der Entdecker der Volkstumsindividualitäten, dem gegenüber Mendelssohn als deutsch schreibender Schriftsteller nur eine Modegröße war wie etwa seine unbedeutenderen Zeitgenossen Garve8 oder Abbt9 . Um so säkularer bleibt seine Größe als Jude: der Führer aus dem geistigen und politischen Ghetto ist mit seinem eigenen jüdischen Volkstum noch ganz verwachsen und ist doch als Wegbereiter der Emanzipation von überwältigender, sprengender Wirkung. Mendelssohn verfällt noch nicht in den Fehler der späteren deutsch sprechenden und schreibenden Philosophen und Dichter aus jüdischem Stamm, er macht sich trotz seiner Freundschaft mit den Großen und Weisen seiner Zeit keine Illusion, was die Späteren bis heute so reichlich taten; sein Gleichmut, sein inneres Wissen um die Eitelkeit des literarischen Betriebs, um die tiefe Artverschiedenheit, die ihn von seinen christlichen "Freunden" trennt und über die keine Gleichheit der philosophischen und ästhetischen Theorien hinweghilft, seine verzichtende Klugheit unterscheidet sich scharf von der lnstinktlosigkeit und Ahnungslosigkeit der Späteren über ihre eigene Wirkung als Deutsche und Juden. 6 Herder, Johann Gottfried (25.08.1744-18.12.1803), Theologe und Philosoph. Vgl.: Rudolf Hayrn, Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt, Berlin 1954 (zuerst Berlin 1877-1885). 7 Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke XXIV, hrsg. v. Bemd Suphan, Berlin 1886, S. 63. 8 Garve, Christian (07.0l.l742-0l.l2.1798), Philosoph. Vgl.: Allgerneine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, begründet von Johann Sarnuel Ersch und Johann Gottfried Gruber, Bd. 54 (Leipzig), S. 90-121. Vgl.: Wolfgang Riede!, Christian Garve, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache Bd. 4, hrsg. von Walther Killy, Gütersloh/München 1992, S. 86 f. Vgl.: Leonie Koch-Schwarzer, Populare Moralphilosophie und Volkskunde. Christian Garve (1742-1798)- Reflexionen zur Fachgeschichte, Marburg 1998. 9 Abbt, Thornas (25.11.1738-03.11.1766), Philosoph, Kritiker und Mathematiker. Vgl.: Hans Erich Bödeker, T. A. Patriot, Bürger und bürgerliches Bewußsein, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1981, S. 221-253.

4. Der Streit um den Geist Moses Mendelssohns

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Man tut der makellosen Persönlichkeit Mendelssohns Unrecht, wenn man sie mit den Motiven belastet, von denen später die Forderung der Judenemanzipation ganz allgemein bis tief hinein ins antisemitische Lager in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Impulse empfing. Wir dürfen wirklich nicht vergessen, daß sowohl Wilhelm von Humboldt 10 wie Heinrich von Treitschke 11 , aber auch kein geringerer wie Mendelssohn, so grundverschieden die Haltung dieser Männer für oder gegen die Juden war, von einem einzigen gemeinsamen Beweggrund bei ihrer rückhaltlosen Bejahung der Emanzipation getragen waren: die jüdische Eigenart aufzulösen und die letzten Trennungsschranken zwischen Juden und Umwelt niederzureißen, mit dem Endziel, die Juden durch die Taufe zu Volldeutschen zu machen. Mendelssohns Geist hat man falschlieh den Erfolg solcher Bemühungen zugeschrieben, den Erfolg, der sehr bald bekanntlich schon bei den Nachfolgern Mendelssohns, eintrat. Diese negative Deutung von Mendelssohns Lebenswerk geht, wie wir sehen (den wissenschaftlichen Nachweis habe ich im einzelnen in meiner ausführlichen Abhandlung "Das Bild Mendelssohns bei seinen Gegnern bis zum Tode Hegels" 12 in der Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 1, 3. Jahrg. 1929, erbracht), von dem konservativen, deutsch-christlichen Frankfurter Staatsmann Johann Friedrich von Meyer 13 aus, der es 1818 (in der Vorrede zu Hamanns 14 "Golgatha") aussprach: "Zur Zeit, wo die Juden in schwererem Druck waren, waren sie, um das Heiligtum ihrer Thora gesammelt, zufriedener als jetzt. Seitdem sie in das bequeme äußere Leben der Christenwelt eingeflochten sind, wundern sie sich, daß diese noch einen Unterschied machen könne. Ehedem stritten sie für die Wahrheit und Reinheit ihres Glaubens . . . Jetzt ist allerwärts jener Allglaube eingetreten, der ... auch alles Positive als gleichgültige Gestaltung des Unendlichen, als Gedicht behandelt" (S. XXVIIff). Die größte Schuld daran habe Mendelssohn. "Schreiben wir denn dieses nun als 10 Hurnboldt, Wilhelrn von (22.06.1767--08.04.1835), Staatsmann, Philosoph und Schriftsteller. Vgl.: Paul R. Sweet, Wilhelrn von Hurnbo1dt, Co1urnbus/Ohio 1978 ff. 11 Treitschk.e, Heinrich von (15.09.1834-28.04.1896), Historiker, der dem Antisemitismus im 19. Jahrhundert Vorschub leistete. Vgl.: Ulrich Langer, Heinrich von Treitschke. Politische Biographie eines Nationalisten, Düsseldorf 1998. 12 "Das Bild Mendelssohns bei seinen Gegnern bis zum Tode Hegels" in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland, 3. Jahrg. (1929), Seite 213232. Vgl.: Seite 8-30 dieser Ausgabe. 13 Meyer, Johann Friedeich von (12.09.1772-28.01.1849), Jurist, Schriftsteller und Theaterdirektor. Vgl.: Willy Schottroff, Johann Friedeich von Meyer, in: Neue Deutsche Biographie 17, S. 290 ff. Vgl.: Allgerneine Deutsche Biographie 21, Seite 597 ff. 14 Harnann, Johann Georg (27.08.1730-21.06.1788), Schriftsteller, Philosoph. Vgl.: Rudolf Unger, Harnann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert., 2. Auf!. 1963. Vgl.: Oswald Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, München 1988.

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I. Moses Mendelssohn

Feinde der Juden? Wohl keineswegs. Wir wüßtens nicht besser anzufangen, um diese Nation unglücklich zu machen, als wenn wir wünschten, daß Mendelssohns Geist auf ihr beruhen möchte. Hat Mendelssohn die Juden kultiviert, so hat er sie auch geirrt, und in einen unseligen Sandweg geleitet, wo man nicht weiter kommt, und am Ende liegen bleibt und verschmachtet ... "Wir ließen ihm seine Betriemen, wenn er uns nur die unsrigen abbinden half (S. XX). Der Jude, der sein Gesetz hat und hält, so weit möglich, hat einen Stab zum Wandeln in dieser Welt ...". Derselbe Konflikt, der dann im 19. Jahrhundert auch das östliche Judentum schüttelte! Mendelssohn persönlich, das beispiellos geschlossene harmonische starke Lebewesen Moses Mendelssohn mit den friedliebenden, fast ängstlichen Zügen, hatte noch nicht wie die später geborenen "aufgeklärten" Juden das Gefühl für die tiefere Bedeutung seines uralten Stammes, dessen Gepräge sich nicht so plötzlich abstreifen ließ, verloren. Darum blieb er im Grunde auch von den besten Zeitgenossen unverstanden: Herder, der dem kommenden Jahrhundert, ja unserer eigenen Zeit die Gedankenrichtung vorgeschrieben hat, sprach zwar von dem "weisen, unbestochenen, gütigen Mendelssohn", huldigte ihm öffentlich als würdigen Treuhänder Lessings und tat ihm doch, in einem Atem (als der Geist der Zeit, aller Zeiten über ihn kam) als den "pfiffigen Ebräer, mit dem kein ehrlicher Christ auskommt", ab. Die Vereinigung des grundvernünftigen "guten Europäers" mit dem "Stockjuden", der seine Gebetriemen beibehielt und an seiner "Nation" mit unverbrüchlicher Treue festhielt, blieb der Welt um ihn unverständlich. Nur ein unverdächtiger deutscher Dichter, Mattbias Claudius15, der "Wandsbeker Bote", wirklich der hellste und warmherzigste unter den zahlreichen Beobachtern des Falles "Moses Mendelssohn", erkannte richtig den tieferen Sachverhalt von der inneren Unabhängigkeit der Mendelssohnschen Theorien von ihren "Vernunftgründen" . Am Schlusse der noblen Rezension von Mendelssohns Abwehrschrift "An die Freunde Lessings" bemerkt Mattbias Claudius: "Herrn Mendelssohns Bekanntschaft ist mir nicht beschieden gewesen, aber ich habe ihn als einen hellen, forschenden Mann mit vielen Andem geachtet; und als Jude 16 habe ich, wie man sagt, ein tendre für ihn, um seiner großen Väter und um meiner Religion willen" 17 .

15 Claudius, Mattbias (l5.08.17.40-2l.Ol.l815), Journalist, Lyriker, Übersetzer, Redakteur des "Wandsbecker Bothen", die von 1771-1775 erschien und in ganz Deutschland verbreitet war. Vgl.: Herbert Rowland, Mattbias Claudius, Boston 1983. 16 Feuchtwauger zitiert hier etwas ungenau: "; und als Juden habe ich, wie man sagt, . . .". 17 Matthias, Claudius, Moses Mendelssohn an die Freunde Lessings, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. von Jost Perfahl, München 1969, 350-360, hier 360.

II. Jüdische Geschichte und Rechtsgeschichte in Bayern, Österreich und England

1. Jüdisches und römisches Recht Studie über die Herkunft der Collatio legum Mosaicarum et Romanarum 1 Den Herren Oberstlandesgerichtsrat Dr. Alfred Neumeye?und Justizrat Dr. Emil Fränkel 3 zum 70. Geburtstag gewidmet von Ludwig Feuchtwanger.

Man hat gelegentlich der Bewertung des "Römischen Rechts" als der unvergleichlichen Denkschule für klare und einfache Erfassung eines verwikkelten Sachverhalts die Beobachtung gemacht, daß das "Volk des Rechts" nicht das "Volk des Gesetzes" sei. Es war damit die merkwürdige Zurückhaltung gemeint, die das römische Recht vor der staatlichen Rechtssatzung (und zwar vor der Kodifikation wie vor der Einzelgesetzgebung) geübt hat. Daß weder das Zwölftafelbuch noch die erste Gesamtkodifikation seit den zwölf Tafeln, das Gesetzbuch Justinians4 (529-534), jener festgestellten Abneigung gegen "Gesetze" widerspricht, ist wiederholt gezeigt worden. Als die angemessenste Art der Entwicklung von Rechtsnormen erschien der republikanischen und klassischen römischen Zeit die Normenbildung durch eine von der Jurisprudenz geleitete Praxis. Wir können bei dieser Art der Bildung privatrechtlicher, zivilprozessualer, straf- und staatsrechtlicher 1 Vgl.: M. Lauria, Lex Dei, in: Studia et documenta historiae et iuris 51 (1985), S. 257-275. Vgl.: Wulf Eckart Voß, Collatio legum Mosaicarum et Romanarum, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike Bd. 6, hrsg. von Hubert Cancik und Helmut Schneider, Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 63 f. 2 Neumeyer, Alfred Dr. (17.02.1867- 19.12.1944), Richter und Vorsitzender des Verbandes israelitischer Kultusgemeinden in Bayern bis 1941. Vgl.: Alexander Neumeyer, Alfred Neumeyer (1867-1944), Richter und Vorsitzender des Verbandes israelitischer Kultusgemeinden in Bayern, in: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe, hrsg. von Manfred Treml und Wolf Weigand unter Mitarbeit von Evamaria Bröckhoff, München u.a. 1988, S. 235- 241. Vgl.: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration I, S. 531. 3 Fränkel, Dr. Emil (1867-1942), Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde und orthodoxen Synagoge München, Anwalt. Vgl.: Mitteilungsblatt Wochenzeitung des Irgun Olej Merkas Europa, TelAviv 21.05.1942, S. 7. 4 Justinian I., Flarius (ca 482-14.11.565), römischer Kaiser von 527-565, der 528 das Corpus iuris civilis in Auftrag gab, das bereits 529 als Codex Justinianus erschienen ist. Vgl.: Franz Tinnefeld, Justianus, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike Bd. 6, hrsg. von Hubert Cancik und Helmut Schneider, Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 101-104.

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II. Jüdische Geschichte und Rechtsgeschichte

Rechtssätze einen tiefen Blick in das Wesen der Tradition und des Gewohnheitsrechts tun. Das jüdische Recht, das bis zur Emanzipation allenthalben die innerjüdischen Lebensverhältnisse auch nicht religiöser Art zu regeln hatte, hat sich ebenfalls in vielen Stücken wie das römische Recht (und übrigens viele andere Rechte) allmählich an Hand der Fälle und im Wege der juristischen Diskussion fortgebildet. Eine solche Veränderung war auch im Judentum trotz eines unübersteigbaren schriftlichen und mündlichen Gesetzes ein zwangsläufiger Vorgang. Wie man sich allerdings eine Lex Dei vereinbar mit einer zeitlichen und menschlichen "Entwicklung" und "Fortbildung" dachte, das hier zu erörtern, müßte mitten in die kontroversenreichen Fragen der Herkunft sakralen und profanen Rechts, der Beziehungen beider innerhalb und außerhalb der jüdischen Theorie und Praxis, führen. Das sinaitische Gesetz der fünf Bücher Moses und das daran geknüpfte Rechtssystem der überlieferten Lehre blieb jedenfalls nicht außerhalb des Stromes zeitlicher und menschlicher Veränderungen. Ohne Einblick in den historischen Hergang der Rechtswerdung werden auch jüdisches Gesetz und Recht unverständlich sein. Das Verhältnis von gesetztem Recht und Tradition als Gewohnheitsrecht hat man in den Epochen, in denen ein totales Leben unter dem Gesetz noch eine allgemeine jüdische Existenzweise war, sich nicht als Entwicklung und Veränderung vorgestellt; und ähnlich wie man das "Aufgehen" und "Untergehen" der Sonne als selbstverständlich hinnahm, so hat man das Gesetz zwar tausendmal hin und hergewendet, um "Din"5 und "Halachah"6 durch sorgfaltige Ausschöpfung jedes Wortes und Buchstabens zu ergründen, aber die oberste göttliche geoffenbarte Wahrheit stand ein- für allemal fest, es galt sie nur durch Tora-Lernen7 immer wieder neu zu entdecken und die richtigen Ableitungen zu finden. Ein historisch-kritisches Eindringen in biblisches und spätjüdisches Recht muß anders vorgehen. In die Fülle der hier vorliegenden Probleme führt am besten die Skizze des früheren Leipziger, jetzt Leidener jüdischen Rechtshistorikers Martin David8 zur Forschungsmethode auf dem Gebiet des biblischen Rechts (vgl. Bibliographie am Schluß) ein. In diesem Programm Davids wird eingehend begründet, warum eine Betrachtung des biblischen Rechts vom Standpunkt des Talmuds9 methodisch genau so unzulässig ist, wie etwa eine Betrachtung des Zwölftafel-Rechts von der Perspektive der Justi5 Din: Dina De Malkhuta Dina bezeichnet die halachische Regel, dass das Gesetz eines Landes bindend und in bestimmten Fällen dem jüdischen Gesetz vorzuziehen ist. Din steht für Gesetz, Richterspruch. Vgl.: Encyclopaedia Judaica Vol. 6 (Jerusalem 1971), Sp. 51-55. 6 Halachah: (Hebräisch) Wegrichtung. Die Religionsgesetze der jüdischen Überlieferung. 7 Tora: Die fünf Bücher Moses, der Pentateuch. 8 David, Martin (1898-1968?), Rechtshistoriker und Papyrologe. Vgl.: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration II, S. 205 f.

l. Jüdisches und römisches Recht

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nianischen Gesetzgebung oder gar von derjenigen des gemeinen römischen Rechts aus, das bis ins 19. Jahrhundert als das "fortentwickelte römische Recht" angesehen worden und in Geltung gewesen ist. Als in verstärktem Maße seit Alexander dem Großen 10 das spätere Judentum mit dem Westen und mit Europa in Berührung kam, war man von jüdischer Seite bemüht, die Vorschriften der jüdischen Religion auch für die Außenstehenden darzustellen und zu begründen, um der Umwelt Alter, Priorität, Vortrefflichkeit und innere Vorzüge des mosaischen Gesetzes zu erweisen. Philons 11 Traktate "Über den Dekalog" und "Über die Einzelgesetze", ferner "Über die Tugenden", "Über Belohnungen und Strafen" sind die bekanntesten Beispiele für die Bestrebungen, dem Judentum neben dem Griechen- und Römerturn Rang und Ansehen in der Welt zu verschaffen und darüber hinaus, Recht und Sitte der Welt mit der jüdischen Idee vom Rechten und Wahren zu durchdringen. Diese Aufgabe nahmen bald Christentum und Kirche dem Judentum ab: die phiionischen Spuren und Wege sind bei den Kirchenvätern auf Schritt und Tritt wieder sichtbar. Am deutlichsten ist das alte Ziel, den Geist des mosaischen Gesetzes hochzupreisen und diesem Geist in Recht und Gesetz des römischen Weltreiches Eingang zu verschaffen, in einer merkwürdigen vorjustinianischen Juristenarbeit sichtbar, die in der Wissenschaft der römischen Rechtsgeschichte unter dem Namen Collatio legum Mosaicarum et Romanarum seit dem 16. Jahrhundert bekannt ist. In der neuesten Wissenschaft der ganzen Welt hat man dieser in drei Handschriften überlieferten Sammlungen, einer Gegenüberstellung einzelner Gesetze des Moses und römischer Rechtssätze in lateinischer Sprache, aus dem westlichen Imperium des 4. Jahrhunderts stammend, von allen Seiten neue Beachtung geschenkt; vor allem hat eine Reihe jüdischer Gelehrter in den letzten Jahren Entstehung und Bedeutung der Collatio neu und gründlich untersucht, worüber in einem bibliographi9 Talmud: (Hebräisch) Studium; nächst der Bibel das Hauptwerk des Judentums, abgeschlossen im Jahre 500. Schulchan-Aruch: (Hebräisch) Gedeckter Tisch, jüdische Gesetzessanunlung verfasst von Josef Karo (1488-1575) in Palästina. Vgl.: Lutz Doering/Theodore Kwasman, Karo, in: Neues Lexikon des Judentums, hrsg. von Julius H. Schoeps, Gütersloh/München 1992, S. 256. 10 Alexander der Große (ca 356-10.06.323 v.Chr.), König von Makedonien. Vgl.: Jakob Seibert, Alexander der Große, Darmstadt 1972. 11 Phiion von Alexandria (20/15. v.Chr.--42 n.Chr.), jüdischer Philosoph. Vgl: Peter Haberrnehl, Philon, in: Metzler Lexikon Antiker Autoren, hrsg. von Oliver Schütze, Stuttgart/Weimar 1997, S. 531 ff. Vgl.: Phiion von Alexandria, Die Werke in deutscher Ubersetzung, hrsg. von Leopold Cohn, Isaak Heinemann, Maximilian Adler und Willy Theiler, Bd. I und II, 2. Aufl., Berlin 1962. Vgl.: Samuel Berkin, Philo und the oral bzw. The philonic interpretation of biblical law in relation to the Palestinia Halakah, Harvard University Press 1940.

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II. Jüdische Geschichte und Rechtsgeschichte

sehen Anhang am Schluß dieser Abhandlung eine Übersicht geboten werden soll. Den hier gegenübergestellten römischen und biblischen Texten hat Theodor Mommsen 12 in seiner klassischen Ausgabe aus dem Jahr 1890 nicht nur die Lesearten der drei Handschriften beigefügt, sondern in der Einleitung einen Überblick über die lateinischen Bibelübersetzungen vor Hieronymus 13 gegeben und überdies außer den Quellenstellen bei den römischen Fragmenten die Septuagintafassung der biblischen Teile beigedruckt, so daß man ohne weiteres sehen kann, daß es sich um lateinische Bibelübersetzungen mit der Septuaginta als Vorlage, also um eine lateinisch Version vor der Vulgata des Hieronymus handelt. Neben Mommsen tut auch die englische Ausgabe der Collatio von Mose Hyamson 14 aus dem Jahre 1913 (siehe Bibliographie) gute Dienste. Hyamson gibt eine vollständige Photographie der Berliner Handschrift mit Transskription und außer der Tabelle der Varianten der drei Handschriften eine vergleichende Gegenüberstellung der biblischen Teile nach dem Vulgata-Text, nach dem Text der Itala und der Collatio. Mommsen und Hyamson sind die beiden noch heute unentbehrlichen Editionen. Nach der Entdeckung der ersten Handschrift durch französische Rechtsgelehrte des 16. Jahrhunderts in einer nordfranzösischen Klosterbibliothek hat erst wieder Savigny 15 vor 100 Jahren in seiner "Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter" die Verwendung der Collatio in einem späteren fürstlichen Eheprozeß nachgewiesen und eine neue Erörterung über Verfasser, Zweck und Erscheinungszeit des Werkes hervorgerufen. Die überwiegende Meinung blieb, daß der Autor ein Christ war, der nachweisen wollte, daß das heidnische Recht unbewußt der Offenbarung folge. So deutet man die Stelle: Seitote lurisconsulti quia Moyses prius hoc dixit 16. Da indes das Alte Testament vom Christentum als göttliche Offenbarung rezipiert wurde, ist aus dieser Vergleichung des römischen Rechts mit dem mo12 Mommsen, Theodor (30.1 1.1817-01.1 1.1903), Historiker, liberal, 1863-1866 und 1873-1879 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses, 1881-1884 Mitglied des Reichstages. Vgl.: Lotbar Wickert, Theodor Mommsen. Eine Biographie, Frankfurt/M.l959/80. 13 Hieronymus, Sophronius Ensebius (ca 347-30.09.419), Kirchenlehrer. Vgl.: Friedeich Wilhelm Bautz, Hieronymus, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, hrsg. von Traugott Bautz, Hamm 1975, Sp. 818 ff. 14 Hyamson, Moses (1863-1949), Rabbiner, von 1915- 1940 Lehrer am Jewish Theological Seminary in New York. Vgl.: Encyclopaedia Judaica Vol. 8 (Jerusalem 1971), p. 1138. 15 Savigny, Friedeich Carl von (21.02.1779-25.10.1861), Rechtshistoriker. Vgl.: Jan Schröder, Friedeich Carl von Savigny, in: Gerd Kleinheyer/Jan Sehröder (Hrsg.), Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Aufl. Heidetberg 1996, S. 352-361. 16 Seitote Iurisconsulti quia Moyses prius hoc dixit: Bedenket Rechtsgelehrte, dass Moyses früher dies gesagt hat.

1. Jüdisches und römisches Recht

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saischen, statt mit den Gesetzen Christi und der christlichen Kaiser, noch nicht der jüdische Charakter der Arbeit und ihres Verfassers abzuleiten. Die christliche Lehre des 4. Jahrhunderts hat die in der Collatio beigezogenen alttestamentlichen Vorschriften als geoffenbarte göttliche Gebote anerkannt, wenn sie auch weitgehend durch das Erscheinen Jesu abrogiert waren. Die Juden in diesem Zusammenhang der Staatsfeindlichkeit zu bezichtigen, hätte nach Zweck und Aufbau der Collatio auch für einen christlichen Verfasser femgelegen. Ein italienisch-jüdischer Gelehrter, Edoardo Volterra 17 will neuerdings dem Geheimnis der Collatio von den biblischen Stellen her beikommen, die er aufs genaueste mit ihren sonstigen hebräischen, griechischen und lateinischen Fassungen konfrontiert. Der frühere Freiburger Romanist Professor E. Levy 18 stimmt ihm in den Ergebnissen zu, vor allem darin, daß der Verfasser ein Jude gewesen sei; die Entstehung müsse vor Constantin 19 datiert werden: "Die Umstellung vom Mosaisch-hebräischen auf das Mosaisch-christliche" sei in der Collatio noch nicht vorgenommen. Die Bedeutung der Arbeit Volterras liegt vor allem in den drei ersten Kapiteln, worin die Überlieferungsgeschichte der "Lex Dei" - so lautet der eigentliche Hauptteil der Sammlung - mit großer Sorgfalt geschildert wird. Der Nachweis, daß die Grundgedanken des römischen Rechts bereits in der mosaischen Gesetzgebung, der nach jüdischer und christlicher Auffassung ältesten aller Rechtsordnungen, enthalten sei, könnte in der Weise, wie es vom Verfasser der Collatio geschieht, in Wirklichkeit mit den gleichen Mitteln von einem Juden wie von christlicher Seite in den fraglichen Jahrzehnten geführt worden sein. Auch die Erweiterung der biblischen Texte durch Zusätze oder die Tilgung moralischer Sätze oder widerrömischer Normen ist noch nicht für die jüdische oder christliche Herkunft entscheidend. Erhalten sind nur die ersten 16 Titel des ersten Buches: 1. de sicariis et homicidis casu vel voluntate. 2. de atroci iniuria. 3. de iure et saevitia dominorum. 4. de aduleris. 5. de stupratoribus. 6. de incestis nuotiis. 7. de furibus et de poena eorum. 8. de falso testimonio. 9. de familiaris testimonio non admittendo. 10. de deposito. 11. de abactoribus. 12. de 17 Volterra, Edoardo (07.01.1904-?), Rechtshistoriker. Vgl.: Lui chi e ? Vol. II, 2. Aufl. Torino o. J., S. 1428 f. 18 Levy, Ernst (23.12.1881- 14.09.1968), Professor für Rechtsgeschichte, Freiburger Romanist. Vgl.: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration II, S. 717. Vgl.: Peter Landau, Juristen jüdischer Herkunft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, hrsg. von Helmut Heinrichs, Harald Franzki, Klaus Schmalz und Michael Stolleis, München 1993, S. 164 f. Vgl.: Dietrich V. Simon, Levy, Ernst, in: Neue Deutsche Biographie 14, S. 403 f. 19 Constantin der Große (ca 275-22.05.337 n. Chr.), römischer Kaiser, der das römische Reich dem Christentum öffnete. Vgl.: Jochen Bleicken, Constantin der Große und die Christen, München 1992.

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II. Jüdische Geschichte und Rechtsgeschichte

incendiariis. 13. de termino amoto. 14. de plagiariis. 15. de mathematicis. maleficis et Manichaeis. 16. de legitima successione20. Wir haben noch einen anderen römischen Juristen und Verkünder der biblischen Wahrheit aus der Zeit des erlöschenden Heidentums und zwar aus dem theodosianischen Zeitalter, den angesehenen Advokaten Sulpicius Severus21 aus dem römischen Bordeaux, der wie der Verfasser der Collatio, nur um etwa 50 Jahre später, das Privat- und Strafrecht des 2. Buches Mose in die Sprache des römischen Rechts übersetzt und in seine "Chronik" einverleibt hat. Kein Geringerer als der hervorragende jüdische Philologe und Kenner des Altertums Jacob Bernays22 hat die Partien aus der Severinischen Chronik über vermögens- und strafrechtliche Normen des Pentateuch unter Beiziehung des Vulgata-Textes und der Septuaginta mit unserer Collatio in einem nicht überholten Beitrag zur Geschichte der klassischen und biblischen Studien schon im Jahr 1861 verglichen (vgl. die Bibliographie weiter unter). Das Studium der Bernays'schen Abhandlung hätte zur Schlichtung der Kontroverse, ob der Verfasser aus jüdischem oder christlichem Kreis stammt, in dem hier vertretenen Sinn, daß das Thema vom göttlichen Geist des römischen Rechts in der spätrömischen Zeit von Jud und Christ gleichartig behandelt werden konnte, führen müssen. Statt dessen bemüht sich der Universitätsprofessor und Benediktinerpater Prinz Constantin Hohenlohe23, Gerichtspräsident und Konsistorialrat der Erzdiö20 Text nach der Ausgabe von Mommsen: (Die Übersetzung stammt vom Herausgeber) 1. Von Meuchelmord (und Mord zufällig oder vorsätzlich) 2. Von Schwerverbrechern 3. Von Recht und Grausamkeit, Willkür, Unrecht der Herren 4. Ehebrechen 5. Von Unzucht Treibenden 6. Von der Ehe/Hochzeit unter Verwandten 7. Von Dieben und deren Bestrafung 8. Vom falschen Zeugnis/Beweis (Falschaussage/Meineid) 9. Vom nicht zulässigen Beweis/Zeugnisverweigerungsrecht 10. Von der Hinterlegung /Vom Depositum /Vom Pfand 11. Von Viehdieben 12. Von Brandstiftern 13. Von bewegter Grenze 14. Von Seelenverkäufern 15. Von zauberischen Sterndeutern 16. Von der rechtmäßigen Erbfolge. 21 Sulpicius, Severus (353-