Arme und Ärzte, Kranke und Kassen: Ländliche Gesundheitsversorgung und kranke Arme in der südlichen Rheinprovinz (1869 bis 1930)
 3515091718, 9783515091718

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Tabellen, Abbildungen und Karten
Worte des Dankes
Teil I – Grundlagen der Studie
Einleitung
Raum
Teil II – Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung
Kapitel 1: Distriktarzt und Medikaster. Kontinuitäten und Veränderungen bis zur Jahrhundertwende
1.1. Das rheinische Distriktarztsystem: Idee, Entstehung und Aufgaben
1.2. Distriktärzte – Personen und Motivationen
1.3. Distriktarztwesen und ländliche Arztversorgung in der Entwicklung
1.4. Arzt und Raum – Ein Zwischenfazit
1.5. Bezirkshebammen
1.6. „Kurpfuscher“ und „Knochenflicker“: Laienheiler
Kapitel 2: Alte Wege und neue Pfade. Von der Jahrhundertwende zum Beginn der Zwanziger Jahre
2.1. Etabliert und stabil: staatlich-kommunale Netze
2.2. Neue Instrumente & Experimente
2.3. Hospitäler und Krankenhäuser
2.4. Neue Ansprüche: Kranken- und Unfallversicherung auf dem Land
2.5. Krankenversicherung und Armenpflege im ländlichen Raum – Bewertungen
Kapitel 3: Kassen, Arzt und „Knochenflicker“. BewährteHelfer und neue Professionalität in den Zwanziger Jahren
3.1. Die Folgen des Krieges – Fürsorge als Vorsorge
3.2. Neue Rolle, neues Prestige. Das Hebammenwesen
3.3. Binnendifferenzierte Kontinuitäten. Die Entwicklung der Laienheilkunde
3.4. „Früher einmal, aber hört jetzt auf!“ – Nachbarschaftshilfe und Besprechungspraktiken nach dem Atlas für Deutsche Volkskunde
Kapitel 4: Ländlichkeit als Problem,Armut als Chance? Bewertungen
4.1. Ländliche Gesundheitsversorgung
4.2. Armenkrankenpflege
Teil III – Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung
Kapitel 5: Kranksein und Krankheit
5.1. Beschreibungen und Konzepte
5.2. Armut und Krankheit – Bedingtheiten und Perspektiven
Kapitel 6: Auf der Suche nach Heilung
6.1. Erkrankungen
6.2. Zugang zur Heilung – Kosten, Raum, Vertrauen
6.3. Die Suche nach dem rechten Arzt: Der Fall Ludwig N.
6.4. Krankenhäuser & Kuranstalten: Das Entstehen von ‚Gesundheitsräumen’
6.5. Heilung durch Glauben? Die Rolle von Wallfahrten auf der Suche nach Heilung
Kapitel 7: Konsultation und Behandlung
7.1. Konsultation
7.2. Behandlung
7.3. Der ‚medizinische Fortschritt’ und seine Wahrnehmung
7.4. Von flockendem Eiter, unreinen Schalen und heilenden Salben: Der Fall Ludwig N.
Kapitel 8: Krankheit und die Kosten
8.1. Finanzielle Belastungen von Krankheit für Arme
8.2. Finanzielle Belastungen von Krankheit für die Armenverwaltung
Kapitel 9: Verhandlungen –Verfahrensweisen, Verhalten, Einflüsse
9.1. Armenarzt und Armenkasse – Krankheitsbedingte Anträge bis zum Beginn der 1920er Jahre
9.2. Arztwahl und Versicherung – Krankheitsbedingte Anträge in den 1920er Jahren
9.3. Krankheit und Würdigkeit
9.4. Interaktion und Aushandlung – Streiflichter
Kapitel 10: Handeln zwischen Zwangund Möglichkeit – Bewertungen
Teil IV – Schlussbetrachtung
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Archivalia
2. Gedruckte Quellen und zeitgenössische Literatur
3. Forschungsliteratur
Register
Anhang

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Arme und Ärzte, Kranke und Kassen

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung herausgegeben von Robert Jütte Beiheft 31



Arme und Ärzte, Kranke und Kassen



Ländliche Gesundheitsversorgung und kranke Arme in der südlichen Rheinprovinz (1869 bis 1930) von Martin Krieger

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2008

Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich 600 „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart“, Trier, entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.  Außerdem gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Robert Bosch Stiftung GmbH und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09171-8

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2008 Franz Steiner Verlag Stuttgart. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Tabellen, Abbildungen und Karten............................... 10 Worte des Dankes............................................................................................. 13 Teil I – Grundlagen der Studie...................................................................... 15 Einleitung ....................................................................................................... 15 Krankheit & Armut – eine Hinführung....................................................... 15 Begriffe und Definitionen............................................................................. 18 Fragestellungen, Abgrenzungen und Methoden........................................ 23 Quellen ....................................................................................................... 36 Gliederung...................................................................................................... 38 Forschungsstand............................................................................................. 40 Raum..................................................................................................................... 51 Die „Südliche Rheinprovinz“....................................................................... 51 Kreis Bitburg.................................................................................................. 53 Kreis Wittlich................................................................................................. 56 Kreis Bernkastel............................................................................................. 57 Kreis Simmern............................................................................................... 58 Teil II – Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung.......................... 60 Kapitel 1: Distriktarzt und Medikaster. Kontinuitäten und Veränderungen bis zur Jahrhundertwende............. 64 1.1. Das rheinische Distriktarztsystem: Idee, Entstehung und Aufgaben............................................................ 64 Einführung..................................................................................................... 64 Entstehung des rheinischen Distriktarztsystems.................................. 65 Aufgaben................................................................................................. 67 1.2. Distriktärzte – Personen und Motivationen......................................... 72 Alter und Ausbildung............................................................................. 73 Der Weg aufs Land................................................................................. 74 Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten.......................................... 77 Einkommen............................................................................................. 79 1.3. Distriktarztwesen und ländliche Arztversorgung in der Entwicklung...................................................... 86 Die ärztliche Versorgung um 1880........................................................ 89 Die ärztliche Versorgung um 1893........................................................ 92 Die ärztliche Versorgung um 1905........................................................ 94 1.4. Arzt und Raum – Ein Zwischenfazit..................................................... 95 1.5. Bezirkshebammen.................................................................................. 99 Entstehung............................................................................................... 99 Aufgaben und Ausbildung................................................................... 100 Einkommen........................................................................................... 103



Inhalt

Motivation............................................................................................. 106 Verbreitung............................................................................................ 110 Bewertung............................................................................................. 114 1.6. „Kurpfuscher“ und „Knochenflicker“: Laienheiler........................... 115 1.6.1. Begriffe......................................................................................... 115 1.6.2. Rechtliches.................................................................................. 118 1.6.3. Die Situation der Laienheilkunde vor der Jahrhundertwende (1890er)......................................... 120 Quellen und Quellenperspektiven..................................................... 120 Herkunft, Ausbildung und Tätigkeitsfelder....................................... 125 Bezahlung & Verdienst......................................................................... 132 Bedeutung der Laienheiler für die Armenversorgung...................... 133 Kapitel 2: Alte Wege und neue Pfade. Von der Jahrhundertwende zum Beginn der Zwanziger Jahre........... 135 2.1. Etabliert und stabil: staatlich-kommunale Netze............................... 135 2.1.1. Das Distriktarztwesen vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn der Zwanziger Jahre....................................... 135 Wahlfreiheiten: Das Verschwinden des Armenarztes....................... 136 2.1.2. Hebammenwesen....................................................................... 140 2.1.3. Laienheiler.................................................................................. 144 2.2. Neue Instrumente & Experimente...................................................... 146 2.2.1. Medizin & Caritas: Die Krankenbesucherinnen..................... 146 Idee und Konzeption............................................................................ 147 Herkunft und Ausbildung.................................................................... 150 Aufnahme und Akzeptanz................................................................... 151 Verbreitung............................................................................................ 153 2.2.2. Von der Schwester zur Schwester: Ordensleute, „Heilge hülfen“ und die Professionalisierung der Krankenpflege...... 156 Ordensniederlassungen........................................................................ 156 Weltliche Pflegerinnen und Krankenpflegeausbildung..................... 159 Pflegestationen...................................................................................... 163 2.2.3. Von den Schwierigkeiten, ein Netz zu knüpfen: „Margaretenspenden“ und „Sanitätskolonnen“...................... 165 Die „Margaretenspende“..................................................................... 165 Sanitätskolonnen................................................................................... 168 2.3. Hospitäler und Krankenhäuser............................................................170 2.3.1. Alte Hospitäler.............................................................................172 Hospitäler in den Schwerpunktkreisen bis um 1900..........................173 2.3.2. Die neuen Krankenhäuser..........................................................176 Krankenhäuser und Hospitäler in den Schwerpunktkreisen nach 1900........................................................... 181 2.3.3. Armenpflege und stationäre Versorgung................................. 185 2.4. Neue Ansprüche: Kranken- und Unfallversicherung auf dem Land........................................................................................ 187

Inhalt



2.4.1. Die Gemeindekrankenversicherung......................................... 188 2.4.2. Die Ortskrankenkassen.............................................................. 194 2.4.3. Die Reichsversicherungsordnung von 1911 und die Landkrankenkassen..................................................... 201 2.4.4. Die Unfall- und Invalidenversicherung und das Wirken der Landesversicherungsanstalt................... 207 2.5. Krankenversicherung und Armenpflege im ländlichen Raum – Bewertungen.................................................. 210 Kapitel 3: Kassen, Arzt und „Knochenflicker“. Bewährte Helfer und neue Professionalität in den Zwanziger Jahren.............................. 212 3.1. Die Folgen des Krieges – Fürsorge als Vorsorge............................... 212 3.2. Neue Rolle, neues Prestige. Das Hebammenwesen.......................... 215 3.3. Binnendifferenzierte Kontinuitäten. Die Entwicklung der Laienheilkunde................................................. 218 3.4. „Früher einmal, aber hört jetzt auf!“ – Nachbarschaftshilfe und Besprechungspraktiken nach dem Atlas für Deutsche Volkskunde...........................................................................222 Kapitel 4: Ländlichkeit als Problem, Armut als Chance? Bewertungen.....................................................................................................229

4.1. Ländliche Gesundheitsversorgung......................................................229 4.2. Armenkrankenpflege............................................................................233

Teil III – Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung..236 Zum Quellenwert der Armengesuche..............................................................238 Kapitel 5: Kranksein und Krankheit.......................................................... 247 5.1. Beschreibungen und Konzepte........................................................... 247 Beschreiben von Kranksein und Krankheit....................................... 247 Konzepte von Krankheit...................................................................... 257 5.2. Armut und Krankheit – Bedingtheiten und Perspektiven................ 261 Krankheit als Folge von Armut: Die Ansichten der medizinischen Experten......................................262 Mangel als Krankheit? Die Wahrnehmung von Mangelernährung........................................265 Armut als Folge von Krankheit: Die Ansichten der Betroffenen....269 Kapitel 6: Auf der Suche nach Heilung.................................................... 273 6.1. Erkrankungen....................................................................................... 274 Erkrankungen in ärztlicher Behandlung............................................ 274 Erkrankungen in der Behandlung von Laienheilern........................ 275 Selbsthilfe im Erkrankungsfall............................................................. 277



Inhalt

6.2. Zugang zur Heilung – Kosten, Raum, Vertrauen.............................. 279 Kosten.................................................................................................... 279 Raum ..................................................................................................... 281 Vertrauen...............................................................................................283 6.3. Die Suche nach dem rechten Arzt: Der Fall Ludwig N....................286 6.4. Krankenhäuser & Kuranstalten: Das Entstehen von „Gesundheitsräumen“.........................................288 6.5. Heilung durch Glauben? Die Rolle von Wallfahrten auf der Suche nach Heilung..................292 Kapitel 7: Konsultation und Behandlung..................................................295 7.1. Konsultation..........................................................................................295 7.1.1. Laienheiler...................................................................................295 Die Anfrage...........................................................................................295 Heilkunde im Umherziehen................................................................296 Heiler mit Praxis................................................................................... 297 7.1.2. Ärzte.............................................................................................298 Der Krankenbesuch.............................................................................298 Praxissprechstunden.............................................................................300 Sprechstunden an fremdem Ort.........................................................302 7.2. Behandlung...........................................................................................303 7.2.1. Laienheiler...................................................................................303 7.2.2. Ärzte.............................................................................................306 7.2.3. Das Krankenhaus als Behandlungsort......................................308 7.3. Der ‚medizinische Fortschritt’ und seine Wahrnehmung................. 312 7.4. Von flockendem Eiter, unreinen Schalen und heilenden Salben: Der Fall Ludwig N........................................ 315 Kapitel 8: Krankheit und die Kosten......................................................... 319 8.1. Finanzielle Belastungen von Krankheit für Arme............................. 319 8.1.1. Direkte Belastungen....................................................................320 Arztkosten.............................................................................................320 Operationen..........................................................................................322 Krankenhausbehandlung und Pflege..................................................323 Heilmittel...............................................................................................324 8.1.2. Indirekte Belastungen................................................................325 8.1.3. Wie macht Krankheit arm? Relative Belastungen von Armen.............................................326 8.1.4. Neue Ansprüche. Die Bedeutung der Sozialversicherung......328 8.2. Finanzielle Belastungen von Krankheit für die Armenverwaltung 335 8.2.1. Bedeutung der Krankenkosten in der Armenfürsorge...........336 Zeltingen 1911–1923.............................................................................336 Bitburg-Land 1926–1932.....................................................................338 8.2.2. Neue Entlastung. Die Bedeutung der Sozialversicherung......342

Inhalt



Kapitel 9: Verhandlungen – Verfahrensweisen, Verhalten, Einflüsse........................................................................................ 347 9.1. Armenarzt und Armenkasse – Krankheitsbedingte Anträge bis zum Beginn der 1920er Jahre........................................................ 347 9.1.1. Verhaltensweisen der Armenverwaltung..................................349 Zugangskontrolle..................................................................................349 Kostenminimierung..............................................................................353 9.1.2. Verhaltensweisen der Antragsteller.......................................... 357 9.2. Arztwahl und Versicherung – Krankheitsbedingte Anträge in den 1920er Jahren............................................................. 361 Verhaltensweisen der Armenverwaltung...........................................362 Verhaltensweisen der Antragsteller....................................................366 9.3. Krankheit und Würdigkeit................................................................... 370 9.4. Interaktion und Aushandlung – Streiflichter..................................... 372 9.4.1. Bewährter Brief – Der Fall Nina M. (1895).............................. 373 9.4.2. Krankheit als Instrument – Der Fall Sebastian P. (1904)........ 375 9.4.3. Ein vorteilhaftes Angebot – Der Fall Anna M. (1914)............ 376 9.4.4. Virtuose Bewegung im System – Der Fall Konrad A. (1930)........................................................ 378 Kapitel 10: Handeln zwischen Zwang und Möglichkeit – Bewertungen..........................................................................384 Teil IV – Schlussbetrachtung........................................................................390 Quellen- und Literaturverzeichnis....................................................................399 1. Archivalia..............................................................................................399 2. Gedruckte Quellen und zeitgenössische Literatur............................403 3. Forschungsliteratur...............................................................................405 Register................................................................................................................434 Anhang................................................................................................................ 437

Verzeichnis der Tabellen, Abbildungen und Karten Tabelle 1: Absolute Zahlen der Hebammen in ausgewählten Kreisen........111 Tabelle 2: Hebammen auf 10.000 Einwohner in ausgewählten Kreisen.....111 Tabelle 3: Hebammen auf 10.000 Einwohner in verschiedenen Gebietskörperschaften.....................................................................112 Tabelle 4: Hebammen auf 100 qkm in ausgewählten Kreisen......................113 Tabelle 5: Zahl der Orte mit Hebammen in ausgewählten Kreisen............113 Tabelle 6: Auszählung der ADV-Fragekarten, Frage 192............................. 224 Tabelle 7: Auszählung der ADV-Fragekarten, Frage 184............................. 227 Tabelle 8: Einkommen, Antragsgenehmigung und Versicherung ausgewählter Antragsteller..................................... 327 Tabelle 9: Anteil der Anträge auf gesundheitliche Hilfe an der Gesamtzahl der Unterstützungsanträge in den Bürgermeistereien Zeltingen und Lieser (1898–1913)................. 360 Tabelle 10: Haushaltsgröße und Antragsgenehmigung ausgewählter Antragsteller in der Bürgermeisterei Zeltingen........................... 366 Tabelle 11: Anteil der Anträge auf gesundheitliche Hilfe an der Gesamtzahl der Unterstützungsanträge in den Bürgermeistereien Zeltingen und Lieser (1914–1923)................. 368 Tabelle 12: Daten zur Verbreitung von Ärzten in den Kreises Bitburg, Bernkastel, Wittlich und Simmern, 1880–1905/08............................................................... 437 Tabelle 13: Daten zur Verbreitung von Hebammen in den Kreises Bitburg, Bernkastel, Wittlich und Simmern, 1880–1905/08............................................................... 438 Tabelle 14: Ausgaben der Armenfürsorge der Bürgermeisterei Zeltingen (1911–1923)........................................ 439 Tabelle 15: Ausgaben der Armenfürsorge der Bürgermeisterei Bitburg-Land (1925/4–1931).............................. 441 Tabelle 16: Gewähr ausgewählter Leistungen der Armenfürsorge in der Bürgermeisterei Zeltingen und Teilen der Bürgermeisterei Lieser (1898–1923)................... 447

Karte 1: Gesundheitseinrichtungen im Kreis Wittlich um 1905/06......... 448 Karte 2: Gesundheitseinrichtungen im Kreis Bernkastel um 1908........... 449 Karte 3: Gesundheitseinrichtungen im Kreis Bitburg um 1905/06.......... 450 Karte 4: Gesundheitseinrichtungen im Kreis Simmern um 1905............. 451 Karte 5: Anzahl und regionale Verteilung von Ärzten in den Kreisen Bitburg, Bernkastel, Simmern und Wittlich (1880–1905)........... 452

Abbildungsverzeichnis

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Abbildung 1: Vergleich der Anteile von krankheitsbezogenen Fällen und Zahlungen an den Gesamtfallzahlen und Gesamtaufwendungen der Armenfürsorge (Zeltingen 1911–1923).............................................................. 336 Abbildung 2: Prozentuale Anteile ausgewählter Ausgabenkategorien an den Gesamtausgaben der Armenfürsorge (Zeltingen 1911–1923).............................................................. 337 Abbildung 3: Vergleich der Anteile von krankheitsbezogenen Fällen und Zahlungen an den Gesamtfallzahlen und Gesamtaufwendungen der Armenfürsorge (Bitburg-Land 1926–1931)....................................................... 339 Abbildung 4: Prozentuale Anteile ausgewählter Ausgabenkategorien an den Gesamtausgaben der Armenfürsorge (Bitburg-Land 1926–1931)....................................................... 340 Abbildung 5: Quartalsweise Zahl der Unterstützungszahlungen in der Armenfürsorge (Bitburg-Land 1922–1931)................. 341 Abbildung 6: Gewährquoten von Armenfürsorgeanträgen in den Bürgermeistereien Zeltingen und Lieser (1898–1923).......... 352 Abbildung 7: Gewährquoten krankheitsbezogener Unterstützungen in der Bürgermeisterei Zeltingen (1898–1923)...................... 354

Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2006/2007 am Fachbereich III der Universität Trier als Dissertation eingereicht und von Herrn Prof. Dr. Lutz Raphael und Herrn Prof. Dr. Andreas Gestrich begutachtet. Die mündliche Prüfung fand am 29. Juni 2007 statt.

Worte des Dankes Am Ende eines langen Weges ist es eine Freude, denjenigen Dank zu sagen, die zu seiner erfolgreichen Bewältigung beigetragen haben. Zuvorderst gilt dieser Dank Herrn Prof. Dr. Lutz Raphael, der es als mein Doktorvater verstand, das Gelände meiner Forschungen mit grundlegenden Markierungen einzuhegen und mir darin zugleich großzügige Freiheit auf der Suche nach dem eigenen Forschungsweg einzuräumen. Zudem ermöglichte mir seine Bereitschaft, mich als Mitarbeiter in das Teilprojekt B5 „Armut im ländlichen Raum“ des im Jahr 2002 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Universität Trier eingerichteten Sonderforschungsbereichs 600 „Fremdheit und Armut“ aufzunehmen, eine Suche auf dem Feld der Armut im beruhigenden Gefühl eigener materieller Sicherheit. Herr Prof. Dr. Andreas Gestrich erstellte das Zweitgutachten einer Arbeit, welcher er zuvor als Leiter eines Teilprojekts zur städtischen Armut bei vielen Gelegenheiten wichtige Anstöße gegeben hatte. Mein Dank gilt ihm ebenso wie Herrn Prof. Dr. Robert Jütte als Herausgeber der Beihefte zur Medizin, Gesellschaft und Geschichte für die Aufnahme meiner Arbeit in die genannte Reihe. Für die kompetente und angenehme Betreuung in den praktischen Herausforderungen der Publikation danke ich Frau Katharina Stüdemann und Frau Andrea Holzinger. Eine großzügige finanzielle Unterstützung in der Drucklegung erfuhr ich von Seiten der Robert-Bosch-Stiftung, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und wiederum der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dank gilt auch all jenen, die mir durch ihre Arbeit im Verborgenen halfen, meine eigenen Kräfte zu konzentrieren. Ausdrücklich und stellvertretend für die Mitarbeiter der von mir aufgesuchten Archive möchte ich hier Herrn Dr. Wolfgang Rummel vom Landeshauptarchiv in Koblenz sowie Frau Claudia Schmitt und Frau Brunhild Schmitz aus dem Kreisarchiv Wittlich für ihre stetige Hilfsbereitschaft meinen Dank erweisen. Meine herzliche und besondere Dankbarkeit gilt meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Teilprojekt B5, denen ich neue Erkenntnisse, Fragen oder Quellen zuerst zur Diskussion stellen konnte. Inga Brandes, Juliane Hanschkow, Katrin Marx-Jaskulski und Tamara Stazic-Wendt halfen dabei nicht nur durch ihren jeweils eigenen Blick, weitere Perspektiven oder ergänzende Forschungen zu erschließen; ihre kritische Lektüre der Abgabeversion legte auch argumentative Lücken und Schwächen oder fragwürdige Formulierungen in hilfreicher Weise zur Schärfung und Präzisierung offen. Möglichkeiten der fruchtbaren Diskussion eigener Erkenntnisse boten darüberhinaus auch die Einbindung des Teilprojekts in die übergreifenden Fragestellungen des Sonderforschungsbereichs 600 und die Begegnungen im Rahmen des Promotionsstudienganges PromT. Allen hieran Beteiligten sei an dieser Stelle noch einmal für mannigfaltige intra- und interdisziplinäre Anregungen und Hinweise gedankt.

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Worte des Dankes

Auch in der Bewältigung des organisatorischen Alltags durfte ich von mannigfaltiger Hilfe profitieren. Rainer Bauer, Katharina Brandes, Eva Jullien, Matthias Kranke, Linda Reschke, Mareike Sauerwein und Anna Schüle danke ich für ihre immerwährende Bereitschaft zur Literaturbeschaffung, Datenerfassung und Regelung all der zeitraubenden administrativen Kleinigkeiten, die für eine erfolgreiche Projektarbeit erledigt sein wollen. Herrn Michael Grün danke ich für die überaus sorgfältige und gelungene Erstellung der dieser Studie beigefügten Karten. Darüberhinaus gilt ein besonderer Dank dem Team der Geschäftsstelle des SFB 600: Die bei Rita Glasner, Regina Schmitt und vor allem Dr. Gisela Minn gesammelte Erfahrung um Abläufe, Anträge und Administration in einer „Großforschungseinrichtung Sonderforschungsbereich“ war allzeit eine kaum zu überschätzende Erleichterung des eigenen Arbeitsalltags! Danken möchte ich schließlich auch meinen Freunden, nicht nur für korrigierende Lektüre – ein Dank hierfür an Daniela, Oliver, Mätty und Gitta – sondern vor allem für ihr wohlwollendes Interesse am Fortgang der Arbeit, ihre ermutigenden Worte und verzeihende Akzeptanz arbeitsbedingter langer „Schweigephasen“! Vera danke ich vor allem anderen dafür, aus dem Vergleich der mit ihr und dem Computer verbrachten Zeiten nicht auf das Maß meiner Zuneigung und Liebe zu ihr rückgeschlossen zu haben. In Vorbild, Forderung und ideeller wie materieller Förderung haben meine Eltern Gerhard und Ursula ihren Kindern die Grundlagen für ein sorgenfreies Studieren und erfolgreiches Bestehen im Leben gegeben. In Dankbarkeit widme ich ihnen diese Arbeit. Lüneburg, im Juli 2008

Martin Krieger

Teil I – Grundlagen der Studie Einleitung Krankheit & Armut – eine Hinführung Ich möchte nicht, dass man den sozialen Status der Menschen wieder an ihren Zähnen ablesen kann.

Dieses Zitat aus der Regierungserklärung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zu einer ganzen Reihe reformerischer Eingriffe in die Gestalt des deutschen Sozialstaates am Beginn des 21. Jahrhunderts, medienwirksam geworden unter der griffigen Sammelbezeichnung „Agenda 2010“, zeigt den in der aktuellen Sozialstaatsdebatte vorherrschenden Konnex von Armut und Krankheit. Im Besonderen bezogen auf die Debatte um eine Ausgliederung von Zahnbehandlungen und Zahnersatz aus dem Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung, verweist der Satz, allgemein verstanden, auch auf eine ungenügende gesundheitliche Versorgung als Folge der Armut der Betroffenen: Wer arm ist, kann sich eine Zahnbehandlung nicht mehr leisten. Von Interesse ist dabei insbesondere der Gebrauch des kleinen Wortes „wieder“ in diesem Satz. Es intendiert den Rekurs auf einen Zustand (mangelhafter) medizinischer Versorgung in der Vergangenheit, der in der Gegenwart des Jahres 2003 im positiven Sinne überwunden sei. Dieser abwertende Blick auf die Vergangenheit, aus dessen Perspektive der Status quo des Jahres 2003 als bewahrenswert erscheinen soll, kann allerdings nur in einer Gesellschaft gelingen, in welcher der bezeichnete Zusammenhang von Armut und Krankheit im Wesentlichen als aufgehoben gelten darf. Trotz aller aktuellen Diskussionen um Leistungskürzungen in der (gesetzlichen) Krankenversicherung bleiben medizinische Leistungen heute bisher im Wesentlichen für alle sozialen Schichten und weitgehend unabhängig vom Einkommen zugänglich. Auch der umgekehrte Zusammenhang – Krankheit, welche Armut nach sich zieht – hat viel von seinem früheren Schrecken verloren. War Krankheit nach der Armenstatistik des Deutschen Reiches 1885 noch in 27,9 % aller Fälle die





Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) „Mut zum Frieden und zur Veränderung“ [„Agenda 2010“] vor dem Deutschen Bundestag vom 14. März 2003. Veröffentlicht unter http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/regierungserklaerung/79/472179/multi.htm (10.02.07). Im engeren Kontext lautet das Zitat: „Es gibt Vorschläge, den Zahnersatz oder gar die Zahnbehandlung nicht mehr von den Krankenkassen zahlen zu lassen. Ich halte das nicht für richtig. Wir haben ein System, das Eigenvorsorge bei der Zahnpflege belohnt. Das soll so bleiben. Ich möchte nicht, dass man den sozialen Status der Menschen wieder an ihren Zähnen ablesen kann.“

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Grundlagen der Studie

zentrale Ursache für Armut, ging dieser Anteil bis in die 1980er Jahre auf nur mehr rund 3% der Fälle zurück. Der veränderte Zusammenhang lässt sich auch anhand des aufgeführten Zitates selbst erkennen. Gegenstand der darin vorgenommenen Skandalisierung ist nicht die existentielle Bedrohung von Armen durch Krankheit, sondern deren durch die sozialen Umstände bedingte Sichtbarkeit. Nicht eine Bedrohung der physischen Existenz durch Krankheit, sondern ‚nur’ deren soziale Differenzierungsfunktion steht hier im Mittelpunkt der Kritik. By 1980, almost all European states guaranteed access to health care to almost all of their citizens. In 1880 none of them did.

Die von Richard Freeman eingangs seiner vergleichenden Darstellung europäischer Gesundheitspolitiken getroffene Feststellung verweist gleichermaßen auf den heute in Europa erreichten Zustand der gesundheitlichen Versorgung, wie auf die rasante Entwicklung, die dieselbe in wenigen Jahrzehnten genommen hat. Im europäischen Vergleich wurde eine umfassende gesundheitliche Absicherung der Bevölkerung auf national teils sehr unterschiedliche Art und Weise erreicht. In Deutschland war es vor allem die Integration immer größerer Bevölkerungsteile in Krankenversicherungssysteme, welche die gesundheitliche Versorgung im Krankheitsfalle sicherstellte. Heute darf annähernd die ganze Bevölkerung in irgendeiner Form als gegen Krankheit versichert gelten. Dennoch wurde dieser Zustand nicht gleichsam über Nacht erreicht, sondern erst im Laufe einer längeren Entwicklung. Historisch mag diese Zeitspanne im Ganzen als kurz erscheinen, aus der Perspektive der unterschiedlichen sozialen Gruppen oder gar einzelner Individuen aber ergeben sich Un



  



Statistisches Reichsamt, Armenstatistik 1885, S. 40, Tab. 9. Rechnet man die angegebenen Anteile für Unfallverletzungen (2,9%), „geistige und körperliche Gebrechen“ (12,4%), sowie die diffuse Kategorie „Altersschwäche“ (14,8%) hinzu, waren insgesamt sogar bis zu 58% aller Armutsfälle auf gesundheitliche Einschränkungen zurückzuführen. Leibfried, Lebensläufe, S. 85. Bezeichnend hierfür ist auch das weitgehende Verschwinden von Krankheit als Armutsrisiko in der modernen Armutsforschung. Vgl. Paugam, Spiral, S. 69, der sich vor allem auf Arbeitslosigkeit als Armutsrisiko bezieht. Das Allgemeine Preußische Landrecht begriff Armut auch als „Nicht-Arbeit“, bezog dies aber auf die Arbeitsunfähigkeit. Vgl. Karweick, Tiefgebeugt, S. 26. Freeman, Politics, S. 14. Ritter, Sozialstaat. Dazu als detaillierte Rezension Sachsse, Perspektive. Ritter, Soziale Frage, S. 5: „Der wichtigste Gegenstand der Sozialpolitik aber war – vor allem seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts – der Aufbau eines die traditionelle Armenhilfe wenigstens teilweise ersetzenden modernen Systems der sozialen Sicherheit, das die Existenzunsicherheit der Arbeiter und später weiterer Bevölkerungsgruppen gegenüber den immer schon bestehenden, aber auch den spezifisch neuen sozialen Lebensrisiken entscheidend mildern sollte. In Deutschland wurde eine auf Bismarck zurückgehende obligatorische Sozialversicherung zum zentralen Element dieses Systems.“ Im November 2004 waren 99,8 % der deutschen Bevölkerung gegen Krankheit versichert. 87,8 % waren Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2004, zitiert nach http://www.bpb.de/wissen/S4VGR2. html (20.12.2006).

Einleitung

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terschiede im Zugang, die, in Jahrzehnten gemessen, doch als sehr groß erscheinen. Insofern bleibt zu fragen, zu welchem Zeitpunkt einzelne soziale Gruppen Zugang zu diesem speziellen Bereich sozialer Sicherung erhielten. Diese einführenden Bemerkungen skizzieren das Themenfeld, dem ich mich in der vorliegenden Arbeit historisch nähern möchte. Mit den Armen im ländlichen Raum und den Umständen ihrer gesundheitlichen Versorgung ist hier ein Gegenstand gewählt, welcher von der historischen Forschung und ihren Subdisziplinen bisher weitgehend nur am Rande behandelt worden ist. Welche Möglichkeiten hatten Arme im ländlichen Raum, im Krankheitsfalle Hilfe zu bekommen? Welche Rolle spielten gruppenspezifische Angebote und Einrichtungen? Welche Stigmatisierungen waren damit verbunden? Welche Möglichkeiten hatten die Betroffenen selbst, Einfluss zu nehmen? An wen – Ärzte, Laienheiler oder andere Einrichtungen – konnten sie sich wenden? Wie erlebten sie die erhaltene Hilfe – oder deren Verweigerung? Wie wirksam und hilfreich waren die verschiedenen Möglichkeiten in der Praxis? Das eingangs angeführte Zitat aufgreifend, geht es in dieser Arbeit also im übertragenen Sinne darum, zu untersuchen, inwieweit der „soziale Status von Menschen“ in der Vergangenheit tatsächlich „an ihren Zähnen“ abgelesen werden konnte. In ihrer zeitlichen Reichweite geht die Arbeit zurück bis kurz vor die Anfangszeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Gerade diese Anfangs- und Aufbauphase scheint geeignet zu sein, die Bedeutung der neuen sozialen Sicherungsinstrumente für die gesundheitliche Versorgung auch der armen Bevölkerungsschichten zu erkunden. Zu welchem Zeitpunkt wurden ländliche Arme in diese Systeme einbezogen? Welche Möglichkeiten eröffneten sich ihnen dadurch? Besaßen die Versicherungen nur Vorteile oder bargen sie auch Nachteile? Welche Auswirkungen auf den sozialen Status von Armen hatte eine Mitgliedschaft in der Versicherung? Wie waren sie den neuen Instrumentarien gegenüber eingestellt? In Zeiten, in denen Leistungseinschränkungen in den (gesetzlichen) Krankenversicherungen nicht nur von Experten diskutiert werden, sondern auch medial allgegenwärtig geworden sind, vermag ein solcher historischer Blick – so meine Hoffnung – einen Beitrag zu leisten, die Bedeutung vermeintlich ewiger Besitzstände und ‚heiliger Kühe’ der gesundheitlichen Versorgung und sozialen Sicherung zu relativieren. Andererseits mag die historische Perspektive auch den Blick für zentrale und bewahrenswerte Errungenschaften des gesundheitsbezogenen Sozialstaates zu schärfen und im Verteilungskampf um die anscheinend knapper werdenden Ressourcen im Gesundheitswesen zur Bestimmung wesentlicher Inhalte und Instrumente hilfreich sein. Die vorliegende Arbeit entstand nicht im berühmten ‚luftleeren Raum’ und ebenso wenig in der berüchtigten Zurückgezogenheit der Studierstube, sondern in stetem Austausch und Auseinandersetzungen mit meinen Kolleginnen und Kollegen des Forschungsprojekts „Armut im ländlichen Raum“ im SFB 600 „Fremdheit und Armut“ an der Universität Trier. In kleinräu

Zur Forschungslage im Einzelnen siehe den Abschnitt zum Forschungsbericht.

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migen Strukturen agrarisch geprägter Regionen Westeuropas untersuchen wir in diesem Rahmen Ausprägungen und Wahrnehmung von Armut im ländlichen Raum und die Praxis armenfürsorgerischer und wohlfahrtspflegerischer Maßnahmen auf vornehmlich lokaler Ebene.10 Die vorliegende Untersuchung von gesundheitlicher Versorgung und Sozialversicherung ist – obgleich eigenständig – damit zugleich stets auch als Teil der historischen Erforschung eines umfassenderen Themenkomplexes zu verstehen, der bisher nur am Rande betrachtet worden ist.11 Begriffe und Definitionen Die Begriffe von „Armut“, „arm“ oder „Armer“ mögen auf den ersten Blick alltäglich und leicht als Formen des Mangels an Dingen zu bestimmen erscheinen.12 Die bei genauerer Betrachtung jedoch erkennbaren Grenzen und Differenzierungen dieser scheinbar einfachen Begriffe erwiesen sich anschaulich, als Mitarbeiter des Teilprojekts B5 im Mai 2006 im Rahmen einer Veranstaltung der Kinder-Uni der Universität Trier Kindern Fragen und Themen der Projektarbeit nahezubringen versuchten.13 Anhand dort erarbeiteter grundlegender Bedürfnisse menschlichen Daseins (Essen, Trinken, Familie) will ich im Folgenden versuchen, Vielfalt und Schwierigkeit des Armutsbegriffes zu verdeutlichen.14 10 Das Teilprojekt B5 „Armut im ländlichen Raum im Spannungsfeld zwischen staatlicher Wohlfahrtspolitik, humanitär-religiöser Philanthropie und Selbsthilfe im industriellen Zeitalter, 1860–1975“ ist Bestandteil des Sonderforschungsbereiches 600 „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart“ an der Universität Trier. Weitere Informationen unter http://www.sfb600.uni-trier. de. 11 Weitere laufende Dissertationsvorhaben im Rahmen des Projekts befassen sich mit „Ländliche Armut in Donegal. Nordwestirland im europäischen Vergleich zwischen 1880 und 1930“ (Inga Brandes), „Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenunterstützung in der südlichen Rheinprovinz, 1919–1939“ (Tamara Stazic-Wendt), „Ambulante Gruppen im Blick und Zugriff des preußischen Staates. Untersuchungen im Regierungsbezirk Trier 1870– 1933“ ( Juliane Hanschkow). Kürzlich erschienen und im Hinblick auf die Strukturen und Wirkmechanismen der allgemeinen Armenfürsorge im hier untersuchten Raum grundlegend Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge. Bisher veröffentlichte Ergebnisse der Projektarbeit u.a. in Althammer u.a., Armenfürsorge; Brandes, Odious; Krieger, Stick; Marx, Armenfürsorge; Marx, Poor Relief. Eine vollständige Liste der Projektpublikationen unter http://www.sfb600.uni-trier.de. 12 Einen guten, knappen Überblick über den zeitlichen Wandel von Begriffen und Wahrnehmungen des Armutsproblems vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit bietet Dross, Krankenhaus, S. 21–30, einen Überblick moderner Forschungsdefinitionen Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 19–28. 13 „Wenn Dir was zum Leben fehlt – Wie arme Menschen früher lebten“ Veranstaltung im Rahmen der Kinder-Uni 2006 der Universität Trier am 20. Mai 2006 (Katrin Marx, Martin Krieger). 14 Im Rahmen einer Methode, die auf Konsensbildung unter Zeitdruck beruhte, wurden von den Teilnehmern folgende „Grundbedürfnisse“ des Menschen benannt: Essen, Trinken, Wohnen, Familie, Umwelt/Sauerstoff.

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„Essen und Trinken“ bilden die Grundlage physischer Existenz, das im Wortsinne lebensnotwendige Minimum an Versorgung. Fehlen Betroffenen die Möglichkeiten, diese Basisbedürfnisse zu befriedigen, wird diese Form der Armut zumeist als primäre oder absolute Armut bezeichnet.15 Armut kann aber auch im Verhältnis zur umgebenden sozialen Gruppe gesehen werden. Sie bezeichnet dann nicht, wie im Falle der überlebensnotwendigen Ernährung, eine Dichotomie von Haben und Nichthaben, sondern erlaubt eine Vielzahl von Differenzierungen entlang der Kategorien von Weniger und Mehr. Die Armut ist in solchen Fällen eine sekundäre oder relative.16 Auch die aufgeführte Kategorie der „Familie“ erscheint nicht zwingend zum Leben notwendig. Verstanden als Chiffre für soziale Kontakte eröffnet sie aber den Blick auf eine dritte Dimension von Armut, den Mangel an sozialen Beziehungen.17 Auch das Fehlen von Freunden oder Verwandten, die im Falle Armer oft über die soziale Funktion hinaus auch materielle Bedeutung, etwa in Form von Unterhalt, besaßen, wird als schwerwiegender Mangel empfunden.18 Diese tertiäre Armut äußert sich lebensweltlich in Ausgrenzung, fehlender sozialer Anerkennung oder Vereinsamung.19 Erweiterung erfährt der Armutsbegriff zudem durch die Dimension der differierenden Wahrnehmung. So orientiert sich die Außenwahrnehmung von Armut häufig an messbaren Kriterien wie Einkommen und Besitz (objektive Armut), wohingegen die Binnenwahrnehmung der Betroffenen (subjektive Armut) über diese Kriterien oft kaum zu erfassen ist.20 Die neuere sozialwissenschaftliche Forschung hat den Armutsbegriff zudem in zweifacher Hinsicht um eine zeitliche Dimension erweitert. Zum einen stellt Armut diesen Interpretationen zufolge keinen unveränderlichen Zustand dar, vielfach bildet sie nur eine oder mehrere Phasen im Leben eines Menschen.21 Zum anderen lässt sich Armut als prozessuales Geschehen begreifen, 15 Piachaud, Wie misst man Armut; Sachsse, Bettler, Gauner, S. 40; Schäuble, Theorien, S. 39–44. 16 Gysin-Scholer, Krank, S. 25–29 betont die Kontextabhängigkeit von Zeit und Beurteilendem. Vgl. auch Dross, Diskussion, S. 3 und Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 20–21. 17 Schäuble, Theorien, S. 243–249; Gysin-Scholer, Krank, S. 25–29. 18 Room, Threshold, S. 4 differenziert zwischen „poverty“ als „lack of resources” und “social exclusion” als “lack of social integration.” 19 Ähnlich bei Paugam, Spiral, S. 49–50. 20 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 21–22. Da diese Arbeit aus einem akademischen Kontext stammt, sei hier exemplarisch auch für die Aktualität der Frage auf die Differenz in der Außen- und Binnenwahrnehmung heutiger Studenten verwiesen. Die Armutsrisikogrenze, verstanden als 60% des Nettoäquivalenzeinkommens, lag nach Angaben der Bundesregierung 2003 bei 938 € für Gesamtdeutschland. Die wenigsten Studenten dürften über diese monatliche Summe verfügen können, lägen demnach ‚objektiv’ unter der Armutsrisikogrenze. Dennoch würde sich ‚subjektiv’ wohl nur ein Teil der betroffenen Gruppe tatsächlich als armutsgefährdet empfinden. 21 Leibfried, Lebensläufe, S. 9 betont die Dynamik und Zeitlichkeit von Armut. Armut ist hier kein allgemeiner Zustand, sondern eine phasenweise auftretende Rahmenbedingung im Leben eines Menschen.

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in dem unterschiedliche Phasen und Dimensionen von Mangel in Beziehung zueinander stehen.22 Ein stärker handlungsbezogener und forschungspraktischer Ansatz nimmt Armut schließlich als Gegenstand der Verhandlung und der Problemlösung wahr.23 Neben den begrifflichen Schwierigkeiten sieht sich die historische Forschung in Auseinandersetzung mit Armutsphänomenen fast immer auch mit Problemen der Quellenüberlieferung wie Kassationen, Verlusten oder schlicht Desinteresse der Aufbewahrenden konfrontiert.24 Die „untersuchte Armut“ kann somit – zumal in Fällen wie dem vorliegenden, in denen Armut in erster Linie über Personen erfasst wird – auch pragmatisch allein dadurch bestimmt sein, was sich überhaupt anhand der jeweils vorliegenden Quellen untersuchen lässt. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, dass praktisch nur diejenigen Armen erfasst werden können, die einen Antrag auf Unterstützung stellten und dadurch aktenkundig wurden.25 Bei der Lektüre der Quellen wird rasch deutlich, dass keineswegs alle, die einen Antrag stellten, auch Unterstützung erhielten. Über den Status des „Armen“26 hinaus sind als Kriterien der Differenzierung ergänzend Bedürftigkeit und Würdigkeit des Antragstellers zu erkennen.27 Erstere ist seit dem Mittelalter die Bezeichnung für unterstützungsberechtigte Arme und bestimmt sich vor allem durch „Mittellosigkeit, Gemeinschaftszugehörigkeit und Arbeitsunfähigkeit“ der Betroffenen.28 Da alle drei Kategorien vor Gewähr einer Unterstützung auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden mussten, steht Bedürftigkeit als „administratives Konstrukt“ zwischen dem Armen und dem unterstützten

22 Paugam, Spiral, S. 49–62 kritisiert, dass statische Definitionen die Heterogenität von Armutsgruppen missachteten und plädiert für eine Vielzahl von Bedrohungsindikatoren. Arme erscheinen hier als die Gruppen mit der höchsten Kumulation von Risikofaktoren. Die Typisierung von Armut anhand dreier „types of situation“ zielt hier stärker auf den Desintegrationsgrad in die Arbeitswelt ab. Vgl. auch Paugam, Pauvreté, S. 73–79. 23 Dinges, Aushandeln, S. 7. Armut wird nicht als „steuerlich, sozialstatistisch, demographisch, normativ oder legislativ fixierbarer Zustand beschrieben, sondern als ein Problem, dessen Bewältigung von den Armen selbst, den Bürgern und der Obrigkeit ‚ausgehandelt“ wird.’ Diese Perspektive betont vor allem die Handlungsmöglichkeiten und Spielräume der Armen. 24 Die Probleme der Überlieferung erörtert am Beispiel von Sozialhilfeakten Buchholz, Überlieferungsbildung, insbes. S. 180–182. 25 Die Zuschreibung von Armut erfolgt somit erst über den Erhalt von Hilfe. Dazu Scheutz, Ausgesperrt, S. 16; Sokoll, Writing, S. 7. Damit kann aber, wenn überhaupt, nur Unterstützung, nicht aber Armut erfasst werden. Vgl. jüngst Dyson, Poor, S. 48; Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 21 mit Verweis auf Simmel, Der Arme, S. 551. 26 Aus Gründen des Leseflusses wird anstelle der Nennung beider Genera, Binnen-I oder ähnlicher Formen geschlechtergerechter Sprache im Folgenden alleine das maskuline Genus verwendet. 27 Zur Differenzierung dieser Begriffe ausführlich Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 21–25, in Anlehnung vor allem an Hufton, Poor. 28 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 23 in Anlehnung an Castel, Metamorphosen, S. 27, 39, 46–63.

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Armen.29 Welche Rolle die Armenkrankenpflege an der Stelle dieses Wechsels von „Dürftigkeit“ (Armut) zu „Bedürftigkeit“ hatte, ist bisher noch nicht im Detail untersucht worden.30 Für das Kriterium der Würdigkeit eines Armen steht hier noch stärker im Vordergrund, ob der bedürftige Arme es nach gesellschaftlich bestimmten Maßstäben auch ‚verdient‘ habe, unterstützt zu werden. Kranke Arme galten dabei grundsätzlich als würdig.31 Als zentrale Frage erscheint hier die Grenzziehung zwischen Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit.32 Beide Begriffe weisen zudem stärker als der Begriff der Armut eine temporale Komponente auf. Die administrative Überprüfung der unterstützungsrelevanten Kategorien führt zu einer scheinbar exakten Klassifizierung nach Bedürftigkeit und fehlender Bedürftigkeit bzw. Würdigkeit und fehlender Würdigkeit. Die wiederholte Überprüfung des jeweiligen Status lässt Würdigkeit und Bedürftigkeit als wiederholt zuerkennbare, aber prinzipiell zeitlich begrenzte Zuschreibungen erscheinen.33 Krankheit war deutlich erkennbar einer der wichtigsten legitimierenden Faktoren für das Anliegen eines Armen, eine Unterstützung zu erhalten. Die erwähnte Armenstatistik von 1885 beruhte auf den Zahlen der unterstützten Armen, d. h. der hohe Anteil der Krankheitskategorie an den Ursachen spiegelt den Begründungswert von Krankheit für den Status eines bedürftigen, würdigen und damit unterstützen Armen wider. Es stellt sich aber die Frage, was im Einzelnen unter „krank“ oder „Krankheit“ zu verstehen ist. Aus der Perspektive der Krankheitserfahrung unserer Zeit mag Krankheit zunächst bedeuten, im Rahmen einer medizinischen Untersuchung einen positiven Befund der Abweichung von einer gesundheitlichen Norm in Form einer spezifischen Diagnose gestellt bekommen zu haben.34 Zwischenzustände des Unwohlseins etc., welche nur subjektiv aus der Perspektive des Betroffenen wahrnehmbar sind, lassen sich damit aber kaum erfassen.35 Damit wird bereits deutlich, dass ähnlich wie in der Definition von Armut auch für den Begriff der Krankheit eine doppelte Dimension von „äußerer“ oder „objektiver“ und „innerer“ oder „subjektiver“ Wahrnehmung existiert. Im Deutschen ist diese Differenzierung sprachlich schwierig auszudrücken. Im Englischen etwa greift hier die Differenzierung von „Illness“ als subjektivem Krankheitsempfinden und „Disease“ als diagnostisch bezeichneter Krankheit.36 Obwohl 29 30 31 32 33 34 35 36

Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 23; Hufton, Poor, S. 20. Eser, Verwaltet, S. 123. Rheinheimer, Armut, S. 54. Castel, Metamorphosen, S. 27; Faust, Arbeitsmarktpolitik, S. 37. Nach Dinges, Sozialdisziplinierung, S. 17 war die Beurteilung von den jeweiligen sozialen Umständen abhängig. Vgl. dazu die Temporalität von Armut bei Leibfried, Lebensläufe. Vgl. Riha, Krankheitsbegriff, insbes. S. 196–197. Ansätze der medizintheoretischen Forschung zum Begriff von Krankheit in Becker, Krankheitsbegriff. Der frühneuzeitliche Krankheitsbegriff umfasste diese Zustände noch. Vgl. Riha, Krankheitsbegriff. S. 192–193. Vgl. Fitzpatrick, Concepts, S. 13.

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eine sichere Definition von Krankheit „schier aussichtslos“ erscheint37, ist sich die moderne Forschung weitgehend einig, dass der Krankheitsbegriff im Wesentlichen abhängig von den umgebenden gesellschaftlichen Bedingungen ist.38 Aus der Behandlung ergibt sich schließlich eine weitere begriffliche Differenzierung, diejenige zwischen „Kranken“ und „Patienten“. Der Patientenbegriff betont dabei allein von seiner Etymologie her bereits den passiven Zustand des Behandeltwerdens39, wohingegen der Begriff des Kranken stärker auf den einer Behandlung vorgelagerten Zustand der sozialen Wahrnehmung des Betroffenen abzielt.40 Eberhard Wolff hat die Verwendung des Krankenbegriffs in der patientenorientierten (Medizin-)Historiographie kritisiert, da dieser den Aspekt der Gesunderhaltung im Verhalten der Betroffenen, also die Krankheitsprävention, zu sehr vernachlässige.41 Im hier untersuchten Zusammenhang der Armenkrankenversorgung bietet sich der Begriff des Kranken aus eben diesem Grunde allerdings viel stärker an als der Patientenbegriff, da die Armenkrankenversorgung selbst als rein kuratives, also heilendes und nachsorgendes, Instrument konstruiert war. Ähnlich wie im Falle der Armut sieht sich der Historiker zusätzlich den definitorischen Varianzen mit dem pragmatischen Problem konfrontiert, Krankheit in seinen Quellen überhaupt zu erfassen. Im vorliegenden Falle habe ich bei der Quellenauswertung hier einen sehr großzügigen Maßstab angelegt, indem ein Verweis auf körperliche oder seelische Beschwerden im Rahmen der Korrespondenz um die Unterstützungsanträge genügte, um in das Quellenkorpus aufgenommen zu werden. Der Vorteil dieses Verfahrens lag vor allem darin, dass auch Fälle erfasst werden konnten, in denen Krankheit nur als Nebenmotiv der Antragsbegründung sichtbar wurde oder sogar erst im Verlaufe der Auseinandersetzungen um eine Unterstützungsgewähr argumentative Verwendung fand. Diese Erweiterung erlaubt in der Interpreta37 Dross, Diskussion, S. 2. 38 Thomann/Rauschmann, Railway am Beispiel psychoreaktiver Störungen; Stokes, Purchasing, S. 63; früher bereits bei Imhof/Larsen, Sozialgeschichte, S. 175–179. Arthur Imhof hat versucht, dieses Verhältnis von Krankheit als individueller Erfahrung und Krankheit als sozialem Phänomen in Form eines Stufenmodells zu beschreiben, bei dem Krankheit von einem individuellen Problem des Unwohlseins beim Überschreiten einer gesellschaftlich determinierten Akzeptanzschwelle zu einem Problem der umgebenden gesellschaftliche Gruppe wird, das einer Begrifflichkeit bedarf und damit zur bezeichneten Krankheit gerät. In der Behandlung schließlich gerät Krankheit in Gestalt der Therapie zum administrativen Ereignis. Imhof/Larsen, Sozialgeschichte, S. 178; ähnlich Schmiedebach, Gesundheit. 39 Lat. patiens – Partizip Präsens Aktiv v. pati (ertragen, geschehen lassen): ertragend, erduldend. Nach Labisch, Medizingeschichte, S. 371 begründet aber erst die Existenz des Patienten als individuellem Subjekt die Medizin als Heiltätigkeit. 40 Bei Francisca Loetz zielt der Begriff zudem auf das „Gesundheitsverhalten von Menschen einer Gesellschaft ab, die die Medikalisierung (im Sinne einer Durchsetzung spezifischer Verhaltensnormen „von oben“) noch kaum erfaßt hatte.“ Loetz, Patienten, S. 56. 41 Wolff, Perspektiven, S. 314.

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tion eine detailliertere Bestimmung der Bedeutung von Krankheit und ihrer Instrumentalisierung im Rahmen der Unterstützungsgewähr. Schließlich bleibt noch zu klären, was in der vorliegenden Arbeit unter Gesundheitsversorgung und Armenkrankenpflege zu verstehen ist. Unter ersten Begriff fallen hier alle Einrichtungen und Personen, die in einem weiten Sinne Hilfe zur Heilung bereitstellen. Dazu zählen beispielsweise auch Einrichtungen für den Krankentransport. Hilfe zur Heilung bedeutet dabei, den Fokus auf kurativ orientierte Einrichtungen, weniger aber auf Einrichtungen der Krankheitsprävention, zu richten. Unter den Begriff der Armenkrankenpflege fallen diejenigen Einrichtungen, welche ihrer Wirkungsabsicht nach oder in ihrer Tätigkeit teilweise oder ganz auf die Krankenversorgung armer Bevölkerungsteile ausgerichtet waren. Inwiefern diese Absichten auch mit der jeweiligen Wirkung im Ergebnis übereinstimmten, wird zu untersuchen sein. Zuletzt ist an dieser Stelle noch eine Bemerkung zur verwendeten Begrifflichkeit der „armen Kranken“ und „kranken Armen“ zu machen. Der Gebrauch beider Varianten entscheidet sich in der vorliegenden Darstellung im Wesentlichen danach, ob die untersuchte Gruppe im jeweiligen Kontext als Teilgruppe der Kranken (also im Bezug auf eine Unterscheidung von nichtarmen und armen Kranken) oder als Teilgruppe der Armen (also im Bezug auf eine Unterscheidung von kranken und gesunden Armen) zu sehen ist. In beiden Fällen ist der Gebrauch der Formulierung unabhängig von jeder moralischen Wertung zu verstehen.42 Fragestellungen, Abgrenzungen und Methoden Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind Strukturen und Praktiken der kurativen gesundheitlichen Versorgung von Armen im ländlichen Raum und deren Wandel an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Den zentralen Ausgangspunkt der Untersuchungen bildet dabei die kommunal organisierte und ärztlich getragene Armenkrankenpflege. Robert Castel spricht in seinem Zonenmodell der sozialen Kohäsion von „Kipppunkten“ und Übergängen zwischen den Zonen der Integration, der Verwundbarkeit und der Entkopplung.43 Katrin Marx hat hierfür in ihrer Untersuchung der ländlichen Armut den anschaulichen Begriff der „Schwellen“ verwendet.44 Beide Autoren wollen betont eine Überbewertung der „ökonomischen Diskriminante“ in der Untersuchung von Armutsursachen vermeiden und nehmen gezielt auch die soziale Dimension von Armut in den Blick.

42 Eine solche erkennt Dross, Krankenhaus, S. 53–54 in zeitgenössischen Bezeichnungen insofern, als dass „der ‚arme’ Kranke als Argumentationsfigur verstanden werden [muss], die jede Form von Armut, die nicht auf Krankheit zurückzuführen ist, moralisch schwer belastet.“ 43 Castel, Metamorphosen, S. 13–15. Das Gleichgewichtsmaß der Zonen bildet nach Castel den Indikator für die Kohäsion einer Gesellschaft. 44 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 27–28; Marx, Narratives, S. 5.

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Krankheit war zweifellos in besonderem Maße ein Faktor, der zum Stolpern und Fallen über eine solche Schwelle beitrug.45 In ökonomischer Hinsicht geschah dies dadurch, dass Arbeitsunfähigkeit als Folge von Krankheit massive Einkommensverluste bedeutete, bei gleichzeitig erhöhten Aufwendungen für Ärzte, Heilmittel etc. Krankheiten46. Eine Krankheit konnte aber auch in sozialer Hinsicht verheerende Auswirkungen haben, wenn sie etwa über körperliche Entstellungen oder moralische Bewertungen von Krankheiten eine gesellschaftliche Isolation und Ausgrenzung der Betroffenen bedeuteten. Die Besonderheit der Armenkrankenpflege innerhalb der allgemeinen Armenfürsorge bestand in ihrer spezifischen ursachenbezogenen Hilfestellung. Während allgemeine Unterstützungen im Wesentlichen den Armutszustand erträglich halten sollten47, war die Armenkrankenpflege im Prinzip darauf ausgerichtet, den Betroffenen wieder in einen früheren gesunden Zustand zu bringen, um ihn auf diese Weise wieder auf die andere Seite der besagten Schwelle zu befördern – zumindest insoweit das Fallen durch Krankheit beeinflusst gewesen war.48 „Essentieller“ Gegenstand aller Bemühungen und Beurteilungen war daher die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen.49 Während die allgemeine Armenfürsorge eher die ausgelegte Matte darstellte, die den Aufprall des über die Schwelle Stolpernden dämpfen sollte50, entsprach die Armenkrankenpflege eher der Hilfestellung beim Wiederaufrichten des Gefallenen. Die Armenkrankenpflege war damit viel stärker als die allgemeine Armenfürsorge darauf angelegt, den Betroffenen nach erfolgreicher Hilfestellung wieder eine eigenständige Teilhabe an der umgebenden Gesellschaft zu ermöglichen, und sie blieb in dieser Hinsicht bis zur Einführung staatlicher Arbeitsvermittlung lange das einzige Instrument.51 Für die Untersuchung der Frage nach dem Erfolg der Armenkrankenpflege in der Verwirklichung dieser Anlage soll hier das Konzept von Inklusion und Exklusion nach Niklas Luhmann genutzt werden.52 Lutz Raphael hat 45 Vgl. Leeuwen, Risk, S. 45–59. 46 Ebd., S. 55. 47 „Erträglich“ darf in diesem Zusammenhang keineswegs im Sinne des vielfach polemisch gebrauchten Begriffs der „sozialen Hängematte“ verstanden werden. Die Armutsforschung hat vielfach gezeigt, dass geleistete Unterstützungen oft nur das nackte Überleben sicherten. 48 Vgl. Williams, Income, S. 159. 49 Dross, Diskussion, S. 11. 50 In ihrer tatsächlichen Auswirkung entsprach die Armenfürsorge bildlich gesprochen dabei in den meisten Fällen wohl eher nur einem dünnen Laken als einer dicken Matte. 51 Das vergleichbare Instrument im Falle der Arbeitslosigkeit, eine Unterstützung der Betroffenen durch eine Stellenvermittlung, wurde in nennenswertem Umfang erst in der zweiten und dritten Dekade des 20. Jahrhunderts etabliert. Vgl. Castel, Metamorphosen, S. 288–289; Metzler, Sozialstaat, S. 33–40, 64–77. Anhand der Vororte der Stadt Trier hat Stazic, Arbeitslosigkeit zeigen können, dass dies für die hiesige Region sogar erst noch später der Fall war. 52 Luhmann, Inklusion. Die Überlegungen Luhmanns bilden auch den theoretischen Bezugspunkt des Sonderforschungsbereiches 600.

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versucht, dieses Konzept hinsichtlich der Frage von Armut und Fremdheit historisch in Handlungsformen des liberalen, nationalen Rechtsstaates zu begreifen, „die Arme als „zentrales Objekt nationalstaatlicher Inklusionssemantiken und (…) von Wohlfahrtspolitik“ erscheinen lassen“.53 Anhand der Sozialversicherungen lassen sich diese Überlegungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit operationalisieren.54 Wo und in welchem Maße machten Strukturen wie Praktiken der Sozialversicherung und Armenkrankenpflege gesellschaftliche Teilhabe möglich und wo nicht? War gesellschaftliche Teilhabe tatsächlich Intention oder nur ein eventueller Nebeneffekt? Bezog sich diese Teilhabe nicht lediglich auf eine kostengünstige Wiederherstellung der Kranken für den Arbeitsmarkt? Die vorliegende Untersuchung soll jedoch nicht nur allein die Strukturen und normativen Absichten der Armenkrankenpflege in den Blick nehmen, sondern auch deren tatsächliche Rolle und Bedeutung für die gesundheitliche Versorgung kranker Armer im Umfeld anderer gesundheitsbezogener Hilfsangebote. In der medizinhistoriographischen Forschung ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass die „alleinige Betrachtung der Ärzte einen ganz unzutreffenden Eindruck von der tatsächlichen Situation vermittelt, da die Bevölkerung die Angebote der verschiedensten Heilergruppen in Anspruch nahm.“55 Insofern geht es in der vorliegenden Arbeit auch um eine institutionelle wie praxisbezogene Kontextualisierung der Armenkrankenpflege im Feld der ländlichen Gesundheitsversorgung. Absicht ist dabei nicht eine statische Momentaufnahme, sondern ein Blick auf die Veränderungen im Zeitverlauf vom Ende des 19. bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts56, ausgehend vom zentralen Moment der krankheitsbezogenen Sozialversicherungen. Da sich die potentiellen Klientelen von Armenfürsorge und insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung in vielen Fällen überschneiden57, steht Letztere hier im Mittelpunkt der diesbezüglichen Untersuchungen, vereinzelt kommen auch Unfall- und Invalidenversicherung in den Blick.

53 Raphael, Königsschutz, S. 32. Ähnliche Überlegungen auch bei Room, Threshold, S. 5–7. Unter modernisierungstheoretischer Fragestellung sind Wollasch, Wohlfahrtspflege, S. 6 zufolge „technisch-formale“ Indikatoren für den Modernisierungsgrad zur Beurteilung der Lage der Betroffenen nicht ausreichend und von daher auch eine Betrachtung der „sozialen Modernisierung“ mit der Frage nach Inklusion und Exklusion von Individuen und Gruppen notwendig. Dazu auch Pankoke, Solidaritäten. 54 Nach Sachsse, Strukturen führt eine immer weitergehende Ausweitung der Versicherungssysteme zu Inklusion immer größerer Gesellschaftsteile. Zu beachten ist aber auch, ob der Wohlfahrtsstaat dadurch an anderer Stelle neue Probleme schafft. 55 So jüngst Dinges, Arztpraxen, S. 40–41. 56 Den Versuch einer regionalen Betrachtung von Wohlfahrt im Allgemeinen mit Blick auf Entwicklungen über politische Brüche hinweg unternimmt auch Wollasch/Regionalgeschichte, Region, beschränkt sich darin aber auf das Verwaltungshandeln. 57 Moser, Volksgesundheit, S. 38, vor allem bezogen auf den häufigen Fall des krankheitsbedingten Erwerbsverlustes.

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In der vorliegenden Studie besteht ein durchgehendes Vorhaben zudem darin, soweit wie möglich den „konsequenten Blick aus der Perspektive des Patienten“, bzw. allgemeiner der Betroffenen, zu erforschen.58 Für die Untersuchung der strukturellen Gegebenheiten von Armenkrankenpflege und Gesundheitsversorgung bedeutet dies, dass vor allem Einrichtungen von konkreter Bedeutung für kranke Arme für die Hilfe im Krankheitsfall einbezogen wurden, um für den spezifischen Gegenstand krankheitsbezogener Armenversorgung einen Perspektivwechsel zu erreichen, „der staatliche Intervention relativiert und die Aneignung der Armenfürsorgeangebote durch die Unterschichten und deren Alternativstrategien stärker in den Vordergrund rückt.“59 Mit der kulturhistorischen Erweiterung sozialgeschichtlicher Fragestellungen ist die umfassende Bewältigung von Krankheit und deren sozialen, finanziellen und gesellschaftlichen Folgen und Deutungen ein zentraler Gegenstand medizinhistorischer Forschung geworden.60 In der hier angestellten Untersuchung der Bewältigungspraktiken von Krankheit geht es in erster Linie darum, die Erfahrungen der betroffenen kranken Armen und deren Interaktion mit den gesundheitlichen Helfern aufzuzeigen61, nicht aber in jedem Falle die Interaktionen der helfenden Institutionen und Personen miteinander. Das Untersuchungsgebiet bilden ländliche Regionen der südlichen preußischen Rheinprovinz, nach der Verwaltungseinteilung in der Hauptsache die Gebiete der Regierungsbezirke Trier und Koblenz. Konkretisiert wird die Untersuchung in vier Landkreisen der genannten Regierungsbezirke – Bitburg, Bernkastel, Wittlich, Simmern –, deren Wahl sich aus dem Forschungskontext und der Quellenlage bestimmte. Das genannte Gebiet ist zunächst Untersuchungsraum des eingangs erwähnten Forschungsprojekts „Armut im ländlichen Raum“, in dessen Rahmen diese Arbeit entstand. Dessen Forschungsplan sieht neben einer breit angelegten Untersuchung der Rahmenbedingungen ländlicher Armut und Armenfürsorge die detaillierte Untersuchung einzelner Kreise und Gemeinden zu unterschiedlichen spezifischen Fragestellungen vor, um auf diese Weise exemplarisch dichte Bilder der Armenfürsorge im lokalen Kontext entwickeln zu können. Zwei der im Rahmen der vorliegenden Arbeit behandelten Kreise – die Landkreise Wittlich und Bernkastel – wurden bereits in der Studie von Katrin Marx zur allgemeinen Armenfürsorge eingehend untersucht, so dass die darin gewonnenen Erkenntnisse durch die vorliegende Studie ergänzt und vertieft werden können.62 Ein wesentliches Ergebnis dieser Arbeit war, dass 58 Nach Jung/Ulbricht, Krankheitserfahrung, S. 138 ist dieser Blick nach wie vor „relativ selten“. Dieser Ansatz steht im Gegensatz etwa zur Untersuchung der „öffentlich-politischen“ Dimension von Krankheit in Unterschichten. Vgl. Frevert, Krankheit, S. 13. 59 Dinges, Sozialdisziplinierung, S. 10. 60 Vgl. den Forschungsbericht sowie die Einleitung zu Teil III der Arbeit. 61 Den Wert eines solchen Ansatzes hat für Heilanstalten Condrau, Patientenschicksal, S. 279 angemerkt, demzufolge „die Analyse der Patientenperspektive die vielfältigen dynamischen Prozesse der Interaktion in den Heilanstalten sichtbar“ werden lässt. 62 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge.

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die jeweilige lokale Ausgestaltung der kommunalen Armenfürsorge sehr differieren konnte. Daher wurden in der vorliegenden Arbeit mit dem Kreis Bitburg im Regierungsbezirk Trier und dem Kreis Simmern im Regierungsbezirk Koblenz weitere Landkreise untersucht, um übergreifend erkennbare Verhältnisse in der Armenkrankenpflege deutlicher zu machen. Die genannten Kreise liegen dabei zum einen deutlicher in den jeweiligen landschaftlichen Regionen Eifel bzw. Hunsrück, so dass auch regionale Differenzen gegebenenfalls leichter zu erkennen sind. Zudem ermöglichte der Einbezug des Kreises Simmern, auch die übergreifenden strukturellen Regelungen zur Armenkrankenpflege auf der Ebene des Regierungsbezirks Koblenz zu berücksichtigen und so auch auf dieser Ebene Abweichungen und Spezifika zu identifizieren. Da die Armenkrankenpflege wie die allgemeine Armenfürsorge im Wesentlichen eine kommunale Aufgabe war, wurde zudem die Analyse der Armenunterstützungsgesuche als Quelle anhand dreier Schwerpunktgemeinden aus den untersuchten Landkreisen vorgenommen. Für die Eifelregion war dies die Bürgermeisterei Bitburg-Land im Kreis Bitburg, für das Moselgebiet die Bürgermeisterei Zeltingen im Kreis Bernkastel und für das Hunsrückgebiet schließlich die Bürgermeisterei Kastellaun im Kreis Simmern. In einzelnen Fällen wurden ergänzend Informationen, Quellen oder Fälle aus anderen Gemeinden oder Kreisen der Untersuchungsregion herangezogen. Auf den besonderen Wert – und das Desiderat – einer Untersuchung der Armenfürsorge in den rheinpreußischen Gebieten hat vor einiger Zeit Fritz Dross hingewiesen.63 Dies gilt – auch für Preußen als Ganzes – in besonderem Maße für die ländlichen Regionen.64 Bereits erwähnt wurde schon die angestrebte Untersuchung der Bedeutung der Sozialversicherungen. Zu Beginn der 1880er Jahre ist mit den Sozialversicherungsgesetzen die Einrichtung wichtiger Institutionen des modernen Wohlfahrtsstaates auf nationaler Ebene zu verzeichnen.65 Da in der vorliegenden Arbeit auch der Wandel der Armenkrankenpflege unter dem Einfluss des entstehenden Sozialstaates untersucht werden sollte66, empfahl sich ein zeitlicher Vorgriff zum genannten Zeitpunkt, um die Ausgangslage vor den 63 Dross, Prussia, S. 86: „In many respects, the new Prussian territories in the west should be recognised for their pioneering role. Concrete experience with early communalised poor relief from the ‘French period’ was available, and the confessional diversity of the population made care according to denomination difficult.” Der Aufsatz bietet einen guten Überblick über die gesetzlichen Regelungen und Maßnahmen auf dem Gebiet der Armenfürsorge und Gesundheitsversorgung in Preußen im 18. und 19. Jahrhundert. Dabei betont Dross vor allem die innere Differenzierung Preußens, die in der Forschung bisher zu wenig Beachtung gefunden habe (69). 64 Ebd., S. 95: „The rural and agricultural regions of Prussia, where three-quarters of the Prussian population lived as late as 1900, have scarcely been researched with regard to health care and poor relief.” 65 Die Literaturlage hierzu ist inzwischen gewaltig, siehe dazu die entsprechenden Ausführungen im Kontext des Forschungsberichtes. 66 Zur Dauer dieses Wandels vgl. Redder, Armenhilfe, S. 107–108, die darauf verweist, dass die Armenstatistik von 1885 Krankheit (trotz Mängel in der Zuordnung der Unterstüt-

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eintretenden Veränderungen besser in den Blick zu bekommen. Vor diesem Hintergrund bot sich das Jahr 1869 als formaler Beginn des Untersuchungszeitraumes aus zwei Gründen an. Zum einen liegt zwischen 1869 und den 1880er Jahren genügend Raum, um besagte Ausgangslage erfassen zu können, zum anderen lieferte das Inkrafttreten der Norddeutschen Gewerbeordnung in diesem Jahr die formalen Voraussetzungen für einen Blick auf die mit Ärzten konkurrierenden Hilfsangebote nichtärztlicher Heiler. Die Gewerbeordnung gestattete Laienheilkundigen die Ausübung ihrer Künste, unterstellte sie aber zugleich der Medizinalaufsicht, so dass seit dieser Zeit vergleichsweise viele Informationen über (gewerbliche) Laienheiler in den Quartals- und Jahresberichten der Medizinalbeamten erschienen. Komplementär zur Zulassung nichtärztlicher Laienheiler ließe sich als Endpunkt der Untersuchung die umfassende Neuregelung der Behandlungszulassungen nichtärztlicher Heilkundiger im Heilpraktikergesetz von 1939 bestimmen.67 Faktisch stand aber gerade das Gesundheitswesen seit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 im Fokus eugenischer und rassistischer Gestaltungsgedanken, deren Auswirkungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht mehr angemessen zu untersuchen waren.68 Da auch die Quellen vornehmlich aus dem Zeitraum von 1880 bis 1930 stammen, wird sich die Untersuchung in erster Linie auf diese Jahre beschränken. Detlev Peukert hat für diese Zeit den Begriff der „Klassischen Moderne“ geprägt69, und Ewald Frie hat dieselbe im Hinblick auf eine modernisierungstheoretische Untersuchung des Sozialstaats weiter untergliedert.70 Er unterschied dabei eine erste Phase von „Einrichtung und Aufbau der Sozialversicherung“ (1880–1914) von einer Phase des Wandels in Gestalt einer „improvisierten Entstehungsphase“ (1914–1924) und einer abschließenden Phase der „aktiven Stabilisierung“ des entstandenen Sozialstaates (1924–1930).71 Dieses Konzept hat sich auch für eine Strukturierung des zeitlichen Wandels in der Armenkrankenpflege und Gesundheitsversorgung als hilfreich erwiesen, wenn auch eine leichte Phasenverschiebung zum Frie’schen Modell erkennbar wurde.72 In der Forschung wurde gerade für den Bereich der Gesundheitsversorgung im Hinblick auf die Identifizierung von Kontinuitäten die Bedeutung

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zungsursachen) als wichtigste Armutsursache ausweist. Effekte des Krankenversicherungsgesetzes von 1883 seien hier noch nicht zu entdecken. Vgl. Reupke, Nichtapprobierte, S. 158–165. Damit liegt der Endpunkt der Untersuchung parallel zu dem bei Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, siehe dort S. 30–31. Ähnlich Rudloff, Wohlfahrtsstadt, S. 31–32. Peukert, Krisenjahre. Metzler, Sozialstaat, S. 1, insbes. S. 88–101 spricht von einer „formativen Phase“ bis zum Anfang der 1930er Jahre. Frie, Fürsorgepolitik, insbes. S. 17–26. Dagegen setzt Crew, Germans, S. 10 eine Betrachtung der „spezifischen Umstände“ des Weimarer Wohlfahrtsstaats, der mehr von Unterschieden als von Gemeinsamkeiten zu den umliegenden Epochen geprägt worden sei. Frie, Fürsorgepolitik, S. 19–20. Siehe dazu Kap. 4.

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von Untersuchungen über die politische Zeitenwende 1914 bzw. 1918/19 hinweg hervorgehoben.73 Die Armenkrankenpflege und die Krankenversicherung als „Herzstück“ der Sozialversicherung74 waren in erster Linie auf die Wiederherstellung der Gesundheit nach einem Schadensfall angelegt und hatten keine präventive Funktion75, weshalb ich mich in dieser Arbeit auf die kurativen Einrichtungen der Gesundheitsversorgung konzentriere. Auch die während des Ersten Weltkrieges vermehrt eingerichteten gesundheitlichen Sonderfürsorgen sind hier kein Gegenstand der Untersuchung. Diese waren nicht nur primär auf Prävention und Beratung hin ausgerichtet; Ihnen waren Behandlungen in den meisten Fällen sogar explizit verboten, und sie mussten ihre Klientel in einem solchen Fall an geeignete kurative Einrichtungen verweisen.76 Inwiefern diese präventiv tätigen Einrichtungen dazu beitrugen, die Armenkrankenpflege von vorneherein zu entlasten, lässt sich praktisch nicht erfassen, da nicht eingetretene Fälle von Hilfeleistung naturgemäß keinerlei Niederschlag in den Akten fanden. Nichtzuständigkeit ist auch der Grund, aus dem die Medizinal- oder Gesundheitsverwaltung als Einrichtung des öffentlichen Gesundheitswesens außen vor bleibt. Diese besaß in erster Linie Aufsichtsfunktionen, aber keine Behandlungsaufgaben.77 Somit war sie aus der hier untersuchten Perspektive der Betroffenen kein geeigneter Ansprechpartner in Krankheitsfällen.78 In den Blick geraten Vertreter dieser Institutionen allerdings berechtigterweise in personaler Hinsicht. Da die Medizinalbeamten oft in Personalunion – nicht qua Amt! – auch als Armenärzte tätig waren79, sind sie in derartigen Fällen natürlich im Rahmen dieser Untersuchung zu berücksichtigen. Nicht zum Gegenstand dieser Arbeit werden auch auf Seiten der Betroffenen zwei spezifische Personengruppen. So lagen die Fälle psychischer Erkrankungen nicht in der Zuständigkeit der kommunalen Armenkrankenpflege, sondern oblagen dem Provinzialverband.80 Zudem wäre für diese Gruppe die Betroffenenperspektive in Quellen und Interpretation kaum fundiert nachzuvollziehen gewesen.81 Auch Personen ohne Unterstützungswohnsitz, deren Versorgung nicht dem kommunalen Ortsarmenverband sondern dem Landarmenverband oblag, können hier ebenfalls nur in solchen Fällen berück-

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Dazu Sauerteig, Geschlechtskrankheiten, S. 15. Metzler, Sozialstaat, S. 2. Schmiedebach, Gesundheit; Schleiermacher, Krankenversicherung. Vgl. für die Geschlechtskrankenfürsorge Sauerteig, Geschlechtskrankheiten, S. 166–186; für die Tuberkulosefürsorge nennt Condrau, Patientenschicksal, S. 63–64 Diagnose, hygienische Unterstützung und Aufklärung der Betroffenen, als Hauptfunktionen. Ausführlich dazu am Beispiel Berlins Münch, Gesundheitswesen. Bereits in Gottstein, Armenkrankenfürsorge wurde die Armenkrankenpflege gesondert aufgeführt. Vgl. Moser, Volksgesundheit, S. 34. Vgl. dazu Kap. 1.2. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 319–320; Kastner, Versorgung. Überlegungen dazu bei Marx, Narratives.

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sichtigt werden, in denen sie im kommunalen Handlungsbereich sichtbar wurden. Eine Arbeit, die sich im Schnittfeld von Armut, Krankheit, Medizin und Sozialversicherung bewegt, kommt zudem nicht umhin, ihre Stellung in der Erforschung der sogenannten Medikalisierung zu beschreiben.82 Die ehemals hitzige Debatte um die Durchsetzung akademisch-ärztlicher Deutungskompetenz und medizinisch geprägter Denkweisen in allen gesellschaftlichen Schichten hat heute viel von ihrer früheren Schärfe verloren. Übereinstimmung scheint in der Forschung inzwischen darin zu herrschen, dass dieser Prozess als ein beiderseitiges Geben und Nehmen von Medikalisierern und Medikalisierten verstanden werden muss.83 In der Frage, wie dieser Prozess in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und unter verschiedenen politischen Verhältnissen vonstattenging84, bleibt aber nach wie vor Forschungsarbeit in Einzelstudien zu leisten.85 Oliver Stenzel zufolge lässt sich Medikalisierung als „Prozess medikaler Differenzierung in dem Sinne beschreiben, dass sich der ursprüngliche medikale Pluralismus der Frühen Neuzeit schrittweise auflöste und das Funktionssystem Medizin an seine Stelle rückte.“86 An dieser Stelle vermag die vorliegende Arbeit tatsächlich einen Beitrag zu leisten, indem sie dem Einbezug ländlicher Unterschichten in das „Funktionssystem Medizin“ in ihrem Untersuchungsraum nachspürt, dies bildet aber keinesfalls das zentrale Erkenntnisinteresse dieser Arbeit.87 Auch in anderer Hinsicht müssen die Erkenntnisse dieser Arbeit von vorneherein als unvollständig angesehen werden. Fehlende Vollständigkeit und unterschiedliche Qualität der Quellen lassen eine repräsentative oder gar vollständige Untersuchung insbesondere der Handlungsabläufe und Interaktionen der Beteiligten in der Armenkrankenpflege nicht zu.88 Ziel dieser Arbeit soll 82 Der jüngste Überblick über die Debatte, der die Problematik dieses vielschichtigen Begriffs und die Erkenntnisgrenzen der verschiedenen Ansätze sehr gut herausarbeitet bei Stenzel, Differenzierung, insbes. S. 22–23 und 151–161. Ein knapper Überblick bei Dross, Krankenhaus, S. 10. Weitere Angaben im Forschungsbericht (S. 33). 83 Vgl. dazu Dinges, Towards, S. 220–224; Dinges, Arztpraxen, S. 25–26. 84 In diesem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, ob der (für den städtischen Raum) weitgehend bestehende Konsens der Forschung über die Bedeutung der gesetzlichen Krankenversicherung als Instrument der Medikalisierung i.S. einer Verbreitung medizinischer Leistungen auch für den ländlichen Raum zutrifft. Vgl. Moser, Volksgesundheit, S. 36. 85 Stolberg, Heilkundige, S. 78. 86 Stenzel, Differenzierung, S. 161. 87 Erste kleinere Versuche, Medikalisierung in ländlichen Regionen zu untersuchen bei Stolberg, Patientenschaft; Dietrich-Daum/Taiani, Medikalisierung und aus volkskundlicher Perspektive bei Simon, Medikalisierungsprozess. 88 Siehe dazu im Einzelnen auch den Abschnitt zum Quellenwert der Armenbriefe in der Einleitung zu Teil II der Arbeit. Ebenfalls außen vor bleibt aus denselben Gründen eine besondere Untersuchung geschlechtsspezifischer Unterschiede, obwohl der Genderaspekt in der Fürsorge prinzipiell von Bedeutung war. Vgl. Crew, Germans, S. 206–207. Überlegungen dazu jüngst bei Sokoll, Writing.

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es vielmehr sein, besonders präsente oder prägnante Handlungsmuster im Spektrum der Handlungsmöglichkeiten intensiv zu beleuchten.89 In methodischer Hinsicht orientiert sich die Arbeit an Verfahren der Mikro- und Alltagsgeschichte, in ihren medizinhistorischen Aspekten beruht sie auf Überlegungen der Patientengeschichte. Die Bedeutung dieser methodischen Ansätze für eine Studie, die sich der gesundheitlichen Versorgung kranker Armer aus der Perspektive der Betroffenen nähern möchte, ergibt sich zunächst aus deren Entstehungsgeschichte. Entstanden aus einem „Unbehagen“ an einer rein struktur- und prozessorientierten Sozialgeschichte, war es das Anliegen der Mikrogeschichte90, die „Lebenswelt“ der von den Entwicklungen der Makrogeschichte Betroffenen zu rekonstruieren.91 Sie übertrug damit begriffliche Differenzierungen zwischen Mikro- und Makroebenen aus der Soziologie und Ökonomie der 1950er Jahre auf die Geschichtswissenschaft.92 Operationalisiert und damit für die historische Forschungsarbeit nutzbar gemacht wurden diese Überlegungen aber erst einige Jahrzehnte später durch die Arbeiten Carlo Ginzburgs und Giovanni Levis93, jedoch nicht in Gestalt eines theoretischen Konzepts, sondern als Form der historiographischen Praxis.94 Individuen, kleine soziale Einheiten, ihre Beziehungen untereinander und der Niederschlag makrohistorischer Entwicklungen in denselben rückten in den Mittelpunkt der Betrachtungen.95 Diese Beobachtungen waren in der Tendenz durch eine Nutzung möglichst aller erfassbaren Quellen und Informationen auf eine umfassende Darstellung hin angelegt. Ein ähnlicher Perspektivenwechsel wurde Mitte der 1980er Jahre auch in der Sozialgeschichte der Medizin initiiert.96 Angestoßen von grundlegenden 89 Zemon-Davis, Social-History, S. 31. 90 Kaiser, Regionalgeschichte, S. 31. Den besten Überblick über Entstehung und Inhalte der Mikrohistorie bietet Ulbricht, Mikrogeschichte. Siehe auch Schlumbohm, Mikro – Makro und Medick, Mikro-Historie. Theoretische Überlegungen auch in Hochstrasser, Haus, S. 271–299. 91 Ginzburg/Poni, Mikrogeschichte; Hochstrasser, Haus, S. 285. 92 Schlumbohm, Mikro – Makro, S. 11. 93 Levi, On Microhistory; Ginzburg, Mikro-Historie; Ginzburg/Poni, Mikrogeschichte. 94 Levi, On Microhistory, S. 93. Vielfalt und „Vitalität“ der Mikrohistorie hebt auch Schlumbohm, Mikro – Makro, S. 27 hervor. 95 Rheinheimer, Jakob Gülich untersucht als Einzelfallanalyse zum Leben eines Armen Mitte des 19. Jahrhunderts soziale Verhältnisse, Biograpie, Ansichten über Armut in der Gesellschaft, Lebensbedingungen, und Handlungsmotivationen. Crew, Wohlfahrtsbrot untersucht am Fallbeispiel Adolf G. das Wohlfahrtswesen in der Weimarer Republik. Hochstrasser, Haus nimmt die Geschichte bzw. Bewohner eines einzelnen Hauses über Jahrhunderte als Ausgangspunkt. Den bemerkenswertesten Versuch, das Erkenntnispotential der mikrohistorischen Methode auszuloten, stellt Corbin, Spuren dar, worin dieser – durchaus erfolgreich – versucht, das Leben einer weitgehend wahllos ausgesuchten völlig unbekannten Person wieder ans Licht zu holen. 96 Wolff, Perspektiven, S. 312 stellt deutlich den Einfluss der alltags-, mikro- und kulturgeschichtlichen Ansätze in der allgemeinen Geschichtswissenschaft auf die Sozialgeschichte der Medizin heraus.

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Arbeiten Roy Porters97, stellte die entstehende Patientengeschichte nicht mehr die Leistungen und Interpretationen des Heilenden in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung, sondern widmete sich den Wahrnehmungen und Verhaltensweisen der Kranken und Patienten auf dem Feld von Krankheit und Heilung. Beide Strömungen waren darauf ausgerichtet, den vorherrschenden struktur- und prozessorientierten Forschungsparadigmen ihrer Fächer eine individualisierte, erfahrungsbezogene Perspektive gegenüberzustellen. In den Fokus der neuen Forschungsrichtungen geriet nicht die Makrostruktur der historischen Entwicklung, sondern deren „Konkretion in lokalen und regionalen Sozialgefügen“.98 Die lebensweltliche Orientierung beider Forschungsrichtungen eröffnete zudem den Blick auf die Handlungspotentiale und –alternativen der einzelnen Betroffenen und ermöglichte so, diese nicht nur als Objekte historischer Prozesse, sondern als handelnde Subjekte der konkreten Ausgestaltung zu begreifen.99 In der Untersuchung von ländlicher Gesundheitsversorgung und Armenkrankenpflege aus der Perspektive der Betroffenen fallen diese Ansätze weitgehend zusammen und bieten sich daher als methodische Grundlage an.100 Beide Komponenten – lokale Konkretion historischer Prozesse und Subjektcharakter der Betroffenen – sind Ansätze dieser Arbeit, wenn etwa die Niederlassung von Armenärzten vor Ort oder die Motive eines Vaters für die Wahl des Krankenhauses zur Behandlung seines Kindes untersucht werden. Dennoch weisen die Ansätze – insbesondere die mikrohistorische Methode – Probleme auf, die im Konzept der Studie ausreichend berücksichtigt werden mussten. Der Gebrauch der mikrohistorischen Methode gleicht der Betrachtung eines Dokumentes durch eine Lupe hindurch.101 Je näher man die Lupe an das Dokument hält, umso detailreicher erscheint der betrachtete Ausschnitt, aber umso weniger bleiben die entfernteren Teile des Dokuments im Blick. Von diesem perspektivischen Paradoxon ist die Mikrohistorie in mehrfacher Hinsicht betroffen. Zunächst sieht sich Mikrogeschichte in ihrer Konzentration auf die kleine Untersuchungseinheit stets mit der Gefahr einer lokalgeschichtlichen Verir97 Porter, Patient‘s View. Der Aufsatz ist in Ernst, Patientengeschichte bereits selbst Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte geworden. In Porter, Perceptions versuchte Porter zugleich als erster, seinen Ansatz praktisch umzusetzen. 98 Lutz Raphael fasst diese begrifflich als „lokale Gesellschaften“. Raphael, Gesellschaften, S. 12. 99 Zum Verständnis von Lebenswelt als „Zwischenzone“ der Begegnung von gesellschaftlich gegebenen Rahmenbedingungen und individuellem Handeln vgl. Hochstrasser, Haus, insbes. S. 255–265. Dinges, Sozialdisziplinierung, S. 27–28 weist dem mikrohistorischem Ansatz zentrale Bedeutung bei der Untersuchung von „Aneignungsprozessen obrigkeitlicher Angebote“ zu. 100 So explizit Wolff, Perspektiven, S. 313. 101 Vgl. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 34 unter Verweis auf Kracauer, Geschichte, S. 115.

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rung konfrontiert.102 Die idealerweise entstehende genaue Kenntnis von Ärzten, Heilern, Armen, ihren Geschichten, Beziehungen und Konflikten vermag dazu verleiten, diese auch im Detail ihrer Verwicklungen zu präsentieren.103 Eine solche Darstellung machte es aber schwierig, ihren Erkenntniswert für andere Kontexte zu zeigen.104 Das Erkenntnisinteresse mikrohistorischen Arbeitens darf daher nicht auf den konkreten Ort der Forschung, sondern auf dessen Charakter als exemplum gerichtet sein, das heißt, der mikrohistorisch arbeitende Forscher darf seine zugrundeliegende (orts-)übergreifende Fragestellung vor allem in der Darstellung seiner Ergebnisse nicht aus den Augen verlieren.105 Im Besonderen gilt dies für Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen historischen Ereignisebenen, die es in ihren Auswirkungen zu berücksichtigen und ernst zu nehmen gilt.106 In besonderem Maße ist die Mikrogeschichte auch von der generellen Schwierigkeit historischer Forschung betroffen, die Aussagekraft der konkreten Untersuchung für übergreifende Zusammenhänge zu bestimmen.107 Da der Idealfall mehrerer parallel konstruierter Mikrostudien zu einer gemeinsamen Fragestellung in der Praxis aufgrund zeitlicher, quellentechnischer oder personeller Ressourcen kaum zu leisten ist108, bedarf es hier einzelfallspezifischer

102 Geertz, Dichte Beschreibung, S. 32, Levi, On Microhistory, S. 93. 103 Gleichwohl eignen sich gerade Lokal- und Regionalstudien aufgrund der meist intensiven Spezialkenntnisse des Autors als Ausgangspunkt einer mikrohistorischen Studie. Vgl. Ulbricht, Mikrogeschichte, S. 363–365. 104 Zur Differenzierung der Ansätze volkskundlich geprägter „Dorfforschung“ und „Mikrohistorie“ siehe Trossbach, Dorfgeschichte. Zur Repräsentativität von Dorfuntersuchungen aus volkskundlicher Sicht auch Zender, Dorf. 105 Medick, Weben, S. 13–37, hier insbes. S. 15. 106 Das Verhältnis von Makro- und Mikrogeschichte untersuchen aus verschiedenen Blickwinkeln Schlumbohm, Mikro – Makro und die weiteren Beiträge des Sammelbandes. Für die Medizingeschichte vgl. hierzu Paul, Struktur, der besonders für eine Untersuchung mittlerer Strukturebenen plädiert. Auch Medick, Quo vadis, S. 88–89 betont aus historisch-anthropologischer Perspektive den Wert einer Untersuchung von Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Ereignisebenen. Schließlich befürwortet Brakensiek, Regionalgeschichte, S. 250 gerade die Kombination mikroanalytischer Verfahren für die Untersuchung von Intentionen mit dem Blick auf regionale Bezüge zur Bestimmung „bewußtseins- und handlungsbeeinflussender Strukturen“. In seiner Untersuchung des Zusammenspiels „größerer und kleiner historischer Einheiten und Ebenen (…) im Hinblick auf den Prozess der Medikalisierung“ plädiert auch Stenzel, Differenzierung, S. 15 für eine solche Herangehensweise. 107 Hier ist vor allem die problematische Argumentation mit dem „außergewöhnlich Normalen“ (Edoardo Grendi) zu nennen, die im Wesentlichen darauf abzielt, dass sich in ungewöhnlichen Quellen (etwa Prozessakten zu Diebstählen) letztlich doch Normalität (etwa wirtschaftliche Not) erkennen lässt. Vgl. dazu Ginzburg/Poni, Mikrogeschichte, S. 51; Levi, On Microhistory, S. 109; Ulbricht, Mikrogeschichte, S. 359–360; Trossbach, Dorfgeschichte, S. 187. 108 Ulbricht, Mikrogeschichte, S. 360–363; Hochstrasser, Haus, S. 290 entwirft das Idealbild der „abgestuften, breit angelegten Regionalstudie mit lokalen und biographischen Tiefensonden“.

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Überlegungen zum Umgang mit dem Repräsentativitätscharakter der eigenen Untersuchung. Schließlich ist auch der umfassende Darstellungsanspruch der Mikrohistorie in der Praxis kaum einzulösen.109 Zumeist erzwingt auch hier die Rücksicht auf Zeit, Personal- und Quellensituation die Konzentration auf eine mikrohistorische Untersuchung zu einzelnen Sachfragen.110 Hier erweist aber der primär methodische Charakter der Mikrohistorie seine Flexibilität, indem er, obgleich dem Anspruch einer histoire totale entstammend, gleichermaßen auch für eine histoire problème das notwendige Instrumentarium für eine umfassende Betrachtung einer einzelnen Sachfrage bereitstellt. Gleichwohl erweist es sich in der Forschungsarbeit als ergiebig, eine umfassende Betrachtung als „methodische Zielvorstellung“ beizubehalten, um den Blick auch für Phänomene offen zu halten, die vielleicht erst auf Umwegen ihre Bedeutung auch für die Untersuchung einer spezifischen Problemstellung erweisen.111 Dem Problem der ‚lokalgeschichtlichen Verirrung’ wurde in der vorliegenden Arbeit mit der steten Rückbindung der in der eigenen spezifischen Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse an die übergreifenden Fragestellungen des Gesamtprojekts begegnet. Formelle und informelle Diskussion des jeweiligen Erkenntnisstandes im Kontext der Zusammenarbeit erforderten überlokale Abstraktion, um Vergleiche mit den Gegebenheiten in anderen Untersuchungsgebieten des Forschungsprojektes, etwa dem County Donegal in Nordwestirland, überhaupt möglich zu machen. Innerhalb der vorliegenden Untersuchung selbst diente auch das Einbeziehen mehrerer Untersuchungsgemeinden und -kreise dazu, über lokale Verhältnisse hinaus Aussagen zu den Fragestellungen der Arbeit treffen zu können.112 Für den Umgang mit den beschriebenen Problemen der Repräsentativität und der umfassenden Darstellung erwies sich für die vorliegende Arbeit besonders der Kontext der Projektarbeit in mehrfacher Hinsicht als sehr wertvoll. Der Sicherung einer gewissen Repräsentativität der Ergebnisse über den lokalen Kontext hinaus diente der Einbezug unterschiedlicher Verwaltungsebenen und verschiedener Verwaltungsorte auf der jeweiligen Ebene. Mit Quellen aus drei Bürgermeistereien, vier Kreisen und zwei Regierungsbezirken ist in der Untersuchung zum einen für jede Verwaltungsebene ein vergleichender und relativierender Blick auf horizontal differierende Normen und Praktiken in der Armenkrankenpflege und der ländlichen Gesundheitsversorgung möglich. Zum anderen erlaubt die Untersuchung mehrerer vertikaler Ebenen bis hinunter zur Ebene des Individuums auch die Wechselbeziehungen zwischen 109 Brakensiek, Regionalgeschichte, S. 209. 110 Trossbach, Dorfgeschichte, S. 195. 111 Diesen Anspruch vertritt Hochstrasser, Haus, S. 279. 112 Dennoch ist die Arbeit auch auf dieser Ebene nicht im klassischen Sinn einer „Regionalgeschichte“ als Untersuchung einer spezifischen Region zu verstehen, sondern als Studie zu einem übergreifenden Gegenstand anhand einer Region. Vgl. dazu Reulecke, Regionalgeschichte; Kaiser, Regionalgeschichte.

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Mikro-, Meso- und Makroebene angemessen in den Blick zu nehmen. Im Falle der Erfahrungen und Wahrnehmungen bei den Betroffenen schließlich gewährleistet der „quasi-serielle“ Quellencharakter der Armenunterstützungskorrespondenz eine angemessene Breite der Fälle, um Einzelne von diesen als besonders aussagekräftig identifizieren zu können.113 Der Kontext der Projektbindung erlaubte es mir zudem, meine spezifische Untersuchung im Sinne einer histoire problème als umfassende Betrachtung einer spezifischen Problemstellung innerhalb eines größeren Rahmens zu gestalten.114 Die vorliegende Arbeit widmet sich vor allem dem Problem der Armenkrankenversorgung. Ein Blick auf Strukturen und Abläufe in der allgemeinen Armenfürsorge ist daher für die vorliegende Untersuchung ohne Zweifel wertvoll, um den eigenen Charakter der Armenkrankenpflege als spezieller Leistung im Rahmen der allgemeinen Armenfürsorge herausstellen zu können. Gleichwohl hätte eine eigenständige Untersuchung auch dieses Gegenstandes bereits auf ‚lediglich’ lokaler Ebene den Rahmen dieser Arbeit mit Sicherheit gesprengt.115 Im Zusammenhang einer größeren gemeinsamen Arbeit vermag sie aber ihren speziellen Beitrag zu einer umfassenden Untersuchung ländlicher Armutsproblematik zu liefern. Die Betrachtung eines Raumes in mehreren parallelen, jedoch problemspezifischen Untersuchungen erlaubt auf diese Weise nicht nur in forschungspraktischer Hinsicht einen intensiven Austausch und raschen Einbezug neuer Erkenntnisse, sondern liefert im Ergebnis aller Untersuchungen zugleich die histoire totale dieses Raumes in einer sonst kaum erreichbaren Dichte. Ein weiteres Problem dieser Arbeit bestand in der Ambivalenz der Alltäglichkeit von Krankheit. Für die einzelnen Individuen stellte Krankheit sicherlich eine Beeinträchtigung der Lebensroutine dar, in abstrakter Hinsicht gehört aber auch die Existenz von Kranksein und Krankheit zur Normalität einer Gesellschaft, für die etwa in Form der Armenkrankenpflege spezifische Vorkehrungen getroffen wurden. Dieser Spannung galt es, in Untersuchung wie Darstellung gerecht zu werden. In der Lektüre und Interpretation der Quellen waren die Äußerungen der Betroffenen daher trotz erkennbarer, wiederkehrender Muster als Ausdruck einer individuellen Problemlage ernst zu nehmen – und nicht etwa allein als Produkt ‚strategischer’ Zwänge im Kontext der Antragsstellung zu begreifen. In der Darstellung habe ich versucht, diesem Problem durch die ausführliche Präsentation einiger Einzelfälle gerecht zu werden, die übergreifend vorhandene Handlungsmuster widerspiegeln, dabei aber ihren individuellen Charakter deutlich erkennen lassen.116 Im Rahmen der Quellenauswertung profitiert eine mikrohistorische Untersuchung in konzeptioneller Hinsicht durchaus von einer gewissen Theorieferne, um die Wahrnehmung von Eigenlogiken der Subjekte und ihrem Handeln nicht von vorneherein in den Bahnen theoretischer Erwartungen zu de113 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 37–38. 114 Vgl. Brakensiek, Regionalgeschichte, S. 209. 115 Vgl. Trossbach, Dorfgeschichte, S. 195. 116 Siehe Kap. 9.4.

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terminieren.117 In pragmatischer Hinsicht boten die Quellen aus Perspektive der Betroffenen keine programmatischen Schriften o.ä., welche Ansatzpunkte für eine Theoriebildung im Vorfeld der Untersuchung geboten hätten. Eine ‚Theorie’ des Funktionierens der Armenkrankenpflege war daher erst in Auseinandersetzung mit den Quellen zu bilden. Die Methode der Grounded Theory nach Anselm Strauss bot hierfür das geeignete Instrumentarium, da es ihr Ziel ist, die Theorie induktiv und interpretierend aus den Quellen erst zu erarbeiten.118 Zentrales Moment ist dabei die „Kodierung“ von Quellen, d. h. die Entdeckung und Benennung von Kategorien zur übergreifenden Erfassung von Einzelphänomenen.119 In der Praxis ergibt sich theoretische Erkenntnis dabei in einem stetigen und prinzipiell stets offenen und revidierbaren Wechsel zwischen Quellenlektüre, Kodierung und theoretischen Überlegungen.120 Unter Anlehnung an das geflügelte Wort vom Historiker als ‚Höhlenforscher’ gesprochen, ist die Höhle von Gesundheitsversorgung und Armenkrankenpflege zweifelsohne zu groß, um sie im Rahmen dieser Arbeit gänzlich zu erforschen. Absicht dieser Arbeit kann es nur sein, in die Tiefen dieser Höhle hinabzusteigen, zu versuchen ihre Größe und Weite im Licht des Scheinwerfers zu erahnen und dasselbe auf einigen besonders bemerkenswerten Felsformationen eine Weile zur intensiveren Beobachtung verharren zu lassen. Quellen Als vergleichsweise einfach erwies es sich, die institutionellen Strukturen der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum zu erforschen. Akten und Berichte der Gesundheitsverwaltung waren auf Ebene der Kreise, Regierungsbezirke und Provinz in vielen Fällen erhalten. Zahl und Verbreitung von Ärzten oder Hebammen waren aus ihnen ebenso erfassbar wie Standorte und Größe von Krankenanstalten und die Wohnorte gewerblicher Laienheiler. Die Dichte der jeweiligen Berichte nahm dabei in den höheren Verwaltungsebenen tendenziell ab, so dass die jährlichen Sanitätsberichte der Kreisphysiker – ab 1900 der Kreisärzte – aus den Schwerpunktkreisen für die Untersuchung der Versorgungsstrukturen die wichtigste Quellengruppe darstellen. Daneben gibt es in unterschiedlichem Umfang Überlieferungen zu einzelnen Teilbereichen der Gesundheitsversorgung, wie etwa dem Hebammenwesen oder eben den Armenärzten. Um auch unterhalb der Kreisebene lokale Differenzierungen er117 Hochstrasser, Haus, S. 295. 118 Eine gute Beschreibung von Grundlagen und forschungspraktischer Gestaltung findet sich in Strauss, Grundlagen. Eine umfassende Einordnung und Bewertung des Ansatzes bei Strübing, Grounded Theory. 119 Strauss, Grundlagen, S. 54–57. 120 Strauss legt zudem Wert auf eine stetig wiederholte Prüfung der eigenen – vorläufigen – theoretischen Überlegungen an neu bearbeiteten Materialien. Ebd., S. 45–47. Technisch umgesetzt wurde dieser Ansatz einer qualitativen Datenanalyse mit Hilfe des Programms MaxQDA.

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kennen zu können, waren hier zudem Bürgermeistereien und Gemeinden vonnöten, die auch für den Bereich gesundheitlicher Versorgung eine relativ dichte Überlieferung, etwa in Form von Armenarztverträgen oder Versicherungsstatuten aufwiesen. Hauptquelle für die Praxis und die Wahrnehmung der Armenkrankenversorgung auf Seiten der Betroffenen sind die Akten der allgemeinen Armenfürsorgeverwaltung. Diese umfassen Bittschriften oder Aussageprotokolle von Antragsstellern, ärztliche Atteste und Korrespondenzen zwischen beteiligten Verwaltungsstellen, aus denen sich, bei sehr unterschiedlicher Qualität und Quantität im Einzelfall, Prozesse und Wahrnehmungen der lokalen Ausprägungen der Armenkrankenpflege rekonstruieren lassen. Tendenziell ausführlicher, interpretativ jedoch schwieriger zu behandeln, sind zudem Beschwerden von Antragstellern bei höheren Verwaltungsebenen, aus denen in vielen Fällen auch sachfremde Konflikte zwischen den lokal Beteiligten erkennbar werden.121 Um die lokale Ausprägung der Armenkrankenpflege sowohl strukturell als auch praxisbezogen erfassen zu können, war neben einer gewissen Überlieferungsdichte zu Strukturen der Armenkrankenpflege und Gesundheitsversorgung auch eine möglichst gute Überlieferung in der allgemeinen Armenfürsorge wichtig. Nach diesen Bedingungen kamen innerhalb der Schwerpunktkreise vor allem die Bürgermeistereien Bitburg-Land für die Eifelregion, Zeltingen für die Moselgegend sowie Kastellaun im Hunsrück für eine Untersuchung in Betracht. Zeitlich sind die Bestände dieser Bürgermeistereien zwar nicht gänzlich kongruent122, da die Untersuchung der Praxis der Armenkrankenversorgung aber nicht umfassend, sondern in erster Linie exemplarisch im Sinne einer Darstellung des Möglichkeitenspektrums ausgerichtet ist, konnten diese Ungleichheiten bis zu einem gewissen Grade vernachlässigt werden. Gesondert sind zudem zwei weitere Quellenbestände zu nennen. Naturgemäß erscheint gesundheitliche Selbsthilfe nicht oder nur ganz vereinzelt in den behördlichen Akten. Ein vergleichsweise systematischer Einblick in die Art und Verbreitung von Selbsthilfe bot sich aber im Archiv des Atlas für Deutsche Volkskunde, in welchem die Fragebögen einer volkskundlichen Untersuchungsreihe der 1930er Jahre gelagert sind.123 Diese Bestände erwiesen sich bei aller Beschränktheit als sehr hilfreich, um einen Eindruck von der tatsächlichen Reichweite einzelner Praktiken gesundheitlicher Selbsthilfe zu bekommen.124 Ein weiterer Quellenbestand entsprang wiederum dem Kontext des Forschungsprojekts „Armut im ländlichen Raum“. Katrin Marx hat im Rahmen 121 Zum Aussagewert derartiger Quellen im Detail vgl. die Einleitung zu Teil III. 122 Die Bestände der Bürgermeisterei umfassen im einzelnen ungefähr folgende Zeiträume: Zeltingen 1890–1930, Bitburg-Land 1920–1935, Kastellaun 1880–1920. 123 Archiv des Atlas für Deutsche Volkskunde im Volkskundlichen Seminar der Universität Bonn. 124 Vgl. dazu im Einzelnen Kap. 3.4.

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ihrer Studie für die Bürgermeisterei Zeltingen die Armenfürsorgeakten von 1898 bis 1933 umfassend statistisch aufbereitet.125 Mit diesen Daten als Grundlage war es mir möglich, unter spezifischer Fragestellung exemplarisch die Kosten- und Belastungsstrukturen kommunaler Armenetats durch krankheitsbedingte Aufwendungen zu untersuchen, um damit deren Bedeutung innerhalb der Armenfürsorge insgesamt bewerten zu können. Die notwendigen statistischen Arbeiten wären im Rahmen dieser Arbeit kaum zu leisten gewesen, ihre Auswertung zeigt umso deutlicher den Erkenntnismehrwert bewusst ergänzend angelegter Studien. Gliederung Im Anschluss an den einführenden Teil, in dem Anlage, Gegenstand und Untersuchungsgebiet der Studie vorgestellt werden, teilt sich die vorliegende Arbeit in zwei Teiluntersuchungen zu Strukturen der ländlichen Gesundheitsversorgung, insbesondere der Armenkrankenpflege im zweiten, sowie die Praxis der Armenkrankenpflege aus Sicht der betroffenen Kranken im dritten Teil. Ein abschließender Teil fasst die Ergebnisse der Teiluntersuchungen noch einmal zusammen. Der zweite Teil der Arbeit behandelt die Institutionen der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum mit besonderem Blick auf ihre Bedeutung für die Versorgung kranker Armer. Diese Bedeutung konnte sich der grundsätzlichen Absicht der Einrichtung nach ergeben – so etwa im Fall der Armenärzte – aber auch erst aus ihrer praktischen Erscheinungsform – wie etwa bei den CaritasBesucherinnen. Absicht dieses Teils der Untersuchung ist es gleichermaßen das Spektrum gesundheitlicher Einrichtungen im ländlichen Raum aufzuzeigen, wie auch die spezifischen Institutionen der Armenkrankenpflege darin zu verorten, um so den Stellenwert der Armenkrankenpflege in Relation zu anderen gesundheitsbezogenen Hilfseinrichtungen bewerten zu können. Dabei geht es in der Untersuchung wie der Darstellung aber nicht um eine Momentaufnahme, Ziel ist vielmehr, Entwicklungsprozesse der ländlichen Gesundheitsversorgung und Armenkrankenpflege im Untersuchungszeitraum sichtbar werden zu lassen. Das erste Kapitel behandelt die Situation bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen hier vor allem die im 19. Jahrhundert eingerichteten Systeme der gesundheitlichen (Armen-)Hilfe in Gestalt des Distriktarztwesens und der Bezirkshebammen. Zudem richtet sich der Blick auf die Bedeutung und Verbreitung der Laienheilkundigen als komplementäre Anbieter im Kontext gesundheitlicher Hilfe. Im zweiten Kapitel stehen die ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts im Zentrum, die sich in mehrfacher Hinsicht als Übergangsphase erweisen. Detaillierter untersucht werden 125 Marx, Armenfürsorge [Dissertation], Anhang, darin: Unterstützungsanträge (Gewährungen und Ablehnungen) für die Gemeinden Lieser (368–370), Maring-Noviand (376–377), Wehlen (383–384), Kesten (390), Bürgermeisterei Zeltingen (397–398).

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hier neben den Veränderungen im Distriktarztsystem vor allem die konfessionellen Einrichtungen gesundheitlicher Hilfe, insbesondere in der stationären Armenkrankenpflege, sowie neu entstehende Einrichtungen etwa im Rettungswesen. Ebenfalls in diesem Kapitel werden Strukturen und Leistungen der neuen Krankenversicherungen im ländlichen Raum näher untersucht. Gegenstand des dritten Kapitels schließlich sind in zeitlicher Hinsicht die Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, inhaltlich richtet sich der Blick neben Veränderungen in den zuvor untersuchten Feldern im Besonderen auf Möglichkeiten der Selbsthilfe im Krankheitsfall. Das vierte Kapitel dient einer abschließenden Zusammenfassung und Bewertung der Ergebnisse des ersten Untersuchungsteils. Der dritte Teil der Studie versucht anschließend, den Weg der betroffenen kranken Armen von ihrer Erkrankung bis zur Behandlung und deren Finanzierung nachzuzeichnen. Dabei konzentriert sich dieser Teil in erster Linie auf die Einrichtungen der Armenkrankenpflege im engeren Sinne, vor allem also die Behandlung durch Armenärzte. Die Rolle anderer Einrichtungen und Personen kommt dabei ergänzend zur Sprache, wenn sich aus den Quellen Hinweise auf sie ergeben. Diese Beschränkung ergibt sich vor allem aus der Qualität der zugrundeliegenden Quellen, die vornehmlich im administrativen Kontext entstanden sind. Einführend steht diesem Teil ein Abschnitt zur Bewertung von Armenbriefen als Quelle dieser Untersuchung voran. Die Kapitel fünf bis sieben stellen in ihrer Darstellung deutlich den Krankheitsaspekt in den Mittelpunkt; die Betroffenen werden hier stärker in ihrer Eigenschaft als Kranke, denn als Arme wahrgenommen. Insofern ist die Studie in diesen Kapiteln als Versuch einer Patientengeschichte im ländlichen Raum zu verstehen. Sicherlich richtet sich der Blick hier auf eine sehr spezifische Gruppe innerhalb der ländlichen Gesellschaft126, dennoch wird abschließend zu bewerten sein, inwiefern sich die hier gewonnenen Erkenntnisse auch auf andere Patientengruppen im ländlichen Raum übertragen lassen. Gleichzeitig soll in diesem Teil der Arbeit bewusst auf die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen in – und gegebenenfalls außerhalb127 – der Armenkrankenversorgung geblickt werden. Das fünfte Kapitel fragt zunächst nach dem „Was“ von Heilung, d. h. den Krankheitsvorstellungen und Krankheitsdeutungen der Beteiligten. Ebenfalls an dieser Stelle geraten erkennbare Deutungen des Zusammenhangs von Armut und Krankheit in den Blick. Im sechsten Kapitel geht es auf dem ‚Weg des Kranken’ nach der Erkenntnis der eigenen Krankheit anschließend um die Frage nach dem „Wo“ der Heilung. Untersucht wird hier, an wen sich Betrof126 Da der Zugang hier über die Auswahl einer bestimmten Gruppe, nämlich armer Kranker, geschieht, ist der Begriff der „Patientengeschichte“ hier angebrachter als eine Untersuchung der „medikalen Kultur“. Vgl. Wolff, Perspektiven, S. 313. Zum Begriff der „Medikalkultur“ siehe insbesondere Wolff, Pockenschutzimpfung. 127 Dinges, Sozialdisziplinierung, S. 9 verweist im Zusammenhang der Diskussion um das Sozialdisziplinierungskonzept auf Formen der Selbsthilfe als geeigneten Gegenstand von Untersuchungen der „Widerstandspotentiale“ auf Seiten der Betroffenen.

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fene wandten und durch welche Faktoren ihre Entscheidungen beeinflusst wurden. Daraus folgend steht im siebten Kapitel die Frage nach dem „Wie“ der Heilung, also der praktischen Begegnung zwischen Heiler und Krankem im Mittelpunkt. Wo findet Behandlung konkret statt, wie sieht eine Behandlung aus? Sind Veränderungen in diesen Bereichen erkennbar und wie werden diese von den Betroffenen wahrgenommen? Die Kapitel acht und neun richten den Blick dann wieder stärker auf die armenspezifischen Aspekte der Armenkrankenpflege, insbesondere die Frage nach der Finanzierung einer Behandlung und deren Aushandlung zwischen den Beteiligten. Im achten Kapitel stehen dabei die finanziellen Belastungen im Vordergrund. Hier wird untersucht werden, mit welchen Kosten arme Kranke zu rechnen hatten und wie groß deren Anteil an Einkommen und Vermögen war. Auf der anderen Seite richtet sich der Blick auch auf die Bedeutung der Armenkrankenpflege für die Belastung der kommunalen Armenetats. Schließlich ist hier auch der Platz, um nach den konkreten Auswirkungen der Sozial-, vor allem der Krankenversicherung für beide Seiten zu fragen. Wirkten die Versicherungen wirklich entlastend? Ausgehend von der so sichtbar werden­ den Interessenlage der Beteiligten behandelt das neunte Kapitel dann Mechanismen und Prozesse der Aushandlung zwischen denselben. Auf welche Weise bemühen sie sich, ihren Anliegen Geltung zu verschaffen? Inwiefern können vor allem die Armen ihre Interessen durchsetzen? Wie wirkten sich hier die veränderten Ansprüche in den Sozialversicherungen aus? Schließlich ist auch zu fragen, worin die besondere Funktion oder Qualität von Krankheit im Rahmen dieser Aushandlungen bestand. Am Ende dieses Kapitels werden detailliertere Analysen einiger besonders prägnanter Fälle das Spektrum der Verhaltensweisen der Beteiligten aufzuweisen versuchen, bevor die Ergebnisse des zweiten Untersuchungsteils im zehnten Kapitel noch einmal zusammengefasst werden. Den Schlussteil der Arbeit wird dann der Versuch bilden, in Form einiger Thesen als Fazit und Ausblick Antworten auf die eingangs formulierten leitenden Fragestellungen zu geben. Forschungsstand Krankheit und Armut standen historisch lange Zeit in enger Wechselbeziehung zueinander.128 Krankheit war zeitgenössischen Aussagen zufolge auch im hier untersuchten Zeitraum noch immer eine zentrale Armutsursache.129 Erst im Laufe der Jahre hat Krankheit in den westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten ihren ökonomischen Schrecken weitgehend verloren.130 128 Die verschiedenen Zusammenhänge von Armut, Krankheit und Arbeit systematisch darzustellen, unternimmt Dross, Diskussion. 129 Vgl. Redder, Armenhilfe, S. 107–108. Moser, Volksgesundheit, S. 40–41 zufolge war nach Gottstein Krankheit in rund 58% der Fälle der „bedürfnisauslösende Faktor“. 130 Armut wird in der heutigen öffentlichen Debatte bezeichnenderweise fast ausschließlich mit Arbeitslosigkeit in Verbindung gebracht.

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Vor diesem Hintergrund ist es durchaus überraschend, dass die Armenkrankenpflege als Komplex der institutionellen, praktischen und sozialen Umstände des Umgangs mit Krankheit und Armut erst relativ spät in den Fokus der Forschung geriet.131 In der historischen Armutsforschung und in der Medizingeschichte – hier vor allem im Bereich der Sozialgeschichte der Medizin – haben sich in den letzten Jahren Untersuchungen zu verschiedenen Teilen dieses Komplexes etabliert. Dennoch beschränkten sich die einschlägigen Arbeiten beider Forschungszweige lange im Wesentlichen auf ihren jeweils ursprünglichen Gegenstand von Armut oder Krankheit. Das wohl prägnanteste Beispiel hierfür bieten die beiden Arbeiten von Calixte Hudemann-Simon, die sich für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert eigenständig mit der Armenversorgung und der Gesundheitsversorgung in den französischen rheinischen Departements beschäftigten, dabei aber jeweils zahlreiche Berührungen zum anderen Bereich aufwiesen.132 Vor einiger Zeit entwickelte sich im Bereich der Armutsforschung vermehrt der Alltag von Armen und Fürsorgeklientelen zu einem wichtigen Untersuchungsfeld.133 Die besondere Situation des Krankseins und die daraus resultierenden erhöhten Schwierigkeiten, den Alltag zu meistern, spielte in diesen Untersuchungen aber zumeist nur am Rande eine Rolle.134 Auch spezifische gesundheitliche Hilfseinrichtungen für die Betroffenen wurden im Rahmen derartiger Studien meist nur in institutioneller Form in den Blick genommen.135 Regionale oder ländliche Studien fehlen dabei fast völlig; für den

131 Vgl. Condrau, Patientenschicksal, S. 61. 132 Hudemann-Simon, Santé; Hudemann-Simon, Pauvres. 133 Gysin-Scholer, Krank; für den städtischen rheinischen Raum am Beispiel Kölns Finzsch, Obrigkeit. Gysin-Scholer, Krank; Crew, Germans, S. 8–9 betont den Wert einer alltagsgeschichtlichen Untersuchung um individuelle Erfahrungen von Fürsorgeklienten beleuchten zu können. Dabei durfte insbesondere die Armenfürsorge im ländlichen Raum bis zu Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge als „Stiefkind der Forschung“ gelten: Rheinheimer, Jakob Gülich, S. 225. Als wichtigste Forschungsüberblicke zur Fürsorge dürfen Rudloff, Souterrain (mit teils sehr ausführlichen Einzelbesprechungen einzelner Werke) und Wollasch, Tendenzen (auf dem Stand der frühen 1990er) gelten. Ein teilweise unvollständiger Überblick über die Armutsforschung bei Kühberger, Tendenzen. Speziell die jüngere Armutsforschung für die Frühe Neuzeit nimmt Dinges, Forschungstrends in den Blick. 134 Dinges, Stadtarmut; Blum, Armenfürsorge; Rheinheimer, Armut. Zissel, Gemünden als Untersuchung einer Hunsrückgemeinde. Mit Abstrichen gilt dies auch für die Studie von Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, die allerdings bei der Anlage schon davon ausgehen konnte, dass diese Thematik in der vorliegenden Arbeit gesondert untersucht würde. 135 Sievers/Zimmermann, Elend; Jütte, Armenfürsorge. Rheinheimer, Armut, S. 102 benennt Kranke und Alte als „Hauptteil der Anstaltsinsassen“ von Armenhäusern, untersucht aber nicht einmal den Anteil der diesbezüglichen Aufwendungen an den Armenausgaben. Blum, Armenfürsorge, S. 91–99, 156–158 behandelt medizinische Unterstützung in Form von Hospitälern und Armenbädern nur unter den „flankierenden Unterstützungsmaßnahmen“. Wollasch, Wohlfahrt und Region richten ihren Blick nicht spezifisch auf medizinische Versorgung.

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städtischen Kontext liegen einige Studien vor, die sich im besonderen Maße dem Armutsrisiko Krankheit widmen.136 Vermehrt erforscht wurden auch Verwaltungsprozesse und Verwaltungslogiken im Rahmen der (kommunalen) Fürsorge. Lokale Ausprägungen und Differenzierungen sind auch hier größtenteils anhand einzelner Stadtstudien zu erkennen, meist ausgerichtet auf das 19. Jahrhundert und die Jahre der Weimarer Republik.137 Inhaltlich durchaus komplementär dazu sind Arbeiten zu sehen, die Interessen und Einflüsse der Klienten der Armenfürsorge in den Mittel­punkt der Untersuchung gestellt haben.138 Sowohl in den Untersuchungen von Verwaltungsprozessen, wie auch in Studien zu den Aushandlungsprozessen blieben die Spezifika krankheitsbezogener Fürsorge als Fragestellung bisher aber praktisch unberücksichtigt. In der Sozialgeschichte der Medizin als dem Zweig der medizinhistorischen Forschung, der sich in besonderem Maße den sozialen Kontexten von Medizin widmet139, war die enge Verbindung von Armut und Krankheit hingegen von Beginn an deutlicher sichtbar. Bereits in frühen sozialhistorisch ausgerichteten medizinhistorischen Studien zu epidemiologischen Entwicklungen wurden Morbidität und Mortalität auf ungleiche gesellschaftliche Ressourcen-

136 Wagner, Armut und Krauss, Armenwesen stellen vor allem die stationären Einrichtungen der Armenkrankenpflege in den Vordergrund. Ähnlich auch Förtsch, Armenfürsorge und Gysin-Scholer, Krank. Dross, Krankenhaus untersucht für Düsseldorf explizit auch die ambulante Armenkrankenversorgung durch den Armenarzt, allerdings nicht als zentralen Gegenstand seiner Arbeit. Für den hier untersuchten Raum hat Calixte HudemannSimon einige grundlegende Studien für das 18. und 19. Jarhhundert vorgelegt: Hudemann-Simon, Saarregion; Hudemann-Simon, Gesundheitspolitik; Hudemann-Simon, Pauvres; Hudemann-Simon, Santé. 137 Übergreifend Abelshauser, Wohlfahrtsstaat und Hong, Welfare, insbesondere für die politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Zeit. Als lokale Studien: Eser, Verwaltet (Augsburg), Küster, Armut (Münster); Kaiserreich und Weimar: Rudloff, Wohlfahrtsstadt (München), Jans, Sozialpolitik (Ulm); Brüchert-Schunk, Sozialpolitik (Mainz). Für die Zeit der Weimarer Republik sind vor allem die Arbeiten im Zusammenhang des Schwerpunktprogramms „Die Stadt als Dienstleistungszentrum“ zu nennen, bspw. Brandmann, Klassenkampf; Paulus, Volkskörper (Leipzig, hauptsächlich NS-Zeit). 138 Dinges, Aushandeln; Crew, Germans. David Crew nutzt zudem Beschwerdekorrespondenzen von Antragstellern als Quellen. 139 Den nach wie vor besten Überblick über Entwicklungen und Themen der Sozialgeschichte der Medizin bietet Labisch/Spree, Neuere Entwicklungen. In vielen Details und Forschungsforderungen, nicht aber der grundlegenden Darstellung inzwischen überholt ist Jütte, Sozialgeschichte. Diese Überblicke führt für die neueste Forschung, vor allem mit Blick auf Frankreich und Deutschland, Dinges, Towards fort. Eine umfassende Einführung in verschiedenste Inhalte und Aspekte der Medizingeschichte im Allgemeinen bieten Paul/Schlich, Medizingeschichte und Schnalke/Wiesemann, Grenzen, stärker wissenschaftshistorisch angelegt ist Bröer, Medizinhistoriographie. Jüngste Standortbestimmungen der Medizingeschichte in Labisch, Medizingeschichte und Labisch, Historizität. Paul/ Schlich, Einführung, S. 10 stellt besonders gegenseitige Profite von allgemeiner Historiographie und Medizinhistoriographie heraus. Dazu auch Fetter, Health Science.

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verteilungen rückbezogen.140 Auch in der Erforschung der (Sozial-)Geschichte einzelner Krankheiten nahm die ‚Armenkrankheit’ Tuberkulose einen der vorderen Plätze ein.141 In den 1980er Jahren fand die in der Armutsforschung geführte Diskussion um die Sozialdisziplinierungsthese Gerhard Oestreichs142 ihre medizinhistorische Ausprägung in den Auseinandersetzungen um das Konzept der sogenannten Medikalisierung, der zwanghaften Übertragung medizinischer Normen in das Alltagsleben breiter (unterer) Gesellschaftsschichten durch Ärzte und Staat.143 Diese einseitige Interpretationslinie kritisierte Francisca Loetz und stellte dagegen ihr an Simmel angelehntes Konzept einer Medikalisierung als „Produkt gegenseitiger Einflussnahmen“ von Staat, Heilkundigen und Kranken.144 Auch in diesem Zusammenhang gerieten als erste soziale Gruppe die gesellschaftlichen Unterschichten in den Fokus der Betrachtungen, allerdings wurde die alltagspraktische Bedeutung von Krankheit und Armut hier quellenbedingt eher spekulativ behandelt.145 Schließlich waren auch in der sozialhistorischen Untersuchung der Krankenhäuser und ihrer Patienten Arme die ersten Objekte einer gruppenbezogenen Patientengeschichte, welche sich zudem bemühte, die Perspektive der Betroffenen zu berücksichtigen.146 Im Zuge einer differenzierten Betrachtung einzelner Armutsrisiken und Gruppen von Armen wurde die zentrale Rolle deutlich, welche die Armenfürsorge für die Entwicklung der modernen Gesundheitsversorgung hatte.147 Be140 Imhof/Larsen, Sozialgeschichte; Blasius, Perspektiven. Bereits im Titel darauf Bezug nehmend Spree, Ungleichheit, der aber eher an Entwicklung der Armensituation innerhalb der „Volksgesundheit“ interessiert ist, als an der konkreten Gruppe der Armen selbst. 141 Vögele, Reformen; Hähner-Rombach, Tuberkulose,Condrau, Patientenschicksal; Condrau, Lungenheilanstalten. 142 Einen Überblick über die Debatte in Wollasch, Tendenzen und Jütte, Disziplin, darin vor allem eine Entgegnung auf die kritische Stellungnahme von Dinges, Sozialdisziplinierung. Die Bedeutung des normorientierten Konzepts auch für den hier untersuchten Zeitraum relativierte Peukert, Sozialdisziplinierung. 143 Frevert, Krankheit; Göckenjan, Kurieren. Die Interessenübereinstimmung von Ärzten und Staat betont besonders Labisch, Homo, S. 104. Nach Labisch/Spree, Neuere Entwicklungen, S. 196–197 waren Sachsse/Tennstedt, Armenfürsorge in diesem Zusammenhang mit dem Konzept der „sozialen Sicherung als soziale Disziplinierung“, deren sozialisatorische Wirkung nicht von Zwang, sondern Bedürfnisweckung nach sozialer Absicherung ausging, „bahnbrechend“. 144 Loetz, Patienten, Zitat S. 148. Vgl. dazu auch die scharfe Kritik in Labisch/Spree, Neuere Entwicklungen, S. 307. Zum variierenden Begriff der Medikalisierung und einer detaillierteren Begründung ihres „Vergesellschaftungskonzepts“ dann Loetz, Medikalisierung. Den Gegenseitigkeitscharakter des Prozesses betont jüngst auch Digby, Making, S. 301. 145 Vgl. Loetz, Patienten, S. 69, die den Einbezug der Armenversorgung in ihre Untersuchung explizit mit dem Verweis auf die Disparität des Quellenmaterials unterließ. In den Blick geriet hier zudem vor allem die städtische Unterschichtbevölkerung. Demgegenüber forderte Labisch, Einführung den Blick auf den „nicht medikalisierten“ (S. 8), da in der Entwicklung verzögerten dörflichen Raum. 146 Früh beispielsweise Elkeles, Krankenhaus. 147 Zur Betrachtung von Risiken und der Vielfalt von Armengruppen siehe Leeuwen, Risk.

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zeichnend für diese spezifische gegenständliche Nähe steht die Parallele von „Health Care and Poor Relief“ in den Einzelbandtiteln der von Ole Peter Grell und Andrew Cunningham herausgegebenen Darstellung der Entwicklungszusammenhänge von Krankenversorgung und Armenfürsorge vom 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.148 Trotz dieser Annäherung in den beiden Forschungsrichtungen sind Studien zu den lokalen Auswirkungen dieses Prozesses immer noch Mangelware.149 Zudem blieb die Nachfragerseite und Akteursrolle von Kranken trotz einer prinzipiellen Anerkennung der Reziprozität des Medikalisierungsprozesses immer noch wenig bearbeitet.150 Als besterforschte Akteursgruppe im Bereich der Medizin dürfen zweifelsohne die (akademischen) Ärzte gelten. Ihre Professionalisierung, ihr Gewinn an Deutungskompetenz und ihre Standespolitik waren Gegenstand zahlreicher Publikationen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte.151 Allerdings konzentrierten sich die entsprechenden Studien auch in diesem Fall besonders auf den städtischen Raum, hingegen blieben die Vorstellungen von ärztlichem Wirken auf dem Lande im Wesentlichen von Memorialliteratur geprägt.152 Diese Lage ist auch dadurch bedingt, dass Krankenjournale und ähnliche aussagekräftige Quellen über das Geschehen in einer Arztpraxis für ländliche Gegenden kaum vorhanden sind.153 Eine glückliche Ausnahme ist in dieser Hinsicht das Kran148 Grell/Cunningham, Protestant Europe; Grell u.a., Counter-Reformation Europe; Grell/ Cunningham, Health Care; Grell u.a., Southern Europe. 149 Früh, aber vor allem deskriptiv die Auflistung von Einrichtungen der Armenkrankenpflege in verschiedenen deutschen Staaten bei Achinger, Sozialgesetzgebung. 150 Beispielsweise sieht Stolberg, Heilkundige mit Blick auf die zentrale Bedeutung von „Machtbeziehungen und legitimierenden Diskurs“ (S. 72) die Nachfrage nach ärztlicher Medizin zwar als echtes Bedürfnis der Betroffenen, welches aber vornehmlich durch die kulturelle Hegemonie der „befürwortenden Schichten“ eines Modernisierungsprozesses bestimmt gewesen sei (S. 81–82). Als „kultureller Aushandlungsprozess“ erscheint Medikalisierung auch bei Lachmund/Stollberg, Patientenwelten. Die lange Zeit machtzentrierte Perspektive auf Medikalisierungsprozesse kritisierte in einem Überblick über die jüngere Forschung Dinges, Towards, S. 218–224 und kürzlich erneut Dinges, Arztpraxen, S. 25–26. 151 Zur Professionalisierung grundlegend Drees, Ärzte; Huerkamp, Ärzte. Zum Deutungsmachtgewinn Labisch/Spree, Deutungsmacht, darin insbesondere Huerkamp, Wandel. Zahlreiche Aspekte behandeln die Beiträge in Jütte, Ärzteschaft, darunter auch zentrale „politische“ Elemente der Professionalisierung etwa in Jütte, Vereinswesen oder HeroldSchmidt, Interessenvertretung. Zur sogenannten „Kassenarztfrage“ Seidel, Kassenarzt und vergleichend Tamm, Ärzte; Tamm, Krankenversicherung. 152 Etwa Girtler, Landärzte. Als prägend darf hier vor allem Kussmaul, Jugenderinnerungen gelten. Nach Dinges, Arztpraxen, S. 28 beeinflusst dessen Darstellung noch heute die herrschenden Vorstellungen über eine ländliche Arztpraxis. Als frühe Untersuchung ärztlichen Wirkens ist Vieler, Arztpraxis mit Beispielen aus dem ländlichen Raum des 19. Jhdts. zu nennen. Für den englischen Raum hat hingegen Anne Digby ärztliches Wirken in Stadt und Land untersucht: Digby, Making; Digby, Evolution. Lokalgeschichtliche Studien für den hiesigen Raum sind Boll, Apotheke und Freis, Gesundheitsdienste. 153 Eine umfassende Untersuchung einer Landarztpraxis aufgrund derartiger Quellen lediglich bei Duffin, Langstaff.

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kenjournal des Taufer Landarztes Ottenthal, welches im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes an der Universität Innsbruck ausgewertet wird.154 Ähnlich verhält es sich mit Untersuchungen der spezifischen Funktion des Armenarztes, die sich bisher ebenfalls in erster Linie auf ärztliche Quellen stützten.155 Erst in jüngerer Zeit ist auch im Bereich der Erforschung der ärztlichen Praxis der Blick auf die Interaktionen der Beteiligten und die umfassende Einbettung des jeweiligen Arztes in sein soziales Umfeld zum Gegenstand von Studien geworden.156 Martin Dinges hat den Wert derartiger Ansätze jüngst in seiner Forderung nach „Biographien“ von Arztpraxen als Untersuchung der Arztpraxis als Schnittstelle von Angebot und Nachfrage medizinischer Leistungen noch einmal bekräftigt.157 Weit weniger gut erforscht sind die verschiedenen Gruppen von Laienheilkundigen, was allerdings angesichts der inneren Vielfalt dieser Gruppe wenig verwundert.158 Die jüngere Forschung hat – in Analogie zur Erforschung der Entwicklung bei den Ärzten – vermehrt Etablierungs- und Professionalisierungsbestrebungen der Laienheiler anhand einzelner Heilergruppen oder Personen untersucht.159 Am weitesten fortgeschritten sind heute wohl die Forschungen im Bereich der Homöopathiegeschichte, die insbesondere mit dem Namen des Robert-Bosch-Instituts für Geschichte der Medizin in Verbindung stehen.160 Lokale und regionale Untersuchungen zur Verbreitung von Laienheilern sind dagegen bisher nach wie vor selten.161 Selbiges gilt auch für andere Heilkundige wie Hebammen oder Krankenpflegerinnen.162 154 Dietrich-Daum, Historiae Morborum; Taddei, Ottenthal; Unterkircher, Praxis. 155 Für den englischen Fall hier besonders bei Digby, Making. Für Hessen-Nassau hat kürzlich Weber-Grupe, Gesundheitspflege Strukturen der Armenkrankenpflege näher in Augenschein genommen. 156 Stolberg, Ländliche Patienten; Stolberg, Patientenschaft. 157 Dinges, Arztpraxen, S. 25 in Anlehnung an Duffin, Langstaff. 158 Vgl. das Spektrum der Laienheilkunde in Jütte, Alternative Medizin, konzeptionelle Kritik dazu bei Labisch/Spree, Neuere Entwicklungen, S. 196; Probst, Heiler; Labouvie, Verbotene Künste zu Volksmagie im Saarraum; Stolberg, Heilpraktiken; Stolberg, Homöopathie zur Heiltätigkeit von Klerikern; Simon, Volksmedizin zur Volksmedizin, zum problematischen Begriff der „Volksmedizin“ als Distinktionsbegriff eines privilegierten medizinischen Diskurses gegenüber heilkundlichen Vorstellungen breiter Bevölkerungsschichten siehe Stolberg, Probleme. Ein Überblick über die Forschung in Jütte, Non-Conventional. 159 Sander, Handwerkschirurgen; Regin, Naturheilbewegung; Teichler, Charlatan; Dinges, Bewegungen; Faltin, Wenz. Aus systemtheoretischer Perspektive nähert sich Stenzel, Differenzierung den Konflikten zwischen Ärzten und Laienheilkundigen im Verlauf des ärztlichen Professionalisierungsprozesses. 160 Hier nur eine Auswahl jüngerer Publikationen: Dinges, Patients; Dinges, Homöopathie; Dinges/Jütte, Hahnemann; Jütte, Hahnemann. 161 Früh, aber vornehmlich deskriptiv Reupke, Nichtapprobierte, zudem mit der Region Hamburg in einem eher städtisch geprägten Untersuchungsraum und kaum mit Aussagen für die Zeit nach 1870. Im Kontext der Aberglaubensforschung behandelt auch Freytag, Aberglauben verschiedene Praktiken der Laienheilkunde. Als Darstellung für den hiesigen Untersuchungsraum Többen, Gesundheitsverhältnisse. 162 Auch die Forschung zur Geschichte der Geburtshilfe war lange durch die Betrachtung „großer“ Mediziner und deren geburtshelferischer Erkenntnisse geprägt und später unter

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Lange Zeit kaum als relevante Akteursgruppe beachtet waren die Kranken oder Patienten selbst. Seit Roy Porters Aufforderung, eine Geschichte des Patienten als notwendigen Bestandteil der Sozialgeschichte der Medizin zu etablieren, ist in diesem Bereich jedoch viel geschehen, und die Patientengeschichte darf heute als ernstzunehmender Teil der Sozialgeschichte der Medizin gelten.163 Dabei wurden die Aspekte von Wahrnehmung und Interaktion im Laufe der Zeit zunehmend wichtiger.164 Die in der 1980er Jahren diskutierte These der kulturellen Distanz zwischen Arzt und Patient ist heute weitgehend überholt165, auch den Kranken selbst wird heute Handlungsmacht im Verhältnis zu ihrem behandelnden Gegenüber zugestanden.166 Die jüngste Entwicklung in der Sozialgeschichte der Medizin hat die Untersuchungsperspektiven schließlich noch stärker individualisiert. Unter Einfluss der Neuen Kulturgeschichte167 entstand mit der Körpergeschichte eine Forschungsrichtung, die sich explizit die individuelle Wahrnehmung von Körper, Krankheit und Schmerz bei den Betroffenen zum Gegenstand erkoren

dem Einfluss feministischer Forschungen durch eine Dichotomisierung von Gegensätzen (Männer-Frauen, Wissenschaft-Tradition) geprägt. Siehe dazu ausführlich Schlumbohm, Einleitung. Zur Geburtshilfe in städtischen Kontexten siehe Schlumbohm, Lehranstalt; Schlumbohm/Wiesemann, Entstehung. Erst in jüngerer Zeit wurden auch Lebenssituation und Wirken von Hebammen im ländlichen Raum genauer untersucht. Hier ist vor allem Eva Labouvie zu nennen, die für diesen Bereich sowohl erste Pionierarbeit geleistet, wie auch die in der Folge gewonnenen Erkenntnisse systematisch zusammengeführt hat: Labouvie, Selbstverwaltete Geburt; Labouvie, Beistand. 163 Wolff, Perspektiven, S. 312. Vgl. auch Sander, Medizin. Wolff stellt auch konzeptionelle Überlegungen zur Patientengeschichte an. Siehe dazu Teil III, Zum Quellenwert der Armengesuche. 164 Stollberg, Health; Lachmund/Stollberg, Patientenwelten; Stolberg, Abführmittel. Aus psychologischer und soziologischer Perspektive im Hinblick auf das 20. Jahrhundert Fitzpatrick u.a., Experience; Herzlich/Pierret, Kranke. 165 Huerkamp, Ärzte; Frevert, Krankheit; Drees, Ärzte. 166 Lachmund, Körper; Pankoke, Solidaritäten; Condrau, Lungenheilstätten, insbes. S. 227– 228, Rothman, Shadow. Letztere beiden vor allem für die Handlungspotentiale der Patienten im Fall der ‚Armenkrankheit’ Tuberkulose. Unterkircher, Pocken am Beispiel der Auseinandersetzungen um die Pockenimpfung im Tiroler Raum im 19. Jarhhundert zudem mit der expliziten Absicht einer „mikroanalytischen Perspektive“, welche die angebliche Macht der medizinischen Akteure [relativiert], indem sie den vorhandenen Unsicherheiten der regionalen Sanitätspersonen (…) ausreichend Raum bietet.“ (S. 44). Zu den Quellen der Patientengeschichte siehe den weiter unten stehenden Quellenabschnitt im Forschungsbericht 167 Dazu im Rahmen von Überlegungen zur Nutzung unterschiedlicher sozialhistorischer Ansätze in der Sozialgeschichte der Medizin Paul, Programm, insbes. S. 67–69; Labisch, Medizingeschichte. Die Literatur zu Begriff und Inhalten der Neuen Kulturgeschichte ist überaus reich, daher hier nur eine (subjektive) Auswahl. Eine allgemeine Übersicht bietet Conrad/Kessel, Geschichte schreiben; themenorientiert Daniel, Kulturgeschichte, stärker methodenorientiert: Bachmann-Medick, Cultural turns; speziell für die Wirkungen der Neuen Kulturgeschichte in der Medizingeschichte Borck, Anatomien; Lorenz, Konstruktion; Schnalke/Wiesemann, Grenzen; Bröer, Medizinhistoriographie; Chadarevian/Hagner, Ansichten.

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hat.168 Zudem gerieten vermehrt auch die Probleme einer umfassenden Bewältigung von Krankheit und ihren Folgen für den einzelnen Betroffenen wie das gesellschaftliche Umfeld in den Blick.169 Auch in der Patientengeschichte hat aber eine explizite Untersuchung armer Patienten und ihrer besonderen Situation bisher nur wenig Raum gefunden. Die von Porter geforderte „medical history from below“ ist in weiten Bereichen immer noch eine „Medizingeschichte der Mitte“ geblieben.170 Sozialgeschichtliche Forschungen haben seit den 1980er Jahren, angestoßen von englischen, französischen und US-amerikanischen Arbeiten, auch in der Geschichte des Krankenhaus- und Hospitalwesens zusehends an Bedeutung gewonnen. War die Geschichte der stationären Krankenversorgung in Deutschland bis dato vor allem als Baugeschichte betrieben worden171, wurden nun auch die dort wirkenden Akteure stärker in den Blick genommen172, wobei früh die Bedeutung der Krankenhäuser für die Versorgung unterer gesellschaftlicher Schichten in den Blick geriet.173 Die Entwicklung der Hospitäler und Krankenhäuser wurde seitdem unter zahlreichen Aspekten vor allem für das 19. Jahrhundert untersucht.174 Dennoch steht eine Analyse der Lebenswelt und des Alltags von Hospital- und Krankenhauspatienten aus deren eigener Perspektive noch weitgehend am Anfang.175 168 Stolberg, Homo patiens, insbesondere die Einleitung mit konzeptionellen Überlegungen und Stolberg, Körpergeschichte. Ein Überblick über das Forschungsfeld der Körpergeschichte bei Ellerbrock, Körper-Moden. Aus männlicher Genderperspektive dazu jüngst Dinges, Männlichkeit. 169 Woodward/Jütte, Coping 1; Woodward/Jütte, Coping 2; Woodward/Jütte, Coping 3. 170 Stolberg, Homo patiens, S. 66; Stolberg, Ländliche Patienten. Stolberg bemängelt dies insbesondere im Hinblick auf eine ländliche Medikalkultur, der diese Sichtweise nicht gerecht werde. Jüngst ebenso Vanja, Bittschriften. 171 Einschlägig dazu Murken, Geschichte. 172 Hier sind vor allem die Arbeiten Johanna Blekers und Eva Brinkschultes: Bleker, Krankenhausgeschichtsschreibung; Bleker u.a., Juliusspital; Bleker, Benefit; Brinkschulte, Krankenhaus, letztere unter Einbezug der Auswirkungen von Versicherungen. 173 Elkeles, Patient; Spree, Krankenhausentwicklung; Bleker, Benefit. Neuerdings dazu Dross, Krankenhaus, S. 49–54, der die „Medicinische Policey“ des 18. Jahrhunderts als qualitative Komponente der Peuplierungspolitik deutet. Für ländliche Verhältnisse in Frankreich vgl. dazu auch Hufton, Poor, S. 139–159. 174 Labisch, Sozialgeschichte; Spree, Krankenhausentwicklung; Labisch/Spree, Jedem Kranken. Einen europabezogenen Überblick über die Entwicklungen – nicht nur der Krankenhausgeschichte – unternimmt Hudemann-Simon, Eroberung. Eine umfassende Zusammenstellung aktueller und bisheriger Forschungsergebnisse zur Krankenhausgeschichte bietet Labisch/Spree, Krankenhausreport. Die neueste Forschung widmet sich vor allem der Frage nach der Finanzierung und Ökonomisierung des Krankenhauswesens. Vgl. dazu besonders Labisch/Spree, Einführung, S. 7–9; Wagner, Finanzierung; Vögele u.a., Armenwesen. Bemerkenswert ist auch der Ansatz einer neuen „Entstehungsgeschichte“ des Krankenhauses bei Dross, Krankenhaus, der nicht eine erfolgreiche Krankenhausgründung untersucht, sondern am Beispiel der Stadt Düsseldorf vor allem die zahlreichen erfolglosen Anläufe einer Krankenhausgründung und deren Aussagekraft untersucht. 175 Einen Überblick über die Rolle von Krankenhauspatienten in verschiedenen Epochen bietet Spree, Armenhaus. Trotz ihres vielversprechenden Titels untersucht Bleker, Kran-

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Als gut erforscht, darf auch das Untersuchungsfeld „Stadt und Gesundheit“ gelten176, wobei die dortigen Ergebnisse aufgrund der ungleich höheren Ausdifferenzierung der Gesundheitsversorgung im städtischen Bereich des 20. Jahrhunderts nur sehr eingeschränkt auf den ländlichen Raum übertragen werden können.177 Für die Frühe Neuzeit hat Robert Jütte mit seiner Untersuchung der Kölner Gesundheitsversorgung eine Studie vorgelegt, die für den städtischen Fall vorbildhaft ärztliche und nichtärztliche Anbieter ebenso wie die Perspektive der Kranken selbst einzubeziehen versucht.178 In ähnlicher Weise ist auch die Arbeit von Annemarie Kinzelbach angelegt, die die Bedeutung von Krankheit und Gesundheit für politisches Handeln wie individuelle Erfahrung thematisiert.179 Regional ausgreifendere Untersuchungen gesundheitlicher Versorgung sind hingegen nach wie vor selten und beschränken sich zumeist auf die ärztliche Perspektive bzw. ärztlich dominierte Einrichtungen.180 kenhausgeschichtsschreibung nicht die Patienten im Krankenhaus selbst, sondern analysiert anhand soziostruktureller Daten der Patienten den Charakter der Institution Krankenhaus. Eher strukturell nimmt auch Dross/Weyer-von Schoultz, Armenwesen die besondere Bedeutung des Krankenhauses für die Armenversorgung in Augenschein. Den Bedarf an einer Hospitalgeschichte unter stärker sozial und kulturell ausgerichteten Fragestellungen und dem Einbezug von Quellen aus der Perspektive der Patienten selbst hat jüngst Risse, Experience betont. 176 Mit entsprechendem Titel zeigen die Beiträge in Reulecke/Castell Rüdenhausen, Stadt und Gesundheit grundlegend verschiedene Handlungsfelder kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jhdt. vor dem Hintergrund des modernisierenden Wandels in Medizin, Sozialstruktur und Urbanität auf. Reulecke, Dienstleistungszentrum in Ergänzung des gleichnamigen Forschungsprogramms und weniger gesundheitsbezogen. Die Beiträge in Woelk/Vögele, Stadt untersuchen die konkrete Umsetzung gesundheitspolitischer Konzepte durch die kommunalen Handlungsträger. Als beispielhafte Umsetzung eines interdisziplinären und breiten Ansatzes in der Sozialgeschichte der Medizin ist nach wie vor Evans, Hamburg zu nennen, der allerdings ein singuläres Ereignis und nicht einen längeren Zeitraum beobachtet. Beeindruckend vor allem die Vielzahl von Quellen und Statistiken, etwa zum Verkauf von Eisenbahnfahrkarten um die Massenflucht kurz vor der amtlichen Bekanntgabe der Cholera und den anschließenden Verkehrszusammenbruch zu verdeutlichen. Vgl. Evans, Hamburg, S. 437–443. Als vergleichende Stadtstudien Vögele, Mortality und Witzler, Großstadt, letztere aber scharf kritisiert bei Labisch/Spree, Neuere Entwicklungen, S. 313–315, dort auch ein breiter Forschungsbericht aus Sicht der Sozialgeschichte der Medizin zu der Thematik. Überblicke über die jüngere Forschung dazu auch in Vögele, Gesundheitspolitik und Labisch/Vögele, Stadt. 177 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 47. 178 Jütte, Ärzte, Heiler. Seine Untersuchung der Patientenperspektive stützt er dabei vornehmlich das Tagebuch des Kölner Ratsherrn Herrmann Weinsberg, zieht aber auch Aussagen Angehöriger anderer gesellschaftlicher Schichten aus anderen Kontexten heran. Zu Darstellung und Umgang mit Krankheit und Gesundheit bei Weinsberg Jütte, Weinsberg. 179 Kinzelbach, Gesundbleiben. Ihre Untersuchung anhand der religiös unterschiedlich geprägten Städte Überlingen und Ulm im 16. und 17. Jahrhundert, sieht sie dabei als Möglichkeit „Phänomene der Gesellschaft in konzentrierter Form“ zu erfassen (15). 180 Einschlägig für die französische Zeit im hier untersuchten Raum ist Hudemann-Simon, Santé. Zu nennen ist zudem die unveröffentlichte Dissertationsschrift von Sabine Marx, die in Anlehnung an die Untersuchung des zentralfranzösischen Departement Seine-et-

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Auf die besondere Situation der diesbezüglichen Forschung zu Preußen wurde zuvor bereits hingewiesen.181 Disparat zeigt sich dagegen die Forschungslage im Hinblick auf die gesundheitsbezogenen Institutionen des modernen Wohlfahrtsstaates, insbesondere die Einrichtung der Sozialversicherungen.182 Auf nationaler Ebene darf diese als gut bis sehr gut erforscht gelten, dies gilt im Wesentlichen auch für vergleichende Studien.183 Darüber hinaus liegen Studien vor, welche die Krankenversicherung unter spezifischen Blickwinkeln oder im Rahmen weiterer Fragestellungen untersuchen.184 Wenig findet sich allerdings in der Forschung zur regionalen oder lokalen Reichweite und Ausprägung der Krankenversicherung185, zu internen Abläufen oder gar zur Sicht der Versicherten Oisne in Ackerman, Countryside die Ausbreitung naturwissenschaftlicher Medizinkonzepte für den Regierungsbezirk Trier untersucht hat: Marx, Scientific Medicine. Deutschland im 18. Jhdt. hat Lindemann, Health zum Gegenstand, die Verhältnisse im Frankreich des 16.–18. Jhdts. untersuchen Ramsey, France und Brockliss/Jones, Medical World. Allerdings stammen auch hier die Quellen vornehmlich aus höheren sozialen Schichten. Die Laienheilkundigen bezieht auch Weber-Grupe, Gesundheitspflege in ihrer insgesamt eher institutionen- und strukturenbezogenen Darstellung der Gesundheitsversorgung HessenNassaus ein. Vgl. dazu auch die Einleitung zu Teil II dieser Arbeit. 181 Siehe den Abschnitt zum Untersuchungsgebiet, S. 27. 182 Eine immer noch grundlegende Darstellung der Entwicklung staatlicher Gesundheitspolitik im Hinblick auf Strukturen wie dahinterstehende Gesundheitskonzepte ist Labisch/ Tennstedt, Weg zum GVG. Überlegungen zu einem Entwicklungsmodell gesundheitspolitischer Ausbauphasen in Kaiserreich und Weimarer Republik in Reulecke, Etappen und Reulecke, Sozialstaat. Zur Sozialversicherung, teilweise älteren Datums, Hentschel, Soziale Sicherung; Tennstedt, Sozialgeschichte; Tennstedt, Ausbau; Tennstedt, Selbstverwaltung; Hockerts, Hundert Jahre; Ritter, Soziale Frage. In der langen Dauer nimmt Metzler, Sozialstaat die Sozialversicherungen als Kernbestandteile des Sozialstaats in den Blick, vornehmlich aber am Gegenstand der Arbeitslosenversicherung. Vergleichend angelegt sind Ritter, Sozialversicherung und Köhler u.a., Sozialversicherung. Bezeichnend für die vorherrschende gedankliche Verbindung von Armut und Arbeitslosigkeit auch in der Forschung ist Alber, Armenhaus, S. 48–56. Obwohl er betont, dass Unfall- und Krankenversicherungen regelmäßig als erste Sozialversicherungen gegen klassische Armutsrisiken errichtet wurden, behandelt er in seiner Analyse westeuropäischer Entwicklungen doch primär die Arbeitslosenversicherung. 183 Deutsche Binnenvergleiche bei Frie, Wohlfahrtsstaat; Frie, Fürsorgepolitik; Hockerts, Drei Wege. Als Vergleiche zwischen unterschiedlichen nationalen sozialen Sicherungssystemen in den westlichen Industrienationen Ritter, Entstehung; Alber, Armenhaus (v.a. zu Sozialversicherungen) und neueren Datums Freeman, Politics mit Blick auf Strukturen und Finanzierung, sowie bereits erwähnt Grell u.a., Northern Europe, dessen Beiträge ihr Augenmerk vor allem auf die Armenkrankenversorgung richten. 184 Schagen, Vielfalt als Untersuchung politischer Bewertungen; Schleiermacher, Krankenversicherung mit Blick auf alternative Gestaltungsmodelle der Sozialversicherungen; Ellerkamp, Mutterschaftsversicherung. Zusammenhänge zu anderen Bereichen des Gesundheitswesens bei Brinkschulte, Krankenhaus (Krankenhäuser) und Labisch, Professionalism (Ärzte). 185 Die gewerblichen Unterstützungskassen als Vorläufer der gesetzlichen Krankenkassen untersucht Asmuth, Unterstützungskassen. Für den hier untersuchten Raum liegen lediglich einige kleine, rein deskriptive Arbeiten vor: Benz, Krankenversicherung; Lieser/Rinderle,

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selbst.186 Für die Gesundheitsfürsorge und ihre einzelnen Zweige liegen einige Studien zur Ausgestaltung auf regionaler und lokaler Ebene vor.187 Nach wie vor fehlen aber auch hier Untersuchungen, welche die Perspektive der jeweiligen Klientel ausreichend einbeziehen. Beständig erweitert wurde indes in den letzten Jahren sowohl in der Medizingeschichte als auch der Armutsforschung das Spektrum der benutzten Quellen. Für Letztere sind, neben jüngsten Versuchen, auch Medien wie Filme und Fotografien als Quellen zu nutzen188, vor allem Ego-Dokumente der Betroffenen als Gegenüberlieferung und Quelle für Wahrnehmungen der eigenen Situation bedeutsam geworden.189 Auch die hier benutzten Armenbriefe können darunter gezählt werden, sie eröffnen den Blick auf untere Gesellschaftsschichten, die sonst meist nur wenig aussagekräftige Quellen hinterlassen haben.190 Wesentliche Editions- und Auswertungsarbeiten hat hier die (früh-)neuzeitliche Forschung, insbesondere Thomas Sokoll, geleistet.191 In der Sozialgeschichte der Medizin bilden „klassische“ Quellen aus ärztlicher Hand, wie Physikatsberichte192, Krankenjournale oder Patientenakten zwar den „Königsweg zur Erforschung der ärztlichen Praxis“193, erschließen AOK; Schneider, AOK. Generell nur wenig erforscht scheinen die Landkrankenkassen. Vgl. Tennstedt, Ausbau, S. 229; Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 162. 186 Eine für die vorliegende Arbeit anregende Studie liegt mit Förtsch, Gesundheit, Krankheit vor. Folker Förtsch untersucht anhand der Verwaltungsakten der AOK Schwäbisch-Hall die inneren Strukturen und Abläufe einer lokalen Krankenkasse. Seine Betrachtung „von unten“ bemüht sich um die Perspektive der lokalen Kassenverwalter, nicht aber um die der anspruchnehmenden Mitglieder. Eine vergleichbare (Teil-)Studie war mir nicht möglich, da die entsprechenden Verwaltungsakten der Krankenkassen nicht mehr erhalten sind. 187 Stöckel, Gesundheitsfürsorge; Fehlemann, Gesundheitspolitik; Condrau, Patientenschicksal; Hauschildt, Trinkerfürsorge; Hauschildt, Neuer Zweig; Sauerteig, Geschlechtskrankheiten; Thomann, Krüppelfürsorge; Lilienthal, Kopfläuse. 188 Vgl. Krieger, Stick; Krebs, Films; Vogl-Bienek, Lantern. Weitere Versuche, neue Quellenarten in der Armutsforschung nutzbar zu machen in Gestrich u.a., Being poor, darin auch als Überblick Gestrich u.a., Introduction. 189 Schulze, Ego-Dokumente; Hitchcock u.a., Chronicling; Ulbrich, Zeuginnen; Ulbricht, Welt nutzt die wohl einzigartige Quelle eines aus dem Gefängnis geschmuggelten Kassibers. 190 Bräuer, Bittschriften, S. 301; Gysin-Scholer, Krank, S. 15. 191 Mit umfassender Einführung Sokoll, Pauper Letters. Weitere sind Sokoll, Armut; Sokoll, Old Age; Sokoll, Negotiating. Stärker auf formale Aspekte bezogen ist Sokoll, Writing. Zu Armenbriefen als Quelle ebenfalls Bräuer, Bittschriften; Taylor, Voices; Karweick, Tiefgebeugt. 192 Brügelman, Topographien; Beck, Oberfranken; Bender, Puls als Quellenedition von Physikatsberichten; als regionales Beispiel Többen, Gesundheitsverhältnisse; eher deskriptiv ausgewertet bei Völker, Lebenszyklus. Dinges, Arztpraxen, S. 34 schätzt vor allem die Kontextinformationen; Stolberg, Patientenschaft bewertet vor allem eine Verbindung statistischer und qualitativer Quellen als ergiebig. 193 Dinges, Arztpraxen, S. 38. Beispiele für Krankenjournalanalysen bieten Balster, Kortum; Thümmler, Alltag; Roilo, Historiae; Dietrich-Daum, Historiae Morborum. Eine frühe und umfassende Auswertung einer einzelnen Arztpraxis bei Duffin, Langstaff, dazu auch Dinges, Arztpraxen, S. 46–52.

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aber nur die ärztliche Perspektive auf Krankheit.194 In der jüngeren Vergangenheit haben daher auch Autobiographien oder Tagebücher als Quellen für die Sichtweise der Kranken und Patienten selbst Beachtung gefunden.195 Die­se stammen zumeist aber aus mittleren und höheren sozialen Schichten, die Perspektive von Angehörigen der unteren Schichten konnte aus solchen Quellen bisher nur in wenigen Fällen gewonnen werden.196 Diese Forschungslücke hat für das 18. Jahrhundert kürzlich Susanne Hoffmann mit ihrer patientenhistori­ schen Untersuchung des Tagebuches von Ulrich Bräker (1735–1798) wesentlich verkleinert.197 Die ebenfalls ergiebige Quelle der Patientenbriefe wird zwar bis ins 19. Jahrhundert weniger exklusiv, doch vor allem im späten 19. und 20. Jahrhundert zugleich immer seltener.198 Zwar lassen sich auch obrigkeitliche Quellen „gegen den Strich“ lesen, doch bleibt darin letztlich der „Arme und Bedürftige (…) meist stumm.“199 Vor diesem Hintergrund stellt die vorliegende Studie insofern auch den Versuch dar, das Potential von Armenbriefen sowohl für die Erforschung von Ansichten, Interessen und Wahrnehmungen gesellschaftlicher Unterschich­ten, als auch für die Untersuchung bisher kaum zugänglicher Patientengruppen in der Sozialgeschichte der Medizin fruchtbar zu machen.200 Inwiefern diese Quellenart sich trotz ihres fragmentarischen Charakters zur Analyse von Krankheitswahrnehmungen und Interessenlage von Kranken eignet, wird daher ebenfalls ein Gegenstand der abschließenden Bewertung sein. Raum Die „Südliche Rheinprovinz“ Der Untersuchungsraum dieser Arbeit wurde zuvor schon mit dem „ländlichen Raum der südlichen Rheinprovinz“ in Gestalt der preußischen Regierungsbezirke Trier und Koblenz knapp umrissen. Diese Bezeichnung umfasst

194 Überblicke über die verschiedenen Quellenarten in der Medizingeschichte bei Dinges, Arztpraxen und älter Imhof/Larsen, Sozialgeschichte, S. 65–98. Zur Vorsicht bei der Interpretation ärztlicher Quellen mahnt Bleker, Krankheitsfaktor, S. 133. 195 Frühe Überlegungen dazu bei Lane, Diaries. Autobiographische Aufzeichnungen ziehen Beier, Experience; Jütte, Ärzte, Heiler; Lachmund/Stollberg, Patientenwelten; Lumme, Höllenfleisch heran; neueren Datums Souvignier, Würde und Ernst, Krankheit. Geschlechtsspezifisch auf Grundlage von Praxistagebüchern hingegen Duden, Haut. 196 Erste dementsprechende Ansätze aber schon bei Porter, Perceptions und Porter/Porter, Progress. Vgl. dazu auch Vanja, Bittschriften, S. 26. 197 Hoffmann, Bräker. Siehe dazu auch Teil III, Zum Quellenwert der Armengesuche. 198 Dinges, Arztpraxen, S. 32. 199 Jütte, Disziplin, S. 93–95. 200 Für den Bereich der Frühen Neuzeit dazu jüngst mit ersten Versuchen Vanja, Bittschriften. Vgl. dazu auch die Ausführungen zum Quellenwert der Armenbriefe in der Einleitung zu Teil III.

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gleichermaßen geographische wie politisch-administrative Aspekte und bedarf daher einer genaueren Erläuterung. In geographischer Hinsicht handelt es sich dabei um das in weiten Teilen von den Gebirgszügen von Eifel und Hunsrück sowie dem Moseltal geprägte Gebiet im Dreieck zwischen Koblenz am Rhein im Osten, Saarbrücken im Süden und der deutsch-luxemburgischen Grenze im Westen.201 Nachdem dieser Raum, zusammen mit anderen linksrheinischen Territorien, auf dem Wiener Kongreß 1815 Preußen zugesprochen worden war, wurde er mit der Bildung der Regierungsbezirke Trier und Koblenz am 22. April 1816 auch administrativ in das preußische Territorium eingegliedert.202 Diese Verwaltungskörperschaften wurden damit für Gebiete zuständig, welche zuvor nicht zum preußischen Territorium gehört hatten, sondern bis zur Eroberung durch französische Revolutionstruppen 1794/1795 Herrschaftsgebiete eigenständiger Territorialherren – etwa des Bischofs von Trier – gewesen waren.203 Der französischen Besetzung war 1801 die Annexion der linksrheinischen Territorien gefolgt. Bis zur Eroberung und seinerseitigen Annexion durch Preußen 1815/16 waren die hier untersuchten Gebiete damit staatsrechtlich im selbem Maße Teil der französischen Republik wie etwa die Provence oder das Gebiet um Paris. Bedeutsam war diese Zugehörigkeit vor allem im Hinblick auf tiefgreifende rechtliche Umgestaltungen. Mit der Einführung der „Cinq Codes“ – des Code civil (1804), des Code de procédure civile (1807), des Code de commerce (1808), des Code d‘instruction criminelle (1809), des Code pénal (1811) – und der Mairieverfassung im französischen Territorium wurden die bis dato gültigen Rechtstraditionen weitgehend aufgehoben. In Form des sogenannten „Rheinischen Rechts“ galten weite Teile der französischen Bestimmungen auch nach dem territorialen Übergang an Preußen fort, auch wenn sie in kleinerem Umfang Anpassungen an preußische Bestimmungen erfuhren. Entscheidend im hier betrachteten Zusammenhang ist dabei der Umstand, dass die Kommunen sich vergleichsweise große Selbstverwaltungskompetenzen erhalten konnten.204 Die Regierungsbezirke Trier und Koblenz nahmen damit – wie die übrigen linksrheinischen Territorien Preußens – eine Sonderstellung im preußischen Staat ein.205 201 Vgl. Hubatsch, Verwaltungsgeschichte, S. 1–2. 202 Der Regierungsbezirk Trier umfasste zunächst den Stadtkreis Trier und weitere elf Landkreise. 1910 hatte der Regierungsbezirk rund 1 Mio. Einwohner und umfasste ein Gebiet von 718440 ha Fläche. Vgl. Ebd., S. 434–436. Der Regierungsbezirk Koblenz war zunächst in den Stadtkreis Koblenz und 16 Landkreise, ab 1822 nur noch in 12 Kreise unterteilt. 1910 hatte er etwa 753.000 Einwohner und eine Fläche von 620.751 ha. Vgl. Hubatsch, Verwaltungsgeschichte, S. 93–96. 203 Zu verschiedenen Eingliederungen im Überblick Heyen, Rheinische Lande. 204 Wacker, Land, S. 56. Die Regelungen im Einzelnen in Bär, Behördenverfassung, S. 271– 278. Zum Ringen zwischen zentralistischer Staatsverwaltung und kommunaler Selbstverwaltung vgl. Brandes, Wegebau am Beispiel von Wegebaukonflikten. 205 Bis 1822 waren die beiden Regierungsbezirke Teil der Provinz Niederrhein, die erst 1822 mit der Provinz Jülich-Kleve-Berg zu einer Provinz zusammengelegt wurde. Heyen, Verwaltungsstrukturen. Zum Selbstverständnis der Provinzialverwaltung vgl. Frie, Provinzial-

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Diese Sonderstellung galt für beide Regierungsbezirke – und insbesondere ihre ländlichen Gebiete – auch in ökonomischer Hinsicht, galten sie doch bis weit in die Zeit der Weimarer Republik hinein als wirtschaftlich rückständige Regionen, als „Armenhaus Preußens“206 oder „Preußisch-Sibirien“.207 Die Gründe hierfür lagen im Wesentlichen an den ungünstigen geographischen und klimatischen Bedingungen, der schlechten Verkehrsinfrastruktur und der vornehmlich landwirtschaftlichen Prägung. Die gebirgigen Höhenzüge, der dadurch relativ unfruchtbare Boden und das rauhe Klima machten in der Eifel wie im Hunsrück eine intensive landwirtschaftliche Nutzung bis auf einige Regionen kaum möglich, somit waren vor allem (Milch-)Viehhaltung und Holzwirtschaft die dominierenden Landwirtschaftsformen.208 Bis in die 1920er Jahre hinein wurde im Ackerbau der Boden noch immer mit dem wenig ergiebigen „Schiffelverfahren“ aufbereitet.209 Nachteilig war auch die vorherrschende überwiegend kleinbäuerliche und auf Subsistenz ausgerichtete Besitzstruktur. Kleine Parzellen in verstreuter Lage prägten die Besitzverhältnisse in der Landwirtschaft in Eifel und Hunsrück ebenso wie in den Weinbaugebieten der Mosel.210 Zudem war die Verkehrserschließung der dünn besiedelten Regionen angesichts der schwierigen Bedingungen und erforderlichen hohen Investitionen unattraktiv, so dass wichtige Verkehrsrouten nur wenig in die Regionen hinein, sondern zumeist um diese herum geführt wurden.211 So wurde die erste Eisenbahnverbindung, welche die Eifel direkt mit dem Wirtschaftsraum an Rhein und Ruhr verband, erst 1870 in Gestalt der „Eifelbahn“ von Köln über Gerolstein nach Trier fertiggestellt.212 Weitere Ausbauten und Stichbahnen folgten vermehrt ab 1880, wurden im Einzelfall aber immer wieder verzögert oder kamen gar nicht erst über das Planungsstadium hinaus. Diese wirtschaftliche Rückständigkeit musste umso deutlicher ins Auge fallen, als die Rheinprovinz insgesamt als eine wirtschaftliche Vorzeigeregion galt.213 verbände. Im Zusammenhang mit Armenkrankenpflege betont die Sonderstellung auch Dross, Prussia. 206 Langner, Gewerbe, S. 279. 207 Eifelverein, Eifel, S. 143. 208 Schartz/Schmelzer, Landwirtschaft, S. 257. 209 Doering-Manteuffel, Eifel, S. 144. Wacker, Land, S. 145–147. Beim Schiffelverfahren wird vor allem die Asche von Gras und Heidebüschen als Dünger verwandt. Derartig gedüngte Böden weisen zumeist schon im zweiten oder dritten Jahr einen großen Ertragsrückgang auf. 210 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 55–56. 211 Beispielsweise die Eisenbahnverbindung von Trier nach Koblenz, die im Wesentlichen durch das einfacher zu bebauende Moseltal führte. Vgl. Hubatsch, Verwaltungsgeschichte, insbes. S. 7. Einen Überblick über die Bahnausbauten, die die wirtschaftlichen Perspektiven der Region in der Tat vielfach verbesserten, bietet Wacker, Land, S. 249–264. 212 Doering-Manteuffel, Eifel, S. 101. Bezeichnend ist dabei, dass der Bau dieser Strecke vor allem aus militärischen Überlegungen vorangetrieben wurde. Im Juli 1871 wurde die Verbindung für den Zivilverkehr freigegeben. 213 Vgl. Fischer, Industrialisierung.

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Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass die hier untersuchten Gebiete vergleichsweise früh Gegenstand groß angelegter staatlicher Unterstützungs- und Infrastrukturprogramme wurden.214 1884 wurde zu diesem Zweck der spezifisch auf die Eifel gerichtete „Eifelfonds“ gegründet, der seinerseits in dem 1901 aufgelegten und auf die Rheinprovinz als Ganzes bezogenen Westfonds aufging.215 Ziel dieser staatlich finanzierten Programme war es, etwa durch Bodenmeliorationen, Aufbau von Genossenschaften und verbesserte landwirtschaftliche Ausbildung, die wirtschaftliche Situation der Bauern zu verbessern. Obwohl durch die Programme – ebenso wie durch lokale Initiativen216 – in einzelnen Bereichen durchaus Fortschritte erzielt wurden217, blieben die Besitzverhältnisse bis zum Ende des hier untersuchten Zeitraums dennoch in ihrer ungünstigen Form stabil. Für die Eifel charakterisierte Sabine Döring-Manteuffel die Lage am Abend des Ersten Weltkrieges daher so: Es handelte sich um eine mit Energieträgern und modernen Verkehrsmitteln unterversorgte Region, deren traditionelle Gewerbe nicht mehr zur Verfügung standen und deren Landwirtschaft zu wenig Erträge bei zu hohen Betriebskosten erbrachte.218

Die Situation verschlechterte sich nach dem Ersten Weltkrieg weiter, als infolge der Bestimmungen des Versailler Vertrages 1919 das Saargebiet vom Deutschen Reich abgetrennt wurde und 1921 die Zollgrenze bis an die Ostgrenze des besetzten Rheinlands vorverlegt wurde.219 Hatte die Abtrennung des Saarlands die Verbindungen zum bisherigen Hauptabsatzmarkt der landwirtschaftlichen Produktion von Eifel und Hunsrück mit neuen Zollschranken belastet, so kappte die Verlegung dieser Zolllinie auch zahlreiche bestehenden Verbindungen in das rechtsrheinische Deutsche Reich und führte zu einer Verschärfung der wirtschaftlichen Krise.220 Die hier nur grob skizzierte administrative, politische und ökonomische Lage in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz beeinflusste auch die Wahl der Schwerpunktkreise. Mit den Kreisen Bitburg, Wittlich, Bernkastel und Simmern wurden Kreise gewählt, die zum einen die wichtigsten landschaftlichen Regionen des Untersuchungsraumes, Eifel, Hunsrück und das Moseltal, abdecken. Zum anderen waren diese Kreise von den genannten territorialen Veränderungen nicht betroffen, so dass eine relativ kontinuierliche Entwicklungslinie von den 1880er Jahren – bzw. früheren Einrichtungen aus franzö214 Die preußische Regierung förderte zunächst entsprechende Vereinsgründungen. Vgl. Wacker, Land, S. 291–297 215 Doering-Manteuffel, Eifel, S. 186. Den dauerhaften Bedarf an solchen Hilfen hebt auch Romeyk/Bär, Verwaltungsgeschichte, insbes. S. 197 hervor. 216 So wurde etwa der Vorgänger des heutigen Eifelvereins explizit als Instrument der Wirtschaftsförderung angelegt. Vgl. Eifelverein, Eifel, S. 148–150. 217 Doering-Manteuffel, Eifel, S. 186. 218 Ebd., S. 216. 219 Insbesondere der Regierungsbezirk Trier wurde mit einer Flächeneinbuße von 20 % und Bevölkerungsverlusten von rund 60 % schwer getroffen. Vgl. Romeyk/Bär, Verwaltungsgeschichte, S. 14. 220 Ebd., S. 97–98, Langner, Gewerbe.

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sischer Zeit – bis in die späten Jahre der Weimarer Republik gezogen werden kann. Kreis Bitburg Der Kreis Bitburg war der am weitesten westlich gelegene der hier untersuchten Kreise und grenzte seinerseits im Westen direkt an das Territorium Luxemburgs an. Gelegen im südlichen Teil der Eifel, war er mit einer Fläche von 780,63 qkm der größte der Untersuchungskreise. Verwaltungsmäßig fasste der Kreis insgesamt 22 Bürgermeistereien zusammen 221, davon mit BitburgStadt und Neuerburg nur zwei Stadtbürgermeistereien. Die Bevölkerungszahlen bewegten sich um ca. 45.000 herum, wobei im Verlauf des Untersuchungszeitraums ein stetiger Anstieg zu verzeichnen war.222 Stärker noch als in weiten Teilen der Eifel insgesamt223, war im Kreis Bitburg der überwiegende Teil der Bevölkerung dem katholischen Bekenntnis zuzurechnen. So betrug der Anteil der Katholiken im Kreis Bitburg 1925 rund 98,5 %, während er in den Landgemeinden des Regierungsbezirks Trier im Schnitt ‚nur’ bei 89,6 % lag.224 Die wirtschaftliche Struktur des Kreises war eindeutig von der Landwirtschaft bestimmt; rund 80 % der Kreisfläche wurden landwirtschaftlich genutzt, die Besitzstruktur war sehr zersplittert.225 Ein vergleichsweise günstiges Anbaugebiet stellte dabei das sogenannte „Bitburger Gutland“ um die Stadt Bitburg herum dar.226 Die Gemeinde Bitburg-Land war bis in die 1950er Jahre hinein fast ausschließlich landwirtschaftlich geprägt.227 Neben der Landwirtschaft war die Forstwirtschaft ein wesentlicher Wirtschaftszweig im Kreis.228 Industrielle Bedeutung besaßen neben aus der Waldwirtschaft resultierenden Sägewerken nur einige Betriebe aus dem Bereich der Stein- und Erdenindustrie, die teilweise bis auf das 18. Jahrhundert zurückgingen.229 Eine gezieltere Förderung der lokalen Industrie setzte erst ab den 1880er Jahren ein, konnte aber die Abwanderung großer Bevölkerungsteile – zwischen 1890 und 1910 verließen etwa 6000 Personen die Südeifel um vor allen im saarländischen Industrierevier Arbeit zu finden – nicht verhindern.230 Die Abwanderung, 221 Die Bürgermeistereien waren Bitburg-Stadt, Bitburg-Land, Fliessem, Rittersdorf, Idenheim, Meckel, Baustert, Bickendorf, Bollendorf, Dudeldorf, Körperich, Mettendorf, Nusbaum, Kyllburg, Malberg, Neuerburg-Stadt, Neuerburg-Land, Speicher, Alsdorf, Dockendorf, Peffingen und Schankweiler. Bär, Behördenverfassung, S. 266. 222 Hubatsch, Verwaltungsgeschichte, S. 442–443: 1910: 43486 Einwohner, 1944: 52485 Einwohner. 223 Doering-Manteuffel, Eifel, S. 29. 224 Preussisches Statistisches Landesamt, Gemeindelexikon. 225 Hubatsch, Verwaltungsgeschichte, S. 443; Michels, Erbgewohnheiten. 226 Doering-Manteuffel, Eifel, S. 18–23. 227 Eifelverein, Eifel, S. 576. 228 Pentzlin, Wald. 229 Dreesen, Industrialisierung, S. 237. 230 Ebd., S. 38–39.

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ausgelöst vor allem durch den allmählichen Niedergang der Eisenindustrie in der Eifel, wurde insbesondere durch die Fertigstellung der Eisenbahnlinie Trier-Köln 1870 befördert, die das Kreisgebiet mit den großen Industrierevieren an Ruhr und Saar verband.231 Zwischen 1880 und 1900 kamen hier noch einige Lokal- und Kleinbahnen hinzu, welche die lokale Erreichbarkeit der Eisenbahn verbesserten.232 Kreis Wittlich Östlich an den Kreis Bitburg grenzte der Landkreis Wittlich, der seinerseits bis an die Mosel reichte. Auf seiner Fläche von 641,88 qkm lebten im Untersuchungszeitraum zwischen 38.000 (1880) und 48.000 (1939) Menschen in insgesamt 17 Bürgermeistereien233, davon Wittlich selbst als einzige Stadtgemeinde.234 Auch in diesem Kreis war die Bevölkerung zum weitüberwiegenden Teil katholisch (1925 zu rund 98 %).235 Wirtschaftlich dominierte auch hier die Landwirtschaft das Bild, deren konkrete Ausprägung von den sehr unterschiedlichen Klima- und Bodenbedingungen im Kreis abhängig war. Während die Höhengebiete insgesamt schlechtere Bedingungen aufwiesen, die im Wesentlichen Vieh- und Holzwirtschaft erlaubten236, konnten in den klimatisch günstiger gelegenen Tälern der sogenannten „Wittlicher Senke“ auch Ackerfrüchte in Form von Zuckerrüben, Obst, Gemüse und auch Tabak angebaut werden.237 Im Moseltal war Weinbau die dominierende Landwirtschaftsform, zumeist aber in nebenerwerblicher Form.238 In allen Regionen war die Besitzstruktur dabei durch kleinparzelligen Streubesitz gekennzeichnet, der die Anwendung moderner Wirtschaftsmethoden wesentlich erschwerte.239 Diese Problemlage war zwar Gegenstand vieler Initiativen, konnte aber im Untersuchungszeitraum nicht wesentlich verändert werden.240 231 Zu einer Vielzahl von (meist vergeblichen) Anläufen für weitere Strecken im Kreis Bitburg siehe Hainz u.a., Bitburg, S. 598–607. Die Anbindung führte andererseits auch zu besseren ‚Exportchancen’ der landwirtschaftlichen Produkte. Vgl. Faas, Eifelbutter. 232 Friedrich, Eisenbahnbau, S. 188. 233 Die Bürgermeistereien waren Bengel, Bombogen, Eisenschmitt, Heidweiler, Hetzerath, Kröv, Landscheid, Laufeld, Manderscheid, Neuerburg, Niederöfflingen, Oberkail, Osann, Salmenrohr, Sehlem, Spang, Wittlich. Bär, Behördenverfassung, S. 270. 234 Hubatsch, Verwaltungsgeschichte, S. 501. 235 Preussisches Statistisches Landesamt, Gemeindelexikon. 236 Hubatsch, Verwaltungsgeschichte, S. 500–501. Peter Blum merkte zeitgenössisch an, dass der Kreis Wittlich ob seiner Gliederung in mehrere Wirtschaftsregionen kein „typischer Eifelkreis“ sei. Blum/Kreisausschuss des Kreises Wittlich, Kreis Wittlich, S. 15. 237 Hesse/Wisniewski, Wittlich-Land; Doering-Manteuffel, Eifel, S. 18. 238 Eifelverein, Eifel, S. 578, Schander, Weinbau. 239 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 51–52. 240 Zu strukturellen Maßnahmen von verschiedener Seite vgl. Ebd., S. 59–64, mit einem knappen Überblick über die wirtschaftlichen Verhältnisse insbesondere der Kreise Bernkastel und Wittlich im frühen 20. Jahrhundert.

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Industriebetriebe waren im Kreis kaum vorhanden, hingegen sind relativ früh Versuche zu verzeichnen, die landschaftlichen Reize der Region touristisch zu nutzen.241 Förderlich war hier die relativ verkehrsgünstige Lage des Kreises, in dem sich zwei Bahnlinien und mehrerer „Postbuslinien“ kreuzten und zudem das Straßennetz zu Beginn des 20. Jahrhunderts stetig erweitert wurde.242 Andererseits erlaubte diese Infrastruktur auch die erleichterte Abwanderung in Industrieregionen.243 Erst Mitte der 1920er Jahre nahm diese ab, damit versiegte aber auch zunehmend der Zufluss von Geldmitteln in die Region durch abgewanderte Familienmitglieder.244 Kreis Bernkastel Lagen die Kreise Bitburg und Wittlich landschaftlich noch ganz oder zumindest weitgehend in der Eifel, umfasste der östlich an den Kreis Wittlich grenzende Kreis Bernkastel landschaftlich Teile des Moseltales und des östlich der Mosel gelegenen Hunsrückgebirges. Tatsächlich lag der Kreis Bernkastel mit rund 610 ha von insgesamt ca. 667,71 ha Kreisfläche zum überwiegenden Teil schon auf der rechten Seite der Mosel.245 In den 10 Bürgermeistereien des Kreises lebten im Untersuchungszeitraum rund 43.000–50.000 Menschen, auch hier mit steigender Tendenz im Zeitverlauf246. Deutlich von den bisher dargestellten Kreisen unterschied sich der Kreis Bernkastel aber auch in der konfessionellen Zusammensetzung seiner Bevölkerung.247 Mit rund 70,2 % Katholiken an der Gesamtbevölkerung (1925) lag deren Anteil hier bedeutend niedriger.248 Die Unterschiede in der wirtschaftlichen Struktur waren demgegenüber geringer. Zwar bedeutete Landwirtschaft in den Steillagen des Moseltales neben Viehhaltung und ein wenig Ackerbau in erster Linie Weinbau, doch waren die Besitzstrukturen auch hier, bedingt vor allem durch die vorherrschende Realteilungspraxis im Erbfall, von kleinen, mitunter weit auseinanderliegenden Parzellen bestimmt.249 Gleiches galt für die Hochflächen des Hunsrückraumes, die aufgrund der schlechten Bodenbedingungen in weiten Teilen 241 Blum/Kreisausschuss des Kreises Wittlich, Kreis Wittlich, S. 10, Gerten u.a., Oberkail, S. 120. 242 Blum/Kreisausschuss des Kreises Wittlich, Kreis Wittlich, S. 9, 19; Gilles, Eisenbahnen. 243 Nördlich von Wittlich verlief die Eifeler Abwanderungsscheide zwischen Saarraum im Süden und Ruhrgebiet im Norden. Vgl. Doering-Manteuffel, Eifel, S. 202–207 und Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 57–58. 244 Blum/Kreisausschuss des Kreises Wittlich, Kreis Wittlich, S. 21. 245 Hubatsch, Verwaltungsgeschichte, S. 438. 246 Die Bürgermeistereien waren Bernkastel-Stadt, Bernkastel-Land, Kempfeld, Lieser, Morbach, Mülheim, Neumagen, Rhaunen, Thalfang, Zeltingen. Bär, Behördenverfassung, S. 265. 247 Schneck, Leben, insbes. S. 475. 248 Preussisches Statistisches Landesamt, Gemeindelexikon. 249 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 56.

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nur für Viehhaltung, Grünflächenbewirtschaftung und vor allem Holzwirtschaft genutzt werden konnten. Insgesamt wurden rund 50 % der Kreisfläche in irgendeiner Form landwirtschaftlich genutzt. Handel und Gewerbe waren demgegenüber nur schwach vertreten und in erster Linie – etwa in Sägewerken – auf die Verarbeitung der landwirtschaftlichen Grundprodukte hin ausgelegt.250 Verkehrstechnisch war der Kreis vor allem zwischen 1860 und 1880 durch mehrere Provinzialstrassen erschlossen worden, erst ab 1904 wurden auch die Kreisstraßen systematisch ausgebaut.251 Seit 1882/83 waren auf der linken Moselseite zudem eine Eisenbahnlinie von Bernkastel nach Wengerohr bei Wittlich, sowie ab 1903/1904 die Moseltalbahn Bullay-Trier in Betrieb genommen worden.252 Kreis Simmern Der Kreis Simmern grenzte in seinem Südwesten an den Kreis Bernkastel im Regierungsbezirk Trier, gehörte selbst aber zum Regierungsbezirk Koblenz. Mit 570,81 qkm Fläche war er der kleinste der hier untersuchten Kreise. Auch hinsichtlich seiner Bevölkerungszahl bildete er mit konstant ca. 37.000 Einwohnern zwischen 1864 und 1925 deren Schlusslicht.253 Das Kreisgebiet war aufgeteilt in acht Bürgermeistereien, davon zwei Stadtbürgermeistereien in Simmern und Kirchberg.254 Anders als in den drei Kreisen aus dem Trierer Regierungsbezirk waren in konfessioneller Hinsicht die Katholiken mit 40,7 % (1925) gegenüber evangelischen Christen mit 57,2 % Anteil an der Bevölkerung in der Minderheit. Allerdings lag der Bevölkerungsanteil der Katholiken in den Landgemeinden des Regierungsbezirks Koblenz mit 65,7 % auch insgesamt niedriger als im Trierer Bezirk.255 Dennoch war der Kreis Simmern im Ganzen stärker evangelisch geprägt, so dass zu beobachten bleiben wird, ob diese konfessionelle Differenzierung für den hier untersuchten Gegenstand eine Bedeutung besaß. Wenig anders als in den übrigen Kreisen sah hingegen die wirtschaftliche Struktur aus.256 Zersplitterter Kleinbesitz in der Besitzstruktur, Viehzucht und Forstwirtschaft in der Bewirtschaftung prägten auch in diesem Kreis das Bild.257 1880 war etwa 40 % allen bäuerlichen Besitzes kleiner als 2 ha, die Bauern verdingten sich für ein ausreichendes Auskommen meist zugleich als Tagelöhner, oft in der vor allem holzverarbeitenden Industrie.258 Daher verwundert es 250 Hubatsch, Verwaltungsgeschichte, S. 439. 251 Petry, Straßenverkehr, S. 338–342. 252 Gilles, Eisenbahnen. Hubatsch, Verwaltungsgeschichte, S. 437–438. 253 Diener, Auswanderung, S. 92. 254 Die Bürgermeistereien waren Simmern, Kirchberg, Gemünden, Kastellaun, KirchbergLand, Ohlweiler, Rheinböllen sowie Simmern-Land. 255 Preussisches Statistisches Landesamt, Gemeindelexikon. 256 Zeitgenössisch Müller, Hunsrück. Einen Überblick über die landwirtschaftliche Entwicklung bieten Bauer, 19. Jhdt. und Bauer, 20. Jhdt.. 257 Hubatsch, Verwaltungsgeschichte, S. 154–161. 258 Diener, Auswanderung, S. 93.

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nicht, dass der ländliche Kreis fast durchgehend Zielgebiet von wirtschaftlichen Förderinstrumenten wie dem Westfonds war.259 Zudem war auch der Kreis Simmern von Auswanderung betroffen, vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten zahlreiche Menschen den Kreis in Richtung Brasilien verlassen.260 Für die wirtschaftliche Belebung des Kreises erwiesen sich daher die Eisenbahnlinien Bingerbrück-Simmern-Hermeskeil-Trier (1889), Simmern-Boppard (1908) und Simmern-Gemünden (1922) als wichtig.261 Im Ganzen gesehen zeigen diese groben Skizzen der Verhältnisse in den vier Untersuchungskreisen, dass es sich bei der südlichen Rheinprovinz vor allem in den ländlichen Gebieten um eine ausgesprochene Armutsregion handelte. Landwirtschaftliche, subsistenzorientierte Produktionsstrukturen, kleinteilige Besitzparzellierung und eine schlechte Anbindung an größere oder prosperierende Wirtschaftsräume bestimmten die ökonomische Lage. Insbesondere der Einfluss der mangelhaften Verkehrserschließung und der damit einhergehenden Immobilität im Falle notwendiger gesundheitlicher Versorgung werden im Verlaufe dieser Arbeit aufmerksam zu verfolgen sein.

259 Hubatsch, Verwaltungsgeschichte, S. 154–155. 260 Diener, Auswanderung, S. 106–107. 261 Wagner/Schellack, Simmern, S. 252–255; Wagner, Stadt Simmern, S. 213; Gilles, Eisenbahnen, S. 361–362.

Teil II – Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung Vor dem Hintergrund einer „mixed economy of welfare“ als Bemühen um die Absicherung Armer gegen eine ganze Reihe unterschiedlicher Armutsrisiken, ist in der jüngsten Zeit für die Forschung die Forderung formuliert worden, Fürsorgeangebote stets in das Umfeld ihrer Alternativen einzuordnen. Für eine Untersuchung der ländlichen Armenkrankenpflege bedeutet dieses Postulat, dem Spektrum alternativer Angebote gesundheitlicher Hilfe im ländlichen Raum nachzugehen und die Einrichtungen der Armenkrankenpflege im engeren Sinne zu den vorhandenen Möglichkeiten in Relation zu setzen. Dies für den ländlichen Raum der südlichen Rheinprovinz zu unternehmen, ist die Absicht des ersten Untersuchungsteils dieser Arbeit. Die Frage nach den Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung umfasst eine ganze Reihe differenzierter Teilfragen, denen es im Folgenden für verschiedene Bereiche der ländlichen Gesundheitsversorgung nachzugehen gilt. Welche Angebote an gesundheitlicher Hilfe gab es überhaupt im ländlichen Raum? Handelte es sich dabei um therapeutische Angebote im engeren Sinne, oder waren es vor allem Möglichkeiten der Pflege und Versorgung von Kranken? In ländlichen Gebieten, die verkehrsmäßig erst ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts systematisch dem Verkehr erschlossen wurden, stellt sich zudem zugleich die Frage nach der Zugänglichkeit und Erreichbarkeit derartiger Angebote. Wie verbreitet waren diese Angebote? Gab es womöglich Verdrängungseffekte zwischen den einzelnen Anbietern? Schließlich bieten auch die Anbieter selbst viel Anlass zu Fragen. Wer waren diese? Welche Ausbildung hatten sie genossen? Welche Funktion erfüllte ihre Tätigkeit für sie, verdienten sie daran, oder unternahmen sie ihre Anstrengungen aus anderen Motiven? Welche Konkurrenzen herrschten unter ihnen? Derartige Fragen sind in der Forschung auch für den ländlichen Raum wiederholt gestellt worden, die gewonnenen Erkenntnisse sind für die hier im Mittelpunkt stehende Region jedoch aus unterschiedlichen Gründen nur bedingt verwendbar. Erst vor wenigen Jahren war der Regierungsbezirk Trier Gegenstand einer Studie von Sabine Marx, die sich mit der Verbreitung ärztlich-wissenschaftlicher Medizin im 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigte. Die Untersuchung benannte mit akademischen Ärzten und Laienheilern zwar grundlegende Anbieter gesundheitlicher Hilfe im Untersuchungsraum, war aber letztlich nicht auf deren lokale Ausprägung und Präsenz hin ausgerichtet, sondern behandelte in erster Linie das wissenschaftlich-theoretische Verhältnis der jeweiligen Medizinvorstellungen, welches wiederum in der vorlie   

Vgl. Leeuwen, Risk, S. 40–44. Vgl. dazu Lewis, Agents, insbes. S. 163–164, die den Begriff der „mixed economy of welfare“ explizit auf die Armenkrankenversorgung überträgt. Auf die grundlegende Studie für den städtischen Raum von Robert Jütte wurde bereits in der Einleitung verwiesen. Jütte, Ärzte, Heiler. Rheinische Verhältnisse mit teilweisem Blick auf ländliche Gegebenheiten nimmt auch Esser, Praktischer Arzt in den Blick. Marx, Scientific Medicine.

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genden Untersuchung weitgehend unberücksichtigt bleibt. In der Konzeption der Studie lehnte sich Marx an eine Arbeit Evelyn Ackermans an, die am Ende der 1980er Jahre für das Departement Seine-et-Oise in Zentralfrankreich unter vergleichbarer Fragestellung Umgang und Verständnis von Krankheiten im langen 19. Jahrhundert am Beispiel der Infektionserkrankungen untersucht hatte. Die Autorin selbst betonte aber, angesichts der Nähe der untersuchten Region zu Paris und der relativ raschen Kenntnis der Bevölkerung von dortigen Entwicklungen auch im medizinischen Bereich, dass ihre Ergebnisse nicht ohne weiteres für den ländlichen Raum im Allgemeinen übernommen werden könnten. Ebenfalls in Frankreich untersuchten in den 1990er Jahren Laurence Brockliss und Colin Jones die „medizinische Welt“ der Frühen Neuzeit. Unter dem Einfluss der Neuen Kulturgeschichte stehend, gelang ihnen eine umfassende Verortung medizinischer Institutionen und Heilkundiger im Frankreich des 16.–18. Jhdts. im demographischen, ökonomischen, intellektuellen und kulturellen Kontext. Eine derart reichhaltige Untersuchung war im Rahmen der vorliegenden Arbeit keinesfalls beabsichtigt oder zu leisten. Zudem war insbesondere die Stellung der Ärzte in der von Brockliss und Jones untersuchten Epoche wesentlich von der am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts verschieden. Anne Digby wiederum untersuchte in ihrer Studie zu den „General Practitioners“ im englischen Fall zwar sowohl städtische als auch ländliche Verhältnisse sehr umfassend, stellte aber entsprechend ihrem Titel vor allem die Genese und Entwicklung dieses ärztlichen Berufsstandes in den Mittelpunkt, ohne eine umfassende Darstellung des gesundheitlichen Angebots zu unternehmen. Für den deutschen Raum hat die gesundheitlichen Angebote einer ländlichen Region erst kürzlich die Arbeit von Sylvia Weber-Grupe zum Gesundheitswesen auf dem Gebiet des Herzogtums Hessen-Nassau untersucht. Im Mittelpunkt ihrer Studie stehen die Veränderungen, die das vergleichsweise gut ausgebaute Medizinalwesen im Herzogtum Hessen-Nassau nach der preußischen Annexion 1866 erfuhr. Zwar richtet Weber-Grupe ihren Blick in erster Linie auf die staatlichen Medizinaleinrichtungen, doch erhält ihre Arbeit für die vorliegende Studie insofern einen besonderen Wert, als darunter in Hessen-Nassau auch staatlich angestellte Armenärzte zu zählen waren. Ihre diesbezüglichen Ergebnisse bieten zusammen mit kleineren Studien Michael Stolbergs zur Armenkrankenpflege in Bayern10 zumindest einige Vergleichspunkte für die vorliegende Untersuchung. Für den hier untersuchten Raum liegt zudem in der Arbeit von Calixte Hudemann-Simon eine detaillierte Untersuchung der staatlichen Medizinalpolitik und der damit verbundenen Einrichtungen an der Wende vom 18. zum      10

Ackerman, Countryside. Ebd., S. 165–168. Brockliss/Jones, Medical World. Digby, Evolution. Weber-Grupe, Gesundheitspflege. Stolberg, Health Care; Stolberg, Patientenschaft.

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19. Jahrhundert vor.11 Hudemann-Simon betrachtet in ihrer Arbeit in erster Linie Verfügbarkeit und Struktur ärztlicher und paramedizinischer (Hebammen, Pharmazeuten) Angebote sowie die Akzeptanz und Aufnahme neuer medizinischer Mittel und Methoden durch die Angehörigen dieser Gruppen. Zeitlich ist sie der hier unternommenen Arbeit damit vorgelagert, bietet aber gerade für den Bereich der Strukturen von Gesundheitsversorgung zahlreiche Anknüpfungspunkte. Allerdings bleibt die Nachfragerseite in ihrer Arbeit weitestgehend außen vor. Die vorliegende Arbeit versucht hingegen, auch die strukturelle Dimension der Armenkrankenpflege und der ländlichen Gesundheitsversorgung aus dem Blickwinkel des Betroffenen wahrzunehmen. Hier geht es in erster Linie darum, die strukturbedingten Zugangsmöglichkeiten Armer zu den einzelnen Angeboten näher zu beleuchten, weniger hingegen um Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Einrichtungen oder deren innere Fortentwicklung.12 Diese Frage betrifft nicht zuletzt in besonderem Maße die in der Untersuchungszeit neu eingerichteten Sozialversicherungen, explizit untersucht am Gegenstand der Krankenversicherung. Gerichtet vor allem auf die industrielle Arbeiterschaft als Klientel13, wurde diese rasch zu einem grundlegenden Bestandteil des Gesundheitswesens.14 Bedingt durch die reichsweit einheitlichen Grundlagen der Versicherung, vermag auch eine regionale Untersuchung hier Erkenntnisse zu bringen, die auf andere ländliche Regionen übertragbar sind. Um der zeitlichen Entwicklung der ländlichen Gesundheitsversorgung und der ausführlichen Behandlung deren einzelner Teile gerecht zu werden, zugleich aber den Lesefluss zu bewahren, werden innerhalb der zeitlich gegliederten Kapitel eins bis drei jeweils einzelne Teile der Gesundheitsversorgung sachsystematisch behandelt. Innerhalb dieser Darstellungsebene sind zeitliche Vor- und Rückgriffe über den Kapitelzeitraum hinaus daher meist unvermeidlich. Die Zuordnung der sachsystematischen Teile zu den übergeordneten Kapiteln folgte dabei zumeist der Zeit ihrer hauptsächlichen Bedeutung, beziehungsweise ihrer wesentlichen Institutionalisierung, im Untersuchungsraum. Das erste Kapitel, welches zeitlich die Zeit bis zur Jahrhundertwende 1900 umfasst, beinhaltet inhaltlich die Einrichtungen des Distrikt- oder Armenarztsystems, des Systems der Bezirkshebammen, sowie grundlegende Überlegungen zur Struktur der Laienheilkunde im Untersuchungsraum. Im zweiten Kapitel, zeitlich den Jahren 1900–1920 zugeordnet, werden inhaltlich die staatlich-kommunalen Systeme in ihrer weiteren Entwicklung beleuchtet, bevor dann vor allem Krankenpflege, stationäre Versorgung und infrastrukturelle Verbesserungsversuche in den Blick genommen werden. Der letzte Teil 11 Hudemann-Simon, Santé. 12 Außen vor bleibt etwa die Diskussion um Professionalisierung oder Paraprofessionalisierung der Hebammen. Vgl. dazu Huerkamp, Ärzte, S. 38; Seidel, Gebären, S. 274–276. 13 Metzler, Sozialstaat, S. 20ff. 14 Vgl. Moser, Volksgesundheit, S. 29, der in Öffentlicher Gesundheitspflege; Versicherungsgesetzgebung und Ärzte die „Grundlinien gesundheitlicher Versorgung“ im Deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg sieht.

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dieses Kapitels ist den grundlegenden Strukturen der Krankenversicherung und deren lokalen Ausgestaltungen im Untersuchungsgebiet gewidmet. Im kurzen dritten Kapitel, welches die Jahre nach 1920 bis an den Beginn der 1930er Jahre umfasst, kommen anschließend, neben einem Blick auf prinzipielle Veränderungen der Gesundheitspolitik in der Weimarer Zeit, spezifische Entwicklungen im Hebammenwesen und in der Laienheilkunde zur Sprache. Zuletzt werden hier Möglichkeiten und Traditionen der Selbst- und Nachbarschaftshilfe im Untersuchungszeitraum in den Blick genommen. Die Zuordnung dieses Gegenstandes zum letzten Kapitel resultiert vor allem aus der Entstehungszeit des genutzten Quellenbestandes in der Mitte der 1930er Jahre. Den Abschluss des ersten Teiles bildet das vierte Kapitel, in dem versucht wird, die vorausgegangenen Beobachtungen zusammenzufassen und im Hinblick auf die hier gestellten Fragen zu systematisieren und zu bewerten.

Kapitel 1: Distriktarzt und Medikaster. Kontinuitäten und Veränderungen bis zur Jahrhundertwende 1.1. Das rheinische Distriktarztsystem: Idee, Entstehung und Aufgaben Einführung Die Anstellung von Armenärzten, die gegen eine Zuschuss- oder Vollbesoldung die kostenlose oder kostengünstige medizinische Versorgung und Behandlung von Armen übernahmen, ist keine Erfindung des 19. Jahrhunderts. In städtischen Kontexten lassen sich Stadtärzte und ähnliche Positionen bereits in Mittelalter und Früher Neuzeit nachweisen, zu deren Aufgabenfeld auch – aber nicht allein – die besagte Armenkrankenpflege zählte. Wesentlich dünner sind die vorliegenden Erkenntnisse zu derartigen Einrichtungen in ländlichen Räumen. Zwar waren ländliche Räume auch zuvor keineswegs „medizinischer Leerraum“ ohne jeglichen ansässigen Arzt, aber erst um den Beginn des 19. Jahrhunderts scheinen verstärkte Anstrengungen staatlicher und kommunaler Stellen unternommen worden zu sein, auch den Zugang der ärmeren Bevölkerung zu spezifisch ärztlichen medizinischen Leistungen zu vereinfachen. Auf Ebene einzelner Gemeinden wurden etwa im Württemberger Raum die sogenannten „Wartgelder“ eingerichtet, Pauschalzahlungen an Ärzte und Wundärzte für die unentgeltliche Behandlung armer Kranker. Allerdings blieb diese Zahlung allein kommunaler Initiative überlassen; sie war also nicht von vorneherein flächendeckend intendiert. In Bayern richtete die Regierung Montgelas zwischen 1803 und 1806 rund 200 beamtete Gerichtsarztstellen in Land- und Stadtgerichtsbezirken ein, denen neben ihren gerichtlichen Tätigkeiten und medizinalpolizeilichen Aufgaben als eine Teilaufgabe auch die kostenlose Behandlung kranker Armer übertragen wurde. Ähnlich war die armenärztliche Versorgung seit 1818 im Herzogtum Nassau organisiert. Gemäß einem Medizinaledikt aus diesem Jahr wurde dort von staatlicher Seite ein System der Medizinalverwaltung errichtet, welches für jedes Amt – im Sinne einer übergemeindlichen Verwaltungs     

Holst, Armenarztwesen; Dross, Krankenhaus, S. 90; Eser, Verwaltet; Kinzelbach, Gesundbleiben, S. 310–311. Einen einzelnen Armenarzt und sein Umfeld untersucht Schmidt, Gottschalk. Loetz, Patienten, S. 201. Ein früher Überblick über Einrichtungen der Armenkrankenpflege in einzelnen deutschen Staaten in Achinger, Sozialgesetzgebung. Maier, Aderlass. Die lange Zeit maßgebliche Bedeutung lokaler Initiativen ohne überlokalen Anspruch betont auch Dross/Weyer-von Schoultz, Armenwesen, S. 308. Stolberg, Health Care, S. 123; Völker, Lebenszyklus, S. 7–8. In einem früheren Aufsatz dazu wird die Armenversorgung allerdings noch nicht als Aufgabenbestandteil der Gerichtsärzte erwähnt. Siehe Stolberg, Patientenschaft.

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einheit – die Bestallung von drei Ärzten vorsah. Diese waren zwar nur teilbesoldet, übten also weiterhin ihre private Praxis aus, erhielten aber Beamtenstatus, hatten amts- und gerichtsärztliche Funktionen und die Aufsicht über sanitätspolizeiliche Angelegenheiten. Damit entsprachen Struktur und Funktion der Medizinalverwaltung im Wesentlichen derjenigen, die in Preußen nach 1866 auf Kreisebene etabliert wurde. Dort oblagen die gerichts-, amts- und sanitätspolizeilichen Dienste zwei teilbesoldeten Medizinalbeamten, dem Kreis­physikus und dem Kreiswundarzt, deren Aufgaben ab 1899 in der dann auch zunehmend vollbesoldeten Position des Kreisarztes zusammengeführt wurden. Über die genannten Aufgaben hinaus waren die nassauischen Medizinalbeamten auch zur verbilligten Behandlung „mindervermögender“ und unentgeltlichen Behandlung armer Kranker verpflichtet10, während die preußischen Medizinalbeamten qua Amt in der Armenkrankenpflege keinerlei Verpflichtungen hatten. Entstehung des rheinischen Distriktarztsystems Die Anfänge des Distriktarztsystems als Rückgrat der armenmedizinischen Versorgung in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz gehen zurück auf die Zeit der französischen Verwaltung.11 Das Rhein-Mosel-Departement war durch einen Beschluss vom 8. Januar 1808 in 18 ärztliche Distrikte aufgeteilt worden.12 In jedem dieser Distrikte wurde auf Kosten der jeweiligen Gemeinden eine Arztstelle eingerichtet, deren Aufgabe in erster Linie die kostenfreie Behandlung der armen Kranken des Distriktes war. Der Präfekt des Saardepartements ordnete 1811 die Errichtung ähnlicher Distriktarztstellen auch in

 

Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 59–63; 522–524. Leider geht Weber-Grupe der bemerkenswerten Koinzidenz der Annexion des Herzogtums Nassau – mit bestehender beschriebener Medizinalverwaltung – und Etablierung der Kreismedizinalverwaltungen in Preußen in 1866 nicht weiter nach.  Das Nassauische System war aber insofern dichter, da ein preußischer Kreis – mit zwei Medizinalbeamten – in der Größe mehreren nassauischen „Ämtern“ – die alleine schon über je drei Medizinalbeamte verfügen sollten – entsprach. 10 Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 62. Die Abgrenzung von Mindervermögenden zu Armen bleibt allerdings unklar. 11 Die französische Herrschaft war in vielen Gebieten neben den erwähnten rechtlichen Veränderungen auch mit tiefgreifenden – normativen – Eingriffen in die Strukturen der Armenkrankenpflege verbunden. Einzelbeobachtungen dazu in Dross, Krankenhaus, S. 163–178; Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 55–67; Gadacz-Grünefeld, Medizinalentwicklung; Hudemann-Simon, Saarregion; Hudemann-Simon, Gesundheitspolitik; Hudemann-Simon, Pauvres. Für den hiesigen Raum besonders Hudemann-Simon, Santé, S. 149–158. Eine sicherlich lohnende vergleichende Studie dieser Prozesse in verschiedenen Regionen steht bisher noch aus. 12 Hudemann-Simon, Santé, S. 157. Die Angabe von Schubert, Koblenz, S. 80, der 31 Distrikte erwähnt ist vermutlich falsch, da nach Hudemann-Simon, Santé, S. 161 erst 1813 die Zahl der Arztdistrikte im Rhein-Mosel-Departement auf 22 erhöht wurde. Naal, Arzt, S. 41 nennt in Anlehnung an Schubert die Zahl von 28 Distrikten.

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seinem Verwaltungsgebiet an.13 Die Grenzen der einzelnen ärztlichen Distrikte entsprachen denen der Bürgermeistereien, d. h. der in einem Ort der Bürgermeisterei – meist dem Hauptort – niedergelassene Distriktarzt hatte die kranken Armen aller zur jeweiligen Bürgermeisterei gehörigen Gemeinden und Orte zu betreuen.14 Das bestehende System wurde auch nach dem Beginn der preußischen Herrschaft 1815 nicht aufgehoben, sondern 1818 im Rahmen eines neuen Zuschnittes der Distrikte sogar auf die rechts des Rheines gelegenen Teile des Regierungsbezirks Koblenz ausgeweitet.15 Je nach Größe des Kreises und Zahl der Bürgermeistereien gab es neben dem Kreisphysikus und dem Kreiswundarzt ein bis drei weitere Distriktarztstellen.16 Die Eindrücke von der Wirksamkeit dieses Distriktarztsystems waren offenbar so gut, dass das Medizinalkollegium in Koblenz den Regierungen in Aachen und Trier nahe legte, das System ebenfalls in ihrem jeweiligen Bezirk zu übernehmen.17 Während man in Trier dieser Anregung folgte, lehnte die Regierung in Aachen dies unter Verweis auf die angespannte Lage der Gemeindekassen ab.18 Die Zahl der eingerichteten Distriktarztstellen im Regierungsbezirk Trier wurde 1828 von 16 auf 28 Stellen erhöht.19 Die Hauptaufgabe dieser Distriktärzte war die unentgeltliche medizinische Behandlung der kranken Armen in ihrem Zuständigkeitsbereich. Daneben wurden ihnen auch die Pockenschutzimpfung und Maßnahmen gegen die Verbreitung ansteckender Krankheiten als Aufgaben übertragen.20 Auf diese Weise sollten sie den Kreisphysikus und den Kreiswundarzt in ihren medizinalpolizeilichen Aufgaben unterstützen.21 In den meisten Fällen hatten die Distriktärzte zugleich auch die Stellung eines Impfarztes inne.22 Von ihrem Status her waren die Distriktärzten zunächst durch die jeweilige Königliche Regierung in Trier oder Koblenz ernannte

13 LHAK Best. 403 Nr. 11063, S. 395–408, Schreiben der Königlichen Regierung Trier an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 6. Dezember 1859 zu distriktärztlichen Einrichtungen im Regierungsbezirk. Vgl. auch Hudemann-Simon, Santé, S. 169–173 zu Unterschieden zwischen einzelnen Departements. 14 Ebd., S. 157. 15 Schubert, Koblenz, S. 81. 16 Ebd., S. 81. 17 Im Fall des nassauischen Systems ergab sich nach Weber-Grupe dagegen die Etablierung des dortigen Distriktarztsystems als „aus der Not geborene Idee“ einer modifizierten Fortführung des Systems vor der Annexion. Grund hierfür war der endgültige Übergang der Armenkrankenpflege in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinden. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 534. 18 Schubert, Koblenz, S. 82. 19 LHAK Best. 403 Nr. 11063, S. 395–408, Schreiben der Königlichen Regierung Trier an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 6. Dezember 1859 zu distriktärztlichen Einrichtungen im Regierungsbezirk. 20 Vgl. Huerkamp, Smallpox, insbes. S. 622. 21 Vergleichbare Versuche mit Verpflichtungen des medizinischen Personals hatte es bereits in französischer Zeit gegeben. Hudemann-Simon, Santé, S. 156. 22 Schubert, Koblenz, S. 82; Ein Überblick zur Pockenschutzimpfung bei Henig/Krafft, Pockenimpfstoffe, eine ausführliche Studie dazu ist Wolff, Pockenschutzimpfung.

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kommunale Beamte, die aber weiterhin private Praxis betreiben durften – und denen angesichts der geringen Bezahlung auch gar keine Alternative blieb.23 1864 wurde das Verhältnis zwischen Bürgermeisterei und Distriktarzt auf eine neue Grundlage gestellt. Die Stellung der Distriktärzte war nunmehr „eine rein contractliche (…); die bisherige Bestallung sowie Berichterstattung darüber war daher nicht mehr erforderlich.“24 Schubert bezeichnet als Hintergrund dieser Änderung die Tatsache, dass die Ärzte als Gemeindebeamte nicht Mitglieder des Gemeinderates werden konnten. Auf die detaillierte Kenntnis der Lebensumstände der kranken Armen und potentiellen Unterstützungsanträger, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit erlangten, wollten die Gemeinderäte als Bewilligungsinstanz für Leistungen der Armenfürsorge im Verlaufe des Entscheidungsprozesses aber nicht verzichten.25 In jedem Fall dokumentiert das Interesse der Gemeinderäte an den Kenntnissen der Ärzte den umfassenden Beobachtungs- und Überwachungsanspruch der Verwaltung gegenüber ihren Armen. Für den hier beobachteten Zeitraum bildet die vertragliche Vereinbarung zwischen Armenarzt und Bürgermeisterei die Basis der armenärztlichen Tätigkeit. Daher sollen im Folgenden vorliegende Verträge dieser Art genauer untersucht werden. Aufgaben In der konkreten vertraglichen Ausgestaltung konnten die Verpflichtungen des Distriktarztes von Bürgermeisterei zu Bürgermeisterei verschieden vereinbart werden. Einblicke in die unterschiedlich detaillierte Vertragsgestaltung bieten zwei erhaltene Armenarztverträge aus den Bürgermeistereien Kastellaun und Zeltingen. Zugleich lassen die Verträge in ihrer Verschiedenheit die wesentlichen Inhalte solcher Vereinbarungen deutlich erkennen.26 Der 1882 zwischen der Bürgermeisterei Zeltingen und dem praktischen Arzt Dr. Angen geschlossene Distriktarztvertrag beinhaltet eine umfassende und präzise Bestimmung der distriktärztlichen Aufgaben27: 1. g. Angen hat in Zeltingen seinen Wohnsitz zu nehmen und auf Requisi­tion der Bürgermeisters eventuell dessen gesetzlichen Vertreters oder der einzelnen Ortsvorsteher die armen Kranken in der Bürgermeisterei unentgeltlich zu behandeln und die zu diesem Zwecke nöthigen Reisen zu unternehmen.

Der Distriktarzt wurde verpflichtet, sich tatsächlich in der Bürgermeisterei niederzulassen, um sicherzustellen, dass er von betroffenen Armen relativ einfach 23 Schubert, Koblenz, siehe auch LHAK Best. 403 Nr. 11063, Bericht der Königlichen Regierung Koblenz an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 1. August 1874. Zur Frage der Besoldungshöhe siehe S. 67. 24 LHAK Best. 403 Nr. 11063, Bericht der Königlichen Regierung Koblenz an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 1. August 1874. Vgl. Freytag, Aberglauben, S. 206–207. 25 Schubert, Koblenz, S. 82. 26 Vgl. dazu Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 107–108. 27 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Vertrag zur Besetzung der Distriktsarztstelle Zeltingen vom 26.August 1882.

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konsultiert werden konnte. Diese Wohnortbestimmung war offenbar nicht immer Teil der Verträge, der Vertragsschluss mit Ärzten die außerhalb der Bürgermeisterei wohnten war generell möglich und wurde auch praktiziert.28 Gleichzeitig legte der Vertragsartikel genau fest, von welchen Amtspersonen der Distriktarzt Weisungen zur Behandlung von armen Kranken entgegenzunehmen hatte. In der praktischen Umsetzung bestanden hierbei unterschiedliche Wege. Eine Möglichkeit bestand darin, dem Armenarzt eine regelmäßig zu aktualisierende Armenliste zur Verfügung zu stellen. Nur Personen auf dieser Liste konnten dann die unentgeltliche Behandlung in Anspruch nehmen. Eine zweite Möglichkeit bestand in der Ausstellung von Armenscheinen oder Behandlungsscheinen, mit denen der jeweilige Arme beim Arzt seinen Behandlungsanspruch dokumentieren musste.29 Bemerkenswert ist die Verpflichtung, erforderlichenfalls Reisen – etwa in Form von Hausbesuchen – zu unternehmen.30 Im Falle einer privaten Behandlung stand es dem Arzt frei, dem Patienten Wegekosten in Rechnung zu stellen, im Fall der pauschalierten Armenbehandlung war dies nicht möglich. Den Gemeindekassen ersparte die Verpflichtung zu notwendigen Hausbesuchen somit die zusätzliche Zahlung solcher Wegekosten. Für kranke Arme bedeutete sie hingegen eine weitgehende Gleichstellung in den Möglichkeiten, ärztliche Versorgung zu erhalten, da sie nicht auf die Konsultation eines Arztes verzichten mussten, falls sie die zusätzlichen Wegekosten nicht hätten zahlen können. Dass eine solche Verpflichtung durchaus notwendig sein konnte, zeigen Beschwerden armer Kranker über ihre Vernachlässigung durch den Armenarzt.31 Im Falle Zeltingens ergaben sich aus dem Vertrag für den Distriktarzt zudem weitere Aufgaben. Neben der Behandlung der Armen verpflichtete die Bürgermeisterei Zeltingen Dr. Angen auch, anfallende Gutachtertätigkeiten unentgeltlich zu übernehmen, wobei sie offensichtlich Wert auf detaillierte Atteste und Bescheinigungen legte.32 28 Siehe Kap. 1.3. 29 Zur konkreten Praxis solcher Listen oder Behandlungsscheine siehe Kap. 9.1. Die Möglichkeit der freien Arztwahl erhielten Arme im Wesentlichen erst im 20. Jahrhundert. Ausführlicher dazu siehe Kap. 2.1.1. 30 Zur Entwicklung von Hausbesuchs- und Sprechstundenpraxis siehe im Einzelnen Kap. 7.1.2. 31 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Bericht über einen Beschluss des Gemeinderates Zeltingen an den Landrat in Bernkastel vom 26.1.1867, zitiert in Kap. 7.1.2., S. 296. 32 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Vertrag zur Besetzung der Distriktsarztstelle Zeltingen vom 26. August 1882, § 2: „g. Angen ist verpflichtet, wenn arme Kranke, z. B. neue Geisteskranke in eine Anstalt aufgenommen werden sollen, die dazu nöthige Begutachtung ob und in wie fern der Kranke sich zur Aufnahme, behufs der Heilung oder der Pflege und Versorgung und um ihn unschädlich zu machen, eignet auf Verlangen der Bürgermeister unentgeltlich zu ertheilen. Hierbei sind vorzüglich die Krankheits Erscheinungen und die Thatumstände anzugeben, wodurch das Urtheil in der einen oder anderen Beziehung festgestellt und mithin die Aufnahme in die betreffende Anstalt begründet werden kann.“ Vgl. auch Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 108. Unter den gutachterlichen Aufgaben mussten nach §3 des Vertrages auch die Musterungsuntersuchungen bei allen Rekruten kostenfrei geleistet werden und nicht allein bei Armen.

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Obwohl der Distriktarzt Dr. Angen hier ein Vertragsverhältnis mit der Bürgermeisterei Zeltingen einging, fielen in seine Zuständigkeit auch Aufgaben, die in erster Linie der staatlich organisierten und finanzierten Medizinal- oder Sanitätspolizei oblagen.33 Die Distriktärzte sollten die Kreisphysiker und Kreiswundärzte – beziehungsweise ab 1900 den Kreisarzt – vor allem bei der Erfassung und Bekämpfung epidemisch auftretender Krankheiten unterstützen und ihm aus ihrem jeweiligen Distrikt Informationen für die regelmäßigen Sanitätsoder Gesundheitsberichte an den Regierungsmedizinalrat der Bezirksregierung an die Hand geben.34 Dem lag die Ansicht zugrunde, dass die Distriktärzte dadurch, dass sie vor Ort lebten und arbeiteten, wesentlich detailliertere Angaben zum Gesundheitsbild der örtlichen Bevölkerung machen konnten, als ein nur von Zeit zu Zeit vor Ort visitierender Kreismedizinalbeamter.35 Die Kosten für die Konstatierung von Fällen epidemischer Krankheiten – gemeint waren hier in erster Linie die meldepflichtigen Krankheiten Scharlach, Diphtherie, Typhus, Masern und Tuberkulose – hatten die Gemeinden zu tragen. So lag es nahe, diese Aufgabe den sowieso von der Gemeinde besoldeten Distriktärzten zu übertragen.36 In der Praxis beklagten die Kreisphysiker/Kreisärzte jedoch immer wieder Lücken in den Meldungen. Dies dürfte in erster Linie an dem offenbar komplizierten Meldeverfahren gelegen haben. Für jeden Fall einer meldepflichtigen Behandlung musste ein Meldezettel an die jeweilige Bürgermeisterei geschickt werden, welche diesen an das Landratsamt weiterleitete. Von dort gingen die Meldungen an den Kreisphysiker, der in einer wöchentlichen (!) Meldung an die Königliche Regierung – wohl in Gestalt des Regierungsmedizinalrates – berichtete.37 Der Kreisarzt des Kreises 33 Vgl. auch Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 544–545. 34 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Vertrag zur Besetzung der Distriktsarztstelle Zeltingen vom 26.August 1882, § 4: „g. Angen hat seine Sorgfalt nicht auf die […] Kranken zu beschränken, sondern soll auch die Sanitätspolizei in der Bürgermeisterei unterstützen und derselben die nöthigen Vorschläge besonders in Bezug auf Abwehrung und Bekämpfung ansteckender Krankheiten jeglicher Art machen.“ Ebd., § 5: „g. Angen hat die Verpflichtung zum sofortigen selbständigen Einschreiten in sanitätspolizeilicher Hinsicht wenn dies Noth thun sollte, sonst hat er seine Massnehmungen pp. dem Bürgermeister anzuzeigen, dessen Requisition, wie der der Stellvertreter desselben er dabei nachkommen muß.“ 35 Entsprechende Forderung etwa in LHAK Best. 442 Nr. 3898, Sanitätsbericht des Kreisphysikus Dr. Alexander für den Kreis Bernkastel 1895 vom 28.03.1896, S. 23. „Es wäre dringend nötig einen Distriktarzt für die Bezirke Kempfeld und Morbach zu ernennen, über deren Gesundheitsverhältnisse ich mich bis jetzt auf meinen Privatreisen zu orientieren gesucht habe.“ Die zentrale Bedeutung der Distriktärzte kommt in einem Rundschreiben der Regierung Trier an die Kreisphysiker und Landräte von 1875 deutlich zum Ausdruck: „Ohne Unterstützung von Seiten der practischen Aerzte, insbesondere der Armenärzte, wird ein irgend brauchbares Material kaum zu beschaffen sein.“ LHAK Best. 655,123 Nr. 204, Anweisung zur Gestaltung der Sanitätsberichte, Schreiben vom 13. Juni 1875. 36 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Feststellung epidemischer Krankheiten durch die Distriktärzte. Schreiben der Regierung TR an die Landräte des Regierungsbezirks vom 22.Oktober 1872. 37 LHAK Best. 442 Nr. 3894, S. 531, Sanitätsbericht für den Kreis St. Wendel 1891 des Kreisarztes Dr. Schubmehl vom 23.03.1892. S. 531. Ähnlich bei Esser, Praktischer Arzt, S. 63.

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Bitburg verwies zudem 1905 darauf, dass die mit der Meldung der Krankheit verbundenen Folgen für die Betroffenen wie Isolierbehandlung, Kranken­ hausverlegung etc. dazu führten, dass diese Ärzte, die der Meldepflicht nachkamen mieden, was wiederum dazu führte, dass diese, um den Verlust von Patienten zu vermeiden, Krankheitsmeldungen unterließen.38 Derartige Aussagen relativieren sicherlich das verbreitete Bild einer unkooperativen, meldeunwilligen Landbevölkerung.39 Auch die meist vierteljährlichen Berichte der Distriktärzte an die Kreismedizinalbeamten waren in ihrer Qualität keineswegs einheitlich. Unter den wenigen für den Untersuchungsraum überlieferten Berichten von der Distrikt­ ebene reicht das Spektrum der Berichtsformen von tabellarischen Aufstellungen der behandelten Krankheiten über beschreibende Zusammenfassungen der aufgetretenen Krankheiten bis zu – allerdings wenig detailreichen – Beschreibungen der Therapien der einzelnen Patienten.40 Die eingeschränkte Aussagekraft dieser Berichte für eine medizinalpolizeiliche Überwachung beurteilte der Kreisarzt des Kreises Altenkirchen in seinem Bericht 1901 relativ illusionslos: Fasse ich die Anschauungen der Gemeindeärzte über die im Berichtsjahre deponirten Angaben von dem allgemeinen Gesundheitszustande ihres Sprengels zusammen, so gipfelt das alljährlich wiederkehrende Urteil hierüber zumeist in dem Satze „Der Gesundheitszustand war im allgemeinen ein ausgezeichneter“, „ein guter“, „ein sehr günstiger“, „ein befriedigender“. Unwillkürlich tauchen dem Leser solcher Berichterstattungen Jugenderinnerungen aus der Schule auf, wo man von den Pädagogen das Quartals-Zeugnis mit der Censur „gut“, „befriedigend“ oder „genügend“ ausgestattet fand. Derartige allgemeine Abschätzungen über den Gesundheitszustand entstammen zunächst den jeweiligen individuellen Anschauungen, werden jedoch durch eine zeitig grössere oder geringerer Inanspruchnahme der Aerzte beeinflusst, und geben gewissermaßen insofern nur den Gradmesser gehabter Jahreseinnahmen ab, als ein sehr günstiger Gesundheitszustand sich mit ungünstiger Mammonzufuhr deckt. Denn örtlich wohnen die Collegen nicht weit auseinander, und da auch Krankheiten nicht vor den Gemeinde- oder BürgermeistereiGrenzen ein Halt zu machen pflegen, so ist es nicht recht ersichtlich, wie die Urteile über den allgemeinen Gesundheitszustand so erheblich voneinander abweichen.41

Belege für die ebenfalls geäußerte Auffassung, die geringe Zahl der distriktärztlichen Meldungen ließe sich als Ausdruck einer veränderten Selbstwahr38 LHAK Best. 442 Nr. 3909, S. 139, Sanitätsbericht für den Kreis Bitburg 1905. 39 Dieses Eigeninteresse der Ärzte hatte etwa Robert Koch in seiner Bewertung der ärztlichen Rolle in der Typhusmeldung noch völlig vernachlässigt, als er Diskrepanzen zwischen gemeldeten und nachgewiesenen Typhusfallzahlen in erster Linie der Bevölkerung zugeschrieben hatte. Dennoch bewertete er den Charakter der ärztlichen Meldungen als grundsätzlichen Hinweis auf Typhusfälle durchaus positiv. Koch, Typhus, S. 16. 40 Siehe etwa LHAK Best. 442 Nr. 3894, S. 485–487, Sanitätsbericht des Armenarztes Dr. Löwenhart [Trier] für das Quartal 4/1891; Ebd., S. 445–451, Sanitätsbericht des Armenarztes Dr. Brett [Trier] vom 24.3.1891; Ebd., S. 571–573, Quartalsbericht 2/1891 des Distriktarztes Alsee [St. Wendel]. 41 LHAK Best. 441 Nr. 13675, Jahresgesundheitsbericht des Kreisarztes pro 1900 vom 30.05.1901, S. 83, Die mangelhafte Qualität der Berichte war bereits in französischer Zeit Gegenstand vieler Ermahnungen. Vgl. Hudemann-Simon, Santé, S. 161–163.

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nehmung der Ärzte interpretieren, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend Gestaltungsanspruch in der Gesundheitsfürsorge beanspruchten und sich bloßen Erfüllungsaufgaben gegenüber dem Staat zu verweigern begannen, waren allerdings nicht zu finden.42 Für ihre Tätigkeit erhielten die Distriktärzte eine pauschale Summe, 400 M,- im Falle Zeltingens43, die meist vierteljährlich in Raten ausgezahlt wurde. In diesem Betrag waren alle Aufwendungen des Arztes wie Wegekosten, die Behandlung der Kranken und Verbandmaterialien enthalten, lediglich verschriebene Medikamente wurden separat übernommen.44 Die Höhe dieser Remunerationen war prinzipiell frei vereinbar und hing in der Hauptsache offenbar von der finanziellen Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der jeweiligen Bürgermeisterei ab.45 Die Zahlung konnte aus dem gemeinsamen Etat der Bürgermeisterei bestritten werden oder sich aus anteiligen Zahlungen der Einzelgemeinden zusammensetzen, in Einzelfällen kam es auch zu Sonderzahlungen einzelner Gemeinden oder Sammlungen unter der ortsansässigen Bevölkerung zur Finanzierung der Arztstelle.46 Im Gegensatz zu dem sehr detaillierten und präzise formulierten Vertrag in Zeltingen fiel der Distriktarztvertrag der Gemeinde Kastellaun mit dem Arzt Dr. Koch im Jahr 1895 wesentlich knapper aus.47 Der Vergleich mit dem Zeltinger Vertrag verdeutlicht dabei sowohl die Variabilität der Vertragsgestaltung, als auch die umfassende Rolle des Distriktarztes in der lokalen Armenversorgung. Die vertraglich vereinbarte Behandlung „aller armen Kranken der Bürgermeisterei, sei es als Arzt, Wundarzt oder Geburtshelfer“48 orien42 Diese Interpretation bei Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 545. 43 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Vertrag zur Besetzung der Distriktsarztstelle Zeltingen vom 26.August 1882, § 8: „Für die Erfüllung dieser Verpflichtungen wird dem g. Angen die Remuneration für die hiesige Distrikarztstelle bestehend in Vierhundert Mark zahlbar in vierteljährlichen Raten postnumerando aus der Bürgermeistereikasse von Zeltingen und zwar vom 1ten Juli dieses Jahres ab bewilligt.“ 44 Zu den finanziellen Aufwendungen der Armenkrankenpflege im Detail siehe Kap. 8. 45 So erhielt etwa Dr. Koch, der Kastellauner Distriktarzt, laut seinem Vertrag nur 240,– Mark im Jahr als Remuneration. Vgl. LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Vertrag über die Besetzung der Armenarztstelle Kastellaun vom 16.03.1895, §5. Ähnlich Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 537. 46 Die Sammlung als Mittel der Finanzierung bestand vor allem in besonderen Notlagen auch im Bereich der allgemeinen Fürsorge bereits früher. Vgl. etwa Zissel, Armenversorgung, S. 234. 1897 erhielt Dr. Angen in Zeltingen „mit Rücksicht auf die bedeutende Zunahme der Armenpraxis in Wolf in den letzten Jahren“ von Seiten der genannten Gemeinde eine Sonderzulage von 25 Mark jährlich. Siehe LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Auszug aus dem Protokollbuch des Gemeinderats der Gemeinde Wolf vom 28. April 1897; Eine „Subscriptionsliste über Beiträge zur Besoldung eines Arztes in Zeltingen“, welche insgesamt 130 Namen und Einzelbeiträge zwischen 1,– Mark und 5,20 Mark aufführt, verzeichnet offenbar das Ergebnis einer Sammlung nach dem Weggang des bisherigen Distriktarztes Dr. Klingelspiel. Siehe LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Subscriptionsliste über Beiträge zur Besoldung eines Arztes in Zeltingen. 47 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Vertrag über die Besetzung der Armenarztstelle Kastellaun vom 16.03.1895. 48 Ebd., § 1.

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tierte sich an der bis 1900 bestehenden Teilung der medizinalamtlichen Aufgaben zwischen Arzt und Wundarzt nach inneren und chirurgischen Behandlungskompetenzen. Wie in Zeltingen war auch in Kastellaun der Arzt für eine umfassende medizinische Versorgung der örtlichen Armen, sogar explizit inklusive der Hilfestellung bei Geburten, verantwortlich. Noch deutlicher als im Falle des Dr. Angen fiel zudem der Hinweis auf die gleiche Behandlung von Armenpatienten und Privatpatienten aus.49 Weitere Verpflichtungen enthielt der Kastellauner Vertrag mit Dr. Koch nicht. Die Stellen als Distriktarzt waren nicht als vollbesoldete kommunale Stellen, sondern als Funktionsstellen angelegt, bei denen ein ortsansässiger Privatarzt zusätzliche Aufgaben übernahm und dafür einen finanziellen Ausgleich erhielt.50 Diese Zahlungen stellten nicht mehr als eine Aufwandsentschädigung dar und waren auch nach dem Urteil der Zeitgenossen keineswegs für einen als angemessen erachteten Lebensstandard ausreichend.51 Angesichts der Rahmenbedingungen einer ländlichen Distriktarztstelle stellt sich die Frage, für wen diese Stellen attraktiv waren. Daher sollen im folgenden Abschnitt die Interessenten und Inhaber solcher Stellen und die materielle Ausstattung und mit Armenarztstellen verbundenen Karrieremöglichkeiten näher untersucht werden. 1.2. Distriktärzte – Personen und Motivationen In den Quellenbeständen, insbesondere natürlich den Akten zu Anstellungen und Dienstangelegenheiten der Distrikt- und Armenärzte, sind für den Untersuchungsraum einige Dokumente und Korrespondenzen erhalten geblieben, die vermitteln, auf welche Arten, aus welchen Motivationen heraus und mit welchen Interessen sich Ärzte in Eifel und Hunsrück niederließen. Aufschlussreich ist hier vor allem der Blick in erhaltene Bewerbungen auf Distriktarztstellen. Dennoch sind die Bestände in ihrer Überlieferung nicht so dicht auf 49 Ebd., § 2. Vertragsteil war die Verpflichtung „wie seine übrigen Patienten, so auch die kranken Armen gewissenhaft zu behandeln und alles das zu thun, was zur Genesung derselben beitragen könnte. Ist es erforderlich, dass der Kranke von dem Arzt besucht werden muß, so hat letzterer einem diesbezügl. Ersuchen nachzukommen“. 50 Meist setzte sich das Einkommen der Ärzte neben der Privatpraxis aus mehreren solcher Funktionsstellen zusammen. Vgl. dazu Kap. 1.2 Abschnitt „Einkommen“. Das gleiche Verfahren – pauschale Honorierung und vertragliche Vereinbarung – kam 1869 auch in Nassau zur Anwendung, ergänzt um Vereinbarungen zur kostengünstigeren Behandlung der jeweiligen Ortsbevölkerung. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 534–535. 51 vgl. LHAK Best. 442 Nr. 3897, S. 74, Sanitätsbericht für den Kreis Bitburg 1894 vom 12. März 1895: „Die Behandlung der Kranken beruht meist in den Händen der angestellten Armenärzte, deren Gehalt allerdings meist ein sehr geringfügiges ist, das mit der ärztlichen [Leistung unleserlich, d. Verf.] nicht im Verhältnisse steht.“; LHAK Best. 441 Nr. 13675, Jahresgesundheitsbericht des Kreisarztes [Altenkirchen] pro 1900 vom 30.05.1901, S. 135: „Mag auch das Fixum noch so niedrig sein, so nimmt doch ein armer Landdoctor alles, was Geld bringt, gerne an“.

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uns gekommen, dass sich die genannten Inhalte allgemeingültig über Zeit und Raum der Untersuchung hinweg bestimmen ließen. Die folgenden Ausführungen können daher nur exemplarisch mögliche Motive und Interessen der Beteiligten im Rahmen einer Niederlassung als Arzt beleuchten.52 Alter und Ausbildung Bemerkenswert ist der Anteil der Bewerbungen von jungen Medizinern, die ihre Ausbildung kurz zuvor abgeschlossen hatten.53 So war für Dr. Fetten, der sich 1868 auf die Zeltinger Distriktarztstelle bewarb, diese die erste eigenständige Position.54 1841 in Gesecke/Westfalen geboren, war er 1865/66 approbiert und dazu als Geburtshelfer zugelassen worden. Im Anschluss daran hatte er bis zum März 1867 seinen einjährig-freiwilligen Wehrdienst absolviert und war danach bis zur Annahme der Stelle in Zeltingen „als Arzt in Gesecke tätig“ – was wohl nichts anderes bedeutete, als dass er mangels einer weiteren Anstellung zunächst nach Hause zurückgekehrt war. Ähnlich jung waren auch die Bewerber auf Distriktarztstellen in Zeltingen und Kastellaun im Jahre 1874. Dr. Dach, der sich auf Anraten eines Kollegen in Zeltingen bewarb, hatte, ähnlich wie Dr. Fetten, kurz zuvor seinen Wehrdienst beendet.55 Dr. Albert, der 1869 sein Examen in Marburg abgelegt hatte und danach zu weiterem Studium nach Wien gegangen war, bewarb sich ebenfalls kurz nach dem Ende seines Wehrdienstes, den er „im Frankreich-Feldzug“ – also während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/1871 – als Assistenzarzt absolviert hatte.56 Auch er war auf der Suche nach einer Niederlassungsmöglichkeit als praktischer Arzt. Die Distriktarztstellen scheinen also in erster Linie für junge Bewerber auf der Suche nach einer gewissen finanziellen Absicherung von Interesse gewesen zu sein. Dieses vorherrschende Bild wird durch Dr. Hahnwald, der sich 1920 aus Bonn kommend nach einer Niederlassungsmöglichkeit in Zeltingen erkundigte, zunächst gestört. Zum Zeitpunkt der Bewerbung war dieser bereits 45 Jahre alt, verheiratet und Vater eines Kindes.57 Richtet man den Blick aber auf seine berufliche Karriere, wird die strukturell mit den anderen Bewerbern vergleichbare Situation deutlich. Vor dem Einstieg in eine me52 Die weiteren Ausführungen werden zeigen, dass bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts praktisch alle in den hier untersuchten ansässigen Ärzte zugleich auch Distriktärzte waren, eine Differenzierung zwischen Distriktärzten und reinen Privatärzten folglich zunächst obsolet bleibt. 53 Zur Entwicklung der medizinischen Ausbildung in Deutschland im Überblick und internationalen Vergleich Bonner, Becoming. 54 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Lebenslauf des Dr. Fetten vom 22. Januar 1868. 55 Er hatte nach eigenen Angaben „vor einigen Tagen“ seinen einjährig-freiwilligen Dienst beendet. LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Dr. Dach vom 6. Juli 1874. Ähnlich jung war auch Dr. Angen bei seinem Stellenantritt im August 1882, er war erst im März des Jahres 1882 approbiert worden. Vgl. Ebd., Beglaubigte Abschrift des Approbationsscheins Dr. Angen vom 28. August 1882. 56 LHAK Best. 655,14 Nr. 946, Schreiben des Dr. Longerich vom 05. August 1874. 57 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Dr. Hahnwald vom 31. Juli 1920.

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dizinische Tätigkeit war Hahnwald zunächst Lehrer. Das Medizinstudium hatte er erst 1913 aufgenommen und war im Anschluss zwei Jahre als Militärarzt und in Vertretungen in einer Bonner Klinik beschäftigt gewesen. Rechnet man die erwähnten zwei Berufsjahre zurück, so kann man annehmen, dass Dr. Hahnwald nach einem Studium von ungefähr 4–5 Jahren und anschließenden ersten Berufstätigkeiten in Zeltingen seinen ersten Anlauf zu einer eigenständigen Niederlassung unternahm. Der Blick auf die Bewerbungen um Distriktarztstellen zeigt damit, dass diese Stellen in erster Linie für Berufsanfänger auf der Suche nach einer ersten eigenständigen Niederlassung von Interesse waren, von denen aus sie ihre Karriere dann in verschiedener Weise weiterentwickeln konnten. Der Weg aufs Land Wollte sich ein Interessent über freie Distriktarztstellen informieren, so war in vielen Fällen der Blick in die Zeitung die nächstliegende Alternative. Die einfachste Möglichkeit einer Gemeinde, einen niederlassungswilligen Arzt auf eine offene Distriktarztstelle oder generellen Arztbedarf aufmerksam zu machen, bestand darin, in regionalen oder überregionalen Zeitungen Anzeigen aufzugeben. So veröffentlichte die Bürgermeisterei Zeltingen im April oder Mai 1867 in der Kölnischen Zeitung eine Anzeige58, in der sie auf die Neubesetzung einer Stelle als praktischer Arzt in Zeltingen aufmerksam machte.59 Die Bewerbungen auf diese Ausschreibung zeigen, dass die Anzeige – zumindest in diesem Fall – ein sehr wirksames Anwerbeinstrument mit durchaus überraschender Reichweite war.60 Die Herkunftsorte der Bewerber und der Bewerbungen zeigen darüber hinaus, dass eine solche Ausschreibung in sehr großem geographischem Rahmen wahrgenommen werden konnte.61 Die ausgeschriebene Stelle wurde schließlich an erwähnten Dr. Harald Fetten aus Westfalen übertragen. Die Notwendigkeit, eine Stelle so überregional auszuschreiben, legt in Verbindung mit der Herkunft des in diesem Falle angestellten Distriktarztes nahe, dass um 1870 herum allein aus der näheren Region der Bedarf an Ärzten nicht gedeckt werden konnte. Eher regional begrenzt schrieb hingegen 1909 der Gemeinderat von Kastellaun die kurz zuvor vakant gewordene Distriktarztstelle in der 58 Die überregional erscheinende, national-liberal geprägte Kölnische Zeitung war im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine der wichtigsten deutschen Tageszeitungen. Potschka, Kölnische Zeitung. 59 LHAK Best. 655,123 Nr. 203. 60 Bei einer späteren Ausschreibung der Distriktarztstelle in Zeltingen im Jahr 1882 sind sieben Bewerber nachweisbar, durchaus ein Zeichen für die Attraktivität der Stelle. Der Gemeinderat verabschiedete hier eine Reihenfolge, in der mit den Bewerbern verhandelt werden sollte. Vgl. LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Beschluss des Gemeinderats Zeltingen vom 16. Juni 1882. 61 Der größte Teil der Bewerbungen wies relativ große Entfernungen von Zeltingen auf. So bewarben sich Ärzte aus Düren und Eitorf, aber auch aus Westfalen. Die Bewerbung mit der größten räumlichen Distanz stammte aus Magdeburg.

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Hunsrücker Zeitung und den Kastellauner Nachrichten aus. Entsprechend begrenzt war die Resonanz in Form von Bewerbungen.62 Dennoch bleibt festzuhalten, dass eine öffentliche Stellenausschreibung das wohl öffentlichkeitswirksame Bekanntgabeinstrument war.63 Neben der öffentlichen Ausschreibung wurden freie Arztstellen aber auch über informelle Kommunikationswege unter interessierten Bewerbern bekanntgemacht. Bei einer erneuten Besetzung der Distriktarztstelle in Zeltingen 1874 wandte sich etwa der aus Trier stammende Arzt Dr. Dach „auf Veranlassung des Collegen Mittweg“ an den Bürgermeister von Zeltingen, um sich nach den genauen Bedingungen der Stelle zu erkundigen.64 In der Gemeinde Kastellaun wurde 1895 eine Distriktarztstelle neu besetzt und in seiner Bewerbung zeigte sich Dr. Koch, selbst in Kastellaun ansässig, im Detail über die ärztliche Situation in der Gemeinde informiert.65 Die Mundpropaganda von freiwerdenden Stellen nutzte in erster Linie Bewerbern, die Verbindungen in die Region besaßen – vor allem kollegiale, aber auch familiäre Verbindungen dürften hier geholfen haben. In früheren Forschungen wurde gerade für den ländlichen Raum und für Unterschichtpatienten häufig eine große soziale und kulturelle Distanz zwischen einem akademisch gebildeten Arzt und seiner ländlich-bäuerlich geprägten Klientel angenommen.66 Gegenüber der ‚modernen’ Medizin eines oft kilometerweit entfernt niedergelassenen Arztes erschienen traditionelle, implizit oder explizit als ‚veraltet’ gekennzeichnete Praktiken der Hilfe in Krankheitsfällen der Kultur und Lebenswelt einer ländlichen Bevölkerung wesentlich näher zu stehen.67 In neuerer Zeit konnte aber mehrfach gezeigt werden, inwiefern eine solche Interpretation die kulturelle Kontextualisierung medizinischer Vorstellungen allzu sehr vernachlässigte oder der Rationalität alternativer Entscheidungsgrundlagen in der Heilerwahl zu wenig Bedeutung zumaß.68 Ein ähnlicher Befund ist auch im hier untersuchten Raum zu ma62 Lediglich der kommissarische Inhaber und ein anderer vor Ort ansässiger Arzt bewarben sich auf diese Stelle. Außerdem wird nicht endgültig klar, ob diese beiden nicht vielmehr über persönliche Kontakte von der Stellenausschreibung erfahren und sich daraufhin beworben hatten. 63 Gegebenenfalls ließe sich an einem größeren Anzeigencorpus auch das Interesse an auswärtigen Bewerbern genauer untersuchen. Die unterschiedliche Ausschreibung in Zeltingen und Kastellaun deutet jedenfalls darauf hin, dass die veröffentlichenden Stellen über die Wahl des Mediums Herkunft und Charakter des Bewerberkreises beeinflussen konten. 64 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben vom 6. Juli 1874. In ähnlicher Weise auch Ebd. die Anfrage des Distriktarztes von Thalfang an den Bürgermeister in Zeltingen am 14. Juli 1870. 65 Best. LHAK 655,14 Nr. 928, Schreiben vom 11. Januar 1895. 66 Huerkamp, Wandel, S. 60–61; Stolberg, Ländliche Patienten. Ein Überblick über Theorien zum Verhältnis von Arzt und Patient in Fitzpatrick/Scambler, Social class. 67 Frevert, Krankheit, S. 274; Lachmund/Stollberg, Patientenwelten, S. 75. 68 Pfleiderer, Blick; Wolff, Pockenschutzimpfung, S. 385–398; Vanja, Homo, S. 203–204 hat zudem gezeigt, dass auch in der Frühen Neuzeit Behandlung von Dorfbewohnern durch Ärzte keine Einzelfälle waren.

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chen. So stammte die überwiegende Zahl der Kreisärzte im Regierungsbezirk Trier vor dem Ersten Weltkrieg aus dem Regierungsbezirk Trier selbst.69 Dies deutet zumindest an, dass eine „scharfe Trennlinie zwischen der Welt der studierten, professionellen Ärzte und der Welt des gemeinen Volkes“ nicht bestand, wenn zwischen Ärzten und ihrer Klientel Gemeinsamkeiten wie regionale Mentalitäten oder Sprachgebrauch soziale Distanzen zumindest verringern konnten.70 Auch für die Distriktärzte gibt es in einigen Fällen Hinweise darauf, dass sie tatsächlich familiär in der Region und den Netzwerken ländlicher Sozialbeziehungen integriert und verwurzelt waren und dies auch die Wahl ihres Niederlassungsortes nachhaltig beeinflusste.71 Eine weitere Variante, wie Ärzte in ländliche Gegenden gelangen konnten, war schließlich die Versetzung als Beamte. Diese Möglichkeit kam allerdings – spätestens nach der Umstellung des Distriktarztsystems auf vertragsrechtliche Basis im Jahr 1864 – nur für staatliche Medizinalbeamte wie Kreisphysiker, Kreisärzte etc. in Frage. Zudem war der Anteil der Ärzte, die von außen in ländliche Gegenden versetzt wurden, sehr gering.72 Üblicher war offenbar, eine freigewordene Medizinalbeamtenstelle mit geeigneten Bewerbern aus der Nähe zu besetzen. Die bisher angeführten Beispiele hatten immer Stellen zum Gegenstand, die von den Bürgermeistereien ausgeschrieben worden waren. Natürlich gab es für Ärzte daneben auch immer die Möglichkeit, sich frei niederzulassen. In solchen Fällen scheinen sich wenigstens einzelne Ärzte über die Niederlassungsbedingungen vor Ort erkundigt zu haben.73 Die Anfrage nach den Gegebenheiten einer Arztstelle wurde häufig mit einem von Dritten erhaltenen Hinweis auf eine eventuelle Möglichkeit zur Niederlassung begründet. Interessiert waren die Anfragenden vor allem an 69 Dazu Marx, Scientific Medicine, S. 120–123. Von vierzehn Kreisärzten zwischen 1880 und 1914 kamen dreizehn aus der Rheinprovinz und von diesen wiederum acht aus dem Regierungsbezirk Trier selbst. 70 Ebd., S. 123. Persönliche Bekanntheit und geographische Nähe identifiziert auch Wolff, Pockenschutzimpfung, S. 439 als vorrangige Determinanten einer Konsultation gegenüber sozialem Verhältnis zwischen Arzt und Patient. 71 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 257, Schreiben des Regierungspräsidiums Trier vom 10. September 1900; LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Bürgermeisters zu Zeltingen vom [April 1882]. 72 Seltene Beispiele für eine deutliche Versetzung aus einem städtischen in einen ländlichen Bezirk sind etwa die 1916 stattgefundene Bestallung des Potsdamer Kreisassistenzarztes Dr. Kloninger zum Kreisarzt in Adenau und die Bestallung des Königsberger Kreisassistenzarztes Dr. Franz Schrammen zum Kreisarzt in Mayen im selben Jahr. Zudem ist nicht auszuschließen, dass es sich hierbei um eine Sondersituation während des Krieges handelte. GStA PK, I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 375, Schreiben des Preußischen Innenministeriums vom 22. August 1916. 73 In der amtlichen Überlieferung finden sich solche Anfragen natürlich nur, wenn sie an die Bürgermeisterei o.ä. gerichtet wurden. Eine systematische Erfassung, wie viele Ärzte Erkundigungen einzogen und an welchen Stellen sie dies unternahmen – etwa durch Vergleich mit den Niederlassungsmeldungen, war aufgrund der sehr disparaten Überlieferungslage nicht möglich.

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Informationen zu Einwohner- und Gemeindezahl, ob die Niederlassung eines – gegebenenfalls zweiten oder gar dritten – Arztes von der Bevölkerung gewünscht sei, und wie die Armenpraxis gehandhabt werde.74 Die wiederkehrende Frage nach der Armenpraxis belegt, dass die Bewerber gerade als Berufsanfänger ein ausgeprägtes Interesse an den mit einer solchen Stelle verbundenen finanziellen Leistungen hatten, und Armenarztstellen ein gefragtes Instrument zur Sicherung eines Basiseinkommens waren. Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten Hatte sich ein Bewerber in einem Ort als Arzt, gegebenenfalls auch versehen mit der Distriktarztstelle, niedergelassen, ergaben sich für ihn im Laufe der Zeit unterschiedliche Möglichkeiten für das persönliche und berufliche Vorankommen. Für einige Ärzte waren Distriktarztstellen in Eifel und Hunsrück tatsächlich lediglich Zwischenstationen auf dem Weg in andere Positionen oder Regionen. So verließ Dr. Fetten die Distriktarztstelle in Zeltingen, die er 1868 angetreten hatte, bereits zwei Jahre danach wieder und ging nach Wiesbaden.75 Ähnlich früh verließ auch Dr. Koch 1897 die Stelle als Distriktarzt in Kastellaun, die er erst seit 1895 innegehabt hatte.76 Soweit aus den Quellen erkennbar, hatte der größte Teil der Distriktärzte seine jeweilige Stelle aber für die Dauer von mehreren Jahren inne.77 Den meisten Distriktärzten gelang es demnach, sich im Laufe der Zeit – und mit steigendem Alter78 – eine tragfähige Privatpraxis aufzubauen. Die lange Haltezeit der Distriktarztstellen spricht dafür, dass diese nicht nur für einen Berufseinstieg interessant waren, sondern auch in späteren Jahren zur Einkommenssicherung und zum Gewinn weiterer Patienten – etwa durch Rundreisen zu armen Patienten – bei-

74 Vgl. LHAK Best. 655,14 Nr. 946, Schreiben des Dr. Longerich vom 5. August 1874. Ähnlich auch LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Dr. Hahnwald, Bonn vom 31. Juli 1920. 75 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Subscriptionsliste über Beiträge zur Besoldung eines Arztes in Zeltingen, o.D. 76 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Schreiben des Bürgermeisters an den Landrat vom 13. August 1897. 77 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Bürgermeisters an Dr. Dach vom 10. Juli 1874; Ebd., Schreiben des Dr. Dach vom 15. März 1880; Ebd., Schreiben des Bürgermeisters an den Landrat vom 26. März 1882. Der Nachfolger Dr. Fettens in Zeltingen, Dr. Dach, blieb immerhin von 1874 bis 1880, verlängert dann seinen Vertrag noch einmal um zwei Jahre und verließ 1882 nach acht Jahren die Stelle. Ähnliche Zeitintervalle lassen sich auch in anderen Fälle feststellen. Etwa für Kastellaun Dr. Dietzler 1899–1909, Dr. Jakobs 1909–1922, für Kyllburg Dr. Balduwein 1891–ca. 1925, ebenso Dr. Schreiber in Speicher. Siehe LHAK Best. 655,14 Nr. 928. Der Wittlicher Armenarzt Dr. Kochstift feierte 1928 sein 25jähriges Dienstjubiläum. Siehe Petry, Fürsorgewesen, S. 369. Vgl. auch Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 107. 78 Alter und Ortsansässigkeit waren wichtige Determinanten der Akzeptanz und des wirtschaftlichen Erfolgs einer Praxis. Vgl. Stolberg, Patientenschaft sowie mit Bezug darauf Dinges, Arztpraxen, S. 34.

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trugen.79 Zudem war die Inhaberschaft einer Armenarztstelle im ländlichen Raum offenbar kaum stigmatisierend für den Arzt.80 Die Möglichkeiten, die sich einem Arzt boten, lassen sich exemplarisch am Beispiel des Zeltinger Distriktarztes Dr. Angen nachzeichnen. 1857 geboren und aus Zeltingen stammend81, wurde Dr. Angen im Anschluss an sein Studium in München und seine Approbation 1882 im selben Jahr auf die Distriktarztstelle in Zeltingen berufen.82 Diese Funktion behielt er bis mindestens 1926 inne. Damit reichte die Zeitspanne, in der er diese Stelle ausfüllte, weit über die Zeiträume in den vorher genannten Beispielen hinaus. In dieser Funktion scheint er sich bewährt und mit seiner Praxis auch ein gewisses Vermögen erworben zu haben. Im Rahmen einer Begutachtung möglicher Kandidaten für die Kreisarztpositionen urteilte der Regierungsmedizinalrat Dr. Schmidt über Angen: Der in Zeltingen ansässige Kreiswundarzt Dr. Angen; dort geboren, sehr wohlhabend, würde sich wohl zu einem Kreisarzt, dem nicht große Aufgaben gestellt sind, eignen, paßt aber, weil vielfach mit dort maßgebenden oder einflußreichen Personen bekannt oder verwandt nicht recht in den dortigen Kreis als Kreisarzt, ist auch eine ziemlich passive Natur. Da er im Kreise Bernkastel bleiben will, ist es am besten, ihn in Zeltingen zu belassen, d. h. dort als Kreiswundarzt zur Verfügung zu stellen.83

Dr. Angen hatte demnach – befördert durch seine Herkunft aus der Region – eine beachtliche Karriere absolviert und sich als örtlicher Honoratiore offenbar etabliert. Gerade seine offenbar gute soziale Integration ließ ihn in den Augen des Regierungsmedizinalrates für die Kreisarztfunktion in Bernkastel selbst ungeeignet erscheinen.84 1906 war Dr. Angen dann immerhin Kreiswundarzt und ärztlicher Leiter des örtlichen Krankenhauses.85 1917 schließlich bekam er den Titel eines „Geheimen Sanitäts-Rates“ verliehen, die letzten Nachweise seiner ärztlichen Tätigkeit im Allgemeinen stammen aus dem Jahr 1932.86 Neben der gelungenen Integration in die lokale Gesellschaft zeigt der Fall, dass im ländlichen Raum auch weitere berufliche Optionen, wie ein Eintritt in die staatliche Medizinalverwaltung bestanden, wenn auch letzteres sicherlich nur für wenige Ärzte erreichbar war.

79 Für England hat dies Digby, Making, S. 119 formuliert. 80 Vgl. dazu Rudloff, Wohlfahrtsstadt, S. 666. 81 GStA PK, I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 257, Die Verwendung der KreisMedizinalbeamten bei der Ausführung des Gesetzes betreffend Dienstellung des Kreisarztes. Schreiben vom 10. September 1900. 82 LHAK 655,123 Nr. 203, passim. 83 GStA PK, I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 257, Die Verwendung der KreisMedizinalbeamten bei der Ausführung des Gesetzes betreffend Dienstellung des Kreisarztes. Schreiben vom 10. September 1900. 84 Nicht abschließend belegbar, aber zumindest sehr wahrscheinlich, ist die Annahme, dass er in diesem Falle eine Interessenkollision von privater sozialer Integration und beruflicher staatlicher Aufsichtspflicht vermutete. 85 LHAK 655,123 Nr. 522, Schreiben des Dr. Angen vom 18. Juni 1906. 86 655,123 Nr. 966, Schreiben vom 26. Mai 1932.

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Einkommen Die finanzielle Dimension ärztlicher Tätigkeit, also die Höhe des Einkommens und deren Einfluss auf das Sozialprestige oder den Professionalitätsgrad eines Arztes etc., ist für deutsche Verhältnisse bisher kaum bearbeitet worden.87 Eine derartige Untersuchung umfassend zu leisten, ist auch im Zusammenhang dieser Studie nicht möglich, hier kann im Wesentlichen nur der Versuch unternommen werden, mögliche Einkommensquellen von Ärzten im ländlichen Raum aufzuzeigen und für einzelne Fälle diese Einkünfte in Relation zu einander zu bringen. Für einen einordnenden Blick sind dabei einige Arbeiten aus dem englischen Kontext geeignet, die eben jene „financial dimension“ des ärztlichen Wirkens unlängst detailliert und umfassend untersucht haben.88 In den rheinischen Gebieten erhielten in französischer Zeit die Ärzte für ihre distriktärztlichen Aufgaben eine Besoldung von 300–850 Franken pro Jahr, die anteilig nach der Bevölkerungszahl der jeweiligen Gemeinde zu 4/5 aus dem normalen Haushalt der Gemeinden, zu 1/5 aus der jeweiligen Armenkasse getragen wurden.89 Diese Zahlungspraxis wurde von den preußischen Behörden anfangs übernommen, im Dezember 1828 aber dahingehend umgestellt, dass die jeweiligen Gemeindeanteile an der Besoldung nicht mehr direkt an den Distriktarzt gezahlt, sondern zuvor auf der Ebene des Kreises zwischen allen Distriktärzten gemittelt wurden.90 Jede Gemeinde hatte dabei einen Anteil an der Distriktsarztbesoldung von 10 Talern je 1000 Einwohner zu zahlen.91 Vor der Umstellung waren also Distriktarztstellen in bevölkerungsreichen Gemeinden in doppelter Hinsicht attraktiver gewesen. Zum einen war ohne die Mittelung auf Kreisebene die Besoldung der Stelle selbst höher, zum anderen war die Wahrscheinlichkeit in Gemeinden mit mehr Einwohnern höher, genügend Patienten für eine auskömmliche Privatpraxis zu bekommen. Der Effekt der Mittelung auf Kreisebene war, dass nicht nur alle Distriktärzte eines Kreises dieselbe Summe als Vergütung erhielten, sondern in der Tendenz die Distriktarztstellen in Bürgermeistereien mit gerin-

87 Vgl. dazu Dinges, Arztpraxen. 88 Im Besonderen ist hier die detaillierte Studie Digby, Making zu nennen, darauf aufbauend kürzlich Williams, Income als Untersuchung von Bedfordshire um 1800. So hat Anne Digby für England seit der Mitte des 18. Jhdt. eine erkennbare Zunahme der Armenarztverträge ausgemacht, wobei die Qualität der Versorgung mit der Einführung des New Poor Law und größerer Arztdistrikte nach 1834 wieder abnahm. Vgl. Digby, Making, S. 225; 244–253. Nach Williams, Income, S. 162 ist die zunehmende Ausbreitung von Verträgen noch nicht detailliert untersucht worden. 89 LHAK Best. 403 Nr. 11063, S. 395–408, Schreiben der Königlichen Regierung Trier an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 6. Dezember 1859 zu distriktärztlichen Einrichtungen im Regierungsbezirk. Hudemann-Simon, Santé, S. 158. 90 Vgl. Lusch, Dudeldorf, S. 257–258. 91 Vgl. Ebd., S. 257–258. Ein ähnlicher Zusammenhang von Bevölkerungszahl und gezahlter Summe bestand auch im englischen Armenarztwesen, die Pro-Kopf-Zahlungen wiesen aber große Variationen in der Höhe auf. Vgl. Williams, Income, S. 168–169.

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gerer Bevölkerungszahl attraktiver wurden.92 Der zugrundeliegenden Vorstellung nach fielen in kleineren Bürgermeistereien auch weniger Armenbehandlungen an, die ja pauschal und nicht separat bezahlt wurden. Die einzelne Armenbehandlung wurde demnach höher entgolten, zudem blieb dem Arzt aufgrund des geringeren Zeitaufwandes mehr Zeit für seine vom Patienten entlohnte Privatpraxis.93 Mit der 1864 erfolgten Umstellung auf vertragliche Basis setzte dann eine Diversifizierung in der Bezahlung der Armenärzte ein, wobei die Höhe des Gehalts vor allem von der finanziellen Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der anstellenden Bürgermeisterei abhängig war. So erhielt Dr. Angen als Distriktarzt der Bürgermeisterei Zeltingen laut Vertrag ab 1882 eine jährliche Remuneration von 400,– Mark, sein Vorgänger hatte für armenärztliche Aufgaben zuvor nur 37 Taler, ungefähr 111 Mark, bekommen. Dr. Koch, seit 1895 Distriktarzt der Bürgermeisterei Kastellaun, erhielt mit 240,– Mark jährlich ebenfalls nur etwas mehr als die Hälfte der Zeltinger Zahlungen.94 Die Stelle als Distriktarzt war zudem nicht die einzige Möglichkeit für Ärzte, einen Teil ihres Einkommens aus einer festen Funktion zu beziehen. Dr. Koch schrieb in seinem Bewerbungsschreiben auf die Kastellauner Distriktarztstelle: Nachdem die Behandlung der der Ortskrankenkasse angehörigen Patienten dem praktischen Arzte Herrn Klingelspiel, die Ausübung des Impfgeschäftes in der Bürgermeisterei Castellaun dem prakt. Arzte Herrn Dr. Jakobs übertragen ist, erlaubt sich der Unterzeichnete um die demnächst neu zu besetzende Distriktarztstelle der hiesigen Bürgermeisterei ergebenst zu bewerben (…)95

Hieraus lassen sich zum einen die wichtigsten mit einer Remuneration versehenen Funktionsstellen, wie auch das Streben der ländlichen Ärzte nach denselben erkennen. Die wichtigste Funktionsstelle war ohne Zweifel die des Distriktarztes.96 Weiteres Einkommen boten die aus Kreismitteln finanzierten Stellen der Impfärzte in den einzelnen Bürgermeistereien. Formal waren die Impfärzte seit dem Reichsimpfgesetz vom 12. April 1875 eigenständige Funktionsstellen.97 Bis dahin hatte die Verantwortung für die Anstellung von Impfärzten bei den einzelnen Bürgermeistereien gelegen, die diese Aufgaben meist ihren Distriktärzten übertragen hatten. Infolge der gesetzlichen Neuregelung

92 Ähnliche Versuche mit – sehr niedrigen – Einheitsgehältern waren bereits 1811/1812 im Saardepartement unternommen worden. Vgl. Hudemann-Simon, Santé, S. 168–169. 93 Schubert, Koblenz S. 81. 94 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Vertrag zur Besetzung der Distriktsarztstelle Zeltingen vom 26.August 1882. LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Vertrag über die Besetzung der Armenarztstelle Kastellaun vom 16.03.1895. 95 Best. LHAK 655,14 Nr. 928, Schreiben vom 11. Januar 1895. 96 Für England zieht Digby, Making, S. 117–127 dieselben Schlüsse, betont aber die Verschlechterung der Bedingungen durch die Einführung des New Poor Law 1834. 97 LHAK Best 655,14 Nr. 946, Schreiben des Regierungspräsidenten an den Landrat zu Simmern vom 29. Mai 1875.

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wurde die Einsetzung und Besoldung der Impfärzte nun zu einer Aufgabe der Kreise. In der Praxis scheint diese rechtliche Neuregelung aber wenig Auswirkungen gezeigt zu haben, dies lässt zumindest das Vorgehen der Kreisbehörde im Kreis Simmern vermuten. Auf Vorschlag des Landrats wurden hier die Bürgermeistereibezirke als Impfbezirke beibehalten und die bisherigen Impfärzte angefragt, zu welchen Bedingungen sie diese Aufgabe weiterhin übernehmen würden.98 Im Ergebnis übten die Armenärzte meistens weiterhin beide nun formal unterschiedlichen Funktionen in Personalunion aus.99 Dass eine ähnliche Entwicklung auch andernorts stattfand, legt die häufig in den Berichten erscheinende sprachliche Wendung der „Armen- und Impfärzte“ nahe.100 Für die Bürgermeistereien dürfte jedoch die finanzielle Entlastung dadurch, dass ein Teil ihrer bisherigen Kosten vom Kreis übernommen wurde, sehr willkommen gewesen sein. Die Bürgermeisterei Kastellaun etwa nutzte die Gelegenheit, ihre eigenen Ausgaben für den Armenarzt zu senken, indem sie das Gehalt des Impfarztes von zuvor 450 Mark jährlich auf nur noch 240 Mark reduzierte101, was der betroffene Armenarzt Dr. Sperling sichtlich ungnädig kommentierte.102 Es steht aber zu vermuten, dass – zumindest in diesem Falle – auch der Arzt die Gelegenheit nutzte, seine Einkommenslage zu verbessern, wenn er die zukünftige Einzelabrechnung der Impfungen anstelle der bisherigen Pauschalbezahlung zur Bedingung dafür machte, die Impfarzttätigkeit weiter auszuüben.103 Die enge Verbindung einer Tätigkeit als Armenarzt und als Impfarzt änderte sich in der Praxis erst mit der Zunahme der Ärztezahl auf dem Land, nachdem mehr Ärzte als zuvor Interesse an einem festen Zusatzeinkommen aus einer Funktionsstelle bekundeten.104 Nach dem gleichen Muster der beschriebenen Funktionsstellen bestanden zahlreiche weitere solcher Stel98 LHAK Best 655,14 Nr. 946, Schreiben des Landrates zu Simmern an die Bürgermeister des Kreises vom 09. Juni 1875. 99 Ähnlich auch Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 535–536. 100 Vgl. LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Beschlussprotokoll des Gemeinderates der Bürgermeisterei Zeltingen vom 30.11.1868 oder LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Kreis Wittlich für 1890, S.13. 101 LHAK Best 655,14 Nr. 946, Schreiben des Bürgermeisters Kastellaun an den Landrat zu Simmern vom 23. Juni 1875. 102 „[Hiermit] erkläre ich, dass ich mit der Festsetzung des Gehalts als Armenarzt einverstanden bin, obgleich ich mich nicht besonders geehrt fühlen kann, dass mir nach einer so langen Thätigkeit das Gehalt nicht zu Theil wird, was einem viel jüngeren Collegen unter gleichen Verhältnissen bewilligt worden ist.“ LHAK Best 655,14 Nr. 946, Schreiben des Dr. Sperling an den Bürgermeister zu Kastellaun vom 18. Juli 1875. 103 LHAK Best 655,14 Nr. 946, Schreiben des Dr. Sperling an den Bürgermeister zu Kastellaun vom 21. Juni 1875. Bei einzelner Abrechnung von Impfungen erhielt der Arzt zwischen 0,75 und 1,– M pro erfolgreicher Impfung. Vgl. auch Marx, Scientific Medicine, S. 125–126. Eine vergleichbare Kombination aus pauschaler Armenbesoldung und einzelfallbezogener Abrechnung von Impfungen (und Gebirtshilfen) existierte auch unter dem Old Poor Law im ländlichen England. Crowther, Provincial England, S. 209. 104 Vgl. etwa das zuvor zitierte Schreiben Dr. Kochs.

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len – etwa als Bahnarzt, Gefängnisarzt, später auch Vertrauensärzte und ähnliche Positionen – im Allgemeinen wurden diese aber zumeist den Kreisärzten mitübertragen.105 Für die Bürgermeisterei Zeltingen lässt sich darüber hinaus noch eine weitere Funktionsstelle nachweisen. In der Eigenschaft als Lokalarzt wurde dem Inhaber eine Remuneration „ohne weitere Verpflichtung als eine noch näher zu vereinbarende Zeit hindurch in Zeltingen wohnen zu bleiben“ gezahlt, wobei Verpflichtungsdauer und Zahlungshöhe variieren konnten.106 So war die Summe für den Arzt Dr. Fetten im Jahr 1867 mit 300 Talern bestimmt, hingegen vereinbarte dessen Nachfolger Dr. Dach 1875 mit der Gemeinde eine Zahlung von 200 Talern pro Jahr für fünf Jahre.107 Bei den Verhandlungen über eine Verlängerung seines Vertrages forderte er 1880 dann eine Zahlung von 600 Mark pro Jahr.108 Sein Nachfolger, Dr. Angen, erhielt ab 1882 dagegen 300 Mark pro Jahr als Zeltinger Lokalarzt.109 Zu diesem Zeitpunkt war die separate Wohnsitzverpflichtung für Dr. Angen – der Grund für die Zahlung eines Lokalarztgehalts – allerdings eigentlich schon überflüssig, da nun auch im Distriktarztvertrag gleich zu Beginn die Wohnsitznahme in der Bürgermeisterei zur Auflage gemacht worden war. Unklar bleibt, ob die Vereinbarung – wie dies in der Provinz Nassau der Fall war – eventuell eine Vertragsarztvereinbarung darstellte, die im Gegenzug zur Gewähr verminderter Gebühren durch den Arzt alle Gemeindemitglieder zur ausschließlichen Konsultation von Dr. Angen verpflichtete.110 Die herrschende Vertragspraxis liefert allerdings Indizien dafür, dass der ursprüngliche Zweck der Zahlung, die Niederlassung eines Arztes in Zeltingen zu befördern, im Laufe der Zeit in den Hintergrund trat. Ein Beschluss des Gemeinderates der Bürgermeisterei Zeltingen von 1911 formuliert die Absicht des Gemeinderates, Dr. Angen die Vergütung als Lokalarzt von 300,– M/Jahr, die „übrigens vertragsmäßig nur für die ersten 5 Jahre zugesagt war“, ab dem 1. April 1911 nicht weiter zu gewähren.111 Offenbar beendete der Gemeinderat hier ein Vertragsverhältnis, das nach Ablauf der vereinbarten Dauer still-

105 Vgl. etwa GSTA PK I HA Rep. 76 VIII B Nr. 375, Schreiben des Regierungspräsidenten zu Koblenz vom 25. Dezember 1912. Eine Vielzahl verschiedener Funktionsstellen nennt auch Digby, Making, S. 120–214. Auch in England wurden teilweise mehrere solcher Stellen von einem Arzt zugleich wahrgenommen. Insgesamt hatten nach ihren Angaben ca. 50 % der Ärzte eine Funktionsstelle. 106 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Antwortvorlage mit Informationen für Stellenbewerber. 107 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Beschluss des Gemeinderats vom 10. Juli 1874. 108 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Dr. Dach vom 15. März 1880. 109 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Notiz des Bürgermeisters vom 13. Oktober 1882. 110 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Vertrag zur Besetzung der Distriktsarztstelle Zeltingen vom 26.August 1882. Vgl. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 537. 111 Siehe LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Bürgermeisters Zeltingen an Dr. Angen vom 24.3.1911.

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schweigend in beiderseitigem Einvernehmen immer wieder verlängert worden war.112 Trotz aller festen Zusatzeinkommen machten den größten Teil des Einkommens bei Ärzten im ländlichen Raum weiterhin die Einkünfte aus privater Praxis aus. Da für den untersuchten Raum detaillierte Quellen wie Abrechnungen aus Privatpraxen nicht aufzufinden waren, ist es jedoch außerordentlich schwierig, verlässliche und allgemeingültige Angaben zur Einkommenssituation ländlicher Armenärzte zu machen. In seinen Informationen für interessierte Bewerber beziffert 1882 der Bürgermeister von Zeltingen das Einkommen des bisherigen Arztes auf „etwa 4500 Mark, in den letzten ausnahmsweise geringen Vorjahren sank es bis auf 3600 Mk.“113 Diese Summe dürfte im Vergleich zu Einkommen in stärker städtisch oder industriell geprägten Gegenden der Regierungsbezirke Trier und Koblenz niedrig ausgefallen sein, wie ein vorsichtiger Vergleich anzudeuten vermag: Im industriell geprägten Saarkreis St. Wendel beantragte der Kreisarzt Dr. Türk 1902 eine Stellenzulage, um sein Einkommen von rund 4600 M auf 6000 M zu erhöhen. Zur Begründung verwies er auf die „die Gesamtsumme meines Einkommens ganz ungewöhnlich übersteigenden Einkünfte der hiesigen praktischen Ärzte, deren durchschnittliche Jahreseinnahme je auf bis 10000 Mark geschätzt wird.“114 Selbst wenn man annimmt, dass Dr. Türk eine etwas höhere Durchschnittssumme angab, als tatsächlich gegeben war, sind die Zahlenangaben aus St. Wendel und Zeltingen doch so unterschiedlich, dass das generell niedrigere Einkommensniveau ländlicher Ärzte deutlich sichtbar wird.115 Von der im Zeltinger Fall angenommenen Einkommenshöhe von im Mittel 4000 M waren etwa 800–850 M gesichertes Einkommen aus Funktionsstellen wie der Distriktarzt- oder Impfarzttätigkeit und dem Lokalarztgehalt für Zeltingen, was ein Einkommen aus privater Praxis von rund 3200 M bedeutet.116 Die Einkünfte aus Funktionstätigkeiten machten grob gerechnet demnach in diesem Falle höchstens ein Fünftel des Gesamteinkommens aus.

112 Siehe auch Ebd., Schreiben des Dr. Angen an den Bürgermeister von Zeltingen vom 19.10.1899. Der erste Vertrag als Lokalarzt mit Dr. Angen war 1882 abgeschlossen worden, die genannte fünfjährige Frist demnach bereits im Jahr 1887 abgelaufen. Spekulation muss in diesem Falle auch die Frage bleiben, ob gerade die bereits erwähnte soziale Integration Angen die Streichung des Lokalarzteinkommens lange verhindern half. Im Ganzen war das Verhältnis von Armenarzt und Armenverwaltung aber offenbar von wesentlich größerem Vertrauen geprägt, als etwa in England, wo unter dem New Poor Law Armenärzte meist auf Jahresbasis angestellt wurden und ihr Gehalt jährlich neu verhandeln mussten. Vgl. Crowther, Provincial England, S. 215. 113 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Antwortvorlage mit Informationen für Stellenbewerber. 114 GSTA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 417, Gesuch des Kreisarztes St. Wendel vom 13.11.1902. 115 Nach Seidel, Kassenarzt galt in der Zeit der Weimarer Republik ein Einkommen von 12.000 M für Ärzte als angemessen. 116 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Bürgermeisters an den Landrat zu Bernkastel vom 26.3.1882; Ebd., Antwortvorlage mit Informationen für Stellenbewerber.

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Allerdings sind im Hinblick auf eine Übertragbarkeit dieser Zahlen auf andere Orte Einschränkungen zu machen. Die gesonderte Geldzahlung an einen Arzt alleine für die Wohnsitznahme im Ort, wie es in der Verpflichtung als Lokalarzt geschah, deutet auf einen gewissen Wohlstand der Bürgermeisterei Zeltingen hin. Zumindest lässt sich eine vergleichbare Zahlung in den hier herangezogenen Quellen an keiner anderen Stelle belegen. Rechnet man die hierfür angegebenen 300 Mark aus den genannten Einkünften heraus, ergibt sich, dass bei einem Gesamteinkommen von geschätzten 3700 Mark lediglich rund 500 Mark – ein knappes Siebtel – aus Funktionsstellen stammte. Berücksichtigt man nun noch, dass auch die Höhe des Armenarztgehaltes in Zeltingen mit 400 M etwa die von Kastellaun mit 240 M weit übertraf, so lässt sich trotz Unsicherheiten über die Zahlen im Einzelfall doch festhalten, dass Einkünfte aus der Armenpraxis in der Form des pauschalierten Distriktarztgehaltes nur einen geringen Teil des landärztlichen Einkommens von kaum mehr als 10 % ausmachten.117 Die finanziellen Perspektiven einer Anstellung waren deutlich erkennbar ein Kernthema der Anfragen niederlassungswilliger Ärzte. Obwohl eine allgemeine Übertragbarkeit der Beobachtung aufgrund der beschriebenen knappen Quellenlage nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann, deuten die überlieferten Schreiben aber in ihrer Zusammenschau auf einen allmählichen Wandel des Charakters der Anfragen im Laufe der Zeit hin. Dr. Dach aus Trier verwies in seiner Bewerbung um die Zeltinger Distriktarztstelle 1874 darauf, dass er verschiedene Stellen angeboten bekommen habe, wobei eine mit einem „Fixum“ von 350 Talern, das auf bis zu 500 erhöht werden könne, ausgestattet sei.118 Nachdem er so auf seinen ‚Marktwert’ verwiesen hatte, bot er der Bürgermeisterei Zeltingen an, sich bereits für ein Fixum von 300 Talern dort niederzulassen. Dies deutet darauf hin, dass die Zeltinger Stelle für Dr. Dach noch attraktiver war als die anderen Angebote; dennoch erlaubte er es sich aber, die Höhe seiner Bezahlung als Armenarzt zu verhandeln. Im selben Jahr erklärte hingegen der Bürgermeister von Kastellaun auf die Niederlassungsanfrage von Dr. Albert aus Meisenheim, die „Niederlassung eines zweiten Arztes am hiesigen Orte wird von der Bevölkerung sehr dringend gewünscht & war es die Absicht in den nächsten Tagen dieserhalb in der Cölner Zeitung eine Aufforderung zu erlassen“, verwies aber gleich darauf, dass es „keine Veranlassung“ gäbe, die Armenpraxis aus den Händen des „seit länger als 30 Jahren hier wohnenden alten Arztes Dr. Sperling“ zu nehmen.119 Dr. Albert ließ sich in diesem Falle am Ort nieder, ohne eine Funktionsstelle zur finanziellen Absicherung besetzen zu können. Eine solche Situation, dass ein 117 Vgl. dazu Digby, Making, S. 124 nach deren Angaben in England im ländlichen Raum zwischen 1871 und 1909 ca. 25 % des ärztlichen Einkommen aus Funktionsstellen stammten. Williams, Income, S. 175 gibt sogar 25–30 % an. Zur unzureichenden Höhe des Distriktarztgehaltes auch Hudemann-Simon, Santé, S. 163–165. 118 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Dr. Dach vom 6. Juli 1874. 119 LHAK Best. 655,14 Nr. 946, Schreiben des Dr. Longerich vom 5. August 1874 und undatierte Antwort des Bürgermeisters darauf.

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Arzt sich ohne weitere Zahlungen oder Funktionsstellen am Ort niederließ, ist für Zeltingen erst 45 Jahre später dokumentiert. 1920 wurde Dr. Hahnwald aus Bonn „von mehreren Seiten“ auf eine Niederlassungsmöglichkeit als zweiter Arzt in Zeltingen aufmerksam gemacht.120 Er erkundigte sich nach den Möglichkeiten, eine Armenarztstelle zu bekommen, erhielt aber vom Inhaber Dr. Angen eine Absage. Dennoch war dies für ihn „bei diesem schweren Kampf, den der ärztliche Nachwuchs heutzutage um die Gründung einer Existenz führt, kein Grund mich nicht als zweiter Arzt in Zeltingen niederzulassen, wofern die dortigen Verhältnisse wirklich derartige sind, daß ein zweiter Arzt dortselbst bestehen könnte.“121 Innerhalb der wichtigen Frage nach den finanziellen Möglichkeiten einer Stelle hatte sich somit der Akzent verschoben. War anfangs der Bedarf der Bürgermeistereien und Gemeinden an Ärzten im Verhältnis zu potentiellen Interessenten so, dass niederlassungswillige Ärzte um die Höhe ihres Honorars noch verhandeln konnten122, hatte sich die Lage im beginnenden 20. Jahrhundert dahingehend gewandelt, dass Ärzte nicht mehr davon ausgehen konnten, eine private Niederlassung zusätzlich mit den Gehaltsbezügen einer Funktionsstelle absichern zu können.123 Diesen Wandel beschrieb der Kreisarzt von Altenkirchen 1901 in deutlichen Worten: Mag auch das Fixum noch so niedrig sein, so nimmt doch ein armer Landdoctor alles, was Geld bringt, gerne an (…).124

Die Untersuchungen zeigen insgesamt, dass Arztstellen im ländlichen Raum von ihrem Einkommen her keineswegs zu den attraktivsten Stellen gehörten. Die erzielbaren Einkommen waren für ärztliche Verhältnisse niedrig, und so erstaunt es nicht, dass sich niederlassungswillige Ärzte bemühten, zusätzlich zu ihrer privaten Praxis eine Funktionsstelle zu finden, die ihnen zumindest ein sicheres Teileinkommen bot.125 Die zentrale Bedeutung der kommunalen Distriktarztstellen in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz innerhalb der Gesamtheit dieser Funktionsstellen zeigen die Berichte der Kreisärzte. Der Kreisarzt des Landkreises Trier etwa verwies 1891 darauf, dass die Privatärzte in seinem Landkreis „sämmtlich irgend einen Bezirk als Armen- oder Impfärzte“ hatten.126 Im selben Jahr waren im Kreis Bitburg von neun Ärzten im Kreis zwei als Kreismedizinalbeamte – und damit auch Inhaber einer Funkti120 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Dr. Hahnwald, Bonn vom 31. Juli 1920. 121 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Dr. Hahnwald, Bonn vom 31. Juli 1920. 122 Vgl. dazu auch Crowther, Provincial England, S. 209, die auf die vergleichsweise generösen Zahlungen an Armenärzte in Yorkshire vor 1834 verweist, welche Armenarztstellen attraktiv erscheinen liessen. 123 Williams, Income, S. 182–184 stellt ein ähnliches Wettbewerbsystem, bei dem die anstellenden Parishes zwischen Ärzten wählen konnten, in England schon im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert fest. 124 LHAK Best. 441 Nr. 13675 S. 135, Jahresgesundheitsbericht des Kreisarztes Altenkirchen für 1900 vom 30. Mai 1901. 125 Ebenso Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 526 und für England Williams, Income, S. 175. 126 LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Landkreis vom 24. März 1891, S. 171.

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onsstelle –, vier als Distriktärzte und nur drei als reine Privatärzte tätig.127 Im Kreis Wittlich waren lediglich vier Ärzte ansässig, die alle als Distriktärzte tätig waren.128 Damit führten am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Bedarf der Gemeinden an Distriktärzten und die steigende Zahl niederlassungswilliger Ärzte in den ländlichen Regionen der südlichen Rheinprovinz dazu, dass der größte Teil der niedergelassenen Ärzte neben seiner Privatpraxis als Armenarzt tätig war. Die Stellung als Armenarzt war dabei in ihrem Charakter als teilbesoldete Funktionsstelle nur eine unter mehreren ähnlichen Alternativen, zweifelsohne aber die von Umfang und Häufigkeit her bedeutendste. 1.3. Distriktarztwesen und ländliche Arztversorgung in der Entwicklung In den vorangegangenen Abschnitten wurden zum einen die Entstehung und die Struktur ländlicher Distriktarztstellen beschrieben, zum anderen die Bedeutung dieser Stellen für ihre jeweiligen Inhaber untersucht. Über die strukturelle Gestaltung der Distriktarztstellen hinaus hatte in ländlichen Gegenden aber auch die praktische Erreichbarkeit eines Arztes im Bedarfsfalle Einfluss auf das Maß, in dem ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden konnte. Im folgenden Abschnitt soll daher versucht werden, die Verbreitung von Ärzten in ländlichen Gebieten nachzuvollziehen, um über rein strukturelle Betrachtungen hinaus, Aussagen über die Wirksamkeit und die Bedeutung des Distriktarztwesens für die gesundheitliche Versorgung insbesondere kranker Armer treffen zu können. Die jährlichen Berichte der Kreisärzte geben Auskunft über die Zahl der Ärzte in einem Kreis. Der Indikator „Ärzte pro Bevölkerung“ als Maßstab für die ärztliche Versorgung einer Region ist aber in der Forschung immer wieder kritisiert worden, da er die Inanspruchnahme anderer Angebote durch die Bevölkerung unberücksichtigt lasse.129 Zudem suggeriert die Produktion einer solchen „Versorgungsziffer“ eine Gleichmäßigkeit der Erreichbarkeit, die den tatsächlichen geographischen und infrastrukturellen Gegebenheiten kaum gerecht wird. Da das Konzept der vorliegenden Studie aber darin besteht, die Anbieter medikaler Leistungen im Untersuchungsraum möglichst breit zu erfassen, sind hier die Möglichkeiten gegeben, derartige Kennziffern nicht abso127 LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Kreis Bitburg vom 26. März 1891, S. 271. Zudem war einer der drei Privatärzte, Dr. Hanl jun. in Neuerburg, der Sohn des dortigen Distriktarztes und vermutlich nicht völlig allein auf sein eigenes Einkommen angewiesen. 128 LHAK Best. 442 Nr. 3894, Sanitätsbericht für den Kreis Wittlich vom 11. Februar 1892, S. 598–600. 129 Zuletzt Dinges, Arztpraxen, S. 40–41. Dies gilt natürlich auch für vergleichbare Indikatoren in anderen Bereichen.

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lut, sondern im Kontext anderer Indikatoren zu gebrauchen und ihre vermeintliche Aussagekraft zu hinterfragen. Um den nivellierenden Druck von Quotientenbildungen zu vermindern und weitergehende Interpretationen zu ermöglichen, wurden die erhobenen medizinischen Versorgungsstrukturen, etwa in Form der von den Kreisärzten berichteten Niederlassungsorte der einzelnen Ärzte, kartographisch abgetragen. Die geographische Verteilung der Ärzte innerhalb eines Kreises lässt sich daher recht gut darstellen. Hingegen ist die Überlieferungslage zur lokalen Ausgestaltung und Entwicklung des Distriktarztwesens in den einzelnen Kreisen oder Bürgermeistereien sehr disparat. Aktenverluste, Kassationen oder auch schon die Aktenführung der Ämter haben sowohl auf der Ebene der Regierungsbezirke, etwa bei den jährlichen Gesundheitsberichten, als auch in den einschlägigen Beständen auf den Ebenen von Kreis, Bürgermeistereien oder Gemeinden eine von Fall zu Fall sehr unterschiedliche Quellenlage hervorgebracht. Die Umstände machen eine detaillierte Untersuchung der Entwicklung des Distriktarztwesens an einer konkreten Bürgermeisterei oder einem ganzen Kreis unmöglich. Wie zuvor geschildert, zeigt aber ein Vergleich der vorhandenen Zahlenangaben zu Ärzten im Allgemeinen und Armenärzten im Besonderen, dass der größte Teil der niedergelassenen Ärzte zugleich als Distriktarzt tätig war.130 Um den bereits angedeuteten Entwicklungsprozess in der Verbreitung von Armenärzten im ländlichen Raum zumindest ansatzweise nachvollziehen zu können, wurde die jeweilige Situation zu unterschiedlichen Zeitpunkten beobachtet. Die Wahl der drei Stichjahre 1880, 1893 und 1905 ergab sich dabei zum einen aus dem Bestreben heraus, über einen längerfristigen Beobachtungszeitraum Kontinuitäten und Brüche in der Entwicklung im Allgemeinen wie auch Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen geographisch oder ökonomisch verschiedenen Kreisen in den Blick nehmen zu können. Zum anderen weist die Quellensituation für die untersuchten Kreise Bernkastel, Bitburg, Wittlich und Simmern für die genannten Stichjahre die größten Parallelen in Qualität und Umfang der Überlieferung auf. Auch wenn mit der Einführung des Distriktarztwesens zu Beginn des 19. Jahrhunderts für jede Bürgermeisterei ein Distriktarzt benannt werden musste, bedeutete dies in der Praxis noch längst nicht, dass jede Bürgermeisterei auch über einen eigenen Distriktarzt oder gar einen ortsansässigen Distriktarzt verfügte. So wurde im November 1821 „nach Vereinbarung mit den betreffenden Ortsbehörden“ der damalige Kreisphysikus Dr. Näher als gemeinsamer Armenarzt für die Bürgermeistereien Bernkastel, Mühlheim, Lieser und Zeltingen ernannt.131 Da die Kreismedizinalbeamten in vielen Fällen die einzigen 130 Im Folgenden wird daher die allgemeine Verteilung der Ärzte aufgrund der Kreisarztberichte und ergänzender Quellen im Mittelpunkt stehen. Diese wird, wann immer die Quellen präzisere Angaben zu Distriktarztstellen erlauben, durch entsprechende Ausführungen ergänzt. 131 Siehe LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Landrates Bernkastel an den Bürgermeister zu Bernkastel vom 19. Januar 1857. Inwiefern das hier gewählte Modell, einem

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Ärzte in einem Kreis waren, ist zu vermuten, dass dieses Modell eher häufig vorkam.132 Auf diese Weise genügten die Bürgermeistereien zwar dem Buchstaben der Gesetze, die Absicht einer ortsnahen ärztlichen Versorgung von kranken Armen wurde so aber nur unzureichend umgesetzt. Wenn – wie im Falle von Bernkastel – der Kreisarzt zugleich auch für den größten Teil seines Kreises als Distriktarzt fungierte, blieb vor allem für die kranken Armen der entfernteren Gemeinden dessen Konsultation nach wie vor schwierig. Im Laufe der Zeit und mit der Niederlassung von Ärzten auch in kleineren Orten dürfte sich die Lage im Allgemeinen verbessert haben.133 Der bereits erläuterte Wechsel im Anstellungsmodus der Distriktärzte 1864 von einer kommunalen Verbeamtung zu einer vertraglichen Funktionsstelle bedeutete jedoch zunächst einen Rückschritt in den Bemühungen um eine lokale Niederlassung von Armenärzten. Durch die weitgehende Gestaltungsfreiheit der Vertragspartner war es den Bürgermeistereien freigestellt, einen Distriktarzt zu benennen, der außerhalb des eigenen Sprengels wohnte. Damit war ebenso die Übertragung der Distriktarztstelle von einem auswärtigen auf einen eventuell neu zugezogenen Arzt ins Belieben der Bürgermeisterei gestellt. Im Januar 1868 beschloss beispielsweise der Gemeinderat der Bürgermeisterei Zeltingen, die Distriktarztstelle der Bürgermeisterei vom bisherigen Inhaber, dem in Bernkastel ansässigen Kreisarzt Dr. Schlabach, auf den neu ortsansässigen Dr. Fetten in Zeltingen zu übertragen.134 Demgegenüber entschied der Gemeinderat der Bürgermeisterei Maring-Noviand im gleichen Kreis noch 1885, den Antrag des Dr. Schwert aus Maring auf Übertragung der Distriktarztstelle abzulehnen und diese bei dem in der benachbarten Bürgermeisterei Mülheim ansässigen Arzt, zu belassen. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass „bis jetzt gegen den bisherigen Armenarzt Dr. [Romler Name unleserlich, d. Verf.] in Mülheim keine Klagen über die Behandlung der Armen hiesiger Gemeinde vorgekommen“ seien.135 Dies weist darauf hin, Kreismedizinalbeamten zugleich kommunale Distriktarztstellen zu übertragen bewusst gewählt beziehungsweise in anderen Kreisen ähnlich gehandhabt wurde, lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht eindeutig beantworten. Silvia Weber-Grupe hat für Nassau vergleichbare Kollektivverpflichtungen beobachtet. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 537. Für England ebenso bei Williams, Income, S. 170–176. 132 Dass die Kreismedizinalbeamten zumindest fast immer auch eine Distriktarztstelle innehatten zeigt LHAK Best. 403 Nr. 11063, Schreiben der Regierung Trier an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 6. Dezember 1859 zu distriktärztlichen Einrichtungen im Regierungsbezirk, S.397: „Als Distrikt-Ärzte fungieren mit wenigen Ausnahmen, z. B. des Kreis-Physikus des Stadtkreises Trier auch die Kreis Medizinalbeamten.“ 133 So lässt sich etwa für Kastellaun ein ortsansässiger Distriktarzt ab den 1840er Jahren nachweisen. Vgl. LHAK Best. 655,14 Nr. 946, Schreiben des Bürgermeisters Kastellaun an Dr. Longerich vom August 1874: „Die Armen-Praxis befindet sich jetzt dergestalt in den Händen des seit länger als 30 Jahren hier wohnenden alten Arztes Dr. Sperling und deren Gehalt beträgt jährlich 150 Thaler.“ 134 Siehe LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Bürgermeisters Zeltingen an den Landrat zu Bernkastel vom 2. Dezember 1868. 135 VGV BKS, Beschlussbuch des Gemeinderates Maring-Noviand, Eintrag vom 6. Mai 1885.

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dass die Entscheider durchaus Rücksicht auf Ansichten und Ansprüche der betroffenen kranken Armen nahmen und diese keineswegs nur ungefragt Entscheidungen der Armenverwaltung über ihre Köpfe hinweg akzeptieren mussten.136 Zum selben Zeitpunkt hatten die kranken Armen der Bürgermeisterei Kastellaun sogar schon die freie Wahl zwischen zwei für ihre Bürgermeisterei zuständigen Armenärzten.137 Diese Beispiele zeigen, wie unterschiedlich in Umfang und Geschwindigkeit sich das Distriktarztsystem je nach den herrschenden lokalen Bedingungen entwickeln konnte. Ein eindeutiger Zeitpunkt, wann die Distriktärzte tatsächlich in ihrer Bürgermeisterei ansässig waren, wo sie ihren Wohnsitz nahmen und wie ihre Verträge gestaltet waren, lässt sich demzufolge nur für jeweils einzelne Bürgermeistereien bestimmen, weniger für ganze Kreise und gar nicht für einen kompletten Regierungsbezirk. Die ärztliche Versorgung um 1880 In seinem umfassenden Bericht über die Gesundheitsverhältnisse des Regierungsbezirkes Trier im Jahr 1880 wies Regierungsmedizinalrat Dr. Schwartz dem Kreis Wittlich innerhalb des ganzen Regierungsbezirks die rote Laterne im Bezug auf die Verbreitung von Ärzten im Kreis zu: Der Kreis Wittlich, wo auf 100 [Quadratkilometer] = 1,60 und auf 9760 Seelen ein Arzt kommt, ist am schlechtesten mit Aerzten versehen, obschon derselbe keineswegs zu den ärmsten des Regierungsbezirks gehört. Es liegt dies an dem Mangel größerer geschlossener Ortschaften.138

Tatsächlich wies der Kreis Wittlich im Vergleich mit den anderen hier untersuchten Kreisen die schlechtesten Kennziffern ärztlicher Versorgung in allen Bereichen auf.139 Den Aufstellungen im Bericht zufolge waren in besagtem Jahr gerade einmal vier Ärzte im Kreis Wittlich niedergelassen. Bei insgesamt 39041 Einwohnern bedeutete dies, dass auf 10.000 Einwohner des Kreises gerade mal ein Arzt kam; die Arztdichte auf 100 qkm betrug nur knapp 0,62. 136 Zur gegenseitigen Wahrnehmung und Einflussnahme auf Entscheidungen zwischen Armenverwaltung und Betroffenen siehe ausführlich Teil II der Arbeit. 137 LHAK Best. 655,14 Nr. 898, Schreiben des Bürgermeisters Kastellaun an Dr. Klingelspiel, 26.9.1879. 138 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 152. Die Angabe von 1,6 Ärzten auf 100 qkm Kreisfläche beruht offenbar auf einem Rechenfehler. Das genannte Ergebnis folgte aus der Division der Kreisfläche durch die Zahl der Ärzte im Kreis (641/4=160,25) und gäbe damit die durchschnittliche Kreisfläche an, die ein einzelner Arzt zu versorgen hätte. Zudem wurde im Ergebnis fälschlicherweise das Komma um 2 Stellen verschoben. Die korrekte Berechnung für die Ärztedichte auf 100 qkm Kreisfläche lautet hingegen: Zahl der Ärzte im Kreis multipliziert mit 100, geteilt durch die Kreisfläche in Quadratkilometern und ergibt im Ergebnis 4x100/641=0,6240. Die Ärztedichte im Kreis Wittlich war demnach noch niedriger als angegeben, nämlich ca. 0,62 Ärzte auf 100 qkm Kreisfläche! 139 Für die Kennziffern zu den folgenden Ausführungen siehe im Anhang Tabelle 12: Daten zur Verbreitung von Ärzten in den Kreises Bitburg, Bernkastel, Wittlich und Simmern 1880–1905/08.

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Zudem waren die Standorte dieser Ärzte nicht etwa gleichmäßig über den Kreis verteilt, sondern drei der vier Ärzte hatten ihren Wohnsitz in der Stadtgemeinde Wittlich selbst.140 Lediglich im Norden des Kreises hatte sich in Manderscheid ein weiterer Arzt in einer Landgemeinde niedergelassen. Die ärztliche Versorgung gerade der dörflichen Regionen im Kreis war in der Praxis hierdurch wohl noch wesentlich schlechter, als die niedrigen Kennziffern der Ärzteverbreitung, auf die sich Dr. Schwartz bezog, nahelegten. Auch das Ziel des Distriktarztsystems, jede Bürgermeisterei mit einem eigenen ortsansässigen Distriktarzt zu versehen, wurde bei weitem nicht erreicht. Auf 17 Bürgermeistereien des Kreises kamen – da wie gezeigt zu diesem Zeitpunkt alle Ärzte im Kreis zugleich als Distriktärzte tätig waren – vier nachgewiesene Ärzte.141 Auch wenn es sich nicht im einzelnen belegen lässt, so legt die von Dr. Schwartz betonte hohe Zahl kleinerer Ortschaften die Vermutung nahe, dass im Kreis Wittlich jeweils mehrere Bürgermeistereien einen gemeinsamen Distriktarzt bestellten. Im deutlichen Gegensatz zum Kreis Wittlich nahm der Kreis Bernkastel unter den hier untersuchten Kreisen und wohl auch im Bezug zu anderen Kreisen des Regierungsbezirks deutlich eine Spitzenposition in der ärztlichen Versorgung ein. Bei einer mit 44722 Einwohnern knapp 14 % höheren Bevölkerungszahl gegenüber dem Kreis Wittlich, waren sowohl die absolute Zahl der kreisansässigen Ärzte, wie auch deren Verhältnis zu Einwohnerzahl und Fläche des Kreises jeweils gut doppelt so hoch.142 Auch die Zahl der Ärzte, die ihren Wohnsitz in Landgemeinden hatten, war mit insgesamt sechs gegenüber der Zahl der in der Stadtgemeinde Bernkastel niedergelassenen Ärzte von drei doppelt so hoch. Zudem verfügten im Kreis Bernkastel bereits um 1880 fast alle Bürgermeistereien über einen eigenen Distriktarzt, nur in der Bürgermeisterei Kempfeld war noch kein Arzt direkt ansässig. Zeigte sich dieser Kreis aufgrund dieser kreisbezogenen Zahlen als relativ gut mit Ärzten versorgt, verdeutlicht der Blick auf die örtliche Verteilung der Ärzte dennoch ein Ungleichgewicht in der regionalen Versorgung innerhalb des Kreises.143 Von den insgesamt neun Ärzten im Kreis waren sechs in den wohlhabenderen Moselbürgermeistereien ansässig.144 In den ausgedehnten Gebieten des Hochwaldes waren hingegen gerade einmal drei Ärzte niederge-

140 Siehe dazu die im Anhang Karte 5: Anzahl und regionale Verteilung von Ärzten in den Kreisen Bitburg, Bernkastel, Simmern und Wittlich (1880–1905). 141 Zahl der Bürgermeistereien Stand 1895, allerdings blieben Zahl und Gebiete der Bürgermeistereien im Untersuchungszeitraum weitgehend stabil. Zur Tätigkeit auswärtiger Ärzte und deren Implikationen für die ärztliche Versorgung siehe den folgenden Abschnitt zur ärztlichen Versorgung um 1893. 142 Bernkastel/Wittlich im Vergleich: Einwohnerzahl: 44722:39041; Ärzte/10.000 EW: 2,0:1,02; Ärzte/100qkm: 1,35/0,62. 143 Siehe dazu die Karte 5: „Anzahl und regionale Verteilung von Ärzten in den Kreisen Bitburg, Bernkastel, Simmern und Wittlich (1880–1905)“ im Anhang. 144 Bernkastel 3, Zeltingen, Lieser und Neumagen je 1.

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lassen.145 Die ökonomisch attraktiveren Gemeinden an der Mosel wurden in der Niederlassung auch bei größerer Konkurrenz offensichtlich bevorzugt. Der Kreis Bitburg war im Grad seiner Versorgung mit ärztlicher Medizin zwischen den beiden zuvor dargestellten Kreisen angesiedelt. Bei 44557 Einwohnern und sechs Ärzten im Kreis kamen im Durchschnitt auf 10.000 Einwohner 1,35 Ärzte, auch die Flächenversorgung war der Zahl nach mit 0,77 Ärzten auf 100 qkm etwas besser als im Kreis Wittlich. In der Verteilung zwischen Stadt- und Landgemeinden hielten sich die Niederlassungen mit jeweils drei Ärzten die Waage. Ähnlich wie im Kreis Wittlich ist davon auszugehen, dass sich jeweils mehrere Bürgermeistereien einen Distriktarzt teilten, da auch der Kreis Bitburg aus insgesamt 22 eher kleineren Bürgermeistereien bestand. Die Sitze der Ärzte in den Landgemeinden lassen sich für den Kreis Bitburg für das Jahr 1880 nicht eindeutig bestimmen, die späteren Berichte und Niederlassungspraxis lassen jedoch vermuten, dass bereits 1880 jeweils ein Arzt in Neuerburg, Speicher und Kyllburg niedergelassen war.146 Betrachtet man auf dieser Grundlage die geographische Verteilung niedergelassener Ärzte im Kreis, wird deutlich, dass die östliche Hälfte des Kreises fünf der sechs Arztniederlassungen aufweist.147 Dabei deuten insbesondere die Niederlassungen in Kyllburg und Speicher ebenfalls wieder auf die Bedeutung ökonomischer Faktoren für die ärztliche Niederlassung hin, lagen doch beide Orte an der 1871 eröffneten Eisenbahnlinie von Köln nach Trier. Für die Ärzte eröffnete eine Niederlassung in einem mit Bahnhof versehenem Ort nicht nur bessere Anbindungen an größere Ortschaften, sondern bot zugleich potentiellen Patienten eine komfortablere Möglichkeit der Konsultation.148 Der Kreis Simmern war in seinem ärztlichen Versorgungsgrad dem Kreis Bitburg vergleichbar. Bei fünf Ärzten im Kreis und ungefähr 37.000 Einwohnern kamen hier auf 10.000 Einwohner statistisch 1,38 Ärzte. Da die Fläche des Kreises Simmern allerdings um einiges kleiner war, als die des Kreises Bitburg, kamen hier auf 100 qkm im Durchschnitt 0,88 Ärzte. Zwei der fünf Ärzte saßen in den Stadtgemeinden Simmern und Kirchberg, die übrigen drei in Gemünden149, Kastellaun und Rheinböllen. Die Bürgermeistereien Ohlweiler, Simmern-Land und Kirchberg-Land wurden offenbar von den Ärzten 145 Thalfang, Morbach, Rhaunen. Vgl. dazu Freis, Gesundheitsdienste. 146 Die Quelle gibt die Zahl der Ärzte in Landgemeinden des Kreises nicht an. Die Zahl der angegebenen Standorte von Ärzten ist 5, was mindestens 4 Ärzte in Landgemeinden erforderte. Da der Quotient aus Einwohnerzahl und Einwohnerzahl auf einen Arzt im Kreis 6 Ärzte ergibt und auch das Produkt aus Ärztedichte und Fläche 6 Ärzte für den Kreis ergibt, dürfte die Angabe der Standortzahl falsch sein. Aus der Standortzahl geht zugleich hervor, dass nur in Bitburg selbst mehr als ein Arzt ansässig war. 147 Siehe dazu die Karte 5: „Anzahl und regionale Verteilung von Ärzten in den Kreisen Bitburg, Bernkastel, Simmern und Wittlich (1880–1905)“ im Anhang. 148 Zur steigenden Arztkonsultation nach Bahnbauten vgl. Heidegger, Bahnbauarztpraxis; Zur umgekehrten Nutzung von Bahnbaulazaretten durch die ländliche Bevölkerung siehe Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 261. 149 Ein Armenarzt war in Gemünden schon 1830 und 1850 nachweisbar. Vgl. Zissel, Gemünden, S. 43.

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der anderen Bürgermeistereien mitversorgt. Vereinfacht wurde dies durch die relativ günstige geographische Verteilung der Ärzte über das gesamte Kreisgebiet mit Simmern als Kreisstadt im Zentrum. Im Vergleich der hier betrachteten Kreise untereinander zeigt sich, dass den Ausschlag für die Niederlassung von Ärzten vor allem das wirtschaftliche Potential einer Praxis gab. Größere Ortschaften erhielten Vorrang vor kleineren, wohlhabendere Gebiete im Kreis den vor ärmeren und verkehrstechnisch erschlossene waren gegenüber abgelegenen Gebieten im Vorteil. Die Folge war eine sehr disparate Lage der ärztlichen Versorgung im ländlichen Raum in der südlichen Rheinprovinz um 1880. Auch eine relativ gut erscheinende Versorgung wie etwa im Kreis Bernkastel konnte innerhalb des Kreises große Unterschiede aufweisen. Die für die Kreisebene vorliegenden Kennzahlen für ärztliche Präsenz auf dem Land liefern daher ein nur unzureichendes Bild der Situation. Das Bild der ländlichen Krankenversorgung in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz trübt sich weiter ein, wenn man die hiesige Situation mit entsprechenden Angaben für die ärztliche Versorgung auf der Ebene der Rheinprovinz oder des ganzen Deutschen Reiches in Beziehung setzt. Für 1876 weist die Statistik des Deutschen Reiches einen Gesamtdurchschnitt von 3,2 Ärzten auf 10.000 Einwohner aus. Selbst der am besten versorgte hier untersuchte Kreis Bernkastel mit 2,01 Ärzten auf 10.000 Einwohner lag demnach gegenüber dem Reichsdurchschnitt in diesem Wert um ein Drittel niedriger.150 Noch deutlicher wird das Bild, wenn man den Vergleich auf der Ebene der Provinzen zieht. Für die Rheinprovinz waren dies für 1876 sogar 3,6 Ärzte auf 10.000 Einwohner, in der Provinz Hessen-Nassau als am besten versorgter Provinz kamen sogar 4,4 Ärzte auf 10.000 Einwohner.151 Bis auf den Kreis Bernkastel befanden sich alle hier untersuchten Kreise in ihrer Versorgung noch unter dem Niveau der am schlechtesten versorgten Provinzen Posen und Ostpreußen.152 Die ärztliche Versorgung um 1893 Die Versorgung mit Ärzten verbesserte sich in den folgenden Jahren in allen beobachteten Kreisen, allerdings in unterschiedlichem Maße.153 Die relativ bedeutendsten Veränderungen erfuhr der Kreis Bitburg. Der Jahresbericht des 150 Ein solcher Wert war etwa im österreichischen Tauferer Tal bereits 1850 erreicht worden. Dietrich-Daum, Historiae Morborum, S. 207–209. 151 Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 509. 152 Hier kamen jeweils 1,8 Ärzte auf 10.000 Einwohner. Alle Zahlen aus Fischer, Statistik, S. 150f. 153 Für den Kreis Simmern liegen für das Jahr 1893 keine Angaben vor. Für den Landkreis Trier berichtete der Kreisphysikus Dr. Amseln 1891, dass von vier „Privatärzten, die sämmtlich irgend einen Bezirk als Armen- oder Impfärzte haben“ zwei in Schweich, einer in Konz und einer in Hermeskeil tätig waren. LHAK Best. 442 Nr. 3893, S. 171, Sanitätsbericht für den Landkreis Trier für das Jahr 1890 vom 24. März 1891.

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Kreisarztes Bitburg benennt für das Jahr 1890 acht im Kreis ansässige Ärzte.154 Von diesen hatten unter Einbezug des Kreisphysikus insgesamt fünf Ärzte eine Stelle als Distriktarzt inne,155 unter denen lediglich der Distriktarzt von Dudeldorf nicht in seinem Dienstort, sondern im benachbarten Speicher wohnte. Bis 1893 hatte sich die Zahl der hier ansässigen Ärzte gegenüber 1880 fast verdoppelt156, was sich in ähnlichen Verbesserungsquoten in der Ärztedichte und der Arztzahl pro Einwohner niederschlug. Auffällig ist jedoch, dass die steigende Ärztezahl ihren Niederschlag fast ausschließlich in Gemeinden fand, in denen bereits ein Arzt ansässig war.157 Im Kreis Bitburg ließen sich von den fünf neuen Ärzten vier in Orten mit bestehenden Arztpraxen nieder. Lediglich in Echternacherbrück war zuvor kein Arzt niedergelassen. Die Zahl der im Kreis Bernkastel ansässigen Ärzte stieg bis 1893 immerhin um gut ein Drittel von neun auf zwölf – bei einem leichten Rückgang der Bevölkerung von rund 45.000 auf rund 44.000. Auch hier ist die Entwicklung zu beobachten, dass neue Ärzte sich zunächst in größeren Ortschaften niederließen, auch wenn dort schon ein Arzt vorhanden war. Für 1887 sind so in Bernkastel, Mülheim, Neumagen und Rhaunen jeweils mindestens zwei ansässige Ärzte nachzuweisen. Während die Versorgungsquoten stiegen, änderte sich an der räumlichen Verbreitung der Ärzte also nur wenig. Das Ausmaß der unterschiedlichen lokalen Entwicklungen und zugleich die Bemühungen, die verbliebenen Lücken zu schließen, verdeutlicht der Bericht des Kreisphysikus Dr. Alexander von 1895: Es wäre dringend nötig einen Distriktarzt für die Bezirke Kempfeld und Morbach zu ernennen, über deren Gesundheitsverhältnisse ich mich bis jetzt auf meinen Privatreisen zu orientieren gesucht habe. Ich muß nämlich annehmen, daß kein Distriktarzt in Morbach angestellt ist, da mir von dort keine Vierteljahresberichte zugehen, zu denen doch Distriktärzte durch ihren Kontrakt, der gewöhnlich auch mir vorgelegt wird, verpflichtet sind. Ende December habe ich mich bereits in dieser Angelegenheit an den Herrn Landrat gewandt, ohne indessen bis jetzt einen Bescheid erhalten zu haben.158

Da Dr. Alexander bereits seit 1877 als Kreisarzt in Bernkastel tätig war159, lässt der Verweis auf die fehlenden Vierteljahresberichte den Schluss zu, dass es sich bei der Stelle in Morbach nicht um eine nur zeitweilig unbesetzte, sondern um eine noch völlig fehlende Distriktarztstelle handelte.160 154 LHAK Best. 442 Nr. 3893, S. 271, Sanitätsbericht des Kreises Bitburg für das Jahr 1890 vom 26. März 1891. 155 Ansässig in Bitburg, Kyllburg, Speicher, Neuerburg, Dudeldorf. 156 1880: 6 Ärzte, 1893: 11 Ärzte. 157 Siehe im Anhang Karte 5: Anzahl und regionale Verteilung von Ärzten in den Kreisen Bitburg, Bernkastel, Simmern und Wittlich (1880–1905). 158 LHAK Best. 442 Nr. 3898, S. 23, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für das Jahr 1896 vom 28. März 1896. 159 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Landrates an den Bürgermeister zu Bernkastel vom 15. März 1877. 160 Eine Ausnahme bildet auch der Kreis Wittlich, in welchem noch 1891 von neun bestehenden Distriktarztstellen fünf von Ärzten, die außerhalb des Kreises wohnen versehen werden. Vgl. LHAK Best. 442 Nr. 3894, S. 598f.

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Das Schlusslicht in der Entwicklung bildete auch 1893 der Kreis Wittlich. Hier ließ sich seit 1880 nur ein zusätzlicher Arzt nieder, bezeichnenderweise in der wohlhabenderen Moselgemeinde Ürzig, nicht weit entfernt von Zeltingen. Durch einen leichten Rückgang der Bevölkerung stiegen zwar auch in diesem Kreis die Quoten von personenbezogener und geographischer Ärztedichte um 25–30 %, die tatsächliche Versorgungslage dürfte sich allerdings nicht wesentlich verbessert haben. Zudem wurde der Zuwachs an ortsansässigen Ärzten dadurch wieder ausgeglichen, dass einer der fünf auswärts ansässigen Distriktärzte, die um 1880 im Kreis tätig waren, 1893 offenbar nicht mehr tätig war. Während sich die Verfügbarkeit von Ärzten in den Kreisen Bitburg und Bernkastel zwischen 1880 und 1893 statistisch und in der Praxis verbesserte, verharrte der Kreis Wittlich auf einem nach wie vor besonders niedrigen Versorgungsniveau. Im Vergleich mit den bekannten Versorgungsquoten für das Deutsche Reich in seiner Gesamtheit gelang es allerdings in keinem der Kreise auch nur annähernd, den Reichsdurchschnitt in der Versorgung mit Ärzten zu erreichen.161 Die ärztliche Versorgung um 1905 Allgemein hatte sich das Niveau der ärztlichen Versorgung gegenüber dem Anfang der 1880er Jahre deutlich verbessert. Allerdings blieb das Bild in den einzelnen Kreisen auch um die Jahrhundertwende sehr disparat. 1905 war die Zahl und die Verteilung der Ärzte im Kreis Bitburg immer noch dieselbe wie 1893, gemessen an den Versorgungsquoten hatte ein Anstieg der Bevölkerung sogar zu einer leichten Verschlechterung geführt.162 Erst 1908 ließ sich hier im Kreis ein weiterer Arzt nieder. Im Kreis Simmern hatte sich bei annähernd gleicher Bevölkerungszahl die Zahl der nachgewiesenen Ärzte zwischen 1880 und 1900 verdoppelt, die geographische Verbreitung sich dagegen nicht verändert. Die neu hinzugekommenen Ärzte ließen sich auch hier an Orten nieder, die bereits über einen Arzt verfügten, vorrangig Kastellaun und Simmern.163 Im Kreis Bernkastel hatte sich trotz Wachstums der Bevölkerung von rund 44.000 auf rund 48.000 (1908) die Versorgung mit Ärzten weiter verbessert. Seit 1893 waren drei weitere Ärzte im Kreis hinzugekommen, erstmals hatte nun auch die Bürgermeisterei Kempfeld einen ortsansässigen Arzt. Die anderen beiden Niederlassungen erfolgten aber wieder an Orten, die bereits über einen Arzt verfügten. Gegenüber dieser erkennbaren Verbesserung der generellen Versorgung mit Ärzten lassen sich vergleichbare weitere Fortschritte bei den Armenärzten in den drei Kreisen nicht mehr feststellen. Das Distriktarztwesen hatte hier einen weitgehend stabilen Stand erreicht. Ganz anders stellt sich die 161 Ärzte/10.000 Einwohner 1893: Bitburg 2,57, Bernkastel, 2,75, Wittlich 1,33. Reichsdurchschnitt 1891: 3,9. Zahlen für die Rheinprovinz liegen nicht vor. 162 Vgl. im Anhang Tabelle 12: Daten zur Verbreitung von Ärzten in den Kreises Bitburg, Bernkastel, Wittlich und Simmern 1880–1905/08. 163 Siehe dazu die Karte 5: Anzahl und regionale Verteilung von Ärzten in den Kreisen Bitburg, Bernkastel, Simmern und Wittlich (1880–1905) im Anhang.

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Situation hingegen im Kreis Wittlich dar. Zwar ließ sich seit 1893 im Kreis nur ein einziger weiterer Arzt nieder, womit dann insgesamt sechs Ärzte im Kreis niedergelassen waren. Im Bereich der armenärztlichen Versorgung konnte der Kreis allerdings eine immense Verbesserung verzeichnen. Für 1906 gibt der Sanitätsbericht des Kreisarztes die Tätigkeit von 12 (!) außerhalb des Kreises ansässigen Distriktärzten im Kreis an (gegenüber vier im Jahr 1893), zusätzlich zu den mindestens fünf kreisansässigen Distriktärzten, die bereits 1893 im Kreis tätig waren.164 Damit verfügte nun jede der 17 Bürgermeistereien des Kreises über einen eigenen Distriktarzt und die armenärztliche Versorgung war damit in dieser Hinsicht besser als in den anderen hier untersuchten Kreisen. Im Kreis Bitburg teilten sich immer noch mehrere Bürgermeistereien einen Distriktarzt. In den Kreisen Simmern und Bernkastel verfügte zwar auch jede Bürgermeisterei über einen eigenen Distriktarzt, allerdings war die Zahl der Bürgermeistereien wesentlich niedriger als im Kreis Wittlich. Abschließend verdeutlichen mag die relative Verbesserung der armenärztlichen Versorgung im Kreis Wittlich die Relation von nachweisbar tätigen Armenärzten zur Gesamtbevölkerung des Kreises. Mit 2477 Einwohnern pro tätigem Distriktarzt lag der Kreis Wittlich hier deutlich vor den anderen Kreisen.165 Trotz all dieser Verbesserungen waren die Kreise im nationalen Vergleich aber auch Anfang des 20. Jahrhunderts unterversorgt.166 1.4. Arzt und Raum – Ein Zwischenfazit Die breite Zustimmung, auf die das hier geschilderte Distriktarztwesen bei den zeitgenössischen Beobachtern und Entscheidungsträgern in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz traf, zeigte sich früh an der Ausweitung dieser Einrichtung auf den Regierungsbezirk Trier, und der Einbindung rechtsrheinischen Gebiete des Regierungsbezirks Koblenz im Jahr 1818 dokumentierte die Akzeptanz des Systems. Auch im Rahmen der Überlegungen zu einer Reform der Medizinalverwaltung am Ende des 19. Jahrhunderts wurden erneut Stimmen für einen weiteren Ausbau des Distriktarztwesens laut.167 Geradezu überschwänglich pries schließlich der Staatsarchivrat Dr. Schubert die 164 LHAK Best. 442 Nr. 3914, Sanitätsbericht des Kreises Wittlich für das Jahr 1906. 165 Die entsprechenden Zahlen für die anderen Kreise: Bitburg 8921, Bernkastel 5368, Simmern 4400. Diese Zahlen dienen lediglich der Orientierung. Aussagekräftiger, aber für die Gesamtkreise nicht zu bilden, wären die Relationen von Armenärzten zur Zahl der Armen im Kreis. 166 Ärzte/10.000 Einwohner 1905: Bitburg 2,47, Bernkastel, 3,1 (1908), Wittlich 1,42, Simmern 2,79. Reichsdurchschnitt 1905: 5,1, Rheinprovinz 4,6. Die hiesigen Kreise lagen damit teilweise unter dem Versorgungswert der am schlechtesten versorgten Provinz Posten mit 2,7 Ärzten auf 10.000 Einwohner. 167 Vgl. LHAK Best. 403 Nr. 6747, S. 107, Schreiben des Regierungspräsidenten Trier an das Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 5. September 1884: „An dieser Stelle dürfte zu erwähnen sein, daß im hiesigen Regierungsbezirke noch die Einrichtung der Districtärzte besteht und dieselbe sich in einer Weise bewährt

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Einrichtungen des Distriktarztwesens in seiner Darstellung der preußischen Regierung in Koblenz 1925: Sie hoben (…) den Regierungsbezirk, was die staatlichen Maßnahmen für die öffentliche Gesundheitspflege anbelangt, auf eine Stufe, die den anderen rheinischen Regierungen mit Fug als ein erstrebenswertes, vorbildliches Ziel bezeichnet werden konnte.168

Die bis hierhin unternommenen Untersuchungen zeigen, dass die ärztlichen Versorgungsstrukturen in den ländlichen Regionen zumindest der südlichen Rheinprovinz tatsächlich erst um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert den Stand erreicht hatten, den die Schöpfer des Distriktarztwesens bereits Anfang des 19. Jahrhunderts postuliert hatten. Erst um diese Zeit hatten sich auf dem Land genügend Ärzte niedergelassen, um die geforderte Betreuungsdichte von einem eigenen Armenarzt für jede Bürgermeisterei gewährleisten zu können. In der Anfangszeit waren es vornehmlich die Kreismedizinalbeamten, welche die armenärztlichen Aufgaben für große Teile ihres Kreises mit übernahmen. In einem nächsten Schritt wurden als Hilfs- und Übergangskonstruktionen und bedingt durch die geringe Zahl von Ärzten, die überhaupt in den ländlichen Regionen der Regierungsbezirke Trier und Koblenz tätig waren, mehrere meist benachbarte Bürgermeistereien durch einen gemeinsamen Armenarzt betreut, der seinen Pflichten gegebenenfalls von auswärts kommend bei Ortsbesuchen nachkam. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts erreichte das Distriktarztsystem in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz im Wesentlichen einen Ausbauzustand, in welchem in jeder Bürgermeisterei mindestens ein ortsansässiger Distriktarzt für die medizinische Versorgung der kranken Armen zuständig war.169 Die Untersuchungen von Ärzteverteilung und aus Armenpraxis gewonnenen Einkünften zeigten, dass die Funktionsstelle eines Distriktarztes alleine nicht geeignet war, einen Arzt in ländliche Gebiete zu locken. Erst in Verbindung mit ausreichenden anderen finanziellen Möglichkeiten konnte eine solche Stelle den Ausschlag für eine Niederlassungsentscheidung liefern. Dementsprechend folgte die Stellenbesetzung der Distriktarztstellen im vorgesehenen Sinn – Ortsansässigkeit, Alleinzuständigkeit für eine Bürgermeisterei – mit wenigen Ausnahmen der allgemeinen Verbreitung niedergelassener Ärzte im ländlichen Raum. Sowohl für die Besetzung von Distriktarztstellen, wie auch die Niederlassung von Ärzten im Allgemeinen galt, dass sie von Gemeinde zu Gemeinde – und damit auch von Kreis zu Kreis – zeitlich differenziert verliefen. Hinter hat, welche nicht allein die Beibehaltung sondern auch die weitere Ausbildung dieser Einrichtung wünschenswert erscheinen läßt.“ 168 Schubert, Koblenz, S. 79. 169 vgl. auch LHAK Best. 441 Nr. 13675, S. 458f. Jahresgesundheitsbericht des Kreisarztes Cochem pro 1900 vom 10.Juli 1901 sowie Ebd., S. 135f., Jahresgesundheitsbericht des Kreisarztes Altenkirchen pro 1900 vom 30. Juli 1901. In letzterem werden zwar auch noch zwei Bürgermeistereien ohne ortsansässigen Distriktarzt genannt, diese sind aber deutlich als Ausnahmeerscheinungen erkennbar.

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den von Fall zu Fall unterschiedlichen zeitlichen Verläufen lässt sich aber ein in der Struktur ähnliches Schema nachzeichnen. Die ersten Ortschaften mit niedergelassenen Ärzten waren – zumindest im hier betrachteten Raum – die Hauptorte der Kreise als Sitz der staatlichen Medizinalbeamten. Von einer Zunahme der Ärztezahl im betreffenden Kreis profitierten zunächst die nachfolgend größeren Ortschaften.170 Nachdem sich die jeweils ersten Ärzte in diesen Orten niedergelassen hatten, wichen nachziehende Ärzte aber keineswegs in kleinere Ortschaften aus, sondern ließen sich ebenfalls zunächst in den größeren Ortschaften nieder.171 Besonders deutlich wird dies an der verzögerten Entwicklung im Kreis Wittlich erkennbar.172 Über die Kreisstadt Wittlich hinaus sind bis zur Jahrhundertwende nur zwei weitere Arztniederlassungen in Ürzig und Manderscheid zu verzeichnen. Eine weitere Ausbreitung in kleinere Orte ist in allen Kreisen bis mindestens zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zu entdecken. Im Rahmen dieser Ausweitung ärztlicher Präsenz im ländlichen Raum von Eifel und Hunsrück erwiesen sich die Distriktarztstellen als besonders attraktiv für Berufsanfänger, die auf der Suche nach einer ersten Möglichkeit zur Niederlassung waren. Wenn die gezahlten Summen auch alleine keinen Arzt zur Niederlassung bewegen konnten, waren sie doch als gesicherte Einkommensquellen begehrt, was aus den häufigen Erkundigungen nach der Handhabung der Armenpraxis deutlich wird. Sowohl die kreisinterne Verteilung niedergelassener Ärzte insbesondere innerhalb der Kreise Bernkastel und Wittlich, wie auch der Vergleich der Zahlen zwischen den Kreisen zeigen, dass die Niederlassung und Verteilung von Ärzten im ländlichen Raum sich in erster Linie nach den gegebenen ökonomischen Möglichkeiten richtete. Attraktiv für eine Niederlassung von Ärzten waren auf dem Land zunächst die größeren, wohlhabenderen und verkehrstechnisch besser erschlossenen Gemeinden, die eine ausreichend finanzkräftige Privatkundschaft versprachen. Das erkennbare Ausbreitungsmuster von Ärzten unterschied sich damit deutlich von dem, welches Anne Digby zu vergleichbarer Zeit in England identifiziert hat. Anders als im hier untersuchten Raum, ‚sammelten’ sich die Ärzte dort nicht in den größeren Ortschaften, sondern ließen sich meist deutlicher inmitten ihres eigenen Amtssprengels nieder.173 Bei steigenden Ärztezahlen ab 1880 wurden ländliche Gegenden mit Funktionsstellen zur Sicherung eines Grundeinkommens zunehmend attraktiver. 170 Für die Größe dieser Ortschaften lassen sich feste Größenklassen nicht abschließend bestimmen. Die Entwicklung in den hier beobachteten Kreisen legt nahe, dass es sich dabei um die jeweils vier bis sieben größeren Orte eines Kreises handelte. 171 Diese Bedeutung wirtschaftlich attraktiver Bedingungen in größeren Ortschaften bei der Wahl des Niederlassungsortes führt auch Digby, Making, S. 109 an. 172 Der Trierer Regierungsmedizinalrat Schwartz führte in seinem Bericht von 1882 die schlechte Versorgung mir Ärzten im Kreis Wittlich bezeichnenderweise auf den „Mangel größerer geschlossener Ortschaften“ zurück. LHAK Best. 442 Nr. 3139, Sanitätsbericht für das Jahr 1880, S. 152. 173 Digby, Making, S. 108–117.

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Ein wesentlicher Grund für dieses andersartige Muster dürfte im höheren Anteil der Einnahmen aus Funktionsstellen wie den Armenarztstellen am ärztlichen Gesamteinkommen in England liegen.174 War das erwartbare Einkommen durch eine solche Stelle zu gut einem Viertel gesichert175, fiel es dem betreffenden Arzt wesentlich leichter, sich auch in einem abgelegeneren Gebiet niederzulassen und sich dort eine florierende Privatpraxis aufzubauen. Demgegenüber war ein Armenarzt in Eifel und Hunsrück, dessen erwartbares Einkommen gerade mal zu 5–10 % durch die Einnahmen aus einer derartigen Funktionsstelle gedeckt wurde, in viel stärkerem Maße von Beginn an auf die Zahlungen von Privatpatienten angewiesen. Diese Patientengruppe war aber wiederum viel eher in den größeren Ortschaften der Region zu finden.176 Die bisherigen Ausführungen zur ärztlichen Versorgung im ländlichen Raum galten für alle Patientenschichten, arme ebenso wie nichtarme. Für eine Beurteilung der ärztlichen Versorgung für kranke Arme im fraglichen Raum sind aber weitere Gesichtspunkte von Bedeutung. Ein Unterschied zwischen Nichtarmen und Armen in der ärztlichen Versorgung bestand darin, dass Letztere zunächst formal keine Wahlmöglichkeiten in der Konsultation eines Arztes hatten, sondern sich an den jeweiligen Distriktarzt der Gemeinde wenden mussten. In der Praxis dürfte aber alleine die um 1880 vorhandene geringe Zahl der Ärzte die Wahlfreiheit auch der nichtarmen Patienten erheblich eingeschränkt haben.177 In den meisten Gemeinden konsultierten Arme und Nichtarme wohl alleine aufgrund seiner Erreichbarkeit denselben Arzt.178 Lediglich in dichter versorgten und verkehrstechnisch verhältnismäßig gut verbundenen Ortschaften wie den Moselbürgermeistereien war die freie Wahl zwischen den Ärzten tatsächlich für den Kranken einzulösen. Demgegenüber hatten arme Patienten den großen Vorteil, für ihre Behandlung durch den Armenarzt nicht selbst aufkommen zu müssen. Zudem war der Armenarzt gegebenenfalls auch zu Besuchen verpflichtet, wohingegen für selbstzahlende Patienten der Hausbesuch des Arztes mit zusätzlichen Kosten versehen war. An diesem Punkt dürfte ohnehin auch die nichtarme Landbevölkerung indirekt von der armenärztlichen Versorgung profitiert haben. Die Besuchspflicht des Armenarztes bei seinen Patienten eröffnete unter Umständen auch anderen

174 Vgl. Ebd., S. 117–127. 175 Ebd. S. 124, Williams, Income, S. 175. 176 Auch in England waren Armenarztstellen mit potentieller Privatklientel grundsätzlich beliebter, wo die Armen allerdings – anders als im hiesigen Raum –zusätzlich davon profitierten, indem die Ärzte teilweise über erhöhte Gebühren für wohlhabende Patienten ermäßigte Gebühren ärmerer Patienten quersubventionierten. Vgl. Digby, Making, S. 99–109. 177 Im Gegensatz dazu etwa Weber-Grupe, die für Hessen-Nassau schon Mitte des 19. Jahrhunderts Wahlmöglichkeiten der Landbevölkerung bei den Ärzten annimmt. WeberGrupe, Gesundheitspflege, S. 64. 178 Damit fiel aber auch die von Göckenjan, Kurieren, S. 291 angeführte Entlastungsfunktion der Armenärzte für andere Ärzte im ländlichen Raum nicht ins Gewicht.

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Bewohnern des jeweiligen Ortes die Möglichkeit den Arzt, der ja sowieso gerade vor Ort war, zu konsultieren.179 Ohne Zweifel war der generelle Zugang zu ärztlicher Medizin im ländlichen Raum um 1880 immer noch sehr schlecht. Relativ zur übrigen Bevölkerung waren die Möglichkeiten für Arme dabei allerdings in einigen Punkten sogar besser. Mit der Zunahme ärztlicher Präsenz im Allgemeinen sowie der zumindest in der Tendenz wachsenden lokalen Nähe von Armenärzten in den einzelnen Bürgermeistereien verbesserten sich allgemeine ärztliche, wie armenärztliche Versorgung parallel zueinander, bis um die Jahrhundertwende 1900 schließlich der bereits Anfang des Jahrhunderts erhobene Anspruch der armenärztlichen Versorgung in einem stabilen System von Distriktärzten weitgehend erreicht war. 1.5. Bezirkshebammen Entstehung Natürlich sahen sich Arme wie andere Menschen mit den Freuden und Problemen von Schwangerschaft und Geburt konfrontiert. Auch für diese Fälle bestand im hier untersuchten Zeitraum eine Institution, die ob ihrer Erreichbarkeit und weitgehenden Unentgeltlichkeit eine wichtige Anlaufstelle für Arme sein konnte. Ähnlich wie im Falle der Distriktärzte waren bereits in der Zeit der französischen Verwaltung des Rheinlandes auch für den Bereich der Geburtshilfe flächendeckend kommunale Stellen, die sogenannten Bezirkshebammen, eingerichtet worden.180 Im folgenden Teil soll in erster Linie die strukturelle Gestalt dieses Systems Gegenstand der Darstellung sein. Nur sehr selektiv wird dabei auch die soziale Stellung der Hebamme in der ländlichen Gesellschaft in den Blick genommen werden.181 Bereits 1801 wurden – zunächst in den linksrheinischen Gebieten – die Hebammendistrikte bestimmt.182 Nach dem Übergang der rheinischen Gebiete in preußische Verwaltung wurden diese Bezirke in den Jahren 1816–1821 neu gegliedert und das System zudem – ähnlich wie im Falle der Distriktärzte 1818 – auf die rechtsrheinischen Gebiete des Regierungsbezirks Koblenz ausgeweitet.183 Die Hebammenbezirke waren in Anlehnung an die einzelnen Ge179 Vgl. hier zu auch Kap. 6.2. In Nassau war dieses Verfahren in Form von ausliegenden Praxisbüchern, in die Kranke Konsultationswünsche für den nächsten Arztbesuch im Ort eintragen konnten, institutionalisiert worden. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 534. 180 Schubert, Koblenz, S. 87–88. Hudemann-Simon, Santé, S. 289–374 mit einem Schwerpunkt auf der Untersuchung der Hebammenlehranstalten und der dort abgehaltenen Lehrkurse. 181 Zur Funktion und Position der Hebamme auf dem Land grundlegend: Labouvie, Beistand. 182 Ebd.S. 87. Hudemann-Simon, Santé, S. 301–304 sieht hier eher eine Regelung der Aufsicht über die Hebammen als eine Begrenzung des Tätigkeitsgebietes. 183 Labouvie, Beistand, S. 87; Seidel, Gebären, S. 241.

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meinden des Regierungsbezirks gegliedert und damit um einiges kleiner als die Distriktarztbezirke, die sich an den Grenzen der den Gemeinden übergeordneten Bürgermeistereien orientierten.184 In jedem dieser Bezirke wurde von der Kommune eine Hebamme als sogenannte Distrikt- oder Bezirkshebamme angestellt.185 Dieses System von Bezirkshebammen blieb offenbar nach seiner endgültigen Etablierung Anfang der 1820er Jahren in seiner organisatorischen Struktur weitgehend unverändert. In diesem Kontext ist erneut auf ein nahezu parallel konstruiertes System von Bezirkshebammen in der Provinz Nassau seit 1818 zu verweisen.186 Auch hier stellten die Gemeinden jeweils eine Hebamme an, um einen ausreichenden Zugang der Bevölkerung zu Geburtshilfeleistungen zu sichern. Erst für den Beginn der 1890er Jahre deuten die Quellen im rheinischen Fall institutionelle Veränderungen an, indem die Zuständigkeit für die Anstellung und Bezahlung der Bezirkshebammen von der einzelnen Gemeinde auf die jeweilige Kreisbehörde überging.187 Der Zuschnitt der einzelnen Hebammenbezirke blieb davon jedoch unberührt. Neben einer Anstellung als Bezirkshebamme gab es natürlich auch die Möglichkeit, sich als Hebamme frei niederzulassen. Die Zahlen von Bezirkshebammen und freien Hebammen zeigen aber, dass erstgenannte eindeutig die Mehrheit bildeten.188 Aufgaben und Ausbildung Anders als im Falle der Distriktärzte beruhten die Leistungen der Distrikthebammen von Beginn an auf rein vertraglichen Vereinbarungen, zumindest ist aus Quellen und zeitgenössischer Literatur eine beamtenartige Anstellung nicht zu erkennen. Als Beispiel eines solchen Vertrages soll hier die Vereinbarung der Gemeinde Kastellaun über die Besetzung der Hebammenstelle in der genannten Gemeinde vom 10. Oktober 1869 Gegenstand einer genaueren Betrachtung sein.189 184 LHAK 442 Nr. 3139, S. 161–165. Unklar ist die Zuständigkeit im Kreis Bitburg. 1895 bestanden hier 22 Bürgermeistereien und rund 25 Bezirkshebammenstellen. Vermutlich wurden die Bezirkshebammen hier also von den Bürgermeistereien bestellt. 185 Ab 1883 durfte eine Hebamme bei ihrer Einstellung nicht jünger als 20 Jahre und nicht älter als 30 Jahre sein. LHAK Best. 491 Nr. 389, Allgemeine Verfügung zum Hebammenwesen vom 6. August 1883. 186 Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 457–487. Der gelegentliche vergleichende Blick soll daher diesbezüglich auch im Folgenden unternommen werden. 187 Sowohl diese Veränderungen als auch eine Reform der Besoldung und Altersversorgung der Bezirkshebammen 1883 schienen auf die finanzielle Lage der Hebammen zurückzugehen. Im Abschnitt zum Einkommen werden diese Änderungen daher detaillierter beleuchtet. 188 Siehe im Anhang Tabelle 13: Daten zur Verbreitung von Hebammen in den Kreises Bitburg, Bernkastel, Wittlich und Simmern 1880–1905/08. 189 LHAK Best. 655,14 Nr. 926, Vertrag über die Besetzung der Hebammenstelle Kastellaun vom 10. Oktober 1869. Zur Vertragsgestaltung späterer Bezirkshebammen siehe Kap. 2.1.2.

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Der Vertrag regelte zunächst die Ausbildung der künftigen Hebamme dergestalt, dass die Anwärterin – die 27 Jahre alte Irene V. – auf Kosten der Gemeinde einen Hebammenkurs in der Hebammenlehranstalt zu Trier absolvieren konnte.190 Geregelt wurde dabei auch, dass sie im Falle des Nichtbestehens verpflichtet war, auf eigene Kosten einen zweiten Kursus zu belegen. In einigen Fällen mussten die zukünftigen Hebammen bereits den ersten Kursus selbst finanzieren.191 Mit der Inhaberschaft der Hebammenstelle verpflichtete sie sich zudem, sich für mindestens fünf Jahre in Kastellaun niederzulassen.192 Gegen ein jährliches Gehalt von 13 Talern und 15 Groschen, das vierteljährlich ausbezahlt wurde, oblag es der Hebamme dann, gegen Zahlung von Gebühren Geburtshilfe zu leisten, ohne dabei einen Erstattungsanspruch gegen die Gemeinde zu besitzen. Es wird deutlich, dass im Zentrum dieses Vertrages, in deutlichem Gegensatz zu den Verträgen der Distriktärzte, nicht die Geburtshilfe für minderbemittelte Gemeindemitglieder stand. Die einzige aus dem Vertrag selbst entstehende Verpflichtung für die Hebamme bestand in der Wohnortverpflichtung für mindestens fünf Jahre. Ihre eigentliche Tätigkeit durfte sie dagegen explizit gegen Gebühr ausüben. Eine Klausel, die Ortsarmen oder anderen Bedürftigen diese Gebühr erließ, gab es in diesem Falle offenbar auch nicht. Im Gegenteil wurde das wirtschaftliche Risiko, bei Geburtshilfe für zahlungsunfähige Schwangere – die sie grundsätzlich leisten musste – keinen Verdienst zu haben, durch den Ausschluss eines Erstattungsanspruchs gegen die Gemeinde ausdrücklich von der Hebamme alleine getragen. Mit dieser Regelung stand der Kastellauner Vertrag allerdings im Gegensatz zur Mehrheit der Anstellungsverträge von Bezirkshebammen. In den meisten Fällen wurde die unentgeltliche Geburtshilfe für Arme als Pflichtleistung der Hebamme in den Vertrag mit einbezogen.193 Ähnlich wie die Bürgermeistereien im Falle der Distriktärzte deren sanitätspolizeiliche Aufgaben, die sie sonst separat hätten entgelten müssen, mit in die Anstellungsverträge aufnahmen scheinen sich hier auch die Gemeinden, welche die Armenversorgung zur Pflicht der Hebammen machten, sehr pragmatisch verhalten zu haben. War ein Ortsarmer nicht in der Lage, die Hebammengebühr zu zahlen, musste auf dem Umweg der Armenfürsorge mit hoher Wahrscheinlichkeit sowieso die Kommunalkasse einspringen. Insofern war die Verpflichtung der Hebammen zur Armenpraxis eine einfache Möglichkeit, zumindest einen Teil dieser Kosten zu sparen. Da190 Zur Person: LHAK Best. 655,14 Nr. 926, Schreiben des Bürgermeisters Kastellaun an den Kreisphysikus Dr. Näher vom 23. September 1869. Zur Ausbildung der Hebammen s.u. 191 Bender, Geburtshilfe, S. 59. 192 Vgl. Ebd., S. 56. 193 Schubert, Koblenz, S. 88. Für den Regierungsbezirk Trier siehe Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 163. Die qualitativ gleiche Behandlung konnte in der Verpflichtung „Armen und Reichen mit gleicher Bereitwilligkeit [zu] helfen“ auch Bestandteil des Hebammeneides sein. Vgl. LHAK Best. 491 Nr. 2313, Protokoll der Vereidigung der Hebamme Wilhelmine Fett zu Pferdsfeld vom 26. Januar 1915. Zur Entwicklung des Hebammeneides siehe Bender, Geburtshilfe, S. 81–83. Nach Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 465 wurde die unentgeltliche Hilfe für Arme allerdings ab 1870 verpflichtend.

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mit waren die Bezirkshebammen für Arme die ersten offiziellen Anlaufstellen im Falle einer Geburt. Die Wohnortverpflichtung der Hebammen war in vielen Fällen noch dahingehend präzisiert, dass sie sich möglichst in der Mitte der Gemeinde niederlassen sollten, um im Bedarfsfalle einen möglichst kurzen Anmarschweg zu haben.194 Die Ausbildung der Hebammen fand für den Regierungsbezirk Koblenz zunächst in einer Hebammenschule in Koblenz selbst statt.195 Diese Schule wurde jedoch „aus Sparsamkeitsgründen“ bereits 1825 aufgelöst.196 Für die Kreise Adenau, Ahrweiler, Altenkirchen, Neuwied und Wetzlar übernahm die Ausbildung der Hebammen seitdem die Hebammenlehranstalt zu Köln. Die Anwärterinnen aus den übrigen Kreisen des Regierungsbezirks Koblenz wurden zusammen mit Hebammen aus dem Regierungsbezirk Trier in der Hebammenlehranstalt Trier ausgebildet.197 Die Ausbildung umfasste theoretischen und praktischen Unterricht in fünf Bereichen: Theorie der Geburtsheilkunde, Unterricht am Phantom, Untersuchungsübungen an Schwangeren, Geburtsbeobachtung und –hilfe in der Entbindungsanstalt und Pflege von Wöchnerinnen und Neugeborenen. Die acht Wochenstunden theoretischen Unterrichts bestanden dabei aus Lektüre und Lernen des jeweils aktuellen Lehrbuches für Hebammen, das fast immer in katechistischer Form – vorformulierte Fragen mit Antworten – aufgebaut war.198 Bemerkenswert war die Trierer Lehranstalt im Bezug auf die Dauer der Ausbildung und deren Rolle für die Ausübung der späteren Tätigkeit. In der Zeit der französischen Herrschaft eingeführt199, dauerten die Ausbildungskurse zunächst zweimal sechs Monate für jede Kandidatin, was um ein Vielfaches länger war, als die Ausbildung an vergleichbaren Einrichtungen in Deutschland.200 Nach der Übernahme des Trierer Gebiets in preußische Hoheit wurde die Ausbildungsdauer aber zunächst wieder auf nur noch knappe sechs Monate verkürzt. Erst um 1880 kamen angesichts des inzwischen sehr umfangreichen Ausbildungsprogramms der zukünftigen Hebammen Überle194 Schubert, Koblenz, S. 88, Für den Regierungsbezirk Trier siehe Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 163. 195 Hudemann-Simon, Santé, S. 349. Zu Entstehung und Konzept der Hebammenschule Hudemann-Simon, Santé, S. 317–334. 196 Schubert, Koblenz, S. 87. 197 Ebd., S. 87; Tatsächlich scheint diese Aufteilung aber nicht zwingend gewesen zu sein. So wurde den Angaben zufolge zwischen 1872 und 1912 ein großer Teil der Hebammen der Bürgermeisterei Zeltingen in der Hebammenlehranstalt Köln ausgebildet. Vgl. LHAK Best. 655,123 Nr. 889. Zur Trierer Hebammenschule liegt als detaillierte Untersuchung im Rahmen einer Magisterarbeit Bender, Geburtshilfe vor. 198 Bender, Geburtshilfe, S. 69. 199 Hudemann-Simon, Santé, S. 324–328. Die ersten Absolventinnen verließen die Schule 1809. 200 Bender, Geburtshilfe, S. 67–68. In anderen Gebieten betrug die Ausbildungsdauer nur drei bis sechs Monate. Im europäischen Vergleich waren zur selben Zeit bereits Ausbildungszeiten von bis zu zwei Jahren für Hebammen verbreitet.

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gungen auf, die Ausbildungsdauer auf zwölf Monate zu erweitern.201 Die Hebammenausbildung lässt damit, ähnlich wie die Einrichtung der Distriktärzte, die dauerhafte und über die politischen Brüche der Zeit hinweg erhaltene Prägung der linksrheinischen Gebiete durch die französische Herrschaft deutlich erkennen. Einkommen Da die Bezirkshebammenverträge individuell zwischen Gemeinde und Hebamme geschlossen wurden, konnte auch die Höhe der Besoldung von Fall zu Fall variieren. Generell war das Gehalt aber sehr niedrig.202 Um die Einkünfte der Hebammen etwas zu verbessern, bestand seit 1817 zusätzlich das Instrument des sogenannten Hebammengroschens.203 Bei Trauungen und Taufen wurde diese kleine Gebühr erhoben und die Einkünfte daraus jedes Jahr einmalig an die jeweils 10 ärmsten Hebammen eines Kreises verteilt. Diese Regelung war allerdings ein nur unzureichender Ersatz für eine ausreichende Besoldung und wurde zudem 1875 ersatzlos aufgehoben.204 Die Variabilität des Grundgehaltes macht der Vergleich einiger erhaltener Besoldungsangaben deutlich. Der Regierungsmedizinalrat Dr. Schwartz bezifferte das feste Gehalt einer Bezirkshebamme 1880 auf „60–130 Mark“.205 Der Kreisarzt des Kreises Bernkastel gab als Beispiel für die niedrige Bezahlung der Hebammen seines Kreises 1891 45 M pro Jahr an.206 1894 scheiterte der Versuch, das Gehalt der Hebamme der Gemeinde Horath von 57 M pro Jahr erhöhen zu lassen am Widerstand des Gemeinderates.207 Wichtiger als die geringen Grundgehälter – allerdings auch weniger sicher zu kalkulieren – waren die Einnahmen aus Gebühren für geleistete Geburtshilfe. Diese betrugen 1880 durchschnittlich 6 M, 1890 durchschnittlich 5 M pro Geburt, wobei die Hebamme Verbrauchsmaterialien wie Verbandstoffe zumindest vorfinanzieren musste, aber mit den Hilfsempfängerinnen abrechnen konnte.208 Wie sehr die Einnahmen aus Gebühren allerdings im Einzelfall schwanken konnten, mag ein Beispiel aus der Bürgermeisterei Zeltingen verdeutlichen. Die vier Hebammen in den Gemeinden der Bürgermeisterei leis201 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 161. Ab 1883 betrug die Ausbildungszeit neun Monate. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 460. 202 Schubert zufolge bezogen 1817 nur rund 60 % der Bezirkshebammen im Regierungsbezirk Trier überhaupt ein Gehalt von ihrer Gemeinde, die Gehälter selbst schwankten zwischen 1 und 40 Franken jährlich. Siehe Schubert, Koblenz, S. 88; Bender, Geburtshilfe, S. 58. Zur Ambivalenz von sozialer Anerkennung und materieller Entlohnung der Hebammen im 19. Jahrhundert siehe Labouvie, Selbstverwaltete Geburt, S. 504. 203 Schubert, Koblenz, S. 88; Bender, Geburtshilfe, S. 53. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 460. 204 Rapmund, Gesundheitswesen, S. 387. 205 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 163. 206 LHAK Best. 442 Nr. 3894, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für 1891. 207 LHAK Best. 442 Nr. 3897, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für 1894. S. 3–4. 208 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 161–165.

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teten 1875 in zusammen 133 Fällen Geburtshilfe, wobei in der Verteilung auf die einzelnen Hebammen je 10, 27, 30 bzw. 66 Fälle kamen.209 Die daraus theoretisch resultierenden Einkommen bewegten sich also zwischen 60 und knapp 400 Mark.210 Hinzu kam das Risiko, insbesondere bei armen Wöchnerinnen, durch die Zahlungsunfähigkeit derselben am Ende ganz ohne Lohn zu bleiben.211 Einen Teil ihrer Entlohnung erhielten die Hebammen zudem auch unbar in Form von freier Wohnung, Holzlieferungen, Gemeindenutzungsrechten etc.212 So groß wie die Unterschiede zwischen den Einkommen der einzelnen Hebammen, so groß waren auch die Differenzen in der Bewertung der materiellen Lage derselben in den Akten der Verwaltung. Bezeichnenderweise verlief die Grenze hier zwischen den höheren Verwaltungsebenen, die lediglich für die fachliche Aufsicht zuständig waren und den Verwaltungen auf Gemeinde- oder Bürgermeistereiebene, denen die Finanzierung der Bezirkshebammen oblag. Aufgrund der Quellenüberlieferung wird dies im Kreis Bernkastel besonders sichtbar. Durchgängig beklagten hier die Kreisärzte in ihren Berichten die schlechten Einkommensverhältnisse der Hebammen.213 Am deutlichsten formulierte dies Kreisarzt Dr. Alexander in seinem Jahresbericht für 1896: „Keine einzige von diesen kann von dem Ertrage ihrer Thätigkeit leben.“214 Darf man den Ausführungen des Kreisarztes glauben, wollten die Gemeindevertreter nicht nur die Lage der Hebammen nicht wahrhaben, sondern hielten diese – zumindest im Einzelfall – sogar für gut bezahlt.215 So kritisierte der Kreisarzt im Sanitätsbericht von 1896: Die Gemeinden geben zur Aufbesserung ihrer Lage nicht einen Pfennig, ja, viele derselben und zumal diejenigen, in deren Gemeinderat unverheiratete oder sehr alte Leute 209 Nach LHAK Best. 655,123 Nr. 202, Unterstützungsnachweis für Hebammen 1875. 210 Dieser Vergleich relativiert auch die Aussagekraft von Durchschnittszahlen zum Einkommen von Hebammen, wie sie etwa Regierungsmedizinalrat Schwartz angibt. Für 1890 berechnete er ein durchschnittliches Einkommen einer Hebamme von rund 250 Mark pro Jahr. 1880 betrug das Durchschnittseinkommen einer Hebamme aus Gebühren im Regierungsbezirk Trier bei ca. 52 Geburtshilfen im Jahr (25233 Geburten, 488 Hebammen) demnach etwas mehr als 300,– Mark. Siehe Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 162. 211 Bender, Geburtshilfe, S. 58; Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 460. 212 LHAK Best. 655,123 Nr. 889, Gesuch der Katharina M. [bezgl. freier Wohnung] vom 06. Juni 1873; VGV BKS Beschlussbuch des Gemeinderates Lieser, 1913–1923. Beschluss des Gemeinderates vom 04. Juli 1916. Vgl. Bender, Geburtshilfe, S. 56–57. 213 Vgl. auch Ebd., S. 58–59. 214 LHAK Best. 442 Nr. 3899, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel 1896, S. 26. Alexander bezieht die Aussage auf die immerhin 39 Bezirkshebammen in seinem Kreis. Ähnlich lautete auch der Bericht seines Vorgängers Dr. Mannel 1891. LHAK Best. 442 Nr. 3894, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel 1891, S. 25ff. 215 So erkennbar in der Reaktion eines Gemeinderates nach dem von Alexander gestellten Antrag auf Hebammenprämien von Seiten des Kreises durch den Kreisarzt: „Ein Mitglied jener Körperschaft mir Vorwürfe darüber machte, daß ich für die so gut situierten Hebammen noch Prämien verlange.“ LHAK Best. 442 Nr. 3897, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel 1894, S. 26.

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sitzen, würden, wenn es in ihrer Macht stünde, noch den winzigen Gehalt reduzieren. Dazu kommt noch, dass von Jahr zu Jahr größere Anforderungen an die Hebammen gestellt werden, ohne daß ihnen irgend eine Gegenleistung zuteil wird.216

Ein deutliches Indiz für die schlechte Lage der Hebammen auch in Zeltingen selbst ist zudem, dass 1872–1875 – für diese Zeit sind entsprechende Quellen vorhanden – durchgehend alle in der Bürgermeisterei angestellten Hebammen auf zusätzliche Armenunterstützung angewiesen waren.217 Obwohl diese Ausführungen auf den Gegebenheiten eines einzelnen Kreises beruhen, scheint die Lage der Hebammen in anderen Gemeinden nicht grundsätzlich anders gewesen zu sein.218 Sichtbarstes Zeichen einer Reaktion von Seiten des Staates hierauf sind die zu Beginn der 1890er Jahre erkennbaren Versuche, die Anstellung und Besoldung der Hebammen zu vereinheitlichen.219 So wurde im Kreis Bitburg im März 1890 die Bestallung der Bezirkshebammen auf den Kreis übernommen und mit einem einheitlichen Statut versehen.220 Die „einmaligen Kosten für Beschaffung der Kästen und Instrumente“ trug der Kreis, ebenso wurde ein Etatposten für die Besoldung der Hebammen geschaffen. Eine Kommission sollte zudem einheitliche Hebammenstatuten für den Kreis entwerfen. Im Hinblick auf die Armenversorgung war es in diesem Zusammenhang konsequent, dass diese Statuten „mit der Maßnahme aufgestellt [werden sollten], daß die Kosten der Entbindungen armer Wöchnerinnen nach wie vor aus den betreffenden Gemeindekassen zu bezahlen seien“.221 Für die unentgeltliche Versorgung der eigenen Ortsarmen sollte weiterhin jede Gemeinde selbst zuständig bleiben. In ähnlicher Weise versuchten auch die Verantwortlichen im Kreis Daun ein Jahr später, die Lage ihrer Hebammen zu verbessern. Zunächst hatte man dort versucht, das unterschiedliche Lohnniveau der Hebammen durch Zuschüsse auszugleichen.222 Zum Zeitpunkt der Berichtsabfassung durch den Kreisarzt war die Übernahme des Hebammenwesens auf den Kreis aber offenbar schon genehmigt worden.223 216 LHAK Best. 44 Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel 1896, S. 215. 217 Im genannten Zeitraum waren insgesamt bis zu fünf Hebammen zugleich in der Bürgermeisterei tätig. Vgl. LHAK Best. 655,123 Nr. 202, Nachweise über den Stand des Hebammenwesens. Die Unterstützung geht hervor aus Ebd., Unterstützungsnachweise für Hebammen [1872–1875]. 218 Hinweis darauf etwa die von allen acht Bezirkshebammen der Bürgermeisterei Kastellaun unterschriebene „gehorsamste Bitte sämmtlicher Hebammen in der Bürgermeisterei um Gehaltserhöhung“ vom 21.11.1873. LHAK Best. 655,14 Nr 926. Zur weiteren Bedeutung dieses Schreibens s.u. Vgl. ähnliche Angaben bei Bender, Geburtshilfe, S. 58–59. Auch für Nassau konstatiert Silvia Weber-Grupe: „Die ländlichen Hebammen entstammten zu nassauischer wie auch zu preußischer Zeit weitgehend der Unterschicht.“ WeberGrupe, Gesundheitspflege, S. 463. 219 Ein erster Versuche dazu war bereits die Ministerialverfügung vom 06. August 1883, in der den Hebammen „bessere Einkünfte und (…) Ruhegehalt“ zugestanden wurden. Schubert, Koblenz, S. 88 und Rapmund, Gesundheitswesen. 220 LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht des Kreises Bitburg für 1890, S. 274. 221 Ebd. 222 LHAK Best. 442 Nr. 3894, Sanitätsbericht des Kreises Daun für 1891, S. 85–156. 223 Ebd.

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Inwieweit die genannten Veränderungen tatsächlich zu einer besseren finanziellen Situation der Hebammen beitrugen, ist letztlich schwierig zu beurteilen. Die erhaltenen Zahlen lassen sich vorsichtig dahingehend interpretieren, dass sich das Grundgehalt einer Hebamme in den folgenden Jahren in einer Spanne von 80–100 Mark pro Jahr bewegte.224 Gegenüber den bekannten Zahlen von 1880 bedeutete dies immerhin eine Verdoppelung. Zudem waren die Gehaltshöhen zwischen den Gemeinden nun weitgehend angeglichen. Da der Gutteil des Hebammeneinkommens aber aus Gebühreneinnahmen stammte, und auch in späteren Zeiten große Unterschiede in der Zahl der geleisteten Geburtshilfen zwischen den einzelnen Hebammen erkennbar bleiben225, kann von einem einheitlichen Verdienstniveau der Bezirkshebammen auch nach dem Beginn der 1890er Jahre keine Rede sein. Bereits Anfang der 1880er Jahre war zumindest im Regierungsbezirk Trier außerdem eine Altersversorgung der Hebammen eingeführt worden; im Regierungsbezirk Koblenz hatten Bezirkshebammen seit einer Ministerialverfügung vom 6.8.1883 zumindest bei Dienstunfähigkeit einen Anspruch auf eine lebenslange Pension.226 Motivation Obwohl angesichts der geringen Zahlungen in einigen Kreisen Probleme bestanden, die Bezirkshebammenstellen zu besetzen, konnte der überwiegende Teil der Stellen offenbar ohne größere Probleme besetzt werden.227 Für die Zeit vor der Übernahme des Hebammenwesens in die Verantwortung der Kreise sind einige Bewerbungen um Hebammenstellen erhalten, die Aufschluss über Motivation und Absichten der Bewerberinnen geben können.

224 Im Kreis Bitburg waren für 1890 und 1891 jeweils 2200 Mark für Hebammengehälter vorgesehen. Bei 26 Bezirkshebammen im Kreis erhielt jede Hebamme rund 84 Mark jährlich als Grundgehalt. Siehe Anm. 161. Auch im Kreis Bernkastel, der die Kreisträgerschaft für Hebammen wahrscheinlich erst 1923 einführte (siehe dazu Kap. 2.1.2.) stiegen die Grundgehälter an. 1916 erhielt die neueingestellte Bezirkshebamme der Gemeinde Lieser ein Honorar von 90 Mark, die Hebamme in Zeltingen erhielt bereits 1912 ein Gehalt von 150,– Mark jährlich. Siehe VGV BKS Beschlussbuch der Gemeinde Lieser 1913–1923. Beschluss des Gemeinderats vom 04. Juli 1916 bzw. LHAK Best. 655,123 Nr. 903, Vertrag der Bezirkshebamme Karina A. vom 02. November 1912. 225 Siehe dazu auch den folgenden Abschnitt zur Verbreitung der Hebammen. 226 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 161–165; v. Massenbach: Der Regierungsbezirk Koblenz. Generalsanitätsbericht für 1883–1885, Koblenz 1887, S. 165 (Angabe nach Schubert, Koblenz, S. 88). 227 Der Kreisarzt von Bernkastel warnte etwa in Verbindung mit seiner Klage über die Haltung der Gemeinderäte vor der Gefahr, keine Hebammenschülerinnen mehr zu finden. LHAK Best. 44 Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel 1896, S. 215. Im Kreis Daun blieb trotz mehrfacher Ausschreibung eine Hebammenstelle unbesetzt. LHAK Best. 442 Nr. 3894, S. 85–156. Größere Schwierigkeiten macht hingegen Silvia WeberGrupe aus. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 461.

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Auf die 1875 wieder zu besetzende Hebammenstelle der Gemeinde Zeltingen bewarben sich im Ganzen sieben Frauen.228 Auffallend ist als erstes das durchgehend recht junge Alter der Kandidatinnen.229 Zudem verfügte offenbar zum Zeitpunkt der Bewerbung noch keine der Frauen über eine Qualifikation als Hebamme.230 Damit entsprachen die Bewerberinnen dem sich wandelnden Charakter der Hebamme von der ‚mütterlichen’, an eigenen Schwangerschaftserfahrungen gereiften Vertrauensperson der Schwangeren und Wöchnerinnen, hin zur jungen, ausgebildeten und professionelleren Dienstleisterin, wie sie von behördlicher Seite gefördert wurde.231 Neben diesen Erkenntnissen vermitteln vor allem diejenigen Bewerbungsschreiben einen deutlichen Einblick in die Motivation der Bewerberinnen, in denen diese ihre persönlichen Situation beschrieben. Wibke A. schrieb etwa: Wie Ew. Wohlgeboren sowie dem geehrten Gemeinderath bekannt ist, habe ich drey Kinder welche nur mit schweren Opfer mit Beistand bejahrten Eltern erzogen wurden, eine große Erleichterung meiner und meiner Eltern Bürde würde es mir doch gewähren wenn meiner Bitte ein geneigtes Gehör ergehen würde in dem ich alsdann soviel eher meine Kinder selbst ernähren könnte. Mit dem Anerbieten der Beibringung meiner erforderlichen Zeugnisse harre ich der Erfüllung meiner sehnlichen Bitte232

Ähnlich in der Sache, aber noch eindringlicher in der Schilderung hieß es bei Eva S.: Wie bekanntlich bin ich unglücklicherweise Mutter von einem Kinde geworden, was ich aber durch die Pflege, welche ich meinem alten Vater leisten muß, nicht im Stande bin es ordentlich zu nähren. Darum will ich Sie untertänigst Bitten, mir hierin doch behülflich sein zu wollen, dass ich mein Kind und meinen alten Vater pflegen kann. Ich bin erst 25 Jahre alt, und bin gesund und glaube hier in jeder Beziehung meine Pflichten zu erfüllen. Wie bekannt, besitze ich kein Vermögen, worauf ich mich stützen könnte, und darum habe ich diesen Schritt getan um meinen alten Vater und mein Kind besser pflegen und nähren zu können.233

In beiden Fällen war es offensichtlich der Verdienstbedarf und ein Mangel an eigenem Vermögen, der die beiden Frauen dazu brachte, sich auf die Stelle zu bewerben. 228 LHAK Best. 655,123 Nr. 889, Bewerbungen Ehefrau Bruno P., 24. Februar 1875; Radegundis E., 23. März 1875; Eva S. 25. März 1875; Katharina E. 25. März 1875; Wibke A., 31. März 1875, Ehefrau Friedrich J. 26. März 1875; Korinna E., 31. März 1875. 229 Ehefrau Bruno P. 26, Eva S. 25, Katharina E. 20, Ehefrau Friedrich J. 23, Korinna E. bewirbt sich als „ledigen Standes, Tochter der Kath. E.“, scheint also auch jünger zu sein. Wibke A. erwähnt drei eigene Kinder, könnte also älter gewesen sein; das Alter von Radegundis E. bleibt unbestimmbar. 230 Angesichts der durchgehenden Qualifikationslosigkeit ist zu vermuten, dass der entsprechende Kurs Teil der Ausschreibung war. 231 Vgl. dazu Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 461; Labouvie, Selbstverwaltete Geburt, S.494–495; Bender, Geburtshilfe, S. 65; Seidel, Gebären, S. 268. 232 LHAK Best. 655,123 Nr. 889, Gesuch der Wibke A., Ehefrau von Johann A., um Aufnahme in ein Hebammeninstitut zur späteren Ausführung in hiesiger Gemeinde vom 31. März 1875. 233 LHAK Best. 655,123 Nr. 889, Gesuch der Eva S., Tochter von Erwin S., betreffend der Hebammenstelle von hier vom 25. März 1875.

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Insbesondere der Verweis auf die „schweren Opfer“ bei Wibke A. und die geleistete Pflege am Vater bei Eva S. sind Argumentationen für die eigene Würdigkeit, wie sie Katrin Marx in ihrer Untersuchung der Strategien von Antragstellern auf Armenunterstützung in ländlichen Gebieten der Rheinprovinz identifizieren konnte.234 Eine ähnliche Parallele der Argumentation zeigt sich auch im Fall der Katharina E., die auf ihren Mann, der „in den letzten Feldzügen seine Gesundheit aufgebraucht hat“ und damit auf die für den Staat geleisteten Dienste verwies.235 Korinna E. und die Ehefrau von Friedrich J. brachten ihre Leistungsbereitschaft immerhin dadurch zum Ausdruck, dass sie beide beteuerten „einzig und allein“ beziehungsweise „für die Zeit meines Lebens“ nur in Zeltingen als Hebamme tätig werden zu wollen.236 Zudem klang in der vorab erklärten Bereitschaft der Bewerberinnen Katharina E. und Korinna E., den Lehrkurs aus eigenen Mitteln zu bezahlen, beziehungsweise vom Hebammengehalt abzubezahlen, deutlich das auch in den Armenakten anklingende Motiv der Rückzahlungsbereitschaft an.237 Für Arme im ländlichen Raum der südlichen Rheinprovinz war Katrin Marx zufolge „das ‚Patchwork’ unterschiedlicher Strategien, die Mobilisierung von Einkommensmöglichkeiten sämtlicher Familienmitglieder und die Inanspruchnahme von jeglicher Hilfe (…) eine ständige Notwendigkeit“.238 Die vergleichbaren Argumentationsstrukturen von Antragstellerinnen auf Armenunterstützung und Hebammenanwärterinnen sowie die Beobachtung, dass selbst aktive Hebammen auf zusätzliche Armenunterstützung zum Lebensunterhalt angewiesen waren, lässt die Inhabe einer Hebammenstelle als Teil dieses Patchworks erkennbar werden. In einer „economy of makeshifts“, wie sie Marx für die Armen des ländlichen Raums nachweist, war die Tätigkeit als Hebamme eine spezifisch weibliche Form des Zuerwerbs, darin vergleichbar den Stellen des weiblichen Dienstpersonals in gehobenen Haushaltungen oder Tätigkeiten als Reinigungsfrau.239 Dass es sich bei dem ausgeprägten Interesse armer Frauen an Hebammenstellen keineswegs um ein lokales Spezifikum handelte, verdeutlicht auch der Gesundheitsbericht von Regierungsmedizinalrat Dr. Schwartz 1880, in welchem dieser als Nachwuchsreservoir für den Hebammenberuf auf dem Land vor allem Frauen aus Arbei234 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 153–162. 235 Nach Marx ist diese Argumentation in Anträgen auf Armenunterstützung allerdings nur von marginaler Bedeutung. Dazu auch Rudloff, Wohlfahrtsstadt, S. 847. 236 LHAK Best. 655,123 Nr. 889, Gesuch der Ehefrau von Friedrich J. Stellmacher dahier um Aufnahme in ein Hebammeninstitut zur späteren Ausführung in hiesiger Gemeinde vom 26. März 1875; Ebd., Gesuch der Korinna E., ledigen Standes, Tochter der Kath. E. von hier vom 31. März 1875. Gesetzlich waren die Hebammen bei einer Fremdfinanzierung des Kurses lediglich zu drei Jahren Niederlassung verpflichtet. LHAK Best. 491 Nr. 389, Allgemeine Verfügung zum Hebammenwesen vom 6. August 1883. 237 Ähnliche Fälle auch in Bender, Geburtshilfe, S. 59, Anm. 334. Allerdings bestand im Falle der Armenfürsorge eine Rückzahlungspflicht, die im Falle des Hebammenkursus zumindest nicht zu erkennen ist. Vgl. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 154. 238 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 286 in Anlehnung an Laura Balbo. 239 Ebd., S. 256–257.

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ter- und Handwerkerschichten benannte, „welche sich und ihre Familien nicht anders zu ernähren wissen.“240 Die Hebammen standen ihren Klientinnen aus der Armenbevölkerung damit in ökonomischer Hinsicht so nahe wie wohl keine anderen Heilkundigen.241 Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die Bewerbung des Bruno P. auf die Hebammenstelle.242 Darin argumentierte er für die Ausbildung seiner Frau zur Hebamme abstrakt mit der Notwendigkeit, für den Fall, dass die Hebamme des Ortes krank würde, eine zweite Hebamme anzustellen. Abschließend empfahl er dem Gemeinderat, generell über die Verpflichtung einer zweiten Hebamme zu beschließen. Die zeitlich vor den anderen Bewerbungen liegende Abfassung des Schreibens, der darin fehlende Bezug auf eine bestehende Ausschreibung und die von der eigenen Frau abstrahierende Argumentation lassen vermuten, dass der Gemeinderat diesen Rat offenbar rasch und gründlich befolgt hat, indem er eine (zweite) Hebammenstelle ausschrieb.243 Obwohl das Vorhaben von Bruno P., für seine Frau gewissermaßen eine völlig neue Verdienststelle schaffen zu lassen, im Endergebnis nicht erfolgreich war244, ist dieses Vorgehen aber in jedem Falle ein beinahe spektakuläres Zeugnis der aktiven Gestaltungskraft von Armen in der Beschaffung lebensnotwendiger Mittel. Eine Bereitschaft der ohne Zweifel armen Hebammen, ihre Ansprüche gegenüber den lokalen Behörden geltend zu machen, zeigte sich auch in anderen Fällen. Die Hebammen der Gemeinde Kastellaun versuchten etwa ihrer Forderung nach einer Gehaltserhöhung dadurch Nachdruck zu verleihen, dass sie durch die gemeinsame Abfassung und Unterzeichnung eines Bittbriefes die gemeindeübergreifend schlechte finanzielle Lage der Hebammen ins Feld führten.245 Noch bemerkenswerter ist die Vielfalt der Strategien im Fall der Hebamme Katharina M. aus Zeltingen. Anders als die Kastellauner Hebammen nutzte sie gerade die Ungleichheit in der Behandlung, als sie unter Verweis auf die bei Amtsantritt versprochene Gleichbehandlung mit ihrer Kolle-

240 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 161. Vgl. auch Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 463. 241 Vgl. Bender, Geburtshilfe, S. 59–60. Zu Überschneidungen der gesellschaftlichen Schicht von Patienten- und Behandlern im 18. und 19. Jhdt. vgl. Probst, Heiler, S. 43–51. 242 Dieser reicht die Bewerbung offenbar für seine Frau ein. LHAK Best. 655,123 Nr. 889, Gesuch des Bruno P. vom 24. Februar 1875. 243 Leider ist die Stellenausschreibung selbst nicht erhalten geblieben. 244 Die Stelle erhält schließlich Katharina E. 245 „Wie Euer Wohlgeboren bekannt ist, sind wir mit unseren Gehältern als Hebammen so gering bestellt, daß wir genöthigt sind, Sie zu belästigen. Da die Preise der Lebensmittel sich mit jedem Tage erhöhen, auch größthen Theils ärmere Leute sind, zu denen wir gerufen werden, und unser Gehalt wie erwähnt nicht danach ist, daß wir fernerhin bestehen können und auf Nebenverdienst durchaus gar nicht zu rechnen ist, so ginge unsere Bitte dahin, geneigest behülflich zu sein, dass uns eine Gehaltserhöhung zugebilligt werde.“ Es folgen acht Unterschriften. LHAK Best. 655,14 Nr. 926, Gehorsamste Bitte sämmtlicher Hebammen in der Bürgermeisterei um Gehaltserhöhung vom 21. November 1873.

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gin die Bereitstellung einer freien Wohnung einforderte.246 Dieser Forderung verlieh sie zusätzlich mit dem Verweis auf berufliche Alternativen Nachdruck, indem sie dem Gemeinderat eröffnete, daß ich von der Gemeinde Cröv ersucht worden bin, als Amme dort einzutreten, mit dem Versprechen, daß auch kein Gehalt scheiden würde. Da ich mir jedoch vierzehn Tage Bedenkzeit vorenthielt [um von] Euer Wohlgeboren zu erfahren, ob ich noch fernerhin mein Gehalt [zur] Hausmiethe verwenden müsse, so erwarte ich, daß dieser meiner Bitte um Gleichberechtigung meiner Collegin Rechnung getragen werde.

In einem weiteren Schreiben wies sie dann sogar die angebotene Wohnungsentschädigung mit einem deutlichen Hinweis darauf zurück, dass diese angesichts ihrer Arbeitsleistung und der ortsüblichen Mieten völlig unangemessen sei: Die Unterzeichnete erlaubt sich Euer Wohlgeboren Gegenwärtiges abermals ergebenst vorzulegen. Nachdem mir vor einigen Tagen eingereichtes Gesuch die Weisung erging, das mir durch den Gemeinderath sechs Thaler als Wohnungsentschädigung zuerkannt worden seien. So finde ich veranlasst, dieselbe abzulehnen, mit dem Bemerken, daß Niemand hier sich befindet, der sein Haus und Thüre bei Tag wie bei Nacht offen und sich seiner [Ruhe] noch rauben lässt, sollte sich aber vielleicht Einer oder der Andere im Gemeinderath sich befinden, der mir für die sechs Thaler eine Wohnung einräumen will, so werde ich Sie mit Dank annehmen. Da ich jedoch unter achtzehn bis zwanzig Thaler keine anständige ausfinden kann, so erlaube ich mir die Bitte binnen einiger Tage mir Bescheid mittheilen zu wollen [ein Wort unleserlich] ich gezwungen bin, mit der Gemeinde Cröv zu unterhandeln, zumahl da von der achtjährigen Zurücksetzung gegen meine Colligin weiter bis heute auch nichts erwähnt wurde (…)247

Sicherlich mag die Resolutheit dieser Frau gegenüber den lokalen Entscheidungsträgern ein Einzelfall gewesen sein. Die angeführten Fälle machen jedoch deutlich, dass die Armen, denen die Hebammentätigkeit einen halbwegs geregelten Zuverdienst ermöglichte, keineswegs nur dankbar aufblickende Almosenempfänger waren, sondern mittels unterschiedlicher Strategien – oftmals erfolgreich – ihre eigenen Interessen zu vertreten suchten. Verbreitung Während die Zahl und Verbreitung der (Armen-)Ärzte im hier untersuchten Raum erst um die Jahrhundertwende den Status erreichte, den das Distriktarztsystem eigentlich vorsah, war dieser Zustand für den Bereich der Geburtshilfe während des ganzen Untersuchungszeitraums bereits gegeben. Wie es die gesetzlichen Bestimmungen vorsahen, verfügte bis auf wenige Ausnahmen jede Gemeinde über ihre eigene ortsansässige Hebamme. Die Zahl der ansässigen Hebammen war daher in ihrer Entwicklung wesentlich stabiler als die 246 LHAK Best. 655,123 Nr. 889, Gesuch der Hebamme Katharina M. um Gleichberechtigung mit Ihrer Collegin betreffend zur gefälligen Vorlage dem Gemeinderath vom 06. Juni 1873. 247 LHAK Best. 655,123 Nr. 889, Gesuch der Hebamme Katharina M. um Gleichberechtigung mit Ihrer Collegin betreffend zur gefälligen Vorlage dem Gemeinderath vom 19. Juni 1873.

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Zahl der Ärzte. Durchgehend für alle untersuchten Kreise zeigte sich aber eine allmähliche Abnahme der Hebammenzahl. Tabelle 1: Absolute Zahlen der Hebammen in ausgewählten Kreisen (in Klammern: davon Bezirkshebammen)248 Kreis Bitburg Kreis Bernkastel Kreis Wittlich Kreis Simmern

1880 33 45 38 k. A.

1893 30 (25) 41 (38) 35 (29) k. A.

1905 28 (23) 41 (39) (1908) 31 (30) 33 (32) (1900)

Der hohe Anteil der gemeindlich angestellten Bezirkshebammen ist wohl als Hauptgrund dafür anzusehen, dass die Unterschiede in der Versorgung zwischen den Kreisen weniger augenfällig waren als im Falle der Ärzte. Die erkennbaren Differenzen in der Zahl der Hebammen lassen sich in erster Linie auf die unterschiedliche Zahl der Gemeinden in den einzelnen Kreisen zurückführen; das wirtschaftliche Potential der einzelnen Hebammenstelle scheint für die Verbreitung im Vergleich zu den Arztstellen von geringerer Bedeutung gewesen zu sein. Die im Vergleich zu den Verhältnissen bei den Ärzten gleichwertigere Versorgung der Kreise mit Hebammen zeigt sich auch, wenn man die Zahl der Hebammen zur Bevölkerung in Bezug setzt. Tabelle 2: Hebammen auf 10.000 Einwohner in ausgewählten Krei­ sen.249 Kreis Bitburg Kreis Bernkastel Kreis Wittlich Kreis Simmern

1880 7,41 10,05 9,73 k. A.

1893 7,02 9,40 9,33 k. A.

1905 6,28 8,49 (1908) 7,36 9,38 (1900)

Zugleich zeigen die Zahlen allerdings eine allgemein zunehmende Verringerung der Versorgungsdichte zwischen 1893 und 1905. Dies bedeutete nicht zwingend auch eine Verschlechterung der Möglichkeiten, Geburtshilfe zu bekommen. Zum einen konnte Geburtshilfe auch von den, wie oben gezeigt, in dieser Zeit an Zahl zunehmenden, Ärzten geleistet werden. Besonders deutlich wird dies im Kreis Wittlich. Einer Verringerung der Versorgungsdichte bei den Hebammen um rund 22 % zwischen 1893 und 1905 stand hier im selben Zeitraum beinahe eine Verdoppelung der im Kreis tätigen Ärztezahl gegenüber.250 Zudem zeigen die Anteile der Geburten mit Hebammenhilfe an der Gesamtzahl der Geburten zwischen 1893 und 1905 keine signifikante Ver248 Vgl. im Anhang Tabelle 13: Daten zur Verbreitung von Hebammen in den Kreises Bitburg, Bernkastel, Wittlich und Simmern 1880–1905/08. 249 Vgl. Ebd. 250 Siehe S. 83f. Da diese Verdoppelung fast ausschließlich auf die Zunahme der Zahl auswärtig niedergelassener Distriktärzte zurückgeht, dürfte ein „Auffangen“ der schlechteren

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schlechterung der Versorgung. Die erhaltenen Zahlen weisen über 90 % der Geburten in den untersuchten Kreisen als von Hebammen betreute Geburten aus.251 Anders als im Falle der Distriktärzte hatten die lobenden Worte höherer Behördenvertreter in Bezug auf die Hebammen auch im Vergleich mit anderen Regionen durchaus ihre Berechtigung.252 Tabelle 3: Hebammen auf 10.000 Einwohner in verschiedenen Gebiets­ körperschaften.253 Kreis Bitburg Kreis Bernkastel Kreis Wittlich Kreis Simmern Reg.-Bez. Trier Rheinprovinz Deutsches Reich

1880 7,41 10,05 9,73 k. A. 7,49 5,6 (1876) 7,7 (1876)

1893 7,02 9,40 9,33 k. A. k. A. k. A. 7,6 (1876)

1905 6,28 8,49 (1908) 7,36 9,38 (1900) k. A. k. A. 6,9 (1909)

Von den untersuchten Kreisen erreichte lediglich der Kreis Bitburg nicht die durchschnittlichen Werte der übergeordneten Gebietskörperschaften. Der Grund dürfte darin liegen, dass die Zahl der die Hebammen einstellenden Gebietskörperschaften in diesem Kreis geringer war als in den anderen Kreisen.254 Zudem war der Kreis Bitburg von den hier untersuchten Kreisen flächenmäßig der Größte.255 Rein statistisch betrachtet gehörten die ländlichen Gebiete der südlichen Rheinprovinz im Hinblick auf die Verbreitung von Hebammen sicherlich zu den sehr gut versorgten. Um die effektive Qualität der Versorgung in ländlichen Gebieten beurteilen zu können, spielt neben der statistischen auch die lokale Verbreitung der Hebammen eine wichtige Rolle. Unterschiede zwischen den einzelnen Kreisen zeigen sich bereits bei einem Vergleich der Hebammenzahlen in Bezug zur Fläche der Kreise.

Hebammenversorgung insbesondere ein Verdienst der verbesserten armenärztlichen Versorgung sein. 251 Kreis Bitburg 1893: 95,52 %, Kreis Wittlich 1905: 93,94 %, Kreis Bernkastel 1908: 96,51 %. Vgl. Tabelle 13 im Anhang. Durchgehende Zahlen für alle Kreise sind leider nicht erhalten geblieben. 252 So bezeichnete Regierungsmedizinalrat Dr. Schwartz das „Institut der Bezirkshebammen [als] segensreich und vorzüglich für das platte Land“. Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 163. 253 Vgl. im Anhang Tabelle 13: Daten zur Verbreitung von Hebammen in den Kreises Bitburg, Bernkastel, Wittlich und Simmern 1880–1905/08. 254 Siehe S. 97, Anm. 184. 255 Kreis Bitburg 780 qkm, Kreis Bernkastel 669 qkm, Kreis Wittlich 641 qkm, Kreis Simmern 572 qkm. Vgl. auch die Ausführungen zum Raum im Einführungsteil.

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Tabelle 4: Hebammen auf 100 qkm in ausgewählten Kreisen.256 Kreis Bitburg Kreis Bernkastel Kreis Wittlich Kreis Simmern

1880 4,23 6,73 5,93 k. A.

1893 3,85 6,13 5,46 k. A.

1905 3,59 6,13 (1908) 4,84 5,77 (1900)

Deutlicher als im Verhältnis von Hebammen zur Bevölkerungszahl zeigt sich bei diesem Vergleich die Bedeutung der Zahl der Bezirkshebammenstellen und die Größe des einzelnen Hebammenbezirks für die effiziente Geburtshilfeversorgung der Bevölkerung. Gegenüber dem Kreis Bitburg war die Zahl der Bezirkshebammen im Kreis Bernkastel um 1905 fast doppelt so hoch, zudem war die Kreisfläche im Ganzen geringer.257 Die deutlichen Unterschiede in der Flächenzahl verwundern daher nicht. Der Einfluss der Bezirksgröße zeigt sich beim Vergleich der Kreise Wittlich und Simmern um 1905. Beide Kreise hatten eine annähernd gleiche Anzahl an Hebammen und Bezirkshebammen, im großflächigeren Kreis Wittlich war damit der einzelne Hebammenbezirk größer.258 Eine Veränderung der Bezirksgrößen bedeutete aber noch nicht zwingend einen kürzeren Weg der Hebamme zu ihren Klienten. Unabhängig von den Veränderungen der Flächenzahlen blieb die Zahl der Standorte der Hebammen weitgehend stabil. Tabelle 5: Zahl der Orte mit Hebammen in ausgewählten Kreisen.259 Kreis Bitburg Kreis Bernkastel Kreis Wittlich Kreis Simmern

1880 28 36 29 k. A.

um 1905 33 (1908) 36 (1908) 29 27 (1912)

Lediglich im Kreis Bitburg bedeuteten mehr Hebammen auch mehr Niederlassungsorte. In den übrigen Kreisen veränderte sich gegebenenfalls lediglich die Zahl der Hebammen an einem Ort, oder ein Zuzug an einem Ort wurde mit einem Weggang an einem anderen Ort bezahlt. Der Blick auf die lokalen Niederlassungen in den einzelnen Kreisen auf der Karte zeigt, dass die Verteilung der Hebammen in allen Kreisen wesentlich gleichmäßiger als die der Ärzte war.260 Ob sich weiterhin bestehende Un256 Vgl. im Anhang Tabelle 13: Daten zur Verbreitung von Hebammen in den Kreises Bitburg, Bernkastel, Wittlich und Simmern 1880–1905/08. 257 Bezirkshebammen: 23 im Kreis Bitburg gegenüber 39 im Kreis Bernkastel. 258 Kreis Wittlich: 31 Hebammen/30 Bezirkshebammen; Kreis Simmern: 33 Hebammen/32 Bezirkshebammen. 259 Vgl. im Anhang Tabelle 13: Daten zur Verbreitung von Hebammen in den Kreises Bitburg, Bernkastel, Wittlich und Simmern 1880–1905/08. 260 Siehe dazu die Karten 1–4 im Anhang.

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gleichgewichte in der Verteilung tatsächlich nachteilig auf die Versorgung auswirkten, lässt sich anhand des vorliegenden Materials nicht abschließend beurteilen. Einige Indizien sprechen jedoch gegen eine signifikant schlechtere Versorgung in den betroffenen Gebieten. Im Kreis Wittlich schienen etwa die Hebammen in Oberkail und Salmrohr um 1905 vergleichsweise große Gebiete abdecken zu müssen. Im erhaltenen Verwaltungsschriftgut finden sich aber auf keiner Ebene Klagen über Hebammenmangel. Die im Vergleich zum Kreisdurchschnitt (~43) höheren Geburtenzahlen der Hebammen in Oberkail (70) und Salmrohr (66) deuten darauf hin, dass die Hebammen in diesen Gebieten lediglich häufiger in Anspruch genommen wurden, ohne aber überlastet zu sein.261 Da dadurch auch das Einkommen stieg, dürfte dieser Zustand der einzelnen Hebamme sogar eher entgegengekommen sein. Die bereits erwähnten hohen Anteile der Geburten mit Hebammenhilfe an der Gesamtzahl der Geburten zeigen, dass nicht nur statistisch, sondern auch in der lokalen Praxis die Hebammenversorgung in den ländlichen Gebieten als gut bezeichnet werden konnte.262 Bewertung Obwohl von der strukturellen Gestaltung dem Distriktarztsystem vergleichbar, wies das System der Bezirkshebammen zu demselben in der konkreten Wirkung und Bedeutung für die gesundheitliche Armenversorgung einige wichtige Differenzen auf. Die Anstellung durch die Gemeinden war die Haupt­ ursache für eine dichte und wirksame Verbreitung von Hebammen im ländlichen Raum. Bereits zu Beginn des Untersuchungszeitraums war das System in der zu Beginn des 19. Jahrhunderts angedachten Form voll etabliert. Die erhobenen Daten zeigten dabei zudem, dass die ländlichen Gebiete der Regierungsbezirke Trier und Koblenz auch im regionalen und nationalen Vergleich gut bis sehr gut mit Hebammen ausgestattet waren – im Gegensatz zur Situation bei den Ärzten. Der erkennbare Rückgang in der statistischen Versorgungsdichte von 1880 bis zur Jahrhundertwende führte durch substituierende Hilfeleister, wie die zunehmende Ärztezahl, nicht zwingend zu einer Verschlechterung der Versorgung. Im Gegensatz zum Distriktarztsystem war das zentrale Anliegen des Bezirkhebammennetzes aber nicht die geburtshilfliche Versorgung von Armen, sondern die der gesamten Bevölkerung. In diesem Falle profitierten die Armen also eher indirekt vom Ausbau der Versorgung. Deutlich wird dies insbesondere daran, dass ein Anspruch auf kostenlose Ge261 LHAK Best. 442 Nr. 3914, S. 109–118. Zusammenstellung der von den Hebammen im Kreise Wittlich während des Jahres 1905 geleiteten Entbindungen vom 01. April 1906. 262 Nach einer Zusammenstellung für den Kreis Simmern war die Verteilung der Hebammen bereits um 1825 so, dass die Anreise einer Hebamme in einem Fall 1½ h Stunden dauerte, im übrigen aber fast durchgehend nur ½ h oder weniger. Rechnet man dieselbe Zeit für eine Nachricht an die Hebamme hinzu, war selbst in Notfällen in der weitaus überwiegenden Zahl der Geburten innerhalb einer Stunde kompetente Hilfe erreichbar. LHAK Best. 491 Nr. 33, Nachweisung der Hebammen im Kreis Simmern [um 1825].

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burtshilfe nicht bestand, sondern diese Kosten im Nachhinein auf dem Wege der „normalen“ Armenfürsorge erstattet werden konnten – aber nicht zwingend mussten! Als bedeutsam für die Armenversorgung erwies sich das Instrument der Bezirkshebammen dagegen in einer anderen Weise. Die Stellen der Bezirkshebammen wurden vor allem von Frauen aus ärmeren Schichten übernommen, denen sich auf diese Weise eine Möglichkeit eröffnete, im Rahmen einer „Ökonomie des Notbehelfs“ zum Unterhalt der eigenen Familien beizutragen. Die Attraktivität dieser spezifisch weiblichen Möglichkeit des Zuerwerbs wie auch die armutsbegründete Motivation der Bewerbungen wird an den an Mustern der Anträge auf Armenfürsorge orientierten Argumentation der Bewerberinnen besonders deutlich. Dennoch blieben die Hebammen aufgrund der insgesamt geringen Verdienstmöglichkeiten auf andere Einkommensquellen angewiesen. Auch die etwas bessere finanzielle Ausgestaltung der Hebammenstellen im Rahmen einer organisatorischen Übernahme auf die Kreise ab den 1890er Jahren änderte daran nichts grundlegend. 1.6. „Kurpfuscher“ und „Knochenflicker“: Laienheiler 1.6.1. Begriffe In den vorangegangenen Abschnitten waren die „Gegenstände“ der Untersuchung, Ärzte und Hebammen, leicht zu bestimmen. Arzt und Hebamme waren diejenigen, die über entsprechende Ausbildungszertifikate verfügten und auch funktionale Binnendifferenzierungen wie Distriktärzte oder Bezirkshebammen waren über die zugrundeliegenden Verträge leicht zu erfassen. Zudem waren die in den Quellen verwendeten Begriffe in der Regel keine von außen herangetragenen oder gar wertenden Bezeichnungen. Im Falle der im Folgenden zu untersuchenden Laienheilkundigen sind diese Voraussetzungen in vieler Hinsicht nicht gegeben, weshalb eine Erläuterung der wichtigsten verwendeten Begrifflichkeiten an dieser Stelle geboten erscheint.263 Diejenigen Heilkundigen, die nicht Ärzte oder Hebammen waren, erscheinen in den Quellen unter einer Vielzahl von Bezeichnungen, wie „Kurpfuscher“, „Knochenflicker“, „Medikaster“ oder „Quacksalber“, die unterschiedlichste Bedeutungsnuancen in sich tragen, oder schlicht als Kampfbegriffe in der Debatte um die ärztlich-akademische Deutungshoheit in medizinischen Angelegenheiten entstanden.264 Im hier untersuchten Zeitraum erscheint ihre Verwendung in den Quellen zwar an vielen Stellen nicht mehr explizit wertend, dennoch ist es ratsam, an ihrer Stelle in der Darstellung einen neutraleren 263 Zur Notwendigkeit begriffsgeschichtlicher Klärungen in der Sozialgeschichte der Medizin siehe Jütte, Alternative Medizin, S. 17f. 264 Regin, Naturheilbewegung, S. 277–283; Herold-Schmidt, Interessenvertretung; Spree, Kurpfuscherei; Elkeles, Medicus. Einen Überblick zu Bedeutung und Gebrauch der verschiedenen Bezeichnungen bietet Jütte, Alternative Medizin.

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Ausdruck zu verwenden, um eine eventuelle pejorative Konnotation dieser Begriffe zu umgehen.265 Für die vorliegende Untersuchung soll auf den Begriff der Laienheiler oder Laienheilkundigen zurückgegriffen werden, auch wenn dieser die Komponenten einer zertifizierten Ausbildung und juristisch legitimen Ausübung der heilerischen Tätigkeit in den Mittelpunkt rückt. Im Zusammenhang der hier angestellten Untersuchung erscheint die Betonung dieses Aspekts jedoch gerechtfertigt, da die Armenkrankenpflege als staatlich-kommunal geregelte Einrichtung ihre Leistungen zumindest vom Anspruch her an derartige Bedingungen band.266 Unter Laienheilkundigen sind demnach hier in Abgrenzung vor allem zu Ärzten und Hebammen diejenigen heilend Tätigen zu verstehen, die entweder keine staatlich geprüfte heilerische Ausbildung absolviert hatten oder die zur selbständigen Ausführung ihrer Tätigkeit nach der zeitgenössischen Rechtsauffassung nicht oder nur eingeschränkt berechtigt waren.267 Neben den Ärzten gab es in Form von „Heildienern“, „Lazarettgehilfen“ oder ähnlichen Bezeichnungen Heilkundige, die vor allem in Rahmen des Militärsanitätswesens oder an größeren Kliniken eine formale Ausbildung genossen hatten und staatlich geprüft waren.268 Im Sinne des hier zugrundeliegenden Begriffsverständnisses waren diese jedoch nicht zu selbständiger Heilkunde berechtigt, sondern durften nur im Rahmen vorhergehender ärztlicher Anordnung tätig werden.269 Diese Gruppen im Rahmen dieser Untersuchung den Laienheilern zuzuschlagen, rechtfertigt sich damit, dass es sich bei den unter diesbezüglichem Verdacht stehenden Heilern in den allermeisten Fällen um ehemalige Angehörige der medizinischen Stände handelte, die nicht mehr unter Leitung und Aufsicht eines Arztes und damit eben wie Laien tätig waren. Ebenfalls nicht unter die Heilkunde im engeren Sinne fällt hier die Tätigkeit der Apotheker.270 Im Rahmen der Zubereitung und Abgabe von Medikamenten waren diese natürlich offiziell anerkannt, aber schon die Beratung in der Anwendung der Medikamente war immer wieder Gegenstand der Klagen von ärztlicher Seite.

265 Die terminologische Abgrenzung verschiedener „Medizinen“ hat sich in der Forschung stets als präsentes und nicht umfassend zu lösendes Problem erwiesen. Loetz, Patienten, S. 54–55. 266 Die Inanspruchnahme von nicht zugelassenen Heilern durch Arme sagt damit aber auch etwas über die Akzeptanz und Dominanz der Armenkrankenpflege aus. 267 Im Sinne dieser negativen Definition der Gruppe spiegelte den Mechanismus der Abgrenzung dabei die zeitgenössische Bezeichnung als „nicht approbierte Heiler“ am ehesten wider. Vgl. Reupke, Nichtapprobierte, S. 3–13. 268 Diese Gruppen wurden auch von Ärzten nicht durchweg als „Kurpfuscher“ wahrgenommen und bezeichnet. Regin, Naturheilbewegung, S. 285. 269 Siehe hierzu auch Kap. 1.6.3., S. 127f. Ähnliches gilt auch für die in der an die kurative Behandlung anschließenden Krankenpflege Tätigen. 270 Zum Apothekenwesen der hier untersuchten Region siehe Scho-Backes, Apothekenverwaltung.

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Betont werden muss dabei, dass die Bezeichnung als Laienheilkundige keine Aussage über die Qualität der Behandlung beinhaltet. Bereits in den zeitgenössischen Quellen wurde immer wieder auf ärztlich-akademischen Verfahren gleich- oder gar höherwertige Ergebnisse laienheilkundlicher Behandlungen verwiesen.271 Trotz Überschneidungen im Einzelfall lassen sich aus den verwendeten Bezeichnungen für die Laienheilkundigen auch grundlegende Unterschiede in der Wahrnehmung verschiedener Gruppen von Laienheilern von Seiten der Behörden und Ärzte erkennen. Zuweilen wurde eine Trennung verschiedener Heilergruppen anhand der von ihnen behandelten Krankheiten vorgenommen. Die Laienheiler, welche sich äußerlichen Verletzungen wie Wunden, Verrenkungen, Knochenbrüchen oder Verbrennungen zuwandten, wurden im Untersuchungsraum vorherrschend als „Knochenflicker“ bezeichnet.272 Dem Kreisarzt des Kreises Wittlich zufolge ging die Bezeichnung dabei in erster Linie auf den Sprachgebrauch der Bevölkerung zurück.273 Bereits zeitgenössisch wurde aber bemerkt, dass eine solche Differenzierung, die sich an der traditionellen Unterteilung der Medizin in äußere und innere Medizin orientierte, vielfach ungenau war und keinesfalls eine strikte Trennung von „Fachgebieten“ bedeutete. Der Regierungspräsident des Bezirk Koblenz beschrieb dies in seinem Bericht 1898 so: Die Knochenflicker behandeln angeblich äußere Schäden. Als solche werden aber auch Leiden, wie z. B. Ischias, Neuralgien der verschiedensten Art, Pleuritis, selbst Lungenleiden, wenn sie mit Schmerzen auftreten, Gelenktuberkulose, schmerzhafte Entzündungen aller Art, Abscesse usw. von ihnen angesehen und behandelt.274

Häufiger als nach Behandlungsfeldern – und zugleich bezeichnender für die Perspektive, unter der vor allem Ärzte die Laienheiler wahrnahmen – wurden die Laienheiler aber nach dem Grade ihrer gewerblichen Orientierung unterschieden. Die Begriffe des „Kurpfuschers“ und des „Knochenflickers“ waren auch hier die bestimmenden. Dabei waren die „Kurpfuscher“ offenbar diejenigen Laienheiler, die ihre Tätigkeit gewerbsmäßig betrieben. Demgegenüber erscheinen im Zusammenhang mit sogenannten „Knochenflickern“ Bemerkungen, dass diese ihre Dienste ohne Entgelt leisteten.275 Allerdings waren auch hier die Übergänge fließend. 271 Vgl. Spree, Kurpfuscherei. 272 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1337, Bericht des Regierungspräsidenten zu Koblenz betreffend die Wiedereinführung des Kurpfuschereiverbots vom 28. Januar 1898. 273 „Diese (…) Kurpfuscher befassen sich gewerbsmäßig mit der Heilung von Knochenverletzungen und heissen im Volksmunde „Knochenflicker.“ LHAK 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Wittlich auf die Anfrage zu Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken vom 14. Dezember 1897. 274 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1337, Bericht des Regierungspräsidenten zu Koblenz betreffend die Wiedereinführung des Kurpfuschereiverbots vom 28. Januar 1898. 275 LHAK 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Bitburg auf die Anfrage zu Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken vom 10. Dezember 1897.

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Nach einem Erlass des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 28.06.1902 waren „diejenigen Personen, welche, ohne approbiert zu sein, gewerbsmäßig die Heilkunde ausüben [dazu verpflichtet], dies vor Beginn des Gewerbebetriebes unter Angabe ihrer Wohnung dem zuständigen Kreisarzte zu melden.“276 Vor dem Erlass des Ministers sind gewerbliche Heiler lediglich über eventuell erhaltene Reklamen und Anzeigen oder entsprechende Berichte in den Amtsakten zu ermitteln. Ab diesem Zeitpunkt ist zumindest die Gruppe der gewerblichen Laienheiler – sofern die entsprechenden Listen erhalten sind – weitgehend zu identifizieren. Die Angaben können dabei insofern als umfassend gelten, da die Listen meist von Ärzten zusammengestellt wurden, die aus eigenen Interessen heraus den Begriff der „Kurpfuscherei“ eher weit fassten.277 Die nichtgewerblichen Laienheiler sind dagegen praktisch nur in Einzelfällen über Berichte und Aktenerwähnungen zu entdecken, was vor allem daran liegen dürfte, dass sie von den Ärzten eben nicht als Konkurrenz empfunden wurden. 1.6.2. Rechtliches Die Berichte der Regierungspräsidenten von Koblenz und Trier über den Stand des „Kurpfuschereiwesens“ im Jahre 1898 endeten beide mit der Forderung, die Kurierfreiheit als Grundlage des laienheilkundlichen Wirkens wieder aufzuheben.278 Grundlage der Kurierfreiheit war § 29 der 1869 erlassenen Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes, in dem die Heilkunde anderen Gewerben prinzipiell gleichgestellt worden war. Um sie auszuüben, war nun lediglich eine Gewerbeanmeldung, nicht aber mehr der Nachweis spezifischer Kenntnisse notwendig.279 Mit der Aufhebung des § 199 StGB im Jahr 1871 wurde zudem die Kurpfuscherei als Straftatbestand weitgehend aufgehoben, verboten blieb lediglich die Heilkunde „im Umherziehen“, d. h. die Heiler mussten über einen festen Wohnsitz verfügen, wollten sie ihr Gewerbe weiter ausüben.280 In der Folge war eine Sanktion laienheilkundlicher Behandlungen – insbesondere nach fehlgeschlagenen Behandlungen – nur noch über die allgemeinen Paragraphen des Reichsstrafgesetzbuches möglich. In Frage kamen hier vor allem die Bestimmungen der §§ 222 (fahrlässige Tötung), 230 (Körperverletzung) und 263 (Betrug).281 Explizit verboten war die heilkundliche 276 Zu den Schwierigkeiten der statistischen Erfassung von Laienheilkundigen vgl. Regin, Naturheilbewegung, S. 283–290. 277 Dazu Ebd., S. 284–288. 278 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1337, Bericht des Regierungspräsidenten zu Koblenz betreffend die Wiedereinführung des Kurpfuschereiverbots vom 28. Januar 1898; Ebd., Bericht des Regierungspräsidenten Trier betreffend die Wiedereinführung des Kurpfuschereiverbots vom 17. Februar 1898. 279 Die Heilkunde war vor allem auf massives Betreiben der Ärzte in die Gewerbeordnung aufgenommen worden, da diese so dem bis dato herrschenden Kurierzwang für Ärzte entgehen wollten. Siehe dazu Huerkamp, Ärzte, S. 254–260. 280 Freytag, Aberglauben, S. 47. 281 Fischer, Gesundheitspolitik, S. 112.

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Praxis lediglich den Apothekern, dies allerdings auch nicht auf Grundlage eines Gesetzes, sondern einer ministeriellen Verfügung vom 23. September 1871.282 Insgesamt gesehen waren die Laienheiler in ihrer Tätigkeit weitgehend frei und für die Behörden nur schwer kontrollierbar. Mit dem erwähnten Meldeerlass versuchte die zuständige Medizinalaufsicht 1902 zumindest einen besseren Überblick über die Laienheiler – allerdings wiederum nur die gewerblich tätigen – zu erhalten. Zudem bot der Erlass gegebenenfalls die Möglichkeit, einen Laienheiler wegen Verstoßes gegen die Meldepflichten zu belangen. Die Freiheit der Laienheiler wurde allein auf der juristischen Ebene noch dadurch befördert, dass die einzelnen verstreuten Bestimmungen durchaus zu Gunsten der Laienheiler ausgelegt werden konnten. Beispielhaft hierfür ist die verwaltungsinterne Auseinandersetzung um die Auslegung des § 199 StGB (Kurpfuschereiverbot) im Fall des heilkundlich tätig gewordenen Pfarrers Karms in Spang (Kreis Wittlich).283 Der Kreisphysikus hatte 1861 beim Landrat ein Verbot nach § 199 StGB gegen den Pfarrer beantragt. Eine Anfrage des Landrates beim Kreisphysikus und dem Ortsbürgermeister nach bekanntgewordenen Schäden für Patienten aufgrund der Laienbehandlung beantworten beide – Bürgermeister und Arzt – verneinend. Bemerkenswert ist die anschließende Wiedergabe einer darüber hinausgehenden Äußerung des Bürgermeisters: Seitens des Bürgermeisters ist mir aber noch berichtet worden, daß in der dortigen sehr armen Gegend, wo es in weitem Umkreise an einem Arzte und einer Apotheke fehlt, die Hülfe, welche der Pfarrer Karms den Kranken durch Anwendung des homöopathischen Heilverfahrens angedeihen lasse, für eine Wohltat zu halten seie, und dasselbe um so mehr, als derselbe dabei ganz uneigennützig verfahre.284

Im weiteren Schreiben ist es vor allem die „Uneigennützigkeit“ in Form des Verzichts auf Entgelt für die Behandlung, die der Landrat als Argument wider ein Tätigkeitsverbot gegen Pfarrer Karms anführt, wobei er sich mehrfach auch auf juristische Literatur berief. Zudem intervenierte der Landrat mit dem Schreiben an den Oberpräsidenten erneut gegen einen zwischenzeitlich ergangenen Verbotsbeschluss der Regierung Trier.285 Der Fall zeigt, dass nicht nur die verstreuten und unspezifischen Rechtsbestimmungen den Laienheilern große Freiheiten in der Ausübung ihrer Tätigkeit ließen, sondern auch die Rechtsauffassungen der zuständigen Verwaltungen erheblich differieren konnten. Den Heilern wurden damit weitere Spielräume eröffnet. So konnte der 1894 wegen Ausübung der Heilkunde im Umherziehen verurteilte Hans Peter Jürgensen das Verbot in der Folgezeit allein dadurch umgehen, dass er poten282 Siehe LHAK Best. 442 Nr. 3851, Schreiben des Kreisarztes Bernkastel an den Regierungspräsidenten zu Trier vom 13. Dezember 1897. 283 LHAK Best. 403 Nr. 11070, Schreiben des Landrats des Kreises Wittlich an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 25. Februar 1861, S. 67–74. 284 Ebd., S. 68. 285 Bei Pfarrer galt generell das „Vorleben christlicher Nächstenliebe“ als wichtiges Motiv einer unentgeltlichen Behandlung. Dazu Stolberg, Homöopathie.

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tielle Patienten in seinen Anzeigen dazu aufforderte, sich zunächst per Brief oder Postkarte an ihn zu wenden. Diese Verfahren wurde von der Ersten Strafkammer Trier so beurteilt, dass „bei dem jetzigen Geschäftstreiben des Jürgensen ‚Ausübung der Heilkunde im Umherziehen’ nicht [vorlag]“.286 Die geringe Durchschlagskraft der gesetzlichen Regelungen zeigte sich sehr deutlich daran, dass zwischen 1890 und 1897 im Regierungsbezirk Koblenz nur drei, im Bezirk Trier sogar nur einer der sogenannten Kurpfuscher verurteilt werden konnte.287 1896 und 1897 wurde im Bezirk Trier nur jeweils ein „nicht approbierter Heilkünstler“ verurteilt.288 Die Klage über die mangelnden Möglichkeiten, gegen „Kurpfuscherei“ wirksam vorzugehen, blieb ein dauerhafter Bestandteil der entsprechenden Berichte, ebenso wie die Forderung nach einer Neuregelung der entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen. Erst mit der Verabschiedung des Heilpraktikergesetzes 1939 wurde die heilkundliche Tätigkeit nichtärztlicher Heiler auf eine neue gesetzliche Grundlage mit verschärften Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten für die Medizinalbehörden gestellt.289 1.6.3. Die Situation der Laienheilkunde vor der Jahrhundertwende (1890er) Quellen und Quellenperspektiven Die wichtigste Quelle für die Situation der Laienheilkunde in den 1890er Jahren in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz sind die Berichte der Regierungspräsidenten zu einem diesbezüglichen Erhebungserlass des Ministeriums für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 09. Oktober 1897. Gegenstand der Überprüfung waren vor allem die Auswirkungen der neuen Gewerbeordnung von 1869 auf die Situation der Laienheilkunde. Die zusammenfassenden Berichte der Regierungspräsidenten sind erhalten, ebenso einige der diesen zugrundeliegenden Kreisarztberichte.290 Deren Aussagekraft 286 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1337, Bericht des Regierungspräsidenten zu Koblenz betreffend die Wiedereinführung des Kurpfuschereiverbots vom 28. Januar 1898. Jürgensen war einer der bekanntesten Laienheiler in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz und seine Tätigkeit mehrfach Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen. Siehe dazu auch Kap. 6, sowie Marx, Scientific Medicine, S. 200–202. 287 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Zusammenstellung der auf den Erlass vom 9. Oktober 1897 – M 3658 – eingegangenen Berichte der Regierungsund Oberpräsidenten betreffend die infolge der Kurierfreiheit auf gesundheitlichem Gebiet gegenwärtig herrschenden Zustände. Zudem waren die verhängten Strafen im Vergleich zu möglichen Einkommen (s.u.) relativ gering. Zwei der Verurteilten hatten wegen Körperverletzung jeweils 50 M zu zahlen, einer musste wegen desselben Delikts für 14 Tage in Haft, der Vierte wurde wegen Tötung zu lediglich 3 Monaten Haft verurteilt. 288 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1337, Bericht des Ersten Staatsanwalts Trier vom 11. Januar 1898. 289 Dazu im Überblick Arndt, Heilpraktikerrecht. 290 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Zusammenstellung der auf den Erlass vom 9. Oktober 1897 eingegangenen Berichte der Regierungs- und Oberpräsidenten betreffend die infolge der Kurierfreiheit auf gesundheitlichem Gebiete gegen-

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galt aber schon zeitgenössisch als beschränkt, da ein Vergleich mit früheren Zeiten „mangels statistischer Erhebungen über den früheren und jetzigen Zustand nicht mit Sicherheit“ zu ziehen war.291 Ergänzend kommen die Aktenbestände einiger Bürgermeistereien und Gemeinden zur „Kurpfuscherei“ hinzu. Allerdings sind alle diese Quellen aus einer Behördentätigkeit heraus entstanden, vermitteln demnach in der Hauptsache den administrativen Blick auf das Geschehen.292 Zudem waren die Verfasser der Sanitätsberichte Ärzte, mithin potentielle Konkurrenten der Laienheilkundigen. Quellen zur Sache aus der Hand betroffener Laienheilkundiger waren für die hier behandelten Bezirke bisher nicht zu entdecken. Erschwerend kommt hinzu, dass die Kreisärzte auf den Erlass hin keine spezifischen Angaben erhoben, sondern sich im Wesentlichen auf die Beobachtungen aus der eigenen Privatpraxis und die Angaben „einzelner mit den lokalen Verhältnissen vertrauter Beamte und Ärzte“ verließen.293 Lediglich der Kreisphysikus des Kreises Wittlich machte sich die Mühe gesonderter Nachforschungen in den Bürgermeistereien und Gemeinden seines Kreises.294 Als Rechtfertigung für die knappen Informationen führten die Ärzte die mangelnde Meldebereitschaft der Bevölkerung bei Behandlungsschäden an.295

wärtig herrschenden Zustände, sowie LHAK Best. 442 Nr. 3851, darin diverse Kreisarztberichte für 1897. 291 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Berichte des Oberpräsidenten der Rheinprovinz betreffend die infolge der Kurierfreiheit auf gesundheitlichem Gebiete gegenwärtig herrschenden Zustände vom 12. März 1898. 292 Zu Problemen des vorwiegend amtlichen Charakters der Quellen vgl. Regin, Naturheilbewegung, S. 20 und Reupke, Nichtapprobierte, S. 3. 293 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Bericht des Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 12. März 1898; Ebd., Bericht des Regierungspräsidenten Trier vom 17. Februar 1898. Der Regierungspräsident zu Koblenz formulierte: „nicht unerwähnt bleiben darf, dass die Berichte der Kreisphysiker nur zum kleinen Theile auf Grund genauer Nachfrage bei den Ärzten erstattet sind, so dass das vorliegende Material als ein völlig erschöpfendes nicht angesehen werden kann.“ Ebd., Bericht des Regierungspräsidenten zu Koblenz vom 28. Januar 1898. 294 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Bericht des Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 12. März 1898; Bericht des Regierungspräsidenten Trier vom 17. Februar 1898: „nur einer von diesen, der Kreisphysikus des Kreises Wittlich, welcher erst seit kurzem ernannt ist, erstattete seinen Bericht auf Grund von Rückfragen bei den Bürgermeisterämtern und den Ärzten des Kreises„; LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Wittlich zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken vom 14. Dezember 1897. 295 LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Daun zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken vom 14. Dezember 1897; ähnlich Ebd., Bericht des Kreisarztes Saarbrücken zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken vom 02. Dezember 1897; auch GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328. Allerdings ist fraglich, ob dieser tatsächlich alleine die Verantwortung dafür trug. In mehreren Fällen scheinen die Ärzte selbst aus wirtschaftlichen Motiven und Akzeptanzstreben heraus mit Laienheilern zusammengearbeitet zu haben. Siehe dazu Kap. 7.

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In den Berichten selbst lag der Schwerpunkt der Darstellungen auf den gewerblich tätigen Laienheilkundigen; nicht gewerblich tätige Heiler wurden nur sehr allgemein behandelt, oft sogar gar nicht erwähnt.296 Ebenfalls selten waren konkrete Angaben zu Niederlassungsorten und Verbreitung auch der gewerblichen Laienheiler.297 Lediglich Regierungsmedizinalrat Schwartz in seinem Bericht für 1880 sowie der Kreisarzt von Wittlich in seinem erwähnten Bericht nannten einige Bürgermeistereien.298 Eine auffällige Häufung ließ sich dabei für die Bürgermeisterei Manderscheid festhalten, in der zwölf der insgesamt 14 im Kreis Wittlich tätigen „Kurpfuscherinnen und Kurpfuscher“ tätig waren. Hinzu kam jeweils einer in den Bürgermeistereien Neuerburg und Hetzerath. Die genauen Gründe dieser Häufung liegen aber im Dunkeln. Die mangelnde Datenbasis macht die kartographische Darstellung der Verbreitung von Laienheilern daher insgesamt wesentlich unsicherer.299 In der Bewertung laienheilkundlicher Tätigkeiten waren die aus Sicht der Berichterstatter mangelnden Kompetenzen ein zentraler Gegenstand der Klage. Noch zurückhaltend äußerte sich 1880 der Trierer Regierungsmedizinalrat Dr. Schwartz, als er den Laienheilern „seltene Kühnheit“ und einen „mit jedem Glücksfall“ wachsenden Ruf attestierte.300 Drastischer formulierte sein Koblenzer Pendant Dr. Salomon 1898 sein Urteil: Die Gewissenlosigkeit dieser Heilkünstler wird durch zahlreiche in den Berichten aufgeführte Einzelfälle reich illustriert. Verhinderung rechtzeitiger sachgemäßer Hülfe, das Hintertreiben lebensrettender Operationen, die brutale Behandlung Lungenschwindsüchtiger, der Mangel an Vorsichtsmaßregeln bei Infectionskrankheiten aller Art u.v.a.m. stiftet unsägliches Unheil.301

Zudem interpretierten die Berichterstatter die Aktivitäten der Laienheiler entsprechend der genannten Straftatbestände für Laienheiler. So stellte der Kreisarzt von Daun gegen einen Lehrer, der mit „Streukügelchen“ behandelte, einen Strafantrag wegen „Feilhalten von Pillen“ um den Betroffenen auf diese 296 Etwa LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Bernkastel zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken vom 13. Dezember 1897: „Es existieren allerdings (…) Knochenflicker, die eine sehr ausgedehnte Praxis haben“; LHAK Nest. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht des Kreises Bitburg für 1890: „Es sitzt übrigens fast noch in jedem Dorfe ein Medikaster“. Dasselbe Phänomen bemerkt Stolberg, Homöopathie. 297 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Bericht des Regierungspräsidenten Trier vom 17. Februar 1898: „Genaue Angaben über dien Zahl und Ort der vorhandenen Pfuscher sind nicht vorhanden.“ Lediglich Regierungsmedizinalrat Schwartz in seinem Bericht für 1880 sowie der Kreisarzt von Wittlich in seinem erwähnten Bericht nannten einige Orte. 298 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880. LHAK Best. 442 Nr. 3139, Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinalwesen des Regierungsbezirks Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1881 und 1882; LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Wittlich zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken vom 14. Dezember 1897. 299 Vgl. dazu Spree, Ungleichheit, S. 98–101. 300 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 117. 301 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Bericht des Regierungspräsidenten zu Koblenz vom 28. Januar 1898; LHAK Best. 442 Nr. 3851, passim.

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Weise rechtlich zu belangen.302 Die Behandlung selbst fiel dagegen unter die Gewerbefreiheit. Ähnlich versuchte der Koblenzer Regierungsmedizinalrat Dr. Salomon 1897, die Kurpfuscher über das Verbot der Heilkunde im Umherziehen fassbar zu machen: Von einer verhältnismäßig großen Zahl der Kurpfuscher des hiesigen Bezirks wird berichtet, dass sie nicht nur in ihrem Wohnort, sondern auch in anderen Orten regelmäßige Sprechstunden halten, also ihr Handwerk im Umherziehen betreiben.303

An prominenter Stelle behandelten die Berichterstatter stets auch die Folgen der laienheilkundlichen Tätigkeiten für die Ärzteschaft ihres Bezirks. Nach diesen Aussagen konnten den Ärzten durch die Tätigkeit der Laienheiler sowohl „moralische“ Schäden – d. h. Prestigeverlust – wie auch „pecuniäre“ Schäden entstehen.304 Bemerkenswert ist dabei ein Unterschied in der Bewertung zwischen den Regierungsbezirken. Der Koblenzer Regierungsmedizinalrat Salomon berichtete für seinen Bezirk, dass „auf Grund der diesseitig erfolgten Erhebungen als zweifellos festgestellt erachtet werden kann, dass die materiellen Verhältnisse des ärztlichen Standes durch das Treiben der Kurpfuscher fortgesetzt eine empfindliche Schädigung erfahren“.305 Sein Trierer Kollege Dr. Schmidt hielt hingegen fest, dass die Kreisarztberichte „auf die durch die Kurierfreiheit verursachten materiellen Schädigungen des ärztlichen Standes (…) wenig eingegangen sind.“ Leider lässt sich aufgrund der lückenhaften Aufzeichnungen zur Laienheilkunde über die Gründe dieser unterschiedlichen Wahrnehmung nur spekulieren. Eine Möglichkeit wäre die besondere Stellung der Heilerfamilie Pies im Hunsrückgebiet, deren Ansehen und Konsultationsumfang so bedeutend waren, dass in der dortigen Region leichtere Erkrankungen sogar als „Piesenfehler“ bezeichnet wurden.306 Die Berichte der ärztlichen Berichterstatter lassen in ihrer Deutung und Interpretation der Laienheiler und deren Wirkens erkennen, dass jene von ärztlicher Seite vor allem als fachliche und finanzielle Konkurrenten wahrgenommen wurden. Die Berichterstattung war keinesfalls ausgewogen, sondern fokussierte fast ausschließlich auf die der Laienheilkunde aus berufsständischer Perspektive der Ärzte unterstellten Gefahrenpotentiale. Die von Standesinteressen geprägte Deutung der Laienheilkunde wird umso deutlicher an jenen Stellen der Berichte sichtbar, die abweichende Deutungen anderer Beteiligter erkennen lassen. 302 LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Daun zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken vom 14. Dezember 1897. 303 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Bericht des Regierungspräsidenten zu Koblenz vom 28. Januar 1898. 304 LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Bitburg zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken vom 10. Dezember 1897. 305 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Bericht des Regierungspräsidenten zu Koblenz vom 28. Januar 1898; Ebd., Bericht des Regierungspräsidenten Trier vom 17. Februar 1898. 306 LHAK Best. 441 Nr. 13681, Kreisarztbericht des Kreises Simmern von 1912. Vgl. dazu Naal, Arzt, S. 85–87 und Pies, Knochenflicker.

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So war 1861 der Wittlicher Landrat in seinem erwähnten Schreiben an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz zur heilkundlichen Tätigkeit des Pfarrers Karms in Spang „zugleich mit dem Ortsbürgermeister der Meinung (…), dass die Praxis des g. Karms für die dortige Gegend eher wohltätige als schädliche Folgen habe“.307 Die folgende Argumentation macht dabei deutlich, dass für den Landrat vor allem eine leicht zugängliche gesundheitliche Versorgung im Vordergrund stand.308 Eine unterschiedliche Deutung der Laienheilkunde ließ auch der Bericht des Wittlicher Kreisphysikus von 1897 erkennen. Während der Arzt selbst auf die „falsche Diagnosestellung“ zweier Laienheiler mit „sehr schlechtem Heilresultat“ verwies, berichtete er über die Mitteilungen der Bürgermeistereien, „dass ihnen Mißstände auf dem Gebiete der Gesundheitspflege in Folge der Kurpfuscherei nicht bekannt geworden sind.“309 Für Gersweiler, Kreis Saarbrücken, erwähnt der Bericht des Kreisphysikers, dass die Dorfbewohner „voran der Bürgermeister“ im Krankheitsfall zuerst den örtlichen laienheilkundigen Pfarrer aufsuchen; zudem – so der Bericht weiter – lobte ein Bürgermeister bei der Jubiläumsfeier eines Pfarrers explizit dessen Gesundheitswirken.310 Die offensichtliche Wertschätzung, die Laienheilkundigen auch von Seiten der örtlichen Behördenvertreter entgegengebracht wurde, erstreckte sich aber nicht allein auf Geistliche. Im Jahresbericht des Cochemer Kreisarztes für 1900 berichtete dieser über den „Kurpfuscher“ Jan J., der „von einem Bürgermeister (…) geschützt und empfohlen“ wurde. Der Bürgermeister selbst attestierte dem „Heilverfahren in den meisten Fällen einen günstigen Erfolg.“311 Die angeführten Beispiele zeigen, dass die Beurteilung der Laienheiler durch die Lokalbehörden um einiges positiver ausfallen konnte, als es die aus ärztlicher Sicht verfassten Gesundheitsberichte vermuten lassen. In der Tendenz waren es gegenüber den eher pragmatischen Ortsbehörden vor allem die ärztlichen Verwaltungsbeamten, wie Kreisärzte und Regierungsmedizinal307 LHAK Best. 403 Nr. 11070, Schreiben des Landrats des Kreises Wittlich vom 25. Februar 1861, S. 69. 308 Ebd., S.72. Er zitiert an dieser Stelle etwa den zeitgenössisch bedeutenden Rechtspraktiker Theodro Goldtammer: „Das allgemeine Landrecht bestraft das unbefugte Kuriren und die Ausübung der Geburtshilfe in den §§ 702 u. folgd. Tit. 20 nur dann, wenn es gewerbsmäßig resp. gegen Bezahlung geschieht. Hierbei wollte man es im Wesentlichen auch belassen, da eine derartige Hülfe an Orten, wo es an Aerzten und Apotheken fehle, eher wohltätige als schädliche Folgen habe. Nur dann, wenn die Hülfe in einer offenbar ungeschickten oder nachtheiligen Weise ausgeübt werde, müsse die Ausübung derselben durch die Obrigkeit untersagt werden können.“ Goldtammer, Theodor: Die Materialien zum Strafgesetzbuche für die preußischen Staaten, aus den amtlichen Quellen nach den Paragraphen des Gesetzbuches zusammengestellt und in einem Kommentar erläutert, Berlin 1851–1852, S. 430/431. 309 LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Bitburg zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken vom 10. Dezember 1897. 310 LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Saarbrücken zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken vom 02. Dezember 1897. 311 LHAK Best. 441 Nr. 13675, Jahresgesundheitsbericht des Kreisarztes Cochem pro 1900, S. 476.

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räte, die in ihren Berichten auf schärfere Beobachtung und Sanktion der Laienheilkunde drängten. Im Hinblick auf die überlieferten Quellen bedeutet dies, dass diese stets im Bewusstsein um eine zumeist einseitige, an Standesinteressen orientierte Darstellungsweise gelesen und interpretiert werden müssen. Herkunft, Ausbildung und Tätigkeitsfelder Sabine Sander in ihrer Studie zu den württembergischen „Handwerkschirurgen“ des 18. Jahrhunderts den Ausbildungscharakter dieses Berufes mit einer klassischen Einteilung in Lehrlings-, Gesellen- und Meistergrad deutlich hervorgehoben.312 Eine derartig zertifizierende Ausbildung war – vor allem aufgrund der Gewerbefreiheit nach 1869 – im hier untersuchten Raum für nichtärztliche Heilkundige nicht gegeben. Laienheiler durchliefen im hier beobachteten Zeitraum nur selten eine Ausbildung im Sinne einer allgemein anerkannten geregelten, überwachten und zertifizierten Vermittlung ihrer Kenntnisse.313 Dementsprechend weisen die diesbezüglichen Aktenbestände eine Vielzahl von Berufsbezeichnungen, „Ausbildungen“ oder anderen Angaben zu den erworbenen Heilkenntnissen der Laienheiler auf. Dennoch hatten auch „Ackerer“ oder „Heilgehülfen“ ihre teils sehr umfassenden medizinischen Kenntnisse irgendwann einmal erworben, bevor sie durch deren Anwendung bei den Aufsichtsbehörden aktenkundig wurden. Anliegen einer forschenden Auseinandersetzung mit der Laienheilkunde im Rahmen dieser Arbeit konnte es nicht sein, lediglich die Vielzahl der verschiedenen Bezeichnungen und der sie führenden Laienheiler aufzuzählen, sondern eher dahinterstehende Muster und Strukturen erkenntnisgewinnend zu analysieren. Nils Freytag hat zwar die Schwierigkeit einer Kategorisierung der heterogenen Laienheilkunde im rheinischen Raum betont314, dennoch erwies sich der Ansatz, die Laienheilkundigen nach ihren medizinischen Kompetenzen und den Wegen deren Erwerbs zu kategorisieren, hier als gewinnbringend da er es ermöglichte, der Frage nach der Bedeutung der medizinischen Bildung für die Akzeptanz der Laienheilkunde unter Fachleuten und Patienten nachzugehen. Insbesondere für die Patientengruppe der Armen in ihrer prekären finanziellen Lage vermag dies im Vergleich die relative Bedeutung verschiedener Faktoren wie medizinische Kompetenz, Kosten, Entfernungen etc. besser zu beleuchten.315 Die wohl zahlenmäßig größte Gruppe bildeten diejenigen Laienheiler, die sich zusammenfassend am ehesten als Erfahrungsheiler beschreiben lassen. Ihr Wissen erhielten sie durch praktische Erfahrung, Beobachtung oder Vermittlung durch einen anderen solchen Erfahrungsheiler. Hinter ihren Kenntnissen stand zumindest kein erkennbares medizinisches Konzept und auch eine me312 Sander, Handwerkschirurgen, S. 135–175. 313 Vgl. Regin, Naturheilbewegung, S. 279–280. 314 Freytag, Aberglauben, S. 213. 315 Dieser Frage wird im Kap. 6 der Arbeit nachgegangen.

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dizinische Fachausbildung hatten sie nicht genossen.316 Das sicherlich bekannteste – wenn auch gewiss außergewöhnliche – Beispiel hierfür waren die „Knochenflicker“ der Familie Pies im Hunsrück.317 Bereits im 16. Jahrhundert lässt sich deren Tätigkeit als Laienheiler nachweisen und sie werden auch in den Berichten der 1920er Jahre noch gesondert hervorgehoben.318 Zudem konnten Erfahrungen aus dem Bereich humaner und veterinärer Heilung übertragen werden.319 In den Bereich der Erfahrungsheiler fielen auch die sogenannten „alten“ oder „klugen“ Frauen, die vornehmlich Geburtshilfe leisteten, ohne eine Hebammenausbildung o.ä. zu besitzen. 320 Die Verbreitung dieser Heiler lässt sich nicht im Einzelnen bestimmen, da sie keiner Meldepflicht unterlagen. Die Bemerkungen über die „in jedem Dorf“ oder „in allen Orten“ anzutreffenden Heiler legen aber eine große Verbreitung nahe.321 Den Akten und Berichten der Medizinalverwaltungen nach zu urteilen, waren „Knochenbrüche“, „Verrenkungen“ und „Verletzungen“ die vorherrschenden Tätigkeitsfelder der „Knochenflicker“, überwiegend also chirurgisch und äußerlich zu behandelnde Verletzungen und Erkrankungen.322 Damit bil316 Etwa Kreisarzt des Kreises Cochem über den „Ackersmann“ Jan J.: „Jan J. ist ein Landmann, der nur die Elementarschule besucht und keine medizinischen Studien gemacht hat. Es fehlen ihm die Kenntnisse in der normalen und pathologischen Anatomie, sowie überhaupt in der Heilkunde.“ LHAK Best. 441 Nr. 13675, Bericht des Kreisarztes Cochem pro 1900 vom 10. Juli 1901, S. 476–477. Ähnlich LHAK Best. 655,123 Nr. 202, Rundschreiben des Regierungspräsidenten Trier zur Warnung vor Daniel E. vom 31. Dezember 1899: „P. Daniel E., welcher nicht die geringste Vorbildung für die ärztliche Kunst genossen hat (…)“. Anders hingegen im Fall des „Knochenflicker“ Thom in Preist, Kreis Bitburg: „hat seine Kunst von dem verstorbenen Vater“. LHAK Best. 442 Nr. 3909, Verzeichnis derjenigen Personen, die, ohne approbiert zu sein, gewerbsmässig die Heilkunde ausüben (1905). 317 Geschichte und Wirken der Angehörigen der Familie Pies sind bereits mehrfach Gegenstand wissenschaftlicher Studien gewesen. Vgl. Naal, Arzt, Többen, Gesundheitsverhältnisse und Pies, Knochenflicker. 318 Siehe etwa GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344, Bericht des Kreisarztes Simmern betreffend Kurpfuscher vom 30. November 1926. 319 LHAK Best. 442 Nr. 3895, Sanitätsbericht für den Kreis Bitburg 1892, S. 89: “Es sitzt im übrigen in jedem Dorf ein Medikaster / Medizinalpfuscher für Mensch und Thier.“, siehe auch Ebd., Nr. 3896. Ebenso auch Stenzel, Differenzierung, S. 71–72. 320 „Im Bezug auf die geburtshülfliche Pfuschereien treten die alten, erfahrenen, sogenannten klugen Frauen in den Vordergrund. Fast in allen Ortschaften, gewiß aber dort, wo keine Hebamme wohnt, finden sich solche Helferinnen vor, welche oft größeren Zulauf als geprüften Hebammen haben und nicht selten Unheil anstiften.“ Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 118. 321 Vgl. Anm. 234; Ebd., S. 117ff.; GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Zusammenstellung der auf den Erlass vom 9. Oktober 1897 eingegangenen Berichte der Regierungs- und Oberpräsidenten betreffend die infolge der Kurierfreiheit auf gesundheitlichem Gebiete gegenwärtig herrschenden Zustände: „Im Bezirk [Koblenz] sind 21 Pfuscher (gewerbsmäßig), daneben eine sehr große Zahl gelegentlicher Pfuscher.“ [Unterstreichung d. Verf.]. 322 Vgl. etwa LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Prüm vom 14. Dezember 1897; Ebd., Bericht des Kreisarztes Wittlich vom 14. Dezember 1897; Nr. 3893, Sanitäts-

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deten sie deutlich das laienheilkundliche Pendant zum Wundarzt als bis zum Ende des 19. Jahrhunderts für die Chirurgie zuständigem Arzt. Entsprechend waren die bereits erwähnten Hilfestellungen im Geburtsfalle das Gegenstück zur Bezirkshebamme.323 Für diese beiden Gruppen lassen sich alltägliche praktische Erfahrungen als Quelle der Behandlungsfertigkeiten leicht nachvollziehen. Schwieriger wird dies hingegen im Falle der Heiler für im weiten Sinne innere Erkrankungen. Deren Behandlungsspektrum umfasste zwar wohl auch Operationen, in der überwiegenden Zahl der Fälle scheinen sie ihre Patienten aber mit Heilmitteln behandelt zu haben. Mit dieser Praxis bewegten sie sich in einem Grenzbereich der Legalität, denn die Gewerbeordnung von 1869 hatte die Abgabe von Medikamenten explizit von der Kurierfreiheit ausgenommen.324 Wie die Heiler trotz des Verbots Heilmittel verabreichen konnten, zeigt das Beispiel zweier Frauen, die in Pallien bei Trier tätig waren: Die wiederholten polizeilichen Haussuchungen und Beobachtungen beider Frauen, welche in keiner nähern Beziehung zu einander stehen, vielmehr eifersüchtig auf ihren Ruf und Ruhm ihre Kenntnisse und Erfahrungen übereinanderstellen, haben ergeben, daß sie für gewöhnlich nur Kräuter, Wurzeln, Flüssigkeiten sc. welche im Handverkaufe von den Apotheken abgegeben werden können, auf Rezepte verschreiben und die Gebrauchsanweisung meist mündlich ertheilen. Mit dem Verabreichen von Arzneien geben sie sich klugerweise selbst nicht ab, wenigstens sind sie deshalb noch nicht überführt und bestraft worden.325

Ein möglicher Zugang der Laienheiler zu solchen Praktiken waren vermutlich positive Erfahrungen bei eigenen Erkrankungen. So gab der Laienheiler Daniel E. eine Werbebroschüre mit dem Titel „Wie ich von meinem langjährigen Lungen- und Kehlkopfleiden geheilt bin“ heraus und verschrieb seinen Patienten entsprechende Tees. Zugleich zeigt dieser Fall aber auch, wie der Erwerb solcher Kenntnisse vorgetäuscht werden konnte. Eine Untersuchung der von Daniel E. verschriebenen Tees ergab nämlich, „dass der Sparthiumthee ein heftig wirkendes Herzgift enthält, dass die zum Preise von 12,80 Mark abgegebenen Mittel einen Werth von höchstens 1,50 Mark besitzen und dass die genannte Broschüre völlig wertlos ist.“ 326

bericht des Kreises Prüm für das Jahr 1890; Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für das Jahr 1892; LHAK Best. 441 Nr. 13675, Jahresgesundheitsbericht des Kreisarztes Cochem pro 1900. 323 Den einzigen hierfür dokumentierten Fall eines Erfahrungsheilers stellt ein „Konditor, welcher Hustenmittel (…) verkauft hatte“ dar. LHAK Best. 442 Nr. 3139, Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinalwesen des Regierungsbezirks Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1881 und 1882, S. 46. 324 LHAK Best. 655,123 Nr. 204, Erläuterungen zu Bestimmungen zur gewerbesmäßigen Heilung und Medikamentenverkauf vom 20.03.1875. 325 LHAK Best. 442 Nr. 3139, Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinalwesen des Regierungsbezirks Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1883, 1884 und 1885, S. 97. 326 LHAK Best. 655,123 Nr. 202, Rundschreiben des Regierungspräsidenten Trier zur Warnung vor Daniel E. vom 31. Dezember 1899.

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Woher die Laienheiler ihre Kenntnisse um die Heilmittelerstellung hatten, bleibt dennoch weitgehend im Dunkeln, da sich die Berichte der Aufsichtsbehörden stark auf die Überschneidung mit der verbotenen Medikamentenabgabe und den Gewerbecharakter der Heilkunde in vielen dieser Fälle konzentrierten. Einen Sonderfall bildeten die sogenannten Drogen- oder Arzneischränke, die in Eifel und Hunsrück von Arzneimittelfirmen vertrieben wurden.327 Die­se Schränke enthielten frei handelbare Apothekengüter und beiliegende „Broschüren, welche für jedes Mittel die Dosirung und die zu heilenden Krankheiten angeben.“328 Sie ermöglichten es praktisch jedem – der Koblenzer Regierungspräsident schreibt von „Leuten aller Stände“ – selbst Heilmittel zu erstellen und anzuwenden und waren offenbar für die vertreibenden Firmen ein großer Erfolg: In kleinen Städten und auf dem Lande sind die Schilder, welche jene „Heilmittel-Niederlagen“ bezeichnen eine alltägliche Erscheinung.329

Die zweite Gruppe der Laienheilkundigen bildeten die alternativen Heiler. Der Begriff der „Alternative“ bedarf, soll er nicht völlig beliebig verwendet werden, dabei eines Gegenbegriffs, von dem er sich abgrenzen kann. Für das Feld der medizinischen Praxis hat Robert Jütte den Begriff der „Alternativen“ als „Heilweisen (…), die in einer bestimmten medikalen Kultur, die selbst wiederum einem historischen Wandlungsprozeß unterworfen ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt oder über einen längeren Zeitraum von der herrschenden medizinischen Richtung mehr oder weniger stark abgelehnt werden, weil sie Therapieformen der herrschenden medizinischen Richtung teilweise oder völlig in Frage stellen bzw. auf eine unmittelbare und grundlegende Änderung des medizinischen Systems abzielen“ bestimmt.330 Für den hier untersuchten Zeitraum darf als „herrschende medizinische Richtung“ im Sinne dieser Definition sicherlich die (natur-)wissenschaftliche Medizin begriffen werden.331 Unter alternativen Heilern subsumieren im Folgenden demnach diejenigen Heilkundigen, die ohne naturwissenschaftlich-medizinische Ausbildung nach einem spezifischen Konzept von Krankheit, Heilung und Gesundheit therapierten. Neben Elektrotherapien und Wasserkuren war hier vor allem die Homöopathie dominant, die auch in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz offenbar über lange Zeit von ihren „klassischen“ Vertretern – Lehrern und Geist327 Besonders aktiv war darin offenbar eine Firma „Prall & Reese“ aus Aachen. S. Ebd. 328 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Bericht des Regierungspräsidenten zu Koblenz betreffend die infolge der Kurierfreiheit auf gesundheitlichem Gebiet gegenwärtig herrschenden Zustände. 329 Ebd.; Siehe auch GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Zusammenstellung der auf den Erlass vom 9. Oktober 1897 – M 3658 – eingegangenen Berichte der Regierungs- und Oberpräsidenten betreffend die infolge der Kurierfreiheit auf gesundheitlichem Gebiet gegenwärtig herrschenden Zustände. 330 Jütte, Alternative Medizin, S. 13. 331 Ebd., S. 36.

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lichen – praktiziert wurde.332 Die Berichte der Kreisphysiker zum Stand der „Kurpfuscherei“ in ihren Bezirken 1897 zeigen allerdings, dass insbesondere Letztere immer seltener als Heiler tätig wurden. Noch in seinem Kreisarztbericht für 1892 hatte der Kreisarzt in Bitburg mehrere geistliche Laienheilkundige in seinem Kreis erwähnt.333 In seinem Bericht über die „Kurpfuscherei“ 1897 hielt er dagegen fest: Früher gab es hier im Kreise mehrere katholische Geistliche und Lehrer, die neben der Homöopathie noch sonstige Kurpfuscherei trieben. Dieselben wurden wiederholt auf meinen Antrag von Seiten des General-Vikariats und von Seiten der Regierung verwarnt und haben dann nur ganz im Geheimen ihr Pfuschen weitergeführt. Diese Sorte Leute ist zum größten Theil ausgestorben.334

Im Kreis Prüm berichtete der Kreisarzt bereits 1890 über einen Rückgang der gewerbsmäßigen Laienheilkunde, „nachdem ein arger Pfuscher – ein katholischer Geistlicher – gestorben und einem andern ebenfalls katholischen Geistlichen, durch Drohungen mit gerichtlicher Verfolgung sowie durch Befehl seiner Obern die Lust dazu vergangen ist.“335 Die in beiden Fällen erwähnte Einwirkung der Kirche auf die Geistlichen darf nicht darüber hinweg täuschen, dass der Rückzug der Geistlichen aus der Laienheilkunde ein langwieriger Prozess war. Die „pastorale Therapie“ war zwar schon 1827 verboten worden, zahlreiche Klagen über heilkundlich tätige Pfarrer nach 1869 zeigten allerdings deutlich, dass die Umsetzung dieses Verbots nur unzureichend war.336 Anzumerken ist an dieser Stelle, dass „religiöse“ Heilpraktiken wie Gebete, Exorzismen oder gar Wunderheilungen in den Berichten des Untersuchungszeitraums nicht erwähnt wurden.337 Der innerkatholische Wandel in Deutung 332 LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Saarlouis vom 11. Januar 1898 zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken. „Wasserkuren, Verabreichung homöopathischer Mittel (meist von Pfarrern und Lehrern und Förstern geübt), theils im Einrichten von Knochenbrüchen und Gelenkverletzungen“; GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Zusammenstellung der auf den Erlass vom 9. Oktober 1897 eingegangenen Berichte der Regierungs- und Oberpräsidenten betreffend die infolge der Kurierfreiheit auf gesundheitlichem Gebiete gegenwärtig herrschenden Zustände: „Die Zahl der Kurpfuscher im Bezirk [Trier] wird als bedeutend angenommen. Im Kreise Wittlich 14 Pfuscher und Pfuscherinnen, zu denen auch Pfarrer, Lehrer, Förster, Hebammen und dgl. gehören. Behandlung durch Wasserkuren, Elektrizität, Massiren, Salben u.s.w.“; Ebd., Bericht des Regierungspräsidenten Trier vom 17. Februar 1898. Vgl. Stolberg, Homöopathie. 333 „Auch ist hier und da ein katholischer Geistlicher, der die Homöopathie stark puossiert.“ LHAK Best. 442 Nr. 3895, Sanitätsbericht für den Kreis Bitburg 1892. 334 LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Bitburg vom 10. Dezember 1897 zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken. 335 LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Kreis Prüm 1890, S. 294. 336 Freytag, Aberglauben, S. 223. Beispielsweise praktizierte in Gersweiler bei Saarbrücken ein Pfarrer weiter, obwohl er „vom General-Vikariat bereits verwarnt war“. LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Saarbrücken vom 10. Dezember 1897 zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken. 337 Zum Wandel kirchlicher Einstellungen zu derartigen Praktiken vgl. Persch/Schneider, Moderne, S. 364–369.

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und Anwendung solcher Praktiken hatte hier offenbar Veränderungen bewirkt.338 In den Augen der Medizinalverwaltung waren geistliche Laienheiler an der Wende zum 20. Jahrhundert jedenfalls kein zentrales Problem mehr. Während die Angehörigen der ersten beiden hier unterschiedenen Heilergruppen keine medizinische Ausbildung vorweisen konnten und der Sammelbegriff „Laienheiler“ damit berechtigt ist, bewegten sich die Angehörigen der dritten Gruppe, die kompetenzüberschreitenden Heiler, diesbezüglich in einer Grauzone.339 Zu ihr zählten diejenigen Heilkundigen, die erfolgreich eine anerkannte medizinische Ausbildung absolviert hatten, jedoch in der praktischen Anwendung die Grenzen der ihnen genehmigten Ausübung überschritten.340 Nach der zeitgenössischen Terminologie der Medizinalaufsicht waren sie in solchem Falle „Kurpfuscher“. Ihre zeitgenössische Wahrnehmung war jedoch entscheidend für die Zulassung und Bezahlung in der Armenbehandlung.341 Die fließende Grenze zwischen erlaubter und unerlaubter Hilfe lässt sich am deutlichsten am Beispiel der Hebammen demonstrieren. Die medizinischen Kenntnisse der Hebammen waren aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer Tätigkeit in Bezug auf normale oder veränderte Zustände des weiblichen Körpers sehr groß. Gerade bei Krankheitsbildern, die spezifisch weiblich erschienen, lag es insofern für die Betroffenen nahe, dem eventuell weiter entfernt ansässigen männlichen Arzt die meist näher wohnende weibliche Hebamme vorzuziehen. Die Behandlung solcher „Frauenkrankheiten“ erschien in den Berichten der Kreisärzte jedoch als „Kurpfuscherei“, da die Hebammen eben allein im Rahmen ihrer geburtshilflichen Aufgaben eigenständig tätig werden durften, die Anwendung von dafür erworbenen Kenntnissen in anderen Fällen hingegen verboten war. Noch deutlicher wird die schwierige Abwägung, wenn man die praktischen Fertigkeiten der Hebammen einbezieht. So waren diese nach der Gebührenordnung in der Lage und befugt, Schröpfen und Egelsetzen als Leistungen bei Schwangeren abzurechnen342, mussten also über die entsprechenden Kenntnisse verfügen. Nutzten sie ihre persönlichen faktischen Kompetenzen aber etwa in einem Fall, in dem eine Frau nicht oder

338 Vgl. Freytag, Aberglauben, S. 121ff. Dies bedeutet freilich nicht, dass solche Praktiken überhaupt nicht mehr zur Anwendung kamen. Zum einen zeigen Befragungen der 1930er Jahre, dass „Verbeten“ auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch verbreitet war (vgl. Kap. 3.4.), zum anderen dürften entsprechende Hinweise kaum einen quellenmäßig fassbaren Niederschlag gefunden haben, am wenigsten in den Akten staatlicher und kirchlicher Behörden, die diese Praktiken offiziell ablehnten. Zum Beginn dieses intrakonfessionelllen Wandels im 18. Jahrhundert siehe Labouvie, Verbotene Künste. 339 Zu Abgrenzungsschwierigkeiten vgl. Reupke, Nichtapprobierte, S. 133–135. 340 Vg. Freytag, Aberglauben, S. 209–213, Jütte, Alternative Medizin, S. 39. 341 Die Untersuchung von Sander, Handwerkschirurgen hat gezeigt, dass derartige offizielle Zuschreibungen in der Praxis eine geringe Rolle spielten. Für die hier angestellte Untersuchung ist dies aber nur soweit relevant, wie eine Überschreitung der Zulassung aus der Sicht der betroffenen Kranken von Bedeutung war. 342 Siehe GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1455, S. 144r Muster einer Gebührenordnung für Hebammen.

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vielleicht auch nur noch nicht erkennbar schwanger war, überschritten sie die ihrem Berufsstand zugestandenen Kompetenzen.343 Zur Gruppe der kompetenzüberschreitenden Heiler können auch noch die Apotheker gezählt werden. Insbesondere wurde es von Seiten der Aufsichtsbehörden und Ärzte als „Kurpfuscherei“ gebrandmarkt, wenn diese über die reine Herstellung und Abgabe von Medikamenten hinaus auch Anwendungshinweise gaben und die potentiellen Patienten dadurch den Arztbesuch selbst vermieden344: Nach Unterhaltungen, welche ich nicht bloß mit Collegen des diesseitigen Regierungsbezirks gehabt, klagen alle über jenes Pfuschertum; (…) Das Publikum, zumal der Dörfer, pflegt großentheils, um das Arzthonorar zu ersparen, erst den Apotheker zu consultieren und dann, wenn es nicht geht, den Arzt.345

Über die reine Aufzählung der Apotheken hinaus waren detailliertere Angaben zu deren Wirken in den untersuchten Quellen aber praktisch nicht zu finden. Ähnlich wie bei den Apothekern sah die Deutung gesundheitlichen Handelns schließlich auch in den Fällen aus, in denen ehemalige medizinische Helfer, wie Lazarettgehilfen, Sanitätsunteroffiziere oder Heilgehilfen, ihre Kenntnisse anwandten. Dieselben Kenntnisse, die sie zuvor unter ärztlicher Leitung angewandt hatten, galten nun in den Augen der Medizinalbehörden als „Kurpfuscherei“.346 Dabei war gerade diese Gruppe unter den Laienheilern recht groß: Ein großes Kontingent zu den Medizinal-Pfuschern stellen die aus der Armee entlassenen resp. ausgeschiedenen Lazarethgehülfen, welche einen gewissen Ruf als gelernte Aerzte aus ihrer bisherigen Stellung mitbringen, an alle innerliche und äußerliche Krankheiten sich wagen und mit seltener Kühnheit loskuriren. Mit jedem Glücksfalle wächst ihr Selbstbewußtsein und ihr Ruf.347

Am Beispiel dieser Heilergruppe werden die definitorische Kraft der Behörden und Ärzte und deren Bedeutung für die Quellenperspektive besonders anschaulich. Allein der Tag seiner Dienstentlassung bestimmte darüber, ob ein Lazarettgehilfe im Jahresbericht des Kreisarztes seinen Niederschlag unter den Medizinalpersonen oder den „Kurpfuschern“ fand. Die peiorative Kategorisierung der Laienheilkunde als „Kurpfuscherei“ geschah nicht nach Krite343 Ähnlich Freytag, Aberglauben, S. 212, der aber stärker auf die Anwendung ‚falscher’ Methoden in der Hebammentätigkeit abzielt. 344 Das eigenständige Praktizieren war Apotheker spätestens seit einer Ministerialverfügung vom 23. September 1871 verboten. Siehe LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Bernkastel vom 13. Dezember 1897 zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken. 345 LHAK Best. 442 Nr. 3851, Bericht des Kreisarztes Bernkastel vom 13. Dezember 1897 zur Anfrage zum Stand der Kurpfuscherei in den Regierungsbezirken. Vgl. Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 118f. 346 Weber-Grupe betont die primäre Funktion der Entlastung der Ärzte durch diese Gruppen. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 497–499. 347 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 117f.

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rien heilerischer Kompetenz und Erfolges, sondern nach Beibehaltung oder Überschreitung der Grenzen, die der Laienheilkunde von Medizinalbehörden und Ärzten zugestanden wurden. Offen bleiben muss an dieser Stelle zunächst, inwiefern familiäre Traditionen auf dem Gebiet der Laienheilkunde verbreitet waren, wie sie etwa für Württemberg im 18. Jahrhundert nachgewiesen wurden.348 Das Beispiel der bereits erwähnten Familie Pies als einer über mehrere Jahrhunderte regional bekannten Heilerfamilie scheint in seinem Umfang und seiner regionalen Bedeutung zu speziell, um daraus allgemeingültige Schlüsse ableiten zu können. Bezahlung & Verdienst Nur sehr wenige Aussagen lassen sich über die Einkommenssituation der Laienheiler treffen. Zunächst ist dies durch die Aufmerksamkeit der aktenführenden Behörden bestimmt, die sich wie erwähnt in erster Linie auf die gewerblich tätigen Laienheiler richtete. Über Entgeltusancen der nicht gewerblichen Heiler lässt sich mangels entsprechender Aufzeichnungen von Behördenseite oder Heilerseite praktisch nichts sagen.349 Angesichts der zuvor erwähnten zweifelhaften Materialgrundlage der Erhebungen verwundert es zudem nicht, dass auch für die gewerblichen Heiler trotz der fokussierten Wahrnehmung kaum konkrete Angaben zu Struktur und Höhe ihrer Einnahmen zu finden sind.350 Lediglich der Verweis auf die umfangreiche Werbung von Laienheilern oder die Beschreibungen praxisartiger Konsultationen lassen vermuten, dass der Verdienst einzelner Laienheiler groß sein konnte: Zu dieser ist der Zulauf das ganze Jahr hindurch ein so großartiger, daß, ohne Uebertreibung, in ihrem Vorzimmer die Kranken oder deren Abgesandte zu Zeiten sich so häufen, daß diese Stunden und selbst bis zwei Tage warten müssen, bevor sie an die Reihe kommen und abgefertigt werden. Bei größerem Zudrange wird jedem neu Ankommenden eine Nummer gegeben, welche die Reihenfolge zum Eintritt in das Sprechzimmer bezeichnet. Dabei sind ihre Preise keineswegs niedrig, und hat sie sich ein ganz schönes Vermögen der Sage nach erworben.351 348 Sander, Handwerkschirurgen, S. 192–200. 349 Lediglich im Falle des Pfarrers Karms aus Spang verweist der Landrat in seinem Bericht darauf, dass dieser „ganz uneigennützig verfahre [Unterstreichung im Original]“, d. h. unentgeltlich behandelte. LHAK Best. 403 Nr. 11070, Schreiben des Landrats des Kreises Wittlich vom 25. Februar 1861, S. 68. 350 Im Fall des bereits erwähnten Daniel E. wird lediglich der Verkaufspreis seiner Medikamente erwähnt. Allerdings dient die Zahl offenbar nur dazu, über den Vergleich mit dem eigentlichen Warenwert (12,80 M zu 1,50 M), die betrügerische Absicht des Daniel E. zu betonen. Vgl. S. 124. 351 LHAK Best. 442 Nr. 3139, Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinal-Wesen des Regierungs-Bezirks Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1883, 1884 und 1885, S. 97; LHAK Best. 442 Nr. 3895, Sanitätsbericht des Kreises Bernkastel, S. 23: „erfreut sich Nikolaus J. aus Kirn-Baerenbach, der sich jeden Mittwoch in dem dortigen Gasthofe konsultieren lässt, angeblich eines sehr starken Zulaufs“; LHAK Best. 442 Nr. 3851, Schreiben des Polizeidirektors Koblenz vom 03. April 1898: „Die Polizeidirektion hat vor dem gemeinschädlichen Treiben des Kurpfuschers Jürgensen hier öffentlich in

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Obwohl die Warnung vor der materiellen Schädigung der Bevölkerung zum rhetorischen Repertoire der Berichte über „Kurpfuscherei“ gehörte, war offenbar in der Praxis ein tatsächliches Interesse an der Einkommenssituation der Laienheiler nicht gegeben, was den Eindruck einer vor allem berufsständisch orientierten Sichtweise der Sanitätsberichte noch verstärkt. Bedeutung der Laienheiler für die Armenversorgung In den Gesundheitsberichten sind fast keine Aussagen über die Bedeutung von Laienheilern für die gesundheitliche Versorgung einzelner Bevölkerungsschichten enthalten. Eher indirekt deutet sich aber die Annahme an, gerade Arme würden von den „Kurpfuschern“ besonders häufig betrogen, wären mithin in besonderem Maße Klienten derartiger Anbieter: Viele, besonders den minderbemittelten Ständen angehörigen, urtheilslose Personen (…) werden in unredlicher Weise von den Kurpfuschern ausgebeutet und zu werthlosen und unwirthschaftlichen Auslagen veranlasst.352

Da für die Verbreitung der Laienheiler und ihre Wirkbereiche ebenfalls nur sehr wenige Angaben vorliegen, sind hier aber keine generellen Rückschlüsse möglich. Zumindest für die gewerblichen Laienheiler zeigen die Berichte aber eine regional sehr verschiedene Präsenz.353 Schenkt man den Aussagen der Sanitätsberichte über die weite Verbreitung nichtgewerblicher Laienheiler Glauben, war diese Form gesundheitlicher Hilfe zumindest im Wortsinne weitaus näher liegend, als die vor allem in den größeren Ortschaften ansässigen Ärzte. Inwiefern dieser „Standortvorteil“ sich im Falle kranker Armer bemerkbar machte, wird im zweiten Teil der Arbeit zu untersuchen sein. Erkennbar wird aber bereits an dieser Stelle, dass eine allgemeingültige Untersuchung größerer regionaler Versorgungsmuster kaum machbar erscheint, sondern lokale Einzelfälle im Fokus einer solchen Untersuchung stehen müssen. Insgesamt gesehen erscheint die ländliche Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum der südlichen Rheinprovinz im Zeitraum 1880–1930 hauptsächlich im Hinblick auf die Versorgung mit ärztlicher Hilfe als ‚rückständig’, für andere Hilfsstellen galt dies hingegen weniger. Obwohl die Armenkrankenversorgung von eben den Ärzten geleistet werden sollte, waren die Zugangsmöglichkeiten für Arme zu den meisten anderen Hilfseinrichtungen über armenspezifische Regelungen praktisch genauso gut wie für den Rest der ländlichen Bevölkerung, wenn nicht besser. Dies galt in ähnlicher Weise für den Zugang zu den nach 1883 neu entstehenden Krankenversicherungen. Die vergleichsweise schlechteren Zugangsmöglichkeiten zu gesundheitlicher Verden hiesiegen amtlichen Blättern gewarnt, was zur Folge gehabt hat, dass dieser die Stadt und die Umgegend mit Tausenden Reklamen bzw. Rechtfertigungen (…) überschwemmt hat.“ 352 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Bericht des Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 12. März 1898. 353 Vgl. dazu Kap. 2.1.3.

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sorgung lagen für den hier untersuchten Raum also vor allem in dessen Ländlichkeit begründet. Der Status des Armen dagegen eröffnete in den meisten Fällen vergleichbare, punktuell sogar bessere Möglichkeiten gesundheitlicher Hilfe im Krankheitsfall. Diese Aussichten galten allerdings nur für den Fall, dass der Arme als bedürftig und unterstützenswert anerkannt wurde und tatsächlich in den Genuß der Armenkrankenpflege kam. Inwieweit die auf der Makro- bzw. Mesoebene erkennbaren strukturell verbesserten Möglichkeiten in der Praxis der Armenkrankenpflege tatsächlich in Anspruch genommen wurden und werden konnten, wird Gegenstand des anschließenden dritten Teils dieser Arbeit sein.

Kapitel 2: Alte Wege und neue Pfade. Von der Jahrhundertwende zum Beginn der Zwanziger Jahre 2.1. Etabliert und stabil: staatlich-kommunale Netze 2.2.1. Das Distriktarztwesen vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn der Zwanziger Jahre Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt, waren bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts praktisch alle Ärzte im ländlichen Raum von Eifel und Hunsrück auch immer als Distriktärzte tätig. Eine erhaltene Aufstellung der Ärzte im Kreis Simmern 1912 zeigt, dass auch das bis dahin erkennbare Muster der Niederlassung und Verbreitung in den Jahren nach 1900 gültig blieb. Gegenüber 1905 war im Kreis Simmern nun zwar ein Arzt mehr ansässig, dieser hatte sich jedoch nicht in einem ganz neuen Ort, sondern an einem der schon mit Ärzten versehenen Ort niedergelassen. Da die erstrebte Versorgungsdichte von einem Distriktarzt pro Bürgermeisterei damit erreicht war, bestand in den folgenden Jahren keine Notwendigkeit mehr, weitere Distriktärzte anzustellen. Mit der seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend nicht mehr gegebenen Identität von Landärzten im Allgemeinen und Distriktärzten, verlor aber auch die bisher angeführte Parallele von allgemeiner und armenspezifischer ärztlicher Versorgung der Bevölkerung in den hier untersuchten Gebieten ihre Bedeutung. Die folgenden Ausführungen beziehen sich daher im Folgenden aus systematischen wie quellentechnischen Gründen allein auf die armenärztliche Versorgung im Untersuchungsraum. In der Anstellungspraxis der Distriktärzte lassen sich für die genannten Jahre keine wesentliche Veränderungen entdecken. Die in dieser Hinsicht spärliche Überlieferungslage darf dabei durchaus als Hinweis auf eine stabile Versorgungssituation gewertet werden. Zum einen wiesen die erhaltenen Distriktarztverträge keine zeitliche Begrenzung auf, bedurften also keinerlei regelmäßiger – und dokumentierter – Erneuerung. Zum anderen deuten Vertragspraktiken im Falle anderer Funktionsstellen darauf hin, dass im Falle ablaufender Verträge stillschweigende Verlängerungen in beiderseitigem Einvernehmen üblich waren. Auch personell scheint dieses System stabil gewesen zu sein, da viele Namen von um 1900 tätigen Distriktärzten auch in den 1920er Jahren noch in den Quellen erscheinen.

  

LHAK Best. 441 Nr. 13681, S. 1579–1598, Jahresgesundheitsbericht des Kreises Simmern 1912. Eine erhaltene Aufstellung der Ärzte im Kreis Simmern 1913 zeigt, dass das im vorangegangenen Kap. gezeigte Muster der Niederlassung und Verbreitung auch in den Jahren nach 1900 gültig blieb. Vgl die Ausführungen zum Einkommen in Kap. 1.2.

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Wahlfreiheiten: Das Verschwinden des Armenarztes Zu Beginn des Jahres 1922 hielt der Bürgermeister von Kastellaun in einer Aktennotiz fest, dass der örtliche Distriktarzt seinen Vertrag als Armenarzt zum 1. Mai 1920 gekündigt habe. Die Gemeindevertretung habe „diese Kündigung angenommen und dabei freie Arztwahl für die Ortsarmen und Erstattung der Einzelleistungen beschlossen.“ wie sie in den Nachbarbürgermeistereien Simmern und Kirchberg „schon seit mehreren Jahren“ eingeführt seien. Der Bürgermeister dokumentierte hier zu Beginn der 1920er Jahre einen offensichtlich tiefgreifenden Wandel in der ärztlichen Versorgungsstruktur für kranke Arme. Orte und Personal der armenärztlichen Behandlung wurden nicht mehr von den Gemeindeverwaltungen bestimmt, sondern wurden nun Gegenstand einer eigenständigen Wahl des behandlungsbedürftigen Armen. Vorläufer und erste Vorboten dieses Wandels waren bereits aber weitaus früher zu entdecken. 1879 erteilte der Gemeinderat von Kastellaun dem neu in den Ort gezogenen Dr. Klingelspiel die Armenpraxis, ohne diese zugleich dem bisherigen Inhaber Dr. Sperling zu entziehen. Mindestens bis zum Tode des Dr. Sperling 1894 hatten infolgedessen die kranken Armen der Bürgermeisterei die Wahl zwischen zwei Armenärzten. Für den benachbarten Kreis Cochem hielt der Kreisarzt in Bezug auf die medizinische Versorgung der Armen im Jahresgesundheitsbericht von 1900 fest: Dieselben hatten in sämmtlichen Bürgermeistereien des Kreises freie ärztliche Behandlung, freie Medizin und Bandagen. In der Bürgermeisterei Eller-Ediger war für die Kranken sogar freie Arztwahl eingeführt. (…)

Dabei verwies die betonende Formulierung „sogar“ darauf, dass es sich bei dieser Einrichtung zu diesem Zeitpunkt noch um eine bemerkenswerte Besonderheit handelte. Um 1920 hatte sich hingegen – wie aus den Verweisen des Kastellauner Bürgermeisters auf die Praxis in den umliegenden Gemeinden ersichtlich wird – diese Besonderheit zur Normalität gewandelt. Dass dieser Wandel nicht allein im Kreis Simmern, sondern zeitlich parallel auch in größeren Gebieten stattfand, lässt sich zumindest für den Regierungsbezirk Koblenz sicher belegen. Eine ergänzende Umfrage des Preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt zu den Jahresgesundheitsberichten des Jahres 1921 nahm im September 1922 unter anderem Bezug auf die Zahl der in den Krei-



  

LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Aktennotiz vom 06. Januar 1922; der Bürgermeister von Kirchberg verweist darauf, dass schon „seit Jahrzehnten (…) die Aerzte und der Apotheker“ jeweils Listen der Berechtigten erhalten, Ebd. Schreiben vom 03. Juni 1921; ähnlich auch Ebd. Schreiben des Bürgermeisters Simmern vom 25. Mai 1921. LHAK Best. 655,14 Nr. 898, Schreiben des Bürgermeisters Kastellaun an Dr. Klingelspiel, 26.9.1879. LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Aktennotiz vom 28.8.1894. LHAK Best. 441 Nr. 13675. Jahresgesundheitsbericht des Kreisarztes Cochem pro 1900, S. 459f.

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sen tätigen Kommunalärzte. Aus der eingesandten Antwort des Regierungspräsidenten geht hervor, dass im Bezirk Koblenz lediglich noch drei Kommunalärzte tätig waren, je einer in den Landkreisen Altenkirchen und Wetzlar, sowie einer in der Stadt Koblenz. Um 1920 war das Distriktarztwesen im Regierungsbezirk Koblenz bis auf einige Fälle faktisch zugunsten einer freien Arztwahl der kranken Armen abgeschafft worden. Wie aber kam es zu diesem grundlegenden Wandel? Die Bemerkung des Kastellauner Bürgermeisters, das Prinzip der freien Arztwahl für kranke Arme sei in den Nachbarbürgermeistereien bereits seit „mehreren Jahren“ eingeführt, legt nahe, die Hauptphase des Wandels für diesen Bezirk in der ersten Dekade des Jahrhunderts zu vermuten. In den Akten des preußischen Kultusministeriums zur Anstellung von Medizinalbeamten traten in der Tat ab 1915 Umstände zutage, die geeignet erscheinen, zumindest eine Beschleunigung des Wandels in den Jahren zwischen 1915 und 1920 zu erklären. Im Ersten Weltkrieg traf die Verpflichtung zum Militärdienst auch die Ärzte der Region, und die Einberufungen führten zu teils erheblichem Ärztemangel. Im Falle der beamteten Kreisärzte und Kreisassistenzärzte begegneten die übergeordneten Behörden den dadurch unbesetzten Amtsposten zunächst damit, Kreisärzten aus benachbarten Kreisen die entsprechenden Aufgaben zusätzlich an die Hand zu geben oder pensionierte Medizinalbeamte zeitweise zu reaktivieren. Der Mangel an Ärzten betraf aber nicht nur die Stellen der beamteten Kreisärzte und Kreisassistenzärzte; auch nichtbeamtete Ärzte wurden eingezogen.10 Wie drastisch die Folgen im Einzelfall sein konnten, schilderte der Landrat des Kreises Daun sehr deutlich: In Verfolg meiner früheren Eingaben betreffend Ärztemangel im Kreise Daun überreiche ich heute nachstehenden Antrag mit der Bitte um weitere Veranlassung.



LHAK Best. 441 Nr. 28654. Ergänzender Fragebogen zu den Gesundheitsberichten 1921 vom 29. September 1922.  Eine solche Vertretungspraxis war schon vorher üblich gewesen, siehe LHAK Best. 491 Nr. 2583, passim. Zu kriegsbedingten Vertretungen vgl. GStA PK, I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 418, Schreiben des Ministeriums des Inneren vom 12. Juli 1915. Darin wird die Vertretung des eingezogenen Dr. Knoll (Bernkastel) durch Dr. Angen (Zeltingen) genehmigt. Ebenso Ebd., Schreiben des Regierungspräsidenten Trier an das Innenministerium vom 25. Juli 1918. Darin wird der Kreisarzt des Kreises Wittlich als Vertretung des eingezogenen Dr. Hagemeister in Daun eingesetzt. Dr. Hagemeister war zudem selbst bereits als Vertreter des eingezogenen Kreisarztes eingesetzt worden. Für den Regierungsbezirk Koblenz siehe dazu Ebd. Nr. 375, insbes. Schreiben des Re­ gierungspräsidenten zu Koblenz an das Ministerium des Inneren vom 08. April 1916. Zur Praxis der Reaktivierung ehemaliger Medizinalbeamter siehe GStA PK, I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 375, Schreiben des Ministeriums des Inneren vom 29. April 1916 und 21. März 1919. 10 Vgl. GStA PK, I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 418, Schreiben des Landrates von Bitburg vom 5. Mai 1915. Darin werden auch wegen Einberufung der Inhaber nicht besetzte Arztstellen im Kreis Prüm genannt, im Kreis Bitburg verschärfte sich die Lage wegen des Todes des Ortsarztes von Neuerburg.

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Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung Der Kreisarzt berichtet nach Anhörung folgendes: „Es muss zwar unbedingt zugestanden werden, dass in Daun ein Aerztemangel tatsächlich vorhanden ist, von einem eigentlichen Notstand kann aber zur Zeit m. E. doch keine Rede sein. Bisher ist wohl noch kein Fall bekannt geworden, wo in einem sehr dringenden Falle keine ärztliche Hilfe zu erlangen gewesen wäre. Entgegen dieser Ansicht muss ich jedoch erklären, dass für Daun tatsächlich ein ärztlicher Notstand besteht, der dringendst der Abstellung bedürftig ist. In ernsten Fällen und ganz besonders bei schweren Entbindungen, zumal zur Nachtszeit, versagt häufig die ärztliche Hilfe. (…) So möchte ich einige Fälle der letzten Zeit in unmittelbarer Nähe von Daun anführen, wo bei Entbindungen ein Arzt dringend notwendig war, ein solcher jedoch nur unter den denkbar schwersten Umständen von anderswo hergeholt werden musste. Bemerkt muss hier noch werden, dass durch die Heranziehung der weit entfernt wohnenden Aerzte den in Betracht kommenden Leuten unverhältnismässig hohe Kosten entstanden sind, die teilweise nur durch Zuwendungen von Unterstützungen aufgebracht werden konnten. Bei einer Entbindung in Rengen, 4 km von Daun entfernt, war erst 4 Stunden nach der Geburt ein Arzt von Kehlberg, Kreis Adenau zur Stelle. Die Frau war in grosser Gefahr durch Verwachsung der Nachgeburt. An Arztkosten entstanden hier 50,00 M. In Gemünden, 2 km von Daun entfernt, musste, weil ein Arzt von Daun nicht zu haben war, telephonisch ein Arzt von Manderscheid, Kreis Wittlich herangezogen werden, gleichfalls schwere Entbindung. In Niederstadtfeld, ca. 7,5 km von Daun bei Entbindung mit fast gänzlicher Verblutung war erst nach längerem Bemühen ein Arzt von Gerolstein zu bekommen. Kosten 70 M, die durch Reichsunterstützung gedeckt wurden.“11

Wenn – wie gezeigt – viele Ärzte zugleich Distriktarztstellen innehatten, führten deren Einberufungen immer auch zu einem Ersatzbedarf in der ärztlichen Versorgung kranker Armer. Für die Verwaltungen bedeutete dies einen großen Aufwand, musste doch der Arztvertreter ebenso wie die kranken Armen über die neue Lage in Kenntnis gesetzt werden. Die mit dem Distriktarztwesen verbundenen Informationen an die Ärzte über die berechtigte Klientel, an die Betroffenen über den jeweils zuständigen Armenarzt und ähnliche Dinge fielen weg, wenn der Arzt nach freier Wahl durch die Kranken seine erbrachten Leistungen einzeln mit der Armenverwaltung abrechnete.12 In den Inflationsjahren der frühen 1920er Jahre kam von Seiten der Ärzte ein finanzielles Interesse an einer Umstellung der Finanzierung hinzu. Die fallweise Einzelabrechnung mit jeweils der Inflation angepasstem Erstattungssatz stellte sie wesentlich besser als die übliche pauschale vierteljährliche Entlohnung, weshalb die Ablösung des alten Distriktarztsystems durchaus im Inter11 GStA PK, I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 418, Schreiben des Landrates Daun vom 5. September 1916. Das Schreiben zeigt zugleich, wie wenig verlässlich Angaben der Kreisärzte zu Ärztemangel in ihrem Zuständigkeitsbereich sein konnten. 12 Das Prinzip einer freien Arztwahl war als solches bereits aus der Krankenversicherung bekannt. Siehe dazu Kap. 2.4. Inwiefern die Sozialversicherungen die Einkommen der Ärzte veränderten ist schwierig zu bestimmen, weshalb auch Digby, Making ihrer Untersuchung mit der Einführung des National Insurance Act 1911 aufhören lässt, da dieser Zahlungsverhältnisse stark veränderte. Auch bei der weiterführenden Betrachtung dieser Studie richtet sich die Aufmerksamkeit bezüglich der Veränderungen in Zahlungen nicht auf die Ärzte, sondern in erster Linie auf die betroffenen Kranken und die Armenverwaltung. Vgl. Kap. 8.

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esse der Ärzte lag.13 Auch wenn sich diese Zusammenhänge aus der Quellensituation heraus nur zum Teil direkt belegen lassen, bieten sie doch zumindest teilweise eine Erklärung für den bis in den frühen 1920er Jahren offensichtlich relativ rasch vollzogenen Strukturwandel im Distriktarztwesen des Regierungsbezirks Koblenz.14 Für den Regierungsbezirk Trier lassen sich ähnlich umfassende Aussagen nicht treffen, da vergleichbare Übersichtsquellen nicht gegeben sind. In den Akten der allgemeinen Armenfürsorge erscheinen Armenärzte seit etwa 1920 allerdings nur noch sporadisch.15 Zudem liegen einzelne deutliche Hinweise auf die Einführung der freien Arztwahl vor. In Zeltingen stellte der Distriktarzt Dr. Angen im April 1923 den Antrag an den Gemeinderat, seine Bezahlung für die Armenpraxis auf Einzelabrechnungen umzustellen.16 Darin verwies er darauf, dass “ein derartiges Übereinkommen (…) bereits zwischen den Gemeinden Kochem und auch durch das Bürgermeisteramt Cröv gestattet worden“ sei. Der Gemeinderat scheint diesem Ersuchen allerdings nicht stattgegeben zu haben; die Abrechnungen der Kreisbeihilfe – der Rückzahlungen von Teilen der Armenausgaben an die Gemeinden durch die Kreise – zeigen, dass in der Bürgermeisterei Zeltingen noch bis mindestens 1931 eine kommunal besoldete Armenarztstelle bestand.17 Allerdings ist auch in diesem Falle eine unterschiedlich strikte Handhabe im Verweis der kranken Armen an den Armenarzt erkennbar. So ermahnte der Bürgermeister in Zeltingen noch im August 1926 alle Gemeindevorsteher, für die Behandlung von Armen „nur“ Dr. Angen hinzuzuziehen, der eine Pauschalvergütung für die Behandlung aller Armen erhalte. „Dagegen entstehen, wenn ein anderer Arzt herangezogen wird besondere Kosten, die der Gemeinde nicht erstattet werden.“18 Trotz dieser Ermahnung – die selbst Indiz für eine abweichende Praxis ist – gewährte der Gemeinderat von Lösnich im Mai 1927 dem Rudolf M. auf dessen Antrag eine Beihilfe zu einer Rechnung des Arztes in Lösnich.19

13 Vgl. LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Schreiben des Dr. Angen vom 23. April 1923. Für die Gemeinden war naturgemäß in solchen Fällen die Pauschalbesoldung günstiger, weshalb wohl eine Umstellung im konkreten Falle auch unterblieb. 14 Da für den hiesigen Bereich keine Abrechnungsbücher etc. von Ärzten erhalten sind, lässt sich über die konkrete Veränderung der Einkommenslage von Ärzten jedoch nicht sagen. 15 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 110. 16 LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Schreiben vom 23. April 1923. 17 LHAK Best. 655,123 Nr. 822. Schreiben des Landrats an die Bürgermeister des Kreises vom 25. April 1932. 18 LHAK Best. 655,123 Nr. 965. Schreiben des Bürgermeisters von Zeltingen an die Gemeindevorsteher vom 26. August 1926. 19 Indiz für die freie Arztwahl ist etwa auch ein „Gutschein für einmalige Behandlung des Kindes Peter J. zu Rittersdorf durch San-Rat Dr. Birnbach zu Bitburg“ vom 3. Dezember 1927. Die Ausstellung von Behandlungsgutscheinen wäre bei der Anstellung Dr. Birnbachs als Armenarzt nicht notwendig gewesen. LHAK Best. 655,191 Nr. 402. Bewilligungsbescheid vom 21. Mai 1925.

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Gegenüber dem Regierungsbezirk Koblenz entwickelte sich das Distriktarztwesen im Regierungsbezirk Trier offensichtlich in den einzelnen Kreisen ungleichmäßiger, grundsätzlich ist die Veränderung hin zu einer freien Arztwahl der kranken Armen aber auch in diesem Bezirk erkennbar.20 2.1.2. Hebammenwesen Auch im Hebammenwesen blieb die etablierte Organisationsstruktur bis in die frühen Zwanziger Jahre hinein erhalten. Für die Hebammenversorgung und entsprechende Verträge waren weiterhin die Gemeinden verantwortlich, und auch Zahl und Größe der einzelnen Hebammenbezirke blieben, soweit erkennbar, unverändert.21 Der geringe Anteil an freien Hebammen änderte sich nicht und die Stellen der Bezirkshebammen konnten bis auf Einzelfälle stets besetzt werden.22 In den statistischen Werten blieb das stabile und auch im Vergleich zu anderen Gebietskörperschaften gute Versorgungsniveau sichtbar – bei bestehenden Unterschieden zwischen einzelnen Gemeinden oder Kreisen.23 Wie bereits gezeigt, war die zentrale Aufgabe der Bezirkshebammen eine gleichmäßige, gute Versorgung der Landbevölkerung mit Leistungen der Geburtshilfe. Die unentgeltliche Hilfe für Arme wurde dabei von den anstellenden Gemeinden vertraglich eingeschlossen, eine Praxis, die sich auch für den Beginn der 1920er Jahre noch belegen lässt.24 Das Aufgabenspektrum der Hebammen erfuhr im Rahmen einer generellen Herausbildung spezialisierter Fürsorgezweige jedoch eine Veränderung. Die reine Geburts- und Wöchnerinnenhilfe wurde immer mehr zu einer umfassenderen Säuglingspflege erwei20 Aufgrund der beschränkten Quellenlage lässt sich nicht abschließend beurteilen, ob die lange Beständigkeit des Distriktarztsystems in Zeltingen einen Sonderfall darstellt. Angesichts der dokumentierten guten Integration Dr. Angen in die lokale Gesellschaft (vgl. Kap. 1.2) ist dies nicht auszuschließen. 21 Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 13681, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Adenau 1912; LHAK Best 441 Nr. 13682, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Altenkirchen 1913. 22 Eine Ausnahme bildete etwa im Kreis Simmern der Bezirk Pleizenhausen, der nach dem Kreisarztbericht 1912 über mehrere Jahre mangels geeigneter Bewerberinnen nicht besetzt werden konnte. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 13681, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Simmern 1912. 23 So verzeichnen die Kreise Simmern und Cochem für 1913 den hohen Wert von 9,40 Hebammen auf 10.000 Einwohner und im Kreis Simmern betrug die rein statistische Quote von Geburten mit Hebammenhilfe 100%. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 13682, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Simmern 1913; Ebd. Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Cochem 1913 sowie LHAK Best. 441 Nr. 13681, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Simmern 1912. Unterschiedlich war aber beispielsweise die Zahl der Geburten pro Hebamme mit ca. 27 Geburten in Simmern und Cochem 1913 gegenüber 48,7 Geburten im Kreis Altenkirchen 1913. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 13681 und Nr. 13682, Jahresberichte der genannten Kreisärzte. 24 LHAK Best. 655,191 Nr. 173, Anstellungsvertrag der Bezirkshebamme Veronika A. in der Gemeinde Bitburg-Land vom 1. Januar 1920.

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tert. Aus einem ergänzenden Fragebogen des Ministeriums für Volkswohlfahrt zum Jahresgesundheitsbericht 1922 lässt sich schlussfolgern, dass die Säuglingspflege zu diesem Zeitpunkt noch als Erweiterung der Hebammentätigkeit verstanden wurde, aber schon von zahlreichen Hebammen ausgeübt wurde.25 Auch die Säuglingspflege als Fürsorgeform war nicht spezifisch auf Arme ausgerichtet, was den generellen Versorgungsauftrag der Hebammen unterstreicht.26 Die durch die Gemeindeanstellung bedingte Vielzahl der Verträge war auch die Ursache für die weiterhin disparaten Einkommensverhältnisse der einzelnen Hebammen. Die Bezirkshebammen des Kreises Simmern erhielten 1913 im Durchschnitt 75 M Gehalt, im Kreis Adenau lag der Durchschnitt 1912 bei 122 M.27 Hinter diesen Angaben konnten sich aber nach wie vor große Schwankungen zwischen den Gehaltshöhen in den einzelnen Gemeinden verbergen. Die Gehaltsspanne im Kreis Cochem reichte etwa 1913 von 60–260 M, in Bernkastel erhielt die Hebamme 150 M Gehalt, während die Hebamme von Lieser 360 M ausgezahlt bekam, dafür aber Sachleistungen wie freie Wohnung und Holz wegfielen.28 Das Gesamteinkommen der Hebammen ist selten zu ermitteln, eine Einkommensstatistik der Hebammen des Kreises Simmern zeigt aber, dass Einkommen bis 750 M jährlich keine Seltenheit waren, in Einzelfällen waren hier sogar bis zu 1000 M Jahreseinkommen möglich.29 Zwei Drittel der dortigen Hebammen kamen aber über ein Einkommen von 500 M im Jahr nicht hinaus.30 Auch wenn die Einkommen insgesamt gestiegen waren, war die Gefahr,

25 LHAK Best. 441 Nr. 28654, Fragebogen vom 29. September 1922. Die einschlägige Frage 16 lautete: „Zahl der Hebammen? Wie viele als Säuglingspflegerinnen tätig? Wie viele 1921 als Säuglingspflegerinnen neu angestellt?“ Im Regierungsbezirk Koblenz waren von 537 Hebammen 115 auch als Säuglingspflegerinnen tätig. Im Kreis Simmern waren alle 32 Hebammen nebenamtlich als Säuglingspflegerinnen tätig. 26 Zur Säuglingsfürsorge siehe Stöckel, Säuglingsfürsorge; Woelk, Gesundheitsfürsorge. 27 LHAK Best. 441 Nr. 13682, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Simmern 1913; LHAK Best. 441 Nr. 13681, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Adenau 1912. 28 LHAK Best. 441 Nr. 13682, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Cochem 1913; LHAK Best. 655,123 Nr. 903, Anstellungsvertrag der Hebamme Karina A. in der Gemeinde Bernkastel vom 02. November 1912; VGV BKS, Beschlussbuch des Gemeinderates Lieser, 1913–1923, Beschluss vom 04. Juli 1916. In der Bürgermeisterei BitburgLand wurde dagegen noch 1921 ein Kleidergeld von 150 M im Jahr gezahlt. LHAK Best. 655,191 Nr. 174. 29 Die Verteilung der Einkommenshöhen in M pro Jahr im Einzelnen: unter 100: 1; bis 200: 2; bis 300: 8; bis 400: 7; bis 500: 4; bis 750: 10; bis 1000: 2. Siehe LHAK Best. 441 Nr. 13681, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Simmern 1912. Eine Einzelgeburt wurde den Kreisarztberichten zufolge mit 10–16 M vergütet, was im Rahmen der Gebührenordnungssätze lag (1908: 10–20 M pro Geburt, vgl. LHAK Best. 655,191 Nr. 173. Schreiben des Regierungspräsidenten Trier vom 28. September 1920). 30 Der Kreisarzt des Kreises Adenau verzeichnete 1913 ohne Angabe von Zahlen, dass die durchschnittliche Vergütung meist unter den Sätzen der Gebührenordnung lag. Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 13681 und Nr. 13682.

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der Armenfürsorge anheim zufallen, für Hebammen noch immer gegenwärtig.31 In der Inflationszeit der Jahre 1920/21 wurden im Regierungsbezirk Trier 1920 die Gebührensätze für Hebammen vervierfacht und das Kilometergeld erhöht.32 Auch die Gemeinden sahen sich in einigen Fällen gezwungen, die Gehälter ihrer Hebammen zu erhöhen, um den Geldwertverlust wenigstens teilweise auszugleichen. So erhöhte der Gemeinderat von Lieser das Gehalt der Bezirkshebamme aufgrund der Inflation im Februar 1922 von 120,– Mark auf 300,– Mark.33 Wie gering diese Summe angesichts der Umstände zu bewerten war, zeigt der Vergleich mit der Gemeinde Idenheim im Kreis Bitburg. Dort hatte kurz zuvor die örtliche Bezirkshebamme den Antrag gestellt, ihr Gehalt wegen der Inflationsverluste von 500,– Mark auf 2500,– Mark zu erhöhen.34 Der örtliche Bürgermeister lehnte diesen Antrag nicht einmal umgehend ab, sondern erkundigte sich bei umwohnenden Amtskollegen nach Bezirksgrößen und Gehaltshöhen der dortigen Hebammen – ein Indiz dafür, dass er die genannte Summe nicht von vorneherein für abwegig erachtete. Das Ergebnis dieser Umfrage zeigte, dass die Gehälter der Hebammen in den meisten Bezirken noch um die 100–130 M pro Jahr betrugen.35 Lediglich die Bürgermeisterei Speicher zahlte ihren drei Bezirkshebammen Gehälter von 300–500 M pro Jahr. In Holsthum, Bürgermeisterei Wolfsfeld, erhielt eine der drei Bezirkshebammen zwar 1000 M pro Jahr, doch wies der Bürgermeister in seiner Antwort darauf hin, dass es sich bei den anderen beiden Verträgen mit Gehaltshöhen von 100 M und 186 M noch um „ganz alte“ Verträge handelte. Da viele Hebammengehälter auch während der Inflationszeit also offenbar nur geringfügig oder gar nicht erhöht wurden, war die Verarmungsgefahr für Hebammen in dieser Zeit noch größer als sonst. Eine deutlich erkennbare Neuerung in den Anstellungsverhältnissen der Hebammen war dagegen der fortschreitende Aufbau einer sozialen Sicherung. Im Regierungsbezirk Trier hatten die Hebammen zumindest für den Fall der Dienstunfähigkeit bereits seit 1883 Anspruch auf eine lebenslange Pension.36 Das Pensionsprinzip fand auch weiterhin Anwendung; zugleich verdeutlicht es die Wahrnehmung der Bezirkshebammenstellen als beamtenähnliche Positionen. Die ausgezahlten Beträge dieser Alterssicherungen waren allerdings bescheiden. Im Kreis Simmern erhielt eine Hebamme bei Dienstunfähigkeit nach 15 Jahren Dienst ein Drittel, nach 30 Dienstjahren die Hälfte ihres Ein31 Siehe LHAK Best. 491 Nr. 2313, Nachweisung der zu einer Unterstützung aus dem Zentral-Hebammen-Unterstützungsfonds vorgeschlagenen Hebammen im Kreis Simmern vom 13. Dezember 1915. 32 LHAK Best. 655,191 Nr. 173. Schreiben des Regierungspräsidenten Trier vom 28. September 1920. 33 VGV BKS Beschlussbuch der Gemeinde Lieser 1913–1923. Beschluss des Gemeinderates vom 13. Februar 1922. 34 LHAK Best. 655,191 Nr. 174. Schreiben der Hebamme Anna Bolz vom 26. Januar 1922. 35 LHAK Best. 655,191 Nr. 174. Aufstellung der Hebammengehälter vom 31. Januar 1922. 36 Siehe Kap. 1.5., S. 103.

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kommens als Pension. Zusätzlich zur geringen Höhe der regulären Gehälter ist dabei noch zu bedenken, dass in einem solchen Falle die bisherigen Einnahmen aus Gebühren wegfielen. Über die Höhe ihrer Pension und die mangelnde Anerkennung ihrer Arbeitsleistung von Seiten der kommunalen Behörde, beschwerte sich die Hebamme Katharina E. aus Zeltingen 1919 denn auch in deutlichen Worten: Die Pension von 35 Pfg. pro Tag ist bei den heutigen Verhältnissen ein Spott. Wolle die Gemeindevertretung dies zur Kenntnis nehmen, die Schuld in einer anständigen Pension für die letzten wenigen Lebenstage abtragen.37

Neben die Pensionen trat seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts immer stärker die Absicherung über Mitgliedschaft und Ansprüche in den Sozialversicherungen. 1908 war die Bitburger Hebamme Thekla M. freiwillig gegen Invalidität versichert, wobei die Kosten dieser Versicherung in voller Höhe vom Kreis getragen wurden.38 Im Kreis Adenau waren 1912 alle Bezirkshebammen mindestens freiwillig versichert, in der Gemeinde Antweiler bestand bereits eine spezifische Regelung zur sozialen Sicherung der Bezirkshebamme.39 Tatsächlich waren es vor allem die Vertreter der höheren Behörden, wie Landräte oder Regierungspräsidenten, die auf eine Versicherungsmitgliedschaft der Bezirkshebammen drängten. 40 Demgegenüber wollten die Kommunen ihre Belastungen gering halten und übernahmen erst später, und oft nur teilweise, die Beitragszahlungen. Die Gemeinde Rachtig etwa trug noch 1919 nur das gesetzlich vorgeschriebene Arbeitgeberdrittel der Versicherungsbeiträge ihrer Hebamme und die Gemeinde Lieser übernahm erst nach mehrfacher Intervention des Landrats 1917 die Krankenversicherungsbeiträge ihrer Hebamme.41 Angesichts der Inflation der Jahre 1920/1921 fuhren dann auch die höheren Behörden ihre Beiträge 37 LHAK Best. 655,123 Nr. 903, Schreiben der Hebamme Karina A. vom 01. August 1919. 35 Pfg. pro Tag entsprach einer Jahresrente von ca. 127 M. Damit war ihre Rente immer noch doppelt so hoch wie diejenige der Bezirkshebamme in Kirchberg, Kreis Simmern. Diese erhielt 1915 eine jährliche Pension von lediglich 60 Mark. Siehe LHAK 491 Nr. 2313. 38 LHAK Best. 655,191 Nr. 173, Schreiben des Bürgermeisters Bitburg-Land vom 25. August 1908. 39 LHAK Best. 441 Nr. 13681, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Adenau 1912. 40 LHAK Best. 655,123 Nr. 903, Schreiben des Landrats Bernkastel an die Bürgermeister des Kreises vom 25. April 1914: „Nachdem die einzelnen zu einem Hebammenbezirk vereinigten Gemeinden schon vor einigen Jahren die Hebammen gegen Invalidität und Alter versichert haben, ersuche ich nunmehr dafür Sorge zu tragen, dass die Verbände auch die Versicherung der Hebammen gegen Krankheit herbeiführen und die ganzen Beitragsleistungen auf sich nehmen, bezw. dass sie ihren Hebammen die Kosten für die Selbstversicherung ersetzen. Gerade die Sicherstellung der Hebammen für den Fall der Krankheit ist eine Erforderung, die in erster Linie mit zur Verbesserung der Lage der Hebammen beiträgt und kein Verband sollte in der Erfüllung dieser Forderung zurückbleiben.“ 41 LHAK Best. 655,123 Nr. 903, Beschluss des Gemeinderates Rachtig vom 26. Juni 1919; VGV BKS, Beschlussbuch des Gemeinderates Lieser, 1913–1923, Beschlüsse vom 15. September 1916 und 19. November 1917.

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zurück und versuchten, die Kosten wieder alleine den Gemeinden zuzuweisen.42 Bis zum Beginn der zwanziger Jahre erfuhr das Hebammenwesen in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz im Ganzen keine grundlegenden strukturellen Veränderungen. Bestimmend blieben die Kompetenz der Gemeinden in Anstellung und Vertragsgestaltung, die diese auch gegen Interventionen übergeordneter Verwaltungsebenen zu behaupten suchten. In materieller Hinsicht blieb die Lage der Hebammen prekär und von teilweise großen Differenzen zwischen den Verhältnissen der einzelnen Hebammen gekennzeichnet. In der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts waren es in erster Linie die übergeordneten Verwaltungen, die einen Ausbau der sozialen Absicherung der Hebammen vorantrieben. 2.1.3. Laienheiler Auch über Verbreitung und Wirken der Laienheiler liegen für die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts nur wenige detaillierte Informationen vor. Bereits mehrfach erwähnt wurde der Meldepflichterlass des Ministeriums für geistige, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 31.12.1902.43 Infolge dieses Erlasses, der gewerbliche Heiler zur Meldung ihres Wohnortes beim Kreisarzt verpflichtete, sind für den genannten Zeitraum einige präzisere Angaben zu Zahl und Niederlassungen gewerblich tätiger Laienheiler erhalten. Auf der anderen Seite führte die Konzentration auf die gewerblich tätigen Heiler in der Praxis der Verwaltung dazu, dass die bis dato zumindest summarisch und allgemein erwähnten nichtgewerblichen Heiler praktisch gänzlich aus den entsprechenden Berichten verschwanden. Daher sind belegbare Aussagen zu dieser Gruppe der Laienheiler für den hier behandelten Zeitraum nicht mehr möglich. Für den Kreis Wittlich sind in den Jahren 1906/1907 drei gewerbsmäßige Laienheiler, je einer in Bombogen, Osann und Bettenfeld, nachweisbar.44 Alle drei waren seit Beginn der 1890er Jahre tätig. Bei zweien wurde als früherer Beruf „Ackerer“ angegeben, während der dritte ein Lehrer a.D. war. Als ausgeübte Heilkunde war bei zweien – darunter der Lehrer – die „Homöopathie“ angegeben, der dritte war „Knochenflicker“. Den Umfang ihrer Tätigkeit gab der Kreisarzt 1907 für alle drei mit „mässig“ an. Ähnlich lagen auch die Verhältnisse im Kreis Bernkastel.45 Die hier gemeldeten drei gewerblichen Laienheiler hatten ihre Tätigkeit allerdings den Un42 LHAK Best. 655,191 Nr. 173, Schreiben des Landrates Bitburg an die Bürgermeister des Kreises vom 11. März 1922. Darin kündigt er an, die Beitragsübernahme der Invalidenversicherung durch den Kreis zu streichen. 43 LHAK Best. 403 Nr. 11071, S. 1–2. Siehe auch Kap. 1.6.1., S. 115. 44 LHAK Best. 442 Nr. 3914, S. 65–67 Verzeichnis derjenigen Personen, die, ohne approbiert zu sein, gewerbsmässig die Heilkunde ausüben (1906); Ebd. S. 413–415 (1907). 45 Für den Kreis Simmern sind lediglich summarische Angaben (fünf „Kurpfuscher“ in vier Orten 1912) erhalten, weshalb eine detailliertere Analyse für diesen nicht möglich war.

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terlagen zufolge erst um 1900 und damit rund zehn Jahre später als diejenigen im Kreis Wittlich aufgenommen.46 Zwei der drei Heiler waren in Bernkastel ansässig, einer in Rhaunen. Im Gegensatz zu den Wittlicher Heilern verfügten sie zudem alle über eine gewisse medizinische Ausbildung. Darauf lassen zumindest die früheren Berufe „Masseuse“, „Heilgehülfe“ und „Dentist ausgeb.“ schließen. Dabei scheinen vor allem die beiden Dentisten gefragt gewesen zu sein; ihr Wirken wurde vom Kreisarzt mit „groß“ bezeichnet. Eine besondere Bedeutung hatten die Dentisten offenbar auch im Kreis Bitburg. Für 1905 und 1906 waren hier lediglich vier, nach einem Wegzug nur noch drei, gewerbliche Heiler gemeldet.47 Zwei von diesen waren nach den kreisärztlichen Angaben Geschwister, die als „Ackerer“ ohne besondere Ausbildung die Tätigkeit ihres Vaters fortsetzten und von ihren Wohnorten in Preist bzw. Speicher aus „Knochenbrüche und Verrenkungen“ behandelten; einer war ein katholischer Geistlicher in Echternach, der „Wasserbehandlungen“ nach Kneipp durchführte. Insbesondere den ersten beiden attestierte der Kreisarzt einen „großen Umfang“ ihrer Tätigkeit. Hingegen hatte sich 1908 die Zahl der gewerblichen Heiler im Kreis verdoppelt, wobei hervorsticht, dass alle drei neu niedergelassenen Heiler in Echternacherbrück, Bitburg und Neuerburg Dentisten waren, die auf eine vorangegangene Lehrzeit bei einem Zahnarzt verweisen konnten.48 Einen relativ großen Anteil an der Zahl der gewerblichen Laienheilkundigen stellten die Zahnheiler auch in anderen Kreisen.49 Angesichts der geringen Zahl von Zahnärzten haben die zahnheilkundigen Laien hier offenbar ein Versorgungsinteresse der ländlichen Bevölkerung erfüllt. Diese besondere Rolle der Dentisten war nicht nur praktisch notwendig, sondern auch offiziell anerkannt. Die Dentisten waren nach der RVO 1911 als einzige laienheilkundliche Gruppe zur Kassenbehandlung zugelassen. Die beschriebenen Verhältnisse bedeuteten nicht zwingend einen Verdrängungswettbewerb zuungunsten der Laienheiler. Ein Blick auf die geographische Verteilung der Laienheiler in Verknüpfung mit den relativ langen Tätigkeitszeiträumen an ihren Wohnorten zeigt, dass auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Laienheiler und Ärzte am selben Ort tätig waren.50 So hatten etwa in den Kreisen Bernkastel und Bitburg Laienheilern und Ärzte dieselben Wohnorte. In den Fällen, in denen „Ackerer“ als Laienheiler tätig Vgl. LHAK Best. 441 Nr. 13681. 46 LHAK Best. 442 Nr. 3901, S. 53–65 Verzeichnis derjenigen Personen, die, ohne approbiert zu sein, gewerbsmässig die Heilkunde ausüben (1908). 47 LHAK Best. 442 Nr. 3909, S. 119–121 Verzeichnis derjenigen Personen, die, ohne approbiert zu sein, gewerbsmässig die Heilkunde ausüben (1905); Ebd. S. 250–251 (1906). 48 LHAK Best. 442 Nr. 3909, S. 119–121 Verzeichnis derjenigen Personen, die, ohne approbiert zu sein, gewerbsmässig die Heilkunde ausüben (1908). 49 So waren zwei von vier gewerblichen Heilern im Kreis Daun 1908 als Zahnheiler mit Ausbildung tätig, vgl. LHAK Best. 442 Nr. 3909, S. 201–203; im Kreis Altenkirchen nennt der Jahresgesundheitsbericht neun Zahntechniker gegenüber neun anderen „Kurpfuschern“, siehe LHAK Best. 441 Nr. 13682, S. 2503ff. 50 Siehe dazu die Karten 1–4 im Anhang.

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waren, bestimmte vermutlich eher die Lage des eigenen Grundbesitzes als die Ärztekonkurrenz oder die Geschäftsperspektiven den Ort der Niederlassung. In jedem Fall bieten weder die Quellen selbst, noch die Verteilung der verschiedenen gesundheitlichen Helfer Anlass zu der Annahme, zwischen den verschiedenen Gruppen habe ein intensiver Verdrängungswettbewerb stattgefunden. Vielmehr zeigt sich, dass auch noch zumindest in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts Ärzte und Laienheilkundige eher miteinander oder nebeneinander als gegeneinander in der gesundheitlichen Versorgung der ländlichen Bevölkerung tätig waren. 2.2. Neue Instrumente & Experimente 2.2.1. Medizin & Caritas: Die Krankenbesucherinnen Im Jahr 1899 veröffentliche der Caritasverband die Denkschrift einer Verbandskommission, die sich zuvor mit der Situation von Krankenpflege in ländlichen Gebieten und deren Verbesserung auseinandergesetzt hatte.51 Zentraler Inhalt war der „Versuch, die ländliche Krankenpflege durch freiwillige Krankenpflegerinnen zu verbessern“.52 Angeregt worden war diese Denkschrift durch ein Referat des Rektors Matthias Kinn auf dem Caritastag 1898, der auch maßgeblichen Einfluss auf die Inhalte nahm.53 Bereits 1883 hatte dieser in Bekond, im Landkreis Trier, einen Verein mit dem Ziel gegründet, die Krankenversorgung der Landbevölkerung durch die Ausbildung von „Krankenbesucherinnen“ zu verbessern.54 In einem ersten Teil konstatierte der Kommissionsbericht von 1899 die „äußerst mangelhafte Krankenversorgung“ in ländlichen Regionen.55 Als Hauptursachen dieses Missstandes benannte der Bericht „die geringen Mittel und die fast beständige Geldnot der Landleute“, die „große Entfernung des Arztes“, die „vollständige Unkenntnis der Pflege-Erfordernisse“, insbesondere die „vollständige Unkenntnis eines richtigen Not- und gewöhnlichen Wund51 APR Nr. 3485, Broschüre „Die Ländliche Krankenpflege. Ihre Mängel und deren Hebung durch freiwillige unbezahlte Hilfspflegerinnen. Denkschrift verfaßt von einer Kommission des Charitasverbandes für das katholische Deutschland“, Freiburg 1899. Dies. auch in LHAK Best. 403 Nr. 7438, S. 33–34. 52 Ebd., S. 3. 53 R eininger, Landkrankenpflege, S. 25. Nicht untersucht werden können hier die Hintergründe, Absichten und Bedeutung dieser Initiative im Rahmen der verband­lichen Interessenpolitik des 1897 gegründeten „Charitasverbandes“. Vgl. Frie, Caritas, S. 25–29. 54 Speziell zur konfessionellen katholischen Landkrankenpflege im ländlichen Raum Reininger, Landkrankenpflege, hier S. 26. 55 APR Nr. 3485, Broschüre „Die Ländliche Krankenpflege. Ihre Mängel und deren Hebung durch freiwillige unbezahlte Hilfspflegerinnen. Denkschrift verfaßt von einer Kommission des Charitasverbandes für das katholische Deutschland“, Freiburg 1899, S. 5. Hieraus auch die nachfolgenden Zitate.

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verbandes“ sowie den „vollständigen Mangel an Pflegegeräten“. Diese Mängel träten vor allem in „kleinen, abgelegenen, armen Gemeinden des Gebirges“ auf. Dass unter diese nicht zuletzt die hier untersuchten Regionen gezählt wurden, verdeutlicht das in der Broschüre zur Erläuterung herangezogene Beispiel des Eifelkreises Prüm. In der Analyse waren es also in erster Linie Armut und topographische Gestalt der genannten Regionen, die eine ausreichende Verbreitung spezifisch medizinischen Wissens, etwa durch (bezahlte) Berufskrankenpfleger, verhinderten. Als ‚richtiges’ medizinisches Wissen wurden dabei allein die ärztlich-akademische Medizin und auf die ihr beruhenden Methoden der Hilfe und Pflege verstanden. Idee und Konzeption Das Konzept der Caritaskommission sah vor, gemeindeansässigen Frauen in einem mehrwöchigen Kursus medizinische Grundkenntnisse zu vermitteln und sie so zu relativ schnell verfügbaren Anlaufstellen für gesundheitliche Hilfe werden zu lassen. Jede Ausgebildete sollte mit den wichtigsten Pflegegeräten und Verbandzeug ausgestattet werden und dieses Material unter Erläuterung der korrekten Anwendung verleihen; die Kosten sollten möglichst die Gemeinden übernehmen.56. Für Arme sollte die Ausleihe gänzlich kostenfrei sein, wohlhabendere Kranke sollten lediglich eine „kleine Vergütung“ zum Ersatz der Anschaffungskosten zahlen.57 Die Verbreitung modernen medizinischen Geräts war also grundlegender Teil des Konzepts. Ausdrücklich war dabei vorgesehen, dass die Besucherinnen „belehrend“ wirken und mit Erläuterungen ihrer Arbeit „ein größeres Verständnis der Krankenpflege“ in ihrem Umfeld fördern sollten.58 Das Problem der großen Entfernung zu den Ärzten als den eigentlichen Trägern der medizinischen Behandlung sollte durch eine genügende Zahl ausgebildeter Helferinnen in den abgelegenen Dörfern gemindert werden. Die Etablierung der „Caritas-Besucherinnen“ war damit auch eine Reaktion auf die Defizite der Bemühungen kommunaler und staatlicher Stellen in der Verbreitung professioneller Gesundheitshilfe. 59 Um schließlich die Hemmschwelle mangelnder Geldmittel zur Bezahlung professioneller Kräfte zu überwinden, sollten die Krankenbesucherinnen – so die offizielle Bezeichnung – ihre Tätigkeit „zur Ehre Gottes und zum Wohle ihrer Nebenmenschen, ohne Sucht nach Ehre oder Lohn“ ausüben.60 Diese Forderung beruhte auf der Idee, dass in Gegenden, in denen aus einer beruflichen Pflegetätigkeit 56 57 58 59

Ebd., S. 8. Ebd., S. 7. Ebd. S. 7. Labisch, Konzeptionen, S. 44 schreibt derartigen „intermediären Instanzen“ eine besondere Bedeutung zu, „neue gesundheitsrelevante Problemlagen aufzudecken“ und „spezifische Handlungsdefizite“ öffentlicher Instanzen auszugleichen. 60 APR Nr. 3485, Broschüre „Die Ländliche Krankenpflege. Ihre Mängel und deren Hebung durch freiwillige unbezahlte Hilfspflegerinnen. Denkschrift verfaßt von einer

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nicht genügend Einkommen erzielt werden konnte, die Krankenbesucherinnen diese ehrenamtlich übernähmen, „soweit es die eigenen Berufsarbeiten erlauben“, da Existenz und Einkommen weiterhin über den eigentlichen Beruf gesichert bleiben sollten.61 Die Bezeichnung als Krankenbesucherin war in diesem Sinne bewusst gewählt, signalisierte der Titel doch, „dass sie nicht erwerbsmäßige Krankenpflegerinnen sein wollen, sondern nur Liebesdienste leisten“.62 Grundlage des Vorhabens war die Idee der unentgeltlichen Hilfe aus christlicher Nächstenliebe. Die Tätigkeit der Krankenbesucherinnen sollte einer gemeinsamen Aufsicht des örtlichen Pfarrers und eines Arztes unterliegen.63 Der Bezug auf den Caritas-Gedanken und die doppelte Aufsicht verdeutlichen, dass sich die Einrichtung der Krankenbesucherinnen ideell nicht entscheidend von Auffassungen zur weiblichen Krankenpflege absetzte, die im 19. Jahrhundert Geltung beanspruchten.64 Die Krankenpflegetätigkeit hatte einen „unberuflichen“ und dienenden Charakter.65 Zugleich verdeutlicht die Aufsicht des Arztes aber die durchaus gegenläufige Entwicklung zunehmender Fachaufgaben in der Pflege, die einen wachsenden Ausbildungsbedarf Pflegerinnen nach sich zog. Von vorneherein verstand die Caritaskommission die Besucherin nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zum Wirken des Arztes. Die angestrebten Tätigkeitsgebiete der „Not- und Wundverbände“ – hierunter sind vor allem Leistungen zu verstehen, die heute unter „Erste Hilfe“ gefasst werden –, wie auch der Krankenpflege, waren der eigentlichen Behandlung durch den Arzt nur angelagert, sollten diese aber nicht überflüssig machen. Im Falle der offenbar noch immer praktizierten ärztlichen Behandlung in absentia – also auf schriftlichen oder mündlichen Botenbericht hin, ohne direkten Kontakt von Arzt und Patient – sollte die Krankenbesucherin die notwendigen Aufzeichnungen und Anweisungen in der nach ärztlich-medizinischem Verständnis richtigen Weise abfassen und umsetzen: [D]ie [schriftlichen, d. Verf.] Anordnungen des Arztes werden oft nicht richtig aufgefasst, bei der Ausführung weiß man keinen Rat. Ganz anders würde sich die Sache gestalten, wenn eine Person im Dörfchen wäre, die für den Arzt niederschreiben könnte, ob Fieber vorhanden oder nicht, wo und wie der Schmerz ist, wie der Puls, wie Appetit und Abgänge usw.66

61 62 63 64 65 66

Kommission des Charitasverbandes für das katholische Deutschland“, Freiburg 1899, S. 6. Ebd., S. 6. Ebd., S. 6 Ebd., S. 7. Dazu Bischoff-Wanner, Krankenpflege. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 285. APR Nr. 3485, Broschüre „Die Ländliche Krankenpflege. Ihre Mängel und deren Hebung durch freiwillige unbezahlte Hilfspflegerinnen. Denkschrift verfaßt von einer Kommission des Charitasverbandes für das katholische Deutschland“, Freiburg 1899, S. 4.

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Die Krankenbesucherin sollte als Schnittstelle zwischen tradierten Behandlungspraktiken und den Anforderungen „moderner“ Medizin fungieren. Eine ähnliche Funktion war ihr auch im Falle von Behandlungen im Krankenhaus zugedacht: Ganz gewiß werden die Krankenbesucherinnen (…) in jenen schwierigen Fällen, welche außerhalb des Krankenhauses hoffnungslos sind, die geeigneten Personen sein, den Landleuten den bekannten Schrecken vor dem Hospitale auszureden.67

In beiden genannten Fällen ist der Kompetenz- und Führungsanspruch der „modernen“ Medizin deutlich erkennbar. Die Krankenbesucherin eröffnete keinen an ‚ländliche Mentalitäten’ angepassten Weg der gesundheitlichen Versorgung, sondern half, Hemmschwellen gegenüber den Konzepten der ärztlich-akademischen Medizin abzubauen.68 In finanzieller Hinsicht sollte dies über die weitgehend unentgeltliche Leistung geschehen, im Hinblick auf soziale wie geographische Distanzen über die lokale Herkunft und Tätigkeit der Krankenbesucherinnen. Dieser Anspruch wurde auch in den im Rahmen der vorgesehenen Ausbildung und Aufsicht durch Ärzte und Ortsgeistliche immer wiederkehrenden Warnungen vor „kurpfuscherischen“ Tätigkeiten deutlich: Einmal werden die Mädchen bei ihrer Ausbildung immer darauf hingewiesen, dass sie alles zu vermeiden haben, was an Kurpfuscherei grenzt, dass jeder eigenmächtige Heilversuch, jede Abänderung der ärztlichen Anordnung aufs strengste verboten ist. (…) Sodann erwarten wir von der freundlichen Mitwirkung der Pfarrer, Bürgermeister und Aerzte, unter deren Augen sich die Thätigkeit der Krankenbesucherinnen abspielt, die sichere Abstellung etwa dennoch eintretender Übelstände.69

Im Ganzen gesehen war es das Ziel des Konzepts der Krankenbesucherinnen, die ländliche Gesundheitsversorgung gerade abgelegener Gemeinden zu verbessern. Instrumente hierfür waren eine bessere personelle Erreichbarkeit entsprechender Hilfe über die Ausbildung der Krankenbesucherinnen, eine bessere materielle Versorgung über die Ausstattung der Krankenbesucherinnen mit Geräten und Materialien und ein leichterer Zugang über die Unentgeltlichkeit der angebotenen Leistungen. Das zugrundeliegende Verständnis von medizinischer Behandlung und Versorgung war dabei eindeutig ein ärztlichakademisches. In diesem Rahmen sollte eine Krankenbesucherin Hilfstätigkeiten in der ärztlichen Behandlung übernehmen, sowie über ihre niedrigere Kontaktschwelle zur ansässigen Bevölkerung Anforderungen und Angebote ärztlich-akademischer Medizin in die ländliche Gesellschaft transferieren. Die kranken Armen besaßen in diesem Gefüge eine zentrale Position. Einerseits profitierten sie am meisten von einer solchen Einrichtung, andererseits bil67 Ebd., S. 10. 68 Vgl. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 299–300. 69 APR Nr. 3485, Broschüre „Die Ländliche Krankenpflege. Ihre Mängel und deren Hebung durch freiwillige unbezahlte Hilfspflegerinnen. Denkschrift verfaßt von einer Kommission des Charitasverbandes für das katholische Deutschland“, Freiburg 1899, S. 10.

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deten sie auf diese Weise eine der ersten sozialen Gruppen im ländlichen Raum, die mit den Konzepten der „modernen“ Medizin in Berührung kamen. Herkunft und Ausbildung Nach den Plänen der Caritas-Kommission sollten primär alleinstehende Frauen zwischen 25 und 45 Jahren zur Krankenbesucherin ausgebildet werden. Die Annahme war, dass „durchweg nur solche sich melden, welche den Entschluss oder die Hoffnung, zu heiraten, aufgegeben haben.“70 Eine besondere Begründung für diese Zielgruppe lieferten die Ausführungen nicht. Denkbar ist jedoch, dass angesichts der Tatsache, dass die Arbeit als Krankenbesucherin neben der normalen Berufs- und Haushaltstätigkeit getan werden sollte, eine solche Nebentätigkeit Müttern und Hausfrauen größerer Haushalte nicht zugemutet werden sollte. Auf dieses Motiv deutet hin, dass die Krankenbesucherinnen explizit aufgefordert wurden, nur soweit zu helfen „als es ihre eigenen häuslichen Arbeiten und Kräfte erlauben“.71 Gerade aus der Perspektive eines katholischen Verbandes sollte die Mutterrolle von anderen Tätigkeiten, auch karitativer Natur, nicht nachhaltig beeinträchtigt werden. Das vorgegebene Bild der Krankenbesucherin wies in seiner Veränderung gegenüber dem früheren Ansatz eher „mütterlicher“ Pflegerinnen damit deutliche Parallelen zur Entwicklung bei den Hebammen auf. Auch bei diesen wurde das alte Motiv der erfahrenen, mütterlichen Frau zum Ende des 19. Jahrhunderts hin vom Bild der jungen, spezifisch und formal ausgebildeten Hebamme abgelöst.72 Inwieweit die Idealvorstellungen einer Krankenbesucherin in der Praxis durchgehend beachtet wurden, kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden, da wenig Informationen zu den Stelleninhaberinnen überliefert sind. Für den Kreis Wittlich weist eine erhaltene Aufstellung der Krankenbesucherinnen aus dem Jahr 1906 aber tatsächlich den Kriterien entsprechende Personen aus.73 Alle drei dort genannten Krankenbesucherinnen waren ledig und zwischen 25 und 44 Jahren alt. Als Stand und Beruf waren bei Ihnen „Winzerin“, „Hausiererin“ und „Ackerin“ angegeben. Zumindest in diesem Falle scheint eine eindeutige Zuordnung zu einer sozialen Schicht also nicht gegeben gewesen zu sein. Die für die Kandidatinnen selbst kostenlose Ausbildung erfolgte in zwei Abschnitten.74 Die vermittelten Kenntnisse umfassten Erste Hilfe („Wundverbände“), Krankenpflege und den Gebrauch von „Pflegegeräten“.75 Den ersten Teil bildete ein 14tägiger Grundkurs, der aus Theorie und praktischen Übungen 70 71 72 73

Ebd., S. 10. Ebd., S. 7. Vgl. Kapitel 1.5. LHAK Best. 442 Nr. 3914, Übersicht über die Krankenbesucherinnen des Charitasverbandes im Kreise Wittlich vom 01. April 1906. 74 Vgl. Reininger, Landkrankenpflege, S. 30–31. 75 Ebd. Was genau unter „Pflegegeräten“ zu verstehen war, blieb ohne Erläuterung.

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der Krankenpflege bestand und für jeweils 20–24 Teilnehmerinnen von einer Lehrschwester im Kloster Arenberg abgehalten wurde.76 Jeder Unterrichtstag beinhaltete rund 3 h theoretischen Unterricht, 2 h praktische Übungen zum Anlegen von Verbänden und Methoden der Krankenpflege, teils an „Scheinkranken“, und 2 h Wiederholungen.77 Im Anschluss an den theoretischen Teil absolvierten die Kandidatinnen jeweils zu zweit oder zu dritt einen praktischen Ausbildungsteil von 4–6 Wochen an einem Krankenhaus.78 Ausdrücklich betonte die Kommission, dass sie während dieser Zeit allein an der Krankenpflege und keinesfalls an „Hausarbeiten“ teilnehmen würden.79 Ausbildungskrankenhäuser lagen in Bonn, Oberhausen oder Wiesbaden, die Ausbildung konnte also für die Kandidatinnen durchaus größere Reisen beinhalten.80 Dieses Ausbildungsprogramm bedeutete insgesamt eine Akzentverschiebung weg von einer Schulung des Charakters und der Mütterlichkeit der Pflegerin, wie sie im 19. Jahrhundert vorherrschte, hin zu einer deutlicheren Betonung fachlicher Lehrinhalte.81 Aufnahme und Akzeptanz In der Medizinalverwaltung trafen die Vorschläge der Caritaskommission in ihrer zugrundeliegenden Analyse der Verhältnisse grundsätzlich auf Zustimmung: Der Grundgedanke der in der Denkschrift bezeichneten Bestrebungen erscheint als ein durchaus gesunder, da die ländliche Krankenpflegethätigkeit sehr im Argen liegt und ihre Verbesserung bei dem Mangel verfügbarer Mittel in unseren Gegenden zu den schwierigsten Aufgaben gehört, welche auf dem Gebiete der Volkswohlfahrt noch zu erfüllen sind.82

In der praktischen Umsetzung waren aber insbesondere die Ausbildung und die Aufsicht Gegenstand geäußerter Bedenken. Der Koblenzer Regierungsmedizinalrat befürchtete etwa, dass die Desinfektion zu geringen Raum in der Ausbildung erhielte und die Besucherinnen so selbst zu Überträgerinnen von Krankheiten würden. Ebenso beinhaltete die kurze Ausbildungszeit die Gefahr, „dass Halbbildung, wie in allen Berufsarten so in besonderem Maße bei dem niederen Heilpersonal Selbstüberschätzungen und Uebergriffe zeitigt“, 76 APR Nr. 3485, Broschüre „Die Ländliche Krankenpflege. Ihre Mängel und deren Hebung durch freiwillige unbezahlte Hilfspflegerinnen. Denkschrift verfaßt von einer Kommission des Charitasverbandes für das katholische Deutschland“, Freiburg 1899, S. 5. 77 Ebd., S. 5f. 78 Im Rahmen eines 1898/99 veranstalteten Probekurses hatte dieser Teil zunächst nur zwei Wochen betragen. 79 Ebd., S. 9. 80 Hier die Ausbildungsorte der Wittlicher Krankenbesucherinnen. 81 Vgl. Bischoff-Wanner, Krankenpflege. 82 LHAK Best. 403 Nr. 7438, Stellungnahme des Regierungsmedizinalrates in Koblenz zur Denkschrift des Charitasverbandes vom 22. November 1899, S. 37.

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die Krankenbesucherinnen also zu „Kurpfuscherinnen“ würden.83 Der Landrat von Simmern wiederum stellte in seiner Stellungnahme die Schwierigkeiten einer effektiven Aufsicht in den Vordergrund: Ich will einmal den Fall annehmen, eine Besucherin treibt Kurpfuscherei oder sie ist im Laufe der Zeit eine schmutzige, unsaubere Person geworden. Auf Grund welchen Rechtes kann die beaufsichtigende Behörde dagegen einschreiten oder eine Änderung herbeiführen? Die Besucherin ist zwar mit Unterstützung der Behörde ausgebildet und hat nun mal dadurch in den Augen des Publikums den Nimbus, dass sie von der Sache etwas versteht. Sobald ihr aber die Beaufsichtigung durch die Behörde nicht mehr passt und die wird ihr nicht mehr behagen, sobald Ungehörigkeiten festgestellt sind, schüttelt sie die Aufsicht als etwas Lästiges ab. Die Behörde ist bei der Beaufsichtigung immer auf den guten Willen der Besucherin und auch evtl. des Ortsgeistlichen angewiesen. Solange dieselben sich die Beaufsichtigung gefallen lassen wollen, ist sie durchführbar.84

Von Seiten der Medizinalbeamten wurde ein Aufsichtssystem gefordert, wie es auch im Falle der Hebammen angewandt wurde.85 Die Unterrichtsunterlagen mussten ärztlich geprüft werden, die entsprechenden Lehrgänge angemeldet werden. Ebenfalls anmelden mussten die Krankenbesucherinnen ihre Tätigkeit beim Kreisarzt, der auch das Recht zu unangemeldeten Revisionen hatte. Diese Bedingungen stellten insofern keine Schwierigkeiten dar, als in der Denkschrift des Caritasverbandes selbst eine ärztliche Aufsicht vorgesehen war. Während die technische Aufsicht ärztlicherseits übernommen wurde, oblag der ebenfalls vorgesehenen Aufsicht durch den Ortsgeistlichen die „moralische Führung“ der Krankenbesucherinnen.86 In der praktischen Umsetzung stieß diese Aufteilung allerdings auf die Schwierigkeit, dass die Ärzte die notwendige Zeit für eine eingehende Überwachung nicht immer aufbringen konnten. Die Aufsicht durch die Pfarrer scheint demgegenüber besser funktioniert zu haben. Angesichts der Neigung vieler Geistlicher zu alternativen Heilmethoden bleibt aber fraglich, ob diese tatsächlich eine Aufsicht im Sinne der ärztlich-akademischen Medizin wahrnahmen.87 Die Bewertung der aufsichtführenden Ärzte fiel unterschiedlich aus. Während etwa der Wittlicher Kreisarzt 1906 vermerkte, es habe keine Arztbeschwerden darüber gegeben, „dass die Pflegerinnen ihre Befugnisse über83 Ebd., S. 39f. 84 LHAK Best. 441 Nr. 13597, Stellungnahme Landrates zu Simmern vom 12. Dezember 1900. 85 Ebd. 86 Ebd., Stellungnahme des Landrates zu Adenau vom 24. November 1900: „Wenn, wie zu erwarten, der Charitas-Verband auch seinerseits die Mitwirkung der Aertze nachsucht, so wird eine Kollision am besten dadurch vermieden, wenn die von der Kreis- und Gemeindeverwaltung ausgeübte Aufsicht vorwiegend auf die technische Seite sich erstreckt, während in Bezug auf die moralische Führung die Organe des Verbandes zuständig sind.“ Unterstreichungen im Original. 87 Vgl. Ebd., Bericht des Landrates von St. Goar vom 24. Oktober 1900: „Eine Aufsicht über dieselben wird außer durch die betreffenden Ortsgeistlichen bis jetzt nicht ausgeübt, doch wäre es m.E. nicht nur zweckmäßig, sondern auch erwünscht, wenn eine Beaufsichtigung der Krankenbesucherinnen durch die bezüglichen Distriktärzte erfolgen würde.“

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schritten und Kurpfuscherei getrieben hätten“, klagte der Bitburger Kreisarzt über die „Krankenbesucherinnen vom Charitasverband“: Die Revisionen derselben hatten kein günstiges Ergebnis. Das Tagebuch war entweder gar nicht oder nur mangelhaft geführt, die Standflaschen wurden oft mit Staub bedeckt vorgefunden und in dem Schrank nicht dahin gehörige Sachen aufbewahrt. Die Kenntnisse sind recht mangelhaft, da die Ausbildungszeit von einer Woche eine viel zu kurze ist. Eine Krankenbesucherin aus Ernzen ist nach Trier verzogen und hat sich dort als Kurpfuscherin niedergelassen.88

Für eine weitgehende Akzeptanz der Krankenbesucherinnen von Seiten der allgemeinen Verwaltung spricht wiederum der Bericht des Landeshauptmanns der Rheinprovinz, in welchem dieser konstatierte, dass „(…) Ausstellungen unbedeutenderer Art nur von wenigen Behörden gemacht würden und ein abfälliges Urtheil eigentlich nur von dem Landrath des Kreises Simmern auf Grund des kreisärztlichen Berichtes (…) gefällt würden.“89 Obwohl die Quellenlage dürftig ist, scheint die Einrichtung der Krankenbesucherinnen von der Landbevölkerung selbst akzeptiert und in Anspruch genommen worden zu sein. Der Bürgermeister von Mayen berichtete von zwei ausgebildeten Krankenbesucherinnen, die „recht häufig als Hülspflegerinnen in Anspruch genommen werden“ und auch die explizite Erwähnung dieser Einrichtung im Jahresgesundheitsbericht des Regierungsmedizinalrates in Koblenz weist auf eine wichtige Rolle der Krankenbesucherinnen in der ländlichen Gesundheitsversorgung hin.90 Verbreitung Die Relevanz der Krankenbesucherinnen für die ländliche Gesundheitsversorgung zeigt sich besonders, wenn man Verbreitung und Verteilung der Krankenbesucherinnen in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz nachzuvollziehen versucht. An dem 1898 abgehaltenen Probekurs nahmen aus dem Regierungsbezirk Koblenz nur zwei Frauen teil. An den Kursen 1899 und 1900 nahmen aus dem Regierungsbezirk insgesamt schon 17 Frauen aus 10 Kreisen teil, was auf grundsätzliches Interesse an den Kursen schließen lässt.91 Die konkrete Prä88 LHAK Best. 442 Nr. 3914, Jahresbericht des Kreisarztes Wittlich für das Jahr 1905 vom 01. April 1906; LHAK Best. 441 Nr. 13597, Jahresbericht des Kreisarztes Bitburg für das Jahr 1905. 89 LHAK Best. 403 Nr. 7438, S. 125–129, Bericht des Landeshauptmanns der Rheinprovinz vom 27.11.1901. Die Aussage bezog sich auf die Berichte aus fünf Regierungsbezirken. 90 LHAK Best. 441 Nr. 13597, Schreiben des Landrates zu Mayen betreffend die ländliche Krankenpflege vom 12. Dezember 1900; LHAK Best. 441 Nr. 28666, Jahresgesundheitsbericht für das Jahr 1907: „Die ländliche Krankenpflege wird von Diakonissen und Ordensschwestern, ferner von sogen. Krankenbesucherinnen und Helferinnen ausgeübt, die theils von den politischen, theils von den Kirchengemeinden angestellt sind, zum Theil aber auch die Pflege in Ausübung freier Liebestätigkeit übernehmen.“ 91 LHAK Best. 441 Nr. 13597, Schreiben der Äbtissin des Klosters Arenberg vom 08. September 1900.

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senz in den Kreisen differierte allerdings sehr stark. Während etwa für die Kreise Adenau und Neuwied zwar je eine Besucherin ausgebildet wurde, diese ihre Stelle aber nicht antraten, wurden für den Kreis Simmern schon vier Besucherinnen ausgebildet, von denen drei in Buch (Bürgermeisterei Kastellaun), Liebshausen (Bürgermeisterei Rheinböllen) und Frankweiler (Bürgermeisterei Simmern) ihre Stellen auch antraten.92 1902 bemerkte der Landrat des Kreises Mayen, dass „eine Ausbreitung der Besucherinnen auf entlegenere Ortschaften im Kreis“ beabsichtigt sei.93 Noch stringenter wurde die Ausbildung von Krankenbesucherinnen offenbar im Kreis Adenau betrieben. Obwohl die erste ausgebildete Krankenbesucherin im Jahr 1900 ihre Stelle nicht angetreten hatte, waren 1902 bereits sieben Krankenbesucherinnen im Kreis tätig. Jedes Jahr sollten nach Aussage des Landrates in Zukunft zwei weitere hinzukommen.94 Diese allgemeine Akzeptanz der Einrichtung und ihre zunehmende Verbreitung ist auch für die folgenden Jahre zu erkennen, wenn auch in den verschiedenen Kreisen in unterschiedlichem Maße. Während etwa im Kreis Prüm 1908 nur eine Krankenbesucherin „in einem weit abgelegenen Gehöfte“ gemeldet war, hatte die Zahl der tätigen Krankenbesucherinnen im Kreis Daun im selben Jahr von sechs auf sieben zugenommen.95 Im Kreis Wittlich waren 1906 drei Krankenbesucherinnen niedergelassen, für 1907 war die Niederlassung weiterer vier vorgesehen. Damit bildeten die Besucherinnen gewissermaßen die Vorläufer des erst 1931 gegründeten Caritas-Kreisverbandes Wittlich.96 Der Kreis Bernkastel wiederum verfügte 1908 nur über fünf Krankenbesucherinnen.97 Besonders eindrucksvoll wird die zahlenmäßige Zunahme der Krankenbesucherinnen – und damit deren Akzeptanz und Bedeutung – im Kreis Bitburg sichtbar.98 Bis 1905 war deren Zahl bis auf sieben gestiegen – von denen allein drei 1904 hinzugekommen waren. Am Ende des Jahres 1906 waren nach Angabe des Kreisarztes insgesamt 14 (!) Krankenbesucherinnen im Kreis tätig – ihre Zahl hatte sich binnen eines Jahres verdoppelt.99 Die grundsätzliche Akzeptanz und Ausbreitung von Krankenbesucherinnen sagt allerdings noch nicht aus, ob diese ihren beabsichtigten Zweck – 92 Ebd.; auch Ebd., Schreiben des Landrates zu Altenkirchen vom 03. Oktober 1900 und Ebd., Schreiben des Landrates zu Ahrweiler vom 19. Oktober 1900. 93 Ebd., Schreiben des Landrates zu Mayen vom 04. Oktober 1902. 94 Ebd., Schreiben des Landrates zu Adenau vom 02. Dezember 1902. 95 LHAK Best. 442 Nr. 3901, S. 443, Nachweisung der im Jahre 1908 im Kreise Prüm tätigen Mitglieder des Caritasverbandes; Ebd., S. 175 Nachweisung der im Jahre 1908 im Kreise Daun tätigen Mitglieder des Caritasverbandes. 96 Schaefer, Caritasverband. 97 LHAK Best. 442 Nr. 3901, S. 37, Nachweisung der im Jahre 1908 im Kreise Bernkastel tätigen Mitglieder des Caritasverbandes. 98 LHAK Best. 442 Nr. 3909, Übersicht der im Kreise Bitburg am Schlusse des Jahres 1905 tätigen Mitglieder des Caritasverbandes. 99 LHAK Best. 442 Nr. 3909, Übersicht der im Kreise Bitburg am Schlusse des Jahres 1906 tätigen Mitglieder des Caritasverbandes. Zwei Jahre später sind es immer noch 13, vgl. LHAK Best. 442 Nr. 3901, S. 107, Übersicht der im Kreise Bitburg am Schlusse des Jahres 1908 tätigen Mitglieder des Caritasverbandes.

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die Verbreitung medizinischer Leistungen auch in abgelegeneren Regionen – tatsächlich erfüllten. Hinweise liefert hier aber der Blick auf die lokale Verteilung der Krankenbesucherinnen in den Schwerpunktkreisen.100 Die vorhandenen Quellen gestatten es, mit den Jahren 1905 für Bitburg und Wittlich beziehungsweise 1908 für Bernkastel einen relativ zeitnahen Vergleich zwischen den Kreisen anzustellen.101 Im Falle Wittlichs zeigt die Karte der Niederlassungsorte von Krankenbesucherinnen und Ärzten, dass die Verteilung der Krankenbesucherinnen auf Binsfeld, Bengel und Osann vor allem die großen Bereiche ohne Arztniederlassung im Westen und Osten des Kreises relativ gut abdeckte.102 Ein ähnliches Bild bietet sich für den Kreis Bitburg. Auch hier verteilten sich die Niederlassungen in Niedergeckler, Neidenbach, Alsdorf, Kottenheim, Roosbüsch, Wiesdorf, Irrel und Fließem in guter räumlicher Ergänzung zu den Ärzten.103 Die für das folgende Jahr erwähnte rasante Zunahme der Zahl der Krankenbesucherinnen hat dieses Netz zweifelsohne noch dichter werden lassen. Die Verteilung der Niederlassungen deutet daraufhin, dass in diesen beiden Kreisen die Funktion der Krankenbesucherinnen als leichterer Zugang zu ärztlich-akademischer Medizin im Vordergrund stand, und diese im Rahmen ihres Aufgabenspektrums relativ eigenständig tätig werden konnten. Ein davon abweichendes Bild zeigt sich hingegen im Kreis Bernkastel. Die angegebenen Niederlassungen von Krankenbesucherinnen in Heinzerath, Graach, Filzen, Rachtig und Neunkirchen zeichneten sich dadurch aus, dass sie durchgehend nahe bei Orten mit Arztniederlassungen lagen. Eine mögliche Erklärung für diese veränderten Verteilungsmuster liegt darin, dass der Kreis Bernkastel besser als die anderen Kreise mit Ärzten versorgt war.104 Die genannte Funktion der Krankenbesucherinnen als Ausgleich mangelnder ärztlicher Präsenz war im Kreis Bernkastel nicht im selben Maße wie in Wittlich oder Bitburg gefordert. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit könnte hier also stärker auf der betreuenden Pflege gelegen haben, was wiederum eine stärkere Präsenz im engeren ärztlichen Wirkungsbereich erforderlich machte.105 Die weitere Entwicklung der Einrichtung der Krankenbesucherinnen ist schwierig nachzuvollziehen. In den wenigen Akten zu den Jahresgesundheitsberichten späterer Jahre wurden die Krankenbesucherinnen nicht mehr erwähnt, was ein Indiz für ihre wieder sinkende Bedeutung ist.106 Einen weiteren Hinweis auf eine stagnierende oder zurückgehende Verbreitung der Kranken100 Siehe dazu die Karten 1–4 im Anhang. 101 Siehe Karte 1–4 im Anhang. 102 Niederlassungsorte aus LHAK Best. 442 Nr. 3914, S. 21, Übersicht über die Krankenbesucherinnen des Charitasverbandes im Kreise Wittlich vom 01. April 1906. 103 Niederlassungsorte aus LHAK Best. 442 Nr. 3909, Übersicht der im Kreise Bitburg am Schlusse des Jahres 1906 tätigen Mitglieder des Caritasverbandes. 104 Vgl. Kapitel 1.3. zur Versorgung um 1905. 105 Ob dieses Muster für den ländlichen Raum als allgemeingültig angesehen werden kann oder seine Begründung in spezifischen Bedingungen des Kreises Bernkastel findet, wird im Kapitel 4 zur abschließenden Bewertung der gesundheitlichen Infrastruktur zu beurteilen sein. 106 Etwa LHAK Best. 441 Nr. 28659, Nr. 28666, Nr. 29286, Jährliche Gesundheitsberichte.

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besucherinnen liefert auch der Jahresgesundheitsbericht des Kreises Adenau von 1902 im Vergleich mit dem entsprechenden Bericht für 1912.107 War in erstem noch enthusiastisch von der Ausbildung von je zwei weiteren Krankenbesucherinnen in den folgenden Jahren die Rede, so hatte sich deren Gesamtzahl im Kreis bis 1912 gegenüber 1902 tatsächlich nur um eine auf acht erhöht. Ein Grund für diese Entwicklung mag im Bedeutungszuwachs professioneller Berufspfleger gelegen haben, der im folgenden Abschnitt untersucht werden soll. Auch die Ausbildung der Caritas-Besucherinnen selbst wurde in steigendem Maße professionalisiert – so durch die Gründung einer eigenen Caritasvereinigung für Landkrankenpflege und Volkswohl als Träger – bis schließlich seit der Zeit des Ersten Weltkrieges praktisch nur noch professionelle, beruflich tätige Landkrankenpflegerinnen ausgebildet wurden.108 Die Einrichtung der Krankenbesucherinnen ist daher in erster Linie als ein Phänomen der Improvisation und des Übergangs auf dem Weg zu einer professionellen medizinischen Versorgung auch des ländlichen Raumes zu bewerten. Konzeptionell gesehen stellten die Caritas-Besucherinnen den Versuch da, die Grundlagen traditioneller Caritas – Unentgeltlichkeit und Tätigkeit um der christlichen Nächstenliebe willen – mit den wachsenden Ansprüchen an eine medizinisch fundierte Krankenpflege zu verbinden. 2.2.2. Von der Schwester zur Schwester: Ordensleute, „Heilgehülfen“ und die Professionalisierung der Krankenpflege Ordensniederlassungen Auch vor den Krankenbesucherinnen hatte es Personengruppen – in erster Linie Frauen – und Institutionen gegeben, die sich in Ergänzung zu den Ärzten mehr mit der begleitenden Pflege und Nachsorge als der konkreten Behandlung von Kranken beschäftigten.109 Die im hier untersuchten Raum zweifelsohne wichtigste Einrichtung waren die Niederlassungen von Ordensleuten – vor allem Ordensschwestern – die sich in erster Linie der ambulanten Krankenpflege im Umkreis ihrer Niederlassung widmeten und bis zur Jahrhundertwende hier im untersuchten Gebiet ein alleiniges Betätigungsfeld besaßen.110 107 LHAK Best. 441 Nr. 13681, Jahresgesundheitsbericht für den Kreis Adenau 1912 und LHAK Best. 441 Nr. 13597, Schreiben des Landrates zu Adenau vom 02. Dezember 1902. 108 Reininger, Landkrankenpflege, S. 27–30. 109 Zu karitativen Frauenkongregationen allgemein Gatz, Krankenpflege, insbes. S. 411–433 für die hiesige Region, und Meiwes, Arbeiterinnen, sowie stärker als Quellensammlung angelegt Panke-Kochinke, Krankenpflege. Brockliss und Jones betonen für die französischen Verhältnisse die Bedeutung der 1633 von Vincent de Paul und Louise de Marillac gegründeten „Daughters of Charity“, die Frauen ein anerkanntes eigenes Tätigkeitsspektrum außerhalb der Haushaltssphäre eröffnete. Brockliss/Jones, Medical World, S. 269. 110 Dazu für den hiesigen Raum vor allem Althammer u.a., Armenfürsorge. Entsprechende Äußerungen zu Beginn der 1880 Jahre siehe Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 165–171. Vergleichbar auch Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 291f.

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Vornehmlich zu nennen sind hier die Gemeinschaft der „Franziskanerinnen der Allerseligsten Jungfrau Maria von den Engeln“, nach dem Ort ihres Mutterhauses auch als Waldbreitbacher Franziskanerinnen bezeichnet, die 1840 gegründete Kongregation der „Armen Dienstmägde Jesu Christi“ und der 1856 begründete Orden der „Barmherzigen Brüder“, dessen Angehörige sich bereits früh durch eine „kurze, aber sachverständige Ausbildung“ in der Krankenpflege auszeichneten.111 Für den Regierungsbezirk Trier ist zudem die weit überwiegende katholische Trägerschaft hervorzuheben. 1888 standen in der Krankenpflege hier 514 katholischen Ordensleuten in 42 Niederlassungen auf evangelischer Seite gerade einmal 12 Diakonissinnen in vier Niederlassungen gegenüber.112 Die hohe Bedeutung der Krankenfürsorge in der Arbeit der Orden resultierte zu einem gewissen Teil aus dem preußischen Krankenpflegegesetz von 1875.113 In diesem hatte die preußische Regierung alle geistlichen Orden mit Ausnahme der Krankenpflegeorden für aufgelöst erklärt und „die Kongregationen gleichsam in die Krankenpflege gedrängt“.114 Dennoch blieb der religiöse Aspekt im karitativen Handeln der Orden bestimmend.115 Zu Beginn der 1880er Jahre waren Niederlassungen der Orden meist in den Hauptorten der Kreise zu finden, einzelne Kreise – etwa Bernkastel – verfügten bereits über zwei oder mehr Orte mit Niederlassungen.116 Zu Beginn der 1890er Jahre hielt der Prümer Kreisarzt in seinem Bericht fest, dass sich nun schon „in fast allen größeren Ortschaften der Eifel (…) Niederlassungen von katholischen, geistlichen Ordensschwestern finden“.117 Im Kreis Bitburg bestanden 1891 zwei Niederlassungen in Bitburg mit sieben Schwestern und in Neuerburg mit vier Schwestern, die zumindest im Bericht des Jahres 1880 noch nicht verzeichnet waren.118 Eindeutig festzustellen ist eine Zunahme der Niederlassungszahlen wie auch der darin beschäftigten Ordensangehörigen für den Kreis Wittlich. War 1880 nur eine Niederlassung in Wittlich selbst mit insgesamt drei Schwestern vorhanden, so gab es 1905 neben den Schwestern in Wittlich fünf weitere Niederlassungen in Kröv, Ürzig, Piesport, Mander111 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 68–70.; Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 289 (Zitat); Althammer u.a., Armenfürsorge, S. 547. 112 LHAK Best. 442 Nr. 3139, Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinal-Wesen im Regierungsbezirk Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1886, 1887 und 1888, S. 39ff. 113 Dazu Gatz, Krankenpflege, S. 585–591. 114 Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 285. 115 Althammer u.a., Armenfürsorge, S. 569. Der im Ganzen expansive Charakter der katholischen Kongregation war dabei kein allein deutsches Phänomen, sondern wurde auch in anderen Gegenden Europas sichtbar. Vgl. zu den Verhältnissen in Irland Althammer u. a., Armenfürsorge, S. 552. 116 Entsprechende Äußerungen zu Beginn der 1880 Jahre siehe Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 169, Nachweisung der Ordensschwestern im Regierungsbezirk Trier. Eine Besonderheit – wohl bedingt durch die Nähe der katholischen Bischofsstadt Trier – bildete der Kreis Trier-Land mit insgesamt 7 Niederlassungen. 117 LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Kreis Prüm für das Jahr 1890. 118 LHAK Best. 442 Nr. 3894, Sanitätsbericht für den Kreis Bitburg für das Jahr 1891.

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scheid und Buchholz mit insgesamt 24 Schwestern und fünf Brüdern.119 Obwohl die Quellen eine allgemein zunehmende Verbreitung von Ordensniederlassungen und damit eine quantitativ bessere Pflegeversorgung der Landbevölkerung erkennen lassen, verlief diese Entwicklung doch nicht überall in gleichem Maße, sondern konnte sich von Kreis zu Kreis unterschiedlich entwickeln.120 So verfügte der Kreis Simmern noch im Jahr 1900 nur über je eine katholische und evangelische Niederlassung mit jeweils drei Schwestern.121 Bis 1912/1913 hatten sich diese Zahlen mit jeweils vier katholischen Schwestern in Biebern und Kastellaun sowie drei Schwestern in Simmern und zweien in Kirchberg auf evangelischer Seite fast verdoppelt.122 Einblicke in die Beweggründe für derartige Niederlassungen bieten erhaltene Korrespondenzen im Umfeld von Neugründungen in den Gemeinden Buch und Kastellaun im Kreis Simmern. In der Gemeinde Buch forderte der Bürgermeister in Kastellaun den Gemeinderat auf, „für eine Krankenpflegerin Sorge zu tragen“.123 Konkreter Anlass des Schreibens war der Tod einer jungen Mutter wenige Wochen zuvor, die „wegen Mangel eines fachkundigen Ratgebers vor Ort am Orte zu spät ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hat“. Die Niederlassung von Schwestern wurde deshalb befürwortet, da „bei den für unsere kleinbäuerlichen Verhältnisse unerschwinglichen Arbeitslöhnen in Krankheitsfällen die weiblichen Mitglieder der Familien ihren Angehörigen nur wenig Pflege angedeihen lassen können.“ Zudem hätten die Schwestern der bereits bestehenden Niederlassung in Kastellaun „einen beschwerlichen Weg“ und seien „schon mit Arbeit überladen“.124 Auch die Schwesternniederlassung in Kastellaun war vom dortigen katholischen Kirchenvorstand mit dem „dringenden Bedürfnis für die Einrichtung“ begründet worden.125 Die Niederlassung der Waldbreitbacher Schwestern in Lieser 1869 wiederum resultierte aus einer Anfrage des dortigen Pfarrers im Mutterhaus des Ordens,

119 LHAK Best. 442 Nr. 3914, Jahresbericht des Kreisarztes für das Jahr 1905. Für die Nachbarkreise werden weitere Niederlassungen in Lieser (Kreis Wittlich), Speicher, Bitburg (beide Kreis Bitburg) und Schweich (Kreis Trier-Land) erwähnt. Vgl. auch Ebd., Jahresbericht des Kreisarztes für das Jahr 1906; Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 177. 120 Der Bezug auf den Kreis ist dabei alleine durch die Aktenprovenienz bestimmt und nicht zwingend in ursächlichem Zusammenhang mit der unterschiedlichen Verbreitung zu sehen! 121 LHAK Best. 441 Nr. 13675, Sanitätsbericht für den Kreis Simmern für das Jahr 1900, S. 742f. 122 LHAK Best. 441 Nr. 13681, Sanitätsbericht für den Kreis Simmern für das Jahr 1912; Ebd. Nr. 13682, Sanitätsbericht für den Kreis Simmern für das Jahr 1913. Hinzu kamen noch 10 Krankenpfleger in den Krankenhäusern in Simmern und Rheinböllen sowie vier Gemeindepflegerinnen des Kreises in Klosterchumbd, Gemünden, Kappel und Kastellaun. 123 LHAK Best. 655,14 Nr. 893, Schreiben des Gemeinderates von Buch an das Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 28. März 1914. 124 Alle Zitate Ebd. 125 Ebd., Schreiben des Landrates an den Bürgermeister in Kastellaun zur Niederlassung in Kastellaun vom 24. April 1910.

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nachdem kurz zuvor eine Choleraepidemie die mangelhafte Krankenversorgung hatte deutlich werden lassen.126 Damit lässt sich als Motiv für die Etablierung von Schwesternniederlassungen zunächst ein offensichtlich bestehender Bedarf an Pflegeleistungen konstatieren. Dabei spielte die Unentgeltlichkeit der Hilfe offensichtlich eine wichtige Rolle, wie die entsprechende offene Darstellung des Bucher Gemeinderates belegt.127 Demgegenüber muss der Verweis auf die nötige medizinische Kompetenz nicht zwingend bedeuten, dass tatsächlich eine professionellere medizinische Versorgung gefordert wurde. Der Gebrauch des Arguments ist aber sicherlich ein Beleg dafür, dass der Diskurs um medizinische Professionalität zu diesem Zeitpunkt bereits im ländlichen Raum angekommen war und gegebenenfalls instrumentell genutzt werden konnte, um Interessen wie eine kostengünstige Pflegehilfe durchzusetzen. Angesichts fehlender Überlieferungen aus anderen Orten können die beiden Beispiele lediglich exemplarischen Charakter haben. Dennoch zeigt die Tatsache, dass in beiden Fällen die Initiative zur Etablierung einer Ordensniederlassung nicht von höheren Behörden oder den Orden, sondern von der politischen beziehungsweise konfessionellen Ortsgemeinde ausging, dass die Landbevölkerung selbst eine dezidiert positive Einstellung zu den Ordensniederlassungen und ihren Leistungen besaß und ihr Interesse an solchen Niederlassungen aktiv durchzusetzen suchte.128 Weltliche Pflegerinnen und Krankenpflegeausbildung Die Ordensleute erhielten ihre notwendige Ausbildung innerhalb der Orden selbst, wobei bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eher charakterliche Schulungen und „Mütterlichkeit“ im Vordergrund standen. Eine formalisierte Ausbildung des Krankenpflegepersonals bildete sich dagegen erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus und verdrängte bestehende nichtärztliche Berufsbilder.129 Exemplarisch verdeutlichen lässt sich dies am Beispiel der sogenannten Heildiener und Heilgehilfen. Im Rahmen der Freigabe der Heilkunde durch die Norddeutsche Gewerbeordnung 1869 war deren Lizenzierung zur Ausführung kleinerer chirurgischer Operationen zum Nachweis einer entsprechenden Befähigung umgewandelt worden.130 Nach Ablegen einer entsprechenden Prüfung wurde ihnen das Recht verliehen, sich als „geprüfter Heildiener“ zu 126 Althammer u.a., Armenfürsorge, S. 556–558. 127 Ebenso Gatz, Krankenpflege, S. 584–585. 128 Die Initiative zur Gründung des Klosters zur Heiligen Familie in Bernkastel, einem Haus der Armen Dienstmägde Jesu Christi ging beispielsweise von einem privaten Spender aus. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 179. 129 Bischoff-Wanner, Krankenpflege; Hummel, Krankenpflege; Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 299. 130 LHAK Best. 403 Nr. 11058, S. 277–280, Erlass der Regierung zu Düsseldorf vom 18. Oktober 1870.

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bezeichnen. Die „Ertheilung einer Concession und (…) Prüfung eines ärztlichen Bedürfnisses für die Ansetzung von Heildienern“ war dabei nicht mehr notwendig, prinzipiell konnte sich also jeder Interessent entsprechend prüfen lassen.131 Ehemalige Angehörige des militärischen Sanitätsdienstes konnten die entsprechende Berechtigung bei Nachweis fünfjähriger „vorzüglich guter“ Dienstleistung durch ihren vorgesetzten Arzt erhalten.132 Wie gezeigt, bildete diese Gruppe einen wichtigen Teil der Laienheiler.133 Indem ihnen eine legale Tätigkeit im Rahmen ihrer erworbenen Kenntnisse geboten wurde, die jedoch staatlich zertifiziert wurde, erhielten die Angehörigen dieser Gruppe einerseits die Möglichkeit, ihr Können nutzbringend anzuwenden, gleichzeitig wurde aber die staatliche und – über die praktische Umsetzung der Kontrolle – auch die ärztliche Urteilshoheit über medizinische Kompetenzen gestärkt. 1903 wurden Kontrolle und Aufsicht der Heildiener von staatlicher Seite mit einem Erlass des Ministers für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten nochmals intensiviert.134 Neben einer allgemein detaillierteren Ausführung der Prüfungsvorschriften verdeutlichte vor allem das explizite Kontrollrecht der Kreisärzte bezüglich der Tätigkeit der Heiler und die Einführung einer obligatorischen Nachprüfung nach fünf Jahren den weitergewachsenen Regelungsanspruch staatlicher Instanzen. Angehörige vorgebildeter Berufe wie der „geprüften Heiler“ erhielten zunächst erleichterte Bedingungen für den Erwerb der neuen Qualifikationsstufe.135 Aber bereits wenige Jahre später folgte ein Erlass des Innenministers, der bestimmte, „dass in Zukunft staatliche Prüfungen für Heilgehilfen und Masseure nach den Vorschriften vom 18. Februar 1903 (…) nicht mehr abzuhalten und entsprechende Zeugnisse nicht mehr zu erteilen sind.“136 Das entsprechende Berufsbild war „nach Einführung der staatlichen Prüfung für Krankenpflegepersonen“ obsolet geworden, da diese einen Großteil der Aufgaben der Heilgehilfen übernahmen.137 Trotz ihrer Förderung scheinen die „neuen“, nicht ordensgebundenen Pfleger in der Krankenpflege des hier untersuchten ländlichen Raumes zunächst keine große Rolle gespielt zu haben. Die Umfrage unter den Regierungspräsidenten hat zum Ergebnis, dass zwischen 1903 und 1909 in den Regierungsbezirken Koblenz und Trier lediglich sechs, beziehungsweise fünf Per131 Ebd. 132 Ebd. 133 Siehe Kapitel 1.6.3. 134 LHAK Best. 403 Nr. 11056, S. 155ff., Schreiben des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten an die Regierungspräsidenten vom 18. Februar 1903. 135 Ebd., S. 159–164. 136 LHAK Best. 403 Nr. 11506, S. 291, Schreiben des Innenministers vom 04. Dezember 1911. 137 Der Vorgang zeigte sich im Übrigen als Reaktion gesetzlicher Neuregelungen auf veränderte Bedingungen der gesellschaftlichen Praxis. Der entsprechende Erlass folgte auf eine umfassende Erhebung unter den Regierungspräsidenten zur gewandelten Lage der verschiedenen Heilerklassen. Siehe Ebd.

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sonen die neue Prüfung abgelegt haben.138 Als Begründung für die zurückhaltende Annahme des neuen Berufsbildes in den ländlichen Regierungsbezirken wurde besonders auf die dortigen Ordenstätigkeiten verwiesen: Die geringe Zahl erklärt sich durch die zahlreichen Krankenpflegeorden, deren Mitglieder auch ambulant tätig sind. Aber gerade, weil diese nicht von jedermann gewünscht werden, sind die weltlichen Heilgehilfen nötig, namentlich in den industriellen Bezirken.139

Die nach wie vor dominante Rolle der konfessionellen Krankenpfleger zeigte sich auch in den Zahlenverhältnissen von weltlichen und konfessionellen Pflegern. So waren im Kreis Cochem 1913 vier Heilgehilfen, aber rund 20 Schwestern und 18 Krankenbesucherinnen der Caritas tätig.140 Im Kreis Simmern gab es 1912 immerhin drei staatlich geprüfte Heilgehilfen und vier Gemeindepflegerinnen gegenüber 13 pflegerisch tätigen Ordensschwestern.141 Noch im Gesundheitsbericht des Jahres 1932 für die Gemeinde Bitburg-Land verzeichnet der Kreisarzt lediglich eine staatlich geprüfte Krankenpflegerin gegenüber vier nicht geprüften Pflegerinnen und fünf Krankenbesucherinnen des Caritasverbandes.142 Bezeichnenderweise spielten die konfessionellen Einrichtungen auch in der Ausbildung nicht-konfessioneller Krankenpfleger eine wichtige Rolle. So bot die Caritasvereinigung 1926 eine Vielzahl von Kursen für verschiedene Fürsorgezweige an, darunter einen „Lehrgang zur Ausbildung von Landkrankenpflegerinnen“.143 In einem ersten Teil sollten die Teilnehmerinnen sechs Wochen zur theoretischen Ausbildung im Caritashaus in Arenberg bleiben, bevor sie im Anschluss daran für vier Monate zu „praktischen Übungen“ in Krankenhäuser gingen. Dass diese Kurse staatlicherseits anerkannt wurden, lässt sich aus der Möglichkeit erschließen, zu den Kosten einen Kreis- und Gemeindezuschuss von insgesamt bis zu 2/3 der Kosten zu bekommen.144 Welchen Einfluss auf die Gestaltung der Krankenpflegeversorgung die Beteiligung an der Ausbildung der Pfleger den konfessionellen Einrichtungen eröffnete, zeigt die Formulierung der Aufnahmebedingungen:

138 Bemerkenswert sind diese Zahlen vor allem im Vergleich mit den entsprechenden Zahlen der „städtischen“ Regierungsbezirke Köln und Düsseldorf von 109 bzw. 42 abgelegten Prüfungen. 139 LHAK Best. 403 Nr. 11056, S. 173–191. Zusammenstellung der Ergebnisse der Umfrage unter den Regierungspräsidenten zur Abänderung oder Aufhebung der Heilgehülfenverordung. 140 LHAK Best. 441 Nr. 13682, Jahresgesundheitsbericht für den Kreis Cochem 1913. 141 LHAK Best. 441 Nr. 13681, Jahresgesundheitsbericht für den Kreis Simmern 1912. Vgl. auch Best. 403 Nr. 7438, Bericht des Regierungspräsidenten Trier zur Krankenpflege auf dem Lande vom 23. Mai 1905, S. 273–277. 142 LHAK Best. 655,191 Nr. 171, Gesundheitsbericht Bitburg-Land für 1932. 143 LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Kursprogramm der Caritasvereinigung für die Landkrankenpflege vom 01. August 1926. Andere Kurse befassten sich mit Säuglingsfürsorge, Desinfektion, allgemeine Fürsorge oder Kindergartenpraxis. 144 Hinzu kam ein Zuschuss der Landesversicherungsanstalt. Vgl. dazu Kapitel 2.4.

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Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung Zugelassen werden Jungfrauen aus Orten ohne klösterliche Niederlassung, die in dieser Gemeinde selbst pflegen wollen oder doch eine derartige bestimmte Gemeinde in Aussicht haben, die sie anstellen will. Sie müssen wenigstens 21 Jahre und von tadelloser Führung sein.145

Die Bedingung, aus Orten ohne Klosterniederlassung zu stammen, förderte zwar einerseits die Verbreitung gutausgebildeter Krankenpflegerinnen in bisher unversorgten Gebieten, stärkte aber zugleich die dominante Stellung der konfessionellen Pflege an denjenigen Standorten, die selbige bereits alleine versorgte. Die Kurse zur Landkrankenpflegerinnenausbildung wiesen große strukturelle Ähnlichkeiten mit den Ausbildungskursen der Krankenbesucherinnen auf.146 Beide bestanden aus einem theoretischen Teil, der jeweils im Kloster Arenberg abgehalten wurde; in beiden Fällen gingen die Teilnehmerinnen dann in dieselben Krankenhäuser in den praktischen Teil der Ausbildung.147 Dabei war nach den Absichten der Initiatoren die zugrundeliegende Motivation verschieden. Lag der Idee der Krankenbesucherin das Ideal der unentgeltlichen, aus christlicher Nächstenliebe motivierten karitativen Betätigung zugrunde, zielte die Ausbildung zur Landkrankenpflegerin sehr wohl auf eine berufliche – und damit nicht mehr unentgeltliche – und professionell vorbereitete Dienstleistung der Pflegerinnen ab. In der Praxis überlagerten sich diese beiden ‚Berufsbilder’ jedoch offenbar.148 So wurde etwa die Krankenbesucherin Magdalena Niederprüm in der Gemeinde Rittersdorf in den kreisärztlichen Berichten einmal als Krankenpflegerin, dann wieder als Krankenbesucherin geführt.149 Dass das ähnliche Erscheinungsbild der beiden Ausbildungsgänge selbst medizinische Experten zu Verwechslungen verleitete, verdeutlichen die Bemerkungen des Bitburger Kreisarztes zur Ausbildung der Krankenbesucherinnen, in denen er diese offenbar mit dem auf die berufliche Tätigkeit hin gerichteten Ausbildungsgang der Landkrankenpflegerin gleichsetzte: Am Schlusse des Jahres waren 14 vorhanden, von denen 2 eine 8monatliche Ausbildung genossen haben. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich davon zu überzeugen, ob die

145 LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Kursprogramm der Caritasvereinigung für die Landkrankenpflege vom 01. August 1926. 146 Mangels erhaltener Ausbildungsvorschriften o.ä. für die Ausbildung der Landkrankenpflegerinnen in den eingesehenen Beständen war ein Vergleich der Ausbildungsinhalte nicht möglich. 147 LHAK Best. 441 Nr. 28666, Jahresgesundheitsbericht für den Regierungsbezirk Koblenz 1907 vom 25. Juni 1908. Vgl. auch LHAK Best. 442 Nr. 3914, Übersicht über die Krankenbesucherinnen des Charitasverbandes im Kreise Wittlich vom 01. April 1906. 148 Vergleichbar mag in der heutigen Zeit die Ähnlichkeit im Erscheinungsbild von „Rettungshelfern“ als nichtberufliche Fortbildung im freiwilligen Rettungsdienst und „Rettungssanitätern“ als Ausbildungsberuf sein. 149 LHAK Best. 655,191 Nr. 171, Gesundheitsberichte für den Kreis Bitburg-Land, insbes. 1922, 1926–1928.

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beiden weniger zu Ausständen Veranlassung geben, als die übrigen, welche nur 6 Wochen Unterricht erhalten haben.150

Obwohl also bereits 1909 der Anspruch staatlicherseits der Anspruch formuliert worden war, eine professionelle und konfessionell ungebundene Krankenpflege zu etablieren, blieb die Dominanz der konfessionellen Krankenpflege im Untersuchungsraum über deren Engagement in der Ausbildung der professionellen Helfer und die äußere Ähnlichkeit mit bekannten, nicht professionalisierten Ausbildungsgängen auch in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts bestehen. Pflegestationen War ein neues Schwesternhaus von der bischöflichen Behörde und dem für Medizinalangelegenheiten zuständigen Ministerium genehmigt worden, bezogen die für die Einrichtung vorgesehenen Schwestern die neue Niederlassung. Die Krankenpflege wurde von dort aus dann ambulant geleistet, die Pfleglinge wurden also von den Schwestern aufgesucht, eine stationäre Pflege im Gebäude der Niederlassung selbst war nicht üblich.151 Das Wirkungsgebiet orientierte sich an den Grenzen der kirchlichen oder politischen Gemeinden, konnte aber auch über einzelne Gemeinden hinausreichen.152 Im Zuge staatlicher Bestrebungen, die Krankenpflege und gesundheitliche Versorgung zu verbessern, diskutierten Verantwortliche die Errichtung von Pflegestationen in größeren ländlichen Ortschaften. In einem Vortrag vor Medizinal- und Verwaltungsbeamten des Regierungsbezirks Trier bezeichneten der Landrat des Kreises Merzig und der dortige Medizinalrat Dr. Vieson 1913 die „Einrichtung einer geordneten Krankenpflege (…) in ländlichen Kreisen [als] ein unabweisbares Bedürfnis“.153 Für die konkrete Umsetzung empfahlen sie eine Anpassung an die jeweiligen lokalen Gegebenheiten, etwa durch den Einbezug bereits bestehender Anstalten. Diese Maßgabe prädestinierte bereits bestehende Ordensstationen dazu, als Kerne und Knotenpunkte der erstrebten einheitlichen und gleichmäßigen ländlichen Krankenpflege zu fungieren. Der 150 LHAK Best. 442 Nr. 3909, Kreisarztbericht des Kreises Bitburg für 1906. 151 Vgl. LHAK Best. 655,14 Nr. 893, Schreiben des Gemeinderates von Buch an das Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 28. März 1914; Ebd., Schreiben des Landrates an den Bürgermeister in Kastellaun zur Niederlassung in Kastellaun vom 24. April 1910; Ebd. Schreiben des Ministeriums für geistliche, Unterrichtsund Medizinalangelegenheiten an den Regierungspräsidenten zu Koblenz betreffend Genehmigung zur Gründung einer Niederlassung in Kastellaun vom 06. August 1910. 152 LHAK Best. 655,14 Nr. 893, Schreiben des Regierungspräsidenten zu Koblenz an den Landrat zu Simmern betreffend Tätigkeitsgebiet der Schwestern vom 13. Januar 1915; Ebd. Schreiben des Landrats zu Simmern an den Regierungspräsidenten zu Koblenz vom 19. Januar 1915. Letzteres enthält detaillierte Angaben der Entfernungen von den einzelnen Orten des Gebietes nach Kastellaun. 153 KAB-W 1.0.204 Bd. I, Einheitliche Versorgung der Kreise mit Krankenpflegepersonen, insbesondere mit Gemeindeschwestern, Tischvorlage zum Vortrag vom 20. Dezember 1913.

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weitergehende Gestaltungsanspruch der staatlichen Stellen zeigte sich daran, dass über die bloßen Einbezug der bereits bestehenden Einrichtungen hinaus auch eine allmähliche Ausweitung der Aufgaben von der reinen Krankenpflege auf Desinfektion, Tuberkulose- und Säuglingsfürsorge vorgesehen war.154 Die Krankenpflegestationen wurden somit konzeptionell und in der konkreten Ausgestaltung zu Vorgängern der späteren Fürsorgestellen der Weimarer Republik.155 Zudem sollte das Pflegepersonal in den Stationen ärztlicher Aufsicht unterstehen. In der Praxis scheinen sich die Gemeinden im Wesentlichen auf Zuschusszahlungen an bestehende Einrichtungen beschränkt zu haben.156 Dies bot ihnen zwar den Vorteil, in Zeiten knapper Finanzmittel die eigenen Beiträge senken zu können, war auf diese Weise aber eine stete Bedrohung für den Bestand der Stationen. Lediglich für den Kreis Wittlich sind 1912 in Niederöfflingen, Meerfeld und Bengel Krankenpflegestellen nachweisbar, die offenbar nicht von Ordenschwestern besetzt waren.157 Der weitere Ausbau dieser Einrichtungen ist schwer nachzuvollziehen, scheint aber tatsächlich in größerem Umfang vorgenommen worden zu sein. Für den Kreis Wittlich weist ein Verwaltungsbericht für 1931 insgesamt 32 „Landkrankenpflegestellen“ aus.158 Das gewachsene Aufgabenspektrum der Krankenpflegestationen und die Bedeutung, welche sie am Beginn der 1930er Jahre für den ländlichen Raum gewonnen hatten, beschrieb der Landrat des Kreises Bitburg 1932: Die Krankenpflegestationen auf dem Lande sind jedoch unerlässlich und zwar: a) zur sachgemäßen Pflege in Krankheitsfällen b) zur ersten Hilfeleistung bei Unglücksfällen c) zur Mitarbeit bei der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit und der Volkskrankheiten d) zur Versorgung und Pflege der Alten und Siechen.159

Übernommen worden war zumindest in diesem Falle auch das Prinzip der unentgeltlichen Leistungen von Seiten der Station. Angesichts der finanziellen Bedrohung sollte nun zumindest den wohlhabenderen Nutzern ein Beitrag abverlangt werden: Vor allen Dingen ist es notwendig, die Heranziehung gut situierter Kranken zur Zahlung einer Vergütung für die Inanspruchnahme der Pflegestation zu prüfen, da nach meiner Ansicht die Pflegerin viele Dienste an derartigen Bevölkerungskreisen versieht, ohne 154 Ebd. 155 Vgl. Kapitel 3.1. 156 LHAK Best. 655,14 Nr. 826, Schreiben des Bürgermeisters von Kastellaun an den Vorsitzenden des Kreisausschusses betreffend Zuschüsse zu Kreiskrankenpflegestationen vom 14. Juni 1922. 157 Kreisverwaltung Wittlich, Verwaltungsbericht. 158 KAB-W 2.0.147, Verwaltungsbericht 1931. 159 LHAK Best. 655,191 Nr. 171, Schreiben des Landrates des Kreises Bitburg an den Bürgermeister der Bürgermeisterei Bitburg-Land vom 12. Juli 1932. Das Schreiben behandelt eine mögliche Übernahme der bisher von der Landesversicherungsanstalt gezahlten Unterhaltsbeiträge zum Betrieb der Station auf die Gemeinden. Zum Engagement der LVA in diesem Bereich siehe Kapitel 2.4.

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hierfür eine Vergütung zu erhalten. Wenn schon die Notwendigkeit des Vorhandenseins einer Pflegestation anerkannt wird und hierfür Mittel der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden, so ist es notwendig, für alle Leistungen der Pflegestation an solchen Personen, die kein Anrecht auf eine kostenlose Inanspruchnahme einer öffentlichen Einrichtung haben, eine den Leistungen angepasste Vergütung zu verlangen.160

Diese Aussage macht deutlicht, dass die Einrichtung von Krankenpflegestationen ursprünglich nicht allein auf die armenfürsorgeberechtigte Bevölkerung ausgerichtet war, diese aber von einer allgemeinen Förderung der ländlichen Gesundheitsversorgung profitierte. Im Ganzen gesehen beruhte die ländliche Krankenpflege bis in das 20. Jahrhundert hinein im ländlichen Raum der südlichen Rheinprovinz praktisch ausschließlich auf Niederlassungen von überwiegend katholischen Ordensleuten, die betroffene Pfleglinge ihres Sprengels ambulant versorgten. Auf staatlicher Seite zeigte sich in der zunehmenden Regulierung krankenpflegerischer Berufsbilder der Anspruch auf Aufbau und Kontrolle einer professionalisierten Krankenpflege. In der Praxis gelang es zwar, die ärztlichen und medizinalpolizeilichen Aufsichtsrechte stärker zu machen, über das eigene Angebot entsprechender Ausbildungen blieben die konfessionellen Anbieter aber auch hier bestimmend. Das Konzept von Gemeindepflegestationen als Basis der Krankenpflege im ländlichen Raum wies nicht nur in seiner theoretischen Gestaltung Parallelen zu den bestehenden konfessionellen Niederlassungen auf, sondern wurde in der Praxis auch unter Rückgriff auf die bestehenden Strukturen umgesetzt und trug somit dazu bei, die dominierende Stellung der konfessionellen Krankenpflege auch in die 1930er Jahre hinein zu erhalten. 2.2.3. Von den Schwierigkeiten, ein Netz zu knüpfen: „Margaretenspenden“ und „Sanitätskolonnen“ Die zuvor geschilderten Versuche, die ländliche Gesundheitsversorgung zu verbessern, hatten – unabhängig von ihrer Ausgestaltung im Einzelfall – strukturell darauf abgezielt, die Zahl fachlich ausgebildeter Personen auf dem Land zu erhöhen und ihre gleichmäßige Verteilung zu fördern. Die im folgenden beschriebenen Maßnahmen hatten demgegenüber die Absicht, Materialien und Geräten medizinischer Hilfe zu verbreiten und den Zugang zu gesundheitlicher Hilfe über einen verbesserten Transport betroffener Personen zu erleichtern. Die „Margaretenspende“ Ende des Jahres 1902 berichteten die Landräte des Regierungsbezirks Koblenz, inwiefern für ihre Kreise die Anschaffung von Geräteschränken im Rahmen der sogenannten Margaretenspende notwendig oder erwünscht sei.161 Die 160 Ebd. 161 LHAK Best. 441 Nr. 13750. Woher der Name „Margaretenspende“ und die finanziellen Mittel stammten, ist aus den erhaltenen Akten nicht mehr zu erschließen. Da nach den

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Idee war, „die für die Krankenpflege erforderlichen Gegenstände der ärmeren Landbevölkerung leicht und unentgeltlich zugänglich zu machen“.162 Nicht die Ausbildung von medizinischem Personal, sondern die Verbreitung von Geräten und Materialien stand im Mittelpunkt der Initiative. Ausgestattet waren die Geräteschränke einerseits mit im engeren Sinne medizinischen Geräten wie „Inhalationsapparaten“ oder einer „Nasensonde“; andererseits enthielten die Ausstattungslisten auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die in diesem Falle lediglich im Kontext einer Krankenpflege genutzt wurden.163 Die Landräte lehnten die Anschaffung der Geräteschränke fast durchgehend ab.164 Lediglich in Kreuznach und Cochem sprachen sie sich jeweils für eine Anschaffung in einzelnen, explizit benannten Ortschaften aus, welche offenbar besonders ungünstig gelegen waren.165 Fast alle Landräte bezogen sich zudem erkennbar auf eine entsprechende Stellungnahme des jeweiligen Kreisarztes. Dementsprechend verwundert es nicht, dass die fehlende Sachkunde im Gebrauch der Geräte einer der zentralen Ablehnungsgründe war, ähnlich wie Hinweise auf mangelnde Möglichkeiten der Reinigung und Desinfektion der Geräte nach Gebrauch.166 In mehreren Fällen wurden von Seiten der Berichterstatter Modifikationen an Ausstattung und Verwendung der Geräteschränke vorgeschlagen. Der Kreuznacher Kreisarzt plädierte etwa dafür, einige Geräte mit der Aufschrift „Nur für Arzt“ zu versehen, der Altenkirchener Kreisarzt sprach sich für eine Beschaffung in Gemeinden mit Krankenhaus aus, um einerseits die Desinfektion der Geräte und andererseits eine fachkundige Aufsicht durch die dortigen Schwestern zu gewährleisten.167 Der Mayener Landrat befürwortete eine Verbreitung der Geräteschränke, da Teile der vorgesehenen Ausstattung für die Berichten der Landräte einzelne Gemeinden die Beschaffung von Geräten und die Übernahme deren laufender Unterhaltskosten ablehnten, handelte es sich vermutlich um ein Programm, welches finanzielle Mittel als Anschubfinanzierung für die Beschaffung von Geräten zur medizinischen Behandlung und Krankenpflege bereitstellte. 162 Ebd., Schreiben des Landrates des Kreises Koblenz-Land vom 27. November 1902. 163 Ebd., Schreiben des Landrates des Kreises Altenkirchen vom 16. November 1902. Die darin geführte Inhaltsliste umfasst je einen „Eisbeutel, Steckbecken, Luftkissen, GummiUnterlage, Weinflasche, Wärmflasche von Zink, Sandspucknapf mit Trichter, Irrigator, Gummi-Bettpfanne, eisernes Closet mit Rücklehne, Liegekissen mit Schlitz, Inhalationsapparat, Kinderbadewanne“. Nach dem Schreiben des Landrates des Kreises Kreuznach vom 12. November 1902 waren zudem „Nasensonde, Magenpumpe und ‚männliche’ Katheter“ Teile der Ausstattung. 164 Etwa Ebd., Schreiben des Landrates des Kreises Ahrweiler vom 13. November 1902; Schreiben des Landrates des Kreises Adenau vom 02. Dezember 1902. 165 Ebd., Schreiben des Landrates des Kreises Kreuznach vom 12. November 1902, darin genannt die Orte Kirn und Stromberg; Schreiben des Landrates des Kreises Cochem vom 09. Dezember 1902, darin genannt der Ort Moersdorf bei Mitbenutzung durch Lahr und Zilkhausen. 166 Ebd., insbes. Schreiben des Landrates des Kreises Meisenheim vom 01. September 1902 und Schreiben des Landrates des Kreises Kreuznach vom 12. November 1902. 167 Ebd., Schreiben des Landrates des Kreises Kreuznach vom 12. November 1902; Schreiben des Landrates des Kreises Altenkirchen vom 16. November 1902.

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Krankenbesucherinnen der Caritas von Nutzen sein könnten.168 Gemeinsam war allen diesen Vorschlägen, dass sie die Benutzung der Geräteschränke an fachkundiges Personal binden wollten. Dieses entsprach allerdings nicht mehr der ursprünglichen Intention der Initiative, durch die Bereitstellung der Geräte gerade Laien die kostenlose und eigenständige Nutzung derselben zu ermöglichen. Eine sehr differenzierte, aber vom ursprünglichen Ziel ebenfalls abweichende Modifikation erschien im Schreiben des Landrates des Kreises Koblenz-Land, der auf die Bereitstellung von Verbrauchsmaterialien und einfachen Hilfsmitteln anstelle vergleichweiser komplexer medizinischer Gerätschaften abzielte169, oder die bereitgestellten Gelder gezielt einzelnen Bedürftigen zukommen lassen wollte: Zweckmäßig erachte ich dagegen, dass Vorrätighalten von Verbandstoffen, wie sie bei Verletzungen von Wöchnerinnen gebraucht werden, von Lagerungsgeräthen, Schienen usw. nach Knochenbrüchen, was m.E. viel nothwendiger ist als z. B. Nasensonde nach Dr. Litzer, eiserner Fußschemel. Würde aber die Margareten-Spende verwendet werden anstatt zur Aufbewahrung von Gegenständen zur Krankenpflege für den Gebrauchsfall, zur Unterstützung mit Geldbeträgen für die Beschaffung im Einzelfall notwendiger Gegenstände und insbesondere von solchen die bei langwierigem Krankenlager dauernd erforderlich sind und von Unbemittelten schwer oder gar nicht zu erlangen sind, so würde sie gewiß segensreich wirken.170

Nach der breiten Ablehnung der Geräteschränke durch die Landräte wurde die Initiative aber offenbar nicht weiter verfolgt. Welche andere Verwendung die bereitgestellten Mittel fanden, blieb nach den erhaltenen Quellen unklar. Besondere Aufmerksamkeit verdienen abschließend kurz die Berichte aus Adenau und Simmern. Nach Ansicht des Adenauer Kreisarztes war die Einführung der Geräteschränke unnötig, da „von Seiten des Caritasverbandes bereits entsprechende Geräteschränke eingerichtet wurden“.171 Dies zeigt noch einmal, dass staatliche Bestrebungen, die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum zu optimieren, in vielen Fällen auf bestehende Strukturen oder Ideen anderer – hier offenbar meist der konfessionellen – Träger zurückgriffen. Im Kreis Simmern hatte der Kreistag „beschlossen, von der Einführung der Margarethenspende in Rücksicht auf die immer mehr zunehmenden Telephonanschlüsse, die solche Einrichtungen entbehrlich erscheinen lassen, Abstand zu nehmen.“172 Die Erreichbarkeit gesundheitlicher Hilfe verbesserte 168 Ebd., Schreiben des Landrates des Kreises Mayen vom 04. Oktober 1902. 169 Dieser Gedanke war nicht neu. Der Landrat des Kreises Wetzlar verwies darauf, dass in seinem Kreis bereits „Sanitätsschränke mit einfacherer Ausstattung“ in Gebrauch waren. Ebd., Schreiben des Landrates des Kreises Wetzlar vom 16. September 1902. Ein ähnlicher Ansatz im Gesundheitsbericht für die Bürgermeisterei Bitburg-Land 1933: „für waldbesitzende Gemeinden Mötsch, Rittersdorf, Matzen, Fliessem, Idenheim, Idesheim, Dahlem, Röhl, Sülm und Trimport ist ein Verbandskasten beschafft.“ 170 Ebd., Schreiben des Landrates des Kreises Koblenz-Land vom 27. November 1902. 171 Ebd., Schreiben des Landrates des Kreises Adenau vom 09. Dezember 1902. 172 Ebd., Schreiben des Landrates des Kreises Simmern vom 05. September 1902.

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sich offensichtlich nicht allein durch direkte Maßnahmen und Eingriffe, sondern profitierte auch von einer allgemeinen Verbesserung der Infrastruktur von Kommunikations- und Verkehrswegen in ländlichen Regionen.173 Sanitätskolonnen Hatte die Margaretenspende auf eine Verbesserung des Zugangs zu medizinischem Gerät abgezielt, stand im Mittelpunkt der im Folgenden geschilderten Ansätze die Verbesserung der Transportmöglichkeiten von Kranken.174 Im Jahresgesundheitsbericht für das Jahr 1907 berichtete der Koblenzer Regierungsmedizinalrat über entsprechende bestehende Einrichtungen: Verunglückte werden, sofern es notwendig und angängig ist, alsbald einem Krankenhause zugeführt. In größeren gemeindlichen Betrieben und sonstigen Orten, wo häufiger Unfälle vorkommen ist durch Sanitätskolonnen, Tragbahren und dergleichen Einrichtungen für Erste Hilfe hinreichend gesorgt.175

Unter den Sanitätskolonnen waren freiwillige Gruppierungen zu verstehen, meistens angegliedert oder entstanden aus bereits bestehenden Vereinen, welche bei Bedarf Krankentransporte übernahmen. Als Träger solcher Gruppen lassen sich für den hier untersuchten Bereich etwa Freiwillige Feuerwehren oder Rot-Kreuz-Vereine, aber etwa auch der „Kriegerverein“ in Wittlich nachweisen.176 Die Zahl solcher Sanitätskolonnen nahm in den einzelnen Kreisen bis zum Beginn der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts allmählich zu. Diese freiwilligen Initiativen übernahmen mit dem Krankentransport Funktionen, die in verschiedenen deutschen Großstädten bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts behördlich geregelt worden waren.177 Im Kreis Bitburg bestanden 1905 bereits zwei Sanitätskolonnen in Kyllburg und Neidenbach; zwei weitere in Bitburg und Speicher waren nach dem Bericht des Kreisarztes bereits wieder „eingegangen“.178 Im Kreis Wittlich gab es eine Sanitätskolonne in Witt173 In Neuerburg, Kreis Bitburg, wurde 1898 die erste „öffentliche Fernsprechstelle“ eingerichtet. Der örtliche Arzt und das Krankenhaus waren seit 1902 als eine der ersten Teilnehmer neben Bürgermeister und Pfarrer an das Telefonnetz angeschlossen. Friedrich, Eisenbahnbau, S. 117. 174 Im Überblick zum Krankentransportwesen Hesse, Krankenbeförderungswesen. 175 LHAK Best. 441 Nr. 28666, Jahresgesundheitsbericht für den Regierungsbezirk Koblenz für das Jahr 1907 vom 25. Juni 1908, S. 338. Zur Bedeutung der Krankenhäuser siehe den folgenden Abschnitt. 176 Entsprechende Belege u.a. in LHAK Best. 442 Nr. 3909, Kreisarztbericht des Kreises Bitburg 1905; Ebd., Nr. 3914, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Wittlich für 1905; LHAK Best. 441 Nr. 13681, Jahresgesundheitsbericht für den Kreis Simmern 1912. Diese freiwilligen Initiativen übernahmen damit Funktionen, die in verschiedenen deutschen Großstädten bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts behördlich geregelt worden waren. 177 Hesse, Krankenbeförderungswesen, S. 19. Angesichts dieses Engagements kann von der von Hesse dort angeführten „Abneigung der Landbevölkerung gegen fortschrittliche Neuerungen“ wohl kaum die Rede sein. 178 LHAK Best. 442 Nr. 3909, Kreisarztbericht des Kreises Bitburg 1905.

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lich selbst, eine zweite sollte 1906 ausgebildet werden.179 1912 verfügte der Kreis Ahrweiler schon über fünf derartige Gruppen, im Kreis Simmern bestand je eine Gruppe mit 16–20 Mitgliedern in Simmern und Kirchberg, die Gründung einer weiteren Gruppe in Kastellaun war „in Aussicht genommen“.180 Eine Nachfrage des Ministeriums für Volkswohlfahrt zu den Jahresgesundheitsberichten ergab schließlich für das Jahr 1921, dass im Regierungsbezirk Koblenz zusammen 28 „Samaritervereine“ oder Sanitätskolonnen aufgestellt waren.181 Neben der quantitativen Vermehrung verbesserten sich mit der Zeit auch Ausbildung und Ausstattung der Gruppen. Anfangs wurden die Kranken mit Tragen, Rädertragen oder Handwagen transportiert; für größere Entfernungen wurde auf private Fuhrwerke zurückgegriffen.182 Die Bereitstellung von sogenannten Kreiskrankenwagen in den Kreisen Bitburg und Simmern zeigt aber, dass bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts Anstrengungen zu einer verbesserten überlokalen Organisation und Koordination des Krankentransports unternommen wurden.183 Um den Beginn der 1920er Jahre kamen Spezialfahrzeuge wie gefederte Pferdefuhrwerke mit speziellen Tragenplätzen oder automobile Krankentransportwagen in verbreiteteren Gebrauch.184 Auch wenn letztgenannte in erster Linie auf größere Ortschaften beschränkt blieben, deutet deren Einsatz im Umland doch daraufhin, dass auch in diesen Fällen eine allgemeine Verbesserung der Verkehrswege sich indirekt auch positiv auf die Krankenversorgung auswirkte. So kam das „städtische Krankenauto“ aus Trier etwa auch beim Transport eines Verunglückten aus Erden in das Brüderkran179 LHAK Best. 442 Nr. 3914, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Wittlich für 1905. 180 LHAK Best. 441 Nr. 13681, Jahresgesundheitsbericht für den Kreis Ahrweiler 1912; Ebd., Jahresgesundheitsbericht für den Kreis Simmern 1913. 181 LHAK Best. 441 Nr. 28654, ergänzender Fragebogen zum Jahresgesundheitsbericht vom 15. Dezember 1922. Im Kreis Simmern waren zu diesem Zeitpunkt nach wie vor zwei Gruppen gemeldet, die Kastellauner Neugründung war offenbar erfolglos geblieben. Im Schnitt kamen auf jeden Kreis des Regierungsbezirks zwei Sanitätskolonnen. 182 LHAK Best. 442 Nr. 3909, Kreisarztbericht des Kreises Bitburg 1905; LHAK Best. 403 Nr. 6751, Vortragsmanuskript „Die Zentralisation der gesundheitlichen Fürsorge in den Kreisen“ vom 25. Oktober 1913, insbes. S. 14ff. Vgl. auch Hesse, Krankenbeförderungswesen, S. 69–70, 84–85. 183 Hubatsch, Verwaltungsgeschichte, S. 154–161 erwähnt, dass der Kreis Simmern bereits 1913 über einen Kreiskrankenwagen am städtischen Krankenhaus verfügte. Für den Kreis Bitburg ist bereits 1905 ein „Kreiskrankenwagen“ genannt, allerdings bleibt offen, ob es sich dabei tatsächlich um einen automobil betriebenen handelte, siehe LHAK Best. 442 Nr. 3909, Kreisarztbericht des Kreises Bitburg 1905. 184 Der Allgemeine Verband Deutscher Landkrankenkassen offerierte etwa 1920 in seiner Zeitschrift den Erwerb von zweispännigen „Krankentransportwagen aus Heeresbeständen“ zum Preis von 2200–2500 M inklusive zweier Tragen. Siehe KAB-W 1.0.204 Bd. I, Rundschreiben des Ministeriums für Volkswohlfahrt vom 20. August 1920. Tatsächlich scheint der massenhafte Bedarf an Krankentransportwagen im Ersten Weltkrieg auch die quantitative und qualitative Verbesserung von Transportmöglichkeiten für Kranke im zivilen Bereich vorangebracht zu haben. Vgl. Hesse, Krankenbeförderungswesen, S. 83, 89-8990.

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kenhaus in Trier zum Einsatz, die erhaltene Rechnung zeigt aber auch, dass die Kosten für eine solche Fahrt – in diesem Falle 131,– RM – relativ hoch waren.185 Die wohl unentgeltliche Leistung der Sanitätskolonnen dürfte demgegenüber häufiger in Anspruch genommen worden sein.186 Die Simmerner Sanitätskolonnen verzeichneten seit 1912 einen eigenen „Kolonnenarzt“, dessen Tätigkeit ebenso wie die abgehaltenen regelmäßige Übungen auf eine zunehmende qualitative Verbesserung der Ausbildung und Kenntnisse der Helfergruppen schließen lässt.187 Die Diskussionen um die Margaretenspende wie die zunehmende Verbreitung der Sanitätskolonnen zeigen auf der einen Seite, dass die gesundheitliche Versorgung der ländlichen Regionen nach wie vor als lückenhaft empfunden wurde. Die verschiedenartigen Ansätze waren dabei Ausdruck einer Suche nach dem angemessenen Weg, das Netz möglicher Hilfen im Krankheitsfalle enger zu knüpfen. Diese Entwicklung wurde nicht zuletzt dadurch gefördert, dass neu entstehenden Therapieformen schnellere Behandlungen der Patienten erforderten.188 Vor allem die Entstehung der Sanitätskolonnen zeigt die Initiative der ortsansässigen Personen, welche offenbar zunehmendes Eigeninteresse an einer umfassenden Gesundheitsversorgung entwickelten. Die entstandenen Strukturen freiwilliger Helfer sind in Gestalt von Ortsgruppen der Rettungsverbände bis heute wichtiger Bestandteil gesundheitlicher Nothilfe. Gleichzeitig dürfte die Aus- und Fortbildung derartiger Helfer die Verbreitung grundlegender medizinischer Kenntnisse in der Bevölkerung befördert haben. 2.3. Hospitäler und Krankenhäuser Dass die Ausbildung des modernen Krankenhauswesens „untrennbar mit der Geschichte der Armenfürsorge verbunden“189 ist und dies auch lange Zeit blieb, darf heute als unbestritten gelten.190 Von ihrer ursprüngliche Funktion einer gemeinsamen Versorgungseinrichtung für verschiedene Gruppen von Bedürftigen191, wandelten sich Hospize und Hospitäler, beginnend im 18.

185 LHAK Best. 655,123 Nr. 966. Schreiben der Freiwilligen Feuerwehr Trier vom 22. April 1925. 186 Der Gemeinderat von Lieser gewährte der örtlichen Sanitätskolonne 1933 eine Zuschuss nur unter der Bedingung, dass diese sich in Zukunft Verbandsmaterialien bezahlen lasse, siehe VGV BKS, Beschlussbuch des Gemeinderates Lieser, 1930–1949, Beschluss vom 15. Juni 1933. 187 LHAK Best. 442 Nr. 3914, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Wittlich für 1905; LHAK Best. 441 Nr. 13681, Jahresgesundheitsbericht für den Kreis Simmern 1912. 188 Vgl. Labisch, Sozialgeschichte, S. 292. 189 R. Jütte, zitiert nach Ebd., S. 289. 190 Das Fortwirken der „alten karitativen Verpflichtungen“ hebt Hudemann-Simon, Eroberung, S. 130 hervor. 191 Schwanitz, Krankheit; Im Überblick bei Dross, Krankenhaus, S. 54–74.

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Jahrhundert, in der Breite dann im 19. Jahrhundert192, zu immer spezialisierteren Orten des Umgangs mit zunehmend ausdifferenzierten, spezifischen Klientengruppen. Der Großteil der Häuser richtete sein Augenmerk dabei verstärkt auf die Kranken, indem diese nicht mehr nur bloß verwahrt und gepflegt werden sollten, sondern zunehmend ein Interesse an ihrer Heilung ins Zentrum der Bemühungen rückte.193 Auch wenn dieser Übergang nicht ohne Schwierigkeiten ablief194, stand am Ende doch „die Konzentration auf eine zunehmend ausdifferenzierte und medizinisch-(natur-)wissenschaftlich definierte Heilfunktion“.195 Die Rollen der Beteiligten können durchaus verschieden bewertet werden196, der finanziell enge Zusammenhang197 zwischen Armenkrankenpflege und Entstehung des modernen Krankenhauses steht aber grundsätzlich nicht mehr in Frage.198 In der hier vorgenommenen Untersuchung richtet sich der Blick auf das lokale Angebot und die lokalen Strukturen des Krankenhauswesens. Im Sinne der übergreifenden Fragestellung nach dem Spektrum der gesundheitlichen Einrichtungen in einer ländlichen Region geht es dabei vor allem um grundlegende Strukturbedingungen wie Ort, Entstehung, Größe und Betreiber der vorhandenen Einrichtungen. Eine detaillierte Analyse von Aufnahmezahlen, Zusammensetzung der Klientel oder Geldflüssen ist hingegen hier nicht beabsichtigt.199

192 Vgl. Jütte, Spital, S. 211f. 193 Condrau, Patientenschicksal, S. 68 hebt die heilende, wiederherstellende Absicht der Krankenhäuser und deren Konzentration auf heilbare Kranke heraus. 194 So wurde noch in den 1830er Jahren in Preußen die Praxis dörflicher Gemeinden gerügt, Arme in die Krankenhäuser der Städte zu verweisen, um sie dort verpflegen zu lassen. Vgl. Wagner, Finanzierung, S. 47–48. 195 Dross, Krankenhaus, S. 55. 196 Hudemann-Simon, Eroberung, S. 131 sieht etwa die Nachfrage der durch Krankheit von Armut bedrohten Erwerbstätigen als „entscheidenden Anstoß“ der Entwicklung. Bei Spree, Krankenhausentwicklung, insbes. S. 86–90, steht hingegen stärker die Unterstützungspflicht der Gemeinden und die „Medikalisierung der Armenfürsorge“ (Labisch) für die Heranführung der „arztfernen Unterschichten“ an die Krankenhäuser im Vordergrund. 197 Dazu vor allem Labisch/Spree, Einführung. Spree, Krankenhausentwicklung, S. 95–102 verweist auf die Bedeutung der Sozialversicherung, vor allem der Krankenhausversicherungen für Gesellen. Nach Schwanitz, Krankheit, S. 53–54 wurden diese aber in Preußen von der höheren Verwaltung wegen der damit verbundenen Abgabenpflicht nicht zugelassen. 198 Dross, Krankenhaus, S. 150 verweist darauf, dass das Krankenhaus trotzdem nicht die Regelversorgung der Armenkrankenpflege, sondern in den meisten Fällen einer Hauspflege der Betroffenen nachgeordnet war. 199 Sicherlich hätten entsprechende Angaben geholfen, die Zugangsmöglichkeiten kranker Armer zu stationärer Versorgung im Einzelfall besser abschätzen zu können; entsprechende Untersuchungen waren im Kontext der vorliegenden Studie und aufgrund einer spärlichen Quellenüberlieferung jedoch nicht zu leisten. Die Notwendigkeit von Einzelfallanalysen, um die konkrete Bedeutung einzelner Kostenträger einordnen zu können, betont Labisch/Spree, Einführung, S. 25.

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2.3.1. Alte Hospitäler Neben den bereits erwähnten Pflegestationen, von denen aus die jeweiligen Schwestern in erster Linie ambulante Pflegedienste leisteten, bestanden auch in den ländlichen Regionen der Regierungsbezirke Trier und Koblenz auch Einrichtungen, in denen Kranke für eine stationäre Pflege aufgenommen werden konnten. Auch wenn für diese Häuser des öfteren der Begriff des Krankenhauses gebraucht wurde, handelte es sich dennoch nicht um Einrichtungen, in denen etwa Behandlungen vorgenommen wurden. Insofern müssen diese Häuser tatsächlich mehr der Sphäre der Armenversorgung als der Krankenbehandlung zugerechnet werden.200 Krankenspezifische Versorgung bestand in diesen Häusern meist nur aus der Pflege bettlägeriger Kranker, zudem war auch diese Funktion nur eine unter mehreren.201 Meist dienten sie zugleich als Unterkunft für alte oder auch chronisch Kranke, die zu Hause nicht mehr versorgt wurden.202 Von Seiten der höheren Gesundheitsbehörden wurden diese Zustände bereits früh kritisiert. Der Trierer Regierungsmedizinalrat Dr. Schwartz bezeichnete die gemeinsame Unterbringung von „Siechen, Altersschwachen und Hilfbedürftigen aller Art“ als „Uebelstand“ und drängte offenbar erfolgreich darauf, die verschiedenen Abteilungen der Hospitäler auch räumlich voneinander zu trennen, „so dass Pfleglinge, Waisenkinder und Kranke (…) nicht mehr in nähere Berührung kommen.“203 Obwohl immer wieder auf die notwendigen Trennungen hingewiesen wurde, bleibt fraglich, ob angesichts beengter räumlicher Verhältnisse diese Anordnungen tatsächlich überall befolgt werden konnten.204 Ähnlich wie bei den Pflegestationen waren auch bei den Krankenanstalten die konfessionellen Träger dominierend.205 Im Regierungsbezirk Trier wurden 1882 bis auf einige Anstalten in den bergbaugeprägten, industrialisierten Kreise des Saargebietes alle übrigen Einrichtungen von katholischen Orden unterhalten oder geleitet.206 1885 bestanden von den Städten getragene Krankenanstalten nur in Saarbrücken, Trier, St. Wendel und Wittlich, vier weitere Anstalten wurden von Knappschaften unterhalten, die restlichen 19 Anstalten im Regierungsbezirk Trier waren konfessionell getragen.207 Vereinzelt gab es 200 Gysin-Scholer, Krank, S. 210. Katrin Marx verweist auf Verhaltenskodizes, die „Analogien zum Umgang mit Unterstützen in der kommunalen Armenfürsorge“ aufweisen. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 183. 201 Vgl. Spree, Krankenhausentwicklung, S. 78. 202 Vgl. Jans, Sozialpolitik, S. 177; Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 180. Zur konkreten Bewertung einzelner Anstalten in den näher untersuchten Kreisen siehe unten. 203 Vgl. Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 121f.. 204 Entsprechende Anordnungen z. B. im Genehmigungsschreiben für eine neue Niederlassung der Franziskaner-Tertiarierinnen in Zeltingen, siehe LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Schreiben des Regierungspräsidenten an den Landrat zu Bernkastel vom 05. Mai 1887. 205 Für die städtischen Regionen Preußens ebenso Dross, Prussia, S. 87. 206 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 121–130. 207 Ebd., Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinal-Wesen des Regierungs-Bezirks Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1883, 1884 und 1885.

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auch Trägerschaften von Stiftungen oder Privatleuten, auch diese waren aber häufig konfessionell ausgerichtet.208 Im Personalbereich gab es in diesen Hospitälern – zumindest in den ländlichen Gegenden – keine am Hospital angestellten Ärzte.209 Die Behandlung der Patienten erfolgte durch den jeweiligen ‚Hausarzt’, der im Bedarfsfalle im Hospital erschien.210 Das Fehlen behandelnden Personals zeigt deutlich den vorherrschenden Charakter der Hospitäler als Pflegeanstalten. Die Pflege selbst lag fast ausschließlich in der Hand von Ordensschwestern. Auf katholischer Seite waren im untersuchten Raum vor allem die Waldbreitbacher Franziskanerinnen, die Schwestern vom Orden der Armen Dienstmägde Jesu Christi und die Borromäerinnen aktiv, auf evangelischer Seite die Diakonissinnen.211 Hospitäler in den Schwerpunktkreisen bis um 1900 Die Verbreitung von Hospitälern in den Kreisen Bernkastel, Bitburg, Wittlich und Simmern entwickelte sich sehr unterschiedlich.212 Am schlechtesten versehen war der Kreis Bitburg, über den der dortige Kreisarzt 1890 berichtete, dass „weder in der Stadt Bitburg, noch im ganzen Kreis Bitburg ein Krankenhaus oder Krankenasyl“ vorhanden sei.213 Bis 1895 waren Anstalten in Bitburg, Neuerburg und Kyllburg gegründet worden, über deren Größe und Ausstattung sich allerdings wenig sagen lässt. Im Falle der Bitburger Anstalt handelte es sich offensichtlich um eine städtische Einrichtung, in welcher acht Schwestern der Borromäerinnen ihren Dienst verrichteten.214 Im Kreis Wittlich bestand bereits 1880 ein größeres Hospital in Wittlich selbst. Dieses Haus mit seinen 25 Bettenplätzen war eines der wenigen Häuser im Regierungsbezirk Trier in städtischer Hand; den Pflegedienst übernahmen aber auch hier katholische Schwestern der Armen Dienstmägde Jesu Christi.215 Hinzu kam eine kleine Anstalt mit fünf Betten in Buchholz, in der Franziska208 Etwa das Hospital in Kues, das zwar Kranke konfessionsunabhängig aufnahm, aber von katholischen Schwestern geführt wurde, LHAK Best. 403 Nr. 7400, Zeitungsbericht zum Neubau eines Kreiskrankenhauses in Bernkastel vom 21. August 1902. Ähnlich auch KAB-W Mono Bern 110, Geschichtliche Notizen über das Kranken- und Waisenhaus zu Bernkastel, S. 16 zur Gründung desselben durch Jodocus Prüm. 209 Hudemann-Simon, Eroberung, S. 133 zufolge gab es solche „dirigierenden Ärzte“ in städtischen Krankenhäusern teilweise schon seit der Wende vom 18. zum 19. Jhdt. 210 In der Praxis lief dies angesichts der geringen Ärztezahl darauf hinaus, dass in den meisten Fällen der ortsansässige Arzt die Behandlung übernahm. 211 Von den hier untersuchten Kreisen lassen sich aus den Quellen Diakonissinnen nur im Kreis Simmern nachweisen. 212 Siehe dazu die Karten 1–4 im Anhang. 213 LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht des Kreises Bitburg für das Jahr 1890. 214 LHAK Best. 442 Nr. 3898, Sanitätsbericht des Kreises Bitburg für das Jahr 1895. Zur Errichtung durch die Stadt siehe unten. 215 LHAK Best. 442 Nr. 3139, Nachweisung der behandelten Kranken in den Kranken-Anstalten des Regierungsbezirks Trier für 1880.

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nerbrüder Waisen und „Geisteskranke“ pflegten.216 Bis zur Jahrhundertwende fanden hier keine größeren Veränderungen statt. Der Kreis Simmern verfügte seit 1864 über ein städtisches Hospital in Simmern mit fünf Betten für Männer und vier Betten für Frauen. 1889 wurde eine weitere Pflegeanstalt mit fünf Männer und drei Frauenbetten – in Kombination mit einem Waisenhaus – durch die Familie Puricelli in Rheinböllen errichtet. Im Kreis Bernkastel nahmen 1870 erstmals zwei Schwestern der Armen Dienstmägde ihren Dienst in der von Jodocus Prüm gegründete Anstalt mit „Waisenhaus, Klein-Kinder-Verwahranstalt und katholischem Krankenhaus“ auf.217 1880 verfügte dieses Haus über 14 Bettplätze. Im selben Jahr bestand eine weitere Anstalt mit drei Betten unter Leitung von Franziskanerinnen in Lieser.218 Eine gleichgroße Anstalt eröffneten die Franziskanerinnen 1887 schließlich auch in Zeltingen.219 Von ihren beiden Niederlassungen im Kreis Bernkastel aus besorgten die Ordensschwestern zugleich die ambulante und die stationäre Pflege von Kranken.220 Betrachtet man die Verteilung der Anstalten in den einzelnen Kreisen wird deutlich, dass diese stets in Orten errichtet wurden, in denen ein Arzt ansässig war. Ob dessen Anwesenheit oder allein die Größe des Ortes die Niederlassungsentscheidung bestimmten, ist letztlich nicht festzustellen. Die Nähe des Arztes ist aber insoweit erklärlich, als sie ermöglichte, gerade in schwierigen Fällen, denselben rasch zu Hilfe rufen zu können. Kriterien wie eine gleichmäßige Verteilung stationärer Pflegemöglichkeiten in den ländlichen Gebieten spielten für die Niederlassung aber offenbar keine Rolle. Im hier untersuchten Zeitraum erfuhren die Hospitäler einen grundlegenden Wandel ihrer Bewertung. Noch 1897 berichtete der Bürgermeister von Simmern, dass „das hiesige Hospital wohl eher den Character eines Versorgungs-Heimes, als den eines Krankenhauses trägt.“221 Beispielhaft schlecht beschrieb der Trierer Regierungsmedizinalrat Dr. Schlecht 1902 die Raumsituation in der 1887 gegründeten Zeltinger Pflegeanstalt: Die Lage der Krankenanstalt in Zeltingen ist eine sehr eingeengte. Die Krankenräume entsprechen nicht den an solche zu stellenden Anforderungen. Es waren nur 2 Krankenräume vorhanden. Ein 3. Raum wurde am Besichtigungstage als Bügelzimmer benutzt, 216 LHAK Best. 442 Nr. 3139, Nachweisung der behandelten Kranken in den Kranken-Anstalten des Regierungsbezirks Trier für 1880; Ebd. Nr. 3899, Sanitätsbericht des Kreises Bitburg für das Jahr 1896. 217 KAB-W Mono Bern 110, Geschichtliche Notizen über das Kranken- und Waisenhaus zu Bernkastel, S. 16, zur Gründung desselben durch Jodocus Prüm; Zu Hospitälern in den Kreisen Bernkastel und Wittlich auch Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 176–190. 218 LHAK Best. 442 Nr. 3139, Nachweisung der behandelten Kranken in den Kranken-Anstalten des Regierungsbezirks Trier für 1880. Im Detail untersucht die Anstalt Althammer u.a., Armenfürsorge. 219 LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Nachweisung der Ende 1896 in der Bürgermeisterei Zeltingen vorhandenen Privatkranken- und Entbindungsanstalten vom 22. Mai 1897. 220 Vgl. Abschnitt 2.2.2, sowie Althammer u.a., Armenfürsorge, S. 556. 221 LHAK Best. 491 Nr. 279, Bericht des Bürgermeisters von Simmern vom 13. Mai 1897.

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für gewöhnlich scheint er nach der Ausstattung als sog. Fremdenzimmer der Schwestern benutzt zu werden. In einem der Krankenräume lag ein Typhuskranker. Die Isolierung war nicht hinreichend und konnte nicht hinreichend sein. Die Treppe, welche von dem Hausflur zu den Krankenräumen führt, ist eng und wenig belichtet. Wie eine Trennung der Infektionskranken so ist auch eine Trennung der Geschlechter nicht ausführbar. Die Schlafräume der Ordensschwestern auf dem Dachboden sind völlig ungeeignet und zu klein.222

In Bitburg wiederum, das über keine Krankenanstalten verfügte, kamen die Stadtverordneten 1890 „zu dem einstimmigen Entschluß (…) zwanzigtausend Mark zur Erbauung eines städtischen Krankenhauses zu bewilligen“.223 Die Bewertungen der Krankenanstalten und die Überlegungen, die dort vorgefundenen Zustände zu verändern machen deutlich, dass zum Ende des 19. Jahrhunderts auch im ländlichen Raum die Diskussion um die Einrichtung spezialisierter Krankenanstalten stattfand. Besonders deutlich ist dieser Wahrnehmungswandel am Beispiel des Wittlicher Hospitals zu erkennen. Noch 1891 bezeichnete der Kreisarzt Dr. Clemens die dortige Anstalt als „wohleingerichtetes Hospital, in welchem theils Kranke, theils Altersschwache mit einigen Waisen Aufnahme finden“.224 1899 wurde hingegen im Kreistag die Einrichtung eines Kreiskrankenhauses diskutiert und das Vorhaben wie folgt begründet: Der Vorsitzende führte aus, die Errichtung eines mit den nothwendigen Erfordernissen der modernen Hygiene ausgestatteten Krankenhauses sei im Kreise Wittlich ein unabweisbares Bedürfnis. Das der Stadt Wittlich gehörige Hospital St. Wendelini, das zur Unterbringung armer Einwohner der Stadt Wittlich dienen soll, thatsächlich aber von den Einwohnern der Stadt und des Kreises zugleich als Krankenhaus benutzt wurde, genüge schon lange nicht mehr den vorhandenen Bedürfnissen.225

Zudem hatten die Sozialversicherungen den Bedarf an Krankenhausplätzen in der Zwischenzeit deutlich erhöht: Der Mangel eines gut ausgestatteten Krankenhauses machte sich umso mehr geltend, als nach dem Inkrafttreten der sozialen Gesetzgebung zahlreichen Personen, welchen früher eine sachverständige Behandlung ihrer Leiden und Unfälle nicht zu Theil wurde, aus Mitteln der Kranken- bzw. Unfallversicherung ein Anspruch auf eine solche Behandlung erwuchs, ohne daß es möglich war, Allen in ausreichendem Maße zu helfen. Auch im Interesse der Krankenversicherungen bezw. Orts-Krankenkasse selbst sowie besonders der landwirthschaftlichen Unfallversicherung war deshalb der Neubau eines allen Anfor-

222 LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Auszug aus dem Reisebericht über die Besichtigung der Krankenanstalten im Kreis Bernkastel vom 13. September 1902. Auch die Anstalt in Lieser entsprach „nicht den geringsten Anforderungen an Krankenanstalten“. In dieser Gestalt darf das Zeltinger Haus durchaus als repräsentativ für den Großteil ländlicher Hospitäler gelten. Vgl. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 258f. 223 LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht des Kreises Bitburg für das Jahr 1890. 224 LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Kreis Wittlich 1890 vom 10. Februar 1891. 225 KAB-W 2.0.236, Auszug aus dem Protokoll der Kreistagssitzung vom 27. März 1899. Das Protokoll verzeichnet auch den Baubeschluss sowie die Bereitstellung eines Kapitalstocks von 6000 M.

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Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung derungen auf dem Gebiete der modernen Hygiene genügenden Krankenhauses als ein Bedürfnis anzusehen.226

Innerhalb weniger Jahre hatte sich die Bewertung der stationären Versorgungsmöglichkeiten für Kranke im Kreis Wittlich grundlegend gewandelt, wobei die Wirkung vorherrschender medizinischer Diskurse („nothwendige Erfordernisse der modernen Hygiene“) deutlich zu erkennen ist.227 Zu bemerken ist dabei aber auch, dass die Diskussion um Krankenhäuser – soweit erkennbar – im ländlichen Raum nicht im Sinne einer „Rationalisierung der Armenfürsorge“ geführt wurde.228 Im städtischen Bereich hingegen waren die in diese Richtung gehenden Bestrebungen im Armenwesen „in maßgeblicher, teils auch ausschließlicher Weise“ bestimmend für die Veränderungen im Krankenhauswesen.229 Städtische Krankenhäuser dienten im Zusammenhang mit der Armenfürsorge bis in das späte 19. Jhdt. hinein vor allem der Versorgung der gehobenen Unterschichten, deren Arbeitsmarktfunktion durch eine rationalisierte Behandlung und Fürsorge möglichst effizient wiederhergestellt werden sollte.230 Lediglich größere Krankenhäuser besaßen auch Ausbildungsund Forschungsfunktionen.231 Dass vergleichbare Diskussionsansätze im ländlichen Raum keine Rolle gespielt zu haben scheinen, könnte wesentlich im späteren Zeitpunkt der dortigen Debatten um die Errichtung von Krankenhäusern begründet liegen. In der Zwischenzeit hatten in den früher errichteten Häusern auch hausinterne Entwicklungen, etwa Fortschritte in der chirurgischen Technik, die Spezialisierung des Krankenhauses vorangetrieben.232 Im ländlichen Raum konnte daher nun stärker als zuvor in den Städten auf das Bild des Krankenhauses als Heilanstalt Bezug genommen werden. 2.3.2. Die neuen Krankenhäuser Nach dem zustimmenden Beschluss des Wittlicher Kreistages zum Bau eines Kreiskrankenhauses, konnte dieses schließlich im Oktober 1900 eröffnet wer-

226 Kreisausschuss des Kreises Wittlich, Kreis-Krankenhaus, S. 3–4. 227 Nach Hudemann-Simon, Eroberung, S. 130–131 waren derartige „medizinische Gesichtspunkte“ die wichtigsten Argumente für Neugründungen oder Modernisierungen bestehender Häuser. 228 Als Ansatz einer solchen Interpretation lässt sich unter Umständen die Ende der 1880er geäußerte, offenbar von den Diskussionen im städtischen Bereich beeinflusste Forderung Reitzensteins nach der Errichtung von Krankenhäusern auch im ländlichen Bereich verstehen. Reitzenstein, Armenpflege, S. 32. 229 Dross/Weyer-von Schoultz, Armenwesen, S. 296. 230 Ein Überblick über entsprechende Städtestudien bei Labisch/Spree, Einführung, S. 26. Ähnlich auch Condrau, Patientenschicksal, S. 65–68. 231 Vgl. auch Hudemann-Simon, Eroberung, S. 131. 232 Spree, Krankenhausentwicklung, S. 86–90 sieht die 1890er Jahre als erste Phase dieser Entwicklung.

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den.233 Dieser Schritt blieb im Umland nicht unbeachtet, und auch im benachbarten Kreis Bernkastel setzte bald eine Diskussion um die Errichtung eines Kreiskrankenhauses ein. Dass diese Diskussion nicht allein sachlichen Erwägungen entsprang, suggerierte der gegen den Bau eingestellte Verfasser eines Artikels in der lokalen Zeitung „Mosella“, als er als Grund des geplanten Neubaus anführte: [D]er Grund ist wohl der, weil im benachbarten Kreise Wittlich ein solches Krankenhaus vor ein paar Jahren gebaut wurde und man nicht hinter Wittlich zurückstehen, im Gegenteil dieses noch übertrumpfen will.234

Neben diesem auf lokale Konkurrenzen abzielenden Argument stellte er die Notwendigkeit der neuen, medizinisch höheren Qualität der geplanten Einrichtung in Frage: Hauptsächlich gehen die Leute in ein Krankenhaus, wenn sie sich einer Operation oder sonstigen Behandlung unterziehen müssen. Alsdann würde es kaum jemand einfallen, nach Bernkastel zu gehen, und die Aerzte des Kreises würden ihre Kranken auch kaum dorthin schicken, sondern die Kranken suchen alsdann die großen Städte auf, wo sie Spezialärzte haben, oder wo Kliniken sind. Es ist auch viel besser für die Kranken und die Behandlung, wenn solche Anstalten centralisiert sind. Wenn es sich aber nur um Arme, alte Leute oder unheilbare Sieche handeln soll, so könnte man dies jedenfalls viel billiger haben, vielleicht durch Angliederung einer Anstalt an das bestehende Hospital Cues, ein Vorschlag, der schon früher von jemand in der „Mosella“ gemacht wurde, oder durch Zuschüsse des Kreises an die bestehenden Anstalten.235

Auch die quantitative Notwendigkeit eines neuen Krankenhauses stellte der Artikel in Frage, indem er auf die deutlichen Unterschiede zwischen den Kreisen im Hinblick auf bereits vorhandene Krankenanstalten hinwies.236 Zudem spräche die innerhalb des Kreises im Vergleich zentralere Lage des Standortes Wittlich gegenüber dem Standort Bernkastel gegen die kostspielige Errichtung eines neuen Krankenhauses.237 Diese Äußerungen belegen insgesamt einerseits, dass die Krankenhäuser als Stätten der medizinischen Behandlung akzeptiert waren, die bestehenden Anstalten – mit den beschriebenen Zuständen – für ihre „klassische“ Klientel andererseits aber immer noch als hinnehmbar und ausreichend galten. Zudem zeigen sie einmal mehr, dass Aussagen über die ländliche Gesundheitsversorgung in hohem Maße von den jeweiligen lokalen Bedingungen abhängen. Um das Problem der Randlage des Kreiskrankenhauses im Kreis Bernkastel zu lösen, wurde der Kreis Bernkastel in drei Krankenhausgebiete eingeteilt. 233 KAB-W 2.0.236, Bau des Kreiskrankenhauses, passim; LHAK Best. 403 Nr. 7399, S. 353f. auch Atzor, Kreiskrankenhaus. 234 LHAK Best. 403 Nr. 7400, S. 7f. 235 Ebd. 236 Ebd.: „In Bernkastel selbst ist durch eine wohltätige Stiftung ein Krankenhaus, was sehr oft schwach besetzt ist, in Morbach, Zeltingen und Lieser sind Krankenschwestern, mithin ist für die häusliche Krankenpflege schon gut gesorgt.“ 237 Ebd.: „Nun liegen dort die Verhältnisse wesentlich anders, und liegt vor allen Dingen Wittlich in der Mitte des Kreises, wogegen Bernkastel ganz in einer Ecke des Kreises liegt.“

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Für die stationäre Krankenversorgung wurden, neben dem zentralen Krankenhaus in Bernkastel, zwei weitere kleinere Krankenhäuser für das Hochwaldgebiet in Morbach, sowie die Idarwaldgemeinden in Rhaunen eingerichtet.238 In seiner Schilderung der Bernkasteler Verhältnisse wies der Trierer Regierungsmedizinalrat auf den Beispielcharakter dieser Planung hin.239 1909 wurde das Kreiskrankenhaus in Bernkastel schließlich unter dem Namen „Moselkrankenhaus“ eröffnet.240 Die neuen Krankenhäuser unterschieden sich deutlich von den bisherigen Krankenanstalten. In ihrer Bettenkapazität waren sie mit 30 und mehr Betten um einiges größer, als die kleineren Häuser, welche teilweise nur über drei oder vier Betten verfügten.241 Bereits bei der Planung wurden besondere Räume für Operationen und therapeutische Behandlungen vorgesehen.242 Demgegenüber verfügten die alten Anstalten meist nicht über gesonderte Behandlungsräume. Auch wurden die pflegebedürftigen Kranken in den neuen Häusern auf spezielle Stationen verteilt.243 Mit einer solchen Ausstattung bildeten diese Häuser aus medizinischer Sicht die Spitze des Fortschritts im ländlichen Raum.244 238 LHAK Best. 403 Nr. 7438, Schreiben des Regierungsmedizinalrates Trier vom 23. Mai 1905. Zu Größe und Ausstattung der Krankenhäuser siehe unten. 239 Dies allerdings auch im Hinblick auf die finanziellen Schwierigkeiten der Umsetzung. 240 LHAK Best. 655,123, Nr. 403, Schreiben des Bürgermeisters an die Gemeindekrankenkasse Zeltingen vom 04. Oktober 1909. Dazu auch Schmitt, Wandel 1. 241 Das Kreiskrankenhaus Wittlich verfügte über 35 Betten und wurde 1928/29 auf 160 Bettenplätze erweitert, das Krankenhaus in Bernkastel besaß im Jahr 1922 bereits über 55 Betten. Atzor, Kreiskrankenhaus; KAB-W 2.0.236, Bau des Kreiskrankenhauses; Ebd. 1.0.204 Bd. I Medicinal-Personen sowie Krankenanstalten, insbes. Schreiben der Regierung Trier an die Landräte vom 31. Oktober 1922. Der Trend zu größeren Häusern ist auch in anderen Kreisen erkennbar: Vgl. etwa LHAK Best. 441 Nr. 13682, Jahresgesundheitsberichte für die Kreise Cochem und Altenkirchen für 1913. Zum Vergleich: Um 1900 lag die durchschnittliche Bettenzahl eines Krankenhauses im Deutschen Reich bei 53 Betten. Vgl. Spree, Armenhaus, S. 2. 242 KAB-W 2.0.236, Bau des Kreiskrankenhauses, passim; In Bernkastel gab es „2 Operationszimmer, Röntgen-Kabinett, medico-mechan. Institut, Heissluftbäder pp.“ LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Schreiben des Landrates an den Bürgermeister zu Bernkastel vom 19. Oktober 1909; Ross, Moselkrankenhaus. 243 Das Bernkasteler Krankenhaus verfügte von Beginn an über je eine Männer-, Frauen und Kinderstation. Letztere bestand 1922 aus vier Bettplätzen. LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Schreiben des Landrates an den Bürgermeister zu Bernkastel vom 19. Oktober 1909; Ebd. 1.0.204 Bd. I, Schreiben der Regierung Trier an die Landräte vom 31. Oktober 1922. Die innere Gestaltung von Krankenhäusern wurde zunehmend auch von den Anforderungen neuer Therapieformen bestimmt. Vgl. dazu am Beispiel der Serumtherapie für Diphtherie Labisch, Sozialgeschichte, S. 292 und Spree, Krankenhausentwicklung, S. 83. 244 Noch 1929 war das Bernkasteler Krankenhaus als einziges im Kreis mit einem Röntgengerät ausgestattet. KAB-W 1.0.204 Bd. I, Schreiben des Kreisarztes zu Bernkastel an den Landrat vom 29. August 1929. Die wichtige Rolle der neuen Krankenhäuser unterstreicht auch die Stationierung des Wittlicher Krankentransportwagens am neuen Krankenhaus. LHAK Best. 442 Nr. 3914, Jahresbericht des Kreisarztes Wittlich für 1905.

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Die stärkere Ausrichtung der stationären Versorgung auf medizinische Belange hin zeigte sich auch an der Bestimmung von „Leitenden Ärzten“ für die Krankenhäuser, die für die ordnungsgemäße Einhaltung von Hygiene- und Pflegebestimmungen verantwortlich zeichneten.245 Dabei handelte es sich aber nicht um eine feste Anstellung des Arztes am Krankenhaus, sondern ein ortsansässiger Arzt wurde zum leitenden Arzt bestellt. Obwohl diese Bestimmung für alle Krankenanstalten galt, muss fraglich bleiben, ob die Überwachung durch ortsansässige Ärzte tatsächlich mehr als eine formale Verbesserung brachte.246 Das nichtärztliche Personal stellten auch in den neuen Krankenhäusern fast immer die konfessionellen Pflegeorden. Wie sehr das Engagement der konfessionellen Träger beim Bau weiterer Krankenhäuser durch konfessionelle Konkurrenzen angetrieben wurde, zeigt sich am Beispiel des gemischt-konfessionellen Kreises Simmern. Die evangelische Synode Simmern errichtete 1903 ein eigenes Krankenhaus in Simmern, nur wenige Jahre später zog die örtliche katholische Pfarrgemeinde 1910 mit dem Bau eines eigenen Hauses nach.247 Ähnlich wurde in Traben-Trarbach im be­nachbarten Kreis Zell 1900 ein evangelisches Krankenhaus eröffnet, wobei in den Planungen auf eine notwendige evangelische Ergänzung zum katholi­ schen Krankenhaus in der Kreisstadt Zell verwiesen worden war.248 In der Bezirks­hauptstadt Trier selbst führte die Diskussion um die Errichtung eines evan­ge­lischen Krankenhauses zu heftigen polemischen Auseinandersetzun­ gen.249 245 Den Mangel an solchen beklagte der Bitburger Kreisarzt 1905: „[I]nsbesondere möchte ich nochmals auf das Fehlen einer verantwortlichen ärztlichen Leitung hinweisen und auf das System der Verpachtung der Krankenhäuser an die Orden. Es wird hierdurch den Schwestern eine viel zu große Bewegungsfreiheit gelassen zum Schaden der Kranken.“ LHAK Best. 442 Nr. 3909, Bericht des Kreisarztes Bitburg für das Jahr 1905; Dienstanweisungen für leitende Ärzte der Krankenanstalten in KAB-W 1.0.204 Bd. I. 246 So wurde etwa im Fall der Krankenanstalt Zeltingen, der ansässige Dr. Angen ohne Vertrag oder ähnliche schriftliche Vereinbarungen zum leitenden Arzt bestimmt. LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Schreiben des Dr. Angen an die Regierung Trier vom 18. Juni 1906. 247 LHAK Best. 491 Nr. 279, Verzeichnis der Krankenanstalten im Kreis Simmern vom 14. Februar 1911. Die treibende Kraft interkonfessioneller Konkurrenzen betonen auch Hudemann-Simon, Eroberung, S. 150; Wollasch, Wohlfahrtspflege, S. 16 und Labisch, Sozialgeschichte, S. 298. 248 Weinmann, Krankenhaus, S. 58 249 Vgl. LHAK Best. 403 Nr. 7399, Schreiben des Presbyteriums der evangelischen Gemeinde zu Trier vom 21. April 1894: „Da nun in Trier und Umgebung nur katholische Krankenhäuser vorhanden sind und in diesen die Seelsorge des evangelischen Geistlichen sehr er­schwert ist, so besteht bereits seit einer langen Reihe von Jahren in der evangelischen Ge­meinde das lebhafte Verlangen ein besonderes Krankenhaus besitzen zu können.“ Noch drastischer ein Artikel in der Westdeutschen Zeitung: „Sollen ultramontane Neider die Freude haben, neben den Ruinen der Porta Nigra auf der anderen Seite der Nordallee den unvollendeten Bau eines evangelischen Krankenhauses den Fremden zu zeigen, um sie dann an der Menge der hiesigen reichen Klöster vorüberzuführen? Zu derselben Zeit, wo uns Evangelischen die Hauskollekte bei den Evangelischen der Provinz, wir denken dabei immer und zumeist an das nie kargende Wupperthal und bergi-

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Gemeinsam war allen Trägern die hohe Belastung durch Bau und Betrieb eines Krankenhauses.250 Die Krankenhausträger bemühten sich daher, bestehende Finanzquellen einzubeziehen und neue zu erschließen. Für konfessionelle Träger waren etwa Spendensammlungen eine wichtige Finanzierungsmöglichkeit.251 Im Bernkasteler Fall gab es Bemühungen, die Einkünfte der Hospitalsstiftung des Nikolaus von Cues für den Krankenhausbau zu aktivieren.252 In der Finanzierungsvereinbarung zum Bau des Wittlicher Kreiskrankenhauses zwischen Stadt und Kreis Wittlich war wiederum festgelegt worden, keine Neuaufnahmen im alten Hospital vorzunehmen „so lange das neue Haus nicht voll besetzt ist“.253 Die ökonomischen Zwänge im Betrieb der neuen Krankenhäuser beeinflussten und beschleunigten damit in mehrfacher Hinsicht das allmähliche Verschwinden der bisherigen Hospitäler. Auf staatlicher Seite bestand die Möglichkeit, mehrere Gemeinden oder Kreise an der Trägerschaft einer Einrichtung zu beteiligen. Gegen eine finanzielle Beteiligung am Bau des Krankenhauses erhielt so beispielsweise die Gemeinde Zeltingen Belegungsrechte am Kreiskrankenhaus in Bernkastel.254 Im Falle Wittlichs wurden die Kosten zwischen Kreis und Stadt im Verhältnis 2:1 geteilt.255 Die Finanzierung war hier somit, ähnlich wie im Falle der Distriktärzte, eine Gemeinschaftsleistung mehrerer beteiligter Gemeinden. Zusätzlich stellten auch die neu entstandenen Sozialversicherungen, hier insbesondere in Gestalt der Landesversicherungsanstalt der Rheinprovinz, fi-

sche Land, versagt wird, erhält der katholische Orden der weißen Väter die Erlaubnis des Ministers nach An­hö­rung des Oberpräsidenten, in Trier eine Niederlassung zu gründen, mit welcher das zweite Dutzend römischer Ordenshäuser in und bei Trier wohl voll sein wird.“ LHAK Best. 403 Nr. 7399, Schreiben des Pfarrers der evangelischen Gemeinde zu Trier vom 02. Mai 1894, darin Auszug des Artikels vom 28. April 1894. Der Pfarrer bemühte sich allerdings nach Kräften einen negativen Einfluss dieses Artikels auf die Entscheidung des Regierungspräsidenten über den Bau eines evangelischen Krankenhauses in Trier abzuwenden. 250 Der Bau des Wittlicher Krankenhauses hatte alles in allem rund 100.000 Mark gekostet. Kreisausschuss des Kreises Wittlich, Kreis-Krankenhaus, S. 5. Die evangelische Gemeinde Trier rechnete für ihren Krankenhausbau mit Kosten in Höhe von rund 90.000 Mark, für das Bernkasteler Krankenhaus wurden 1902 bereits mindestens 120.000 Mark veranschlagt. Siehe LHAK Best. 403 Nr. 7399, Schreiben des Pfarrers der evangelischen Gemeinde zu Trier vom 21. April 1894, insbes. S. 18; Ebd. Nr. 7400, Zeitungsartikel zum Kreiskrankenhaus Bernkastel vom 21. August 1902. Der Trierer Regierungsmedizinalrat Dr. Russell bemerkte explizit den Bedarf an finanziellen Hilfen von staatlicher Seite beim Ausbau der ländlichen Krankenhausversorgung. LHAK Best. 403 Nr. 7438, Schreiben vom 23. Mai 1905. 251 LHAK Best. 403 Nr. 7399, passim. Die evangelische Gemeinde Trier bemühte sich etwa um eine Sammlung in den rheinischen Industrieregionen, um den Bau des Krankenhauses in Trier zu finanzieren. 252 Siehe dazu auch Kapitel 2.3.3. 253 Kreisausschuss des Kreises Wittlich, Kreis-Krankenhaus, S. 5. 254 LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Schreiben des Bürgermeisters zu Zeltingen an den Landrat vom 14. September 1920. 255 Kreisausschuss des Kreises Wittlich, Kreis-Krankenhaus, S. 5.

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nazielle Mittel zur Errichtung von Krankenhäusern zur Verfügung.256 Daraus erhielt etwa der Kreis Bernkastel 1908 ein Darlehen zum Bau des Moselkranken­ hauses von 250.000 M.257 Für den Bau den erwähnten Krankenhauses der katholischen Pfarrgemeinde in Simmern erhielt dieselbe zwei Darlehen der LVA von 30.000 Mark (1909) und 20.000 Mark (1910).258 Angesichts dieser Summen lässt sich sagen, dass die Finanzierungsbeihilfe durch die LVA einen wichti­gen Beitrag zur Verbesserung der ländlichen Krankenhausversorgung leistete.259 Über die gegenüber den Hospitälern auf die Krankenbehandlung spezialisierten Krankenhäuser hinaus, entstanden Anfang des 20. Jahrhunderts – und damit vergleichsweise früh 260 – in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz auch erste Spezialkliniken, die allein sich der Behandlung spezifischer Erkrankungen widmeten. So errichteten die Borromäerinnen an ihrem Mutterhaus in Trier eine „Augenheilanstalt für Unbemittelte“ und bei Wittlich entstand mit der Lungenheilstätte Grünewald eine Spezialklinik für Tuberkulosekranke.261 Krankenhäuser und Hospitäler in den Schwerpunktkreisen nach 1900 Aus den Quellen für die Kreise Bitburg und Wittlich lassen sich nur wenige Angaben zur weiteren Entwicklung der Krankenhaussituation gewinnen. Für das Jahr 1905 verzeichnete der Bitburger Kreisarzt mit den städtischen Krankenhäusern in Bitburg und Neuerburg, dem katholischen Krankenhaus in Kyllburg und der privaten Naturheilanstalt „Waldvilla“ in Bollendorf insgesamt vier Krankenanstalten im Kreis.262 Von diesen Häusern waren allerdings 256 Unterschiedliche Einschätzungen zum Beitrag der Sozialversicherungen zum Unterhalt von Krankenhäusern bei Labisch/Spree, Einführung, S. 29 und Spree, Armenhaus, S. 11. Während Erster für den städtischen Kontext eine deutliche Veränderung der Kostenträgerstruktur konstatiert, hält Letzter den Finanzierungsanteil der gesetzlichen Krankenkassen mit rund 10 % von 1885–1887 und rund 14 % 1913 für eher gering. 257 ALVR APR Nr. 4072, Sitzungsprotokoll des Vorstands der Landesversicherungsanstalt der Rheinprovinz vom 08. Mai 1908. Die Höhe des Darlehens zeigt die gegenüber den Planungen 1902 gestiegenen Finanzbedarf, vgl. Anm. 250. 258 Ebd., Sitzungsprotokolle des Vorstands der Landesversicherungsanstalt der Rheinprovinz vom 22. Oktober 1909 und vom 13. Oktober 1910. Leider waren die tatsächlichen Baukosten des Krankenhauses nicht zu ermitteln. 259 Ähnlich Labisch, Sozialgeschichte, S. 291. 260 Hudemann-Simon, Eroberung, S. 134 sieht für Deutschland – im Gegensatz zu Frankreich und vor allem England – den Beginn der Spezialisierung von Krankenhäusern auf bestimmte Krankheitsbilder „frühestens zu Ende des 19. Jahrhunderts“. 261 Zur Augenheilanstalt siehe auch Abschnitt „Krankenhäuser & Armenpflege“. LHAK Best. 403 Nr. 7400, S. 57–60, Schreiben des Regierungsmedizinalrates Dr. Schlecht vom 10. November 1903; Ebd., S. 69–73, Zeitungsartikel vom 02. März 1904. Zur Lungenheilstätte Grünewald siehe LHAK Best. 442 Nr. 3914, Jahresbericht des Kreisarztes Wittlich für das Jahr 1905. 262 LHAK Best. 442 Nr. 3909, Nachweisung der am Schlusse des Berichtsjahres 1905 im Kreise Bitburg vorhandenen Krankenanstalten. Ebenso in LHAK Best. 442 Nr. 3901 für das Jahr 1908.

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nur das Krankenhaus in Bitburg mit 22 Bettplätzen und die Naturheilanstalt mit 18 Bettplätzen „genehmigt“, bei den anderen Häusern handelte es sich offenbar nach wie vor um Krankenanstalten im traditionellen Sinne.263 Über das Neuerburger Krankenhaus urteilte der Kreisarzt sogar: „eignet sich nicht zu einem Krankenhaus“.264 Im Kreis Wittlich bestanden 1906 neben dem neuen Kreiskrankenhaus die 1902 eröffnete Lungenheilanstalt Grünewald und das St.-Josephs-Krankenhaus in Manderscheid.265 In letzterem entsprachen aber „die Krankenräume (…) nicht den hygienischen Anforderungen; auch die Isolierabteilung auf dem Hofe hat unzureichende Zimmer“, was auch dieses Haus eher als Hospital denn als Krankenhaus erscheinen lässt.266 Zudem war seine Konzession mit dem Tod der Oberin der betreibenden Ordensniederlassung eigentlich erloschen.267 Im Kreis Bernkastel hatte sich vor dem Bau des neuen Krankenhauses wenig an der Lage vor 1900 geändert. Von den drei Krankenanstalten in Bernkastel, Lieser und Zeltingen war lediglich die Zeltinger Anstalt in der Zwischenzeit von drei auf sechs Betten erweitert worden.268 Mit der Eröffnung des neuen Krankenhauses in Bernkastel und dessen kleineren „Dependedancen“ in Rhaunen und Morbach verdoppelte sich die Zahl der stationären Anstalten im Kreis.269 1908 verzeichnete der Kreisarzt an stationären Einrichtungen in seinem Kreis die „Krankenanstalt und Typhusbaracke“ in Rhaunen, die „Idiotenanstalt“ in Asbacherhütte, die „Typhusbaracke“ in Kempfeld das „Krankenhaus“ in Morbach, die „Kranken- und Schwesternhäuser“ in Lieser, Zeltingen und Bernkastel sowie ebenfalls in Bernkastel das „Moselkrankenhaus“.270 Das neue Krankenhaus hatte bereits in den unmittelbaren Folgejahren nach seiner Eröffnung Auswirkungen auf die älteren Krankenanstalten. So sah der Bernkasteler Kreisarzt für die ärztliche Leitung des Bernkasteler Schwesternhauses 1908 „keinen Regelungsbedarf [mehr], da demnächst Auflö263 Das Neuerburger Haus hatte neben einer Krankenabteilung eine Siechenabteilung und eine „Kinderbewahranstalt“, das Kyllburger Haus verfügte nicht über ein gesondertes Isolierhaus. Ebd. 264 LHAK Best. 442 Nr. 3909, Nachweisung der am Schlusse des Berichtsjahres 1905 im Kreise Bitburg vorhandenen Krankenanstalten. Daher erscheint selbiges in der Karte 3 im Anhang nicht als Krankenhaus, sondern als Hospital. 265 Schmitt, Behandlung; Schmitt, Krankenhäuser; Burgard, Grünewald; Blum/Kreisausschuss des Kreises Wittlich, Kreis Wittlich, S. 51. Das Haus „Maria Grünwald“ wurde als Heilstätte bis 1921 betrieben und dann in Trägerschaft des Caritasverbands der Diözese Trier in eine Kinderheilstätte umgewandelt, die aber schon 1939 geschlossen wurde. Vgl. Burgard, 100 Jahre; LHAK Best. 442 Nr. 3914, S. 357–373, Jahresbericht des Kreisarztes Wittlich für das Jahr 1906. 266 Ebd., S. 361. 267 Ebd., S. 361f. 268 Dies geht hervor aus LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Schreiben des Dr. Angen an die Regierung Trier vom 18. Juni 1906. 269 Schmitt, Behandlung, S. 385–389; Schmitt, Wandel 1; Schmitt, Wandel 2. 270 KAB-W 1.0.204 Bd. I, Schreiben des Kreisarztes vom 04. Dezember 1908.

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sung“.271 Der Bürgermeister von Lieser hatte über das dortige Schwesternhaus bereits 1907 geäußert: Im hiesigen Bezirk befindet sich ein Krankenhaus in Lieser, welches aber diesen Namen kaum verdient und nach Fertigstellung des neuen Moselkrankenhauses seine Bedeutung ganz verliert und dann als Altenheim mitbenutzt werden soll.272

Während das Haus in Lieser also seine Krankenpflegefunktion verlieren sollte, wurde diese im Falle des Zeltinger Schwesternhauses gestärkt. 1912 stellte der örtliche Kirchenvorstand bei der Bürgermeisterei den Antrag, die geplante Erweiterung des Krankenhauses mit 2000 Mark zu unterstützen.273 Sowohl die Gesamtsumme des Ausbaus von 25.000 Mark als auch der Hinweis, es solle bei dieser Erweiterung ein „Isolierraum etc.“ geschaffen werden, deuten darauf hin, dass der Umbau die Anstalt in größerem Umfang an die Anforderungen eines modernen Krankenhauses anpassen sollte.274 Im Jahr 1922 schließlich waren im Kreis Bernkastel neben dem Moselkrankenhaus mit 55 Betten das Krankenhaus in Morbach mit 14 Betten und die Häuser in Rhaunen und Zeltingen mit jeweils 6 Betten vorhanden.275 Hinzu kam – nach der vorherigen Ankündigung der Umwandlung in ein Altenheim durchaus überraschend – das St.-Josefs-Krankenhaus in Lieser mit 25 Plätzen.276 Ähnliche Auswirkungen der neuen Krankenhäuser lassen sich auch im Kreis Simmern beobachten. Nach der Gründung des bereits erwähnten örtlichen evangelischen Krankenhauses 1903 bestanden im Kreis Simmern an Krankenanstalten das städtische Hospital und das evangelische Krankenhaus in Simmern selbst, sowie das Puricellische Krankenhaus in Rheinböllen.277 1910 kam in Simmern das St.-Josephs-Krankenhaus der katholischen Pfarrgemeinde hinzu.278 Die Präsenz zweier neuer Krankenhäuser in Simmern selbst machte das Hospital offensichtlich überflüssig, denn bereits 1913 verzeichnete der Kreisarzt in seinem Jahresbericht lediglich noch das evangelische Synodal271 Ebd. 272 Ebd., Schreiben des Bürgermeisters zu Lieser vom 24. Oktober 1907. 273 LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Schreiben des Pastors Reichel vom 22. Februar 1912. 274 Das Zeltinger Krankenhaus erscheint somit als Ausnahme der Beobachtung aus dem städtischen Kontext, dass Krankenhäuser in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts fast immer Neugründungen waren. Vgl. Spree, Armenhaus, S. 3 und Dross, Krankenhaus, S. 55–57. Die jüngere Forschung betont inzwischen mehr den Entwicklungsbruch zwischen Hospital, als deren Kontinuitätslinien. Vgl. Dross, Krankenhaus, S. 54–74. 275 KAB-W 1.0.204 Bd. I, Schreiben des Regierungspräsidenten an die Landräte vom 31. Oktober 1922. 276 Allerdings ist nicht völlig klar, ob diese Zahl nur Krankenpflegeplätze bezeichnet oder auch die Plätze des genannten Altenheims mit einbezieht. Die Krankenanstalt in Lieser wurde nach einem 1929 ergangenen Verbot weiterer Patientenaufnahmen 1930 modernen medizinischen Standards angepasst. Siehe Althammer u.a., Armenfürsorge, S. 558. Zum Morbacher Krankenhaus, das später auch in ein Altenheim umgewandelt wurde Schmitt, Behandlung, S. 392. 277 Wagner/Schellack, Simmern, S. 296–302. 278 LHAK Best. 491 Nr. 279, Verzeichnis der Krankenanstalten im Kreis Simmern vom 14. Februar 1911.

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Krankenhaus mit insgesamt 22 Plätzen und das katholische Krankenhaus mit insgesamt 36 Plätzen in Simmern, sowie das Puricelli-Krankenhaus Rheinböllen mit 14 Plätzen.279 Die Bedeutung der Krankenhäuser für die ländliche Krankenversorgung wuchs in den folgenden Jahren an, was sich vor allem im weiteren Ausbau der Bettenkapazitäten der Häuser niederschlug.280 So wurden etwa die beiden Krankenhäuser in Simmern stetig ausgebaut und hatten 1934 die beachtliche Größe von jeweils rund 140 Betten erreicht und wurden in der Hunsrücker Zeitung als „Segen für die ganze Volkswohlfahrt auf dem Hunsrück“ gefeiert.281 Das Wittlicher Kreiskrankenhaus wurde 1929 ausgebaut und verfügte anschließend über 160 Bettenplätze.282 In Eifel und Hunsrück verlief die quantitative Vermehrung und qualitative Verbesserung der Krankenanstalten im Vergleich zum städtischen Umfeld, wo diese Entwicklung bereits in den 1830er Jahren eingesetzt hatte, mit einiger Verzögerung.283 Hatte sich die Zahl der Krankenanstalten in Preußen zwischen 1876 und 1900 insgesamt mehr als verdoppelt284, wurden die ersten modernen, allein auf die Behandlung Kranker ausgerichteten Krankenhäuser im hiesigen Raum erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründet. Argumentativ stand dabei im Vorfeld nicht eine rationalisiertere Armenbehandlung, sondern die Bereitstellung von Räumen und Gerätschaften für Behandlungen nach aktuellen medizinischen Erkenntnissen im Vordergrund.285 Die Gründungen beförderten die Trennung der in den bisherigen Anstalten oft vermischten Funktionen von Alten-, Kranken- und Armenpflege. In der Folge gingen bestehende Anstalten in neuen Krankenhäusern auf, oder spezialisierten sich stärker auf eine ihrer bisherigen Funktionen, indem sie sich beispielsweise zu Altenheimen wie im Falle Liesers oder zu reinen Krankenhäusern wie im Zeltinger Fall wandelten. Damit erreichte die Differenzierung der Pflegebereiche in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts auch den ländlichen Raum.286 Über die Gestellung des Pflegepersonals und die eigenständige, durch konfessionelle Konkurrenzen angetriebene, Errichtung und Übernahme von Krankenhäusern blieb der Einfluss der konfessionellen Träger nach wie vor groß.287

279 LHAK Best. 441 Nr. 13682, Jahresgesundheitsbericht für den Kreis Simmern 1913. 280 Hier machte sich sicherlich auch die verstärkte Inanspruchnahme durch die Krankenkassen bemerkbar. Vgl. dazu auch Kapitel 7.3. 281 LHAK Best. 491 Nr. 2582, Zeitungsartikel vom 03. November 1934. 282 Schmitt, Behandlung, S. 383. 283 Eine erste Welle von Gründungen ereignete sich zwischen 1820 und 1830, eine weitere nach 1870. Eine dritte Welle ab 1880 wird meist in Zusammenhang mit den Gründungen der gesetzlichen Krankenkassen gebracht. Vgl. Spree, Armenhaus, S. 8; früh bereits Blasius, Perspektiven, S. 404. Der Zusammenhang mit der Entstehung der gesetzlichenKrankenkassen wird zurückhaltender bewertet bei Spree, Krankenhausentwicklung, S. 82. 284 Von 3000 auf 6300. Murken, Geschichte, S. 141. 285 Vgl. dazu Kapitel 7.2.3. 286 Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 256; Elkeles, Krankenhaus. 287 Zur ähnlich wichtigen Bedeutung konfessioneller Träger in städtischem Kontext vgl. Dross/Weyer-von Schoultz, Armenwesen, S. 409, 421.

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2.3.3. Armenpflege und stationäre Versorgung Auch die Rolle und Gestalt der Armenpflege in der stationären Versorgung wandelte sich im Laufe des hier untersuchten Zeitraumes. Vor 1876 war für Arme, die stationärer Pflege bedurften, die Unterbringung im Landarmenhaus in Trier die Regel gewesen.288 Ab 1876 waren die Gemeinden aber zur Übernahmen der Unterbringungskosten für die bei ihnen ansässigen Armen verpflichtet289, was einen Rückgang der Einlieferungen und vermehrte Herausnahme der Kranken aus dem Landarmenhaus durch die Ortsgemeinden nach sich zog.290 Die Bedeutung stationärer Behandlung für die Armenkrankenpflege ging infolgedessen zwischenzeitlich zugunsten der ambulanten Versorgung und Pflege durch Distriktärzte und Ordensschwestern zurück. Die Entstehung der neuen Krankenhäuser im ländlichen Raum stellte mit den bestehenden Hospitälern auch die von diesen getragene stationäre Armenpflege vor Herausforderungen. Wie sich eine Institution der traditionellen Armenhilfe an die neuen Gegebenheiten anpassen konnte, zeigt ein Artikel der Bernkasteler Zeitung „Mosella“ aus dem Jahr 1902: Wie kann es [das Hospital Kues,, d. Verf.] aber seine Einkünfte besser stiftungsmäßig verwenden, als wenn es sich ein Krankenhaus anfügt und in demselben Kranke beiderlei Geschlechts ohne Unterschied der Konfession durch katholische Ordensschwestern gegen entsprechende Verpflegungsgelder pflegt? Wenn das Hospital sich ein Krankenhaus angliedert, so thut es dasselbe, was die Hospitäler in Trier, Coblenz, Andernach, Boppard, St. Wendel gethan haben. In diesen Hospitälern sind außer den alten Pfründnern, die stiftungsmäßig dort gratis aufgenommen werden müssen, auch noch Kranke, die daselbst bis zu ihrer Wiedergenesung oder bis zu ihrem Tode gegen entsprechende Verpflegungsgelder verpflegt werden. Für das Hospital wäre diese Erweiterung seiner Thätigkeit sehr zu wünschen. Von den Tagen seiner Stiftung an bis auf unsere Zeit hat sich dasselbe im Wesentlichen unverändert erhalten; es soll auch in Zukunft seinem ursprünglichen und wesentlichen Zweck erhalten bleiben; allein es kann sich weiter entfalten, kann sich für die Armen nützlicher machen, kann sich den Anforderungen der Neuzeit insofern anpassen, als es auch den neuern Bedürfnissen der leidenden Menschheit Abhilfe und Linderung verschaffen hilft.291

Der Verfasser plädierte in seinem Artikel für eine Modifizierung der Art und Weise, wie die Stiftung ihre Hilfe leistete, stellte aber den Stiftungszweck nicht grundsätzlich in Frage. Die Stiftung als traditioneller Träger von Armenpflege sollte sich den medizinischen Neuerungen nicht verweigern, sondern diese in ihr eigenes Hilfskonzept integrieren. Der Verweis auf entsprechende Vorbilder in anderen Gemeinden macht deutlich, dass es sich bei diesem Versuch, die 288 Zur steigenden Bedeutung derartiger Einrichtungen im 19. Jhdt. insbesondere für Wanderarbeiter Bleker, Benefit. Zum Landarmenhaus Trier ausführlich Bodewein, Landarmenhaus. 289 ALVR APR Nr. 8101, Ärztlicher Bericht über den Gesundheitszustand im Landarmenhaus Trier im ersten Quartal 1876. 290 ALVR APR Nr. 8101, Ärztlicher Bericht über den Gesundheitszustand im Landarmenhaus Trier im ersten Quartal 1876. Zur weiteren Nutzung des Landarmenhauses im Rahmen der Armenfürsorge siehe Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 193–198. 291 LHAK Best. 403 Nr. 7400, Zeitungsbericht vom 21. August 1902.

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für die Armenkassen entlastenden Stiftungstraditionen auch auf das neue Instrumentarium des Krankenhauses zu übertragen, nicht um einen Einzelfall handelte.292 Die Integration von Elementen der traditionellen Armenpflege in die neue Konzeption spezialisierter medizinischer Versorgung konnte aber auch anders herum verlaufen. So besaß die Kuranstalt Wilhelmsbad in Bad Bertrich ein eigenes Reglement zur Aufnahme armer Kranker.293 Bei diesem Bad handelte es sich aber eben nicht mehr um eine bloße Pflegeanstalt, sondern dem eigenen Verständnis nach um eine spezialisierte Heilanstalt für bestimmte Erkrankungen.294 Eine aus dem modernen medizinischen Verständnis erwachsene spezialisierte Heilanstalt adaptierte so das traditionell bekannte Konzept der Freibetten für Arme in Krankenanstalten. Ein Beispiel für das Zusammenwirken der beiden Tendenzen – die Ausrichtung traditioneller Hilfen auf neue medizinische Hilfskonzepte, sowie die Adaption bestehender Unterstützungsmodi in neue Krankenhäuser – bietet die Augenklinik der Borromäerinnen in Trier. 1903 bot ein Dr. Berg aus Bonn 100.000 Mark für die Armen im Regierungsbezirk Trier an, die zur „Beschaffung einer Augenheilanstalt für Arme im hiesigen Bezirke“ verwendet werden sollten.295 Vergab er diese Mittel also ganz in der Tradition einer Erbhinterlassenschaft für Arme, wollte er sie zugleich nicht für traditionelle Unterstützungsleistungen wie Geldzahlungen oder Sachspenden, sondern zugunsten einer hochwertigen spezialmedizinischen Versorgung von Armen verwendet sehen. Die Trierer Borromäerinnen als Empfänger der Geldspende erklärten sich wiederum zu Bau und Betrieb einer Spezialklinik für Augenkranke bereit, in der jährlich bis zu 100 arme Augenkranke unentgeltlich behandelt werden sollten.296 In das moderne Konzept der Spezialklinik – die prinzipiell für alle Betroffenen offen war – wurde die traditionelle Armenunterstützung in Form einer bestimmten Anzahl Freiplätze für arme Kranke integriert.297 Die unentgeltliche Versorgung von Armen in stationären Anstalten wurde offensichtlich von Ärzten zunehmend kritisch betrachtet. So beklagten sich 1913 Ärztevertreter gegenüber dem Oberpräsidenten der Rheinprovinz über die unentgeltliche Armensprechstunde in Krankenhäusern und Hinweise auf dieselbe an den Türschildern, welche sie als unerlaubte Werbung betrachteten.298 Diese Klage wirft ein Licht auf einen offenbar stattgefundenen und be292 Zur Rolle der Stiftungen in der Armenfürsorge des Untersuchungsraumes siehe MarxJaskulski, Armut und Fürsorge, S. 169–176. 293 Vgl. Kankeleit, Badereisen, insbes. S. 7–22, 132–149; das Reglement befindet sich in LHAK Best. 655,14 Nr. 826, Schreiben des Königlichen Badekommissars Bad Bertrich. 294 Genannte Erkrankungen u.a.: „Erhöhte Reizbarkeit des Nervensystems, Leber- und Magenkrankheiten, Gallensteine, Gicht und Rheumatismus“, siehe Ebd. 295 LHAK Best. 403 Nr. 7400, Schreiben des Regierungsmedizinalrates vom 10. November 1903. 296 LHAK Best. 403 Nr. 7400, Schreiben des Regierungsmedizinalrates vom 02. März 1904. 297 Der zuständige Augenarzt war bereits zuvor am Krankenhaus der Borromäerinnen tätig. 298 LHAK Best. 403 Nr. 15952, S. 289–315. Protokoll einer Sitzung von Ärztevertretern und Behördenvertretern aus Innenministerium und Oberpräsidium der Rheinprovinz vom

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merkenswerten Wandel in der Wahrnehmung armer Patienten. War die Aufnahme unbemittelter Patienten im Rahmen von Freibetten o.ä. ursprünglich ein finanzielles Verlustgeschäft gewesen, zeigt die Beschwerde von ärztlicher Seite über „unerlaubte Werbung“, dass auch diese Patienten inzwischen zu offenbar auch finanziell attraktiven Kunden geworden waren. Wie und weshalb sich die finanzielle Attraktivität armer Patienten im Laufe der Zeit wandelte, wird im dritten Teil der Arbeit zu untersuchen sein. 2.4. Neue Ansprüche: Kranken- und Unfallversicherung auf dem Land Die bisherigen Ausführungen hatten in erster Linie Strukturen der im Krankheitsfalle verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten im ländlichen Raum zum Gegenstand. Mit der flächendeckenden Einführung der Sozialversicherungen ab 1883 wurde von staatlicher Seite ein System etabliert, dass vor allem über die Bereitstellung neuer Finanzierungen von Krankheit und Behandlung Bedeutung besaß.299 Für die ländliche Bevölkerung im Allgemeinen und ihre ärmeren Teile im Besonderen bot das Versicherungsprinzip strukturell eine Möglichkeit, sich eigenständig und mit einem verbindlichen Leistungsanspruch gegen die Fährnisse von Krankheit, Alter und Armut abzusichern, ohne im Bedarfsfalle auf das Wohlwollen einer prüfenden Armenverwaltung angewiesen zu sein.300 Der grundlegende Wandel von der Vorstellung individueller Schuld an der Notlage hin zu einem Verständnis der „individuelle[n] Wohlfahrt [als] einem rechtlich abzusichernden Ziel“ kollektiven Handelns ist in der Forschung früh benannt worden.301 Auch die Krankenversicherung, von Versicherten als zentraler Teil der Sozialversicherungen wahrgenommen und „von vorneherein populär“302, als eine wesentliche „Bearbeitungsform des sozialen Problems Krankheit“ geriet so in den Blick, wurde aber zunächst vor allem in ihren Frühformen betrachtet.303 Die auch später vorherrschende Betrachtung städtischer Arbeitsverhältnisse verwundert gar nicht so sehr, angesichts der propagandistischen Betonung einer auf Arbeiter gerichteten Politik bei den zeitgenössischen Protagonisten und dem erheblich verzögerten Einbezug der landwirtschaftlichen Beschäftigten in die verschiedenen Versicherungs­ zweige.304 04. November 1913. 299 Sachsse, Perspektive, S. 486; Alber, Armenhaus, S. 50. 300 „Strukturell“ meint hier nur die Bereitstellung entsprechender Einrichtungen. Inwiefern diese tatsächlich in dem beschriebenen Sinne wirksam wurde wird im Teil III der Arbeit untersucht. Zu den positiven Folgeannahmen für die Krankenversicherung vgl. Moser, Volksgesundheit, S. 39. 301 Alber, Armenhaus, S. 28. 302 Ritter, Soziale Frage, S. 39. 303 Frevert, Krankheit, S. 18. 304 Ritter, Sozialversicherung, S. 34. Der ländliche Raum spielt etwa bei Tennstedt, Ausbau nur am Rande eine Rolle.

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In den folgenden Ausführungen werden sowohl die generellen Strukturen und Regelungen der Krankenversicherung, als auch deren Ausgestaltung im lokalen Untersuchungsraum hinsichtlich ihrer Auswirkungen und Rolle für ländliche Arme in den Blick genommen. Auf der allgemeinen Ebene geht es dabei vor allem um die Zugangsmöglichkeiten für die ärmere Bevölkerung einer landwirtschaftlich geprägten Region zu einem System der Krankenversicherung, das in seiner Gestaltung auf Industriearbeiter ausgerichtet war. War in einem Versicherungssystem, das tendenziell dauerhaft beschäftigte Versicherte voraussetzte, überhaupt Platz für Taglohnarbeiter mit kleinem Eigenbesitz, die typische Klientel der Armenfürsorge im hiesigen Untersuchungsgebiet? Daran anschließend ist in lokaler Hinsicht von Interesse, inwiefern das Leistungsspektrum der Kassen eine für den ländlichen Raum spezifische Ausgestaltung erfuhr. Schließlich ist danach zu fragen, welchen Entwicklungen und Veränderungen die Kassenlandschaft in den hier untersuchten Regionen unterlag und welche Auswirkungen diese auf Zugang und Umfang des Krankenkassenangebots hatte. Die Darstellung wird sich dabei vor allem auf die Kassen der Gemeindekrankenversicherung305 und die Ortskrankenkassen beziehen und Betriebsund Innungskrankenkassen beiseite lassen, da selbige im Untersuchungsraum praktisch keine Rolle spielten.306 Zudem sind für die Frage nach dem Nutzen der Krankenkassen im Umgang mit dem Armutsrisiko Krankheit die öffentlichen Kassen von besonderer Bedeutung, wurden sie doch von derselben Verwaltung errichtet, die auch für die Armenfürsorge verantwortlich zeichnete. Etwaige Instrumentalisierungen und gegenseitige Einflüsse dieser Funktionen lassen sich daher an den öffentlichen Kassen viel eher erkennen und nachvollziehen. Ein kurzer Blick soll schließlich auch auf die Bedeutung der weiteren krankheitsbezogenen Sozialversicherungen, insbesondere in Gestalt der Landesversicherungsanstalt, für die hiesige ländliche Gesundheitsversorgung geworfen werden.307 2.4.1. Die Gemeindekrankenversicherung Im Hinblick auf die Gestaltung der Gemeindekrankenversicherung hat Gerhard Ritter schon früh darauf hingewiesen, dass diese „eng an die älteren Formen der Fürsorge für kranke Arme“ anknüpfte.308 In dieser speziellen Form 305 Hier liegen vor allem Quellen zu den Gemeindekrankenversicherungen der Bürgermeistereien Zeltingen, Bengel-Neuerburg und des Kreises Daun vor. 306 Im Kreis Bitburg scheiterten noch in den 1870er Jahren verschiedene Versuche, gewerbliche Unterstützungskassen zu gründen an der mangelnden Mitgliederzahl. Dreesen, Industrialisierung, S. 38. 1891 war im Regierungsbezirk Trier nur eine einzige Innungskrankenkasse vorhanden, Betriebskrankenkassen bestanden vor allem in den städtischen Kreisen und den industrialisierten Regionen des Saargebiets. Vgl. Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1889–1891. 307 Die Untersuchung der konkreten Folgen für den einzelnen Betroffenen folgt in Teil III der Arbeit. 308 Ritter, Sozialversicherung, S. 33.

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der Krankenkasse wurden die Finanzmittel der Kasse ohne Mitspracherechte der Versicherten von der Gemeinde verwaltet; im Unterschied zu den Ortsoder Betriebskrankenkassen, die ihre Mittel unter Beteiligung der Beitragszahler selbst verwalteten.309 Ihre Leistungen beschränkten sich zudem auf die gesetzlich vorgeschriebenen Regelleistungen, wohingegen die übrigen Kassen die Möglichkeit besaßen, diese Regelleistungen in gewissem Rahmen zu erweitern.310 Diese Einschränkungen resultierten aus dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Charakter der Gemeindekrankenversicherung als subsidiärer Versicherung, die alle diejenigen Versicherungspflichtigen aufnehmen sollte, die nicht über eine der primären Kassenformen versichert waren.311 In dieser reinen Sicherungsfunktion war sie der Armenfürsorge durchaus vergleichbar. Ähnlich war sie dieser aber auch hinsichtlich ihrer Finanzierung. So wie Armenfürsorgeausgaben, die nicht aus Stiftungen etc. gedeckt werden konnten, aus der Gemeindekasse bezahlt werden mussten, haftete die Gemeindekasse auch für eventuelle Minusbeträge der Gemeindekrankenversicherung.312 Ritter bewertete diese Konstruktion der Gemeindekrankenversicherungen im Ganzen durchaus positiv, „fingen [sie doch] vielfach solche Arbeiter auf, die in anderen Kassen nicht als versicherungsfähig galten, weil die Beiträge zu den Gemeindekassen niedrig lagen und notfalls durch gemeindliche Zuschüsse ergänzt wurden.“313 Auch wenn er damit im Wesentlichen die Intention der Initiatoren des Krankenversicherungsgesetzes wiedergeben dürfte, muss diese wohlwollende Bewertung bei näherem Hinsehen doch deutlich relativiert werden. Zunächst einmal waren nach dem KVG wichtige Gruppen der Beschäftigten im ländlichen Bereich überhaupt nicht versicherungspflichtig. Sowohl land- und forstwirtschaftliche Arbeiter, als auch Personen, die den versicherungspflichtigen Gewerbezweigen für weniger als eine Woche angehörten314 – dieser Passus betraf vor allem Tagelöhner – waren von der Versicherungspflicht befreit. Argumentativ hatte der Gesetzgeber sich dabei auf eine – mehr angenommene als empirisch gesicherte – existenzsichernde Bedeutung der ländlichen Familien- und Erwerbsstrukturen gestützt.315 Nach dem KVG von 1883 hatten die Gemeinden allerdings die Möglichkeit, diese Personenkreise über statuarische Beschlüsse für versicherungspflichtig zu erklären.316 Diese 309 § 9 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 77; Selbstverwaltung der Mittel in den Ortskrankenkassen Ebd., § 33. 310 Die Regelleistungen sind zusammengefasst Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 25–30; Frerich/Frey, Handbuch, S. 97–99. 311 Dies waren vor allem Orts-, Betriebs-, Innungs- oder Knappschaftskassen. § 1 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 75. 312 „Reichen die Bestände der Krankenversicherungskasse nicht aus, um die fällig werdenden Ausgaben derselben zu decken, so sind aus der Gemeindekasse die erforderlichen Zuschüsse zu leisten.“: Ebd., Abs. 4. 313 Ritter, Sozialversicherung, S. 33. 314 § 2, Abs. 1 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 74. 315 Redder, Armenhilfe, S. 112. 316 §§ 1–2 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 73f.

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Möglichkeit nutzte aber keine der Körperschaften, zu denen uns Quellen vorliegen. Der Gemeinderat der Bürgermeisterei Zeltingen im Kreis Bernkastel beschränkte die Pflichtmitgliedschaft in der Gemeindekrankenversicherung der Bürgermeisterei ausdrücklich auf die „in §1 des Gesetzes vom 15. Juni 1883 bezeichneten Personen“.317 Auch die Statuten der Gemeindekrankenversicherungen der Bürgermeisterei Bengel-Neuerburg im Kreis Bitburg und des Kreis Daun sahen eine Versicherungspflicht von Tagelöhnern, Land- oder Forstarbeitern nicht vor.318 Der Gemeinderat der Bürgermeisterei Lutzerath im Kreis Cochem hatte offenbar zunächst ein solches Statut erlassen, hob diesen Beschluss aber wieder auf.319 Die Angehörigen nicht versicherungspflichtiger Gruppen waren allerdings immer berechtigt, der Gemeindekrankenversicherung beizutreten.320 Dieser Unterschied machte sich darin bemerkbar, dass nach dem KVG für freiwillige Mitglieder einer Versicherungskasse statuarisch eine Karenzzeit von bis zu sechs Wochen zwischen dem Beitritt zur Kasse und einem erstmaligen Leistungsempfang festgelegt werden konnte.321 Für die Gemeindekrankenversicherung in Zeltingen bestimmte der Gemeinderat eine entsprechende Frist von vier Wochen.322 Hinzu kam, dass die Beiträge zur Krankenversicherung jeweils am „ersten Wochentag des Monats im Voraus“ gezahlt werden mussten.323 Die Verbindung dieser Bestimmungen hatte zur Folge, dass etwa ein Tagelöhner im Voraus für mindestens vier Wochen einen Versicherungsbeitrag leisten musste, ohne zu wissen, ob er diesen überhaupt über einen regelmäßigen Verdienst in dieser Zeit refinanzieren können würde und ob er die dafür gebotenen Leistungen überhaupt in Anspruch nehmen werde.324 Angesichts geringer Verdienstsummen in Tagelohn und Landwirtschaft dürfte die Aussicht auf eine große Zahlung mit nicht zwingend gegebenem Nutzen eine 317 LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Beschluss des Gemeinderats vom 12. März 1888, Abs. 3. Einen entsprechenden Beschluss fasste der Zeltinger Gemeinderat erst 1888 auf eine diesbezügliche Verfügung der Regierung Trier hin. Vgl. dazu die Ausführungen zur RVO in Kapitel 2.4.3. 318 ALVR APR Nr. 3443, Nr. 50, Statut der Gemeinde-Krankenversicherung Bengel-Neuerburg vom 28. November 1892; ALVR APR Nr. 3444, Nr. 7, Statut der gemeinsamen Gemeindekrankenversicherung des Kreises Daun vom 22. Dezember 1903. 319 LHAK Best. 403 Nr. 11064, Schreiben des Regierungspräsidenten zu Koblenz vom 16. März 1897: „Unter dem 10.Oktober 1895 beschloß jedoch die Bürgermeisterei-Versammlung, daß die Ausdehnung des Versicherungszwanges auf die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter in Fortfall kommen solle“. 320 § 4, Abs. 2 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 75. 321 § 6, Abs. 4 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 76. 322 LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Beschluss des Gemeinderats vom 12. März 1888, Abs. 10. 323 LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Beschluss des Gemeinderats vom 12. März 1888, Abs. 6. Für Versicherungspflichtige musste diese Beiträge der Arbeitgeber vorschießen. 324 Wolff, Pockenschutzimpfung, hier: 379, hat für die Akzeptanz von Pockenschutzimpfungen gezeigt, dass derartige zukunftsbezogene Entscheidungen von den Betroffenen im Sinne einer „klassische Risikoinvestition“ abgewogen wurden und nicht etwa einem häufig unterstellten Mangel an Vorsorgedenken entsprangen. Vergleichbares gilt auch hier, vgl. dazu auch den Fall Martin W. auf S. 365.

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sehr hohe Hürde für den Versicherungsbeitritt gerade finanziell schlechter ausgestatteter Schichten gebildet haben.325 Auch die von Ritter angeführte geringe Beitragshöhe der Gemeindekrankenversicherung kann nur eingeschränkt als Argument für eine Auffangfunktion der Gemeindekrankenversicherung gelten. Zwar ist es richtig, dass deren Beitragssätze generell niedriger lagen, als die der Ortskrankenkassen, doch zeigt die Regelung der Beitragshöhe durch die Gemeindeverwaltungen auch hier eher die Tendenz einer restriktiven Ausgestaltung der Versicherungsbedingungen. So betrug der Versicherungsbeitrag in Zeltingen spätestens 1888 mit 1,5 % des üblichen Ortslohnes das gesetzlich zugelassene Maximum.326 1892 war die Zeltinger Gemeindekrankenversicherung „durch die vielen Ausgaben für Krankengelder, Medikamente pp. in eine solch schlechte finanzielle Lage gekommen, dass solche nur durch namhafte Zuschüsse seitens der Gemeindekassen lebensfähig erhalten werden konnte“ und der Beitrag mit der notwendigen Genehmigung der höheren Verwaltungsbehörde auf 2% erhöht wurde.327 Die in Zeltingen vorgenommene hürdenreiche Ausgestaltung der Gemeindekrankenversicherung war als solche aber offenbar kein Einzelfall. Die Statuten der Gemeindekrankenversicherung Bengel-Neuerburg von 1892 sahen ebenfalls landwirtschaftliche Arbeiter lediglich als Beitrittsberechtigte vor, die Karenzzeit bis zu einem erstmaligen Leistungsbezug betrug in diesem Fall sogar sechs Wochen ab dem Beitritt.328 Der Beitrag musste auch hier monatlich im Voraus entrichtet werden und betrug ebenfalls 2%.329 Auf der Leistungsseite betrug das Krankengeld mit 50% des ortsüblichen Taglohnes, gestaffelt nach Geschlecht und Alter, zwischen 40 und 80 Pfennigen täglich.330 Auch die seit 1903 bestehende Gemeindekrankenversicherung im Kreis Daun war in ihren Bestimmungen den anderen Beispielen vergleichbar. Landwirtschaftliche Arbeiter, Dienstboten und kurzfristig Beschäftigte konnten auch hier lediglich freiwillig Kassenmitglied werden.331 Der monatlich im Voraus zu zahlende Beitrag betrug zu diesem Zeitpunkt bereits 3%, bei einer Karenzzeit bis zum ersten Leistungsempfang von sechs Wochen.332 Das Kran325 Vgl. Rheinheimer, Armut, S. 101. Zu Verdiensten und Kosten von Krankheit siehe Teil III. 326 LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Beschluss des Gemeinderats vom 12. März 1888, Abs. 5; § 9 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 77. 327 LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Beschluss der Bürgermeistereiversammlung vom 09. August 1892; § 10 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 78. 328 ALVR APR Nr. 3443, Nr. 50, Statut der Gemeinde-Krankenversicherung Bengel-Neuerburg vom 28. November 1892, insbes. § 4. 329 Ebd., § 5. 330 Erwachsene Männer erhielten 80 Pfg, erwachsene Frauen 60 Pfg., jugendliche Männer 50 Pfg. und jugendliche Frauen 40 Pfg. Ebd., § 10. 331 ALVR APR Nr. 3444, Nr. 7, Statut der gemeinsamen Gemeindekrankenversicherung des Kreises Daun vom 22. Dezember 1903, insbes. § 11. 332 Ebd., § 13.

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kengeld war in gleicher Weise gestaffelt wie in Bengel-Neuerburg, lediglich die erwachsenen Männer erhielten mit 90 Pfg. pro Tag einen etwas höheren Betrag als dort.333 Auffällig ist die hohe Detaildichte der Verhaltensregelungen für Kassenmitglieder, unter anderem bestimmte § 23 ausführlich die Verhaltenspflichten des Kranken: Erkrankte Mitglieder dürfen sich der ärztlichen Untersuchung nicht entziehen; sie müssen, solange es ihr Gesundheitszustand erlaubt, den Arzt an seinem Wohnorte aufsuchen, seine Vorschriften gewissenhaft befolgen und dürfen weder Arbeiten, welche nach dem Urteile des Arztes mit ihrem Zustande unverträglich sind, noch sonstige ihre Genesung erschwerende Handlungen vornehmen. Ohne Erlaubnis des Bürgermeisters dürfen Erkrankte weder Saft- noch Schankwirtschaften besuchen, noch während derselben Krankheit den Arzt wechseln.334

Insbesondere die Bestimmung, Gastwirtschaften zu meiden, wies eine frappante Ähnlichkeit zum Diskurs der Unterstützungswürdigkeit in der allgemeinen Armenfürsorge auf.335 Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert galt übermäßiger Alkoholkonsum oder „Trunksucht“ immer noch in erster Linie als charakterlicher Mangel, der die „Würdigkeit“ eines Antragstellers, eine Unterstützung zu beziehen, höchst zweifelhaft erscheinen ließ.336 Mit Verhaltensvorschriften wie der zitierten oder Ausschlussparagraphen, welche Verletzungen nach Schlägereien oder Erkrankungen durch „geschlechtliche Ausschweifungen“ von der Leistungspflicht der Kassen ausschlossen, versuchten diese in ähnlich rigider Weise wie die Armenfürsorge regulierend in die Lebensführung ihrer Klienten einzugreifen.337 Die Dauner Gemeindekrankenversicherung verpflichtete ihre Mitglieder schließlich auch, sich im Krankheitsfalle „an den nächstwohnenden Kassenarzt zu wenden“.338 In ähnlicher Weise hatte auch die Zeltinger Kasse 1893 bestimmt, dass ärztliche Behandlung „nur durch den Armen- und Districtsarzt“ der Bürgermeisterei zu erfolgen habe.339 Sehr deutlich wird hier die Parallele in der beschränkten Arztwahl bei Armen und Mitgliedern der Gemeindekrankenversicherung deutlich. Wie ablehnend die Gemeindeverwaltungen der Gemeindekrankenversicherung gegenüberstanden, veranschaulicht die Gründung der Zeltinger Ge333 Ebd. § 18. 334 Ebd., § 23. 335 Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 115. 336 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 396–398. Alkoholsucht ist auch in der modernen Sozialverwaltung ein Kriterium der Ursachenstatistik für den Sozialhilfebezug. Vgl. Buchholz, Überlieferungsbildung. 337 Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 115–116. 338 ALVR APR Nr. 3444, Nr. 7, Statut der gemeinsamen Gemeindekrankenversicherung des Kreises Daun vom 22. Dezember 1903, § 21. 339 LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Bekanntmachung des Gemeinderatsbeschlusses vom 25. Oktober 1893. Gegenüber den Regelungen von 1883, die diesen Punkt offen gelassen hatten, bedeutete dies zumindest formal eine Einschränkung. Inwiefern die Betroffenen in der Praxis weiter entfernte Ärzte aufgesucht haben, muss hier offen bleiben.

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meindekrankenversicherung. Im März 1884 beschlossen die Gemeinderäte der Bürgermeisterei Zeltingen zunächst die Gründung von Ortskrankenkassen in den Einzelgemeinden.340 Dieser Versuch scheiterte an der dazu erforderlichen Zahl von mindestens einhundert versicherungspflichtigen Personen in den Einzelgemeinden. Auch ein zweiter Versuch, eine Ortskrankenkasse auf Basis der gesamten Bürgermeisterei Zeltingen zu gründen, scheiterte an der geringen Zahl Versicherungspflichtiger.341 Das Protokoll der Rachtiger Bürgermeistereiversammlung verzeichnete daraufhin: Es bleibt nichts anderes übrig, als die Errichtung einer gemeinsamen sogenannten Gemeinde-Kranken-Versicherung nach §4 für die zur Zeit im Bezirke sich aufhaltenden 16 Handwerksgesellen.342

Blickt man auf die rechtliche Konstruktion der Gemeindekrankenversicherung, ist leicht ersichtlich, dass die Vorbehalte der Gemeinderäte gegen diese in erster Linie darin begründet lagen, finanzielle Risiken für die eigene Gemeindekassen durch die Übernahme von Defiziten der Versicherung vermeiden zu wollen.343 Diese Gefahr war umso größer, wenn zudem nur sehr wenige Personen versichert waren und Beiträge entrichteten344, was in der Mehrzahl der Gemeindekrankenversicherungen der Fall war.345 In der Bürgermeis340 LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Sitzungsprotokoll der Bürgermeisterei-Versammlung Zeltingen-Rachtig vom 03. Juli 1884. 341 Ebd. 342 Ebd. 343 Auch in dieser Hinsicht wird die Nähe von Gemeindekrankenversicherung und Armenfürsorge sichtbar, war doch auch in jener fast immer das Bestreben der Behörden, den Zugang möglichst zu verhindern und die finanziellen Belastungen zu minimieren. MarxJaskulski, Armut und Fürsorge, S. 162–166, vgl. auch Eser, Verwaltet, S. 210–220; Redder, Armenhilfe, S. 112. 344 Vgl. dazu die Äußerungen im Beschlussbuch des Gemeinderates Maring-Noviand: „Der Vorsitzende theilte der Versammlung die Bestimmungen des Gesetzes betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15ten Juni 1883 eingehend mit, und macht besonders auf die Vortheile aufmerksam, welche die Errichtung von Ortskrankenkassen für die Gemeinde im Gegensatz zu der Gemeindekrankenversicherung haben würde, wenn nicht der Einführung der ersteren mit eigenem Vorstande und eigener Kassenverwaltung bei der außerordentlich geringen Anzahl versicherungspflichtiger Personen allzugroße Schwierigkeiten entgegenstünden.“ VGV BKS, Beschlussbuch des Gemeinderates Maring-Noviand, 1882–1905, Eintrag vom 18. Juni 1884. 345 Ende 1888 hatten die 60 Gemeindekrankenversicherungen im Regierungsbezirk Trier 5479 Mitglieder, im Durchschnitt ~91 Mitglieder pro Kasse. Für die Ortskrankenkassen betrug dieses Verhältnis bei 9417 Mitgliedern in 41 Kassen immerhin rund 229 Mitglieder pro Kasse. 1891 hatten die Gemeindekrankenversicherungen im Regierungsbezirk Trier in der Gesamtsumme der Einnahmen und Ausgaben bei 70043 M Einnahmen gegenüber 70515 Mark Ausgaben eine Deckungslücke von 472 M. Für die Ortskrankenkassen standen 224571 M Einnahmen Gesamtausgaben von 209113 M gegenüber, ein Überschuss von 15458 M. Die Mitgliederzahlen 1891 betrugen für die beiden Kassenformen 7418 in 68 Gemeindekrankenversicherungen (~ 109/Kasse) und 12367 in 46 Ortskrankenkassen (~269/Kasse). Siehe LHAK Best. 442 Nr. 3139, Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinal-Wesen im Regierungsbezirk Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1886, 1887 und 1888, sowie Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1889–1891.

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terei Zeltingen sahen sich die Verantwortlichen veranlasst, diesem Problem mit der Einrichtung eines größeren Versicherungsverbandes346 in Form einer Gemeindekrankenversicherung für die gesamte Bürgermeisterei zu begegnen.347 Im Ganzen gesehen waren die Bedingungen der Gemeindekrankenversicherung im ländlichen Raum für ländliche Arme sehr ungünstig gehalten. Hürdenreiche Aufnahmebedingungen mit Vorauszahlungen, Karenzzeiten und Beiträgen im möglichen Maximalbereich korrespondierten hier mit strengen Verhaltensvorschriften und dem faktischen Verbot der Arztwahl für die Kassenmitglieder. Die praktische Ausgestaltung der Gemeindekrankenversicherung durch die zuständigen Gemeindebehörden führte den im Grunde begrüßenswerten Ansatz einer auch für Minderbemittelte vergleichsweise leicht zugänglichen Basisversicherung ad absurdum. 2.4.2. Die Ortskrankenkassen Im September 1906 unternahm der Rat der Bürgermeisterei Zeltingen einen erneuten Versuch, eine Ortskrankenkasse zu gründen. In dem Bestreben, die notwendige Mindestzahl an Versicherungspflichtigen zu erreichen, sollte die Kasse von vorneherein „für alle vorkommenden Gewerbezweige und Betriebsarten“ errichtet werden.348 Noch kurz vor der eigentlichen Gründungsversammlung korrespondierte der Bürgermeister mit seinem Amtskollegen in der Bürgermeisterei Mülheim über die Frage, warum „nach dem Urteilen der dortigen und anderer Ortskrankenkassen“ landwirtschaftliche Arbeiter in den Ortskrankenkassen nicht beitrittsberechtigt zugelassen werden sollten.349 Die Antwort des Angeschriebenen, er halte „die Versicherung dieser Arbeiter in den Moselgemeinden nicht für dringend notwendig, zumal die landwirtschaftlichen Dienstboten ja Kraft Gesetzes schon versicherungsberechtigt sind“350, deutet dabei auf eine gewisse Interpretationsfähigkeit der Bestimmungen durch die lokalen Behörden hin. Ein versicherungswilliger Landarbeiter konnte eben gegebenenfalls auch als landwirtschaftlicher Dienstbote verzeichnet werden. Die individuell und lokal verschiedene Ermessenspraxis der Kassenverwalter bestimmte also in Maßen mit über die Verbreitung des Versicherungsgedankens.

346 Ute Redder zufolge war dieser Effekt vom Gesetzgeber durchaus beabsichtigt. Redder, Armenhilfe, S. 112. 347 LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Bekanntmachung des Gemeinderatsbeschlusses vom 13. August 1884. 348 LHAK Best. 655,123 Nr. 404, Beschluss des Rates der Bürgermeisterei Zeltingen vom 15. September 1906. 349 LHAK Best. 655,123 Nr. 404, Schreiben des Bürgermeisters Zeltingen vom 05. November 1906. 350 LHAK Best. 655,123 Nr. 404, Schreiben des Bürgermeisters Mühlheim vom 08. November 1906.

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Da die Ortskrankenkassen, anders als die Gemeindekrankenkassen, keinen Anspruch auf Ausgleich eines eventuellen Finanzdefizits hatten, boten die­se den lokalen Behörden eine Möglichkeit, finanzielle Risiken auszulagern. Diese Motivation lässt ein Schreiben des Bürgermeisters zu Zeltingen an das Regierungspräsidium erkennen, in dem dieser anfragte, ob die Gemeindekasse nach Errichtung der Ortskrankenkasse keine Zuschüsse mehr leisten müsse.351 In der Antwort wurde auf die bestehende Versicherungsverpflichtung der Gemeindekrankenkasse in Fällen verwiesen, „in welchen durch die Unmöglichkeit einer Aufnahme der betreffenden Person in die Ortskrankenkasse eine Krankenversicherungsfürsorge bei letzter nicht gegeben ist.“ Letzterer Umstand bedeutete wiederum eine Motivation, die Aufnahmekriterien der Ortskrankenkassen sehr offen zu gestalten. Die Bevorzugung einer Ortskrankenkasse auf Seiten der Lokalverwaltung manifestierte sich auch in der zügigen Gründung dieser Kasse.352 Die Zahl der versicherungspflichtigen Personen lag mit 104 nur äußerst knapp über der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestzahl von 100 Personen.353 Indizien für eine ähnlich rasch versuchte Gründung von Ortskrankenkassen finden sich auch in anderen Gemeinden.354 Im Vergleich dazu hatte eine gesetzliche Krankenkasse im reichsweiten Durchschnitt um 1900 bereits 423 Mitglieder.355 Dass die raschen Gründungen nicht immer ohne Rückschläge blieben, zeigt sich im Kreis Cochem. Hier waren im Jahr 1900 vier Gemeindekrankenversicherungen, vier Ortskrankenkassen und zwei Betriebskrankenkassen errichtet, 1913 war bei gleicher Gesamtzahl der Versicherungen eine der Ortskrankenkassen offensichtlich wieder in eine Gemeindekrankenversicherung umgewandelt worden.356 Im Prinzip hatte aber der „innovative Gehalt“ des Kran351 LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Schreiben des Regierungspräsidenten zu Trier vom 09. Februar 1908. 352 Das Kassenstatut der Ortskrankenkasse Zeltingen trat am 01. April 1907 in Kraft. Angesichts von Zeitabständen zwischen einzelnen Gemeinderatssitzungen von mehreren Wochen, verlief die Kassengründung innerhalb von sechs Monaten seit dem September 1906 auch zeitlich sehr rasch. 353 LHAK Best. 655,123 Nr. 404, Nachweisung über die in den einzelnen Gewerbezweigen oder Betriebsarten der Gemeinden der Bürgermeisterei Zeltingen, für welche eine Ortskrankenkasse eröffnet werden soll, beschäftigten versicherungspflichtigen Personen vom 20. November 1906; zur Mindestzahl von 100 Personen: § 16 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 79. 354 Die Mitgliederzahlen der vier Ortskrankenkassen im Kreis Simmern waren für Kastellaun 262, für Simmern 287, für Rheinböllen 167, für Gemünden 136. Nur in Kirchberg bestand noch eine Gemeindekrankenversicherung mit 341 Mitgliedern. LHAK Best. 441 Nr. 13675, Sanitätsbericht für den Kreis Simmern für das Jahr 1900. Im Vergleich dazu hatte eine 355 Nach Spree, Ungleichheit, S. 184. 356 LHAK Best. 441 Nr. 13675, Jahresgesundheitsbericht für den Kreis Cochem für das Jahr 1900, S. 458–460; LHAK Best. 441 Nr. 13682, Jahresgesundheitsbericht für den Kreis Cochem für das Jahr 1913, S. 1927. Für die erwähnte Gemeindekrankenversicherung Bengel-Neuerburg könnte das in § 16 verzeichnete Inkrafttreten der Gemeindekrankenversicherung am 01. Januar 1890 bedeuten, dass hier ebenfalls zunächst (1884) versucht

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kenversicherungsgesetzes mit der inneren Förderung der Ortskrankenkasse im hiesigen ländlichen Raum seine praktische Wirksamkeit deutlich erkennen lassen.357 Anders als die Gemeindekrankenversicherungen waren die Ortskrankenkassen berechtigt, in gewissem Rahmen ihre Leistungen über die Regelleistungen hinaus zu erweitern. Dieser Umstand macht für die Beurteilung der Attraktivität und Wirkung der Krankenversicherungen für die ländliche Bevölkerung eine Untersuchung von Zugangsberechtigungen und Kassenleistungen notwendig. Da die gewährten Leistungen in der Selbstverwaltung der Kassen bestimmt wurden, sind hier in erster Linie die Kassenstatuten aussagekräftig. Leider ließen sich für den Untersuchungsraum nur einige wenige Statuten ausfindig machen.358 Die differierende Ausgestaltung der Leistungen und deren Untersuchung kann daher nur exemplarische und keine repräsentative Bedeutung haben. Ähnlich wie bei den Gemeindekrankenversicherungen waren die Berufsgruppen der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter und der kurzfristig, also weniger als eine Woche, beschäftigten Arbeiter auch bei den untersuchten Ortskrankenkassen Beitrittsberechtigte. Während die Ortskrankenkasse Prüm 1892 zwar keinen landwirtschaftlichen Arbeitern, aber statuarisch immerhin kurzfristig Beschäftigten die Versicherung ermöglichte359, nahm die Ortskrankenkasse in Rheinböllen neben kurzfristig Beschäftigten zumindest forstwirtschaftliche Arbeiter, ab 1903 dann auch landwirtschaftliche Arbeiter auf.360 Eine wichtige Erweiterung der Beitrittsberechtigung betraf in Rheinböllen 1900 auch die mithelfenden Familienangehörigen.361 Diese waren sie von den Leistungen der Krankenversicherung bis dato ausgeschlossen gewesen, verfügten sie doch nicht – oder wohl nur extrem selten – über einen Arbeitsvertrag mit dem betriebsführenden Familienmitglied. Da die Versicherungsberechtigung nun explizit nicht mehr allein an die Existenz eines Arbeitsvertrages gebunden war, erweiterte dies den Kreis der Versicherungsberechtigten wurde, eine Ortskrankenkasse zu gründen, diese aber später in eine Gemeindekrankenversicherung umgewandelt werden musste. Vgl. ALVR APR Nr. 3443, Nr. 50, Statut der Gemeinde-Krankenversicherung Bengel-Neuerburg vom 28. November 1892. In Wittlich war bereits 1899 eine Ortskrankenkasse gegründet worden. Vgl. Schneider, AOK. 357 Vgl. Tennstedt, Selbstverwaltung, S. 85–88. 358 ALVR APR Nr. 3444, Nr. 24, Statut der Ortskrankenkasse Prüm vom 22. Dezember 1892; ALVR APR Nr. 3443, Nr. 58, Statut der Ortskrankenkasse Rheinböllen vom 26. August 1900; ALVR APR Nr. 3443, Nr. 52, Statut der Ortskrankenkasse Bendorf vom 19. Mai 1896; ALVR APR Nr. 3444, Nr. 29, Statut der Ortskrankenkasse der Bürgermeisterei Schwalbach in Bous an der Saar. 359 ALVR APR Nr. 3444, Nr. 24, Statut der Ortskrankenkasse Prüm vom 22. Dezember 1892. 360 ALVR APR Nr. 3443, Nr. 58, Statut der Ortskrankenkasse Rheinböllen vom 26. August 1900. Die forstwirtschaftlichen Arbeiter konnten statuarisch seit dem 22. Dezember 1894 aufgenommen werden, siehe Ebd., §1, Abs. 4; Aufnahme landwirtschaftlicher Arbeiter: Ebd., II. Nachtrag zum Statut vom 21. März 1904. 361 ALVR APR Nr. 3443, Nr. 58, Statut der Ortskrankenkasse Rheinböllen vom 26. August 1900, § 5, Abs. 2.

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immens.362 Die Statuten der Krankenkasse Schwalbach in Bous an der Saar boten der ländlichen Bevölkerung den wohl umfassendsten Zugang zu Versicherungsleistungen, da sie Angehörige land- und forstwirtschaftlicher Betriebe, kurzfristig Beschäftigte und mithelfende Familienangehörige gleichermaßen in den Kreis der Versicherungsberechtigten aufnahmen, womit bedeutende Schwachstellen der gesetzlichen Versicherung geschlossen wurden.363 Entscheidender als die nominelle Ausweitung der Beitrittsberechtigung war jedoch, dass die zusätzliche Hürde der in der Gemeindekrankenversicherung üblichen Karenzzeit vor dem erstmaligen Leistungsempfang kaum bestand. Von den hier untersuchten Ortskrankenkassen sah lediglich die Krankenkasse in Bendorf für freiwillige Kassenmitglieder nach dem Beitritt eine sechswöchige Bezugssperre für Krankenunterstützung vor.364 Im Hinblick auf die Zugangsmöglichkeiten erwiesen sich die Ortskrankenkassen damit im Vergleich zu den Gemeindekrankenversicherungen als sehr offen. Insbesondere die Beitrittsregelungen für Tagelöhner und landwirtschaftlich Beschäftige und die sofortige Leistungsberechtigung durch den weitgehenden Fortfall der Karenzzeiten waren hier bedeutsam. Für diejenigen, die ihr Einkommen im Rahmen einer ‚economy of makeshifts’ aus immer wieder wechselnden Quellen bestritten, bot sich hier eine vergleichsweise einfache Möglichkeit der gesundheitlichen Absicherung. In jedem Fall erhielten durch die lokale Ausgestaltung der Kassenpraxis zahlreiche Angehörige von Berufsgruppen Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung, die erst mit der Reichsversicherungsordnung 1911, bzw. deren Inkrafttreten 1914, auch gesetzlich Anspruch darauf erhielten.365 Auf der Leistungsseite, betrug die Bezugsdauer von Kassenleistungen in allen untersuchten Statuten das gesetzliche Minimum von 13 Wochen, von der Möglichkeit der Ausweitung auf bis zu ein Jahr machte keine der Kassen Gebrauch.366 Auch nach der Novelle zum Krankenversicherungsgesetz von 1903 362 Entsprechende Bestimmungen fanden sich auch in den Statuten der Ortskrankenkassen von Bendorf und Schwalbach in Bous an der Saar. ALVR APR Nr. 3443, Nr. 52, Statut der Ortskrankenkasse Bendorf vom 19. Mai 1896; ALVR APR Nr. 3444, Nr. 29, Statut der Ortskrankenkasse der Bürgermeisterei Schwalbach in Bous an der Saar. 363 Vgl. dazu auch Redder, Armenhilfe, S. 116. 364 ALVR APR Nr. 3443, Nr. 52, Statut der Ortskrankenkasse Bendorf vom 19. Mai 1896, § 21. Die Kassen in Prüm, Schwalbach, Rheinböllen und Bitburg gewährten auch freiwillig Versicherten alle Leistungen ab dem Beitrittstag. 365 Interessant wäre ein vergleichender Blick auf die Praxis der Krankenversicherung in den Agrarregionen des östlichen Preußens, da die beschränkenden rechtlichen Regelungen für Landarbeiter in erster Linie auf entsprechende Bestrebungen der dortigen Großgrundbesitzer zurückgingen. Vgl. dazu Mommsen, Reichsversicherungsordnung, S. 255–257 und Steinbeck, Berufskorporationen, S. 120–126. 366 Unterschiede bestanden lediglich in der Dauer der geleisteten Wöchnerinnenunterstützung. Während die meisten der untersuchten Kassen hier vier Wochen lang Leistungen gewährten, waren es in Schwalbach sechs Wochen. ALVR APR Nr. 3443, Nr. 52, Statut der Ortskrankenkasse Bendorf vom 19. Mai 1896; Ebd., Nr. 58, Statut der Ortskrankenkasse Rheinböllen vom 26. August 1900; ALVR APR Nr. 3444, Nr. 24, Statut der Ortskrankenkasse Prüm vom 22. Dezember 1892; Ebd., Nr. 29, Statut der Ortskrankenkasse

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wurden Leistungen lediglich auf das dann gültige Minimum von 26 Wochen Krankenunterstützung und sechs Wochen Wöchnerinnenunterstützung ausgeweitet.367 Die Möglichkeit der kostenlosen Mitversicherung Familienangehöriger bot nur die Ortskrankenkasse in Prüm, allerdings beschränkt auf eine Leistungsdauer von vier Wochen.368 Erst 1929 wurde die Familienhilfe allgemeingültig gesetzlich abgesichert.369 Die Krankenunterstützung konnte laut Gesetz im Bedarfsfalle durch die Übernahme der Kosten eines Krankenhausaufenthalts ersetzt werden.370 Diese Möglichkeit gewährten zwar alle untersuchten Kassen, aber nur auf Antrag eines Arztes und endgültige Entscheidung eines Kassengremiums – in der Regel des Vorstands – hin.371 Musste der Kranke aus seinem Verdienst Angehörigen unterhalten, waren die Krankenkassen verpflichtet, die Hälfte des Krankengeldes zusätzlich an die Angehörigen auszuzahlen.372 Die Ausgaben für eine Behandlung im Krankenhaus lagen somit tendenziell höher als die einer ambulanten Behandlung.373 Zudem behielten sich die Kassen über die Zulassung des Krankenhausbesuchs hinaus auch die Bestimmung des Krankenhauses vor.374 Die Arztwahl betreffend weisen die Bestimmungen der vorliegenden Kassenstatute im Gegensatz zu den Krankenhausbehandlungen auf eine weitgehende Freiheit der Kassenmitglieder hin. Die untersuchten Kassen machten in der Bürgermeisterei Schwalbach in Bous an der Saar. Zur Ausweitungsmöglichkeit für Kassenleistungen siehe § 21 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 81. 367 Frerich / Frey, Handbuch, S. 103.Die AOK Bitburg gewährte 1922 sogar 12 Wochen Wöchnerinnenfürsorge. LHAK Best. 459 Nr. 619, Rechnungsabschluss der AOK Bitburg für 1922, Februar 1924. 368 ALVR APR Nr. 3444, Nr. 24, Statut der Ortskrankenkasse Prüm vom 22. Dezember 1892, § 20. Die übrigen untersuchten Krankenkassen beließen es bei der prinzipiellen Möglichkeit, mithelfende Familienangehörige über eigene Beiträge mitzuversichern. Die Prümer Variante bot den Versicherten hierbei neben der Beitragsfreiheit den weiteren Vorteil, dass auch die nicht mithelfenden schulpflichtigen Kinder im Krankheitsfalle unentgeltliche Hilfe erhalten konnten. 369 Tennstedt, Ausbau, S. 233 370 § 7 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 76. 371 Die Krankenhausbehandlung war bereits ab 1883 eine Kann-Leistung, die im Laufe der Jahre de facto verpflichtend geworden war. Eine verbindliche Ausgestaltung fand sie aber erst im Krankenhausfinanzierungsgesetz von 1972. Siehe Labisch/Spree, Einführung, S. 16–17. 372 § 7 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 76. Von der Möglichkeit, bis zu einem Achtel des durchschnittlichen Taglohnes einem Kranken auch während eines Krankenhausaufenthalts als Geldzahlung zu gewähren, machte keine der Kassen Gebrauch. § 21 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 81. 373 Stollberg, Health, S. 272. 374 ALVR APR Nr. 3443, Nr. 52, Statut der Ortskrankenkasse Bendorf vom 19. Mai 1896, § 23; Ebd., Nr. 58, Statut der Ortskrankenkasse Rheinböllen vom 26. August 1900, § 22.; ALVR APR Nr. 3444, Nr. 24, Statut der Ortskrankenkasse Prüm vom 22. Dezember 1892, § 14; Ebd., Nr. 29, Statut der Ortskrankenkasse der Bürgermeisterei Schwalbach in Bous an der Saar, § 24.

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der Mehrzahl vom Prinzip der beschränkt freien Arztwahl Gebrauch375, bei dem die Kassenmitglieder in der Arztwahl zwar auf diejenigen Ärzte beschränkt waren, mit denen ihre Krankenkasse Verträge geschlossen hatte, innerhalb dieser aber die freie Wahl ihres behandelnden Arztes besaßen.376 In anderen Fällen wurden den Kranken sogar die uneingeschränkt freie Arztwahl eingeräumt.377 In der Krankenversicherung im ländlichen Raum war damit bereits um die Jahrhundertwende ein Prinzip in größeren Gebieten Usus, das – wie bereits geschildert – in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts auch in der armenärztlichen Versorgung großflächig eingeführt wurde. Es ist daher zu vermuten, dass bei der allmählichen Umstellung der Armenarztversorgung auf die freie Arztwahl aus einem „Qualitätsdruck“ heraus Erfahrungen aus der Krankenversicherung mit diesem Instrument übertragen wurden.378 Die Klientel der armenärztlichen Versorgung profitierte in diesem Falle also zumindest indirekt von den Wirkungen der Krankenversicherung. Zugleich beschränkten die Statuten mit dem Bezug auf die Ärzte aber das Spektrum der finanzierten Behandlungsalternativen – zumindest formal – auf das Angebot 375 Zu rechtlichen Verhältnissen Niggemann, Strukturwandlung und Stachelhaus, Beziehungen. 376 Die Prümer Statuten formulieren etwas unklar, für die Behandlung sei „der Kassenarzt“ zuständig. Unklar bleibt, ob damit nur ein einziger Kassenarzt gemeint war, oder die Bezeichnung lediglich auf die Vertragspartnerschaft eines Arztes mit der Ortskrankenkasse abzielte. ALVR APR Nr. 3444, Nr. 24, Statut der Ortskrankenkasse Prüm vom 22. Dezember 1892, § 23. Im Fall der Ortskrankenkassen Bendorf und Schwalbach musste die Behandlung zwar nur durch „einen der Kassenärzte“ erfolgen, während einer laufenden Behandlung durfte der Arzt jedoch nur mit Zustimmung des erstbehandelnden Arztes erfolgen. ALVR APR Nr. 3443, Nr. 52, Statut der Ortskrankenkasse Bendorf vom 19. Mai 1896, § 23; ALVR APR Nr. 3444, Nr. 29, Statut der Ortskrankenkasse der Bürgermeisterei Schwalbach in Bous an der Saar, § 24. Anders als in der Stadt führte im ländlichen Raum nicht die aus der Kassenzersplitterung resultierende geringe Zahl der Kassenmitglieder und Beitragsgelder zu einer stärkeren Einschränkung der Arztwahl, sondern eher die faktische Verfügbarkeit eines Arztes. Tamm, Ärzte, S. 459. In Rheinböllen stand den Kassenmitgliedern die Wahl innerhalb der Kassenärzte ohne weitere Einschränkungen frei. ALVR APR Nr. 3443, Nr. 58, Statut der Ortskrankenkasse Rheinböllen vom 26. August 1900, § 22. 377 So berichtete der Kreisarzt des Kreises Bernkastel 1891 über deren weitgehende Einführung in seinem Kreis: „Bei den Krankenkassen, die fast überall jetzt eingerichtet sind, ist der gewiß sehr zweckmäßige Modus eingeführt worden, daß sich die Kranken an einen beliebigen Arzt wenden können, welch’letzterer für die Einzelleistungen nach der Medizinaltaxe honoriert wird.“ LHAK Best. 442 Nr. 3893, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Bernkastel 1890, S. 209. Auch im Kreis Bitburg wurde schon 1905 mit Ausnahme einer Betriebskrankenkasse „bei den Kassen die Behandlung durch alle Aerzte“ ausgeübt. LHAK Best. 442 Nr. 3909, Kreisarztbericht für den Kreis Bitburg 1905. Im Kreis Bitburg waren 1893 11 Ärzte tätig, für 1924 sind 12 zugelassene Kassenärzte nachweisbar. Vgl. LHAK Best. 459 Nr. 620, Nachweisung der zur Kassenpraxis zugelassenen Ärzte im Bezirk des Versicherungsamtes Bitburg für 1924/1925. In Wittlich bestand seit Kassengründung 1899 freie Arztwahl für die Kassenmitglieder. Petry, Fürsorgewesen, S. 377. 378 Von einem solchen „Qualitätsdruck“ der Krankenkassenleistungen auf die Armenfürsorge geht auch Ute Redder aus. Vgl. Redder, Armenhilfe, S. 117.

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der akademisch-ärztlichen Medizin.379 Auch hier war die lokale Ausgestaltung den entsprechenden gesetzlichen Regelungen in der Reichsversicherungsordnung voraus.380 Unterschiede bestanden in der Gestaltung der Beiträge. Die zugrundeliegenden durchschnittlichen Taglohnsätze wurden teils differierend nach Klassen von Alter und Geschlecht wie bei den Gemeindekrankenversicherungen381, teils nach reinen Lohngruppen bestimmt.382 Die Höhe der daraus resultierenden Beiträge belief sich in allen Fällen auf umgerechnet 2,5–3% eines Monatslohnes.383 Ein Satz von 3% bildete dabei insofern eine Obergrenze, als dass eine weitere Erhöhung entweder eine Reduzierung der erweiterten Leistungen oder – falls die Kasse bereits nur noch die Regelleistungen gewährte – eine Prüfung der Kassenschließung nach sich zog.384 Diese Beitragshöhe scheint bis mindestens zum Anfang des 20. Jahrhunderts gehalten worden zu sein385, stieg aber bis zum Ende des Untersuchungszeitraums zwischenzeitlich auf bis zu 8% an.386 Da das ausgezahlte Krankengeld sich nach dem örtlichen durchschnittlichen Tageslohn richtete, sind allgemeine Aussagen über dessen Höhe nur eingeschränkt zu treffen. Die in den vorliegenden Statuten angegebenen Krankengelder bewegten sich zwischen 50 Pfg. und 1,– M in der jeweils niedrigsten

379 Damit war die Festlegung präziser, als die allgemeine Formulierung des § 6 KVG von der „ärztlichen Behandlung“. Diese bedeutete nach Reinhard Spree am Ende des 19. Jahrhunderts noch immer eine „allgemeine Heilbehandlung“ auch durch Nichtärzte. Spree, Kurpfuscherei, S. 114–115. Zu abweichenden Erscheinungen in der Praxis vgl. Kapitel 7.4. 380 Vgl. Kapitel 2.4.3. 381 Bei den hier untersuchten Kassen war dies in Prüm und Rheinböllen der Fall. Ebenso galt diese Staffelung in der Ortskrankenkasse Zeltingen, deren Statuten ansonsten leider nicht erhalten sind. Vgl. LHAK Best. 655,123 Nr. 404, Schreiben des Landrats zu Bernkastel an den Bürgermeister zu Zeltingen vom 03.01.1907. 382 Die Bendorfer Statuten sahen fünf Lohngruppen von 4,– M Taglohn vor. ALVR APR Nr. 3443, Nr. 52, Statut der Ortskrankenkasse Bendorf vom 19. Mai 1896, § 12; Die Schwalbacher Statuten sahen vier Lohngruppen von 3,– M vor. ALVR APR Nr. 3444, Nr. 29, Statut der Ortskrankenkasse der Bürgermeisterei Schwalbach in Bous an der Saar, § 12. 383 Die Beiträge wurden entweder in Prozenten des Monatslohns oder in konkreten Beträgen angegeben, letzteres z. B. in Rheinböllen und Prüm. 384 §§ 31, 47 KVG vom 15. Juni 1883. RGBl 9, S. 85 u. 90. 385 Entsprechend notwendige Änderungen der Kassenstatuten sind bis 1903 nachweislich nicht oder nur mit geringen Auswirkungen vorgenommen worden. Vgl. die Kassenstatute und ihre Nachträge a.a.O. Für die Bürgermeisterei Zeltingen ist eine Beitragserhöhung noch vor Inkrafttreten des Kassenstatus am 01. April 1907 auf 3% nachweisbar. LKAH Best. 655,123 Nr. 403, Schreiben des Regierungspräsidenten Trier an den Landrat zu Bernkastel vom 14. April 1907. 386 Dass es seit 1900 zu Beitragserhöhungen kam, zeigt der Rechnungsabschluss der AOK Bitburg von 1922, in dem eine gestaffelte Beitragshöhe von 6–8 1/3 % angegeben wurde. LHAK Best. 459, Nr. 619, Rechnungsabschluss der AOK Bitburg 1922, Februar 1924. 1927 betrug der Beitragssatz der Kasse nur noch 6–7 %. LHAK Best. 459, Nr. 625, Schreiben der AOK Bitburg vom 16. Februar 1927.

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Lohnklasse und 1,– M bis 2,– M in der jeweils höchsten Lohnklasse.387 Diese Zahlen verdeutlichen mit ihren prozentualen Schwankungen von bis zu 100 % in einer vergleichbaren Lohngruppe, wie sehr die Höhe jeweiligen Krankenunterstützung von lokalen Bedingungen in Lohnhöhen und Kassenbestimmungen abhängig war. Allgemeingültige Aussagen über Beitrags- und Leistungshöhen der Krankenkassen lassen sich auf dieser Grundlage daher kaum treffen.388 Auch die Ortskrankenkassen versuchten mit Verhaltensvorschriften ein gesundheitsförderliches Verhalten ihrer Mitglieder im Krankheitsfalle zu erzwingen.389 Über die Einhaltung wachten „Vertrauensmänner“ oder „Krankenkontrolleure“, denen die kranken Kassenmitglieder Wohnungszutritt zu gewähren und „Auskunft, welche auf Krankheit, Arzt und Medizin Bezug hat“ zu erteilen hatten.390 Waren die Ortskrankenkassen im ländlichen Raum in den Zugangsregelungen vergleichsweise großzügig, beschränkten sie sich auf der Leistungsseite zumeist auf das vorgeschriebene Minimum. Dies war angesichts der meist sehr raschen Gründung der Kassen auch der Notwendigkeit geschuldet, mit relativ geringen Beitragseinnahmen einer zumindest anfangs eher kleine Mitgliederzahl auskommen zu müssen. Auch die Entscheidungsvorbehalte der Krankenkassen und Kontrollen der krank gemeldeten Kassenmitglieder sind Zeichen einer strukturell restriktiven Leistungsgewähr ländlicher Krankenkassen. Attraktivitätssteigernd war hingegen sicherlich das in verschiedenen Varianten um 1900 praktizierte Prinzip der Arztwahl durch den Patienten. Dieses bewährte sich offenbar so gut, dass es in der Folgezeit auch in die Armenkrankenpflege ausstrahlte. Deutlich wurde aber auch, dass die Ausgestaltung von Statuten, Zugangsgenehmigung und Leistungsgewähr in hohem Maße auf lokaler Ebene bestimmt wurde und pauschale Annahmen über Reichweite und Bedeutung von Krankenkassen immer wieder am Einzelfall geprüft werden müssen. Eine im Vergleich der untersuchten Kassen ungewöhnliche Bestimmung in den Statuten der Ortskrankenkasse Rheinböllen lenkt den Blick abschließend auf die Akzeptanz der Krankenkassen im ländlichen Raum. Im November 1902 beschloss die Generalversammlung der dortigen Ortskrankenkassen einen Nachtrag zu den Kassenstatuten mit folgendem Wortlaut:

387 Vgl. die Kassenstatute und ihre Nachträge a.a.O. 388 Dies gilt umso mehr für Aussagen zu einzelnen Betroffenen. Vgl. dazu Kapitel 8.1.3. 389 LHAK Best. 655,123 Nr. 404, Vorschriften für erkrankte Mitglieder der OK Zeltingen vom 30. Dezember 1907. 390 LHAK Best. 655,123 Nr. 404, Vorschriften für erkrankte Mitglieder der OK Zeltingen vom 30. Dezember 1907. Folker Förtsch betont in diesem Zusammenhang den sozialdisziplinierenden Charakter der Krankenversicherungen. Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 118–119.

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Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung Die Beiträge sind spätestens am Schlusse eines jeden Vierteljahres nachträglich an den Rendanten der Kasse zu zahlen. Die Mahngebühren hat der Arbeitgeber resp. Selbstversicherer zu tragen.391

Die neu eingeführte Bestimmung war offenbar eine Reaktion auf mangelnde Zahlungsmoral seitens der Zahlungspflichtigen.392 In Verbindung mit Berichten aus dem Kreis Bitburg – allerdings von 1924 – entsteht der Eindruck, die Zahlungsverzögerungen resultierten nicht nur aus einer mangelnden Zahlungsfähigkeit, sondern einer allgemeineren Verweigerungshaltung gegenüber der Krankenversicherungspflicht.393 Da die Meldungen zur Krankenversicherung in erster Linie den Arbeitgebern oblagen394 könnte die beanstandeten Versäumnisse ein Zeichen sein, dass die durch die Sozialversicherungen verursachten zusätzlichen Kosten von vielen Arbeitgebern über lange Zeit hinweg noch nicht als selbstverständlich angesehen wurden. Der Bericht des Versicherungsamtes Bitburg, der von „über einhundert Fällen“ von Verstößen gegen die Anmeldepflicht berichtete, zeigt, dass es sich dabei auch in den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts offenbar noch um ein weitverbreitetes Vergehen handelte.395 Zwar ist die Quellenbasis für endgültige Aussagen hier nicht ausreichend, die verbreitete Verweigerung der Anmeldung von Arbeitnehmern lässt aber immerhin vermuten, dass die neuen Formen des versicherungsgetragenen Sozialstaates bei den Arbeitgebern auf dem Land nach wie vor auf Vorbehalte stießen.396 2.4.3. Die Reichsversicherungsordnung von 1911 und die Landkrankenkassen Mit der Reichsversicherungsordnung wurden die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung organisatorisch stärker vereinheitlicht und die Versiche-

391 ALVR APR Nr. 3443, Nr. 58, Statut der Ortskrankenkasse Rheinböllen vom 26. August 1900, I. Nachtrag vom 11. Februar 1903. 392 Dass hier eigens eine Änderung der Kassenstatuten vorgenommen wurde, deutet darauf hin, dass dieses Problem über bloße Einzelfälle hinausging. 393 In einem Schreiben im Dezember 1924 wies das Oberversicherungsamt Trier auf verbreitete Meldeversäumnisse in ländlichen Gegenden hin: „Auf das gefällige Schreiben [des Versicherungsamtes Prüm, d. Verf.] vom 1. Dezember 1924 erlaube ich mir ergebenst zu erwidern, dass es auch längst hier in der Beschwerdeinstanz aufgefallen ist, dass die Meldepflicht zur Krankenkasse namentlich in den ländlichen Gegenden sehr wenig ernst genommen wird.“ LHAK Best. 459 Nr. 625, Schreiben des Oberversicherungsamtes Trier an die Versicherungsämter des Bezirks vom 03. Dezember 1924. 394 Eine zurückhaltende bis ablehnende Haltung der Arbeitgeber stellt auch Silvia WeberGrupe fest. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 189f. 395 LHAK Best. 459 Nr. 625, Namhaftmachung der Personen und Behörden des Kreises, die die Anmeldung ihres Personals bei der Krankenkasse unterlassen vom 03. Dezember 1924. Für die gewerblichen Unterstützungskassen des 19. Jahrhunderts vgl. zu diesem Problem auch Asmuth, Unterstützungskassen. 396 Die Annahme, staatliche Intervention im Gesundheitsbereich wie die Kassenerrichtung fördere die Staatsbejahung durch ihre Nutznießer, wie sie Mitchell, Liberalism vertritt, muss also zumindest auf gegenteilige Effekte bei anderen Gruppen geprüft werden.

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rungspflicht weiter ausgedehnt.397 In der Krankenversicherung – das 2. Buch der Reichsversicherungsordnung, welches die Krankenversicherung regelte, trat erst am 01. Januar 1914 in Kraft – unterlagen nun auch land- und forstwirtschaftliche Arbeiter, Dienstboten, Wandergewerbetreibende und weitere Gruppen, die bisher nur freiwillig Mitglied einer Krankenkasse werden konnten, der Versicherungspflicht.398 Für den hiesigen Raum spielte dies aber – wie gezeigt – insofern kaum eine Rolle, da viele Ortskrankenkassen schon vorher durch statuarische Beschlüsse den betreffenden Gruppen den Beitritt ermöglicht hatten.399 Die Gemeindekrankenversicherungen wurden aufgehoben400 und die Regelleistungen der Krankenversicherung vor allem im Bereich der Wochenhilfe erweitert.401 Vergrößert wurden zudem die möglichen Mehrleistungen, etwa durch Krankenhilfe, Wochenhilfe und Sterbegeld auch für versicherungsfreie Familienmitglieder, oder die Zahlung eines Stillgeldes.402 § 118 RVO bestimmte nun eindeutig, dass Leistungen nach der RVO „keine öffentlichen Armenunterstützungen“ seien.403 Im § 369 RVO wurde festgelegt, dass die Kasse „ihren Mitgliedern die Auswahl zwischen mindestens zwei Ärzten freilassen“ sollte, sofern dies nicht zu „erheblichen“ Mehrbelastungen führte.404 Damit war das Prinzip der (beschränkt) freien Arztwahl offiziell bestätigt. Zugleich regelte der § 219 RVO die Art der Behandlung neu, indem zukünftig allein eine „ärztliche Behandlung“ von den Kassen bezahlt werden durfte.405 Damit stieg prinzipiell der Druck, im Krankheitsfalle einen Kassenarzt aufzu397 Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 159–167; Frerich/Frey, Handbuch, S. 110–116; kritisch zur Umsetzung Mommsen, Reichsversicherungsordnung, S. 255–256. 398 Tennstedt, Ausbau, S. 229. Die landwirtschaftliche Erwerbsbevölkerung wurde auch in den anderen Bereichen der Sozialversicherung in den meisten Fällen erst später in das System integriert. Vgl. dazu Alber, Armenhaus, S. 169. 399 Deutlich zeigt sich daran aber wieder die restriktive Zugangspraxis bei den Gemeindekrankenversicherungen. Die Zeltinger Gemeindekrankenversicherung wurde erst auf eine explizite Anordnung der Trierer Regierung hin 1888 stauarisch auch für land- und forstwirtschaftliche Arbeiter geöffnet. LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Beschluss des Gemeinderats vom 12. März 1888. Eine vergleichbare Anordnung im selben Jahr erwähnt für Angeln in Schleswig-Holstein auch Rheinheimer, Armut, S. 101. Zu prüfen wäre einmal, ob über die Wege derartiger Anordnung die betreffenden Gruppen nicht schon weit vor der RVO 1911 Zugang zum Versicherungssystem in Form der Gemeindekrankenversicherung besaßen. 400 Ebenso die Baukrankenkassen. 401 Die Wochenpflege war in §§ 195–200 RVO vom 19. Juli 1911, RGBl 42, S. 547f. geregelt. Die Zahlung des Wochengeldes wurde auf acht Wochen, davon sechs nach der Geburt, erhöht und Schwangere konnten Hilfeleistungen bezahlt bekommen. Zudem wurde die Hauspflege als bedingte Alternative zur Krankenhausbehandlung in den Katalog der Versicherungsleistungen aufgenommen. § 185 RVO vom 19. Juli 1911, RGBl 42, S. 547f. 402 § 205 RVO vom 19. Juli 1911, RGBl 42, S. 549. 403 § 118 RVO vom 19. Juli 1911, RGBl 42, S. 531. 404 § 369 RVO vom 19. Juli 1911, RGBl 42, S. 580. 405 Zwar hatten Verbände der Laienheilkundigen versucht, diese Festlegung aus dem Gesetz streichen zu lassen, waren damit aber erfolglos geblieben. Regin, Naturheilbewegung, S. 390–393.

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suchen, da andersartige Behandlungen nicht mehr von der Kasse getragen wurden. Im Hinblick auf den ländlichen Raum brachte die Reichsversicherungsordnung eine weitere strukturelle Neuerung. Als weiterer Träger der Krankenversicherung wurden die Landkrankenkassen eingeführt, die von Gemeindeverbänden eingerichtet werden konnten.406 Als deren Mitglieder wurden mit landwirtschaftlich Beschäftigten, Dienstboten, im Wandergewerbe Beschäftigten und Hausgewerbetreibenden ein großer Teil der neu versicherungspflichtig gewordenen Berufstätigen bestimmt.407 In den Aufgaben und Leistungen entsprachen die Landkrankenkassen weitgehend den Ortskrankenkassen.408 Eine wichtige Abweichung betraf die Festlegung des den Kassenleistungen zugrundeliegenden Lohnes. Der Grundlohn, der den Leistungen der Ortskrankenkasse zugrunde lag, berechnete sich dem nach „durchschnittlichen Taglohn derjenigen Klassen Versicherter, für welche die Kasse errichtet ist“.409 Hingegen wurde der sogenannte Ortslohn, das „ortsübliche Tagesentgelt gewöhnlicher Tagarbeiter“ aufgrund von Anhörungen der Vorstände der beteiligten Versicherungsanstalten generell für den Bezirk eines Versicherungsamtes – meist eines Kreises – bestimmt.410 Die Satzung einer Landkrankenkasse konnte als zugrundeliegenden Lohn der Kassenleistungen den Ortslohn bestimmen, was tendenziell niedrigere Leistungen für die Angehörigen der Landkrankenkassen – und damit weite Teile der versicherungspflichtigen Landbevölkerung – bedeutete.411 Diese strukturelle Benachteiligung wurde zusätzlich dadurch verschärft, dass Vorstand und Vorsitzende der Landkrankenkassen nicht wie bei den Ortskrankenkassen anteilig von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gewählt wurden, sondern alle von der „Vertretung des Gemeindeverbandes“, welcher Träger der Landkrankenkasse war, bestimmt wurden.412 In der Konsequenz bedeutete dies, dass die versicherungspflichtigen Arbeitnehmer der Landkrankenkasse auf die Wahl des Vorstandes, der wiederum in die Festsetzung des Ortlohnes involviert war, nur indirekt Einfluss ausüben konnten. Für die Gemeindeverbände hingegen war vor allem der § 390 RVO mit Gefahren verbunden. Er bestimmte die finanzielle Ausgleichspflicht des Gemeindeverbandes „aus eigenen Mitteln“, falls die Ausgaben für die Regelleis406 § 225 RVO vom 19. Juli 1911, RGBl 42, S. 552. Die Landkrankenkassen werden in der Forschung kaum ausführlich untersucht. Vgl. Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 162; Tennstedt, Ausbau, S. 229. 407 § 235 RVO vom 19. Juli 1911, RGBl 42, S. 554. 408 Abweichend war etwa geregelt, dass das Krankengeld in den Landkrankenkassen in den Monaten Oktober bis März – den landwirtschaftlichen „Ruhemonaten“ zwischen Ernte und Aussaat – um 50% auf ein Viertel des Ortslohnes gesenkt werden konnte. 409 § 181 RVO vom 19. Juli 1911, RGBl 42, S. 544. 410 §§ 149–150 RVO vom 19. Juli 1911, RGBl 42, S. 537f. Ausnahmen waren zulässig „wenn die Lohnhöhe in einzelnen Ortschaften oder zwischen Stadt und Land erheblich abweicht.“ 411 § 181 RVO vom 19. Juli 1911, RGBl 42, S. 544. 412 §§ 331–336 RVO vom 19. Juli 1911, RGBl 42, S. 572f..

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tungen durch die Beiträge der Kassenmitglieder von max. 6,5 % nicht gedeckt werden konnten.413 Mit diesen Bestimmungen hatten die Landkrankenkassen faktisch diejenigen organisatorischen Teile der aufgehobenen Gemeindekrankenversicherungen übernommen, die diese – wie gezeigt – für ihre Träger im Untersuchungsraum höchst unattraktiv erscheinen ließen.414 Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass Landkrankenkassen in den hier untersuchten ländlichen Regionen praktisch nicht in den Quellen erscheinen und anzunehmen ist, dass sie keine bedeutende Rolle in der hiesigen Versicherungslandschaft spielten. Die Ablehnung der Landkrankenkassen war umso leichter umzusetzen, als die strukturellen Bedingungen der Versicherungslandschaft eine Alternative boten. Der § 229 RVO bot die Möglichkeit, von der Errichtung einer Landkrankenkasse abzusehen, falls „das Versicherungsamt nach Anhören beteiligter Arbeitgeber und Versicherungspflichtiger das Bedürfnis verneint.“415 Wie gezeigt wurde, waren bereits vor Inkrafttreten der Reichsversicherungsordnung die Versicherungsbedingungen der untersuchten Kassen so gestaltet, dass ein großer Teil der ländlichen Erwerbsbevölkerung Zugang zu Versicherungsleistungen in den Ortskrankenkassen erhalten konnte.416 Es liegt daher nahe anzunehmen, dass eine Beibehaltung der bisherigen Situation für alle Beteiligten attraktiver war, als eine Einführung der Landkrankenkassen.417 Angesichts der bereits vor 1914 im Untersuchungsraum etablierten Formen der Krankenversicherung waren die Neuregelungen der Reichversicherungsordnung für alle Beteiligten mit Nachteilen verbunden. Da die Betroffenen

413 § 390 RVO vom 19. Juli 1911, RGBl 42, S. 584. 414 Zudem waren die Landkrankenkassen – anders als die Gemeindekrankenversicherung – nicht allein auf die Regelleistungen beschränkt. 415 § 229 RVO vom 19. Juli 1911, RGBl 42, S. 553. 416 Da die RVO auch für landwirtschaftliche Arbeiter etc. die Versicherungspflicht eingeführt hatte, galten zudem statuarische Bestimmungen wie Karenzzeiten für freiwillig Versicherte vor dem erstmaligen Leistungsempfang nicht mehr. Folker Förtsch betont zwar „die Tatsache, dass in vielen ländlichen Gebieten die Reichsversicherungsordnung der Masse der Versicherten erstmals überhaupt die Möglichkeit einer Kassenselbstverwaltung einräumte“, die von ihm geschilderten Proteste gegen die Einführung der RVO belegen aber, dass auch in den von ihm untersuchten Regionen Württembergs die Betroffenen den Status quo offensichtlich vorzogen. Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 163. 417 Die Gemeindevertretungen und Gemeindeverbände konnten das finanzielle Risiko der Versicherung auf diese Weise weiterhin allein bei den Kassen belassen und die Versicherten hatten Zugang zu den Leistungen der Ortskrankenkasse und behielten ihre Mitbestimmungsrechte. Da die RVO auch für landwirtschaftliche Arbeiter etc. die Versicherungspflicht eingeführt hatte, galten zudem statuarische Bestimmungen wie Karenzzeiten für freiwillig Versicherte vor dem erstmaligen Leistungsempfang nicht mehr. Selbst unter der Annahme, dass die Arbeitgeber in Teilen der beitragspflichtigen Sozialversicherung kritisch gegenüberstanden, musste doch die Form der Ortskrankenkasse mit ihren Mitbestimmungsrechten gegenüber der weitgehend von der Gemeindeverbandsvertretung dominierten Landkrankenkassenform auch den Arbeitgebern als bessere Alternative erscheinen.

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sich gesetzliche Ausweichregelungen zunutzte machten, blieben die Neuregelungen hier strukturell weitgehend wirkungslos.418 Die Aufhebung der Gemeindekrankenversicherungen und das Inkrafttreten der Reichsversicherungsordnung wurde in den Moselbürgermeistereien des Kreises Bernkastel genutzt, um eine gemeinsame Allgemeine Ortskrankenkasse zu etablieren.419 Die damit einhergehende Ausdehnung der Versicherungspflicht auf „nicht nur die gewerblichen, sondern auch die in der Landwirtschaft, also auch im Weinbau, beschäftigten Arbeiter, Gehilfen, Lehrlinge und Angestellten sowie auch die häuslichen Dienstboten und die nicht ständig beschäftigten Arbeiter“ wurden im Dezember bekanntgegeben.420 Der in den Moselbürgermeistereien praktizierte Zusammenschluss einzelner Versicherungen zu größeren Einheiten war Teil einer generellen Tendenz, wirtschaftlich leistungsfähige Kassen zu schaffen.421 So bestanden etwa im Kreis Simmern 1912 noch vier Ortskrankenkassen und eine Gemeindekrankenversicherung.422 Im Jahr 1922 war diese Zahl schließlich auf insgesamt drei Ortskrankenkassen zurückgegangen.423 Das Zusammengehen in größeren Kassen wurde von der Reichsversicherungsordnung auch dadurch befördert, dass die Mindestzahl der Versicherten in einer Kasse von hundert auf zweihundertfünfzig erhöht worden war.424 418 Folker Förtsch konstatiert für Württemberg ebenfalls eine Bedeutungslosigkeit der Landkrankenkassen, ohne aber Überlegungen für die Gründe anzustellen. Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 162. 419 LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Beschlussprotokoll der Beschlusskammer beim Oberversicherungsamt Trier vom 09. Dezember 1912. Im November 1912 hatte die Generalversammlung der Ortskrankenkasse Zeltingen beschlossen, die Aufnahme der Angehörigen der Landkrankenkasse zu beantragen. Ob der Antrag erfolgreich war, lässt sich anhand der Quellen nicht mehr nachverfolgen, in jedem Falle wurde er spätestens mit der Gründung der Allgemeinen Ortskrankenkasse für die Moselbürgermeistereien zum 01. Januar 1914 obsolet. LHAK Best. 655,123 Nr. 404, Beschlussprotokoll der Generalversammlung vom 24. November 1912. 420 LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Bekanntmachung vom 24. Dezember 1913. 421 Vgl. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 187; Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 192–214. Der Ausbau führte nach Förtsch auch zu einer deutlicheren räumlichen Trennung von Kassenverwaltungen und allgemeiner Kommunalverwaltung, die zuvor oftmals in den gleichen Räumlichkeiten residierten. Für den hiesigen Raum ließen sich entsprechende Entwicklungen und ihre Folgen im Verhältnis von Armenverwaltung und Krankenkassen allerdings in den Quellen nicht nachverfolgen. 422 LHAK Best. 441 Nr. 13681, Jahresgesundheitsbericht für den Kreis Simmern 1912. 423 LHAK Best. 441 Nr. 28654, Ergänzender Fragebogen des Ministeriums für Volkswohlfahrt zum Jahresgesundheitsbericht für 1921. Auch die Gesamtzahl der Krankenkassen in den Regierungsbezirken scheint zurückgegangen zu sein. 1891 waren im Regierungsbezirk Trier noch 187 Krankenkassen eingerichtet. Der Regierungsbezirk Koblenz verfügte demgegenüber 1922 noch über 99 Krankenkassen. Der Vergleich kann allerdings nur eingeschränkte Gültigkeit beanspruchen, da die entsprechenden Zahlen aus den Regierungsbezirken für direkte Vergleiche fehlen. Vgl. Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1889– 1891. 424 1923 wurden sogenannte „Zwergkassen“ zur Sicherung der Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungen sogar ganz verboten. Im Rahmen der Weltwirtschaftskrise und ihrer Fol-

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Für den hier untersuchten ländlichen Raum waren die Regelungen der RVO angesichts des an den Mindestbedingungen ausgerichteten Leistungsspektrums der ländlichen Krankenkassen vor allem durch deren Ausweitung von Bedeutung. Die Ausweitung der möglichen Mehrleistungen dürfte hingegen kaum praktische Bedeutung gewonnen haben. Weitgehend wirkungslos blieben in der Praxis auch die in der Forschung oft als besonders wichtig betonten spezifischen Regelungen der RVO für den ländlichen Bereich.425 Die Ausweitung der versicherungspflichtigen Gruppen auf ländliche Berufsgruppen war in den meisten Fällen schon durch statuarische Beschlüsse der Ortskrankenkassen vorweggenommen worden. Das Instrument der Landkrankenkassen brachte angesichts der etablierten Kassenpraktiken in den Ortskrankenkassen für alle Beteiligten – Gemeinden, Arbeitnehmern und Arbeitgebern – Nachteile mit sich und wurde durch die Inanspruchnahme von Ausweichregelungen in seiner Wirkung faktisch ausgehebelt. 2.4.4. Die Unfall- und Invalidenversicherung und das Wirken der Landesversicherungsanstalt Die Leistungen der Krankenversicherungen wurden entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen zur Unfall- und Invalidenversicherung ergänzt. Bereits relativ früh war im Reichsinnenministerium der Bedarf einer Absicherung gegen Arbeitsunfälle formuliert worden, wobei in der Begründung deutlich eine idealisierte Sicht auf die ländlichen Verhältnisse den Raum erkennbar wurde.426 Das aus diesem Anspruch heraus formulierte und im Mai 1886 verabschiedete Gesetz gestand den Betroffenen im Falle eines Arbeitsunfalles ab der 14. Woche nach Eintritt des Unfalls Schadensersatz in Form der Heilkostenübernahme und eine Erwerbsunfähigkeitsrente zu.427 Hinzu kam die von den Langen wurden die Kassenleistungen 1932 sogar auf das gesetzliche Mindestmaß reduziert. Vgl. Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 176; 234–240. 425 So Mommsen, Reichsversicherungsordnung, S. 259. 426 „Nachbarschaftliche Aushülfe und das in weiten Kreisen des Reichs noch bestehende patriarchalische Verhältnis zwischen dem landwirtschaftlichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer helfen auf dem Land wohl für kürzere Zeit, insbesondere für den Fall einer Krankheit, über wirthschaftliche Nothlagen hinweg, allein damit ist ein durchgreifender, allgemeiner und auch nur nothdürftig ausreichender Schutz der land- und forstwirthschaftlichen arbeitenden Bevölkerung gegen die wirthschaftlichen Folgen von Betriebsunfällen nicht gewährleistet. Das Bedürfnis einer gesetzlich geregelten Unfallversicherung besteht im Allgemeinen für land- und forstwirthschaftliche Arbeiter in ganz ähnlichem Umfange wie für diejenigen der Industrie.“ BA Berlin R 89 Nr. 885, Entwurf eines Gesetzes betreffend die Unfallversicherung der in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen vom 21. Oktober 1884, aus der Antragsbegründung. 427 BA Berlin R 89 Nr. 886, Gesetz betreffend die Unfallversicherung der in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen vom 05. Mai 1886, § 6. Träger der Unfallversicherungen waren die Berufsgenossenschaften. Ab dem 01.Oktober 1924 war für Unternehmen im Zuständigkeitsbereich der Kasse die Mitgliedschaft in der Rheinischen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft Pflicht, für lange Zeit blieb dies gerade für die Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe die einzige Sozialversicherung. Siehe KAB-

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desversicherungsanstalten – hier die Landesversicherungsanstalt der Rheinprovinz428 – getragene Invalidenversicherung. Leider lässt sich wegen des Fehlens entsprechender Statistiken nur wenig über Zahl und Höhe der ausgezahlten Renten in den hier untersuchten ländlichen Regionen sagen.429 Erhaltene Zahlen für die Bürgermeisterei Bitburg-Land verzeichnen 1924 118 Empfänger von Invaliden- und Altersrenten, was bei 5752 Einwohnern in der Bürgermeisterei etwa 2,05 % der Bevölkerung entsprach.430 Die niedrige Quote korrespondiert mit einer offenbaren Unkenntnis der entsprechenden Ansprüche und Hilfen in der ländlichen Bevölkerung wie sie der Vorstand der Landesversicherungsanstalt 1906 konstatierte.431 Deutlicher fassbar sind hingegen die Leistungen der Landesversicherungsanstalt auf dem Gebiet einer strukturellen Förderung der Krankenversorgung in ländlichen Gebieten. So stellte die LVA 1906 15.000 M zur generellen „Hebung der Krankenpflege auf dem Lande“ zur Verfügung.432 Verwendet wurden diese Gelder etwa für Darlehen zum Bau von Krankenhäusern. Für den Bau eines Krankenhauses in Waxweiler, Kreis Prüm wurden so 1908 30.000 W 1.0.29, Satzung der Rheinisch-landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft von 1929, § 5; Honecker, Gesundheitssicherung, S. 215. Erst 1972 wurde auch für Landwirte eine gesetzliche Krankenversicherung geschaffen. Noell/Deisler, Krankenversicherung. 428 Die „Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz“ trug diese Bezeichnung erst ab 1900. Zuvor lautete ihre Bezeichnung offiziell „Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalt Rheinprovinz“. Horion, Provinzial-Verwaltung, S. 662. Zur Geschichte der LVA Appelius, Landesversicherungsanstalt. 429 Der Durchschnittsjahresbetrag der Alters- und der Invalidenrenten in der Rheinprovinz betrug 1895: Alter 147,12 M / Invalidität: 129,11 M; 1905: 176,44 / 170,93; 1915: 192,10 / 223,53; 1920: 202,05 / 231, 46. Die niedrig erscheinenden Beträge waren allerdings auch nicht als lebenskostendeckend konzipiert. Vgl. Horion, Provinzial-Verwaltung, S. 679. Die erhaltenen Statistiken beziehen sich meist auf die Rheinprovinz als Ganzes. Das Protokoll der Tagung des Ausschusses der LVA Rheinprovinz vom 03. März 1910 etwa, nennt für die Rheinprovinz 10729 bewilligte Renten und über 9000 durchgeführte Heilverfahren. ALVR APR Nr. 4072, Protokoll der 27. außerordentlichen Versammlung des Ausschusses der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz. Zum technischen Verfahren der Versicherung mittels Beitragsmarken siehe Horion, Provinzial-Verwaltung, S. 665– 668. 430 LHAK Best. 655,191 Nr. 171, Gesundheitsbericht für Bitburg-Land 1924 vom 30. Januar 1925. 1928 betrug die entsprechende Quote rund 2,84 %. Die Rentenzahlungen der LVA waren in mehrere Klassen gegliedert, die z. T. im Laufe der Zeit verändert, umbenannt oder abgeschafft wurden, so dass eine spezifische Zuordnung der Rentenzahlungen zu den einzelnen Klassen praktisch nicht möglich ist. Vgl. zur Differenzierung der Renten Horion, Provinzial-Verwaltung, S. 671–672. 431 „Insbesondere möchten wir hier darauf hinweisen, daß sowohl die Landesversicherungsanstalt wie auch die Rheinische Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft bei vielen Erkrankungsfällen oder Unfällen für ihre Versicherten das Heilverfahren übernimmt. Von diesem Rechte machen wir aber auf dem Lande leider wenig Gebrauch, weil die Verhältnisse nicht zu unserer Kenntnis kommen, da auch der ländlichen Bevölkerung die entsprechenden Bestimmungen der Gesetze unbekannt sind.“ LHAK Best. 403 Nr. 7438, Schreiben des Vorstandes der LVA Rheinprovinz an den Oberpräsidenten vom 20. April 1906, S. 343. 432 LHAK Best. 403 Nr. 7438, Bericht der Kölnischen Volkszeitung vom 18. Januar 1906.

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M als Darlehen bewilligt.433 Im weiteren Sinne der Gesundheitsförderung diente auch der Bau von Wasserleitungen, der in allen Kreisen mit unterschiedlichen Beträgen gefördert wurde.434 Hierin äußerte sich neben konkreten Verbesserungsbedürfnissen auch der Anspruch einer Modernisierung im ländlichen Raum, galt doch das Fehlen von Wasserversorgung und Kanalisation als Beleg für die „Rückständigkeit“ ländlicher Gebiete.435 Aus den Mitteln der Landesversicherungsanstalt wurden aber nicht nur Bauten, sondern auch Pflegematerialien und Aus- und Fortbildung von Personal gefördert. So unterstützte sie die Ausbildung von Krankenbesucherinnen der katholischen Caritas und Helferinnen der evangelischen „Rheinischen Frauenhülfe“ in Barmen oder finanzierte Betten für Tuberkulosekranke, die mit anderen Familienmitgliedern in einem gemeinsamen Bett schlafen mussten.436 Ihre Unterstützung leistete die Landesversicherungsanstalt dabei in Form von Darlehen oder Zuschüssen. Die breite Palette der Hilfeleistungen zeigt auch, dass die Landesversicherungsanstalt keine eigenen Konzepte der ländlichen Gesundheitsförderung entwickelte, sondern lediglich bereits bestehende finanziell unterstützte. Zudem konnte die Förderung von Institutionen von der medizinischen Fortbildung des Personals abhängig gemacht werden. Entsprechend wies im August 1926 der Landrat von Bernkastel die Bürgermeister darauf hin, dass „die Landesversicherungsanstalt auf die Teilnahme an den Fortbildungskursen den allergrößten Wert [legt] und von dieser Nachschulung die Zuwendung ihrer Beihilfen zu den Landkrankenpflegestellen abhängig [macht].“437 Die genannten Landkrankenpflegestellen lassen das Zusammenspiel von Forderungen und Förderungen der Landesversicherungsanstalt und deren Bedeutung für die ländliche Gesundheitsversorgung deutlich erkennen. 1931 wurden von 23 solcher Stellen im Kreis Wittlich 21 von der Landesversi-

433 ALVR APR Nr. 4072, Sitzungsprotokoll des Vorstands der LVA Rheinprovinz vom 08. Mai 1908. Zur Förderung von Krankenhausbauten siehe auch Kapitel 6.4, S. 288 Ein ähnliches Darlehen in Höhe von 85.000 M wurde für den Bau der Caritas-Ausbildungsstätte in Arenberg bewilligt. Ebd., Sitzungsprotokoll des Vorstands der LVA Rheinprovinz vom 17. Juli 1908. 434 ALVR APR Nr. 4072, Sitzungsprotokolle des Vorstands der LVA Rheinprovinz, passim. 435 Dazu etwa Robert Koch 1903: „Derartige Einrichtungen [der Wasserversorgung und Kanalisation,, d. Verf.] können sich aber doch nur leistungsfähige Gemeinden gestatten, also größere Gemeinden, Städte, während das auf dem Lande nicht möglich ist. Es wird ja hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft dahin kommen, dass es auch auf dem Lande besser aussieht, dass wir auch da ähnliche gute Verhältnisse erhalten, wie wir das jetzt schon in den Städten erreicht haben.“ Koch, Typhus, S. 6. Im Jahr 1900 waren im Regierungsbezirk Trier erst 38% der Bevölkerung an eine zentrale Wasserversorgung angeschlossen, im Regierungsbezirk Koblenz immerhin schon 52%.Spree, Ungleichheit, S. 187, allgemein zur Entwicklung der Trinkwasserversorgung 118–123. 436 LHAK Best. 403 Nr. 7438, Bericht der Kölnischen Volkszeitung vom 18. Januar 1906; KAB-W 2.0.147, Verwaltungsbericht 1931. Die LVA stellte hier 9500 M zur Verfügung. 437 LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Schreiben des Landrates Bernkastel vom 30. August 1926.

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cherungsanstalt unterstützt.438 In ihrer strukturellen Förderung moderner Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern und deren Bindung an ärztlichmedizinische Ausbildung des Personals trug die Landesversicherungsanstalt somit einen wichtigen Teil zur Entwicklung der ländlichen Gesundheitsversorgung bei.439 2.5. Krankenversicherung und Armenpflege im ländlichen Raum – Bewertungen Bei einer näheren Betrachtung der Untersuchungsergebnisse zur Ausgestaltung der Krankenversicherung im ländlichen Raum von Eifel und Hunsrück fällt zunächst die gegenläufige Ausgestaltung von Gemeindekrankenversicherung und Ortskrankenkasse ins Auge. Während erste von Zugangsbeschränkungen und einer in jeder Hinsicht restriktiven Leistungsgewähr gekennzeichnet war, bot die zweite vergleichsweise einfache Zugangsbedingungen. In ihren Leistungen ging sie zwar in finanziell wirksamen Bereichen auch nicht wesentlich über die gesetzlichen Mindestleistungen hinaus, bot aber insbesondere mit Wahlmöglichkeiten des Arztes prinzipiell attraktivitätssteigernde ‚Zusatzleistungen’. Bestimmendes Motiv vor allem hinter der im Vergleich abschreckenderen Ausgestaltung der Gemeindekrankenversicherung war ohne Zweifel das Bestreben der kommunalen Verwaltung, finanzielle Risiken der Krankenversicherung auf die Gemeinschaft der Versicherten abzuwälzen. Die Strategie, die Ortskrankenkassen daher attraktiv zu gestalten, hatte für die armen Bevölkerungsteile durchaus überraschenderweise positive Effekte. Der leichte Zugang zur Ortskrankenkasse machte es ihnen möglich, Versicherungsansprüche zu erwerben und über ihre ärztliche Behandlung in gewissem Rahmen selbst zu bestimmen. Beides machte sie weniger abhängig vom Ermessen und Wohlwollen lokaler Armenbehörden. Zugleich strahlten erfolgreiche Konzepte wie die Arztwahl allmählich auch in die Armenkrankenfürsorge aus. Zwar spielte die lokale Ausgestaltung der Krankenversicherung im Einzelfall eine große Rolle, im Ganzen boten die Ortskrankenkassen aber das Potential für eine Absicherung breiter, auch unterer, ländlicher Gesellschaftsschichten. Die Fortschrittlichkeit der vor Ort entstehenden konkreten Versicherungspraxis in Zugang und Angebot zeigt sich deutlich daran, dass die vermeintlichen 438 KAB-W 2.0.147, Verwaltungsbericht 1931. Im Juni 1932 schrieb der Trierer Regierungspräsident den Landräten seines Bezirks: „Die Landkrankenpflegestellen drohen zu erliegen, da ihnen die Mittel der Landesversicherungsanstalt infolge der allgemeinen Finanznot nicht mehr in dem Maße zufließen, wie es in früheren Jahren der Fall war. Die Beibehaltung der Pflegestationen ist aber im Interesse der Gesundheitsfürsorge der ländlichen Bevölkerung notwendig. Es wäre sehr zu bedauern, wenn die Landkrankenpflegestellen ihre Tätigkeit aufgeben müssten.“ LHAK Best. 459 Nr. 625, Schreiben des Regierungspräsidenten zu Trier vom 14. Juni 1932. Ähnlich auch LHAK Best. 655,191 Nr. 171, Schreiben des Landrates Bitburg an den Bürgermeister der Bürgermeisterei Bitburg-Land zur Erhaltung der Krankenpflegestellen vom 12. Juli 1932. 439 Vgl. auch Labisch, Sozialgeschichte, S. 291; Redder, Armenhilfe, S. 136.

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Errungenschaften der RVO im ländlichen Raum in der Praxis kaum eine Rolle spielten, da die lokalen Praktiken diese in vielen Fällen bereits vorweggenommen hatten. Zugespitzt formuliert, normierte das Gesetz lediglich nachträglich eine längst geübte Praxis. Auch im Hinblick auf die einleitend gestellte Frage nach der Bedeutung der Sozialversicherung für die Medikalisierung der ländlichen Gesellschaft lassen die bisherigen Ergebnisse eine erste Einschätzung zu. Ohne Zweifel haben die Krankenkassen den Kontakt der ländlichen Bevölkerung zur ärztlich dominierten Medizin befördert, sei es direkt dadurch, dass nur die Behandlung durch einen Arzt übernommen wurde, sei es indirekt durch die Förderung von Krankenhausbauten im ländlichen Raum, wie dies vor allem die Landesversicherungsanstalt unternahm. Allerdings zeichnete sich diese Förderung eher durch einen Angebots- als durch einen Zwangscharakter aus.440 Alle hier festgehaltenen Beobachtungen beschreiben allerdings vornehmlich die strukturelle Seite der ländlichen Krankenversicherung. Inwiefern sich die getroffenen Aussagen nach einem Blick in die Praxis der Armenkrankenversorgung noch halten lassen, wird im dritten Teil der Arbeit zu prüfen sein.

440 In der hier anzutreffenden Ausgestaltung der Krankenversicherung erwirkte diese also – in Anlehnung an Christoph Sachße und Florian Tennstedt – Medikalisierung durch soziale Sicherung. Sachsse/Tennstedt, Disziplinierung.

Kapitel 3: Kassen, Arzt und „Knochenflicker“. Bewährte Helfer und neue Professionalität in den Zwanziger Jahren 3.1. Die Folgen des Krieges – Fürsorge als Vorsorge Die Entwicklung in der Fürsorge in den Jahren nach 1920 war in wesentlichen Teilen durch die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges und die wirtschaftlich schwierige Lage der ersten Nachkriegsjahre geprägt. Bereits während des Krieges sahen sich infolge der immer weiter ausgreifenden Einberufungen Millionen Familien des männlichen Haupterwerbsträgers beraubt; Frauen übernahmen in zunehmenderem Maße Arbeitsplätze auch in der Industrie, die zuvor von Männern innegehalten worden waren – mitsamt der damit verbundenen Gesundheitsrisiken. Sollte die Moral der kämpfenden Truppe nicht durch Sorge um das Wohlergehen der Zurückgebliebenen geschwächt werden, lag es im Interesse des Staates, dieses Wohlergehen durch entsprechende Maßnahmen zu sichern. Diese Notwendigkeit wuchs noch nach dem Ende des Krieges. Millionen von Soldatenwitwen und –waisen, Verwundeten, dauerhaft Kriegsbeschädigten bedurften der Unterstützung. Allein aus moralischen Gründen schien es unmöglich, diese Gruppen nach den erlittenen Verlusten einfach der stigmatisierenden Armenfürsorge zu überantworten. Zudem wären die verantwortlichen Stellen, in erster Linie also Städte und Gemeinden mit dieser Belastung wohl auch finanziell schlicht überfordert gewesen. Selbiges galt nach den Inflationsjahren im Grunde auch für diejenigen, denen inflationsbedingt kaum die Verantwortung für den Verlust ihres Vermögens und die dadurch bedingte Fürsorgeabhängigkeit gegeben werden konnte. Als Folge dieser Entwicklungen wurden oberhalb der allgemeinen Fürsorge bereits während der Kriegszeit unterschiedliche Fürsorgeinstitutionen errichtet, die als „gehobene Fürsorge“ jene durch Krieg und Inflation unverschuldet in Not geratenen Staatsangehörigen ohne das Stigma der klassischen Armenfürsorge unterstützen sollten. Der einsetzende Wandel des Fürsorgewesens hatte jedoch noch eine zweite Dimension. Angesichts der millionenfachen Kriegstoten verschärfte sich in Deutschland die bereits Ende des 19. Jahrhunderts geführte Debatte um die quantitative und qualitative Sicherung des eigenen Bevölkerungsbestandes. Im Rahmen dieser Debatte gerieten vor allem die unteren Schichten als potentielle Gefährder der „Volksgesundheit“ in den Blick. Um den zahlreichen scheinbaren Gefahrenquellen für den Fortbestand des „Volkes“ begegnen zu können, wurde die Fürsorge von Theoretikern und Praktikern, unter Rückgriff     

Metzler, Sozialstaat, S. 38–42. Ebd., S. 54–56. Vgl. Hong, Welfare, S. 90–113; Sachsse/Tennstedt, Wohlfahrtspflege, S. 88–94. Ein Überblick zur lokalen Auswirkung in Schaaf, Epochen, S. 51. Vgl. Castell Rüdenhausen, Volkskraft; Weindling, Health. Stöckel, Säuglingsfürsorge, S. 295–296.

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auf entsprechende Entwicklungen in den Städten seit den 1890er Jahren, zunehmend ausdifferenziert und auf spezifische Problemlagen ausgerichtet. Der in die Zukunft gerichtete Blick der Initiativen offenbarte sich an der in erster Linie präventiven Ausrichtung dieser „Gesundheitsfürsorge“. Im Mittelpunkt der Bemühungen stand nicht, eingetretene Bedarfsfälle zu versorgen oder wiederherzustellen, sondern potentielle Risikoträger bereits im Vorfeld zu erkennen und mittels Betreuung und Überwachung die Realisierung des Risikopotentials zu verhindern. Erziehung und Sicherung sollten verbunden werden und so einen Komplementärbestandteil zum existierenden System der Sozialversicherungen vor allem für jene Teile der Bevölkerung bilden, die noch nicht von diesem erfasst worden waren. Bereits zeitgenössisch wurde jedoch die geringe Zusammenarbeit von Sozialversicherungen und den verschiedenen Fürsorgestellen beklagt.10 Die Krankenversicherung, als hier vornehmlich interessierender Zweig der Sozialversicherung, erfuhr bereits früh weitreichende strukturelle Erweiterungen. Bereits vor der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung wurden im November 1918 durch eine Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze von 2500 auf 5000 Mark große Bevölkerungsteile in die gesetzliche Krankenversicherung neu einbezogen.11 In der Weimarer Verfassung erhielten die Sozialversicherungen im Art. 161 dann sogar Verfassungsrang.12 Grundlegende Reformüberlegungen, vor allem von sozialdemokratischer Seite, wie die Vereinigung aller Versicherungszweige in einer Einheitsversicherung wurden aber unter den wirtschaftlichen Problemen – insbesondere der laufenden Geldentwertung, die rasch die finanziellen Reserven der Kassen dahinschmelzen ließ – geradezu begraben.13 Die Sozialversicherungen blieben daher im Allgemeinen ohne größere strukturelle Veränderungen in ihrer Vorkriegsgestalt erhalten.14 In ihrer Untersuchung zu Armut und Armenfürsorge im ländlichen Raum hat Katrin Marx auch die lokale und regionale Konkretion verschiedener Für-

    10 11 12 13 14

Reulecke, Sozialstaat, insbes. S. 60–67; Sachsse/Tennstedt, Wohlfahrtspflege, S. 27–37; Sachsse/Tennstedt, Nationalsozialismus, S. 46–49. Stöckel, Gesundheitsfürsorge, S. 65–70. Sachsse/Tennstedt, Wohlfahrtspflege, S. 12–13, 114–137. Grundlegend zum Konzept der Gesundheitsfürsorge und seiner Entwicklung Labisch/Tennstedt, Weg zum GVG. Metzler, Sozialstaat, S. 98–109. Schleiermacher, Krankenversicherung. Hirschfeld, Zusammenarbeit, S. 227. Bogs, Sozialversicherung, S. 42f. Tennstedt, Ausbau, S. 231; Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 174. Zur wiederholten Diskussion um derartige Veränderungen vgl. Schleiermacher, Krankenversicherung. Metzler, Sozialstaat, S. 70. Aufgehoben wurden vor allem einige für Arbeitnehmer ungünstige Regelungen zur Mitbestimmung in den Kassenorganen. Vgl. Bogs, Sozialversicherung.

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sorgezweige im hier untersuchten Raum bearbeitet und dabei einige zentrale Ergebnisse hervorgehoben.15 Ende des Ersten Weltkriegs wurden in diesem Gebiet die ersten Kreiswohlfahrtsämter gegründet, deren zentrale Aufgabe in einer Koordination aller wohlfahrtspflegerischen Anstrengungen auf den unterschiedlichen Gebieten der Mütter- und Säuglingsfürsorge, der Jugendfürsorge oder der Tuberkulosefürsorge bestand.16 Das grundlegende Verfahrenskonzept war dabei die sogenannte „Familienfürsorge“, die eine umfassende Betreuung einer Familie durch jeweils eine einzige Fürsorgerin vorsah, im Gegensatz zum Modell zahlreicher fachlich spezialisierter Spezialfürsorgen.17 Spätestens mit der Einführung des Reichsjugendwohlfahrtgesetzes 1922 und der Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht 1924 war dieses Modell aufgrund des gewachsenen Aufgabenspektrums der Fürsorgerinnen zwar eigentlich nicht mehr zu halten, blieb aber als Zielvorstellung bei den Beteiligten verankert.18 Die Reichsfürsorgepflichtverordnung schließlich präzisierte die bereits erwähnte Trennung von „gehobener Fürsorge“ (Klein- und Sozialrentnerfürsorge, Kriegsbeschädigtenund Kriegshinterbliebenenfürsorge), die zudem zum Großteil vom Reich finanziert wurde, und „allgemeiner“ Fürsorge, womit Letztere noch stärker stigmatisierend wirkte.19 Gleichzeitig wurde die Entscheidung über die Fürsorgegewähr von den Gemeinden weg auf die Ebene der Kreise in Gestalt der Bezirksfürsorgeverbände verlagert. In der Praxis zeigte sich jedoch, dass die Bedeutung des jeweiligen Gemeinderats in der Entscheidung über die Gewähr von Leistungen nicht wesentlich eingeschränkt wurde, da die Entscheidung des Bezirksfürsorgeverbandes zumeist auf Informationen und – wichtiger – Einschätzungen des lokalen Gemeinderates beruhte.20 Da diese sich in ihren Entscheidungen aber zumindest implizit weiterhin an ihren jeweils zuvor gültigen und stark vom Kriterium der „Würdigkeit“ geprägten Beurteilungsmaßstäben orientierten, liefen gerade die präventiven Absichten der neuen Fürsorge meist ins Leere.21 Auf die kurative Armenkrankenpflege hatten die Änderungen aus konzeptionellen wie praktischen Gründen keine Auswirkungen. Konzeptionell waren die Fürsorgestellen nicht dafür vorgesehen, Behandlungen von Betroffenen zu übernehmen.22 So sollten etwa die für die „Armenkrankheit“ Tuberkulose besonders bedeutsamen Tuberkulosefürsorgestellen selbst keine Behandlungen anbieten, sondern Betroffenen lediglich über vorbeugende hygie15 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 199–241. 16 Ebd., S. 215; Schaaf, Epochen, S. 82–83. 17 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 218–220; Marx, Poor Relief. Zeitgenössisch befürwortend Hirschfeld, Zusammenarbeit, S. 230. 18 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 222–22 19 Zum Charakter der Reichsfürsorgeverordnung 1924 als Abschluss der Krisenzeit des Wohlfahrtsstaats in der Weimarer Republik vgl. auch Frie, Wohlfahrtsstaat, S. 20. 20 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 206–207. 21 Ebd., S. 213–214. 22 Condrau, Patientenschicksal, S. 63–64; Sauerteig, Geschlechtskrankheiten, S. 166–186.

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nische Maßnahmen etc. beraten und sie an einen behandelnden Arzt verweisen.23 In praktischer Hinsicht bedeutete dies im Falle von Armen, in den üblichen Ablauf der Armenkrankenpflege hinein zu geraten.24 Da die Beurteilungskriterien der hier entscheidenden Gemeinderäte sich kaum veränderten, änderte sich auch an Zugangsmöglichkeiten wenig. Mit dem bereits beschriebenen Verschwinden des Armenarztes zugunsten einer freien Arztwahl war die Armenkrankenpflege also im Wesentlichen durch die Verfestigung von Veränderungsprozessen gekennzeichnet, die ihren Anfang bereits Mitte der ersten Dekade genommen hatten. Grundsätzliche Veränderungen, die auf den neuen wohlfahrtsstaatlichen Charakter der Weimarer Republik zurückzuführen wären, sind jedenfalls nicht festzustellen. 3.2. Neue Rolle, neues Prestige. Das Hebammenwesen Im Rahmen einer Sozialpolitik, die von demographischen Niedergangsszenarien beeinflusst war, nahmen die Hebammen als erste ‚staatliche Kontaktpersonen’ des ersehnten Bevölkerungsnachwuchses eine wichtige Rolle ein. Vor diesem Hintergrund brachte das 1922 verabschiedete und in Kraft getretene Gesetz über das Hebammenwesen grundlegende Veränderungen für die immer noch bestehende Regelungshoheit der Gemeinden auf diesem Gebiet mit sich. Zentraler Inhalt des Gesetzes war, die Regelungskompetenz für das Hebammenwesen von der Gemeindeebene auf die Stadt- und Landkreise zu verlagern.25 Diese beinhalteten die Abgrenzung von Hebammenbezirken, die Niederlassungsgenehmigung, die Einrichtung von Bezirkshebammenstellen und die finanziellen Leistungen für die Hebammen. Gleichzeitig bestimmte das Gesetz erstmals reichsweit, was in struktureller Hinsicht unter „ausreichender Versorgung mit Hebammenhilfe“ zu verstehen war.26

23 Hähner-Rombach, Tuberkulose, S. 205–207. Nach Condrau, Patientenschicksal, S. 83–84 war auch die Meldepflicht für Tuberkuloseerkrankungen durch unklare Formulierungen nur wenig wirksam. Condrau schätzt die Quote der zuvor gemeldeten Tbc-Todesfälle auf ca. 50 %. Vgl. dazu Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 237–241. Zum Verwaltungsverfahren vgl. Bender, Tuberkulosefürsorge. 24 Hähner-Rombach, Tuberkulose, S. 110–143 betont, dass erst Engagement der Landesversicherungsanstalten nach dem Ersten Weltkrieg die Verbreitung von Tuberkulosefürsorgestellen in ländlichen Gebiete entscheidend befördert habe. 25 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1455, Ausführungsbestimmungen zu dem Gesetz über das Hebammenwesen vom 20. Juli 1922 und den zu seiner Abänderung ergangenen Gesetzen vom 31. Dezember 1922, hier zu § 5. 26 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1455, Ausführungsbestimmungen zu dem Gesetz über das Hebammenwesen vom 20. Juli 1922 und den zu seiner Abänderung ergangenen Gesetzen vom 31. Dezember 1922, Zitat in Erläuterungen zu § 1.

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Auf dem „flachen Land“ wurde als ausreichende Versorgungsdichte betrach­tet, wenn eine Hebamme auf durchschnittlich 2000 Einwohner kam.27 Dieser Wert wurde in den hier näher untersuchten Kreisen bereits 1880 erreicht und die Aufstellung der Gehälter und Bezirksgrößen der Hebammen im Kreis Bitburg für 1922 zeigt, dass nur in wenigen Fällen einzelne Hebammenbezirke diese Zahl überschritten.28 Die Hebammenversorgung in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz war also nach wie vor eine sehr gute. Dabei blieb auch in der Neuregelung erkennbar, dass die Bezirkshebammen nicht als Instrument der Armenfürsorge verstanden wurden. Eine allgemeine Verpflichtung zur unentgeltlichen Versorgung Armer bestimmte das Gesetz nicht. Geändert wurde mit dem Gesetz allerdings die Funktion der Bezirkshebamme. Waren die Gemeinden bisher verpflichtet gewesen, eine Bezirkshebamme anzustellen, sollte nach dem Hebammengesetz eine solche Stelle nur dann eingerichtet werden, „wenn das Bedürfnis eines Bezirks nach einwandfreier Hebammenhilfe nicht durch Hebammen mit Niederlassungsgenehmigung gedeckt werden kann.“29 Das Institut der Bezirkshebamme sollte also nur noch subsidiär eingesetzt werden. Inwieweit diese Bestimmung in der Praxis zur Geltung kam, ist allerdings nicht eindeutig zu beantworten.30 Neu geregelt wurde auch das Einkommen der Hebammen. Für jede Hebamme – nicht nur die Bezirkshebammen – sollte ein nach drei regionalen Teuerungsklassen bestimmter Mindestbetrag des Einkommens in einem Jahr festgesetzt werden.31 Erreichte die Hebamme dieses Mindesteinkommen über ihre normalen Gebühreneinnahmen nicht, musste die fehlende Differenz zwischen Einnahmen und Mindesteinkommen aus Kreismitteln zugeschossen werden.32 Mit dieser recht komplizierten Regelung sollten einerseits die finanziellen Belastungen der Kreise in Grenzen gehalten werden, andererseits 27 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1455, Ausführungsbestimmungen zu dem Gesetz über das Hebammenwesen vom 20. Juli 1922 und den zu seiner Abänderung ergangenen Gesetzen vom 31. Dezember 1922, zu § 5. 28 Vgl. Kapitel 2.1.2. 29 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1455, Ausführungsbestimmungen zu dem Gesetz über das Hebammenwesen vom 20. Juli 1922 und den zu seiner Abänderung ergangenen Gesetzen vom 31. Dezember 1922, zu § 21. 30 Zum einen liegen für die Zwanziger Jahre nur wenige aussagekräftige Quellen über die Hebammen vor, zum anderen ist es schwierig zu bestimmen, ob der Begriff „Bezirkshebamme“ nach 1922, etwa wenn eine Hebamme bisher Bezirkshebamme gewesen war, unter Bezug auf die Neudefinition oder im bis dato üblichen Sprachgebrauch verwendet wurde. 31 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1455, Ausführungsbestimmungen zu dem Gesetz über das Hebammenwesen vom 20. Juli 1922 und den zu seiner Abänderung ergangenen Gesetzen vom 31. Dezember 1922, zu § 17. 32 Vgl. auch LHAK Best. 655,191 Nr. 173, Schreiben des Landrates Bitburg vom 17. April 1925. Die Bestimmung, dass eine ausreichende Versorgung auf dem Land bei 40–50 Geburten pro Jahr pro Hebamme gesichert sei, hatte sicherlich auch die Intention, ein hohes Einkommen der Hebammen aus Gebühreneinnahmen zu sichern, um so ergänzende Zahlungen möglichst überflüssig zu machen. Vgl. GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1455, Ausführungsbestimmungen zu dem Gesetz über das Hebammen-

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die Hebammen auch finanziell gesichert werden. Die Kreise mussten nur noch subsidiär Zahlungen leisten, zudem sollte die Nachordnung der Bezirkshebammenstellen die finanziellen Belastungen durch Ruhegelder gering halten. Das Anrecht der Bezirkshebammen auf Ruhegelder und der Umstand, dass für die Mindesteinkommen die gleichen Steigerungsraten – nach den Erfahrungen der Inflationszeit eine wichtige und beruhigende Zusicherung – und Zuschlagsanrechte wie für „unmittelbare Staatsbeamte“ galten, verdeutlicht den quasi-beamteten Status der Hebammen und damit die Bedeutung, die den Hebammen für das Bevölkerungs- und Staatswohl zugemessen wurde.33 Ob die neue Einkommensregelung die Hebammen finanziell effektiv besser stellte, bleibt schwierig zu beurteilen, da in den Quellen entsprechende positive wie negative Aussagen in vielen Fällen fehlen. Im Fall der Hebamme Thömmes aus Röhl im Kreis Bitburg im Jahr 1930 bat der Kreisarzt um die Übernahme einer Hebammenrechnung durch den Bezirksfürsorgeverband, da die Hebamme „sehr bedürftig“ und auf das Geld angewiesen sei.34 Einerseits zeigte sich hier eine nach wie vor gegebene prekäre Lebenssituation der Hebamme, zum anderen mag die Tatsache, dass die Initiative zur Unterstützung in diesem Falle von offizieller Seite ausging, ein Indiz für die gesteigerte Wertschätzung der Hebammen und Wahrnehmung ihrer sozialen Lage sein. Neben die Vereinheitlichung und Sicherung der Gehälter trat ergänzend eine Regelung für die Sozialversicherung der Hebammen.35 Die Kreise wurden nicht nur verpflichtet, den Hebammen die Hälfte ihrer Sozialversicherungsbeiträge zu erstatten, sondern sollten diese auch beim Vertragsabschluss beraten „und sie insbesondere darauf hinweisen, dass die Versicherungsprämien um so geringer sind, je früher die Versicherung stattfindet.“36 Den Kreisen wurde damit faktisch verboten, auf Kosten der Hebammen Versicherungsbeiträge einzusparen. Die Höhe der zu erzielenden Altersrenten sollte sich dabei am Höchstruhegeld einer Bezirkshebamme orientieren. Die Neuregelung des Hebammenwesens 1922 griff Entwicklungen der vorangegangenen Jahre, etwa im Bereich der sozialen Absicherung der Hebammen, auf, enthob das System den vor allem finanziellen Schwierigkeiten und Zwängen kommunaler Fürsorge und ließ es zu einem wichtigen Bestand-

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wesen vom 20. Juli 1922 und den zu seiner Abänderung ergangenen Gesetzen vom 31. Dezember 1922, zu § 5. GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1455, Ausführungsbestimmungen zu dem Gesetz über das Hebammenwesen vom 20. Juli 1922 und den zu seiner Abänderung ergangenen Gesetzen vom 31. Dezember 1922, zu § 17 und § 19.. LHAK Best. 655,191 Nr. 405, Schreiben des Kreisarztes Bitburg vom 02. September 1930. GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1455, Ausführungsbestimmungen zu dem Gesetz über das Hebammenwesen vom 20. Juli 1922 und den zu seiner Abänderung ergangenen Gesetzen vom 31. Dezember 1922, zu § 18. Ebd.

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teil staatlicher Sozialpolitik werden.37 Im Hinblick auf die bis dato feststellbare Versorgungsfunktion von Hebammenstellen im Rahmen einer ‚economy of makeshifts’ bedürftiger Schichten38 bedeutete die Sicherung eines Mindesteinkommens und die verbesserte soziale Sicherung einen Zugewinn an materieller Sicherheit für die Stelleninhaberinnen. Die weitgehende Gleichstellung in den Mechanismen der Bezahlung und Versorgung mit staatlichen Beamten und die Unabhängigkeit von kommunalen Entscheidungsträgern dürften zudem Sozialprestige und Selbstbewusstsein der Hebammen gefördert haben. 3.3. Binnendifferenzierte Kontinuitäten. Die Entwicklung der Laienheil­ kunde Die wichtigste Quelle für Verbreitung und Wirken der Laienheilkundigen in den hier untersuchten Gebieten stellt die Sammlung der kreisärztlichen Berichte auf einen Erlass des preußischen Kultusministeriums vom 23. Oktober 1926 dar. In ihren Berichten sollten die Kreisärzte – ähnlich wie im Falle des bereits untersuchten Berichts von 1898 – über den Stand der „Kurpfuscherei“ in ihren Kreisen Bericht erstatten.39 Im Vordergrund der Berichte stand keine objektive Bestandsaufnahme, sondern eine Darstellung der tatsächlich oder angeblich von der Laienheilkunde ausgehenden Gefahren.40 Ähnlich wie bereits nach dem Meldepflichterlass von 1902 erkennbar, fokussierten die Berichterstatter dabei vor allem auf die gewerblich tätigen Laienheiler; entsprechend gering fallen die Informationen über nichtgewerbliche Heiler aus. Die einzelnen Berichte lassen auch für die zwanziger Jahre strukturelle Kontinuitäten der Laienheilkunde deutlich erkennen. Nach wie vor konnten Laienheilkundige aus allen Bevölkerungsschichten stammen und auch die zuvor entworfene Klassifizierung nach Art und Weise ihres medizinischen Wissenserwerbs lässt sich problemlos aufrechterhalten.41 Im Kreis Mayen führte der Kreisarzt zu Herkunft und Ausbildung der „Kurpfuscher“ aus: Dieselben stehen im Alter von 35 bis 86 Jahren; 8, also noch mehr als die Hälfte sind weiblichen Geschlechts. Als frühere Berufe sind verzeichnet: 3x Landwirt, 1x Bäcker, 1x Maurer, 1x Arbeiter, 1x Bahnbeamter. Von den Frauen ist bei 4 kein früherer Beruf ange37 Konsequenterweise entzog daraufhin beispielsweise die Gemeinde Lieser der örtlichen Hebamme das bisher unentgeltlich gewährte Gemeindenutzungsrecht. Siehe VGV BKS, Beschlussbuch des Gemeinderates Lieser, 1913–1923, Beschluss vom 10. September 1923. 38 Vgl. Kap. 1.5. 39 Bei der Auswertung ist also die Tendenz der ärztlich-behördlichen Perspektive zu berücksichtigen. 40 Bezeichnenderweise trägt der Erlass den Betreff „Bekämpfung des Kurpfuschertums“. Siehe GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344. 41 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344, Bericht des Oberregierungsund Medizinalrates beim Regierungspräsidenten zu Koblenz, Dr. Matthes vom 14. Dezember 1926: „Die Kurpfuscher rekrutieren sich aus fast allen Ständen.“. Zur Klassifikation der Laienheiler siehe Kapitel 1.6.1.

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geben, von den übrigen ist eine Frau eines Bahnbeamten, eine Studienratswitwe, eine frühere Hebamme und eine frühere Krankenpflegerin. 6 haben ihre Ausbildung von anderen Kurpfuschern, 4 waren vorübergehend als Krankenpfleger(in) bzw. Hebamme tätig, 3 haben durch „Selbststudium“ ihre Heilbefähigung erworben und 3 behandeln nach Anleitung eines Buches.42

Eine wichtige Rolle kam auch immer noch den „Knochenflickern“ zu, die vor allem chirurgische Verletzungen wie Knochenbrüche und Verrenkungen behandelten.43 Durchgehend legen die Schilderungen der Kreisärzte über Umfang und Verbreitung des laienheilkundlichen Wirkens nahe, dass Selbiges unter der ländlichen Bevölkerung eine breite Akzeptanz besaß.44 Damit zeigte sich, dass die Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung, nach der nur noch Ärzte zur örtlichen Krankenkasse zugelassen waren, zumindest im ländlichen Raum nur bedingt zu einer Durchsetzung eines ärztlichen Behandlungsmonopols geführt hatten.45 Generell deutlicher zugenommen hatte im hier behandelten Zeitraum aber offenbar der Umfang der gewerblichen Heilkunde im Umherziehen.46

42 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344, Bericht des Kreisarztes Mayen vom 01. Dezember 1926. 43 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344, Bericht des Oberregierungsund Medizinalrates beim Regierungspräsidenten zu Koblenz, Dr. Matthes vom 14. Dezember 1926. Den überlieferten Charakter dieser Laienheilkundigen machte der Kreisarzt von Adenau deutlich: „Eine andere Art der Kurpfuscherei ist von alters her hier im Volke tief eingewurzelt, das ist die der Knochenflicker“. Ebd., Bericht des Kreisarztes Adenau vom 02. Dezember 1926. 44 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344. passim. Da die Kreisärzte in erster Linie über einzelne Fälle berichteten, sind allgemeine Rückschlüsse auf die Verbreitung der Laienheilkunde schwierig, Schwankungen schienen meist lokal bedingt und festzustellen zu sein. Im städtischen Raum scheinen sich dagegen die Ärzte bereits seit dem Ende des Jahrhunderts als Behandler durchgesetzt zu haben. Vgl. Regin, Naturheilbewegung, S. 395–397. 45 So nannte der Kreisarzt von Simmern lediglich zwei „Kurpfuscher“ (gegenüber noch vier in seinem Bericht 1913), der Bernkasteler Kreisarzt berichtete lediglich von einer „relativ geringen“ Tätigkeit, und auch in Bitburg waren nur zwei kleinere Fälle zu verzeichnen (gegenüber noch sechs gemeldeten Laienheilern im Jahr 1908). Im Kreis Wittlich hingegen „blüht[e] das Kurpfuschereiwesen in hohem Maße“, wie der Kreisarzt formulierte. Die von ihm erwähnten acht „Kurpfuscher“ lokalisiert er allerdings nicht näher, in der Zahl hätte dies gegenüber 1907 mit drei gemeldeten Laienheilern aber eine mehr als verdoppelte Zunahme bedeutet. Als Laienheilkundige waren lediglich in Ausnahmefällen noch Dentisten zugelassen, da die Zahl der approbierten Zahnärzte noch zu gering war. So im Falle der Witwe eines Dentisten, welche die Praxis ihres Mannes fortführen durfte in GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344, Bericht des Kreisarztes Bitburg vom 10. Dezember 1926. Vgl. auch Ebd., Bericht des Regierungs- und Medizinalrat beim Regierungspräsidenten Trier, Dr. Lange, vom 23. Dezember 1926. Dazu auch Spree, Kurpfuscherei, S. 114. 46 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344. Entsprechende Äußerungen u.a. in den Berichten der Kreisärzte von Adenau, Prüm, Daun, Bad Kreuznach und Wittlich. Allerdings lässt sich nicht sagen, ob dies auf vermehrte Tätigkeit einzelner reisender Heiler oder auf eine allgemeine Zunahme deren Zahl zurückzuführen war.

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Festzuhalten bleibt, dass auch in den zwanziger Jahren ärztliche und laienheilkundliche Hilfe immer noch nebeneinander und vielfach von der Bevölkerung offenbar als gleichwertig betrachtet bestanden und wirksam wurden. Eine gewisse Kontinuität bleibt demgegenüber auch in der Bewertung dieses Umstandes durch die Medizinalbehörden – hier der Trierer Regierungsmedizinalrat Dr. Lange – erkennbar: Die Not der Ärzte macht sogar viele von ihnen zu Helfern der Kurpfuscher. Auch in dem oben erwähnten Inserate der Eifeler Volkszeitung ist darauf hingewiesen, dass ein Arzt mitarbeitet. Dieser Arzt scheint sein Leben also nur in Abhängigkeit von einem Kurpfuscher fristen zu können oder aus dieser Verbindung auch seinerseits noch erheblichen Gewinn zu erzielen, da er sich andernfalls wohl nicht zu dieser Zusammenarbeit mit einem Kurpfuscher bereit finden würde.47

Obwohl die Formulierung darauf schließen lässt, dass der Regierungsmedizinalrat selbst nur Vermutungen über die Beweggründe der Ärzte äußern konnte, erschien eine andere Interpretation als die ungewollte Zusammenarbeit aus materieller Not heraus für ihn offensichtlich nicht vorstellbar. Dass diese Sichtweise nicht allgemeingültig war, zeigt der Bericht des Cochemer Kreisarztes, in dem dieser erwähnt, dass in seinem Kreis ein Knochenflicker sei, „der seit drei Jahren mit seinem promovierten Doktor-Sohn associiert“ sei.48 Ähnlich war der Fall eines Sohnes des weitbekannten Knochenflickers Pies aus Cappel gelagert, der sich nur wenige Kilometer von seinem laienheilkundlich tätigen Vater entfernt als Arzt niederließ.49 Eine enge Zusammenarbeit von Laienheilern und Ärzten war also nicht nur aus rein materiellem Zwang heraus möglich. Die beiden Fälle deuten zugleich aber eine offenbar beginnende Verschiebung der Bedeutungsgewichte und des Prestiges von Laienheilern und Ärzten zugunsten der Letzteren an. Offenbar wurde es für die Nachkommen von Laienheilern, die bis dato ihre Kenntnisse als Erfahrungsheiler erhalten hatten, attraktiv, eine ärztliche Ausbildung zu durchlaufen.50 Insbesondere der Simmerner Fall deutet hier einen Weg an, auf dem Vertrauenskapital erfolgreich von Laienheilern auf Ärzte transferiert werden konnte. Nach Aussage des Kreisarztes wurde der junge Arzt „vom Publikum als Knochenarzt gesucht“, das Vertrauen der Patienten bezog sich zunächst also vor allem auf die medizinischen Felder, auf denen den Laienheilern der Familie Pies ohnehin Kompetenz zugewiesen wurde.51 Obwohl dies für den einzel47 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344, Bericht des Regierungs- und Medizinalrat beim Regierungspräsidenten Trier, Dr. Lange, vom 23. Dezember 1926. 48 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344, Bericht des Kreisarztes Cochem vom 12. November 1926. 49 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344, Bericht des Kreisarztes Simmern vom 30. November 1926. Ähnliches geschah im Fall des Jakob Pies, der es als Wundarzt sogar zum Distriktarzt brachte. Vgl. Studener, Distriktarzt. 50 Vergleichbare Beobachtungen bereits bei Naal, Arzt, S. 117–118. 51 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344, Bericht des Kreisarztes Simmern vom 30. November 1926.

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nen Fall nicht im Detail nachzuweisen ist, erscheint es plausibel anzunehmen, dass dieses spezifische Vertrauen in das Können des Arztes im Laufe der Zeit auch auf andere Bereiche der ärztlichen Medizin ausgeweitet wurde. Zugleich eröffnet sich hier ein Blick auf innerfamiliäre Tradierungen heilkundlichen Wissens, die in den Quellen bisher nicht so deutlich zu erkennen waren. Der Bericht des Cochemer Kreisarztes deutet an, dass derartige Übertragungen nicht allein innerhalb der regional dominierenden Heilerfamilie Pies vorkamen.52 Damit erscheint möglich, die von Sabine Sander in Württemberg konstatierte Existenz von Heilerfamilien im Grundsatz auch für vorangegangene Jahrhunderte im hier untersuchten Raum anzunehmen.53 Während Sander aber für Württemberg von einem „Abbruch der Berufstradition“ im 19. Jahrhundert ausgeht54, deuten die hier angeführten Fälle auf eine Anpassungsfähigkeit der familiären Heilertraditionen an die gewandelte Bedeutung heilkundlicher Berufsbilder hin. Familiäre Berufstraditionen im Bereich der Heilkunde gingen mit dem Bedeutungszuwachs der ärztlich-akademischen Medizin nicht zwingend verloren, sondern konnten erworbenes Vertrauen in die eigenen heilkundlichen Kompetenzen erfolgreich auf die neue Form der Berufsausübung übertragen. Das Vertrauen in bekannte Laienheiler erhält vor dem Hintergrund dieser Überlegungen somit eine zumindest im Einzelfall wichtige Rolle für die Akzeptanz und Durchsetzung ärztlicher Medizin im hier behandelten ländlichen Raum. Es ist zeitgleich aber auch ein genereller Wandel in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der gewerbsmäßigen Laienheilkundigen zu erkennen. In den Akten der zwanziger Jahre erscheint der Heilkundige deutlicher als zuvor als eigenständige Berufsbezeichnung, was eine entsprechende Wahrnehmung von Seiten der Aktenführer impliziert.55 Anfänge dieser Entwicklung lassen sich bereits in den Nachweistabellen der Laienheilkundigen der Kreise vom Beginn des Jahrhunderts erkennen, wenn dort der „frühere [Kursivsetzung des Verf.] Beruf“ eine eigene Erfassungskategorie bildete.56 Die gewandelte Selbstwahrnehmung wird auch an der Herausbildung spezifischer Eigenbezeichnungen wie „Chiropraktiker“ oder „Magnetopath“ deutlich, die in den behördlichen Aufzeichnungen oft übernommen wurden.57 Darüber hinaus machte die Bildung von „Standesvereinen“ durch Laienheiler ähnlicher Therapieformen die Selbstwahrnehmung als geschlossene Gruppe deutlich.58 52 53 54 55

Vgl. dazu S. 123. Vgl. Sander, Handwerkschirurgen, S. 199f. Ebd., S. 200. Etwa GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1335, Schreiben des Kreisarztes Trier an den Regierungspräsidenten Trier vom 01. März 1928; weitere Ebd. passim 56 Vgl. die entsprechenden Verzeichnisse zwischen 1905 und 1908 in LHAK Best. 442 Nr. 3901, Nr. 3909, Nr. 3914. 57 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1335, Schreiben des Regierungspräsidenten Trier vom 26. Juni 1928. 58 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344, Bericht des Kreisarztes Koblenz vom 30. November 1926. Zu Professionalisierungstendenzen der Laienheiler vgl. auch Regin, Naturheilbewegung, S. 449–458.

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Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung

Der offensichtlich zunehmenden Etablierung der Laienheilkundigen stand auf Seiten der berichtenden Ärzte und Medizinalbeamten die wachsende Erkenntnis gegenüber, dass ein gänzliches Verbot der Laienheilkunde zunehmend unrealistischer wurde. Zwar blieb die Forderung nach einer Aufhebung der Kurierfreiheit stetiger Bestandteil fast aller Berichte, aber auch auf die Vergeblichkeit von Kampagnen gegen Kurpfuscher und die ungünstigen politischen Bedingungen für eine Veränderung der Rechtslage wurden in den Berichten abgezielt.59 Als Alternative zum unrealistischen Totalverbot der „Kurpfuscherei“ sind aber auch Lösungsvorschläge zu entdecken, die anstelle eines Totalverbots eine von ärztlicher Seite kontrollierte Ausbildung vorsahen.60 Kontrolle und Definitionsmacht von „Kurpfuscherei“ sollten auf diese bei den Ärzten bleiben. Im Fall der Dentisten war dieses Verfahren offenbar bereits erfolgreich umgesetzt worden: Die Dentisten dürfen übrigens nicht zu den Kurpfuschern gezählt werden können, zumal nachdem die staatliche Dentistenprüfung eingeführt ist.61

Während im Nebeneinander ärztlicher und laienheilkundlicher Hilfe offenbar große Kontinuität herrschte, erfuhren Selbst- und Fremdwahrnehmung der Laienheilkundigen angesichts einer zunehmend spezialisierter und professiona­ li­sierter erscheinenden Binnenstruktur erhebliche Wandlungen. Ähnlich wie für die vorhergehenden Zeiträume lässt sich eine schichtenspezifische Konsulta­ tion der Laienheiler nicht sicher bestimmen. Die zunehmende Professionalisierung der – gewerblichen! – Laienheiler lässt aber vermuten, dass deren Konsultation für kranke Arme aus ökonomischen Gründen eher nicht in Frage kam, zumal auch die zunehmend verbreiteten Krankenkassen die Kosten für deren Leistungen nicht übernahmen. Die Laienheilkundigen wären damit zusehends zu einer Adresse für das finanzkräftigere ‚gehobene’ Publikum geworden.62 3.4. „Früher einmal, aber hört jetzt auf!“ – Nachbarschaftshilfe und Besprechungspraktiken nach dem Atlas für Deutsche Volkskunde Die bisher behandelten Angebote medizinischer Hilfeleistungen kamen durchgehend von Gruppen und Personen, die im weitesten Sinne als medizinisch 59 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344, passim; insbes. Ebd. Bericht des Kreisarztes Koblenz vom 30. November 1926. 60 Der Kreisarzt von Trier formuliert dies folgendermaßen: „Als erwünscht muss es bezeichnet werden, wenn jeder Kurpfuscher einen Nachweis darüber zu erbringen hätte, dass er sich 1 oder 2 Jahre in Heilbehandlung ausgebildet hätte, da die jetzige Ausübung des Berufs von einem Tag auf den anderen, nachdem der Betreffende vorher vielleicht Handwerker oder Arbeiter gewesen war, etwas Gemeingefährliches hat.“ GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344, Bericht des Kreisarztes Trier vom 12. November 1926. 61 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1344, Bericht des Regierungs- und Medizinalrat beim Regierungspräsidenten Trier, Dr. Lange, vom 23. Dezember 1926. 62 Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 508.

Kassen, Arzt und „Knochenflicker“

223

spezialisiert angesehen werden können. Der Konsultation dieser Spezialisten vorgelagert war aber zweifelsohne ein Feld der nichtspezialisierten Eigen- oder Fremdhilfe, welches aber naturgemäß nur äußerst schwierig in schriftlichen Quellen fassbar ist.63 Demzufolge verwundert es nicht, dass ein Glücksfall der Überlieferung zu diesem Feld der volkskundlichen Forschung entstammt, der diese Lücke bis zu einem gewissen Grade zu schließen vermag. Im Rahmen des Atlas für Deutsche Volkskunde wurden in den 1930er Jahren Befragungen in ganz Deutschland unternommen, deren Ziel eine umfassende Erfassung von Bräuchen, Alltagspraktiken und Traditionen unterschiedlichster Themenbereiche und deren regionaler Verbreitung in Deutschland war. Auch heilkundliche Alltagspraktiken in den untersuchten Regionen waren dabei für die Initiatoren von Interesse, einige der zwischen 1931 und 1935 ausgegebenen Fragebögen enthielten dementsprechende Fragen.64 Die Daten wurden in Form von gedruckten, einheitlichen Fragebögen erhoben, die jeweils einem Berichterstatter in ausgewählten Ortschaften einer Region zugesandt wurden.65 Die Fragebögen konnten ggfs. durch beigelegte Zettel ergänzt werden. Bedingt durch die Rückerinnerung der Berichterstatter, reichte der Zeitraum, über den Aussagen getroffen wurden, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück.66 Die Aussagekraft der Berichte ist Michael Simon zufolge trotz einiger Einschränkungen gegeben. So waren die lokalen Informanten offensichtlich um eine ausgewogene Berichterstattung bemüht; die Praxis, die eingegangenen Fragebögen zu zerschneiden und nach Einzelfragen sortiert aufzubewahren macht es aber unmöglich, autorenspezifische Muster der Eintragungen zu identifizieren.67 Das von Simon bemerkte leichte Übergewicht ländlicher Gemeinden in der Repräsentation der regionalen Verteilung ist für eine Untersuchung des ländlichen Raumes eher förderlich als einschränkend zu bewerten.68 63 Vgl. Stolberg, Heilpraktiken. 64 Nach Simon, Medikalisierungsprozess blieben die medizinischen Teile der Befragungen aber fast unausgewertet. 65 Dieser füllte den Bogen nach eigenen Kenntnissen aus, ohne über die Quelle seiner Information berichten zu müssen. Damit durchliefen die Informationen gegebenenfalls einen zweistufigen Selektionsprozess, in welchem zunächst die örtliche Bevölkerung entschied, was sie dem Berichterstatter an Informationen lieferte und dieser dann im Anschluss entschied, welche Informationen davon in seine Berichterstattung eingingen. Vgl. Stolberg, Homöopathie. 66 Simon, Volksmedizin, S. 63–64. 67 Ebd., S. 36–42. 68 Ebd., S. 83–92. In der Auswertung der Fragekarten ist der Nutzer insofern vor Schwierigkeiten gestellt, als der Codierung der Karten eine Grundkarte zugrunde liegt, die sich nicht an administrativen oder geographischen Abgrenzungen orientiert sondern als Koordinatensystem sui generis gestaltet ist. Die Größe der Grundquadrate erlaubt nur eine recht grobe regionale Zuordnung und macht den Austrag in eine Karte sehr mühsam – dies mag mit ein Grund sein, warum die medizinisch relevanten Fragen bis dato nicht im Rahmen des ADV kartographisch dargestellt und veröffentlich wurden. Ebenso sind nicht für jeden Ort eines Grundquadrates Fragebögen vorhanden. Da nach Angaben des

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Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung

Für die hier zugrundeliegenden Fragestellungen erlaubten vor allem zwei Fragen mit ihren angeschlossenen Teilfragen Aufschlüsse und wurden entsprechend ausgewertet. Die erste der beiden ausgewählten Fragen betraf Umfang, Gegenstände und Träger nachbarschaftlicher Hilfsleistungen, die gewissermaßen als Auszahlungsleistung sozialen Kapitals angesehen werden dürfen.69 Die Frage 192 des 5. Bogens (1935) bestand aus insgesamt 5 Teilfragen: a) Sind in Ihrem Ort die Nachbarn noch von alters her zu gegenseitiger Hilfeleistung verpflichtet? b) Bei welchen Anlässen des Familienlebens, wie Geburt (z. B. Pflege der Wöchnerin, Hochzeit (z. B. Hilfe in der Küche), Krankheit (z. B. Nachtwache), Tod (z. B. Tragen des Sarges, Graben des Grabes)? c) Bei welchen wirtschaftlichen Arbeiten, wie Ernte, Hausbau (Anfahren des Bauholzes usw.)? d) Für wen gelten diese Nachbarschaftspflichten? e) Wer ist sonst dazu verpflichtet, ohne „Nachbar“ zu sein?70

Für das Grundquadrat 149 sind insgesamt 184 Fragekarten zur Teilfrage a) vorhanden, für den Kreis Simmern im Grundquadrat 150 insgesamt 20 Fragekarten. Die Auszählung derselben ergibt folgendes Ergebnis71: Tabelle 6: Auszählung der ADV-Fragekarten, Frage 192 Grundquadrat

„ja“

„nein“

„Sitte/ Brauch“

Ohne Angabe

Gesamtzahl

149

108

37

18

21

184

150 (Kreis Simmern)

8

5

5

2

20

Deutlich wird, dass die Nachbarn in den untersuchten Gebieten auch um 1930 noch in weiten Teilen einer Hilfsverpflichtung unterlagen. Die relativ große Zahl von Antworten, die auf eine entsprechende Sitte hinweisen, lassen sich dahingehend verstehen, dass diese Verpflichtung allerdings keinen rechtlichen oder gar einklagbaren, sondern eher einen traditionsbedingten und moraArchivs des ADV die Fragebögen weitgehend komplett erhalten geblieben sind, ist davon auszugehen, dass nur ausgewählte Orte erfasst wurden. Die Auswahlkriterien blieben dabei unklar. Für die hier angestellten Auswertungen waren die erhaltenen Fragekarten der Grundquadrate 149 und 150 von Interesse. Quadrat 149 umfasste im Wesentlichen das Gebiet der Kreise Bitburg, Wittlich, Bernkastel, Zell, Trier-Stadt, Trier-Land, Saarburg sowie den Landesteil Birkenfeld. Im Quadrat 150 waren von Gebieten der Rheinprovinz die Kreise Simmern und Bad Kreuznach erfasst. Hier wurden nur die Einzelkarten aus Ortschaften des Kreises Simmern für eine Auswertung herangezogen. 69 Zum Wert von Familien und Nachbarschaften als „Sozialkapital“ vgl. Dinges, Stadtarmut, S. 114–126 und im Kontext gesundheitlicher Hilfe besonders Kinzelbach, Gesundbleiben, S. 300–303. 70 AADV ADV-Fragekarten, Frage 192. 71 Die Kategorien sind nicht durch den Fragebogen vorgegeben, sondern wurden aus den gegebenen Antworten vom Verfasser abstrahiert.

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225

lischen Charakter hatte.72 Dieser Charakter wird an der Antwort aus Rommelfangen, Kreis Saarburg besonders deutlich: „keine Pflicht, aber geschieht“.73 Allerdings scheint der bindende Charakter dieser Verpflichtung im Laufe der Zeit abgenommen zu haben. Auf zahlreichen Fragekarten sind Verweise wie „Hört jetzt auf!“, „früher“ oder „bis jetzt“ vermerkt, welche die schwindende Bindungskraft des Hilfsanspruchs erkennbar werden lassen.74 Die Teilfrage b) spezifizierte die Lebensbereiche näher, in denen der Hilfsanspruch gegenüber den Nachbarn bestand. Die Berichterstatter machten die Gültigkeit für einen der genannten Bereiche durch Unterstreichung oder kurze Bemerkungen deutlich. Im Falle der Fragekarten des Grundquadrates war der Bereich b) „Krankheit“ bei allen Fragekarten, die auf die Teilfrage a) positiv geantwortet hatten („ja“ oder „Sitte/Brauch“) bis auf wenige Ausnahmen durch­gängig markiert oder anderweitig kenntlich gemacht. Im Falle der Fragekarten aus dem Kreis Simmern war bei 10 von 13 in der Frage a) positiv be­ antworteten Fragekarten der Fall. Von den überlieferten sieben Fragekarten aus den hier näher beleuchteten Kreisen bejahten drei die Frage nach einer Verpflichtung, weitere drei verneinten sie und eine Fragekarte blieb ohne entsprechende Angaben. Alle drei positiven Antworten verzeichneten „Krankheit“ als einen Lebensbereich, für den der Hilfsanspruch bestand. Die Frage d) nach dem Träger der Hilfsverpflichtung ist nicht eindeutig zu beantworten, da der Begriff des „Nachbarn“ nicht eindeutig bestimmt wurde. Diese Problematik war offensichtlich bereits einigen der Berichterstatter bewusst. Während der Berichterstatter aus Wolf (Kreis Bernkastel) auf diese Frage beinahe erstaunt antwortete „Ei, für der Nachbar“ [sic!], erläuterte der Berichterstatter für Idenheim (Kreis Bitburg) den dortigen Nachbarschaftsbegriff: Das Dorf ist in Nachbarschaften eingeteilt, die helfen. Bei Hausbau kommt das ganze Dorf in Frage.75

Kriterium für „Nachbarschaft“ war demnach nicht alleine die angrenzende Lage der Grundstücke; was genau darunter zu verstehen war, hing von lokalen Regelungen ab.76 Schließlich bleibt noch zu klären, in welcher Weise der Hilfsverpflichtung angemessen entsprochen wurde. In den meisten Fällen beschränken sich die Berichterstatter bedauerlicherweise auf die Kennzeichnung der Krankheit als Hilfsbereich. In mehreren Fällen wurde das angegebene Beispiel der Nachtwache markiert; vereinzelte Fragekarten enthalten weitere kurze Anmer72 73 74 75

Vgl. auch Zender, Dorf, S. 173. AADV ADV-Fragekarten, Karte 149 25 24 cu, 192 a). AADV ADV-Fragekarten, Frage 192 a) passim; hier: Karte 149 24 12 dl, 192 a). AADV ADV-Fragekarten, Karte 149 5 8br, 192 d) (Wolf); Ebd. Karte 149 8 7 br, 192 d) (Idenheim); 76 Darauf deutet etwa auch der Eintrag auf der Fragekarte für Rittersdorf (Kreis Bitburg) hin: „Wer als Nachbar offiziell anerkannt ist.“ AADV ADV-Fragekarten, Karte 149 1 5ar, 192 d). Auf die Bedeutung entsprechender Einrichtungen weisen für städtischen Kontexte Kinzelbach, Gesundbleiben, S. 303 und Jütte, Ärzte, Heiler, S. 202–204 hin.

226

Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung

kungen dazu.77 Die Fragekarte aus Wolf verzeichnet „nur kleine Gefälligkei­ ten“, während andere Fragekarten Hilfeleistungen wie „Arzt rufen“ benannten.78 Die Hilfeleistungen bestanden demnach nicht in direkter medizinischer Hilfe sondern in erster Linie in indirekten Unterstützungsleistungen.79 Trotz ihrer beschränkten Aussagekraft machen die Antworten der Berichterstatter auf die Fragen zu Verpflichtungscharakter und Umfang nachbarschaftlicher Hilfe im Krankheitsfalle deutlich, dass Kranke – zwar seit dem Be­ginn des Jahrhunderts abnehmend, aber nach wie vor gewöhnlich – auf soli­ da­rische Hilfeleistungen und erhöhte Aufmerksamkeit ihrer Umgebung rechnen durften.80 Zugleich zeigen die erhaltenen Antworten, dass diese Hilfe nicht in direkter medizinischer Betreuung bestand, sondern sich eher in deren Um­feld, etwa durch Krankentransporte, Besorgungen oder Pflege nach einer Behand­lung manifestierte.81 Die zweite für die hier angestellten Untersuchungen interessante Frage aus den Fragebögen des ADV betraf die Praxis der Krankheitsheilung durch „Besprechen“ oder „Segnen“, also Formen magischer Heilbehandlungen.82 An dieser Stelle soll es nicht darum gehen, in welchen Formen diese Behandlungen vorgenommen wurden83, sondern primär interessiert hier der Blick auf die Verbreitung derartiger Heiltechniken bis ins 20. Jahrhundert hinein.84 Die sieben Teilfragen der Frage 184 des 4. Bogens (1933) lauteten: a) Ist es in Ihrem Ort üblich, gewisse Gebrechen und Krankheiten der Menschen zu „besprechen“ (segnen, böten usw.) und welche?

77 Von den einschlägigen Fragekarten ist nur bei der Rittersdorfer Fragekarte die „Nachtwache“ als Hilfsdienst markiert. AADV ADV-Fragekarten, Karte 149 1 5ar, 192 b). 78 Am umfassendsten hierzu AADV ADV-Fragekarten, Karte 149 10 21 ar, 192 b). „Geburt = Hebamme rufen, Krankheit = Arzt rufen, Apotheke fahren“; Ebd. Karte 150 2 11 d 192 b) (Holzbach): „bei Krankheit Pflege“. 79 Hoffmann, Bräker, S. 123–126 hebt hervor, dass Nachbarschaftshilfe immer auch Aufmerksamkeit und Informationsaustausch bedeutete. Vgl. auch Porter/Porter, Progress, S. 42–46. Kinzelbach, Gesundbleiben, S. 302 verweist zudem auf den praktischen Nutzen, etwa in Form von Essensmitbringseln. 80 Inwiefern sich dieses in der Praxis niederschlug wird in Teil III der Arbeit zu prüfen sein. 81 Vgl. Dinges, Aushandeln, S. 8. 82 Einen Überblick zu Praktiken und Geschichte bietet Jütte, Alternative Medizin, S. 90–103. Vgl. auch die Erläuterung zur lokalen Entwicklung in Zender, Verbeten. 83 Dies gäben, wie zu sehen sein wird, die Aussagen der ADV-Karten auch gar nicht her. 84 Formen der Volksmagie und ihre Veränderungen über den Zeitraum von drei Jahrhunderten hat für den Saarraum v.a. anhand von Visitationsprotokollen Eva Labouvie untersucht. Der geographische Raum ihrer Untersuchung reichte dabei nach eigenen Angaben gut 50 km über das Territorium des heutigen Bundeslandes Saarland hinaus und umfasste damit vor allem im Süden auch Teile des hier untersuchten Regierungsbezirks Trier. Labouvie, Verbotene Künste. Für das 19. und den Anfang des 20. Jahrhunderts hat jüngst Nils Freytag unter dem Blickwinkel der Aberglaubenforschung auch die Laienheilkunde betrachtet. Freytag, Aberglauben.

227

Kassen, Arzt und „Knochenflicker“

b) Tut man das Besprechen zu einer besonderen Zeit des Tages oder des Monats und zu welcher? c) Was tut / spricht die besprechende Person? d) Was muß die besprochene Person tun? e) Was beachtet man sonst dabei? (Männer, Frauen, Geheimhaltung) f) Wer bespricht? g) Wie nennt man das Besprechen von Viehkrankheiten?85

Die 182 erhaltenen Fragekarten zur Teilfrage a) für das Grundquadrat 149, sowie die insgesamt 20 Fragekarten für den Kreis Simmern im Grundquadrat 150 ergeben in der Auszählung folgendes Bild86: Tabelle 7: Auszählung der ADV-Fragekarten, Frage 184 Grundquadrat

„ja“

„nein“

„Sitte/ Brauch“

Ohne Angabe

Gesamtzahl

149

26

117

22

26

182

150 (Kreis Simmern)

1

11

6

0

18

In der Mehrzahl der Orte waren Besprechungspraktiken dieser Aufstellung zufolge demnach in den 1930er Jahren zwar nicht mehr allgemein üblich, das „Besprechen“ muss aber angesichts der positiven Nennungen trotz des hier erkennbaren Rückgangs im Gebrauch dennoch auch in den 1930er Jahren noch als Heilpraxis verstanden werden, welcher prinzipiell Wirkkraft zugesprochen wurde.87 Gleichzeitig zeigen die positiven Antworten und die Verweise auf frühere Praxis, dass hier im Laufe der Zeit eine Entwicklung weg von Besprechungsheilungen eingetreten war. Die Berichterstatter selbst bestimmten als den Beginn dieser Entwicklung in mehreren Fällen die Jahre unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg.88 Damit lassen sich die untersuchten Regionen in eine Entwicklung einordnen, die auch für andere ländliche Gebiete bereits festgestellt wurde und ein Nebeneinander wissenschaftlicher und volksheilkundlicher Heilungsverfahren bis in den Zweiten Weltkrieg hinein bedeutete.89

85 AADV ADV-Fragekarten, Frage 185. Die Teilfrage 185 g) wurde nicht in die Auswertung einbezogen. 86 Die Kategorien sind nicht durch den Fragebogen vorgegeben, sondern wurden aus den gegebenen Antworten vom Verfasser abstrahiert. 87 Natürlich ist Unkenntnis des Berichterstatters über die Praktizierung im Einzelfall nicht auszuschließen. Den allmählichen „schichtweisen“ Abbau von Bräuchen, bei dem erst der Gebrauch und dann der Glaube an die Wirksamkeit schwindet, stellt für den Bereich des Gesundbetens auch Zender, Wandlungen, S. 57 fest. 88 AADV ADV-Fragekarten, Karte 149 8 17 dr (Welschbillig), 185 a): „war üblich bis 1914“. Ähnlich auch Ebd. Karte 149 15 8dr (Longuich), 185 a) und Karte 149 17 18a (Wolzburg, Kreis Bernkastel), 185 a). 89 Vgl. Zender, Verbeten; Dieck, Krankenbehandlung; Wilke, Sünden, S. 124; Stolberg, Heilpraktiken.

228

Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung

Auch wenn keine der Teilfragen der Frage 185 explizit nach den durch Besprechen behandelten Erkrankungen fragte, notierten vereinzelte Berichterstatter entsprechende Angaben unter der Teilfrage b). So benannte der Berichterstatter für Pickließem im Kreis Bitburg „Blutungen, Verrenkungen, Verbrennungen, Schmerzen“, Letzteres verzeichnete auch der Berichterstatter aus Bruch, Kreis Wittlich.90 Diesen wenigen Angaben zufolge waren es vor allem äußerliche Verletzungen, die auf diese Weise behandelt wurden.91 Erkennbar ist, dass diese Behandlungsfelder weitgehend denen glichen, die auch von den bereits beschriebenen „Knochenflickern“ abgedeckt wurden.92 Tatsächlich ist die Unterstützung von Behandlungen durch Gebete und Ritualformen auch in anderen Fällen ein bekanntes Phänomen.93 Der mögliche Weg eines solchen geschickten und erfolgreichen Behandlers zum über Mundpropaganda überlokal bekannten laienheilkundigen „Knochenflicker“ ist leicht ersichtlich. In der Tat verzeichnen die Fragekarten zur Teilfrage 185 f) in mehreren Fällen „Alte Männer und Frauen“ als Praktikanten der Besprechungsheilung.94 Im Sinne der Kategorisierung der Heiler nach ihrem Wissenserwerb sind die Verbeter demnach als Erfahrungsheiler anzusehen.95 Wie unsicher und vorsichtig zu beurteilen die Angaben aber bleiben, wird anhand der Teilfrage 185 e) deutlich. Auf die Frage nach zu beachtenden Umständen bei Besprechungen wird in vielen Fällen „Geheimhaltung“ genannt. Zwar zielte die Frage in erster Linie auf die Praxis des Besprechens ab, der als notwendig erachtete Arkancharakter mag aber auch Auswirkungen auf die Auskunftsbereitschaft der Berichterstatter und die Verlässlichkeit ihrer Angaben gehabt haben. Sicher nachzuprüfen ist dies letztlich nicht. Festzuhalten bleibt, dass Besprechungspraktiken zwar wahrscheinlich seit dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auch im ländlichen Raum quantitativ allmählich zurückgingen, dennoch waren sie auch in den 1930er Jahren immer noch präsent und bekannt.96 In qualitativer Hinsicht scheinen die Praktiken demgegenüber wenig Veränderungen im Vergleich zu früheren Zeiten erfahren zu haben.97 90 AADV ADV-Fragekarten, Karte 149 2 5c (Pickließem), 185 b); Ebd. Karte 149 3 14 co (Bruch), 185 b) 91 Leider sind Angaben über die Schwere der behandelten Erkrankungen nicht vorhanden. 92 Siehe dazu Kapitel 6.1. 93 Dazu Jütte, Alternative Medizin, S. 95ff.; für den lokalen Kontext Zender, Verbeten, 94 AADV ADV-Fragekarten, Karte 150 1 20a (Bergweiler), 185 f); Ebd. Karte 150 7 13a (Schlierschied), 185 b). Beide Orte lagen im Kreis Simmern. Mit der Betonung des Alters gleichen die Angaben auch Erkenntnisse aus anderen Regionen. Präzise statistische Angaben zum Alter von Laienheilern fehlen in der Forschung allerdings weitgehend. Jütte, Alternative Medizin, S. 101. 95 Vgl. Kapitel 1.6.1. 96 Vgl. dazu auch Simon, Medikalisierungsprozess. 97 Der Bereich des Besprechens und Gesundbetens zeichnet sich bis heute durch eine weitgehende Persistenz zum Teil jahrhundertealter Formen und Formeln aus. Jütte, Alternative Medizin, S. 96–99.

Kapitel 4: Ländlichkeit als Problem, Armut als Chance? Bewertungen 4.1. Ländliche Gesundheitsversorgung Die Untersuchung der ländlichen Gesundheitsversorgung in den vorangegangenen Kapiteln hat gezeigt, dass zwischen 1880 und 1930 im Raum der südlichen preußischen Rheinprovinz für Kranke ein breites Spektrum an Möglichkeiten bereitstand, um im Bedarfsfalle gesundheitliche Hilfe zu erhalten. Selbsthilfe und Nachbarschaftshilfe, Laienheilkundige, wohltätige Einrichtungen in Gestalt von Ordensstationen und Hospitälern und schließlich staatlich-kommunale Systeme (teil-)besoldeter Ärzte und Hebammen waren zu einem dichten Netz verwoben, welches die ländlich geprägte Region kaum als „medizinischen Leerraum“ sondern als mit Gesundheitshilfe vielfältig versorgtes Gebiet erscheinen lässt. Bis um 1900 waren dabei verschiedene Teile dieses Gewebes unterschiedlich bedeutsam. So verbreitete sich die ärztlich-naturwissenschaftliche Medizin, wie die entsprechenden Kennzahlen im Vergleich mit anderen Bezugsgebieten zeigten, nur allmählich und gegenüber entsprechenden Entwicklungen in Städten verzögert. Als Muster der ärztlichen Niederlassung wird dabei die Orientierung an einer vergleichsweise zahlungskräftigen Privatklientel deutlich. Anders als etwa in England, wo eine deutlich stärkere Streuung der ärztlichen Niederlassung im ländlichen Raum zu beobachten ist, konzentrierten sich die Ärzte im hiesigen Untersuchungsraum zuerst auf die größeren Ortschaften, die mit ihrer höheren Bevölkerungszahl und ihrer verkehrsgünstigeren Lage eine private Praxisführung erleichterten. Erst wenn die Konkurrenz hier zu groß wurde, wichen Niederlassungswillige in kleinere Ortschaften aus. Wesentlich günstiger war dagegen die im Vergleich zu anderen Bezugsregionen überdurchschnittliche Versorgung mit Hebammen im hiesigen Raum, die zudem aufgrund ihrer kommunalen Anstellung wesentlich gleichmäßiger verbreitet waren. Diese Umstände dürften sie in vielen Fällen zu den ersten, wenn nicht gar den einzigen, von den von Krankheit Betroffenen konsultierten Vertretern einer öffentlichen Medizinalversorgung gemacht haben. Bedeutender für die gesundheitliche Versorgung im ländlichen Raum war aber auch bis 1900 noch immer das breite Spektrum der Laienheilkundigen. Dieses reichte in seiner räumlichen Verbreitung ohne Zweifel am weitesten in die einzelnen Ortschaften hinein, war aber durch eine erhebliche innere Varianz in Kenntnissen und Behandlungsumfang der einzelnen Laienheiler gekennzeichnet. Die Palette der Möglichkeiten reichte hier vom Autodidakten, der gelegentlich Kenntnisse aus veterinärheilkundlichen Erfahrungen in den humanheilkundlichen Bereich übertrug, bis hin zum Heilkundigen mit eige

Loetz, Patienten, S. 201. Auch Lachmund/Stollberg, Patientenwelten, S. 83 gingen – zumindest implizit – aufgrund einer „prinzipiellen Unterversorgung mit Ärzten“ für den ländlichen Raum von einer „Notlage des Patienten“ aus.

230

Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung

ner Praxis und umfangreicher Eigenreklame. Auch Selbst- und Nachbarschafts­ hilfe waren üblich, wobei etwa im Falle von Besprechungspraktiken die Grenzen zur Laienheilkunde fließend waren. Wesentliche Träger gesundheitlicher Versorgung waren zudem die konfessionellen Orden. Von Ordensstationen und Hospitälern aus übernahmen sie Pflegedienste und leisteten stationäre Hilfe. Die Hospitäler waren Orte, in denen Kranke, Alte und Sieche weitgehend undifferenziert nebeneinander versorgt wurden. Insgesamt zeigte sich die ländliche Gesundheitsversorgung also noch an der Wende zum 20. Jahrhundert in weiten Bereichen von Konzepten und Strukturen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts geprägt. Die Zeit von 1900 bis um 1920 wiederum präsentierte sich als Epoche des Übergangs und des Nebeneinanders, in der einerseits bestehende Strukturen fortgeführt und gegebenenfalls modifiziert wurden, andererseits völlig neue Strukturen und Akteure in der ländlichen Gesundheitsversorgung zutage traten. Wenig Veränderung war dabei vor allem bei den staatlich-kommunalen Systemen zu beobachten. Das System der Bezirkshebammen blieb bis zum Beginn der 1920er Jahre in seiner Struktur praktisch unverändert, und auch das Distriktarztsystem veränderte sich in erster Linie unter dem Eindruck einschneidender Probleme während des Ersten Weltkriegs und dem gleichzeitigen Angebot alternativer Konzepte der freien Arztwahl von Seiten der Krankenversicherungen. Eine deutliche Veränderung zur Professionalität war hingegen bei den konfessionellen Trägern und in der stationären Versorgung zu sehen. Die Krankenpfleger wurden zunehmend spezialisierter für ihre Tätigkeit ausgebildet, wobei es den konfessionellen Trägern erfolgreich gelang, ihre dominierende Position zu halten, indem sie in wesentlichen Teilen auch die Ausbildung nichtkonfessioneller Pfleger übernahmen. In der stationären Versorgung entstanden auf Initiative kommunaler wie konfessioneller Träger seit der Jahrhundertwende vermehrt auf Heilung spezialisierte Krankenhäuser. In der Folgezeit entwickelten sich die nach wie vor bestehenden Hospitäler stärker zu Versorgungseinrichtungen für Alte. Die zweifelsohne gegenüber den Städten verzögerte Entwicklung eines speziellen Krankenhauswesens im ländlichen Raum brachte es auf der anderen Seite mit sich, dass dessen Konzept weit ausgereifter übernommen werden konnte. Der Bruch zwischen dem traditionellen Hospital und dem ärztlich-naturwissenschaftlich geprägten Krankenhaus wurde hier umso deutlicher sichtbar. Der inzwischen weitgehend etablierte Stand der ärztlichen Medizin zeigte sich zudem an Bemühungen, das Netz der gesundheitlichen Versorgung in diesem Sinne zu verdichten. Von verschiedenen Seiten und mit unterschiedlichen Konzepten begonnen, war das gemeinsame Ziel derartiger Bemühungen, im ländlichen Raum einen besseren und schnelleren Zugang Kranker zur ärztlichen Medizin zu ermöglichen. Während eine Initiative wie die Margaretenspende die materielle Ausstattung verbessern sollte und die Sanitätsko

Vgl. dazu Kapitel 7.3.

Ländlichkeit als Problem, Armut als Chance?

231

lonnen die infrastrukturelle Komponente stärkten, war das Konzept der Krankenbesucherinnen in erster Linie auf eine größere personelle Nähe ärztlicher Medizin zu den Betroffenen ausgerichtet. Dieses Konzept belegt dabei zugleich die Flexibilität der Ansätze, wenn die Besucherinnen etwa abhängig von der jeweiligen Arztversorgung einer Region stärker als vermittelnde Kontaktstelle zum Arzt oder aber als dessen pflegerische Unterstützung fungierten. Als qualitativ neue Institutionen traten in der Phase von 1900 bis 1920 schließlich auch die Sozialversicherungen, hier insbesondere die Krankenversicherung, in Erscheinung. Anstelle des Fürsorgeprinzips mit Bedürftigkeitsprüfung waren sie nach dem Versicherungsprinzip organisiert, welches den Mitgliedern einen Behandlungsanspruch gab. Die Untersuchung der lokalen Konkretion der gesetzlichen Krankenversicherung anhand erhaltener Kassenstatuten von Gemeindekrankenversicherungen und Ortskrankenkassen ergab, dass wesentliche Beschäftigtengruppen der hiesigen ländlichen Region, vor allem land- und forstwirtschaftliche Arbeiter sowie Tagelöhner über statuarische Beschlüsse früh die Möglichkeit einer Krankenkassenmitgliedschaft in den Ortskrankenkassen erhielten. Es konnte aufgezeigt werden, dass in der praktischen Ausgestaltung der Krankenkassen auf lokaler Ebene bereits lange vor der offiziellen gesetzlichen Regelung dieses Sachverhaltes in der Reichsversicherungsordnung von 1911 auch diesen Gruppen der ländlichen Bevölkerung prinzipiell der Zugang zum Krankenversicherungsschutz offenstand. Damit blieben die „nationalstaatlichen Inklusionssemantiken“ für arme Bevölkerungsteile nicht in bloßer Rhetorik verhaftet, sondern wurden in den Sozialversicherungen tatsächlich strukturell operationalisiert. Graham Room bemisst Exklusion anhand „the extent to which some groups of the population are denied access (…) to the welfare institutions that embody modern notions of social citizenship”. In diesem Sinne dürfen Arme, von der Zugangsmöglichkeit zu derartigen Einrichtungen her betrachtet, als inkludiert angesehen werden. Als wesentlicher Grund dieser offenen Ausgestaltung der Ortskrankenkassen darf die Absicht der Gemeindebehörden gesehen werden, finanzielle Risiken von der Gemeindekasse auf die Gemeinschaft der in der Ortskrankenkasse versicherten Personen zu verlagern. Während die Gemeindekrankenkassen, deren Defizit gegebenenfalls die Gemeinde zu tragen hatte, mit restriktiven Zugangshemmnissen versehen wurden, versuchten die Verantwortlichen in den Verwaltungen, den Eintritt in die Ortskrankenkassen durch deren rasche Gründung, vergleichsweise kleine Kassen und niedrige Eintrittsschwellen attraktiv zu gestalten. Nicht zuletzt durch diese Offenheit stellten die Sozialversicherungen Strukturen bereit, welche die Medikalisierung der ländlichen Gesellschaft befördern konnten. Diese Förderung war allerdings direkt – durch die Übernahme ärzt 

Raphael, Königsschutz, S. 32. Vgl. Room, Threshold, S. 5–7.

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licher Behandlungskosten – wie indirekt – durch die Finanzierung von Krankenhausbauten im ländlichen Raum – stärker als Angebot, denn als Zwang gestaltet. Im Ganzen ist im Zeitraum von 1900 bis 1920 ein Nebeneinander alter und neuer Formen der gesundheitlichen Versorgung zu beobachten. Während Teile dieser Versorgung zunehmend spezialisierter wurden, wie etwa die Krankenpflege, erwiesen sich andere, wie die Einrichtung der Krankenbesucherinnen, als Phänomene des Übergangs, die nach einer mehr oder minder langen Weile wieder verschwanden. Dieser Trend setzte sich auch in den Jahren nach 1920 weiter fort. Dabei waren ‚offizielle’ Teile, wie die Hebammen, ebenso davon betroffen wie ‚inoffizielle’ Laienheilkundige. Erste erhielten im Rahmen einer allgemeinen Bedeutungszunahme gesundheitsfürsorgerischer Aktivitäten neue spezialisierte Aufgabenfelder, wie die Säuglingsfürsorge; letzte bemühten sich, ähnlich wie zuvor die Ärzte, um eine zunehmende Professionalisierung, sichtbar etwa an der Gründung von Interessenverbänden. Während es im Bereich der gesundheitlichen Hilfeleistungen also immer stärker zur Herausbildung eines spezialisierten medizinischen Komplexes kam, gingen Selbsthilfepraktiken im ländlichen Raum seit der Mitte der zweiten Dekade zunehmend zurück. Ewald Frie hat für die Entstehung des Sozialstaates in Deutschland mit einer ersten Phase von „Einrichtung und Aufbau der Sozialversicherung“ (1880– 1914), einer Phase des Wandels in einer „improvisierten Entstehungsphase“ (1914–1924) und einer abschließenden Phase der „aktiven Stabilisierung“ (1924–1930) eine zeitliche Gliederung entworfen, die in leichten Modifikationen auch auf den ländlichen Raum und die dortige Gesundheitsversorgung übertragbar ist. Auch hier ist eine erste Phase von 1880 bis um 1900 vom Aufbau der Sozialversicherung, sowie einer allmählichen ärztlichen Versorgung des ländlichen Raums gekennzeichnet. Die folgende zweite Phase bis um 1920 ist ebenfalls durch „improvisierende“ Gestaltungsversuche (Caritas-Besucherinnen, Margaretenschränke etc.) einer flächendeckenden gesundheitlichen Versorgung im Sinne der naturwissenschaftlichen Medizin und ein weitreichendes Nebeneinander alter und neuer Strukturen geprägt. Erst in der letzten Phase setzen sich im Wesentlichen ab 1920 schließlich die neuen Instrumentarien der Gesundheitsfürsorge und der akademisch-ärztlichen Medizinversorgung auch im ländlichen Raum durch. Die lange Entwicklungsdauer der ländlichen Gesundheitsversorgung belegt die Bedeutung von Kontinuitäten „hinter den scharfen Brüchen der politisch-militärischen Ereignisgeschichte“ und zeigt den Wert eines „langes 20. Jahrhundert“ als Beobachtungszeitraum für sozialgeschichtliche Untersuchungen.

 

Frie, Fürsorgepolitik, S. 19–20, 277. Raphael, Verwissenschaftlichung, S. 186.

Ländlichkeit als Problem, Armut als Chance?

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4.2. Armenkrankenpflege Die bisherigen Untersuchungen haben gezeigt, dass den formalen Kern der Armenkrankenversorgung – die von Ärzten getragene kostenlose Behandlung armer Kranker – in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz das in diesem Gebiet bereits in Zeiten der französischen Herrschaft eingerichtete Distriktarztsystem bildete. Faktisch wurde die vorgesehene Versorgungsdichte von einem ortsansässigen Distriktarzt pro Bürgermeisterei jedoch erst am Ende des 19. Jahrhunderts flächendeckend erreicht. Vor diesem Hintergrund scheint die gesundheitliche Versorgung kranker Armer auf den ersten Blick nur sehr unzureichend gewesen zu sein. Fritz Dross hat gerade für ländliche Gegenden den Mangel an medizinischer Versorgung als extrem groß bezeichnet. Dieses Urteil ist im Licht der hier gewonnenen Ergebnisse jedoch so nicht in jedem Falle haltbar. Der Blick auf die Vielfalt der ländlichen Gesundheitsversorgung im Allgemeinen macht deutlich, dass die Armenkrankenpflege im engeren Sinne auch für Arme nur eine unter vielen Möglichkeiten darstellte, im Krankheitsfalle Hilfe zu finden; die „mixed economy of welfare“ galt auch für die gesundheitliche Versorgung. Soweit ersichtlich, gab es bei fast allen Hilfseinrichtungen besondere Regelungen für die Versorgung mittelloser Kranker. Im Fall der Bezirkshebammen war zwar die Armenbehandlung nicht der primäre Zweck der Einrichtung, über die Regelung der kostenlosen Geburtshilfe für Arme wurden diese aber auch hier finanziell weitgehend entlastet. Ähnliche Auswirkungen hatte die karitative Grundausrichtung konfessioneller Ordenspfleger. Vertragliche Vereinbarungen der Gemeinden und Ortsarmenverbände sahen fast durchgehend eine kostenfreie oder verbilligte Behandlung kranker Armer vor10, so dass diesen faktisch die ganze Breite der ländlichen Gesundheitsversorgung kostengünstig zur Verfügung stand.11 Auch qualitativ waren die kranken Armen innerhalb der ländlichen Gesundheitsversorgung keineswegs benachteiligt. Zwar wurde ein Vorsprung der ärztlichen Medizin in der Therapie erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erkennbar, doch brachte der Umstand, dass vor allem junge Ärzte Positionen als Armenärzte übernahmen mit sich, dass die Armen vergleichsweise früh mit neuen medizinischen Erkenntnissen und Verfahrensweisen in Kontakt kamen. 

Dessen Einrichtung deutet, anders als etwa bei Grell/Cunningham, Health Care, S. 4 beurteilt, die diesen Anspruch erst am Ende des 19. Jahrhunderts gegeben sehen, auf ein frühes Verständnis von Armenfürsorge als positiver Staatspflicht hin. In der Praxis konnte dieser Anspruch aber tatsächlich erst später umgesetzt werden.  Dross, Prussia, S. 95: „lack of medical care for the sick and impoverished, especially the lack of hospital beds, was extremely grave in rural areas as late as 1900.“  Vgl. Lewis, Agents, insbes. S. 163–164. 10 Nach der Aufteilung der Armenkrankenpflege in die Zweige von Behandlung in der Wohnung und Behandlung im Armenkrankenhaus bei Dross, Diskussion, S. 11, lag letztere hier praktisch ganz in der Hand konfessioneller Träger. 11 Generelle Aussagen zu ähnlichem Verhalten bei Laienheilern sind nicht zu treffen. Für Einzelfallbeobachtungen siehe Teil III der Arbeit.

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In Hinblick auf die Quantität der ärztlichen Versorgung war die Lage der armen Kranken sogar potentiell besser als die der übrigen Kranken. Da bis um 1900 die Verbreitung von Ärzten im ländlichen Raum so gering war, dass praktisch jeder Arzt als Armenarzt fungierte, dürften faktisch der wohlhabendere Selbstzahler und der auf die Fürsorge angewiesene Arme in den meisten Fällen denselben nahe gelegenen Arzt konsultiert haben. Für den Armen war diese Konsultation aber nicht nur kostenlos, sondern über die verbreitete vertragliche Verpflichtung des Armenarztes zum Krankenbesuch konnte der Arme es sich sogar erlauben, den Arzt zu sich kommen zu lassen, ohne dass dies für ihn mit besonderen Kosten verbunden gewesen wäre. Die kranken Armen büßten ihre vorteilhafte Lage nicht einmal mit der Zunahme ärztlicher Präsenz im ländlichen Raum seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Da ihnen seit ca. 1900 beginnend, verstärkt dann ab der zweiten Dekade, in vielen Gemeinden, vor allem des Regierungsbezirks Koblenz, die Möglichkeit der beschränkten oder völlig freien Arztwahl eingeräumt wurde, waren sie in der Praxis in diesen Fällen ähnlich frei in der Wahl des Arztes wie die übrigen Kranken. Mit der aus der Praxis der Krankenversicherungen entlehnten freien Arztwahl war häufig auch die Einzelabrechnung der armenärztlichen Leistungen mit der Armenkasse verbunden. Auch diese Regelung bevorzugte arme Kranke relativ gesehen, machte die vergleichsweise sichere Zahlung der Rechnung durch die öffentliche Hand den armen Patienten für den Arzt gegenüber einem eventuell finanziell weniger abgesicherten Privatpatienten attraktiv. Gegenüber ähnlichen Armenarztsystemen innerhalb und außerhalb des Deutschen Reiches erscheint das hier untersuchte Armenarztsystem der preußischen Rheinprovinz ambivalent. Charakteristisch war sicherlich die durch französische Traditionen bedingte kommunale Trägerschaft der Distriktärzte. Anders als die staatlich finanzierten Distrikt- oder Gerichtsärzte in Nassau12 oder Bayern13 waren die rheinischen Armenärzte viel stärker den lokalen Differenzen der kommunalen Finanzlage unterworfen. Auch die Vertragsbedingungen konnten variieren, so dass von einer einheitlichen Regelung der Armenkrankenpflege in den beiden Regierungsbezirken nicht in jedem Fall gesprochen werden kann, sondern ein prüfender Blick auf die lokalen Verhältnisse angebracht bleibt. Die bürgermeistereibezogene Verpflichtung zur Anstellung eines Armenarztes war zumindest in ihrer endgültigen Ausbaustufe wesentlich dichter, als etwa das bayerische Landgerichtsarztsystem, welches für jeden Landgerichtsbezirk jeweils nur einen Arzt vorsah.14 Schlechter stand es hingegen im Vergleich zur Versorgung in Hessen-Nassau, wo umgerechnet eine Quote von etwa zwei bis drei Ärzten pro Bürgermeisterei erreicht wurde.15 Dies wurde jedoch zumindest teilweise wieder dadurch ausgeglichen, dass die Armenkrankenpflege im hier untersuchten Raum die Hauptaufgabe der Dis12 Vgl. Weber-Grupe, Gesundheitspflege. 13 Vgl. Stolberg, Health Care. 14 Ebd., S. 123. Ein bayerischer Landgerichtsbezirk entsprach im Groben dem Umfang eines rheinpreußischen Kreises. 15 Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 59–63; 522–524.

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triktärzte war, während diese in den anderen Fällen lediglich eine unter mehreren, vor allem gerichts- und sanitätspolizeilichen, Aufgaben war. Das rheinpreußische Distriktarztwesen war im nationalen Vergleich damit das strukturell am stärksten auf die Armen hin ausgerichtete flächendeckende System armenärztlicher Versorgung. Im nur punktuell unternommenen internationalen Vergleich erwies sich allerdings die armenärztliche Versorgung in England als strukturell besser angelegt, da dort, anders als im hier untersuchten Raum, die Armenärzte gleichmäßiger im ländlichen Raum verteilt waren.16 Wesentlicher Grund hierfür dürfte gewesen sein, dass die englischen Armenärzte einen wesentlich größeren Teil ihres Einkommens aus der Armenversorgung erwirtschafteten und so eher bereit waren, sich auch in abgelegeneren Landstrichen niederzulassen.17 In Frankreich scheiterte hingegen der 1803 unternommene Versuch, die Armenkrankenpflege durch vergleichsweise kurz ausgebildete Officiers de santé tragen zu lassen, da diese nicht besoldet wurden und dementsprechend ihren Verdienst – ähnlich wie im rheinischen Fall – in den größeren Städten suchten.18 Auch die zwischen 1893 und 1913 unternommenen Versuche einer landesweiten Regelung der Armenkrankenpflege blieben, soweit erkennbar, in der Praxis ohne Auswirkungen für die Armen.19

16 17 18 19

Digby, Making, S. 108–117. Zum Einkommen englischer Armenärzte vgl. Williams, Income. Faure, Provincial France, S. 314. Ebd., S. 318–320. Faure betont vor allem die regionalen Differenzen in Frankreich und den Bedarf an entsprechenden mikrohistorischen Einzelstudien (320).

Teil III – Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversor­ gung Krankheit ist selten ein Ereignis, welches nur den unmittelbar Betroffenen berührt, sondern hat darüber hinaus auch Auswirkungen auf dessen unmittelbares Umfeld und in der Summe der Fälle auch auf die umgebende Gesellschaft. In einem einfachen Fall mag dies nur die Haushaltsangehörigen des Kranken betreffen, die etwa gezwungen sind, Arbeitsabläufe für die Zeit der Erkrankung umzuorganisieren und neu zu verteilen. Auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene mag hingegen die Frage aufkommen, welche moralische Qualität einer Erkrankung zugemessen wird, was je nach Ergebnis unmittelbare Auswirkungen auf das Maß der bereitgestellten Ressourcen zur Erforschung und Bekämpfung dieser Krankheit haben kann. Die Fragen nach derartigen mittelbaren Auswirkungen von Krankheit haben, unter dem zunehmenden Einfluss kulturgeschichtlicher Fragestellungen und Forschungsansätze auch in der Sozialgeschichte der Medizin, in jüngerer Zeit an Bedeutung gewonnen. Über die bloße Frage nach Mitteln und Wegen der Heilung hinaus, erhielten nun beispielsweise auch die mit Krankheit verbundenen körperlichen Empfindungen, die Auswirkungen religiöser Prägungen auf die Deutung von Kranksein und Krankheit, obrigkeitliche und gesellschaftliche Reaktionen oder die durchaus differierenden gesellschaftlichen Bestimmungen dessen, was als „krank“ anzusehen ist, die verstärkte Aufmerksamkeit der Forschung. Nicht mehr allein die medizinische Reaktion, sondern „coping with sickness“, die individuelle und gesellschaftliche Bewältigung von Krankheit und der generelle Umgang mit Fragen von Krankheit und Gesundheit, sind vermehrt von Interesse. Für die spezifische Gruppe der Armen sind derartig umfassende Betrachtungen bisher zwar kaum unternommen, jedoch als lohnenswerter Gegenstand der Forschung bezeichnet worden. Absicht des folgenden Untersuchungsteils ist es, Mittel und Wege einer derartigen Bewältigung von Krankheit in der Umgebung ländlicher Arme am Beginn des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Aufgrund des Entstehungszusammenhangs der benutzten Quellen gehen die hier angestellten Betrachtungen von der Armenkrankenpflege im engeren Sinne aus, also der Behandlung durch die offiziellen Armenärzte. Insofern sich aber Hinweise auf andere Aspekte der Bewältigung ergeben, etwa in der Wahl    

 

Stolberg, Homo patiens; eher die Gesundheit des Körpers im Blick bei Hau, Cult. Ernst, Krankheit; Freytag, Aberglauben. Jütte, Illness; Kinzelbach, Gesundbleiben. Diesen Titel stellten John Woodward und Robert Jütte einer Reihe von interdisziplinären Tagungen voran, die versuchten, die sozialgeschichtlichen Diskussionen um eine kulturgeschichtliche Erweiterung für die Sozialgeschichte der Medizin fruchtbar zu machen. Die Ergebnisse sind erschienen in Woodward/Jütte, Coping 1; Woodward/Jütte, Coping 2; Woodward/Jütte, Coping 3. Hoffmann, Bräker. Vanja, Bittschriften, S. 26.

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der Heiler, werden diese in die Untersuchung einbezogen. Die Darstellung orientiert sich dabei am Weg des Kranken von dem Moment, in dem er oder sie der Erkrankung gewahr wurde, bis zur konkreten Behandlung, gegebenenfalls auch darüber hinaus bis zum Ende der Auseinandersetzungen mit der Armenverwaltung um die Finanzierung der Behandlung. Die ersten drei Kapitel dieses Teil sind mehr der individuellen Bewältigung der Krankheit gewidmet, wohingegen die letzten beiden den Umgang mit mittelbaren individuellen und gesellschaftlichen Folgen, insbesondere den entstehenden finanziellen Belastungen, in den Vordergrund stellen. Das fünfte Kapitel behandelt eingangs Fragen nach der Krankheit selbst. Unter welchen Bedingungen nahmen die Betroffenen ihren Zustand als „krank“ war? Mit welchen Mitteln artikulierten sie ihr Krankheitsempfinden? Sind deutende Konzepte von Krankheit erkennbar und welche Rolle spielten sie im Kontext der Armenkrankenversorgung? Wie sahen Arme, Armenverwaltung und Mediziner den Konnex von Armut und Krankheit? Im sechsten Kapitel wird untersucht, wo kranke Arme im ländlichen Raum nach Hilfe suchten. Wer wurde als Heiler gewählt? Spielten die jeweiligen Krankheiten dabei eine Rolle? Welchen Einfluss haben Kriterien wie die räumliche Entfernung oder zu erwartende Behandlungskosten auf die Entscheidungen der Betroffenen? Welche äußeren Umstände galt es also, auf dem Weg zur Heilung vorab zu bewältigen? Im Anschluss daran fragt das siebte Kapitel nach der konkreten Begegnung zwischen Heiler und Krankem. Wo fanden die Behandlungen statt? Wie wurden Arme behandelt und welche Unterschiede gab es in der Behandlung zwischen verschiedenen Heilern? Welche Rolle spielten die zeitgenössischen medizinischen Fortschritte in Diagnostik und Therapie? Sowohl im sechsten wie auch im siebten Kapitel wird dabei der Versuch unternommen, die praktische Umsetzung dieser systematischen Erkenntnisse am Fallbeispiel eines ländlichen kranken Armen nachzuvollziehen. Die Kapitel acht und neun richten den Blick dann auf die Bewältigung weitergehender Folgen von Krankheit für Einzelne und für deren gesellschaftliches Umfeld. Im Zentrum stehen dabei vor allem die finanziellen Folgen für den Kranken und seine Familie einerseits und die Armenverwaltungen andererseits. Im achten Kapitel steht die Bewertung der finanziellen Folgen im Vordergrund. Welche finanziellen Belastungen ergaben sich für den Kranken? Woraus setzten sie sich zusammen? Inwiefern waren sie für die Betroffenen vorhersehbar? Welche Bedeutung hatte die finanzielle Bewältigung von Krankheit im Rahmen der Armenfürsorge? Schließlich ist hier auch nach den Auswirkungen der Sozialversicherungen und ihrer Leistungen in diesem Bereich zu fragen. Wie groß war deren Wirkung in der Breite der Bevölkerung? Wie groß war die Entlastung im Einzelfall? 

Die Aufteilung der Kapitel versucht zugleich, die von Wolff, Perspektiven, S. 319–323 geforderte analytische Trennung der vier zentralen patientenhistorischen Untersuchungsbereiche von „Umständen“, „Beziehungen“, „Verhaltensweisen“ und „Vorstellungen“ zu erleichtern.

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Das neunte Kapitel befasst sich anschließend mit der aus diesen Belastungen resultierenden Interessenlage der Beteiligten – hier die betroffenen kranken Armen und die Armenverwaltung – und deren Vorgehen bei der Verfolgung ihrer jeweiligen Interessen. Welche besonderen Verhaltensweisen entwickelten sie in der Auseinandersetzung um die Bewältigung der Krankheit und ihrer Folgen? Gab es eventuell Übereinstimmungen? Verliefen die Aushandlungen eher konfliktiv oder eher kooperativ? Welchen Einfluss konnten vor allem die Armen selbst ausüben? Wie veränderten erworbene sozialversicherungsrechtliche Ansprüche dieses Verhältnis? Worin lag die Spezifik der Aushandlung von Armenkrankenversorgung gegenüber der ‚normalen’ Armenfürsorge? Wie sahen diese Aushandlungen in der Praxis aus? Im abschließenden zehnten Kapitel sollen dann die wesentlichen Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst werden und versucht werden, für die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen Antworten zu formulieren. Zum Quellenwert der Armengesuche Die Patientengeschichte als jene Forschungsrichtung, die sich zentral mit der Bewältigung von Krankheitssituationen befasst, ist längst kein weißer Fleck mehr auf der Landkarte der Medizingeschichte und auch die Art der herangezogenen Quellen wurde seit den ersten Anstößen entsprechender Forschungen durch Roy Porter im Jahr 1985 stetig erweitert. Von rein ärztlichen Fallschilderungen reicht das Spektrum über stärker aus der Interaktion zwischen Heilkundigem und Heilsuchendem entstandene Quellen, wie Konsiliarkorrespondenzen und Patientenbriefe, bis hin zu Zeugnissen privater Auseinandersetzungen mit Krankheit und Gesundheit in Autobiographien, Tagebüchern und privater Korrespondenz. Auch bereits bekannte Quellen wurden auf ihren Wert für eine patientengeschichtliche Fragestellung hin neu befragt.10 Der von Johanna Bleker angeführte „lack of adequate and appropriate sources” ist insgesamt inzwischen um einiges geringer geworden.11 

Porter, Patient‘s View. Zur Entwicklung der Patientengeschichte nach wie vor wichtig Wolff, Perspektiven.  Briefe und Konsiliarkorrespondenz analysieren Stolberg, Abführmittel und Schnalke, Brief. Selbstzeugnisse als Quellen, insbesondere Autobiographien, erschlossen erstmals in großem Umfang Lachmund/Stollberg, Patientenwelten. Dazu auch Stollberg, Health, insbes. S. 262, sowie jüngst Jütte, Weinsberg. Für die Verwendung der Gegenüberlieferung in Form von Patiententagebüchern und –autobiographien hat sich vor kurzem erneut Dinges/Barras, Krankheit in Briefen, S. 8 ausgesprochen. Einen Überblick über die Verwendung von Selbstzeugnissen als Quellen bei Jung/Ulbricht, Krankheitserfahrung. Den Briefwechsel als Quelle für die Untersuchungen von Beziehungen im Allgemeinen behandelt Dinges, Mütter, insbes. S. 92. Zu Briefquellen als Gegenstand krankheits- und gesundheitsbezogener Untersuchungen früh schon Forster, Patient‘s view, jüngst Dinges/Barras, Krankheit in Briefen. 10 Entsprechende Ansätze bei Wolff, Pockenschutzimpfung, siehe insbes. S. 17. 11 Bleker, Benefit, S. 17: „Patient’s history will always suffer from a lack of adequate and appropriate sources. The dearth of good historical material makes it easy to transfer our

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Dennoch sind es bisher immer noch in erster Linie Angehörige der oberen und mittleren sozialen Schichten, deren Überlieferungen in größerem Umfang für entsprechende Untersuchungen herangezogen werden, da entsprechende Quellen für Gruppen am unteren Rand der sozialen Skala kaum vorliegen.12 Dies gilt umso mehr für den Bereich der ländlichen Bevölkerung. Die Erfahrungen kranker Menschen, insbesondere der Unterschichten, wurden bis dato in keiner der herangezogenen Quellengattungen sichtbar.13 Eine wichtige Ausnahme bildet hier jedoch die kürzlich erschienene patientengeschichtliche Untersuchung des Tagebuchs von Ulrich Bräker durch Susanne Hoffmann.14 Aufgrund ihrer im Wesentlichen quantitativen Auswertung begrifflicher Bezüge auf Krankheit und Gesundheit gelingt es ihr, Einstellungen Bräkers zu verschiedenen Krankheiten, zu Erkrankungen seiner Umgebung und Bräkers Konzept von Krankheit herauszuarbeiten.15 Eine solch dichte autobiographische Quelle eines Armen darf aber mit Recht als Unikat betrachtet werden. Mit den hier untersuchten Anträgen auf Armenfürsorge steht eine Quellengruppe zur Verfügung, die auch breite gesellschaftliche Unterschichten der patientengeschichtlichen Untersuchung öffnet, von der diesbezüglichen Forschung bisher aber kaum in Anspruch genommen wurde. Erst in allerjüngster Zeit wurden erste Versuche unternommen, den Quellenwert vergleichbarer frühneuzeitlicher Supplikationen für die Patientenbiographie auszuloten.16 In der historischen Armutsforschung sind derartige Quellen hingegen bereits seit einiger Zeit immer mehr in den Fokus geraten. Nach ersten Arbeiten, welche Armen- und Fürsorgeakten in praktischer Hinsicht zur Darstellung

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own sentiments toward medicine back onto history, largely because of our feelings of impotence in the face of modern medicine, our postmodern disbelief in progress, and our longing for an intact world, one unimpaired by the alienating forces of modern society.” Ebenso Vanja, Bittschriften. So betonte Stollberg, Health, S. 262 zwar einerseits den Quellenwert von Autobiographien („This type of material is suitable for a history from below, firstly because autobiographies have a high degree of authenticity (…) and secondly, because authors do not merely relate facts, but use the facts to interpret their world. It is this dimension which is of interest for a history from below – a history that does not aim at reconstructing pure facts, but at a “thick description” of the social meanings.”), andererseits machten die Autoren die eingeschränkte soziale Perspektive in Lachmund/Stollberg, Patientenwelten deutlich. Herzlich/Pierret, Kranke, S. 12–13 kamen zu der Ansicht, dass „kaum Aussagen aus dem einfachen Volk vorhanden“ seien; „der größte Teil der Gesellschaft blieb zu diesem Thema, wie auch zu vielen anderen, stumm.“ Finzsch, Obrigkeit arbeitet in seiner Untersuchung zwar explizit mit Armen, nutzt aber mit den Armenzeugnissen in erster Linie eine Quelle, die über Arme berichtet und nicht von diesen selber stammt. Vanja, Bittschriften, S. 26: „Besonders wenig wissen wir hierbei über das Leben kranker Menschen der Unterschichten (Gesinde, Tagelöhner) bzw. der armen Landbevölkerung überhaupt.“ Hoffmann, Bräker. Zur Methodik der Arbeit vgl. insbesondere Ebd., S. 25–43. Am Beispiel der Hessischen Hohen Hospitäler Vanja, Bittschriften und Gray, Patientenbiographien.

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von einzelnen Schicksalen Armer heranzogen17, sind in neuerer Zeit vor allem in der frühneuzeitlichen Forschung wichtige Studien entstanden, die sich gezielt und konzeptionell mit den Chancen und Problemen in der Auswertung dieser Art von Quellen auseinandersetzen.18 Mit seiner Edition von rund 700 „Essex Pauper Letters“ hat Thomas Sokoll zudem ein reichhaltiges Quellencorpus einer breiten Forschungsöffentlichkeit zugänglich gemacht.19 Trotz individueller Ausprägungen in jedem Einzelfall lassen sich in äußerer Form und innerer Ausgestaltung derartiger Schreiben wiederkehrende Elemente und Typisierungen entdecken. So unterscheidet Thomas Sokoll drei Arten der formalen Gestaltung von „Pauper Letters“.20 Am häufigsten erscheinen „standard letters“, die weitgehend heutigen Briefgestaltungen entsprechen und auch vergleichbare formale Elemente wie Ort, Datum und Anrede- oder Grußformeln enthalten.21 Dagegen entsprechen Schreiben in der Art des „oral writing“ eher dem mündlichen Sprachgebrauch, etwa in phonetischer Orthographie, aber auch in assoziativ reihendem Darstellungscharakter.22 Auch derartige Schreiben kommen häufig vor. Nur selten erscheinen hingegen die stark formalisierten „petitions“. Stärker auf den Sprachduktus und den funktionellen Charakter der Briefe zielen hingegen die vier „voices“ ab, die James Taylor seiner Kategorisierung zugrunde legt.23 Er unterscheidet formale Bittschriften, eher beschreibende Darstellungen der Lebensumstände, insistierende Schreiben und zuletzt die stark appellative „desperate voice“ als stärkste emotionale Form des Armenbriefes. Diese Unterscheidung verdeutlicht besonders die Gestaltungsmöglichkeiten, welche die Verfasser und Schreiber der Briefe bei der Abfassung derselben besaßen.24 Neben dem ihnen innewohnenden Erkenntnispotential weisen Armenbriefe als Quellen aber in mehrfacher Hinsicht auch Probleme auf, deren Auswirkungen und Bewältigung im Einzelfall jeder Forschung zu berücksichtigen bleiben. So bieten die Armenbriefe gerade für die Frühe Neuzeit zwar die Chance, Quellen über die Lebensverhältnisse armer Bevölkerungsschichten zu finden25, angesichts ihrer Schriftlichkeit bleibt aber zu fragen, inwiefern diese tatsächlich Aussagen über die untersten gesellschaftlichen Schichten zulas-

17 Karweick, Tiefgebeugt; Gysin-Scholer, Krank; Rheinheimer, Jakob Gülich; Rheinheimer, Armut. Fürsorgeakten zieht auch Crew, Germans heran. 18 Sokoll, Armut; Taylor, Voices; Sokoll, Negotiating; Sokoll, Writing; Bräuer, Bittschriften. 19 Sokoll, Pauper Letters mit einer ausführliche Diskussion der Quellenkritik von Armenbriefen. Zur Übertragung dieser Ergebnisse auf das 19. und 20. Jahrhundert siehe unten. 20 Sokoll, Writing, S. 99–104. 21 Ähnliche Elemente des Schreibschemas sieht auch Bräuer, Bittschriften, S. 297. 22 Sokoll, Armut, S. 233; Sokoll, Old Age, S. 29. 23 Taylor, Voices, insbes. S. 111–112. 24 Eine „strategische“ Gestaltung der Briefe von Seiten ihrer Urheber sehen auch Bräuer, Bittschriften, S. 301 und Sokoll, Writing, S. 108. 25 Bräuer, Bittschriften, S. 295.

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sen.26 Verschärft wird diese Problemlage durch die meist große Unsicherheit der archivalischen Überlieferungsdichte.27 Eine systematische Sammlung von Eingaben ist oft weder zeitgenössisch noch in der modernen Archivbearbeitung erkennbar, repräsentative Aussagen daher nur bedingt möglich.28 In vielen Fällen fehlen gesamtgesellschaftliche Referenzdaten, die eine gruppenspezifische Interpretation erlauben würden.29 Die dokumentierte Kommunikation umfasst weiterhin nur einen Teil der Gesamtkommunikation zwischen Betroffenen und Armenverwaltung, zudem handelt es sich kaum um freiwillige, sondern eher der Not geschuldete Aussagen, die zudem in hohem Maße von behördlichen Anforderungen geprägt sein können.30 Auch wenn am Ende nicht die Erkenntnis stehen kann, „wie es denn eigentlich gewesen ist“31, qualifizieren sich die Armenbriefe aber doch als ernstzunehmende Quelle durch die Tatsache, dass die „Bittschrift als jene Quelle mit dem höchsten Grad an persönlicher Direktheit“ zu gelten hat.32 Die Suche nach tatsächlich privaten Zeugnissen von Armen zeigt sich – bis auf Einzelfälle – zumeist als wenig erfolgversprechend, so dass Armenbriefe die nächstmögliche Quelle zu Erfahrungen und Einstellungen von Armen darstellen.33 Auch wenn ein direkter persönlicher Bezug zu Gedanken und Gefühlen der ärmsten Mitglieder der Gesellschaft über diese Quelle wohl kaum hergestellt werden kann34, erlaubt die „Hinwendung zur Individualität armer Leute“ doch zumindest ein „Ausleuchten“ einzelner Biographien.35

26 Sokoll, Armut, S. 227 zufolge, kann es sich bei den Verfassern der von ihm analysierten Briefe kaum um Angehörige der zeitgenössischen „untersten Randbezirke der Gesellschaft“ gehandelt haben, da diese immerhin schriftmächtig waren. Im Hinblick auf die Untersuchung von Krankenhauspatienten hat Barbara Elkeles in vergleichbarer Weise formuliert: „Die Chance, Aussagen ehemaliger Patienten zu finden, erschien bei der sozialen Zugehörigkeit dieser Gruppe gering. Betroffen waren Menschen mit nur geringer Schriftlichkeit, die des Lebens und Schreibens, erst recht aber des Formulierens und Komponierens eines Texte nur bedingt fähig und gewohnt waren. Ihr ständiger Balanceakt am Rande des Existenzminimums ließ bei den langen, erschöpfenden Arbeitszeiten kaum Raum zum Nachdenken und Schreiben.“ Elkeles, Krankenhaus, S. 91. 27 Bräuer, Bittschriften, S. 297. Das Problem der archivalischen Überlieferungsbildung von Sozialakten aus archivarischer Sicht, sowie Anforderungen an entsprechende Verfahren, behandelt Buchholz, Überlieferungsbildung. 28 Karweick, Tiefgebeugt, S. 25. 29 Sokoll, Old Age, S. 136. 30 Sokoll, Writing, S. 105–106. Nach Gysin-Scholer, Krank, S. 19 bleibt durch das Ausklammern von „Persönlichem, Menschlichem“ das „Bild (…) verschwommen“. 31 Karweick, Tiefgebeugt, S. 18. 32 Bräuer, Bittschriften, S. 301. Dies gilt aufgrund der zumeist hohen Sozialkontrolle (s.u.) in den meisten Fällen auch für Schreiben, die von Fremdschreibern verfasst wurden. 33 Gysin-Scholer, Krank, S. 15; Sokoll, Old Age, S. 29. 34 Die entsprechende Einschätzung der „unique quality of pauper letters“ von Thomas Sokoll geht wohl zu weit. Vgl. Sokoll, Old Age, S. 127. 35 Bräuer, Bittschriften, S. 295. Bräuer fordert dabei, den einzelnen Armen als Individuum ernst zu nehmen. Ähnlich Rheinheimer, Armut, S. 23/24, der den Armen als „handelndes Subjekt nicht aus der Geschichte ausschließen“ lassen möchte.

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Eine weitere Schwierigkeit in der Arbeit mit Armenbriefen besteht darin, den originären Anteil der Antragsteller oder Supplikanten an der Darstellung herauszufinden.36 So konnten, gerade in Zeiten geringer Alphabetisierung, durchaus mehrere Produzenten, etwa in Form von Beratern oder den eigentlichen Schreibern, an der Entstehung eines Schreibens beteiligt sein.37 Hilfestellungen in der Abfassung sind jedenfalls vielfach erkennbar, beispielsweise wenn ein Antragsteller im Laufe der Korrespondenz oder innerhalb eines Briefes mehrere „voices“ erkennbar werden ließ.38 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass – so Helmut Bräuer – das Schreiben eines Gesuchs eine Auseinandersetzung des Petenten mit der eigenen Lage und soziales Wissen um die erfolgversprechende Adressierung des Schreibens voraussetzt.39 Selbst wenn die Bitte unter Mithilfe anderer verfasst wurde, blieb sie letztlich doch eine individuelle Bitte.40 Um die Aussagen „fremderstellter“ Dokumente über ein Individuum zu erfassen, bedürfen diese allerdings einer größeren Kontextualisierung „kultureller Äußerungen und sozialer Beziehungen“.41 Aber selbst wenn der ‚Produzentenkreis’ identifiziert, oder sichergestellt werden kann, dass die Äußerungen tatsächlich im Wesentlichen auf einen einzelnen Armen zurückgehen, sieht sich der interpretierende Forscher immer noch mit dem Problem konfrontiert, den Wahrheitsgehalt der Aussagen in Bezug auf die geschilderten Umstände zu beurteilen. Im Rahmen eines Antragsverfahrens waren die Anträge sicherlich auf ein „konkretes Ziel“ hin ausgerichtet.42 Peter Blum hat Bezug auf diesen Umstand den Quellenwert von Armengesuchen prinzipiell bestritten, da aufgrund von Übertreibungen in der Darstellung bei allen Beteiligten ein „authentisches Bild der Armenfürsorge (…) anhand der Unterstützungsgesuche nur schwerlich gewonnen werden“ könne.43 Blum vernachlässigt dabei aber die Bedeutung der Sozialkontrolle, die inzwischen in der Forschung als ein maßgebliches Hemmnis gegenüber allzu weitgehenden Falschdarstellungen angesehen wird. So betont Helmut Bräuer, 36 Entsprechende Schwierigkeiten in der Erfassung der „einzelnen Subjekte“ betont auch Sauerteig, Geschlechtskrankheiten, S. 22. 37 Sokoll, Armut, S. 263. Sokoll, Old Age, S. 134 verweist darauf, dass Schreiben hier in einem umfassenderen Sinne als kulturelle Praxis begriffen werden muss. Letztlich kann nach Gysin-Scholer, Krank, S. 23 nur behördlich sichtbare Armut dargestellt werden. 38 Karweick, Tiefgebeugt, S. 18; Sokoll, Writing, S. 104–105. Vgl. dazu Taylor, Voices, der von der weitgehenden Beibehaltung einer „voice“ durch denselben Verfasser ausgeht. 39 Bräuer, Bittschriften, S. 296. 40 Nach Sokoll, Writing, S. 104–105 waren in der Erstellung eines Schreibens durch die mögliche Trennung von verschiedenen Funktionen durchaus mehrere Urheber in einem Brief repräsentiert. Ulbrich, Zeuginnen, S. 212 verweist darauf, dass ein formales Ego-Dokument nicht zwingend ein authentisch konstruiertes Produkt sei, die Initiative des Verfasser zur Abfassung aber dessen wesentliche Beteiligung sicherstelle. 41 Ulbrich, Zeuginnen, S. 216. Ulbrich behandelt das Problem anhand von behördlichen Quellen in Form von Gerichtsprotokollen und Behördenkorrespondenzen. 42 Rheinheimer, Armut, S. 26. 43 Blum, Armenfürsorge, S. 1.

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dass die Darstellung in den Schreiben zwar sicherlich unausgewogen sei, die „negative Datenmenge“ überwiege, die Anwesenheit der umgebenden Bevölkerung aber das Lügenpotential erheblich eingeschränkt habe.44 Zudem war neben der sozialen Kontrolle auch die formale Kontrolle und Prüfung der Antragsinhalte durch die Armenverwaltung ein Faktor, der krasse Falschaussagen wenig zielführend werden ließ.45 Insgesamt führten diese Bedingungen, so die übereinstimmende Einschätzung, dazu, dass in den Armenbriefen zwar ein „Make-up“ der Umstände entsprechend den Zielen der Antragsteller zu erwarten ist, wirkliche Lügen allerdings unwahrscheinlich erscheinen.46 In ihrer Studie zu Armut und Armenfürsorge in den ländlichen Kreisen Bernkastel und Wittlich hat Katrin Marx diese zunächst für die Frühe Neuzeit gültigen Forschungsergebnisse für die Zeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts adaptiert.47 Dabei zeigte sich, dass viele der getroffenen Aussagen auch für diesen Zeitraum gültig bleiben. Die Schreiben sind entlang den Regeln klassischer Rhetorik aufgebaut, schildern die Umstände, die zur Antragstellung führten anfangs gewöhnlich knapp, in fortgesetzter Korrespondenz hingegen ausführlicher.48 Auch die Hilfestellung von Verwandten und Bekannten bei der Abfassung des Briefes war eher die Regel als die Ausnahme.49 Aber auch wenn Verwandte oder Bekannte eigene Erfahrungen in der Antragstellung beisteuerten, die im Nachhinein in den Schreiben kaum mehr identifiziert werden können, bedeutete dies nicht zwingend eine Verschlechterung des Quellenmaterials. Es dürften vielmehr in erster Linie Beschreibungen von Kranksein und Krankheit in den Antrag eingeflossen sein, mit denen die Helfer selbst bereits gute Erfahrungen gemacht hatten. Die Hilfe erfahrener Dritter führte somit tendenziell zu einer Konzentration ‚erfolgreicher’ Beschreibungen in den Anträgen, was im weiteren Verlauf einen detaillierten Blick auf die Vorgehensweise von Antragstellern im Krankheitsfall erlaubt.50 Der Wahrheitsdruck schließlich war in den Angaben der Antragsteller durch formale wie soziale Kontrolle und bedingt durch die Überschaubarkeit und alltägliche Nähe der dörflichen Gesellschaft im ländlichen Raum ebenfalls gegeben51 und wurde auch zeitgenössisch thematisiert.52 44 45 46 47 48 49

Bräuer, Bittschriften, S. 301. Taylor, Voices, S. 129; Sokoll, Armut, S. 262; Sokoll, Old Age, S. 132. Sokoll, Old Age, S. 29; Taylor, Voices, S. 114. Marx, Poor Relief, insbes. S. 107–115. Ebd., S. 110–112. Nur „in den wenigsten Fällen“ darf eine alleinige Urheberschaft des Antragstellers vermutet werden. Ebd., S. 108. 50 Falls erfahrene Antragsschreiber besonders erfolgversprechende Antragsmuster kannten, wären deren Anträge gegebenenfalls sogar besonders erkenntnisversprechend. Angesichts der beschränkten Belegzahl war eine dahingehend aussagekräftige Analyse aber nicht möglich. 51 Zu entsprechenden Beispiele und Bewertungen siehe Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 143–144, 162–164, 405–409. 52 Reitzenstein, Armenpflege, S. 28, 66, dort werden vor allem die „repressiven Momente“ hervorgehoben.

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Ein wesentlicher Unterschied bestand Katrin Marx zufolge in der Schriftlichkeit der Verfasser.53 Der klassische Briefstil war in der Gestaltung der Schreiben vorherrschend, „oral writing“ im Sinne Thomas Sokolls erschien in erster Linie bei Personen, die in der dörflichen Gesellschaft deutlich erkennbar am Rand standen.54 Diese Veränderung war in erster Linie auf die verbreitetere Schulbildung in Folge der im 19. Jahrhundert in Preußen etablierten Schulpflicht zurückzuführen55, die es den meisten Antragsteller erlaubte, ihre Briefe selbst zu schreiben. Die intensivere eigene Schriftlichkeit äußerte sich auch in einem deutlicheren Gespür für die Anforderungen an schriftliche Korrespondenz im Verkehr mit Behörden, so dass man sich in der Formulierung und Gestaltung nach wie vor der Hilfe erfahrener Anderer versicherte.56 Den Wert derartiger Quellen für die Untersuchung von Aushandlungsund Interaktionsprozessen von Armen und Armenverwaltung, wie sie in spezifischer Form im Rahmen dieser Arbeit in den Kapiteln acht und neun unternommen werden, hat Katrin Marx in ihrer eigenen Studie bereits deutlich werden lassen. Aber auch für die stärker patientenhistorisch angelegten Fragestellungen der Kapitel fünf bis sieben dieser Arbeit erweisen sich die Armenbriefe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts meines Erachtens als ergiebig und beachtenswert.57 Die zuvor angestellten Überlegungen konnten zeigen, dass das Quellenproblem des Wahrheitsgehalts der Darstellungen angesichts der engen Sozialkontrolle im hiesigen Kontext zu relativieren ist.58 Eine Rolle spielt darüber hinaus aber der Anteil patientenhistorisch verwertbarer Beschreibungen von Kranksein und Krankheit in den Schreiben. Anders als bei Patientenbriefen oder Autobiographien handelt es sich bei den hier verwendeten Quellen nicht um größere zusammenhängende Texte, sondern um meist nicht mehr als eine oder zwei Seiten umfassende Briefe. Die konkreten Äußerungen und Beschreibungen zum Krankenzustand umfassten in diesem Rahmen meist nur wenige Zeilen und verstreute Einzeläußerungen.59 Zu bedenken ist weiterhin die Kommunikationssituation, in der die Krankheit angesprochen wurde. Hierbei handelte es sich nicht um ein Konsultationsgespräch zwischen Patient und 53 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 148. 54 Marx, Poor Relief, S. 112 spricht hier von „Sonderlingen“. 55 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 148, insbes. Anm. 131. Die Lesekenntnisse sind dabei insofern von Bedeutung, als dass sie eine nachträgliche Kontrolle des Textes auch im Falle von fremden Schreibern zumindest theoretisch mehr als zuvor möglich machten. Zu lokalen Ausprägungen vgl. auch Büsch, Urteil, S. 89–91. 56 Marx, Poor Relief, S. 112–114. Generell spricht aus den Schreiben nach Marx in vielen Fällen eine Vertrautheit der Antragsteller mit den behördlichen Gepflogenheiten des Verfahrens. 57 Christina Vanja hat in ihren Überlegungen zum patientenhistorischen Quellenwert frühneuzeitlicher Supplikationen einige spezifische Problemstellungen im Kontext dieser Forschung skizziert Vanja, Bittschriften. 58 Ebd., S. 30 spricht hier von „bedeutsamen Stichworten“ und „problematischen Geschehnissen“, die betont oder fortgelassen wurden. 59 Ebd., S. 27.

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Arzt, in welchem eine möglichst präzise Beschreibung der konkreten Beschwerden zu erwarten war.60 Diese müssen zwar stattgefunden haben, ihre Dokumentation und deren Einfließen in die Korrespondenz im Umfeld von Unterstützungsanträgen sind jedoch nur selten zu identifizieren.61 Die eigene Krankheit und ihre Darstellung war in den Schreiben der Antragsteller in erster Linie Mittel und nicht Gegenstand des Austauschs.62 Form und Intensität der Beschreibung hingen immer auch von den sprachlichen Fertigkeiten des Urhebers ab. Die Chancen der Armenbriefe liegen hier in erster Linie in ihrem „quasiseriellen“ Charakter, dem Umstand also, dass derartige Gesuche zumeist in größeren Zahlen und über längere Zeiträume hinweg dokumentiert wurden.63 Bei der Auswahl entsprechend umfangreicher Bestände erlaubt es gerade die Kürze der Beschreibungen, wiederkehrende Muster oder Entwicklungen im Zeitverlauf zu identifizieren und so Aussagen über den individuellen Fall hinaus zu treffen. Eine vergleichbare serielle Quelle krankheitsbezogener Äußerungen liegt für andere gesellschaftliche Schichten kaum vor.64 Aber auch der individuelle Fall eines Kranken kann in den Armenakten durchaus erfasst werden. Gerade langwierige Fälle, in denen die Verwalter eine Anerkennung ablehnten oder wiederholte Behandlungen erforderlich waren, hatten unter Umständen eine ausgedehnte und detailreiche Korrespondenz zur Folge65, die vielfach in den Armenakten dokumentiert wurde.66 Derartige Fälle erlauben es, die breite Überblicksperspektive aus der Vielzahl der Anträge und Schreiben durch ergiebige Einzelfalluntersuchungen zu ergänzen und die gewonnenen Ergebnisse besser einzuordnen. Bedingt durch die größere gesellschaftliche Alphabetisierung an der Wende zum 20. Jahrhundert, ist dabei die Chance, tatsächlich auf eigene Äußerungen kranker Armer zu stoßen, weitaus größer als in früheren Epochen. Obwohl angesichts erkennbarer Beratung durch Dritte die Formulierungen der Antragsteller sicher nicht durchgängig als authentisch gewertet werden dürfen, deutet die eigenhändige Niederschrift doch zumindest daraufhin, dass die gewählten Sprachformen die Zustimmung der Antragsteller fanden.67 Die 60 Vgl. Goltz, Krankheit und Sprache, S. 228; Stolberg, Homo patiens. 61 Insofern stellen die Konsultationsgespräche beim Armenarzt eine klassische Variante typischer, aber undokumentierter, Begegnungen von Armen und Armenbehörden dar, wie sie Sokoll benennt. Sokoll, Writing, S. 105–106. 62 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 313. 63 Vgl. hierzu Ebd., S. 37. 64 Vgl. Dinges, Arztpraxen, S. 32, der eine derartige serielle Auswertung auch für andere Patientenbriefe als wertvoll erachtet. 65 Vanja, Bittschriften, S. 29 verweist vergleichbar auf „Beilagen“ zu Supplikationen, die weitere Informationen liefern. 66 Allerdings nicht zwingend in derselben Akte, sondern gerade bei jahresbezogener Aktenführung über mehrere Akten verstreut. Auch dieser Umstand macht eine tendenziell breite Anlage der Quellenbasis notwendig. 67 Nach Sokoll, Armut, S. 229 ist die Sprache in Armenbriefen nicht nur metaphorisch, sondern durchaus als konkretes Sprechen zu verstehen.

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eigene Schriftkompetenz verlieh den Antragstellern auch eine größere Kontrollgewalt über ihren Antrag, als etwa für die Frühe Neuzeit erkennbar.68 Eine weitere Nutzungsmöglichkeit der Armenakten ist schließlich ihre Verwendung im Rahmen eines „record linkage“69, einer systematischen Verknüpfung mit anderen patientenhistorisch relevanten Quellenbeständen, wie etwa Geburtsregistern, Insassenlisten von Krankenanstalten, Abrechnungen von Ärzten und Apotheken etc. Im Idealfall ermöglichte es eine solche Verknüpfung, die Bedeutung von Krankheit und ihrer Bewältigung in einem ganzen Lebenslauf zu erkunden.70

68 Ebd., S. 227; Vanja, Bittschriften, S. 28. 69 Zu Konzept und Anwendungsbereichen in der Armutsforschung vgl. Gestrich u.a., Introduction, insbes. S. 27–35. 70 Vgl. Vanja, Bittschriften, S. 30–31. Ein solch umfassender Ansatz war in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht zu realisieren. Zum „Life-Cycle-Approach“ in der Armutsforschung vgl. Gestrich u.a., Introduction, S. 25–33, in konkreter Anwendung in der deutschen gegenwartsbezogenen Armutsforschung Leibfried, Lebensläufe; in modifizierter historischer Anwendung auf Arme Gordon/Gründler, Migration. Weitere Beiträge dazu in Gestrich u.a., Being poor und Hitchcock u.a., Chronicling.

Kapitel 5: Kranksein und Krankheit 5.1. Beschreibungen und Konzepte Beschreiben von Kranksein und Krankheit Bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit wurde darauf hingewiesen, dass der Begriff der „Krankheit“ verschiedene Dimensionen besitzt, von denen an dieser Stelle vor allem diejenige der begrifflichen Differenzierung zwischen einem persönlichen Unwohlseinsempfinden und dem medizinischen Fachbegriff für eine spezifische Erkrankung von Interesse ist. In Anlehnung an die englische sprachliche Differenzierung dieser Aspekte bezieht sich im Folgenden der Begriff des „Krankseins“ („Illness“) auf das in seiner Ursache (noch) unbestimmte persönliche Unwohlseinsempfinden der Betroffenen, während der Begriff der „Krankheit“ („Disease“) auf die spezifische Bezeichnung dieses Unwohlseins und seiner Ursache abzielt. Grundsätzlich vorsichtig zu beurteilen ist die Erkenntnisreichweite von Quellen, in denen Betroffene über ihren Zustand berichten. Vor allem Vertreter der Körpergeschichte haben in ihren theoretischen Überlegungen deutlich hervorgehoben, dass unter dem Einfluss des „linguistic turn“ auch die Wahrnehmung von Krankheiten und die sprachliche Form des Berichts über dieselbe differenziert betrachtet werden müssen. Für eine tatsächliche Analyse der individuellen Empfindung von Kranksein und Krankheit durch kranke Arme waren die hier genutzten Quellen zweifelsohne in Zahl und Qualität zu wenig aussagekräftig (s. u.). Die Untersuchung in diesem Kapitel ist daher in allererster Linie auf den Bericht über die Erkrankung und eine genauere Betrachtung der verwendeten Beschreibungsmittel ausgerichtet, ein – sehr spe-



  

Vgl. Fitzpatrick, Concepts, S. 13. „Kranksein“ nimmt dabei durchaus bewusst Bezug auf den Infinitiv des Hilfsverbums „sein“, das im allgemeinen Sprachgebrauch wohl am häufigsten in Formulierungen wie „Ich bin krank“ verwendet wird, um den bezeichneten unbestimmten Zustand zu umschreiben. Im Gegensatz dazu zielt eine Formulierung wie „Ich habe (die Krankheit) Krebs“ viel deutlicher auf eine spezifische Benennung der Erkrankung ab. Vgl. dazu den Überblick bei Stolberg, Homo patiens, S. 12–21, insbes. S. 20 und Sarasin, Mapping. Kritisch ist daher auch der ähnlich angelegte Versuch von Gysin-Scholer, Krank, S. 275– 279 zu sehen, „psychische Auswirkungen“ von Armut anhand von Armenakten festmachen zu wollen. Eine bemerkenswerte sprachliche Untersuchung von Krankheitsbeschreibungen durch Betroffene hat Goltz, Krankheit und Sprache unternommen. Sie zeigt dabei überraschende Parallelen der typischen Formen der Beschreibung von Krankheit auch über sprachliche und historische Distanzen hinweg. Die in erster Linie sprachwissenschaftliche Untersuchung vergleicht zeitgenössische Schilderungen in deutscher Sprache mit Krankengeschichten in babylonischer und griechischer Sprache.

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kulativ bleibender – Versuch, die dahinterliegende Wahrnehmung der Betroffenen zu ergründen, wird nur an einigen wenigen Stellen gewagt. Die Grundlagen dieses Untersuchungsteils – Schreiben der Betroffenen, in denen sie um ärztliche Behandlung, Kostenübernahmen etc. baten – wurden zuvor bereits eingehend vorgestellt, ebenso wesentliche Quellenprobleme wie Reichweite und Umfang der krankheitsbezogenen Darstellungen. Trotz der dort formulierten Einschränkungen war es die Absicht dieser Untersuchung, in den Quellen den eigenen Beschreibungen der Betroffenen möglichst nahe zu kommen. Die quantitative und qualitative Vielfalt der gesamten Quellen war insofern in mehrfacher Hinsicht zu selektieren. So war die recht häufig praktizierte Form der Niederschrift eines mündlichen Antrags kaum als Beleg nutzbar, da sich im Nachhinein meist nicht mehr rekonstruieren ließ, inwiefern dieselben tatsächlich eine wörtliche Wiedergabe der gestellten Anträge liefern. Hilfreich für eine Auswahl war auch der Vergleich von Formalia, wie der Identität von Textschrift und Unterschrift, oder – in seltenen Fällen – die Ähnlichkeit von einzelnen Formulierungen. Im Ganzen ließen sich aus diesen Überlegungen heraus an etwa 36 Stellen verwertbare Aussagen über die Erkrankung der Betroffenen identifizieren. Aus der Analyse dieser Äußerungen nach der Art der Darstellung von Kranksein und Krankheit lassen sich diese in drei Gruppen einteilen: Die erste Gruppe, welche sieben der 36 Belegstellen umfasst, ist dadurch gekennzeichnet, dass der jeweilige Zustand der kranken Person im Antrag in einer „diffusen Kennzeichnung“ nur sehr allgemein als „krank“, „kränklich“ oder ähnlich charakterisiert wurde, ohne diese Angabe zu präzisieren. So schrieb die Witwe Susanne P. als Begründung für ihren Antrag auf Armenunterstützung lediglich „denn ich bin krank und kann nicht arbeiten. Und ich habe eine Tochter die ist auch krank und meine zwei Jungen gehen in die Schule.“ 10 Auch Jakob G. aus Bergweiler bezeichnete sich in seinem Antragsschreiben nur als „armer, kränklicher Jakob G.“.11 Simon M. verwies in einer 

Ähnliche Bedenken formuliert auch Susanne Hoffmann, die sich methodisch auf eine quantitative Auswertung der von Bräker gebrauchten Begriffe konzentriert. Hoffmann, Bräker, S. 25–43. Dabei legt sie allerdings in der Erfassung eine breite Auffassung von Krankheit und Gesundheit zugrunde. Hoffmann, Bräker, S. 26, dazu auch Labisch, Homo, S. 17.  Vgl. die Ausführungen zum Quellenwert in der Einleitung zu Teil III.  Die interpretativen Schwierigkeiten sind denen von Verhörprotokollen oder Strafprozessakten vergleichbar, vgl. Stolberg, Homo patiens. Die Wahrnehmung liegt auch in der Natur der Akten als Gegenstände des Verwaltungsvollzugs begründet, die nicht zur wissenschaftlichen Dokumentation, sondern vor allem von der Wahrnehmung des jeweiligen Bearbeiters geprägt sind. Vgl. Buchholz, Überlieferungsbildung, S. 181–182.  Marx, Narratives, S. 108–109.  Bräuer, Bittschriften, S. 300. 10 LHAK Best. 491 Nr. 279, Schreiben der Witwe Susanne P. an den Landrat zu Simmern vom 08. August 1904. 11 KAB-W 2.0.541, Schreiben des Jakob G. vom 03. Juni 1901; ähnlich auch Ebd., Schreiben des Mathias Huberti vom 23. Mai 1904 sowie KAB-W 2.0.343, Schreiben der Toch-

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Beschwerde über den Entzug einer bisher gewährten Unterstützung auch ohne nähere Angaben allein darauf, dass diese ihm „krankheitshalber“ bewilligt worden sei.12 Mit 19 Belegstellen gut dreimal so groß wie die erste Gruppe ist die Gruppe derjenigen Äußerungen, in der die allgemeine Angabe „krank“ in irgendeiner Form erweitert und präzisiert wurde. Sehr einfach fiel dies aus, wenn die Antragsteller lediglich attributiv die „Schwere“ ihrer Erkrankung betonten13, wie etwa im Falle der Ehefrau des Ulrich C.: Ich stelle hiermit den Antrag auf Gewährung einer einmaligen Unterstützung und führe zur Begründung meines Antrages folgendes an: Durch eine schwere Erkrankung musste meine Frau sich einer Operation unterziehen. Es sind mir dadurch wie aus beigefügten Rechnungen zu ersehen ist ganz erhebliche Kosten entstanden.14

Gerlinde K. nannte ebenfalls ihre „schwere Krankheit“, ergänzte diese Angabe aber zudem dadurch, dass die darauf verwies „die halbe Zeit ans Bett gefesselt“ zu sein.15 Damit verwendete sie ein zweites Element der Verstärkung in der Darstellung der eigenen Krankheit, den Verweis auf die Dauer des Leidens. Derartige Zeitangaben konnten sehr verschieden ausfallen. Gerlinde K. bietet ein Beispiel für eher pauschale Angaben.16 In anderen Fällen machten die Betroffenen genauere Angaben über die Dauer ihrer Erkrankungen. So schrieb Frau Otilie P., dass ihr Mann „schon bereits fier [sic] Wochen krank“

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ter Martin Zeuners vom 04. Dezember 1913: „Der Vater wird im Monat Februar 72 Jahre alt dann ist das arbeiten [sic] vorüber, indem er krank und gebrechlich ist.“ LHAK Best. 403 Nr. 7437, Schreiben des Simon M. vom 02. Januar 1893. Bei Lachmund/Stollberg, Patientenwelten, S. 70 erscheint ähnlich die „Schwere der Erkrankung“ als Kriterium für die Konsultation eines Arztes. LHAK Best. 655,191 Nr. 409, Unterstützungsgesuch des Ulrich C. vom 29. Mai 1929. Vergleichbar auch LHAK Best. 491 Nr. 319, Schreiben des Friedhelm J. vom 04. Juli 1912, in dem er als Anliegen vorträgt „meinen sehr Noth gedrungen schweren Krankheitsfall worüber ich mir erlaube das ärztliche Zeugnis des Herrn Dr. Dietzler, Castellaun bei zu legen, woraus Sie ersehen, daß meine schwere Krankheit nur durch eine Operation in Bonn geholfen werden kann; da ich so nicht leben kann.“ Unterstreichungen des Verf. LHAK Best. 655, 191 Nr. 405, Schreiben der Gerlinde K. vom 21. Januar 1927. In einem weiteren Schreiben verwies sie etwa auf ihre „ständige Krankheit“. Ebd, Schreiben der Gerlinde K. vom 20. März 1928. Ähnlich auch KAB-W 2.0.343, Schreiben der Witwe Kasimir M. vom 11. Mai 191: „Die Ehefrau Wittwe Kasimir M. aus Wittlich bitt die Armen Verwaltung um ein parr schuh, ich habe keine schuh und kann mihr auch keine kaufen. Ich bin jetzt schon lange zeit krank und möchte die Herrn bitten um ein parr schuh.“ oder LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Schreiben des Adam B. vom 30. August 1910: „Euer Wohlgeboren erlaube ich mir nachstehende Bitte zur gütigen weiteren Veranlassung zu unterbreiten. Meine Familie besteht gegenwärtig noch aus 8 Personen. Ich bin schon längere Jahre wegen Krankheit und mehrfachen Unfällen fast ganz arbeitsunfähig. Außerdem bin ich durch Krankheiten und Todesfälle in meiner Familie schwer heimgesucht worden.“ Unterstreichungen des Verf.

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sei, Anna M. war nach eigener Angabe „schon seit Juli vorigen Jahres krank“.17 Die Witwe von Herbert J. stellte einen Antrag explizit per Brief „weil ich nicht selbst zu Ihnen kommen kann, den ich bin seit mitte Dezember Bettlägerisch krank, vor 6 Wochen glaubte ich es währe auf Besserung, da habe ich mich doch getäuscht den ich liege jetzt wieder 3 Wochen stets im Bett“.18 Francisca Loetz hat für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert darauf hingewiesen, dass „Befindlichkeitsstörungen, die sich bis über einen Zeitraum von ungefähr einer Woche erstreckten“ zeitgenössisch eher als „Kränkeln“ denn als ernsthafte Erkrankung betrachtet wurden.19 Diese Einschätzung wird hier bestätigt, da es sich bei Fällen, in denen die Betroffenen kurzfristig binnen weniger Tage Hilfe beanspruchten, in den meisten Fällen um akute und in ihrem Hilfsbedarf evidente Beeinträchtigungen, wie beispielsweise einen Unfall handelte.20 Offen bleibt bei Loetz, „inwiefern jedoch Menschen, die an langwierigen medizinischen Komplikationen, an chronischen Krankheiten oder an Altersbeschwerden litten, den Status von Kranken eingeräumt bekamen.“21 In den hier untersuchten Quellen konnte gerade der Verweis auf die sehr lange Dauer der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit von den Betroffenen vielfach erfolgreich als Unterstützungsgrund angeführt werden.22 Dies legt den Schluss nahe, dass hier auch die von Loetz angeführten Fälle als Krankheiten weitgehend anerkannt wurden.23 Im ersten Schreiben der Witwe von Herbert J. wird mit der Bettlägerigkeit (s. o.) zudem ein weiteres Motiv sichtbar, das im Rahmen der Krankheitsschilderungen wiederholt auftauchte.24 Dass die krankheitsbedingte Bewegungsun17 LHAK Best. 491 Nr. 279, Schreiben der Frau Otilie P. vom 17. Februar 1904; LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Schreiben der Anna M. vom 13. Januar 1914. 18 KAB-W 2.0.541, Schreiben der Witwe Herbert J. vom 04. Mai 1905. 19 Loetz, Patienten, S. 127. 20 Etwa Unfall der Ehefrau Lukas P. am 02. Dezember 1913 mit Klärung der Krankenhausfinanzierung und Aufnahme am Folgetag: KAB-W 2.0.343, Schreiben des Kreisarztes vom 04. Dezember 1913. KAB-W 2.0.541, Schreiben des Balduin J. vom 20. August 1904: „Am 27. Januar 1904 wurde mir ein Kind männlichen Geschlechtes geboren, welches zwei Clumpfüße mit auf die Welt brachte. Ich sah mich genötigt, sofort ärztliche Hülfe in anspruch zu nehmen, welches mich schon ungefähr 400 Mark kostet.“ Unterstreichung des Verf. LHAK Best. 491 Nr. 319, Schreiben der Witwe Wilhelm A. vom 17.08.1893: „Ich bin genötigt die Feder zu ergreifen mich zu Ihnen zuwenden, da ich jetzt schon 2 Tage im Bett lag. und habe schon über eine Woche einen Wehen Fuß. so daß ich mir keinen pf verdienen kann und auch nichts habe vür meine Kinder.“ 21 Loetz, Patienten, S. 127. 22 Allerdings ist einschränkend zu sagen, dass eine tatsächliche statistische Auszählung dieser Fälle aufgrund der Disparität des Quellenmaterials nicht möglich war. Die Quellensituation machte es leider ebenfalls unmöglich, innerhalb des hier untersuchten Zeitraumes innere Differenzierungen und Entwicklungen in der Anerkennung von Krankheiten gesichert zu unterscheiden. 23 Eine breite Interpretation von Krankheit über bloße Akutkrankheiten und Arbeitsunfähigkeit hinaus konstatierte für die Frühe Neuzeit auch Kinzelbach, Gesundbleiben, S. 317. 24 LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Schreiben der Ehefrau Hermann B. vom 20. Juli 1931: „bettlägerig krank und bei Dr. Angen in Behandlung.“; Ebd., Nr. 1040, Schreiben des

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fähigkeit tatsächlich immer noch als kennzeichnendes Merkmal von Krankheit wahrgenommen wurde25, verdeutlicht expressis verbis das Schreiben des Franz J. aus Zeltingen vom Mai 1911, in welchem dieser die Bettlägerigkeit als wichtigstes Kennzeichen seines Krankheitszustandes benannte.26 Die umfangreichsten Ergänzungen erfuhr die Selbstkategorisierung als „krank“ durch detaillierte Beschreibungen von Symptomen oder konkreten körperlichen Folgen der Erkrankung. Das Maß der Detailgenauigkeit war dabei wiederum sehr variabel. Katja P. etwa verwies nur benennend auf ihr erkranktes Ohr und ihre Flechtenerkrankung.27 Martin F. beschrieb die Auswirkungen der Krankheit auf seine körperliche Leistungsfähigkeit schon eingehender: Ich bin am 23ten Dezember 1823 geboren, gehe also in das siebenzigste Lebensjahr. Zu diesem hohen Alter kommt aber noch ein körperliches Leiden welches mich an der Arbeit sehr hindert und mir jeden Erwerb, fast unmöglich macht, nähmlich eine solche Schwäche in den Füßen, daß ich mich nur mit Mühe langsam vorwerts bewegen kann. Außerdem leide ich seit Jahren sehr stark an Flechten, welche mir unerträgliche Schmerzen verursachen und und [sic] mich sehr schwächen.28

Noch intensiver und detailreicher fiel die Krankheitsschilderung bei Johanna C. aus: [Sie verweist auf die zu geringe gezahlte Unterstützung] „weil ich mit dem einen Auge Ganz blind und mit dem anderen Auge nur wenig mehr sehen kann und einen lahmen Fuß was 18 Jahre mit fünf Löcher seinen Ausfluß hatte daß sich (…) auch der ganze Fuß in sich auszehret und ich an großen Schmerzen [unleserlich: leide mit?] Herz und Magenleiden und der ganze Laib mit Gicht durchzochen am schlimsten im Kopfe so daß ich meiner Gedanken [unleserlich: ganz?] beraubt bin daß es so sehr zu beglachen ist als junger Mensch von 40 Jahre alt in solchen Zuständen sein muß.“29 Die genannten Verweise auf die krankheitsbedingte Bettlägerigkeit und die detailreichen Schilderungen der körperlichen Folgen ihrer Erkrankungen zeigen, dass Arbeitsunfähigkeit und das Verständnis von Kranksein in der Per-

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Klaus W. vom 06. Februar 1914: „Hierdurch teile ich mit, daß ich seit einigen Monaten krank darniederliege.“ Bettlägerigkeit war bereits in der Frühen Neuzeit ein zentrales Kennzeichen von Krankheit. Vgl. Jütte, Ärzte, Heiler, S. 163–165. Ebd., Nr. 1040, Schreiben des Franz J. vom 25. Mai 1911: „Ich erlaube mir um eine Unterstützung von monatlich 20 Mk zu bitten. Ich bin sozusagen bettlägerig krank (…).“ Die Unterstreichungen sind in der Quelle vorhanden, lassen sich aber nicht eindeutig dem Verfasser zuordnen. Allerdings würde eine nachträgliche Unterstreichung durch Angehörige der adressierten Gemeindeverwaltung dafür sprechen, dass die Bettlägerigkeit auch von dieser Seite als zentrales Krankheitsmerkmal Bedeutung in der Entscheidung über den Antrag hatte. LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben vom 27. Oktober 1899: „ich habe immer noch Herrn Docktor und Apotheke nötig ich war schon verschieden mal in Bückenbeuren bei dem Herrn Docktor wegen meinem Ohr und wegen den Flechten muß ich alles was ich nötig habe in der Apotheke haben“. LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben des Martin F., Mai 1892. LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben der Johanna C. vom 10. Februar 1893.

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spektive der Betroffenen eng miteinander verbunden waren.30 Explizit erschien dieser Konnex etwa im Unterstützungsgesuch der Ehefrau Barnabas M.: denn ich bin jetzt 15 Jahre kränklich und 9 Jahre ganz Arbeitsunfähig wenn ich in den 9 Jahren 10–15 Schritte gegangen bin, bin ich unter den Krücken zusammen gefallen und mußte ins Bett getragen werden so schwach sind meine Glieder und jetzt liege ich schon beinahe wieder 7 Monate auf dem Bette ich habe die Krankheit durch Schrecken bekommen, als mein Vater selig vom Blitz erschlagen wurde (…) Mein Mann ist jetzt auch schon 3 Jahre mit Gichtleiden schwer geplagt er ist noch zwei Jahre auf die Arbeit gegangen doch er kaum mehr Arbeiten konnte.31

Das Gesuch zeigt zugleich die über den gesamten Untersuchungszeitraum gültige Nähe von Alter und Krankheit, sichtbar etwa in der Kategorie der „Altersschwäche“ als Armutsursache in der Armenstatistik von 1885.32 Auf den ersten Blick mögen die hier gezeigten Darstellungsformen des eigenen Krankseins in den Unterstützungsgesuchen das Klischee der duldsamen und hart gegen sich selbst eingestellten Landbewohner befördern, da diese offenbar erst dann um Hilfe nachsuchten, wenn die eigene Arbeitsfähigkeit massiv bedroht war.33 Eine solche Interpretation ließe aber den Entstehungskontext der Quellen unberücksichtigt. Die Unfähigkeit, sich kraft eigener Arbeit die lebensnotwendigen Mittel zu verschaffen war im Rahmen des Antragsverfahrens auf Armenunterstützung eine der wichtigsten Prüfbedingungen für die Gewähr von Leistungen der Armenfürsorge.34 Die Fokussierung der Krankheitsbeschreibung auf diesen Moment hin war in diesem Sinne system­ immanente Notwendigkeit für die Betroffenen. In denjenigen Fällen, in denen diese ihren Zustand lediglich unspezifisch als „krank“ bezeichneten, scheint auch eine Rolle gespielt zu haben, dass angesichts der größeren sozialen Nähe

30 Diese Zuordnung galt auch schon für frühere Jahrhundert: Hoffmann, Bräker, S. 23; Jütte, Ärzte, Heiler, S. 163; Loetz, Patienten, S. 125. 31 KAB-W 2.0.541, Schreiben der Ehefrau Barnabas M. vom 25. Januar 1906. Vergleichbar auch das Schreiben der Nina M. aus Horn im Kapitel 9.4.1. 32 Statistisches Reichsamt, Armenstatistik 1885, S. 40, Tab. 9. Zur Entwicklung der indifferenten Diagnose „Altersschwäche“ bis ins 20. Jhdt. vgl. Conrad, Alte Menschen. „Arbeitsunfähigkeit“ steht auch in Armutsstatistiken der 1990er Jahre mit Krankheit, Behinderung oder Familienmitgliedern in stationärer Behandlung in Verbindung – ebenso wie mit Alkoholsucht. Vgl. Buchholz, Überlieferungsbildung. Zur Tradition derartiger Kategorien auch Dewitz-Krebs, Beiträge. 33 Vgl. Reitzenstein, Armenpflege, S. 59: „Beschäftigung und Lebensart der ländlichen Bevölkerung bringen es mit sich, daß sie im Allgemeinen genügsamer, ausdauernder, gegen zeitweisen Mangel widerstandsfähiger als die städtische ist; sie ist härter gegen sich und andere, es hängt hiermit zusammen, dass sie sich weniger leicht dazu entschließt, Ansprüche an die Armenpflege zu erheben“. Eine solche Wahrnehmung klingt auch in der neueren Forschung stellenweise immer noch an, etwa bei Patricia Stokes, die in Bezug auf die Bereitschaft zur Vergabe von Schmerzmitteln an schwangere Frauen dem offeneren städtischen, tendenziell politisch links stehenden Arzt den zurückhaltenden, konservativen Landarzt gegenüberstellt. Stokes, Purchasing, S. 64–65. 34 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 87–89.

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im dörflichen Umfeld der konkrete Zustand der Antragsteller den Adressaten auch ohne eingehende Schilderung bekannt war.35 Naheliegend scheint, dass Krankheit, der Verlust von Arbeitskraft und daraus folgend materielle Not für die Betroffenen mit extremen Ängsten einherging.36 In engem Zusammenhang mit Krankheit erscheint die Not der Verfasserin etwa bei Gerlinde K.: Elend und Not sind bei uns eingekehrt, Schulden drücken uns in erschreckender Weise seit man unseren einzigen Ernährer seine Arbeit und unser Brot genommen hat. (…) von Seiten der Erwerbslosenfürsorge hat man ihm eine Unterstützung von 10 Mark in der Woche bewilligt. Damit soll eine Familie von drei Personen (…) und sonst noch sämtliche Anforderungen, die das Leben stellt, bestreiten. Und dann bin ich auch noch durch eine schwere Krankheit nochmal die halbe Zeit ans Bett gefesselt und bin dauernd in ärztlicher Behandlung, was auch mit schweren Unkosten verbunden ist. Das kann sich wohl ein jeder denken, was das heisst mit zehn Mark eine volle Woche leben.“37

In einem anderen Fall litt Gerhard N., den erhaltenen Aussagen in den Quellen zufolge, an einem extrem verunstaltenden Ausschlag im Gesicht. Seine Geschwister beantragten daher seine Unterbringung in einer Pflegeanstalt auf Kosten der Gemeinde.38 Obwohl der Bürgermeister in einem Schreiben dem Gerhard N. selbst konstatierte, dass „dessen Gesicht in abstoßender Weise vollständig mit Ausschlag bedeckt und daher das Zusammenleben mit ihm wenig angenehm sei“, hatte der Gemeinderat die Situation dahingehend gedeutet, dass „es den Anschein habe, daß die Geschwister sich nur auf bequeme Weise des Bruders Gerhard entledigen wollten“.39 Der Landrat bat in der Folge den Kreisarzt um eine Beurteilung. Dieser war in seiner medizinischen und sozialen Einschätzung der Situation eindeutig: Zurückgereicht mit dem ergebenen Erwidern, dass infolge des Gesichtsausschlags das Antlitz (…) so entstellt ist, dass er nirgends Arbeit findet. Zudem verbreiten die eitrigen Absonderungen der Geschwüre einen derartigen Geruch, das [sic] es den Brüdern des Gerhard N. nicht verargt werden kann, ihren Bruder in eine geeignete Pflegeanstalt zu bringen. Der Ausschlag ist auch ansteckend.40

35 Darauf verweist etwa Adam B. in seinem Schreiben vom 30. August 1910: „Ich bin schon längere Jahre wegen Krankheit und mehrfachen Unfällen fast ganz arbeitsunfähig. (…) Dies dürfte allen Ortsbewohnern bekannt sein.“ LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Schreiben des Adam B. vom 30. August 1910. 36 Gysin-Scholer, Krank, S. 275–279. 37 LHAK Best. 655,191 Nr. 405, Schreiben vom 21. Januar 1927. Dieselbe im Jahr darauf: „Womit soll ich nun meinen Lebensunterhalt fristen und womit soll ich die Unkosten bestreiten, die mir durch meine ständige Krankheit entstehen. Fräulein Braun vom dortigen Wohlfahrtsverband kennt ja auch meine Lage und Dr. Freu aus Speicher wird auch jederzeit meine Angaben bestätigen.“ Ebd., Schreiben vom 20. März 1928. Ähnlich auch Sebastian P. in LHAK Best. 491 Nr. 279, Schreiben vom 03. Mai 1903. 38 KAB-W 2.0.541, Schreiben des Jakob N. vom 07. November 1904. 39 Ebd., Schreiben des Bürgermeisters vom 14. November 1904. 40 Ebd., Schreiben des Kreisarztes vom 25. November 1904. Auch der Kreisarzt dokumentierte die zentrale Bedeutung der Arbeitsfähigkeit, indem er in der Reihenfolge seiner Argumente die Arbeitsunfähigkeit des Kranken an erste Stelle setzte.

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Die emotionale Belastung, die diese Situation für alle Beteiligten bedeuten musste, ist angesichts dieser Schilderung zumindest zu ahnen. Dennoch wurden, im Ganzen gesehen, psychische Belastungen von Seiten der Betroffenen praktisch nie bewusst geschildert und nur in Einzelfällen sichtbar. Bezugspunkt der Krankheitsbeschreibungen in Unterstützungsanträgen war fast ausschließlich die körperliche Gesundheit. Dass sich Arme zwar vermutlich sehr wohl Gedanken im Hinblick auf seelische und emotionale Belastungen machten41, diese aber nicht in den hier untersuchten Briefen artikulierten, zeigt die Begrenztheit der Quellengattung für die tatsächliche Wahrnehmung von Kranksein und Krankheit. Nur ausnahmsweise kam auch die Erfahrung von Schmerzen zur Sprache, wie das bereits erwähnte Schreiben Johanna C.s aus Kirchberg (s.o.), bei dessen Lektüre man aber nachspüren kann42, dass „Schmerzen und gesundheitliche Störungen (…) für den Betroffenen immer schwer auszudrücken“ sind.43 Noch eindrücklicher schilderte die zuvor genannte Ehefrau von Barnabas M. ihren Krankheitsschmerz in ihrem Schreiben an den Landrat im Januar 1906: Ich habe jetzt schon 9 Jahre so furchtbare Weinkrämpfe bekommen, die mir alle meine Glieder und [1 Wort unleserlich] zusammen ziehen, das ich die Schmerzen kaum mehr aushalten kann. (…) so hat auch der Docktor Herr Kochstift zu mir gesagt und mein Mann leidet auch die meiste Zeit an schwerem Herzleiden und furchtbaren Schmerzen in allen Gliedern.44

Abgesehen von diesen Fällen erschienen die konkret erlebten Schmerzen einer Erkrankung in den Schreiben an die amtlichen Stellen so gut wie nie. Die konkrete Darstellung von Schmerz war offenbar nach der Wahrnehmung der Betroffenen der Absicht ihres Schreibens nicht angemessen. Die bisher untersuchten ersten beiden Gruppen von Quellenaussagen zu Krankheitsbeschreibungen in den Armenbriefen beschrieben im Sinne einer Unterscheidung von Kranksein und Krankheit sicherlich den ersten Zustand. Demgegenüber wird die dritte Gruppe der hier untersuchten persönlichen Krankheitsschilderungen von denjenigen Stellen gebildet, an denen die Verfasser ihre Krankheiten mit konkreten Bezeichnungen benannten.45 Auffällig ist bei dieser Gruppe die zeitliche Verteilung der Belege. Von insgesamt zehn Belegstellen für konkrete Krankheitsbenennungen stammen sieben aus den

41 Hoffmann, Bräker, S. 15–19 kann im Falle Ulrich Bräkers deutlich „Körper, Seele und Gemüt“ als Bezugspunkte der eigenen Beschreibungen bestimmen. 42 Zu den Schwierigkeiten Schmerzen historisch zu erfassen vgl. Jütte, Ärzte, Heiler, S. 34– 40. 43 Herzlich/Pierret, Kranke, S. 9. LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben der Johanna C. vom 10. Februar 1893. Zitiert ist das Schreiben auf S. 235. 44 KAB-W 2.0.541, Schreiben der Ehefrau Barnabas M. vom 16. Oktober 1905. 45 Hier ist in erster Linie eine eindeutige Bezeichnung für die Krankheit gemeint. Diese musste nicht notwendigerweise einem medizinischen Fachterminus entsprechen. Eine Aufstellung lokaler Krankheitsbeschreibungen für das 16.–18. Jahrhundert ist zu finden in Többen, Gesundheitsverhältnisse.

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Jahren ab 1924. Lediglich in drei Schreiben erscheinen bereits vorher Elemente spezifischer Krankheitsbenennungen. 1903 schrieb Kathrine M. in ihrem Antrag auf Armenunterstützung: Als ich bereits 6 Jahre alt war und die Schule besuchen mußte: zeigte sich an meiner rechten Schulter; ein Düswuchs daß sich diese Schulter; gegen die linke was höher zeigte. Meine Eltern, suchten dieses: durch ärztliche Behandlung zu vertreiben; was aber leider nutzlos blieb: indem dieser Düswuchs sich immer mehr verschlimmerte. Nach langem ärztlichen Behandlung der Schuljahren, hat dieser Düswuchs seit meinen Schuljahren sich verschlimmert; daß nach Entlassung meiner Schuljahren ich ganz Arbeits-unfähig war. Ich bin jetzt bereits 27 Jahre alt, kann aber gar nicht arbeiten, sondern muß dabei die meißte Zeit, das Bett hüten.46

Die Schreibweise des Begriffs „Dyswuchs“ als „Düswuchs“ legt nahe, dass sie sich bei der Abfassung ihres Antrags auf die vom Arzt genannte Krankheitsbezeichnung bezog.47 Erkennbar sind hier außerdem die erwähnten Elemente der Krankheitsbeschreibung („daß sich diese Schulter; gegen die linke was höher zeigte“), der Dauer der Erkrankung („seit meinen Schuljahren“) sowie der Bettlägerigkeit und Arbeitsunfähigkeit („kann aber gar nicht arbeiten, sondern muß dabei die meißte Zeit, das Bett hüten“). Ähnlich gelagert war auch die Beschreibung der Krankheit seiner Frau durch Sebastian P. im Jahr 1903. Ich kann jetzt nicht mehr leben ich und meine Frau wir trinken schon seit die Feiertache Eichel Kaffe und trockenes Brod und meine Frau ist schon ein viertel Jahr krank und haben auch keines keine [sic] Schuhe. Meine Frau hat Lungenentzündung und Rieben [interlineare Einfügung: Fell] enzüntung wo wir den Docktor Kaisser in Gemünden gebraucht haben, und bei einer solchen Kost kaum wann gesund werden. (…) erneren kann ich mich nicht weil ich keine Beine dazu habe, ich war wie ich ein Kind war da war ich 3 mal ½ Jahr krank da hab ich an den Kricken [folgen zwei Worte unleserlich], da war ich schon so Gicht verzochen daß alle Leue geglaubt haben ich würde nicht lernen gehen, und jetzt sachen der Herr Vorsteher und etliche Leute ich könnte mich ernehren aber ich weiß nicht wie ich mich ernehren soll, wenn man solche Beine hat wie ich48

Auch hier war die Krankheitsbezeichnung der „Riebenfellenzüntung“ (Rippenfellentzündung) vermutlich der Arztkonsultation entnommen und wurde zusätzlich durch Beschreibungen von Dauer und Schwere der eigenen Gichterkrankung ergänzt. Noch näher an einer reinen Angabe von Krankheitsbezeichnungen war schließlich Claus P., der in seinem Unterstützungsantrag 1906 aufzählte:

46 LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben der Kathrine M. vom 07. Oktober 1903. 47 Deren Niederschrift in einer lautsprachlichen Form zeigt die für Rhetoriken von Armenbriefen kennzeichnende Vermischung von schriftlicher und mündlicher Sprache. Vgl. Sokoll, Writing, S. 104. Die Unkenntnis der medizinischen Sprache des 20. Jahrhunderts ist in ihrer Ausprägung als phonetische Schrift durchaus der mangelnden Schriftsprachenkenntnis von Armen in der Frühen Neuzeit vergleichbar. Vgl. Sokoll, Armut, S. 233. 48 LHAK Best. 491 Nr. 279, Schreiben des Sebastian P. vom 03. Mai 1903.

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung Ich leide an Innerer Erkrankung Leber, Magen, Lungenleiden, Herzschwäche verbunden mit Blutarmut und Nervenschwäche. Ich habe keine einzige Hilfsquelle von einer Versicherung oder Krankenkasse, sondern bin auf mich selbst angewiesen.49

Die ärztlicher Praxis entsprechende Klassifikation seiner Leiden als „innere Erkrankung“ deutet wie die zuvor genannten Beispiele auf eine allmähliche Veränderung in der Darstellung von Krankheitserfahrungen hin, die sich weg von einer subjektiven Beschreibung des eigenen Krankseins hin zu einer objektivierenden reinen Benennung der konkreten Erkrankung entwickelte. Seit den 1920er Jahren scheint die Beschreibung der eigenen Erkrankung mittels präziser Bezeichnungen verbreitet gewesen zu sein. Georg Hommes aus Zeltingen bezeichnete seine Erkrankung 1924 als „beiderseitigen Ischias“ und Dieter F. verwies 1928 auf das „Geschwür der Gebärmutter“, an dem seine Frau erkrankt war.50 Zwar handelte es sich auch bei diesen Benennungen nicht um medizinische Fachbegriffe, doch ist der erwähnte Wechsel von der beschreibenden zur benennenden Darstellung der Erkrankung deutlich erkennbar.51 Eindeutig dem medizinischen Fachvokabular einer „iatrogenen Sprache“ entstammten schließlich die Bezeichnungen der Krankheiten im Schreiben der Ehefrau von Wilhelm F., was sicherlich auf die ebenfalls erwähnte Arztkonsultation zurückzuführen war52: Bei einer Untersuchung der Schüler der hiesigen Volksschule durch den Herrn Kreisarzt wurde festgestellt, dass mein Sohn Waldemar, geb. am 29.9.1921 an Polypen in der Nase leidet. Die Krankheit hat sich so verschlimmert, daß er des Nachts schwer mit der Luft ringt und die mir vom Kreisarzt aufgegebene Operation nicht länger aufgeschoben werden kann.53

Auch eine von Simon M. aus Bitburg angeführte „Blinddarmentzündung und Bauchfellvereiterung“ seiner Tochter ist in diese Gruppe einzuordnen.54 Diese Formalisierung der Krankheitsangaben wurde zusätzlich dadurch befördert, dass ab Mitte der 1920er Jahre in zunehmendem Maße Anträge auf 49 KAB-W 2.0.541, Schreiben des Claus P. vom 27. Oktober 1906. 50 LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Schreiben des Heinrich P. vom 22. Juli 1924; Ebd. Nr. 971, Schreiben des Dieter F. vom 10. Oktober 1928. 51 LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Schreiben der Witwe Karl M. vom 24. April 1928: „Infolge Lebererkrankung habe ich in den Jahren 1926 bis jetzt vielfach ärztliche Hilfe gebrauchen müssen.“; Ebd. Nr. 407, Schreiben der Ehefrau Klemens P. vom 03. Juli 1932: „Da schon länger ich meinen Halskropf organisiert bekommen sollte, ich auch von der Krankenkasse die Operation bezahlt erhalte, wollte ich es jetzt machen lassen.“ 52 Goltz, Krankheit und Sprache, S. 230; Lachmund/Stollberg, Patientenwelten, S. 224–225 sprechen hier von verweisendem Wissenscharakter. 53 LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Schreiben der Ehefrau Wilhelm F. vom 18. September 1930. 54 LHAK Best. 655,191 Nr. 411, Erklärung der Ehefrau Simon M. vom 23. März 1932: „Ich bitte um Bewilligung von Lebensmitteln resp. Stärkungsmitteln für meine Kinder. Das älteste Mädchen Elisabeth Barbara S., 7 Jahre alt, wurde vor Weihnachten 1931 operiert und zwar wegen Blinddarmentzündung und Bauchfellvereiterung. Das Kind ist neuerdings wieder erkrankt und ich bin nicht in der Lage, ihm die nötigen Stärkungsmittel zu geben.“

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Unterstützung in Formularform erfasst wurden.55 Die damit einhergehende Standardisierung und Systematisierung der benötigten Angaben schränkte den Spielraum für individuelle Beschreibungen deutlich ein. Die kurze Benennung der Erkrankung war somit nicht allein Ausdruck eines Wandels der Krankheitswahrnehmung, sondern auch des Wandels der Verwaltungspraxis in der Armenfürsorge.56 Im Ganzen gesehen war im Rahmen eines Antrags auf Unterstützung Kranksein vor allem im Hinblick auf die mangelnde Arbeitsfähigkeit von Bedeutung.57 Die wenigen Fälle von Beschreibungen zeigen jedoch, dass Krankheit und Schmerz sehr wohl intensiv erfahren wurden. Gegenüber den Stärken der „großen“ Selbstzeugnisse, etwa Autobiographien oder Tagebücher, in der besonderen Dokumentation subjektiver Krankheitserfahrung, liegt der Erkenntniswert von Unterstützungsanträgen hier gerade in ihrem „seriellen“ Charakter.58 Die Untersuchung zusammenhängender Bestände derartiger Schreiben gewinnt ihren Wert durch die Vielzahl der Urheber, aus der sich Erkenntnismöglichkeit verbreiteter Wahrnehmungen von Krankheit ergibt. Diese ergänzt – ersetzt aber nicht – die individuelle Perspektive auf Krankheit, wie sie in ausführlichen Schreiben zum Ausdruck kommt. Zu erkennen ist anhand der Anträge aber ebenfalls, dass seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zumindest im amtlichen Verkehr die subjektive Schilderung des eigenen Leides zugunsten einer objektivierenden Benennung der dahinterstehenden Erkrankung zurückging. Konzepte von Krankheit Krankheit erscheint in den Zeugnissen der Antragsteller meist als etwas Äußeres, dem Körper Fremdes.59 Dies wird in einer ganze Reihe der Beschreibungen durch die Verwendung des aktivischen Verbgenus, welcher der Krankheit einen eigenständigen Charakter zuweist, ausgedrückt. So deutet etwa die Formulierung „zeigte sich an meiner rechten Schulter ein Düswuchs“ von Kathrine M. auf den Charakter der Krankheit als etwas Hinzugekommenem hin. Im Gegenzug zeigen passivische Verbalgenera in der Darstellung der eigenen Situation, wie „da war, ich schon so Gicht verzochen“ eine Wahrnehmung des Ausgeliefertseins gegenüber dieser externen Entität. Die Krankheit erschien in den Beschreibungen der Antragsteller als „ein handelndes Subjekt, ein Agens, 55 Vgl. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 140. 56 Nach Buchholz, Überlieferungsbildung, S. 178–179 führen standardisiertes Verwaltungshandeln und einheitliche Gesetzgebung dazu, dass Akten zunehmend übereinstimmen. In der modernen Verwaltung führt etwa Computerarbeit dazu, dass die Bereitschaft zur Anfertigung von Nebeninformationen wesentlich abnimmt. 57 Sokoll, Old Age, S. 145 weist darauf hin, dass ein Weglassen des Arbeitsbezugs im Antragszusammenhang zwar systemimmanent nachteilig wäre, die Erwähnung aber nicht als bloße Rhetorik, sondern als Zeichen für eine positive Grundeinstellung der Betroffenen zur Arbeit ernstzunehmen ist. 58 Vgl. Jung/Ulbricht, Krankheitserfahrung, S. 140. 59 Vgl. dazu Jütte, Hospital.

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der menschliche Körper als Ort des Geschehens, das Patiens.“60 In dieselbe Richtung weist die Äußerung des Altenkirchener Kreisarztes im Jahr 1900, den Kranken habe sich ihrer Auffassung nach die Grippe „auf die Nase geworfen.“61 Eine andere Deutung ihrer Krankheit lässt hingegen die Witwe Susanne P. in ihren Äußerungen erkennen. Sehr allgemein beschreibt sie die Ursache ihrer Krankheit mit: Denn ich bin krank geworden durch Tag und Nacht zu arbeiten.62

Hier war es nicht die externe, unverhoffte hereinbrechende Krankheit, sondern die allmähliche Abnutzung ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit, der „Verschleiß durch Arbeit“, den auch städtische Arbeiter zeitgenössisch als Ursache ihrer Leiden identifizierten.63 Desweiteren hat Sabine Marx in ihrer Untersuchung über die Ausbreitung ärztlich-akademischer Krankheitskonzepte im Regierungsbezirk Trier zeigen können, dass prä-bakteriologische Konzeptionen vor allem der galenisch geprägten Humoralpathologie bis in das 20. Jahrhundert hinein in den Krankheitsvorstellungen von Ärzten und Laienheilern nachwirkten.64 Gefördert wurde die Vermengung alter und neuer Vorstellungen vor allem durch die schwierige Abgrenzung der Konzepte in der praktischen Anwendung.65 Erst nachdem unter der Leitung von Robert Koch 1902 im Trierer Raum eine Feldstudie des Kaiserlichen Gesundheitsamtes zu Übertragungswegen von Typhus initiiert worden war, konnten sich erregerbasierte Krankheitskonzepte unter den Ärzten dominant etablieren.66 Dabei profitierten die Medizinalbeamten des Regierungsbezirks vor allem davon, dass sie in die praktische Arbeit der Studie eng eingebunden wurden.67 Auch auf Seiten der Patienten blieben prä-bakteriologische Konzeptionen lange erhalten, insbesondere galenisch geprägte Krankheitsvorstellungen erwiesen sich hier geeignet, auch neue medizinische Erkenntnisse immer wieder 60 Goltz, Krankheit und Sprache, S. 239. 61 LHAK Best. 441 Nr. 13675, Jahresgesundheitsbericht des Kreisarztes für den Kreis Altenkirchen pro 1900, S. 83f. 62 LHAK Best. 491 Nr. 279, Schreiben der Witwe Susanne P. an den Landrat zu Simmern vom 08. August 1904. 63 Herzlich/Pierret, Kranke, S. 141–145; Zitat S. 141. Ebenso Lachmund/Stollberg, Patientenwelten, S. 182–186. 64 Marx, Scientific Medicine, insbes. S. 65–78. Ebenso Stolberg, Heilkundige, S. 79, Stolberg, Abführmittel und Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 206–210. 65 Marx, Scientific Medicine, S. 42–46. 66 Ebd., S. 78–112; Koch, Typhus, S. 15–19; Die weitgehende Unbekanntheit dieser Versuche in ihrer Bedeutung für den Aufbau einer Infrastruktur des Gesundheitswesens hält Labisch, Konzeptionen, S. 40 fest. 67 „Trier’s public health officers and private physicians, too, profited from the program; they found an opportunity to learn first-hand and to work side-by-side with scientists like Koch, Paul Frosch, Heinrich Conradi, and Karl von Drigalski. The actual presence of Koch’s commission prompted the belated yet momentous shift in the reporting and perception of typhoid in the early twentieth century.” Marx, Scientific Medicine, S. 86.

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in bestehende Vorstellungswelten von Krankheit zu integrieren.68 Der nur langsame Wandel der ärztlichen Vorstellungen hatte dabei langanhaltende Parallelen und Überschneidungen in der medizinischen Kommunikation in Bezug auf Begriffe und Modelle zur Folge.69 Die von Sabine Marx für die Patienten getroffenen Aussagen lassen sich anhand der überlieferten Selbstzeugnisse in den Unterstützungsanträgen bestätigen.70 So schrieb die Ehefrau von Barnabas M. 1906 in ihrem Gesuch die Besserung ihres Zustandes nicht dem ärztlichen Wirken, sondern einer besonderen Medizin aus England zu; diese „reinigt all das verdorbene Blut“.71 Der Gebrauch „reinigender“ und abführender Medikamente war ein Indiz für ganzheitliche Krankheitsvorstellungen, die Heilung als Wiederherstellung einer aus dem Gleichgewicht geratenen inneren Ordnung des Körpers betrachteten. Von den Ärzten wurde diese Ansicht durchaus kritisiert, was zeigt, dass Krankheitsvorstellungen von Ärzten und Patienten bei aller Nähe keineswegs identisch sein mussten.72 Krankheiten wurden in Fortführung einer Deutung, die bereits im 16. Jahrhundert verbreitet war73, auf äußere Einflüsse zurückgeführt. So äußerte sich Hans C. aus Olkenbach 1910 über die Todesursache seiner Kinder: Es sind uns auch in diesem Jahr zwei Kinder gestorben, was ich der kleinen Räumlichkeiten wegen ungesunder Luft als Schuld glauben muß.74

68 Ebd., S. 156–214, insbes. S. 183–194. Zur Absorptionskraft und Wandlungsfähigkeit des Galenismus und seiner Fortdauer in heilkundlichen Praktiken einer breiten Bevölkerung siehe auch Brockliss/Jones, Medical World, insbes. S. 17–18 und S. 275–278. 69 „The persistence of humoral pathology among physicians and patients alike allowed for at least some joint elements in language, in diagnostic approaches to, and treatment of disease. Patients and physicians might not have shared the specifics of humoral etiology and pathology, but they largely agreed that depletion and stimulation were the means to restore the natural balance of the body.” Marx, Scientific Medicine, S. 184. Vgl. auch Fitzpatrick, Concepts, insbes. S. 23–24 und Wolff, Pockenschutzimpfung, S. 471–474. 70 Hingegen sind die von Hoffmann, Bräker, S. 3–4 identifizierten Krankheitsvorstellungen bei Bräker nur bedingt übertragbar, da dieser als lektüreinteressierter Autodidakt und Mitglied einer Lesegesellschaft auch gezielt Einblick in medizinische Literatur nahm, die seine Ansichten deutlich beeinflusste. 71 KAB-W 2.0.541, Schreiben der Ehefrau Barnabas M. vom 25. Januar 1906. 72 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1889–1891, S. 30: „Besorgte Mütter glaubten etwas Besonderes gethan zu haben, wenn sie ihre erkrankten Kinder ins Bett brachten, ihnen heißen Thee zum Schwitzen gaben, damit der Aussschlag nach außen komme und nicht nach Innen schlage. Dabei wurden natürlich Abführmittel aus der Apotheke geholt, jeder ärztliche Rath aber vermieden.“; LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht des Kreisarztes zu Bernkastel für 1890, S. 200: „Syphilis kam im Kreis nicht vor, während Krätze außerordentlich häufig zur Beobachtung gelangt. Trotz der Belehrung seitens der Ärzte, daß diese Krankheit auf einer Milbe beruhe, welche in die Haut eingedrungen, gebraucht das große Publikum, ehe es ärztliche Hilfe nachsucht, innere Mittel, um, wie es sagt, die Krankheit herauszutreiben.“ Zum Konflikt „medikaler Kulturen“ zwischen Ärzten und Landbevölkerung vgl. Unterkircher, Pocken, S. 62. 73 Vgl. Jütte, Ärzte, Heiler, S. 178; Kinzelbach, Gesundbleiben, S. 98–103. 74 KAB-W 2.0.343, Schreiben des Hans C. vom 08. Dezember 1910.

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In ähnlicher Weise wies auch die Ehefrau von Bernhard M. auf die ungesunden Wohnverhältnisse als Ursache der Krankheit ihres Mannes hin: Ihr Mann sei jetzt 3 Wochen lang an Rheumatismus erkrankt gewesen, den er sich zweifellos durch die feuchte Wohnung zugezogen habe. Auch eines der Kinder sei während 8 Tagen krank gewesen. Sie bat darum, die Wohnung durch den Herrn Kreisarzt besichtigen zu lassen, der sie ohne Zweifel als gesundheitsschädlich bezeichnen würde.75

Schwieriger als die hier geschilderten überlieferten Konzepte von Krankheit sind bestehende Vorstellungen übernatürlicher Krankheitsursachen, wie etwa ein Eingriff des „Teufels“ nachzuweisen, die als übernatürliche Krankheitsursache eine übernatürliche Behandlung erforderten.76 Allerdings sind Aussagen der Patienten selten erhalten, so dass wiederum vor allem offizielle Berichte Aufschluss geben müssen.77 In der Tat ist auch unter den hier herangezogenen Quellen nur eine einzige Aussage zu finden gewesen, die eine religiöse Deutung von Krankheit zuließe: Heiliger Vater! Die Güte, mit der Eure Heiligkeit jedem Unglücklichen begegnen, flösst mir den Mut ein, mich in größter Not vertrauensvoll an Euer Heiligkeit zu wenden. Seit 2 Jahren leide ich an beiderseitigem Ischias, sodass ich unfähig bin meinem Beruf als Kaufmann nachzugehen. Vermögen besitze ich keins und deshalb lebe ich mit meiner Frau und 2 kleinen Kindern in grösster Not. Ich selbst will mein Schicksal gerne tragen zur Ehre Gottes, aber Frau und Kinder hungern zu sehen, das schneidet in’s Herz.(…)78

Die Adressierung des Briefes und der Verweis auf das „zur Ehre Gottes“ zu tragende Schicksal lassen eine Interpretation der Krankheit durch den Verfasser als göttlich auferlegte Prüfung erahnen. Eine ähnliche, aber im Laufe der Zeit gewandelte, religiöse Deutung von Krankheit als Strafe, Liebe, Warnung oder Heimsuchung hat für den gläubigen Pietisten Ulrich Bräker auch Susanne Hoffmann identifiziert.79 Für den hiesigen Kontext sind Interpretationen von Krankheit als ‚Strafe’ für moralische oder soziale Vergehen, wie sie Gerhard Wilke für die 1920er und 1930er Jahre im hessischen Körle aufgezeigt hat, sonst aber nicht festzustellen.80 Auch wenn um die Jahrhundertwende Krankheiten von den Betroffenen noch auf religiöse oder magische Ursachen 75 KAB-W 2.0.343, Niederschrift der mündlichen Beschwerde der Ehefrau Bernhard M. vom 20. September 1912. 76 Marx, Scientific Medicine, S. 163–183. Siehe auch Lindemann, Health; Freytag, Aberglauben; Blackbourn, Marpingen, Zum Konzept übernatürlicher Heilungen siehe Stolberg, Heilpraktiken. 77 „Even though patients’ own accounts on their beliefs in magic are largely missing, (…), reports of physicians and police officials attested to the continued presence of magical thinking among the common people.” Marx, Scientific Medicine, S. 166. Offen bleiben muss hier, inwiefern diese Aussagen verlässlich und nicht selbst von Klischeevorstellungen geprägt waren. 78 LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Schreiben des Heinrich P. vom 22. Juli 1924. Unterstreichungen des Verf. 79 Hoffmann, Bräker, S. 48–54. Allerdings verweist auch Hoffmann auf den sehr seltenen Gebrauch derartiger Erklärungsansätze bei Bräker (69–70). 80 Wilke, Sünden. Wilke betont vor allem die Deutung von Krankheit als Strafe für Verstöße gegen die „moralische Ökonomie“, das gegenseitige angemessen Verhalten der einzelnen

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zurückgeführt werden konnten, dürfte dies tatsächlich nur noch in sehr wenigen Fällen der Fall gewesen sein. Es bleibt aber dennoch zu prüfen, inwiefern auf der Suche nach Heilung von Krankheiten religiöse und magische Praktiken nach wie vor eine Rolle spielten.81 Im Wesentlichen scheinen der administrative Kontext und die Berichtsform der Quelle die Beschreibung von Kranksein und Krankheit in Unterstützungsanträgen geprägt zu haben. Über die Beschreibung der jeweiligen Erkrankungen hinaus haben deutende Krankheitsdarstellungen in denselben jedenfalls kaum Niederschlag gefunden; konzeptionelle Vorstellungen von Krankheit sind in den Armengesuchen erst aus der Kontextualisierung zu erschließen. Demnach war die Kausalität von Ursache und Krankheit in der Armenkrankenpflege weitgehend Nebensache. Die Betroffenen suchten hier keine sinnstiftende Erläuterung ihres Zustandes, sondern waren in erster Linie an einer Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft und Eigenständigkeit in der Lebensführung interessiert. 5.2. Armut und Krankheit – Bedingtheiten und Perspektiven Krankheitserfahrungen waren und sind „von zentraler Bedeutung im Leben, stellen Krisensituationen dar, in denen für Menschen Wesentliches auf dem Spiel steht.“82 Umso mehr galt dies für Arme, bei denen sich Krankheitserfahrung darüber hinaus mit dem Moment der verstärkten Armutserfahrung verband, etwa im durch die Krankheit verschärften Ressourcenmangel. Dass ärmliche Lebensumstände die Krankheitsanfälligkeit erhöhten oder Krankheiten durch ihre Behandlungskosten und folgende Verdiensteinbußen Armut der Betroffenen nach sich zogen83, wurde bereits zeitgenössisch vielfach diskutiert.84 Im Vordergrund der hier angestellten Überlegungen steht allerdings nicht die Frage nach den kausalen Zusammenhängen von Armut und Krankheit, sondern welchen Stellenwert die hergestellten Zusammenhänge in den Äußerungen der diversen Beteiligten eingenommen haben. Auf ärztlicher Seite finden sich diesbezügliche Äußerungen vor allem in den Sanitätsberichten, vereinzelt auch in der Korrespondenz um Armenunterstützungsgewähr. Eine erste Untersuchung ergab eine auffallende Dichotomie der Äußerungen bei Ärzten und Betroffenen.85 Während medizinische Exper-

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Dorfangehörigen. Vgl. auch Dinges, Aushandeln, S. 9. Zum Deutungswandel von Krankheit insbes. Labisch, Homo. Siehe dazu Kapitel 6. Jung/Ulbricht, Krankheitserfahrung, S. 139. Vgl. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 309–318. Vgl. dazu Mielck, Soziale Medizin, der die zeitgenössische Diskussion um Einfluss der Lebensbedingungen auf Krankheitsentstehung und Verlauf, sowie die mögliche Behebung gesundheitsschädlicher Lebensbedingungen um die Jahrhundertwende untersucht. Mielck wertet v.a. die hohe Aufmerksamkeit für das Thema und die Integration in die Medizin als bemerkenswert. Zu abweichenden Vorstellungen im Krankheitsverständnis von Arzt und Patient in hier nicht vorhandener Behandlungskorrespondenz vgl. Stolberg, Homo patiens.

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ten in ihren Berichten fast ausschließlich darauf Bezug nahmen, wie Armut Ursache und beförderndes Element von Krankheit sein konnte, spielte in den Äußerungen der von Krankheit betroffenen Armen vor allem die umgekehrte Verbindung von Krankheit, welche Armut nach sich zieht oder verstärkt, eine Rolle. In den folgenden Abschnitten soll daher geprüft werden, in welchen detaillierteren Zusammenhängen und auf welche Weise die Verbindung von Armut und Krankheit bei den verschiedenen Beteiligten thematisiert wurde. Krankheit als Folge von Armut: Die Ansichten der medizinischen Experten Der Zusammenhang von Armut und Krankheit wurde in den Sanitätsberichten der Kreisärzte in erster Linie am Gegenstand der epidemischen Krankheiten erörtert. So berichtete Regierungsmedizinalrat Dr. Schwartz über die Verbreitung des typhus abdominalis: Zu allermeist jedoch wurden die ärmeren Volksklassen und nur dort, wo lokale Ursachen oder Uebertragung vorlag, auch die besser situierten ergriffen.86

Auch der Trierer Kreisarzt Dr. Griesar vermerkte für Typhus einen Zusammenhang von Armut und Krankheit wegen des Übergewichts an Krankheitsmeldungen in ärmeren Schichten.87 Mehrfach stellten die Berichterstatter die­se Verbindung auch im Falle von Diphtherie her, daneben ebenso für Scharlach und Tuberkulose.88 Die Konzentration auf diese Krankheiten ist aber wenig verwunderlich, da gerade die Beobachtung der Krankheitsverhältnisse bei den meldepflichtigen epidemischen Krankheiten eine zentrale Aufgabe der Medizinalbeamten war. Diskutiert wurde die Bedeutung von Armut für das Risiko zu erkranken vor allem dann, wenn eine signifikante Verbindung von Lebensverhältnissen der Betroffenen und Verbreitung der Krankheit bestand. Zentral erschienen dabei zunächst die schlechten Lebensumstände, welche Ansteckung und die Ausbreitung von Krankheiten begünstigten. So galten die „feuchten, nicht gelüfteten, mit Dünsten aller Art erfüllten Wohnungen“ als Ursache von Typhuserkrankungen.89 Umso mehr musste dies für „Minderbe86 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 61; ähnlich LHAK Best. 442 Nr. 3139, Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinal-Wesen des Regierungs-Bezirks Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1883, 1884 und 1885, S. 27: „Als Entstehungsursache wurde durch die Mistjauche verdorbenes Trinkwasser angegeben, die große Sterblichkeit auf die große Armuth der betroffenen Familien und den Mangel an Pflege zurückgeführt.“ 87 LHAK Best. 442 Nr. 3894, Sanitätsbericht für den Stadtkreis Trier 1891, S. 404–405: „Den eingegangenen Anzeigen gemäß wäre Typhus nur eine Krankheit der ärmeren Leute.“ 88 LHAK Best. 442 Nr. 3139, Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinal-Wesen des Regierungs-Bezirks Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1886, 1887 und 1888, S. 24ff.; LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel 1890, S. 194–195; LHAK Best. 442 Nr. 3896, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel 1893, S. 17; LHAK Best. 442 Nr. 3914, Jahresbericht des Kreisarztes des Kreises Wittlich für 1906, S. 289–290. 89 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 64f.

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mittelte gelten, die nicht in der Lage sind, Neubauten bzw. größere Instandsetzungsarbeiten ausführen zu lassen.“90 Nachteilig war auch die räumliche Enge der Behausungen, die eine Isolierung der Kranken erschwerte: Hierzu kommt noch die große Armut der Bewohner jenes Dorfes und die Schwierigkeit bei den äußerst beschränkten Räumen derselben die Kranken zu isolieren und entsprechend zu desinfizieren.91

Eher kuriosen Wert hat aus heutiger Perspektive eine Erklärung für den Zusammenhang von Armut und Kropfbildung, die unter der „ärmeren Arbeiterbevölkerung des platten Landes“ offenbar häufiger verbreitet war: Hierdurch und durch das hierbei nöthige Balancieren der Lasten auf dem Kopfe wird nach ihrer Ansicht der vordere Hals besonders angestrengt, die Schilddrüse vorgedrängt und ihre krankhafte Entwicklung begünstigt. Dennoch trifft man auch auf Frauen mit gewaltigem Kropfe, die niemals in die Lage gekommen sind, Lasten auf dem Kopfe zu tragen, bei denen also andere Ursachen vorgelegen und mitgewirkt haben müssen.92

Derartige Überlegungen verdeutlichen, dass Armut und ärmliche Lebensverhältnisse dabei nicht bloß als förderlich, sondern mitunter als ursächlich für die Verbreitung von Krankheiten gesehen wurden und so eine Identität als spezifische Armenkrankheit gewinnen konnten.93 Armut wurde aber auch mit einem Mangel an Eigenverantwortung der Betroffenen in Verbindung gebracht. Wenn der Regierungsmedizinalrat Dr. Schwartz auf „Unreinlichkeit am Körper und in den Wohnungen (…), unterlassene Lüftung der mit Dünsten aller Art erfüllten Wohn- und Schlaffstuben“ sowie „mangelnde Pflege“ verwies, war dies auch als Vorwurf an die Betroffenen zu lesen, die ihnen gegebenen Möglichkeiten, auf die eigene Gesundheit Einfluss zu nehmen, nicht zu nutzen.94 Deutlicher auf Arme bezogen erschien 90 LHAK Best. 655,191 Nr. 171, Gesundheitsbericht für die Gemeinde Bitburg-Land 1928 vom 09. Januar 1929; ähnlich auch LHAK Best. 442 Nr. 3896, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel 1893, S. 17: „Bemerken muß ich noch vorweg, daß in beiden Dörfern, sowohl bei den ärmeren wie bei den besser situierten Bewohnern das Leiden [Diphtherie, d. Verf.] mit gleicher Intensität auftrat, trotzdem bisheran die Erfahrung lehrte, daß bessere Wohn- und Schlafräume, gute Ernährung etc., wie sie sich der Wohlhabende leisten kann, mehr oder minder vor der Krankheit schützen.“ 91 LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel 1890, S. 195; ebenso LHAK Best. 442 Nr. 3914, Jahresbericht des Kreisarztes des Kreises Wittlich für 1906, S: 290: „Die engen Wohnräume bringen es mit sich, das die an Tuberkulose erkrankten Familienmitglieder nicht isoliert werden können, vielfach trifft man in den Eifelortschaften alte Leute mit Tuberkulose behaftet an, die zur Beaufsichtigung der Kinder verwendet werden und diese durch ihren Auswurf infizieren.“ 92 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 39f. 93 Die relativierende Aussage im zweiten Satz zeigt aber zugleich die Probleme derartiger Identitätsbildungen, wenn die als ursächlich angenommenen externen Bedingungen verändert wurden. Vgl. dazu Schlich, Changing. 94 LHAK Best. 442 Nr. 3139, Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinal-Wesen des Regierungs-Bezirks Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1886, 1887 und 1888, S. 25; ähnlich auch der Bernkasteler Kreisarzt zur mangelnden Pflege von Kranken: „Der Grund dieser betrübenden Erscheinung ist auf die Indolenz der allerdings sehr armen Leute zurückzuführen. (…) Dummheit, Indolenz und allerdings auch Armut ver-

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dies noch, wenn er kritisierte, dass „aerztliche Hilfe (…) auf dem Lande für die scharlachkranken Kinder trotz der überall zu habenden Armenärzte selten in Anspruch genommen [wurde] oder wenigstens erst dann, wenn die Nachkrankheiten einen höheren Grad erreicht hatten.“95 Angewandt auf die epidemischen Krankheiten spiegelte diese Argumentation dabei durchaus Reste der in der Frühen Neuzeit verbreiteten Ansicht wieder, gerade Bettler und Arme seien Verursacher oder Überträger von Krankheit.96 Einschränkend ist allerdings zu sagen, dass sich in diesen Fällen der Bezug auf Arme nicht eindeutig von dem auf Landbewohner trennen lässt.97 Auch dem Landbewohner als solchem wurde mangelnde Besorgnis um die eigene Gesundheit vorgehalten.98 Die Kritik der Ärzte darf aber weniger als Abbildung der realen Zusammenhänge verstanden werden, sondern ist vielmehr Ausdruck der ärztlichen Wahrnehmung, dass die Kranken sich nicht ausreichend an den ärztlichen Vorstellungen korrekten Gesundheitsverhaltens orientierten. Ihr Verhalten wurde daher von den Ärzten oft als Ausdruck einer „allgemeinen, bewussten oder unbewussten Lebenseinstellung“ der „Gleichgültigkeit“ interpretiert.99 Der Eindruck, die Verbindung von Krankheit, welche Armut hervorruft oder verschlimmert, sei in der alltäglichen Praxis der Ärzte nicht thematisiert worden, wird auch beim Blick in ärztliche Stellungnahmen zu konkreten Erkrankungen armer Patienten nicht widerlegt.100 Die Konsequenzen hoher Operationskosten oder längeren Verdienstausfalls für Kranke blieben in den erhaltenen ärztlichen Stellungnahmen oder armenärztlichen Gutachten prakhindern jeden Fortschritt.“ LHAK Best. 442 Nr. 3897, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel 1894, S. 7f. 95 Ebd., S. 26. Hintergrund des Vorwurfs ist die kostenlose Leistung der Armenärzte. 96 Vgl. Scheutz, Ausgesperrt unter Verweis auf einige Beispiele in Geremek, Armut, S. 159– 175, insbes. S. 163 und S. 167. 97 Zum Bild der Eifeler Landbevölkerung vgl. Büsch, Urteil. 98 Sehr deutlich etwa in LHAK Best. 442 Nr. 3139, Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinal-Wesen des Regierungs-Bezirks Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1881 und 1882, S. 27 über die Verbreitung der „Krätze“: „Hierzu trug weniger die städtische, als die Landbevölkerung bei. Letztere Erscheinung erklärt sich, wie dies schon früher auseinandergelegt worden ist, aus dem Umstande, daß selbst der ärmere Stadtbewohner seinen ganzen Neigungen und Gewohnheiten nach und dem guten Beispiele seiner besser situirten Mitbürger folgend mehr auf Reinlichkeit und Reinigung seines Körpers hält, als der gewöhnliche Tagelöhner und kleine Besitzer auf dem Lande, den seine Arbeit und Umgebung und liebe Gewohnheit weniger darauf hinweisen. Wenn ersterer bei dem Wort Krätze ein gewisses Schaudern bekommt und schnell für seine Heilung sorgt, erträgt letzterer mit stoischer Ruhe sein Hautjucken und sieht diese Krankheit auf alle Familienmitglieder übergehen, ohne für Hülfe zu sorgen, bis er gelegentlich zur Apotheke kommt und dort sich eins der bekannten Volksmittel kauft. Da er aber auf eine weitere Desinfektion der Kleider, Beine sc. nicht hinwirkt, so kommt das alte Leiden wieder bald zum Vorscheine. Im Uebrigen wird von überall her bestätigt, daß im Frühjahre die Zahl der Krätzkranken in Folge des länger und näher Beieinanderseins auf dem Lande steige.“ 99 Wolff, Pockenschutzimpfung, S. 413–421, Zitat: 414. Wolff zeigt allerdings, dass derartiges Verhalten aus Perspektive der Kranken durchaus zielgerichtet war. 100 Ebenso Moser, Volksgesundheit, S. 41.

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tisch unerwähnt, im Vordergrund stand die Erkrankung als solche und ihr medizinisch begründeter Behandlungsbedarf.101 Bemerkenswert ist an dieser Stelle ein Attest des Simmerner Arztes Dr. Sperling über den Zustand der Ehefrau des Tagelöhners Friedhelm J.: Der krankhafte Zustand der Frau Forster aus Dorweiler, welche seit dem Monat November vorigen Jahres an einer Entzündung des linken Fußgelenkes leidet, ist gegenwärtig derart, daß sie weder gehen noch stehen und in Folge dessen ihre häuslichen Arbeiten nicht verrichten kann. Zu dem kommt, daß sie ihr kleines [zwei unleserlich, d. Verf.] Monate altes Kind an die Brust legt, was ihr aus Rücksicht auf ihr [altes unleserlich, d. Verf.] Leiden ärztlich untersagt wurde, aber aus Mangel anderweitiger Nahrungsmittel bis jetzt noch nicht ausgeführt worden ist.102

Auch in diesem Fall ging der Arzt nicht darauf ein, ob die Einschränkung der häuslichen Tätigkeit zur Armutsbedrohung der Familie beitrug. Aufmerksamkeit verdient jedoch der Hinweis auf den „Mangel anderweitiger Nahrungsmittel“, verweist er damit doch auf einen spezifischen Problemkomplex in der Verbindung von Armut und Krankheit, der offenbar lange Zeit ausschließlich von Ärzten als solcher wahrgenommen wurde. Mangel als Krankheit? Die Wahrnehmung von Mangelernährung Als die Witwe von Heinrich I. aus Hetzerath Anfang 1901 einen Antrag auf Armenunterstützung stellte, wurde „bei der ärztlichen Untersuchung (…) festgestellt, daß die p. Heinrich I. unter mangelhaftem Ernährungszustande leide.“103 Ähnlich wie im Falle der Ehefrau Friedhelm J. hatte der Arzt die offensichtlich so große absolute Armut der Betreffenden konstatiert, dass eine angemessene Ernährung über längere Zeiträume hinweg nicht mehr gesichert werden konnte. Diese Aussagen machen deutlich, dass Armut sich noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur als mangelnde soziale oder wirtschaftliche Teilhabe manifestierte, sondern immer noch in Formen absoluter, existentiell bedrohlicher Armut gedacht werden muss. Die aus Armut resultierende Mangelernährung lange Zeit nur von Medizinern als Erkrankung wahrgenommen.104 Barbara M. gab beispielsweise bei einer armenärztlichen Untersuchung an, dass sie „nicht eigentlich krank [Unterstreichung des Verf.], aber wegen vorgerückten Alters, Engbrüstigkeit und allgemeiner Körperschwäche nur wenig arbeitskräftig sei.“105 Wie sehr sich ärzt101 Siehe etwa LHAK Best. 491 Nr. 319, Ärztliches Attest für Friedhelm J. vom 03. Juli 1912; KAB-W 2.0.343, Schreiben des Kreisarztes Wittlich zum Unfall Laurenz P. vom 04. Dezember 1913; Ebd., Armenärztliches Gutachten (Dr. Feinmut) zum Fall Klaus M. vom 14. März 1912. 102 LHAK Best. 491 Nr. 319, Attest vom 28. März 1894. 103 KAB-W 2.0.541, Schreiben des Bürgermeisters zu Hetzerath vom 10. März 1901. 104 Zur Deutung von Ernährung und Mangel im sozialen Kontext der Dorfgesellschaft siehe Wilke, Sünden, S. 129. Vergleichbare Untersuchungen erlaubten die hier untersuchten Quellen allerdings nicht. 105 LHAK Best. 491 Nr. 310, Schreiben der Barbara M. vom 29. Dezember 1895. Allerdings bezeichnet sie in diesem Falle auch der untersuchende Arzt als „nicht eigentlich krank,

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liches Urteil und Wahrnehmung der Betroffenen eines solchen Sachverhaltes unterscheiden konnten, lässt sich anhand der entsprechenden Äußerungen in der Armensache Witwe von Kasimir M. aus Wittlich zeigen. In ihrem Bittgesuch erbat sich diese ein paar Schuhe und verwies in diesem Zusammenhang nur sehr allgemein auf ihr Kranksein.106 Bei einer armenärztlichen Untersuchung einige Zeit später nannte sie „Husten, Abführen, Herzklopfen, Schwächegefühl“ als Beschwerden.107 Die Beschreibung des Armenarztes hingegen lässt den schlechten Ernährungszustand der Witwe von Kasimir M. bereits deutlich erkennen: Dieselbe wurde heute nachmittag in meiner Sprechstunde untersucht. Die p. Witwe Kasimir M. klagt über Husten, Abführen, Herzklopfen, Schwächegefühl. Sie ist eine schlecht genährte weibliche Person von 48 kg Körpergewicht, geringem Fettpolster, schlaffer Muskulatur. Am linken Unterkieferrand, der linken Halsseite sowie rechts und links neben dem [Grundgriff unleserlich, d. Verf.] des Brustbeins (mamibrium sterni) befinden sich ausgedehnte, zum Teil mit dem [Busen unleserlich, d. Verf.] verwachsene, weißliche Narbenzüge, die von einer abgeheilten Drüsen- bzw. Knochentuberkulose des Unterkiefers und der oberen 2 Rippen herrühren. Es besteht eine leichte Lähmung der linksseitigen Gesichtsmuskulatur, von einer früheren Erkrankung der „Ferialis“-Gesichtsnerven herrührend. Über beiden unteren Lungenlappen besonders links sind mittelblasige Rasselgeräusche hörbar. Chronischer Bronchialkatarrh. Die Herztätigkeit ist mäßig beschleunigt, erregt, die Herztöne laut klappernd der Puls prägnant, leicht unterdrückbar, 88 Schläge in der Minute. Faßt man das Ergebnis der Untersuchung auf einmal kurz zusammen, so handelt es sich um eine unterernährte, schwächliche Person, die an chronischem Bronchialkatarrh leidet. Hinzu kommt noch, daß die p. Witwe Kasimir M. sämtliche Zeichen einer abgelaufenen Knochen- und Lungentuberkulose zeigt.

Die Kranke selbst hatte ihre mangelhafte Ernährung offenbar nicht als Erkrankung, welche ihre Chancen auf Armenunterstützung erhöhen würde, empfunden und entsprechend dargestellt. Im Gegensatz dazu nahm der Arzt in seinem Urteil den Ernährungszustand offensichtlich als krankhaft wahr.108 Eine ähnliche Differenz ist auch im Falle der Ehefrau Bartholomäus T. zu beobachten. Während der sie behandelnde Arzt nachdrücklich die Gewähr von „Kräftigungsmitteln“ für die Kranke anmahnte, verzichtete der Ehemann der Kranken freiwillig auf die bewilligten Lebensmittel, beantragte aber einen monatlichen Geldzuschuss zur Hausmiete.109 aber doch so schlecht genährt und altersschwach, daß Sie (…) zum vollen Erwerb ihres Lebensunterhalt (…) nicht fähig ist.“ 106 „Die Ehefrau Wittwe Kasimir M. aus Wittlich bitt die Armen Verwaltung um ein parr schuh, ich habe keine schuh und kann mihr auch keine kaufen. Ich bin jetzt schon lange zeit krank und möchte die Herrn bitten um ein parr schuh.“ KAB-W 2.0.343, Schreiben der Witwe Kasimir M. vom 18. Januar 1912. 107 KAB-W 2.0.343, Schreiben der Witwe Kasimir M. vom 28. Februar 1912. 108 Vgl. auch Thoms, Anstaltskost, S. 767–768, die auf die unterschiedlichen Bewertungen des Gesundheitszustandes von Gefängnisinsassen durch Anstaltsverwaltung und Anstaltsärzte verweist. 109 KAB-W 2.0.343, Schreiben des Kreisausschusses an den Bürgermeister zu Bausendorf vom 11. Februar 1914: „Wie sich aus der beiliegenden Äußerung des Dr. Busse ergibt, ist eine Verpflegung der Ehefrau Bartholomäus T. in ihrem Hause nur dann angängig, wenn

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Auch wenn diese Quellen hier nur exemplarisch gesehen werden können, deuten sie doch an, dass unzureichende Ernährung bis zumindest zum Ersten Weltkrieg unter Armen im ländlichen Raum so verbreitet war110, dass sie im Vergleich zur alltäglichen Erfahrung von den Betroffenen nicht als krankhaft wahrgenommen wurde. Dies ist zum Teil sicherlich darauf zurückzuführen, dass zwischen Mangelernährung als Dauerzustand und akutem Hunger ein Unterschied besteht, wobei die erste von den Betroffenen längere Zeit ausgehalten werden kann.111 In der Forschung ist wiederholt betont worden, dass „die Definition, ob jemand krank und arbeitsunfähig war, (…) stark von den sozialen Umständen“ abhängt112. Wenn die Witwe von Kasimir M. den eigenen Zustand nicht als Unterernährung wahrnahm, sich der Einfluss sozialer und psychologischer Faktoren auf das Krankheitsempfinden – etwa der Ernährungszustand der übrigen Bevölkerung – hier offenbar als Nichtwahrnehmung manifestierte113, ließe dies prinzipiell die Frage zu, inwiefern auch im Vergleich zur wohlhabenderen Landbevölkerung Unterernährung nicht auffällig war, sie also in der ländlichen Bevölkerung insgesamt noch verbreitet war.114 Da aussagekräftige Quellen hierüber leider nicht vorliegen, würde eine Antwort an dieser Stelle allerdings nur sehr spekulativ sein und soll daher unterbleiben. Spätestens für die 1920er Jahre – und damit deutlich später als für städtische Kontexte, in denen noch unmittelbar die Erfahrung der Hungerkrisen der Nachkriegsjahre vor Augen stand115 – ist aber festzustellen, dass Unterernährung gezielter angegangen und demzufolge auch deutlicher als Problem wahrgenommen wurde.116 Für die Kreise Bernkastel und Bitburg sind zwidie Gemeinde mit Kräftigungsmitteln nachhilft.“; Ebd., Schreiben des Bürgermeisters zu Bausendorf vom 28. März 1914: „mit dem Berichte zurückgereicht daß Bartholomäus T. nach einer Anzeige der Gemeindevorsteher auf die Verabreichung von Lebensmitteln verzichtet hat da er solche von mildtätigen Leuten bekäme, er beantragte dagegen, daß man ihm monatlich 6 M. zur Begleichung der Hausmiete bewilligen möge, da er diese beizubringen nicht imstande sein.“ Die bisher erhaltenen Lebensmittel erachtete Bartholomäus T. offensichtlich als ausreichend. 110 Umfassende Untersuchungen zur Ernährungslage im ländlichen Raum oder Armen als Gruppe existieren noch nicht. Über den Gegenstand der jeweiligen Studien nehmen die Ernährung unterer sozialer Schichten aber zumindest in Teilen Thoms, Anstaltskost und Tanner, Fabrikmahlzeit in den Blick. 111 Zu den physiologischen Folgen chronischer Unterernährung vgl. Thoms, Anstaltskost, S. 769. Für die 2. Hälfte des 18. Jahrhundert beobachtet Hufton, Poor, S. 15 in Frankreich eine ähnliche Situation. 112 Dinges, Sozialdisziplinierung, S. 17. 113 Vgl. Fitzpatrick, Concepts. 114 Hinweise darauf auch bei Thoms, Anstaltskost, S. 772. 115 Metzler, Sozialstaat, S. 54–57. 116 Suppenküchen und Lebensmittelausgaben waren in Notfällen auch früher schon eingerichtet, allerdings offenbar nicht unter medizinischen Aspekten wahrgenommen worden. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 106; Zur ärztlichen Verschreibung von Nahrung auch Krauss, Armenwesen, S. 101; zum städtischen Kontext Eser, Verwaltet, S. 122; Allen, Abraham.

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schen 1925 bis mindestens 1936 regelmäßige Schulspeisungen nachweisbar, die explizit mangelnde Ernährung der Schüler mildern sollten.117 Ergänzend richtete zumindest das Kreiswohlfahrtsamt Bernkastel in den Krankenhäusern in Bernkastel, Lieser und Rhaunen insgesamt sechs sechswöchige Solbadkuren mit anschließender Mahlzeit für je 16 Kinder ein.118 Armut und wirtschaftliche Not, die Unterernährung zur Folge hatten, waren offensichtlich immer noch sehr verbreitet, wie ein Bericht des Bernkasteler Landrats an den Landeshauptmann der Rheinprovinz belegt: Es ist vielmehr der äußerst geringe Tagesverdienst der Landarbeiter und Weinbergsarbeiter zu berücksichtigen, der selbst für Familienväter mit vielen Kindern nur 2,50 bis 3,– RM beträgt. Die Kinderspeisungen sind daher in den angegebenen Gebieten eine unbedingte Notwendigkeit.119

Die Zahlen der durchgeführten Speisungen unterstreichen diese Beschreibung noch. Im Kreis Bernkastel wurden etwa von April 1925 bis März 1926 insgesamt 29 Speisungen mit 971 Kindern durchgeführt.120 Eine solche Speisung bestand aus der Ausgabe einer täglichen Mahlzeit über einen Zeitraum von meist sechs Wochen. Im Kreis Bitburg nahmen von April 1929 bis März 1930 sogar 1050 Kinder an den Speisungen teil.121 Der Bedarf ist damit aber wohl nur unzureichend wiedergegeben, da die Finanzmittel zu beschränkt waren, um dem tatsächlichen Versorgungsbedarf gerecht zu werden. 1925 kommentierte der Bernkasteler Landrat die geplante Zahl von ca. 1200 Speisungen entsprechend: In dieser Zahl sind nur die allerbedürftigsten und gesundheitlich am meisten gefährdeten Kinder enthalten. Im ganzen kämen etwa 1800 Kinder in Frage, von denen jedoch 1/3 117 ALVR APR Nr. 3578, Akte Kinderspeisung Bernkastel, belegt für den Kreis Speisungen bis mindestens 1934, ALVR APR Nr. 3579, Akte Kinderspeisung Bitburg, belegt für den Kreis Speisungen bis mindestens 1936. Ab 1937 wurde die Durchführung der Kinderspeisungen zentral vom NS-Winterhilfswerk übernommen. Die Beteiligung höherer Verwaltungsebenen an den Kosten deutet zudem daraufhin, dass dieses Programm nicht allein auf die genannten Kreise beschränkt war. Für Wittlich belegt Lebensmittelverteilungen um 1930 auch Petry, Fürsorgewesen, S. 373. Vgl. dazu auch Kapitel 7.2.2., S. 307. 118 ALVR APR Nr. 3578, Schreiben des Landrats an den Landeshauptmann vom 24. Juni 1925. Die Anbindung an die Krankenhäuser zeigt deutlich die medizinische Intention der Aktionen. 119 ALVR APR Nr. 3578, Schreiben des Landrats an den Landeshauptmann vom 10. Juni 1927. Ähnlich im Jahr zuvor: „Die Speisungen wurden veranstaltet in den wirtschaftlich sehr bedrängten Moselorten und auf dem Hunsrück in den Gemeinden, in denen Taglöhnerfamilien, sowie Schieferbrecher, Achatschleifer und Saararbeiter vorwiegend ansässig sind. (…) Durch die wirtschaftlich ungünstigen Verhältnisse der Moselbevölkerung und der Arbeiter des Hunsrücks, liess der Gesundheitszustand der Kinder vielerorts sehr zu wünschen übrig, sodass die Kinderspeisung eine vortreffliche Hilfeleistung bedeutete.“ ALVR APR Nr. 3578, Schreiben des Landrats an den Landeshauptmann vom 30. April 1926. 120 ALVR APR Nr. 3578, Schreiben des Landrats an den Landeshauptmann vom 30. April 1926. 121 ALVR APR Nr. 3579, Schreiben des Landrats an den Landeshauptmann vom 20. Februar 1926.

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zurückgestellt werden mussten, da die Mittel zur Speisung weiterer Kinder nicht ausreichen.122

Ein wichtiger Unterschied der Schulspeisungen zu ähnlichen Armenspeisungen vor 1914 bestand darin, dass die Speisungen nicht mehr in der Zuständigkeit der Armenfürsorge, sondern in der Verantwortung der als Teil der allgemeinen kommunalen Gesundheitsfürsorge neu entstandenen Schulgesundheitsfürsorge lagen.123 Hier wird aber der ursprüngliche Zusammenhang der nun ausdifferenzierten Fürsorgebereiche sichtbar. Die Kriterien, nach denen die Kinder, welche in den Genuss der Schulspeisung kommen sollten, ausgewählt wurden, lassen die Deutung der Unterernährung als Krankheit deutlich erkennen. In Bernkastel waren „Gesundheitszustand“ und „wirtschaftliche Bedürftigkeit“, in Bitburg „körperlicher Befund“ und „soziale Gründe“ für die Beurteilung relevant.124 Das Einbeziehen der Bedürftigkeit als Kriterium macht wiederum deutlich, dass es sich bei dem Programm keineswegs um eine allgemeine Maßnahme handelte, sondern tatsächlich der Zusammenhang von Armut und Krankheit im Fokus stand. Die breite Anlage des Hilfsprogramms sowie der über das Angebot offenbar hinausgehende Bedarf zeigen sehr deutlich, wie verbreitet armutsbedingte Mangelernährung im ländlichen Raum noch in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts war.125 Gleichzeitig lassen die Normierung der Maßnahmen und deren allgemeine Förderung erkennen, dass Unterernährung im Zusammenhang mit Krankheit als Problemkonnex zu diesem Zeitpunkt nicht nur erkannt worden war, sondern Gesundheit hier als „soziales Gut“ begriffen wurde, dass über den Fall des einzelnen Betroffenen hinaus grundsätzliche gesellschaftliche Bedeutung besaß.126 Armut als Folge von Krankheit: Die Ansichten der Betroffenen Auf die besondere Bedeutung der Arbeitsunfähigkeit im Rahmen des Antragsverfahrens auf Armenunterstützung wurde zuvor bereits hingewiesen.127 Insofern verwundert nicht, dass krankheitsbedingt eingeschränkte Verdienstmöglichkeiten den zentralen Kausalzusammenhang bildeten, der in den Schreiben 122 ALVR APR Nr. 3578, Schreiben des Landrats an den Landeshauptmann vom 07. September 1925. 123 Sachsse, Frühformen, S. 8–13. 124 ALVR APR Nr. 3578, Schreiben des Landrats an den Landeshauptmann vom 21. Dezember 1925; ALVR APR Nr. 3579, Schreiben des Landrats an den Landeshauptmann vom 20. Februar 1930. Ähnliche Bezüge sind auch für Berlin erkennbar, wo die Schulärzte prüfen sollten, ob Kinder einer Schulspeisung bedurften. Allen, Abraham, S. 198. 125 Vgl. dazu auch Tanner, Fabrikmahlzeit, S. 151–155. 126 Vgl. dazu insbesondere Labisch, Homo. Diesem zufolge führte der soziale Wandel im 19. Jahrhundert zu einem neuen Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Die in der Industrialisierungsphase herrschende Verbindung von Gesundheit und Moral wird durch die Erkenntnisse der Bakteriologie aufgelöst und Gesundheit als allgemeiner Wert, als „soziales Gut“ begriffen. 127 Siehe S. 249.

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der Antragsteller sichtbar wurde. Angesichts der zuvor gezeigten Ernährungsproblematik ist davon auszugehen, dass die zentrale Stellung derartiger Bezüge in den Antragsschreiben allerdings keineswegs allein den Forderungen des Antragsverfahren geschuldet war, sondern realer Existenzangst entsprang.128 Die Arbeitsunfähigkeit erschien in den Anträgen in verschiedenen Spielarten. Teilweise lagen die Ursachen der Arbeitsunfähigkeit nach Ansicht der Betroffenen in der Arbeit selbst begründet. Die Näherin Nina M. führte beispielsweise an, „bei scharfem Sehen wie es zum Nähen nötig sei, Stiche ins Auge und Stirnschmerzen zu bekommen.“129 Ihre „Sehschärfe habe gelitten“ und daher sei sie „nur in geringem Maße arbeitsfähig.“ Der Verlust der Arbeitsfähigkeit war hier also wesentlich auf die Belastungen durch die Arbeit zurückzuführen. In eine ähnliche Richtung ging auch der Verweis auf im Rahmen der Arbeit erlittene Unfälle. 130 Ähnlich überraschend wie ein Unfall konnte aber auch eine plötzliche auftretende Krankheit die Betroffenen akut bedrohen, wie im Fall Karl J.s aus Zeltingen, für den die Typhuserkrankung seiner Familie das entscheidende Moment für die nahende Armut derselben war: Ich hätte jedoch dieses alles überwinden können, wenn diese Krankheiten nicht entstanden wären.131

Arbeitsunfähigkeit war auch für die Witwe von Herbert J. die direkte Folge ihrer Krankheit, in Form immer wieder auftretender Phasen der Bewusstlosigkeit: Seit Dezember vorigen Jahres bin ich schwer krank und bin in der Zeit auch mit den Sterbesakramenten versehen worden. (…) [Das] älteste 13jährige Mädchen kann ich nicht schicken, weil ich bei meiner Krankheit – seit Wochen muß ich stets das Bett hüten, ich verliere oft stundenlang das Bewußtsein – dieselbe unmöglich entbehren kann.132

Etwas weniger drastisch, in der Konsequenz aber ebenso einschränkend, waren die Auswirkungen der Krankheit auf seine körperliche Leistungsfähigkeit auch für Martin F., dem „Alter“, „körperliches Leiden“ in Form einer „Schwäche in den Füßen“ eine Erwerbstätigkeit „fast unmöglich“ machte.133 Schließlich konnte eine Krankheit auch einfach durch die notwendige Heil- und Ruhephase dem Betroffenen eine Arbeitsaufnahme unmöglich machen.134 128 Vanja, Homo, S. 207 hat für die Frühe Neuzeit gezeigt, dass eine dauerhafte Einschränkung der Arbeitskraft bei Unterschichten rasch zu Existenzbedrohung führte. 129 LHAK Best. 491 Nr. 310, Schreiben der Nina M. vom 18. August 1893. 130 KAB-W 2.0.343, Schreiben des Klaus J. vom 12.07.1911 Ähnlich auch LHAK Best. 491 Nr. 310, Schreiben des Klemens J. vom 18.08.1893 und LHAK 491 Nr. 319, Niederschrift des mündlichen Antrags des Schorsch J. vom 16.6.1899. 131 LHAK Best. 655,123 Nr. 967, Schreiben des Karl J. vom 26. Mai 1909. 132 Ebd., Schreiben der Witwe Herbert J. vom 09. Mai 1905. Unterstreichungen, d. Verf. 133 LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben des Martin F., Mai 1892. Zitat in Kapitel 5.1., S. 251. 134 Beispiele in LHAK Best. 655, 191 Nr. 405, Schreiben der Gerlinde K. vom 21. Januar 1927: „bin die halbe Zeit ans Bett gefesselt“; LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Schreiben der

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Die Perspektive der betroffenen Armen teilten auch die Vertreter der Armenverwaltung. Der Bürgermeister von Simmern konstatierte eine erkrankungsbedingte Armut, als er über die Familie des Albert N. aus Kastellaun berichtete, diese sei eine „bettelarme Familie mit 5 Kindern, die alle idiotisch veranlagt sind und deshalb keinen Verdienst haben.“135 In Bergweiler urteilte der Bürgermeister über die Ehefrau des Barnabas M., diese sei „seit Jahren zum größten Teil eingebildet krank“ und plädierte wiederholt dafür, „dem M. die monatliche Unterstützung von 6 M zu nehmen, weil die Familie sich ohne sie erhalten könne.“136 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Gemeinde die Unterstützung ursprünglich gewährt hatte, weil die Familie sich nach der Erkrankung von Barnabas M. und seiner Ehefrau eben nicht mehr alleine hatte versorgen können. Kurz und bündig benannte schließlich der Landrat von Bitburg den Zusammenhang, als er über die Lage der Familie Samson M. urteilte: Durch die Erkrankung der Frau geriet Fam. M. s. Zt. in eine bedrückende Lage.137

Die zeitliche Streuung der Quellen deutet zudem darauf hin, dass die hier dargestellte Perspektive auf Armut und Krankheit auf der Seite der Betroffenen über den untersuchten Zeitraum hinweg im Wesentlichen unverändert blieb. In der Beurteilung der Verbindung von Armut und Krankheit zeigte sich also insgesamt eine Trennung entlang der Linie zwischen medizinischen Experten und Laien. Während Erste vor allem den Konnex von Armut, die Krankheit hervorruft, betrachteten, stellten Letzte die Verbindung von Krankheit, welche Armut nach sich zieht, in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen. Gemeinsam war beiden Seiten damit eine situativ-pragmatische Deutung der Verbindung von Armut und Krankheit. Die ärztliche Beurteilung resultierte vor allem aus der Fachperspektive der Epidemiebeobachtung für die Sanitätsberichte, in deren Zusammenhang diese eben auch Einflüsse der wirtschaftlichen Lage der Betroffenen bewerteten. Für die Betroffenen stand vor allem der „durch ihren milieuspezifischen Habitus und ihre sozioökonomischen Ressourcen“ bedingte Blick auf die eigene konkrete Lage und die akuten Konsequenzen von Krankheit und Arbeitsunfähigkeit im Vordergrund.138 Damit Ehefrau Hermann B. vom 20. Juli 1931: „bettlägerig krank und bei Dr. Angen in Behandlung.“; Ebd., Nr. 1040, Schreiben des Klaus W. vom 06. Februar 1914: „Hierdurch teile ich mit, daß ich seit einigen Monaten krank darniederliege.“ 135 LHAK Best. 655,14 Nr. 311, Schreiben des Bürgermeisters zu Kastellaun an den Landrat zu Simmern vom 12. September 1922. 136 KAB-W 2.0.541, Schreiben des Bürgermeisters vom 23. Oktober 1905. 137 LHAK Best. 655,191 Nr. 411, Schreiben des Landrates vom 29. März 1932. Ähnlich auch der Fall Ewald J. aus Bernkastel-Kues: „Herr Pfarrer Faßbinder aus Erden teilt hier mit, daß der Vorgenannte, der bereits seit etwa 8 Wochen an Lungen- und Rippenfellentzündung erkrankt ist, sich in großer Notlage befinde. Es fehle am notwendigsten Lebensbedarf im Hause, insbesondere sei die kräftige Ernährung, die zur Wiederherstellung der Gesundheit notwendig sei, nicht vorhanden.“ LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Schreiben des Kreisausschusses vom 11. Juli 1930. 138 Lachmund/Stollberg, Patientenwelten, S. 221.

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scheint der Blick der Armen für die Bedeutung des Risikofaktors Krankheit für den Eintritt in eine armutsbedingte Exklusionsspirale wesentlich geschärfter gewesen zu sein. Die Armen selbst kannten „manche Stufen und Auswirkungen von Armut, die nicht nach aussen treten und deshalb nicht als solche anerkannt sind.“139 Ein allmählicher Wandel der Wahrnehmung zugunsten einer zunehmend fachmedizinisch geprägte Beurteilung zeigte sich schließlich an der bis in die dreißiger Jahre verbreiteten Mangelernährung ländlicher Armer. Unter dem Einfluss einer vorangehenden ärztlichen Wahrnehmung als Krankheit veränderte sich die Rezeption von Mangelernährung von einer aus der Relation zur Alltagserfahrung heraus bedingten Nicht-Wahrnehmung zu einer spezifisch medizinischen Deutung mit Anspruch auf Änderung der Lage.

139 Gysin-Scholer, Krank, S. 29.

Kapitel 6: Auf der Suche nach Heilung War ein Betroffener in seiner Selbstwahrnehmung aus sich heraus oder durch Einwirken anderer Personen dahin gekommen, sich selbst als „krank“ anzusehen, bestand der nachfolgende Schritt verständlicherweise darin, den geeigneten Weg und Helfer zur Gesundung ausfindig zu machen. Im vorliegenden Kapitel wird es darum gehen, die verschiedenen Faktoren und ihren jeweiligen Einfluss, den sie auf die Entscheidung des Kranken hatten, herauszufinden. Zur Untersuchung der Einflussfaktoren und ihrer Bedeutung ist zunächst zu klären, inwiefern die Art der Erkrankung des Betroffenen selbst die Wahl einer Heilalternative beeinflusste, ob also Zusammenhänge zwischen bestimmten Krankheitsbildern und bestimmten Entscheidungen in der Wahl des Heilweges bestanden. Dies geschieht in Bezug auf die bereits im ersten Teil der Arbeit differenzierten Wege von ärztlicher, laienmedizinischer und selbsthelfender Behandlung. Da die vorliegenden Quellen nur wenig präzise Angaben zu den konkreten Erkrankungen liefern und zudem statistische Daten zur Behandlung von Krankheiten bei Armen nur sehr vereinzelt vorhanden sind, lassen sich die Erkrankungen letztlich nur sehr groben Krankheitskategorien zuordnen. Unterschieden werden sollen daher an dieser Stelle nur Erkrankungen, die einer chirurgischen Behandlung bedurften (Knochenbrüche, größere Operationen etc.), innere Erkrankungen sowie leichtere äußere Verletzungen (Schnittwunden, kleinere Blutungen etc.). Diese Zuordnungen sind jedoch keinesfalls als Versuch einer retrospektiven Diagnose zu verstehen, für welche – ganz abgesehen von prinzipiellen Schwierigkeiten – hier keine ausreichende Quellenbasis gegeben ist. An zweiter Stelle steht die Untersuchung von Alternativen zur getroffenen Entscheidung. Hierunter ist vor allem zu verstehen, inwiefern strukturelle Gegebenheiten wie die räumliche Entfernung oder die zu erwartenden Kosten einer Behandlung Einfluss auf die Wahl des Heilweges besaßen. Selbige Prüfung ist dann auch für die subjektiven Faktoren, wie die Kompetenzbewertung der verschiedenen Heiler und das diesen geschenkte Vertrauen von Seiten der betroffenen Kranken, zu unternehmen. Zum Abschluss dieser generellen Be 

 

Zu den Schwierigkeiten des – hier unterlassenen – Versuchs einer retrospektiven Diagnose siehe die Einführung zum vorhergehenden Kapitel. Die genauer untersuchten Faktoren ergaben sich in der Durchführung aus wechselseitigen Einflüssen von (Vor-)Annahmen und Analyseergebnissen, werden aus Darstellungsgründen im Folgenden aber systematisch und nicht in der Reihenfolge ihrer Herleitung behandelt. Zu den Schwierigkeiten der Retrodiagnose generell vgl. Leven, Diagnose und Graumann, Krankengeschichten. Zu den spezifischen Schwierigkeiten in Armenbriefen dazu Marx, Narratives. Aufgrund der Quellenlage müssen die Untersuchungen in erster Linie am Beispiel der Ärzte unternommen werden.

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trachtungen wird an einem konkreten Fallbeispiel das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren aufgezeigt. Im Anschluss werden dann in zwei Abschnitten die spezielleren Situationen der stationären Krankenversorgung und der Heilungssuche im Feld der Religion beleuchtet. Soweit möglich, ist ein besonderes Augenmerk innerhalb der Einzeluntersuchungen auf einen eventuellen zeitlichen Wandel im jeweiligen Feld gerichtet. 6.1. Erkrankungen Erkrankungen in ärztlicher Behandlung Da für den hier untersuchten Raum keine Krankenjournale oder ähnliche serielle Quellen vorhanden sind, die Auskunft über das regionale Krankheitsspektrum geben könnten, bleiben Aussagen über die ärztlich behandelten Krankheiten letztlich nur aufgrund von Einzelbefunden möglich. Den erhaltenen Quellen zufolge wurden akademische Mediziner vielfach dann konsultiert, wenn es sich bei den Erkrankungen um länger dauernde, innere Erkrankungen handelte. Beispiele für solche Fälle sind etwa die „Schwächung“ des Anton P., die der Zeltinger Arzt 1928 behandelte oder die armenärztliche Behandlung der „schon seit ungefähr 3 Jahren“ kranken Gerda K. In anderen Fällen wurden die genannten Leiden präziser als innere Erkrankungen sichtbar. Katja P. etwa bedurfte ärztlicher Behandlung „wegen meinem Ohr und wegen den Flechten“, Hans J. war „schon seit 8 Tagen vor Pfingsten mit Kopfleiden und Nervosität sehr leidend“ und deshalb beim örtlichen Arzt Dr. Alexander in Behandlung. Die Ehefrau von Bastian H. bedurfte wegen „chronischer Nierenerkrankung“ des Arztes und Gisela K. musste zusätzlich zu ihrer bis dahin erfolgten Arztbehandlung wegen „Drüsenvereiterung“ sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden.    

Das Krankheitsspektrum einer landärztlichen Praxis untersucht Unterkircher, Praxis, S. 228–234, der besonders die Notwendigkeit eines geschlechtsspezifischen Blicks hervorhebt. Auch ein solcher ist mit dem hier vorliegenden Quellenmaterial nicht zu leisten. LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Antrag des Franz P. auf armenärztliche Behandlung seines Sohnes Anton P. vom 06. November 1928; Ebd., Nr. 967, Antrag der Ehefrau Justus K. auf armenärztliche Behandlung für ihre Tochter Katharina vom 03. Juni 1908. LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben der Katja P. vom 27.10.1899; KAB-W 2.0.343, Schreiben des Josef Hauth vom 17. Juli 1912. LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Schreiben der Ehefrau Hermann B. vom 20. Juli 1931; Ebd., Schreiben des Matthias K. vom 10. November 1931. Für die Stadt Trier sind einige Aufzeichnungen zweier Armenärzte in Form knapper Listen der behandelten Personen mit Angabe der jeweiligen Erkrankung erhalten geblieben. Auch die dort aufgeführten Erkrankungen lassen sich zum überwiegenden Teil dem Feld der inneren Krankheiten zuordnen. Die verzeichneten chirurgisch zu versorgenden Erkrankungen sind im Wesentlichen mit der leichteren Erreichbarkeit des Armenarztes im städtischen Umfeld zu erklären. LHAK Best. 442 Nr. 3894–3897, Sanitätsberichte für den Stadtkreis Trier 1891– 1896, darin Berichte der Armenärzte, passim.

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Doch sahen sich auch Ärzte mit Patienten konfrontiert, die chirurgischer Behandlungen bedurften. Einen wohl sehr einfachen Fall stellte die „Entzündung des linken Fußgelenks“ der Frau Friedhelm J. aus Dorweiler dar, welche vor allem aufgrund ihrer langen Dauer „seit dem Monat November vorigen Jahres“ Probleme bereitete. In anderen überlieferten Fällen scheint es sich bei den chirurgischen Behandlungen oft um Erkrankungen gehandelt zu haben, die größerer operativer Eingriffe bedurften. Der Tagelöhner Balduin J. etwa hatte „ein Kind von 6 Monaten, dass an Klumpfuß leide und dringend spezialärztlicher Behandlung bedürfe“.10 Einer operativen Behandlung seiner „Mittelohreiterung“ bedurfte auch Laurenz J.: die Heilung konnte aber nur durch unbedingte totale Aufmeißelung des Felsentürchens (?) hinterm rechten Ohr bewerkstelligt werden11

Den Fall einer besonders schweren Operation bildete schließlich die Frau des Isidor I. aus Zeltingen: Seit Okt. vr. Jahres ist meine Frau in ärztlicher Behandlung. Im Januar ds. Jahres war sie 3 Wochen im Marienkrankenhaus Trier aber wegen Entbindung mußte sie ins Wöchnerinnenheim in Trier. Seit 23. März ds. Jahres ist sie wieder im Marienkrankenhaus zur weiteren Behandlung und mußte sich einer der schwersten Operation (Entfernung des linken Oberkiefer, Augenhöhle mit dem Auge) unterziehen. Um die Sprache sowie Zahnersatz zur besseren Verdauung zur erhalten, benötigt sie einen Kunstkiefer und Gebiß welches hunderte von Mark kostet, dessen Kosten ich unmöglich bestreiten kann.12

Die chirurgische Behandlung durch Ärzte scheint diesen Belegen nach in erster Linie in denjenigen Fällen in Anspruch genommen worden zu sein, die bereits nach Auffassung der Betroffenen als sehr schwer galten. Hinweise auf die Versorgung leichterer äußerer Verletzungen wie Schnittwunden etc. durch Ärzte fehlen hingegen.13 Erkrankungen in der Behandlung von Laienheilern Wie im zweiten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde, lassen sich unter dem Begriff der Laienheiler zahlreiche verschiedene Heilkundepraktiken subsumieren.14 Eine entsprechende innere Differenzierung ist also auch bei den folgenden Ausführungen zu beachten. Im Bereich der chirurgischen Behandlungen waren offenbar bevorzugt die schweren Fälle Gegenstand ärztlicher Versorgung.  LHAK Best. 491 Nr. 319, Attest vom 28. März 1894. 10 KAB-W 2.0.541, Protokoll der mündlichen Antragstellung des Balduin J. vom 21. Juli 1904. 11 LHAK Best. 491 Nr. 319, Schreiben des Laurenz J. vom 03. Februar 1912. Auch wenn J. Löf wohl kaum die operative Behandlung voraussehen konnte, waren seine vermutlichen Ohrenschmerzen doch offenbar so stark, dass er sich für den Arzt als Heiler entschied. 12 LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Schreiben des Isidor I. vom 30. September 1928. 13 Dies schließt allerdings nicht aus, dass Arme mit bereits bestehendem armenärztlichen Behandlungsanspruch in einem solchen Fall den Arzt aufsuchten, ohne dass dies in den eingesehenen Quellen Niederschlag fand. 14 Siehe dazu Kapitel 1.6.

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Die Mehrzahl der leichteren und einfachen Verletzungen aus diesem Bereich wurde den Quellen zufolge hingegen von den als „Knochenflickern“ bezeichneten chirurgisch tätigen Laienheilern behandelt. Nikolaus J. aus Kirn-Baerenbach etwa behandelte „jeden Mittwoch in dem dortigen Gasthofe (…) Knochenbrüche und Verrenkungen“.15 Die Laienheiler scheinen durchaus häufig in Anspruch genommen worden zu sein, worauf auch der Bitburger Kreisarzt in seinem Bericht verwies („genießt viel Vertrauen“).16 Ähnlich vermerkte auch der Jahresbericht des Bitburger Kreisarztes 1905 den „großen Umfang“, in welchem zwei Laienheiler in der „Behandlung von Knochenbrüchen und Verrenkungen“ tätig waren.17 Laienheiler wurden aber auch in Fällen innerer Erkrankungen konsultiert. In Rupperath, Kreis Bernkastel, wurden – so die Klage des Kreisarztes – Diphtheriekranke „von denen ein Teil überhaupt der ärztlichen Pflege entzogen blieb (…) einem in Morscheidt wohnenden Kurpfuscher anvertraut“ und der Manderscheider Distriktarzt berichtete, dass die Tochter des Siegfried P. aus Pantenburg von einem Laienheiler „längere Zeit behandelt worden [sei], d. h. Pülverchen von ihm eingenommen habe.“18 Eine Rolle hat dabei sicherlich gespielt, dass die gewerbsmäßigen Heiler oftmals mit öffentlichen Bekanntmachungen, Zeitungsanzeigen oder gezielter Mundpropaganda für ihre Tätigkeit Werbung betrieben. Der in der Rheinprovinz relativ bekannte Laienheiler Hans Peter Jürgensen etwa bewarb in Bekanntmachungen seine Kompetenzen, „offene Beinschäden, Krampfadergeschwüre und Hautkrankheiten, Lupus (fressende Flechte)“ zu heilen und veranstaltete regelmäßige Sprechstunden.19 Auf die Wirkung der Mundpropaganda in diesem Fall verwies Bernd L. aus Kottenschmalbach in einer Beschwerde an den Koblenzer Regierungspräsidenten, indem ihm „als tüchtiger Arzt in offenen Wunden Doktor Jürgensen empfohlen worden“ sei.20 Die mangelnde Repräsentativität der Quellen lässt endgültige Aussagen über die Bedeutung der Erkrankung für die Wahl zwischen Ärzten und Laienheilkundigen nicht zu. Es deutet sich jedoch an, dass die Erstgenannten bevorzugt bei größeren chirurgischen Eingriffen konsultiert wurden, Letzte hingegen bei leichteren Verletzungen dieser Art. Innere Erkrankungen scheinen hingegen von beiden behandelt worden zu sein. Offenbar verhielten sich die 15 LHAK Best. 442 Nr. 3895, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für das Jahr 1892, S. 23. 16 LHAK Best. 442 Nr. 3897, Sanitätsbericht für den Kreis Bitburg für das Jahr 1894, S. 81, Zitat vgl. S. 292. 17 LHAK Best. 442 Nr. 3909, Verzeichnis derjenigen Personen, die, ohne approbiert zu sein, gewerbsmässig die Heilkunde ausüben, S. 199ff. 18 LHAK Best. 442 Nr. 3895, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für das Jahr 1892, S. 15; LHAK Best. 403 Nr. 11070, Schreiben des Distriktarztes von Manderscheid vom 12. Juli 1861. 19 LHAK Best. 403 Nr. 11070, Saarbrücker Zeitung vom 24. März 1897. Zum Fall Jürgensen siehe auch Marx, Scientific Medicine, S. 200–201. 20 LHAK Best. 403 Nr. 11070, S. 131–133. Abschrift der Beschwerde des Bernd L. vom 06. Februar 1898.

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Betroffenen in dieser Sache nicht dogmatisch, sondern orientierten sich pragmatisch an ihrer Gesundung und waren auch bereit zwischen unterschiedlichen Wegen hin und her zu wechseln.21 Selbsthilfe im Erkrankungsfall Nur sehr knapp können quellenbedingt auch die Ausführungen zur Selbsthilfe als Weg der Heilung ausfallen.22 Die Antragsteller berichten kaum von ihren Versuchen, im Krankheitsfalle mit eigenen Mitteln auszukommen. Die Briefe selbst sind aber in vielen Fällen glaubwürdige Zeugnisse einer familiären oder auch nachbarschaftlichen Selbsthilfe, wenn etwa auf geleistete Pflege von Verwandten oder Bekannten verwiesen wird.23 Die Formulierungen und vor allem die Zeitangaben in entsprechend auswertbaren Schreiben deuten darauf hin, dass Praktiken der Selbsthilfe vor allem in der Anfangsphase von langwierigen Erkrankungen eine Alternative zur Behandlung durch Spezialisten waren.24 Helmut M. beispielsweise zog erst circa vier Wochen nachdem seine Frau krank geworden war einen Arzt hinzu.25 Auch Arnim M. aus Zeltingen erwähnte keinerlei ärztliche Hilfe oder Befürwortung seiner Bitte, als er um Aufnahme seines Sohnes, „der nun schon 12 Wochen an Gelenkentzündung und Herzleiden schon krank darniederliegt“ in das örtliche Krankenkloster bat.26 Johannes L. aus Zeltingen schließlich wandte sich erst nachdem seine Frau bereits vier Wochen krank war aus Geldmangel an die Gemeinde.27 Der Umstand, dass die Betroffenen zunächst versuchten, die Krankheit mit eige21 So beispielsweise die Ehefrau Barnabas M., die nach ausbleibendem Erfolg des Arztes extra ein Medikament aus England beschaffen ließ. KAB-W 2.0.541, Schreiben der Ehefrau Barnabas M. vom 25. Januar 1906. Ähnlich urteilt auch Hoffmann, Bräker, S. 131– 132. 22 Eine detailliertere Untersuchung versucht Hoffmann in Ebd., insbes. S. 119–123. Allerdings verweist auch sie darauf, dass Bräker in erster Linie Kontakte zu Ärzten und Chirurgen in seinem Tagebuch dokumentiert (133–134). 23 Vgl. Sokoll, Old Age, S. 135. Zur Glaubwürdigkeit der Briefe siehe auch die Einleitung zu Teil III der Arbeit. 24 Martin Dinges hat in Untersuchungen zu Briefwechseln zwischen Mütter und Söhnen die besondere Funktion der Mutter in der familiären Gesundheitshilfe herausgestellt. Dinges, Mütter, S. 105–107. 25 KAB-W 2.0.343, Schreiben des Helmut M. vom 03. Juli 1912. Die Formulierung ist allerdings nicht ganz eindeutig, so dass der Arzt ggfs. auch bereits früher gerufen worden sein könnte. 26 LHAK Best. 655,123 Nr. 967. Ähnlich auch ebd., Schreiben des Kurt K. vom 22. Mai 1903: „Da ich in Folge einer schweren Krankheit schon den ganzen Winter hindurch bettlägerig war, wodurch sich meine Frau durch die Pflege ganz aufgeopfert hat, Folge dessen jetzt mit der Lungenentzündung schwer krank darnieder liegt und ich selbst noch nicht wieder gesund bin und noch der Pflege bedarf, bin ich gezwungen fremde Beihülfe in Anspruch zu nehmen.“ Einerseits könnten die spezifischen Bezeichnungen der Erkrankungen auf die Konsultation eines Arztes hindeuten, andererseits wurde in den Anträgen häufig auf befürwortende Atteste der Ärzte hingewiesen. Vgl. dazu Kapitel 9.1.2. 27 Auch die vorherige Privatkonsultation eines Arztes ist eher auszuschließen, da die Antragsteller in solchen Fällen fast immer zugleich die Kostenübernahme durch die Ge-

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nen Mitteln zu überwinden und erst später einen Arzt oder Heiler konsultierten, ist einsichtig damit zu erklären, dass viele Erkrankungen zunächst mit Symptomen allgemeinen Unwohlseins verbunden waren oder als Bagatellerkrankungen erschienen. Erst im weiteren Verlauf der Krankheit stellte sich dann heraus, dass sie doch die Hilfe heilkundlicher Experten erforderte. 28 Am Rande zu erwähnen ist, dass in den Bereich der Selbsthilfe zudem wohl auch volkstümlich bekannte Formen der Krankheitsprävention fielen. Ein sicherlich belustigendes Beispiel hierfür mag abschließend der Bericht des Bernkasteler Kreisarztes über die angenommene Schutzwirkung von Weingenuss gegen Lungenentzündung bieten: Als ein Schutzmittel wird an der Mosel der Genuß alkoholhaltiger Getränke und vorzüglich des Weines angesehen, und in der That habe ich gefunden, daß gute Weine in nicht zu geringen Quantitäten genossen, nicht nur ein nicht ungeeignetes Präservativ, sondern sogar ein vortreffliches Heilmittel waren. Leute, die gewohnt waren, größere Mengen von Wein zu sich zu nehmen, zumal von den Credienzen der letzten vier Jahre, und diese Zahl ist an der Mosel nicht gering, wurden entweder ganz von der Krankheit verschont, oder wurden von ihr nur in sehr leichter Weise affizirt. Einige Ärzte wollen behaupten, daß die Influenza eine nicht geringe Menge von Säufern gemacht habe.29

Zusammenfassend ist der Einfluss der Erkrankung auf die Wahl des Heilers ambivalent zu bewerten. Im Falle von Erkrankungen oder Verletzungen, die offensichtlich chirurgischer Hilfe bedurften, wurden offenbar relativ rasch entsprechende medizinische Spezialisten aufgesucht. Je nach Schwere des nötigen Eingriffs waren dies in leichteren Fällen mehrheitlich laienheilkundige Knochenflicker; für schwerere Eingriffe oder gar aufwendige Operationen wurden hingegen Ärzte aufgesucht. Innere Krankheiten wurden demgegenüber offenbar zunächst in Selbsthilfe angegangen. Erst bei längerer Dauer oder auftretenden Komplikationen wurden Laienheiler oder Ärzte konsultiert, wobei eine eindeutige Bevorzugung einer Gruppe ebenso wie eine Wahl nach sozialem Status von betroffenem Kranken oder Heiler nicht zu erkennen ist.30 Damit unterschieden sich die Armen in ihrem Verhalten wenig von den Angehörigen anderer sozialer Schichten.31 Die Inanspruchnahme volkstümlicher Behandlungspraktiken war offenbar weniger durch fehlende Zugänge zu ‚moderner’ medizinischer Versorgung bestimmt, sondern eher durch das fallspezifische Vertrauen der Betroffenen in heilkundige Kenntnisse ihres unmittelbaren Umfeldes beeinflusst.32 Im Ganzen deuten diese Verhaltensweisen – so sie als Muster zu bezeichnen sind – auf einen pragmatischen Umgang der Betroffenen mit ihren jewei-

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meinde beantragten. LHAK Best. 655,123 Nr. 967, Unterstützungsgesuch des Johannes L. vom 24. Dezember 1906. Vgl. dazu Dinges, Aushandeln, S. 13. LHAK Best. 442 Nr. 3896, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für 1893, S. 22–23. Vgl. dazu Brockliss/Jones, Medical World, S. 296. Lachmund/Stollberg, Patientenwelten, S. 69 sehen ein ähnliches Muster für bürgerliche Patienten. So auch Simon, Volksmedizin, S. 11–21.

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ligen Erkrankungen hin. Konnte eine Erkrankung selbst behandelt werden, wurde dies getan, nur andernfalls wurde ein Arzt oder Heiler mit größeren medizinischen Kenntnissen aufgesucht. Vorhandene professionelle Möglichkeiten der Behandlung wurden nachgeordnet in Anspruch genommen.33 Welche weiteren Kriterien für deren Wahl eine Rolle spielten, wird in den folgenden Abschnitten untersucht. 6.2. Zugang zur Heilung – Kosten, Raum, Vertrauen Neben der eigentlichen Erkrankung waren die durch die Behandlung entstehenden Kosten ein Faktor, der bei der Entscheidung für eine Behandlung für Arme sicherlich eine Rolle spielte.34 Im ländlichen Raum mit seinen erst allmählich verbesserten Kommunikations- und Verkehrswegen und der im Vergleich zu Städten dünneren Besiedlung und geringeren Dichte des gesundheitlichen Versorgungsnetzes war im Hinblick auf den praktischen Zugang zu Behandlungsmöglichkeiten auch die räumliche Entfernung zu heilkundigen Personen ein wichtiger Faktor. Kosten Die Bedeutung des Kostenfaktors für die Entscheidung über einen bestimmten Weg zur Heilung für – allerdings städtische – „working-class patients“ im frühen 20. Jahrhundert hat Anne Digby betont: „Cheapness was of central importance and in any cost/benefit analysis a low cash fee – which included both consultations and medicine – took priority.“35 Auf den ersten Blick mag die Frage der Kosten und ihrer Trägerschaft für ländliche Arme in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz obsolet erscheinen, schließlich bestand seit langem ein System von Distriktärzten mit kostenloser Behandlung für Arme. Dieses hatte zumindest am Ende des 19. Jahrhunderts eine Ausbreitung erreicht, die es praktisch jedem Armen ermöglichte, einen Distriktarzt in der eigenen Bürgermeisterei zu konsultieren. Viele Fälle, in denen Betroffene unter Verweis auf ihre Armut im Vorfeld der Konsultation armenärztliche Behandlung beantragten, legen die Vermutung nahe, die Entscheidung für eine ärzt-

33 Damit unterschied sich dieses Verhalten prinzipiell nur wenig von vergleichbarem Vorgehen bei Ulrich Bräker gut zwei Jahrhunderte zuvor. Vgl. Hoffmann, Bräker, S. 128–129. 34 Natürlich spielte diese Kostenfrage auch für andere Bevölkerungsschichten eine wichtige Rolle. Wie hoch die Belastungen durch Krankheits- und Behandlungskosten waren und inwiefern diese Belastungen ein Hilfeersuchen im Rahmen der Armenfürsorge provozierten, wird detaillierter in Kapitel 8 diskutiert werden. 35 Digby, Encounters, S. 98. Ähnlich Esser, Praktischer Arzt, S. 50. Digby, Making, S. 3 zufolge bestimmt die Fähigkeit, einen Arzt zu bezahlen, das eigene Niveau der Gesundheit und die Vorstellungen von Gesundheit.

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liche Behandlung sei hier gefallen, da die entsprechenden Kosten nicht selbst getragen werden mussten.36 Robert P. aus Kastellaun etwa beantragte für seine an Scharlach erkrankte Tochter Armenbehandlung und ging anschließend mit der erhaltenen Bescheinigung zum Arzt.37 Auch die Ehefrau von Jupp T. aus Zeltingen beantragte die armenärztliche Behandlung für ihren kleinen Sohn, da dessen Typhuserkrankung „viele Kosten“ verursachte.38 Die entlastende Wirkung der Kostenübernahme betonte auch die Witwe Maria W., die um die Wiederbewilligung ihrer kostenlosen Arzt- und Apothekenversorgung bat.39 Dass der Kostenfaktor offenbar dennoch nicht zwingend dominant in der Entscheidung für eine bestimmte Behandlung war, zeigt aber etwa das Schreiben der Witwe des Fritz A. an den Bürgermeister der Gemeinde Zeltingen: Wie vielleicht bekannt ist bin ich stets kränkelnd und habe ich während des verflossenen Jahres Ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen. (…) Ich weiß wirklich nicht, wo ich das Geld zur Tilgung der Doktor und Apotheker-Rechnungen her nehmen soll.40

Offensichtlich hatte die Witwe sich für die ärztliche Behandlung entschieden, ohne eine Kostenübernahme im Vorfeld abgesichert zu haben. Die Kostenfrage war demnach in diesem Fall nicht der bestimmende Faktor in der Entscheidung. Vergleichbar hatte auch die Witwe von Gerald N. aus Matzen nach einer schweren Unfallverletzung ihres sechsjährigen Sohnes von sich aus den Arzt aufgesucht: [Ursache war ein Fuhrwerkunfall mit schwerer Kopfverletzung,] „die eine ärztliche Behandlung erforderte und auch eine [acht]tägige Krankenhausbehandlung, und jetzt muß ich ihn 3mal in der Woche dem Arzt in Bitburg vorstellen. Durch die ärztliche Behandlung entstehen mir bedeutende Unkosten die zu zahlen ich nicht in der Lage bin.“41 Einzuwenden wäre an dieser Stelle, dass gerade arme Witwen zur hauptsächlichen Klientel der Armenfürsorge zählten, die Witwen von Fritz A. und Gerald N. also mit einiger Sicherheit davon ausgehen konnte, ihre Behandlungskosten finanziert zu bekommen. Im ähnlich gelagerten Fall des Franz P. aus Zeltingen gilt dieser Einwand hingegen nicht.42 Auch Franz P. beantragte für seinen an „Schwächung“ erkrankten Sohn Anton P. eine Kostenüber36 Auf die Bedeutung von Kosten als Entscheidungsargument verweist auch Wolff, Pockenschutzimpfung, S. 439. 37 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Niederschrift der Beschwerde des Robert P. vom 18. August 1898. 38 LHAK Best. 655,123 Nr. 967, Schreiben der Ehefrau Jupp T. vom 24. Februar 1908. Ähnlich auch Ebd. Nr. 1040, Schreiben des Klaus W. vom 06. Februar 1914: „Mein Zustand macht eine ärztliche Behandlung nötig, da ich nichts Festes mehr zu mir nehmen kann. Weil ich aber mittellos bin, bitte ich ergebenst, die ärztliche Behandlung und die entsprechenden Arzneien (…) gütigst auf die Armenkasse übernehmen zu wollen.“ 39 LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben der Witwe Maria W. vom 09, Februar 1909. 40 LHAK Best. 655,123 Nr. 967, Schreiben der Witwe Fritz A. vom 15. Februar 1904. 41 LHAK Best. 655,191 Nr. 411, Schreiben der Witwe Gerald N. vom 24. Oktober 1921. 42 LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Antrag des Franz P. aus Zeltingen vom 06. November 1928.

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nahme. Der Verweis auf den „behandelnden Arzt“ zeigt, dass auch hier der Arzt konsultiert worden war, bevor die Kostenübernahme beantragt wurde. Anders als die Witwe von Fritz A. aber konnte Franz P. als durchaus vermögender Winzer nicht unbedingt von einer Übernahme seiner Krankheitskosten ausgehen.43 In der Forschung ist formuliert worden, Entscheidungen für den Armenarzt seien letztlich kein Zeichen für die Akzeptanz von dessen Angebot, sondern nur Ausdruck äußerer Zwänge der Betroffenen.44 Dagegen deuten die angeführten Beispiele an, zusammen mit ähnlichen Ergebnissen der Untersuchungen Susanne Hoffmanns zu Ulrich Bräker45, dass die Wahl des Arztes – beziehungsweise des Heilers allgemein – auch bei Armen nicht allein durch Kostenüberlegungen, sondern ebenfalls durch intrinsische Motive bestimmt war. Raum Obwohl die Zunahme der Ärztezahl im Untersuchungsraum und die verbesserte Verkehrerschließung die Konsultation von Ärzten im Laufe der Zeit erleichterten, weisen zahlreiche Klagen über große Entfernungen zum nächsten Arzt darauf hin, dass bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beim Besuch eines Arztes im Eifel-Hunsrück-Gebiet größere Entfernungen zu überbrücken waren.46 Sanitätsrat Dr. Alexander aus Bernkastel schrieb beispielsweise über eine Diphtherieepidemie im Kreis im Jahr 1890: Am heftigsten trat das Leiden in Horath, einem kleinen Ort der Bürgermeisterei Neumagen auf, wo von 20 Erkrankten 4 starben. Die Heftigkeit der Epidemie glaube ich zum teil der Mühe, einen Arzt herbeizubekommen, zuschreiben zu müssen, da sowohl nach Thalfang als Neumagen hin die Entfernung über 10 Kilometer beträgt.47

Die Familie von Willibald D. aus Wolf sah sich nach dessen nächtlichem Schlag­ anfall gezwungen, einen Arzt aus Traben zu rufen „da es unmöglich gewesen 43 Die Vermögensangabe im Antrag lautete: „4000 qm Weinberg, 31 a Land und Wiesen, 36 a Gemeindenutzung, 2 Kühe, gepachtet 1100 qm Weinberge, 43 a Land.“ 44 Gunnar Stollberg hat die Entscheidung eines Kranken für einen bestimmten „Sektor“ der Gesundheitshilfesysteme einer Gesellschaft abhängig von der Bedeutung finanzieller Überlegungen als „starke“ oder „schwache“ Entscheidung charakterisiert. Die vor allem finanziell bedingte Entscheidung gilt ihm dabei als die „schwache“ Variante, sind hier doch nicht die Wirksamkeit der Heilungsalternativen sondern deren Bezahlbarkeit der dominante Faktor der Entscheidung. Stollberg sieht vor allem dann eine „starke“ Entscheidung gegeben, wenn sich die Betroffenen für ein Heilangebot aus dem „popular sector“ – Familienmitglieder und Laienheiler – entschieden. Vor diesem Hintergrund wären Entscheidungen von Armen für den Armenarzt von vorneherein als „schwache“ Entscheidungen zu interpretieren, da sie stets durch die Armut determiniert seien. Vgl. Stollberg, Health, S. 267ff. 45 Hoffmann, Bräker, S. 136. 46 Zu entsprechenden Klagen von Ärzten vgl. Vieler, Arztpraxis, S. 29 und Esser, Praktischer Arzt, S. 54–55. 47 LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel 1890, S. 195.

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ist, den Arzt von Zeltingen in der Nacht nach Wolf zu bestellen“.48 Über die Lage im Kreis Daun schrieb der dortige Landrat 1916: In der Winterzeit bei Schnee und Glatteis ist schon bei Tagezeit auf Heranziehung dieser beiden Ärzte kaum zu rechnen. (…) Bemerkt muss hier noch werden, dass durch die Heranziehung der weit entfernt wohnenden Aerzte den in Betracht kommenden Leuten unverhältnismässig hohe Kosten entstanden sind, die teilweise nur durch Zuwendungen von Unterstützungen aufgebracht werden konnten. Bei einer Entbindung in Rengen, 4 km von Daun entfernt, war erst 4 Stunden nach der Geburt ein Arzt von Kehlberg, Kreis Adenau zur Stelle.49

Werner J., der offenbar in Trier lebte aber von der Gemeinde Irrel unterstützt wurde, bat 1924 sogar um eine Überweisung ins Krankenhaus „da sein Zustand sich nicht gebessert habe, er bei seiner Krankheit den weiten Weg von Trier nach Irrel zur Sprechstunde nicht machen könne und weil er im Krankenhaus bessere Pflege habe als zu Hause.“50 Sehr drastische Auswirkungen hatte die räumliche Distanz schließlich im Falle der scharlachkranken Tochter des bereits erwähnten Robert P. Als er den Kastellauner Armenarzt um einen Besuch in seinem Wohnort Buch bat, lehnte dieser der Darstellung P.s zufolge mit den Worten „Meinen Sie vielleicht, ich würde bei der Hitze mit nach Buch gehen, ich verschreibe Ihnen etwas“ den Besuch ab und das Kind verstarb kurze Zeit später.51 Obwohl spezifische Aussagen in den Quellen zur Erreichbarkeit von Laienheilern fehlen, zeigt der Blick auf die Verteilung zumindest der gemeldeten gewerbsmäßigen Heiler in den Schwerpunktkreisen52, dass auch zu deren Konsultation je nach eigenem Wohnort des Betroffenen große Entfernungen zurückgelegt werden mussten.53 Die räumliche Entfernung war demnach, wie in anderen Fällen auch, für die hier untersuchte Region mit Sicherheit ein Faktor, der für die Entscheidung über eine Konsultation bedeutsam war.54 Trotz der teilweise sehr ungünstigen Bedingungen für die Erreichbarkeit von Ärzten und Laienheilern lassen einzelne Quellen aber erkennen, dass Betroffene im Krankheitsfall durchaus bereit waren, auch längere Reisewege auf sich zu nehmen. Stefanie J. aus Kirchberg etwa war 1903 bei mindestens zwei Ärzten in Simmern und Rheinböllen in Behandlung, obwohl zu diesem Zeit-

48 LHAK Best. 655,123 Nr. 967, Schreiben des Willibald D. vom 10. April 1903. 49 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 418, Schreiben des Landrates zu Daun vom 05. September 1916. Einschränkend ist allerdings zu bemerken, dass die Situation im Kreis Daun durch einen akuten Ärztemangel angesichts der Einberufungen des Ersten Weltkriegs verschärft worden war. 50 LHAK Best. 459, Nr. 625, Schreiben des Werner J. vom 17. Dezember 1924. 51 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Niederschrift der Beschwerde des Robert P. vom 18. August 1898. 52 Für die den Medizinalberichten nach verbreiteten nichtgewerblichen ‚Dorfheilern’ lassen sich dazu keine gesicherten Aussagen treffen. 53 Siehe dazu die Karten 1–4 im Anhang. 54 Vgl. Unterkircher, Praxis; Loetz, Andere Grenzen; Stolberg, Ländliche Patienten.

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punkt in Kirchberg selbst bereits ein Arzt ansässig war.55 Der Wittlicher Kreisarzt berichtete wiederum 1907 über die Tätigkeit der im Kreis ansässigen Laienheiler, dass deren Tätigkeit „nicht bedeutend [sei], da die Eifelbauern hauptsächlich die Frau in Euren und eine Knochenflickerin in Speicher aufsuchen.“56 Auch die Bedeutung der räumlichen Dimension war demzufolge nicht absolut, sondern wurde von den Betroffenen gegenüber anderen Faktoren abgewogen. Im Ganzen gesehen bestimmten zu erwartende Kosten und räumliche Entfernung der Heilungsangebote sicherlich in vielen Fällen stärker als die eigentlichen Erkrankungen die Entscheidungen der Betroffenen, wo und bei wem sie Hilfe bei ihren Erkrankungen suchten. Dennoch gibt es Beispiele, die zeigen, dass auch diese Faktoren nicht die alleinig bestimmenden für eine endgültige Entscheidung waren. Sie deuten vielmehr an, dass ein wichtiger Entscheidungsgrund das Vertrauen und die Kompetenzzuschreibung gegenüber der gewählten Heilperson waren. Im folgenden Abschnitt sollen diese Elemente näher beleuchtet werden. Vertrauen In den vorangegangenen Abschnitten wurde die Bedeutung des Vertrauensfaktors in der Suche nach Heilung an einigen Stellen bereits deutlich.57 Die nachfolgend verwendeten Quellen erlauben zwar einerseits eine etwas intensivere Untersuchung dieses Faktors, sind aber andererseits in ihrer Aussagekraft auf den Bereich der ärztlichen Medizin beschränkt. Stärker noch als zuvor tritt hier das Problem der mangelnden Aussagen insbesondere zum Bereich der Laienheilkunde in Erscheinung. Für das 18. Jahrhundert konnte Oliver Stenzel Vertrauen als wesentliches Kriterium der Entscheidung zwischen Laienheilkunde und ärztlicher Medizin identifizieren.58 Im hier untersuchten Fall lässt sich quellenbedingt vornehmlich das Vertrauen zu Ärzten untersuchen. Dies ermöglicht zunächst, die Bedeutung des Vertrauensfaktors in Relation zu den Faktoren Kosten und Raum zu betrachten. Zugleich ist Hinblick auf den Vertrauensvorsprung der Laienheilkunde bei Stenzel darauf zu achten, ob und wie weit sich dieses Verhältnis im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gewandelt hatte. In den zeitgenössischen Darstellungen ist ebenso wie in der modernen Forschung für frühere Zeiten häufig auf die „soziokulturelle Distanz“ zwischen

55 LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben der Stefanie J. vom 15. Juni 1903: „Der Herr Dr. Tag in Simmern hat mir geraten, ich solle auf einige Wochen nach dort ins Kloster kommen, mir fehlen aber die Mittel dazu. (…) Ich habe noch 30 Mk bei Hr. Dr. Kaiser in Rheinböllen zu bezahlen, die ich auch zu übernehmen bitte.“ 56 LHAK Best. 442 Nr. 3914, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Wittlich 1906, S. 407. Die beiden genannten Orte liegen in der Nähe von Trier und im Kreis Bitburg. 57 Vertrauen als Bedingung von Behandlung auch bei Stollberg, Health, S. 271. 58 Stenzel, Differenzierung, S. 33–37.

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Arzt und Krankem, insbesondere im ländlichen Bereich verwiesen worden.59 Auch zu Beginn der 1890er Jahre hatten Teile der Landbevölkerung offenbar noch immer größere Vorbehalte gegenüber der ärztlichen Medizin.60 Der Bernkasteler Kreisarzt Dr. Alexander verwies in seinem Jahresbericht für 1890 darauf, dass die Statistik der Todesursachen für seinen Sprengel in ihren Aussagen nach wie vor sehr zweifelhaft war, „weil ein großer Teil der Verstorbenen überhaupt nicht ärztlich behandelt worden [ist].“61 Dieser Befund einer kulturellen Kluft konnte für die Distriktärzte aufgrund ihrer regionalen Herkunft aber zumindest relativiert werden62, da die Ärzte in zunehmenden Teilen der Bevölkerung inzwischen Vertrauen hatten erwerben können. Der Distriktarzt Dr. Alsee im Kreis St. Wendel berichtete so im Rahmen einer Behandlungsbeschreibung 1891: Bereits am dritten Tag wurde der Patient ungeduldig und wendete sich an einen anderen Arzt, aber an Weihnachten ließ er mich wieder zu sich rufen.63

Offenbar entschied sich der betreffende Patient hier gleich zweimal aus mangelndem Vertrauen in die Kompetenz des Arztes für einen Wechsel zu einem anderen Arzt. Im Falle des Armenarztes, dessen Konsultation den Armen vorgeschrieben war, musste solches Verhalten allerdings zwangsläufig zu Auseinandersetzungen mit der Armenverwaltung führen.64 Vorbehalte der Betroffenen gegen einen Arzt aufgrund seiner Position als Armenarzt, wie sie für den städtischen Kontext erkennbar sind65, waren allerdings in den vorliegenden Quellen nicht zu entdecken.66 Die Aussage, die Armenärzte hätten Arme aufgrund ihres Status geradezu abgeschreckt, „weil diese [die Armen, d. Verf.] sich schämten, dass sie sich keinen richtigen Arzt leisten konnten und die Nachbarn den Besuch des Armenarztes sehen könnten“ ist zumindest für den rheinischen Fall zu pauschal und nicht zu halten.67 Hierbei dürfte der Umstand eine Rolle gespielt haben, dass im ländlichen Raum Arme und Nichtarme aufgrund der räumlichen Gegebenheiten faktisch denselben Arzt konsultierten.68

59 Loetz, Patienten, S. 227; Lachmund/Stollberg, Patientenwelten, S. 75. 60 Weber-Grupe stellt dagegen für Nassau zu vergleichbarer Zeit die „These von den Berührungsängsten zwischen der Unterschicht der Bevölkerung und universitär ausgebildeten Ärzten“ in Frage. Ihre rein quantitative Begründung „dazu gab es zu viele Ärzte, waren diese zu präsent“ vermag allerdings nur teilweise zu überzeugen. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 510. 61 LHAK Best. 442 Nr. 3893, Jahresbericht des Kreisarztes zu Bernkastel für das Jahr 1890, S. 187. Zur beschränkten Aussagekraft der Totenstatistiken vgl. Loetz, Patienten, S. 246– 247. 62 Siehe Kapitel 1.2. 63 LHAK Best. 442 Nr. 3894, Sanitätsbericht für den Kreis St. Wendel für das Jahr 1891, S. 572. 64 Siehe dazu auch das Beispiel im folgenden Abschnitt. 65 Lachmund/Stollberg, Patientenwelten, S. 196. 66 Ebenso auch Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 109. 67 Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 9. 68 Vgl. Kapitel 1.4.

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Auch der Bernkasteler Kreisarzt konnte bereits wenige Jahre später feststellen, dass es „anerkennenswert ist, dass jetzt bei dieser Krankheit [Diphtherie] die Eltern gleich im Anfang einen Arzt consultieren.“69 In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts setzte demnach allmählich ein Prozess ein, in dessen Verlauf die Kranken den Ärzten zunehmend mehr Vertrauen in deren Kompetenzen entgegenbrachten.70 Diese Entwicklung schritt in den folgenden Jahren offenbar soweit fort, dass Boris M. aus Zeltingen zur Behandlung seiner Tochter einen Arzt aus St. Johann zuziehen wollte, obwohl der örtliche Arzt Dr. Angen die Erfolgsaussichten mindestens skeptisch beurteilte.71 Boris M. zog hier also bereits zwei ärztliche Ansichten hinzu. Aus dem Jahr 1930 schließlich ist die Bitte des Daniel N. aus Rachtig belegt, der um die Kostenübernahme für die Mandeloperation seiner Tochter bat.72 Bemerkenswert ist der Antrag insofern, als dass Daniel N. vom Kreisarzt im Rahmen einer schulärztlichen Untersuchung auf die Krankheit aufmerksam gemacht worden war und entsprechend dem Urteil des Mediziners innerhalb weniger Tage – die Untersuchung fand am 02. Dezember statt, der Antrag stammt vom 09. Dezember – den Antrag auf Finanzierung einer „fachärztlichen Behandlung“ stellte. Die staatlich eingerichtete Schuluntersuchung durch den Arzt wurde demzufolge von ihm ernstgenommen und die resultierenden Forderungen umgesetzt. Das Vertrauen des Kranken war hier offenbar nicht mehr personal durch Kenntnis des Arztes begründet, sondern äußerte sich als Vertrauen in das medizinische Versorgungssystem als solches.73 Vertrauen in die Kompetenzen des Heilkundigen war offensichtlich ein Faktor der Entscheidungsfindung, der andere Faktoren, wie die Art der Krankheit oder die finanziellen und geographischen Verfügbarkeiten medizinischer Hilfe, dominieren konnte. Betrachtet man das Verhältnis, in dem die unterschiedlichen Entscheidungsgesichtspunkte im jeweiligen Fall in die Entscheidung einflossen, wird deutlich, dass die ländlichen Armen keineswegs dogmatisch an einer bestimmten Behandlungspraxis festhielten, sondern alle Möglichkeiten gegeneinander abwogen und schließlich sehr pragmatisch im – allerdings subjektiven – Sinne der höchstmöglichen Heilungschancen ihrer Erkrankung entschieden.74

69 LHAK Best. 442 Nr. 3896, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für das Jahr 1893, S. 17. 70 Stollberg, Health, S. 269. 71 LHAK Best. 655,123 Nr. 967, Niederschrift des Antrags des Boris M. vom 22. April 1908; Ebd., Bericht des Dr. Angen vom 23. April 1908: „Ob eine Behandlung in St. Johann Erfolg verspricht, muß ich dahin gestellt sein lassen.“ 72 LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Unterstützungsgesuch des Daniel N. vom 09. Dezember 1930. 73 Vgl. hierzu Stenzel, Differenzierung, S. 58–59. 74 Ähnlich betont auch Gunnar Stollberg eine „variety of patterns of medical action“. Stollberg, Health, S. 266.

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6.3. Die Suche nach dem rechten Arzt: Der Fall Ludwig N. Anfang März 1897 beschwerte sich Ludwig N. aus Sabershausen beim Bürgermeister der Bürgermeisterei Kastellaun über die seiner Auffassung nach mangelnde Behandlung durch den Armenarzt Dr. Koch. Die Beschwerde des Ludwig N. löste eine umfangreiche Korrespondenz zwischen Ludwig N. selbst, dem Bürgermeister von Kastellaun, dem Ortsvorsteher von Sabershausen, dem Armenarzt Dr. Koch sowie einem weiteren Kastellauner Arzt, Dr. Jakobs, und einem in Sabershausen ansässigen ehemaligen Lazarettgehilfen aus. Anhand dieser Korrespondenz lassen sich die wesentlichen Ereignisse der beanstandeten Behandlung und das Zusammenwirken der unterschiedlichen Einflussfaktoren bei der Suche nach Heilung anschaulich nachvollziehen. Als Ludwig N. im November 1896 an einem schmerzhaften Geschwulst im Genitalbereich litt, suchte seine Frau am 05. Dezember den Armenarzt Dr. Koch in seiner Kastellauner Praxis auf, um ihn um einen Hausbesuch zu bitten.75 Auch in der vorangegangenen Zeit war Ludwig N. nach Aussage des Dr. Koch „mehrmals vorübergehend“ in seiner armenärztlichen Behandlung gewesen. Die Entscheidung Dr. Koch aufzusuchen, war demnach vor allem auf dessen Armenarztstatus und die daraus resultierende kostenlose Behandlung für Ludwig N. zurückzuführen.76 Da der Arzt für einige Tage verreist war, forderte seine Haushälterin die Frau des Ludwig N. auf, später wiederzukommen. Daraufhin ging Frau N. zum stellvertretenden Bürgermeister und bat diesen um die Erlaubnis, den zweiten ortsansässigen Arzt, Dr. Jakobs, konsultieren zu dürfen, wobei sie wohl angab, Dr. Koch wolle ihren Mann nicht behandeln. Der Armenarzt Dr. Koch besuchte „fast unmittelbar nach Rückkehr von meiner Tour“ den Kranken in Sabershausen, ließ die Flüssigkeit aus dem Geschwulst ab und erteilte einige Verhaltensregeln.77 Acht Tage später bat Frau N. ihn erneut persönlich um einen Besuch, diesmal lehnte Dr. Koch ab und forderte sie auf, ihren Mann zu ihm bringen zu lassen. Dieser Termin verstrich allerdings ungenutzt, da sich niemand im Dorf zu diesem Transport bereit erklärte.78 Dieser Umstand zeigt, dass die räumliche Entfernung zwischen Krankem und Heiler – hier insbesondere bei Krankheiten, welche Bettlägerigkeit nach sich zogen – ein großes Hindernis für die Konsultation darstellte und gegebenenfalls Einfluss auf die Entscheidung für oder gegen eine Konsultation hatte. Zugleich erteilte der Ortsvorsteher von Sabershausen im Dezember der Familie N. die Genehmigung, einige Medikamente von Dr. Jakobs verordnen 75 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Niederschrift der Beschwerde des Ludwig N. vom 10. März 1897. 76 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Schreiben des Dr. Koch vom 02. März 1897. 77 Ebd. Siehe dazu auch Kapitel 7.4. 78 Die nachbarschaftliche Hilfsbereitschaft war in diesem Fall offenbar keineswegs so ausgeprägt, wie die ADV-Befragungen oder zeitgenössische Darstellungen nahe legten. Vgl. die stark idealisierte Darstellung des hilfsbereiten Nachbarn, der im Notfall „eilig zum Arzt reitet“ bei Hürten, Gemeinschaftsgeist.

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zu lassen. Nachdem Dr. Koch davon erfahren hatte, stellte er Frau N., gegen die er „ob ihrer nichtswürdigen Lüge erbost war, in nicht zarten Worten zur Rede“, suchte aber am selben Tag, dem 13. Februar 1897, den kranken Ludwig N. noch einmal zu Hause auf und behandelte ihn erneut.79 Die Nachbehandlung übertrug er einem in Sabershausen ansässigen ehemaligen Lazarettgehilfen. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass Ludwig N. damit offenbar zuvor anstelle der Entscheidung für den Arztbesuch durchaus eine schneller verfügbare Alternative hätte wählen können, sich nach Abwägung aber für den weiter entfernt wohnenden Arzt entschied. Möglicher Grund mag eben die erwähnte kostenlose Behandlung durch den Arzt gewesen sein. Am 15. und am 21. Februar verschrieb Dr. Koch dann nochmals einige Medikamente. Offenbar wandte sich Ludwig N. danach aber an den Ortsvorsteher, um eine Erlaubnis zur Konsultation von Dr. Jakobs zu erhalten und am 23. Februar übernahm dieser die weitere Behandlung.80 In der Begründung seiner Entscheidung ließ Ludwig N. deutlich erkennen, dass nach den mehrfachen vergeblichen Besuchsanfragen eine fehlende Vertrauensbasis der Grund für diese Entscheidung war: Später, nachdem mich Dr. Koch so vernachlässigt und ich absolut kein Vertrauen mehr zu demselben hatte, man ja nicht immer im Fall ein halbdutzendmal zu ihm gehen konnte, um ihn zum Kommen zu bewegen, meldete ich die Angelegenheit dem Vorsteher von Sabershausen und schickte mich dieser zum Arzt Dr. Jakobs, der mich wieder auf die Beine brachte, trotzdem man glaubte, ich würde nicht mehr aufkommen. Ich war nämlich soweit zumuth, dass ich selbst nicht mehr an ein Aufkommen dachte, da das Leiden zu weit fortgeschritten, was ich der Handlungsweise des Dr. Koch zuschreibe. Dieser sagte auch selbst, ich käme nicht mehr auf.81

Da Dr. Jakobs seinen Sitz ebenfalls in Kastellaun hatte, scheidet die räumliche Nähe als wesentlicher Grund für den Wechsel des Arztes aus. Zudem lässt die Aussage deutlich erkennen, dass Ludwig N. sich ein eigenes Urteil über die fachliche Kompetenz der beteiligten Ärzte gebildet hatte („Dr. Jakobs, der mich wieder auf die Beine brachte“ / “da das Leiden zu weit fortgeschritten, was ich der Handlungsweise des Dr. Koch zuschreibe“).82 Auch für den Armen Ludwig N. gehörte demnach die „Hinzuziehung eines weiteren Arztes“ zu den „Möglichkeiten des Patienten, auf Konflikte, Unsicherheiten und Unzufriedenheiten mit der Behandlung zu reagieren“.83 Zum Zeitpunkt seiner Erkrankung verfügte Ludwig N. also bereits über so viel Erfahrungen – eigene oder die über Dritte mitgeteilte – mit der ärztlichen Medizin, dass er diese nicht nur einer laienheilkundlichen Versorgung vorzog, 79 Ebd. Siehe dazu auch Kapitel 7.4. 80 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Schreiben des Dr. Jakobs vom 08. April 1897. 81 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Niederschrift der Beschwerde des Ludwig N. vom 10. März 1897. 82 In seinem personenbezogenen Urteil differenziert Ludwig N. hier deutlich zwischen der ärztlichen Medizin als solcher und dem Wirken des einzelnen Arztes. Vgl. Stenzel, Differenzierung, S. 33–34; 58–59. 83 Lachmund/Stollberg, Patientenwelten, S. 109–111, hier 109. Diese beziehen sich aber in erster Linie auf Patienten bürgerlicher Herkunft.

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sondern auch die Leistungen verschiedener Ärzte gegeneinander abwägen konnte. Im Ergebnis erscheinen seine Entscheidungen damit nicht allein von „institutionellen Zwängen“, sondern von dem durchaus „rationalen Vergleichskriterium“ bestimmt, unter den jeweils bekannten Bedingungen pragmatisch die für ihn erfolgversprechendste Behandlung seines Leidens zu bekommen, ohne dass dabei dogmatische Vorlieben oder Abneigungen gegenüber bestimmten Heilwegen eine Rolle spielten.84 6.4. Krankenhäuser & Kuranstalten: Das Entstehen von ‚Gesundheitsräumen’ Die in den vorangegangenen Abschnitten unternommenen Untersuchungen zeigen, dass bei der Suche nach Hilfe im Falle einer Erkrankung der Faktor Vertrauen über Faktoren wie die Art der Krankheit, Kosten und Entfernung von Alternativen der Heilung hinweg die Entscheidungen der Betroffenen prägen konnte. Das Vertrauen in die ärztliche Behandlung förderte auf diese Weise etwa die Bereitschaft, für die eigene Gesundheit auch größere Entfernungen zurückzulegen. Es handelt sich bei Gesundheitsräumen demnach um durch Handlungszusammenhänge bestimmte Regionen.85 Wie derartige Tendenzen über den Einzelfall hinaus auch in größerem Maßstab zum ‚Zusammenschrumpfen’ räumlicher Distanzen in gesundheitlichen Angelegenheiten führten, wird am Beispiel von Krankenhaus- und Kurbehandlungen besonders deutlich sichtbar. Im Rahmen der Untersuchung der Möglichkeiten stationärer Krankenversorgung im hiesigen Untersuchungsraum und deren Entwicklung im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert konnte gezeigt werden, dass die krankheitsbezogenen Funktionen der älteren, kleineren Hospitäler seit etwa 1900 zunehmend von neuen, spezialisierten Krankenhäusern übernommen wurden. Die Spezialisierung der Häuser ging dabei mit einer Zentralisierung der stationären Krankenversorgung in nur noch ein bis drei größeren Krankenhäusern pro Kreis einher. Bereits diese Entwicklungen hatten für die Betroffenen zwangsläufig zur Folge, im Falle einer Krankenhausaufnahme gegebenenfalls weiter als zuvor von zu Hause entfernt zu sein. Den Formulierungen der Antragsteller in den erhaltenen Quellen zufolge erfolgte der Zugang zum Krankenhaus dabei praktisch ausschließlich auf ärztliches Anraten hin. Josef Melcher aus Rachtig wies darauf hin, dass die „sofortige Überführung“ seiner Mutter in das Moselkrankenhaus Bernkastel durch

84 Huerkamp, Wandel, S. 64. Die dortige Interpretation, der Arztbesuch von Angehörigen der Unterschicht sei in erster Linie durch Herrschaftsmomente wie Armenarztzwang oder Kassenmitgliedschaft bestimmt worden, muss hier zumindest relativiert werden. 85 Vgl. dazu Brakensiek, Regionalgeschichte, S. 250: „Die untersuchte Region wird nunmehr durch das Handeln der Zeitgenossen innerhalb eines bestimmten Kontextes bestimmt“.

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den dortigen Arzt „angeraten“ worden sei.86 Laurenz J. aus Darweiler hatte den ärztlichen Einfluss auf die Verlegung offenbar noch strenger empfunden und befand sich bei seiner Antragstellung noch im Krankenhaus „wohin ich zwecks Behandlung an einer Mittelohreiterung von Herrn Sanitätsrath Dr. Tilbig untergebracht wurde“.87 War für eine erfolgreiche Behandlung die Hilfe von Spezialisten oder eine größere Operation vonnöten, konnten die Betroffenen mitunter auch nicht mehr in den örtlichen Kreiskrankenhäusern versorgt werden, sondern mussten in größere Kliniken verlegt werden. Entsprechenden Bedarf attestierte der behandelnde Arzt beispielsweise 1912 Friedhelm J. aus Kastellaun: Herr Friedhelm J. zu Castellaun ist z. Z. schwer erkrankt (Blasenleiden mit Abgang von Blut und Eiter) und bedarf eines sofortigen operativen Eingriffs, der nach Lage des Befundes nur in größerem Krankenhause und von Spezialisten vorgenommen werden kann. Ich habe die Kgl. Universitätsklinik Bonn in Vorschlag gebracht.88

Ähnlich wurde die Frau des Arbeiters Isidor I. aus Zeltingen mehrfach im Trierer Marienkrankenhaus untergebracht und musste sich dort schließlich einer „schwersten Operation (Entfernung des linken Oberkiefer, Augenhöhle mit dem Auge)“ unterziehen.89 1926 stellte Janina M. aus Zeltingen einen Antrag auf Unterstützung wegen einer notwendigen Operation: Muß laut ärztlicher Bescheinigung operativ behandelt werden. Um die Kosten möglichst niedrig zu halten, will ich mich in die Klinik nach Bonn begeben. Dort werden sich die Gesamtkosten auf 110–120 RM belaufen. Bitte um Unterstützung.90

Das von Janina M. angeführte Kostenargument mag auf den ersten Blick verwundern, weist aber auf eine offenbar bestehende Einrichtung der Universitätsklinik hin, welche die dortige Behandlung von kranken Armen für die finanzierenden Stellen attraktiv machte – eine Freibettenregelung. Das Konzept, Angehörigen bestimmter Gruppen verbilligte oder kostenlose Behandlungen zu ermöglichen, war auch in anderen Einrichtungen der gesundheitlichen Hilfe etabliert.91 So hielten etwa auch das Wilhelmsbad in Bad Bertrich und eine Augenklinik in Koblenz einige Freistellen für Arme vor.92 Ein Antrag 86 LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Notiz über Antrag des Markus P. o.D. [ Juni 1926]. Ähnlich auch Ebd., Nr. 971, Schreiben des Otto M. vom 08. August 1929. Seine Tochter musste „wegen Blinddarm- und Bauchfelloperation“ im Krankenhaus untergebracht werden. Die präzise Benennung deutet auf eine vorangegangene ärztliche Beurteilung hin. 87 LHAK Best. 491 Nr. 319, Schreiben des Laurenz J. vom 03. Februar 1912. 88 LHAK Best. 491 Nr. 319, Ärztliches Attest vom 03. Juli 1912. 89 LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Schreiben des Isidor I. vom 30. September 1928. Vgl. auch S. 261. 90 LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Antrag der Janina M. vom 06. Juli 1926. 91 Zur Adaption des Freistellenkonzepts siehe auch Kapitel 2.3.3., S. 185. 92 Anträge auf Freistellen dort in LHAK Best. 655,14 Nr. 826, Bewilligung für den Sohn Christoph J. vom 24. Juli 1893: „Freibäder in dem Armenbade zu Bertrich – mit freier Wohnung, insofern eine solche disponibel – für die Dauer von 4 Wochen.“; Ebd., Gesuch des Pfarrers Comes zu Beltheim um Bewilligung eines Freibades in dem Bertrich für den an Rheumatismus erkrankten Waldemar P., zu Beltheim vom 17. Juli 1896. Darin die Be-

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des Kristof F. aus Korweiler auf eine Freistelle in Bad Kreuznach für seine Tochter wurde zwar dahingehend beschieden, dass solche dort nicht bestünden, belegt aber zumindest, dass von der Existenz derartiger Stellen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit ausgegangen wurde.93 Auch in der Universitätsklinik wurden offenbar Freistellen nach der Vermögenslage der Betroffenen vergeben.94 Bemerkenswert erscheint dabei ein Schreiben des Bitburger Kreisausschusses, in welchem die Gewähr einer Freistelle auf anderem Wege begründet wurde: Nach dem Ergebnis einer vorgenommenen Untersuchung durch den Herrn Kreisarzt hier leidet der 86jährige Samuel M. aus Matzem an beiderseitigem sogenannten AltersStar, wodurch er seit etwa einem Jahr völlig erblindet ist. M. beabsichtigt trotz seines hohen Alters, sich noch einer Operation zu unterziehen. Der Kreisarzt bemerkt hierzu, dass bei der verhältnismäßig guten körperlichen und geistigen Rüstigkeit des Sechsundachtzigjährigen sich die Vornahme einer Staroperation noch lohnen wird. M. ist nicht in der Lage, die ihm durch die Operation entstehenden Kosten zu bezahlen. Ich bin der Überzeugung, dass es sich im vorliegenden Falle um eine wissenschaftlich wertvolle und mit Rücksicht auf das Alter des Erblindeten seltene Operation handelt und bitte, wenn eben möglich, M. ein Freibett zu bewilligen.95

Der Verfasser des Schreibens versuchte offenbar, über den Hinweis auf den besonderen wissenschaftlichen Erkenntniswert des Falles, die Chancen für eine Aufnahme zu erhöhen, und nahm damit Bezug auf die Ausbildungsfunktion der Universitätskliniken, in denen die wissenschaftliche Bedeutung eines Erkrankungsfalles ein Aufnahmekriterium für ein Freibett war.96

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gründung, dass es Waldemar P., „dem die Benutzung des genannten Bades ärztlich angeordnet worden ist, äußerst schwer fallen würde, die Badekur und die Wohnungskosten aus eigenen Mitteln zu bestreiten“; LHAK Best. 403 Nr. 15952: „Im St. Martinsstifte zu Koblenz werden nämlich ständig Augenkranke klinisch behandelt und in dieser Abteilung unterhält die Später-Stiftung vier Freibetten. Der zuständige Augenarzt, z. Zt. Herr Dr. Otto Landau, besucht täglich seine dortigen Kranken und bei dieser Gelegenheit untersucht und beratet er auch solche Augenkranke, die sich zur Inanspruchnahme der Später-Stiftung eignen. Selbige werden zuvor von der betreffenden Krankenschwester unterrichtet, dass nur Unbemittelte dort behandelt werden können.“ LHAK Best. 655,14 Nr. 826, Antrag des Kristof F. vom 17. Juli 1896. sowie Antwort vom 26. August 1896. Siehe KAB-W 2.0.541, Schreiben des Landrats vom 14. September 1903: „Zur Gewährung der von der Schmitz erbetenen Unterstützung stehen diesseits Mittel nicht zur Verfügung. Sofern dieselbe nicht in der Lage ist, die durch die Unterbringung in der Universitätsklinik in Bonn entstehenden Kosten zu bestreiten, wie sie vorstehend angibt, empfiehlt es sich, bei der Direktion dieser Klinik einen Antrag auf Gewährung einer Freistelle zu stellen.“; KAB-W 2.0.343, Schreiben des Landrates zu Wittlich vom 06. September 1913. Darin empfiehlt er, „falls das Kind Nilles in hilfsbedürftiger Lage befindet, sogleich bei der Uniklinik Bonn eine Freistelle beantragen zu wollen.“; LHAK Best. 655, 123 Nr. 966, Antrag des Marius P. vom 07. Dezember 1931. Marius P. war kein Krankenkassenmitglied, dennoch war die ärztliche Behandlung im Uniklinikum dem Antrag zufolge frei, er benötigte aber einen Zuschuss zu den Verpflegungskosten. LHAK Best. 655,191 Nr. 411, Schreiben des Kreisausschusses Bitburg an die Universitätskliniken zu Bonn vom 23. April 1929. Unterstreichungen des Verf. Vgl. Hudemann-Simon, Eroberung, S. 153–154.

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Die Verlegung der Betroffenen in Kliniken in Trier und Bonn macht deutlich, wie durch wachsende medizinische Anforderungen die Entfernungen, die aus Gründen gesundheitlicher Versorgung zurückgelegt wurden, wuchsen. Die erwähnte Behandlung in der Universitätsklinik Bonn war dabei offenbar kein Einzelfall.97 Der ‚Gesundheitsraum’ als das räumliche Gebiet, innerhalb dessen Betroffene mit einiger Regelmäßigkeit nach Heilungsmöglichkeiten suchten, erstreckte sich im 20. Jahrhundert für die Bevölkerung von Eifel und Hunsrück mit den Eckpunkten Trier und Bonn offenbar weit über das in alltäglichen persönlichen oder wirtschaftlichen Angelegenheiten „erfahrene“ Gebiet hinaus. Damit bildete sich auch im Bereich der medizinischen Versorgung eine kontextspezifische, von Bedingungen wie Transportwegen und Erkrankungsart abhängige Mobilität heraus, die in der Forschung auch schon für andere Kontexte wie Arbeit98 oder Wandergewerbe99 aufgezeigt wurde. Hatte die zunehmende Spezialisierung der Krankenhäuser und Kliniken die Räume, in denen Heilung gesucht wurde, bereits vergrößert, erfuhren diese allem Anschein nach eine weitere Ausweitung mit dem Wirken insbesondere der Landesversicherungsanstalt als Träger der Unfall- und Invaliditätsversicherung. Die LVA gewährte Unfallopfern und von Invalidität Bedrohten im Rahmen ihrer Versicherungsleistungen Kuraufenthalte in spezialisierten Heilstätten verschiedener Art. Geldmangel der Betroffenen verlor damit als Grund, derartige Behandlungen nicht in Anspruch zu nehmen zunehmend weniger ins Gewicht.100 Über diesen Weg lassen sich allein für den Kreis Bitburg Aufenthalte von Kranken in diversen Kuranstalten auch außerhalb des Eifel-Hunsrück-Gebietes von der „Volksheilstätte für Lungenkranke in Waldbreitbach“ über die „Heilstätte Rheinland“ im Siegkreis und das „Konitzkystift“ in Bad Nauheim bis hin zu mehreren, teilweise wiederholten Besuchen hiesiger Kranker im „Landesbad Aachen“ nachweisen.101 Einschränkend ist allerdings hinzuzufügen, dass es sich bei diesen Empfängern nicht zwingend auch um Arme gehandelt haben muss. Die an Krankenhäusern und Kureinrichtungen gemachten Beobachtungen verdeutlichen aber anschaulich, dass die räumliche Entfernung bei der Suche nach Heilung gegenüber Faktoren

97 Weitere Fälle s. u. 98 Vgl. etwa die Tagelöhner bei Schlumbohm, Lebensläufe. 99 Vgl. Hochstrasser, Haus, S. 185–210; Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 259–278. Ein Überblick zu den Forschungen bei Trossbach, Dorfgeschichte, S. 184–186. 100 Vgl. dazu entsprechende Beispiele vom Anfang des 19. Jahrhunderts bei Lachmund/ Stollberg, Patientenwelten, S. 58. 101 LHAK Best. 655,191 Nr. 175. Darin etwa Gewährformular für Gundel M. zum Aufenthalt in Waldbreitbach vom 18. Dezember 1935 und 23. September 1937, Gewährformular für Robert Schuster zum Aufenthalt in der Heilstätte Rheinland vom 18. Dezember 1935, Gewährformular für Lara M.l zum Aufenthalt im Konitzkystift Bad Nauheim vom 07. Januar 1933 und Gewährformular für Sebald W. zum Aufenthalt im Landesbad Aachen vom 17. Juni 1930. Weitere passim.

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wie fachlicher Spezialisierung und zugeschriebener oder tatsächlicher Kompetenz allmählich zurücktrat.102 6.5. Heilung durch Glauben? Die Rolle von Wallfahrten auf der Suche nach Heilung Zwischen Religion und der Bewältigung von Krankheiten bestand sicherlich auch im hier betrachteten Zeitraum noch immer eine enge Verbindung. Wie bedeutsam beispielsweise die Anrufung himmlischer Fürsprecher als Beistand und Schutz vor Erkrankungen aller Arten war, zeigt etwa der Umstand, dass Anfang des 20. Jahrhunderts der überwiegende Teil der Kirchen im Erzbistum Köln Patrozinien von Heiligen besaß, denen in irgendeiner Form ein Bezug auf Krankheit zugesprochen wurde.103 Diese besondere Nähe von Religion und Krankheit galt auch für das Wallfahrtswesen als spezifische Form der Suche nach Heilung. Wallfahrten besaßen vor allem in den katholischen Teilen des hier untersuchten Gebiets eine lange Tradition.104 Das Eberhardkloster in Klausen im Süden des Kreises Wittlich entwickelte sich beispielsweise seit der Mitte des 15. Jahrhunderts zu einem Zentrum des Wallfahrtswesens, dessen Einzugsbereich die gesamte südliche Eifel bis in den Hunsrück und nach Luxemburg hinein umfasste.105 Die Wallfahrten wurden von Einzelpilgern oder Wallfahrtsbruderschaften unternommen, zudem gab es eine ausgedehnte Tradition von organisierten jährlichen Pfarrwallfahrten.106 Insbesondere mit der zunehmenden Verkehrserschließung der Südeifel seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der jährlichen Pilger stetig an.107 Wie groß dabei das Mobilisierungspotential der Wallfahrt war, verdeutlicht der Umstand, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn der 1930er Jahre hinein jährlich rund 80.000 bis 100.000 Menschen die Pilgerstätte in Klausen aufsuchten.108 Klausen war dabei nur eines unter mehreren größeren Pilgerzentren in der Region. Überregionale Bekanntheit – und Einzugswirkung – hatten auch die an einem Zweig des Jakobswegs nach Santiago de Compostela gelegene Abtei St. Matthias in Trier oder das an der luxemburgischen Grenze gelegene Ech102 Zur „alltäglichen“ Gesundheitsmobilität, etwa den Sprechstundenbesuchen beim Arzt siehe das folgende Kapitel. 103 Nach Jütte, Alternative Medizin, S. 72, waren 1905 rund 70 % der Kirchen im Erzbistum Köln entsprechend geweiht. 104 Schneider/Persch, Beharrung, S. 342–351. Im Rahmen seiner Untersuchungen zu Praktiken des Aberglaubens untersucht die Wallfahrten auch Freytag, Aberglauben, S. 80– 115. 105 Dohms, Klausen, S. 472. 106 Schneider/Persch, Beharrung, S. 343. 107 Ebd., S. 346. Zum Wandel des Wallfahrtswesens unter dem Einfluss verbesserter Infrastruktur, der dazu beitrug, dass das „Symbolerleben (…) verflacht“ vgl. Andritzky, Wallfahrtswesen, S. 203. 108 Dohms, Klausen, S. 470–471. 1915 betrug die Pilgerzahl sogar um die 160.000 Personen.

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ternach mit der bekannten Springprozession.109 Die genannten Zahlen zeigen, dass das Wallfahrtswesen keineswegs Angelegenheit einer Minderheit oder bestimmten Gruppe war, sondern sich über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg erstreckte.110 Eine spezifische Bedeutung von Wallfahrten zur Krankheitsbewältigung nur für die armen Bevölkerungsschichten erscheint damit zumindest unwahrscheinlich. In der Praxis lassen sich religiös begründete Heilpraktiken gegenüber solchen mit eher magischem Hintergrund nur schwer abgrenzen.111 In beiden Formen spielten Gebete, Heiligenverehrungen oder Segenssprüche eine zentrale Rolle, wobei sich in vielen Fällen bis ins 19. Jahrhundert hinein christliche und magisch-heidnische Elemente vermischen konnten.112 Gerade der Bezug auf Heilige und überlieferte Wunderheilungen besaß an den Wallfahrtsorten eine herausragende Bedeutung. Die entsprechende Forschung hat gezeigt, dass Gebete und andere „Mikrorituale“ gerade im Rahmen von Wallfahrten über Gemeinschaftserlebnisse und Rituale des Übergangs zur von den Teilnehmern erfahrenen Unterstützung in der Bewältigung von Lebenskrisen beitragen.113 Gegenüber der zunehmenden Verdrängung religiös angelehnter volksmagischer Heilpraktiken auch durch offizielle kirchliche Stellen wurden Wallfahrten als Formen der Glaubensäußerung und Anbetung aber grundsätzlich von kirchlicher Seite gefördert.114 Gerade die Vermischung christlicher und ‚abergläubischer’ oder heidischer Elemente trug dazu bei, dass Berichte über Wunderheilungen von kirchlicher Seite durchaus kritisch gesehen wurden.115 Tatsächlich griffen kirchliche Stellen bei der Beurteilung derartiger Vorgänge bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend auf ärztliche Stellungnahmen zurück, was insgesamt zu einer Verschiebung in den legitimatorischen Beziehungen zwischen Ärzten und Kirche führte. Erst wenn die ärztliche Autorität alle ‚natürlichen’ Ursachen einer Heilung ausgeschlossen hatte, konnte die kirchliche Interpretation einer Heilung infolge Glaubens oder göttlicher Gnade in Anspruch genommen werden.116 Insgesamt gesehen ging die praktische Bedeutung religiöser Krankheitsdeutungen und religiöser Hilfen bei der Bewältigung eines Krank-

109 Zu Letzterer besonders Andritzky, Wallfahrtswesen. 110 Ähnlich auch Jütte, Alternative Medizin, S. 77. 111 Dazu detaillierter Stolberg, Heilpraktiken. 112 Vgl. etwa Ulbricht, Welt, S. 388–391, deren Beispielperson Johann Kästner im 18. Jahrhundert Knochen und Zauberspruchpapier als eine Mischung aus christlichen und heidnischen Schutzelementen verwandte. Für den Zeitraum des 16. bis 19. Jahrhunderts vgl. dazu Labouvie, Verbotene Künste, S. 318–325. 113 Andritzky, Wallfahrtswesen, S. 201–202, 204–217. 114 Zur Verdrängung der Volksmagie durch kirchliche Stellen vgl. auch Labouvie, Verbotene Künste, S. 318–325. In der Folge blieben gerade Priester oft erstaunlich uninformiert über den Fortbestand derartiger Arkanpraktiken. Vgl. Zender, Dorf, S. 168. 115 Vgl. hierzu v. a. Freytag, Aberglauben, S. 201–250. 116 Vgl. Jütte, Alternative Medizin, S. 70.

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heitszustandes zugunsten einer präventiven Wirkungszuschreibung und einer eher generellen Unterstützung eines Heilungsprozesses deutlich zurück.117 Im Laufe der Zeit bildeten sich aber, zurückgehend auf die dem lokal verehrten Heiligen zugeschriebene Heilwirkung bei einer bestimmten Krankheit, an den einzelnen Wallfahrtsorten Schwerpunkte in den Krankheitsbildern heraus, bei denen an dem jeweiligen Ort in besonderem Maße um Heilung oder Unterstützung nachgesucht wurde. Nachdem bei Wallfahrtsbitten bis ins 17. Jahrhundert hinein Seuchen und einzelne Organerkrankungen wie Augen, Stein- oder Bruchleiden im Vordergrund standen, verlagerten sich die Gesuche ab dem 19. Jahrhundert vermehrt auf innere Erkrankungen, zu denen etwa auch die Tuberkulose gezählt wurde.118 Diese Schwerpunktverlagerung ist auch in den größeren Wallfahrtsorten im hier untersuchten Raum zu erkennen. Die Springprozession in Echternach wurde von den Teilnehmern zunehmend zu einem Ort der präventiven Bitte gegen die „Fallsucht“, worunter eine Vielzahl von Krankheiten mit Symptomen wie Ohnmacht, Krämpfen oder Schüttelerscheinungen fielen.119 Die Wallfahrtsstätte in Klausen galt allgemein als Ort der Bitte um die Heilung körperlicher Gebrechen wie Verwachsungen etc., die Fintenkapelle in Bergweiler schließlich wurde vor allem bei rachitischen Erkrankungen aufgesucht.120 Diese eher schichtenunspezifischen Befunde treffen auf ein – soweit ersichtlich – völliges Schweigen über entsprechende Praktiken in den untersuchten Anträgen auf Armenunterstützung. Offensichtlich war die Suche nach Heilung im religiösen Kontext im hier untersuchten Zeitraum kein Mittel, welches in der Korrespondenz mit den Armenverwaltungen von Bedeutung war. Die Aussagekraft der aus behördlichem Kontext stammenden Armenunterstützungsanträge erweist sich hier als sehr begrenzt. Spezifische Aussagen über die Bedeutung religiöser Heilungskonzepte für die unteren Bevölkerungsschichten lassen sich daher an dieser Stelle kaum treffen. Zu vermuten ist, dass Wallfahrten und Gebete in erster Linie unterstützend unternommen wurden. Auf ein solches Verhältnis weist zumindest das von Gunnar Stollberg angeführte Beispiel des Arbeiters Nikolaus Osterroth hin, welcher sich 1880 auf eine Wallfahrt begab, nachdem er erfolglos den Arzt zur Heilung seiner Krankheit aufgesucht hatte.121 Das Konzept der Wallfahrt als Heilssuche war zwar noch existent, besaß aber gegenüber ‚weltlichen’ Konzepten nur noch nachrangige Bedeutung.

117 Vgl. Wolff, Pockenschutzimpfung, S. 448–449, der derartige Entwicklungen für Württemberg bereits für den Beginn des 19. Jahrhunderts gezeigt hat. 118 Vgl. Jütte, Alternative Medizin, S. 68–78, insbes. S. 72 und 75, mit einem Überblick über den Bedeutungswandel von Wallfahrten für Heilungen. 119 Doering-Manteuffel, Eifel, S. 110–119 zur Echternacher Prozession, insbes. S. 113–116 zur Krankheitsprävention. Siehe ebenfalls Andritzky, Wallfahrtswesen, S. 209–211. 120 Schmitt, Brauchtum, S. 417–418. 121 Stollberg, Health, insbes. S. 263.

Kapitel 7: Konsultation und Behandlung Der Fokus des folgenden Kapitels ist auf die konkrete Praxis der Behandlung von Kranken gerichtet. Zunächst geht es dabei um die Frage des Ortes, an dem sich Konsultation und Behandlung des Kranken abspielten, während im zweiten Abschnitt der Blick auf therapeutische Möglichkeiten der verschiedenen Heilergruppen gerichtet wird. Da entsprechende Aussagen für den Bereich der Selbsthilfe aus den vorliegenden Quellen nur sehr vereinzelt zu treffen sind, orientiert sich die Darstellung ähnlich wie im vorangegangenen Kapitel an den beiden Gruppen der Laienheiler und Ärzte. Die Bedeutung neuer medizinischer Erkenntnisse im Untersuchungszeitraum und deren Wahrnehmung im ländlichen Raum sind Gegenstand eines eigenen, dritten Abschnitts. Abschließend verdeutlicht der bereits bekannte Fall der Behandlung Ludwig N.s exemplarisch Bedingungen und Ablauf einer Behandlung im konkreten Zusammenwirken aller Beteiligten. Die Untersuchung der vorliegenden Quellen zur Konsultationspraxis im hiesigen Raum lässt die Existenz verschiedener Typen der Konsultation erkennen. Die Disparität der Quellen verhindert aber zugleich sichere quantitative Aussagen zur Konsultationspraxis. Die folgenden Angaben sind daher vor allem als exemplarische Darstellung der verschiedenen Konsultationsweisen zu verstehen. 7.1. Konsultation 7.1.1. Laienheiler Die Anfrage Der einfachste Fall der Konsultation war sicherlich der desjenigen Heilers, der an seinem Wohnsitz tätig war und im Bedarfsfalle ohne größere Umschweife aufgesucht bzw. um eine Behandlung gebeten werden konnte. Dies war wohl vor allem bei Laienheilern der Fall, die ihre Heilkunde nur gelegentlich und nicht oder nur in geringem Maße gewerbsmäßig ausübten. Einen solchen Fall stellte etwa der Pastor Karms aus Spang dar, der neben seinem kirchlichen Hauptamt heilkundlich tätig war und „einer größeren Anzahl von Hilfesuchenden aus nah und ferne seinen Rath [erteilte]“. In diesen Fällen wurden die Kranken direkt bei dem Pastor zu Hause untersucht und behandelt, ohne dass es hier Hinweise auf spezielle Einrichtungen wie Praxisräume etc. gab. Von einem festen Wohnsitz aus agierte auch Nicolaus Heinz, der sogenannte „Schinkenflicker von Neuerburg“. Dieser war ein ehemaliger Lazarettgehilfe,  

LHAK Best. 403 Nr. 11070, S. 82. Schreiben des Regierungspräsidenten zu Trier vom 18. Juni 1861. Wagner, Schinkenflicker.

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dessen Sachkenntnis und Hilfe von der Landbevölkerung vor allem bei kleineren Unfällen in Anspruch genommen wurde. Soweit bekannt, verlangte er für diese Hilfe kein Entgelt, akzeptierte allerdings Schenkungen der behandelten Kranken. Im Unterschied zu Pastor Karms behandelte er seine Patienten allerdings nicht bei sich zu Hause, sondern ging auf Anfrage zu den Kranken hin, wobei sich sein Betätigungsfeld zwischen circa 1870 und seinem Todesjahr 1905 über Mittelmosel, Wittlicher Tal und die Eifel bis hinter Daun erstreckte. Gemeinsam war beiden Heilern, dass sie ihre Heilkunde offenbar weder in der Hauptsache mit Gewinnerzielungsabsicht ausübten, noch über spezifische Praxisräume oder ähnliche Einrichtungen verfügen. Heilkunde im Umherziehen Mit seinen Touren zu Kranken in einem doch relativ weiträumigen Umkreis war der „Schinkenflicker“ Heinz bereits im Übergang zu denjenigen Heilern, die ihre Heilkunde tatsächlich losgelöst von einem festen Ort im Umherziehen ausübten. Obwohl die Ausübung der Heilkunde im Umherziehen auch nach 1869 verboten blieb, klagte der Regierungsmedizinalrat zu Trier noch in seinem Bericht von 1880 über die „Kurpfuscherei im Umherziehen“ und erst ab 1881 stellten die Zulassungsbehörden für Nichtärzte keine Gewerbescheine zum Heilen im Umherziehen mehr aus. Das Verbot ließ sich allerdings relativ leicht dadurch umgehen, dass beispielsweise der Heilkundige sich zu einem Kranken rufen ließ und dann vor Ort von weiteren Kranken kurzfristig um Rat gefragt wurde. So praktizierten es beispielsweise zwei Heiler in Saarbrücken, „die auch in die Umgegend ihre Reisen machen, um neben einem Kranken, zu dem sie angeblich gerufen worden sind, auch andere zu behandeln.“ Trotz ihres generellen Verbots blieb die Konsultation umherziehender Heilkundiger für Kranke also eine Möglichkeit, Hilfe zu bekommen. Dabei waren in der konkreten Ausgestaltung große Unterschiede möglich. Neben den von Krankem zu Krankem ziehenden Heilern gab es diejenigen, die sich an zentralen Orten, etwa in Gasthöfen, einquartierten und dort für eine Zeitlang praktizierten, wobei sie teilweise Ort und Dauer dieser zeitweiligen Niederlassung über Annoncen ankündigten. Wie systematisch sie dabei vorgingen, zeigt die „Warnung für das Publikum“ vor dem bereits erwähnten Hans Peter Jürgensen, die das Koblenzer Regierungspräsidium im März 1897    

Ebd. verweist darauf, dass Heinz dabei derartige Schenkungen durchaus in Relation zur wirtschaftlichen Lage der jeweiligen Kranken bewertete, insofern war die Grenze zur gewerbsmäßigen Heilkunde hier fließend. Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 117; LHAK Best. 442 Nr. 3139, Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinal-Wesen des Regierungs-Bezirks Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1881 und 1882, S. 45–47. LHAK Best. 442 Nr. 3139, Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinal-Wesen des Regierungs-Bezirks Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1883, 1884 und 1885, S. 97. Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 117; Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 504.

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in mehreren Tageszeitungen veröffentlichen ließ. Jürgensen war 1894 bereits „wegen Ausübung der Heilkunde im Umherziehen zu einer Geldstrafe von 100 Mark bezw. 10 Tagen Haft“ verurteilt worden. Dies hielt ihn aber offenbar nicht davon ab, weiter „an zahlreichen Orten regelmäßig Sprechstunden für Kranke“ abzuhalten. Auch Jürgensen bediente sich zur rechtlichen Absicherung dabei eines ähnlichen Instruments wie die beiden Heilkundigen aus Saarbrücken, indem er sich über die „Zusendung von Postkarten“ von den Kranken quasi rufen ließ. Tatsächlich übernahm Jürgensen mit der Behandlung in Gasthöfen und ähnlichen Orten eine Vorgehensweise, die auch von den Ärzten selbst zuvor lange Zeit praktiziert worden war. Heiler mit Praxis Schließlich gab es unter den Laienheilkundigen auch diejenigen, die ihr Gewerbe stationär ausübten und von den Kranken an diesem festen Ort aufgesucht wurden. Auch hier war die Bandbreite der konkreten Erscheinungsform dieser ‚Praxis’ groß. Der Bernkasteler Kreisarzt erwähnte in seinem Jahresbericht den „Kurpfuscher“ Petri aus Morscheid, der seine Behandlungen wahrscheinlich bei sich zu Hause vornahm, aber auch den erwähnten Nikolaus J. in Kirn-Baerenbach, „der sich jeden Mittwoch in dem dortigen Gasthofe konsultieren lässt.“ Gegenüber den immer wieder angekündigten Gasthofkonsultationen eines Hans Peter Jürgensen wies die Vorgehensweise von Nikolaus J. mit der Festlegung auf einen Ort – zudem sein Heimatort – und der regelmäßigen und relativ dichten Frequenz der Konsultationszeiten deutlichere Kennzeichen einer stationären Praxis auf. Ähnlich berichtete der Trierer Kreisarzt 1928 von einem „Heilkundigen Runkel“, der „in der Wirtschaft Wintrich (…) Sprechstunden abgehalten und die Inhaberin der Wirtschaft veranlasst [habe], Kranke zu beherbergen.“10 Dabei ähnelten seine Sprechstunden einer stationären Praxis sogar so weit, dass er „zwei unmöblierte Räume“ anmietete, „in denen er zur Ausübung seiner Praxis ein Sprech- und ein Wartezimmer einrichtete“. Bereits in den 1880er Jahren hatte sich schließlich eine Laienheilkundige in Pallien, einem Stadtteil Triers, eine stationäre Praxis in eigenen Räumlichkeiten eingerichtet, die sich mit Warte- und Sprechzimmer, Nummernvergabe



LHAK Best. 403 Nr. 11070, S. 119, Artikel aus der Saarbrücker Zeitung vom 24. März 1897.  Ähnlich auch Vieler, Arztpraxis, S. 19. Volker Hess konnte erste Formen dieser halbstationären Praxis am Beispiel eines Thüringer Arztes bereits für die Mitte des 18. Jahrhunderts aufzeigen. Hess, Ärztlicher Alltag. Der Praxisalltag dieses Arztes ist umfassend untersucht von Thümmler, Alltag.  LHAK Best. 442 Nr. 3895, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für 1892, S. 15 und S. 23. 10 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1335, Schreiben des Kreisarztes Trier vom 01. März 1928.

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und langen Wartezeiten praktisch nicht von dem auch heute vorherrschenden Bild einer ärztlichen Praxis unterschied: Aus der Nähe und aus weiter Ferne, aus Luxemburg, Holland, Belgien, Frankreich und aus Lothringen kommen Kranke, Männer, Frauen und Kinder, aus den verschiedensten Ständen, um sich Rath und Hülfe bei der einen oder anderen dieser klugen Frauen zu holen. Die berühmtere unter den beiden ist die zu Pallien. Zu dieser ist der Zulauf das ganze Jahr hindurch ein so großartiger, daß, ohne Uebertreibung, in ihrem Vorzimmer die Kranken oder deren Abgesandte zu Zeiten sich so häufen, daß diese Stunden und selbst bis zwei Tage warten müssen, bevor sie an die Reihe kommen und abgefertigt werden. Bei größerem Zudrange wird jedem neu Ankommenden eine Nummer gegeben, welche die Reihenfolge zum Eintritt in das Sprechzimmer bezeichnet.11

Laienheiler konnten demnach in einer Vielzahl von Varianten konsultiert werden, wobei in der tatsächlichen Ausgestaltung mannigfaltige Übergangs- und Mischformen der hier vorgestellten Grundtypen vorkamen. Eine zeitliche Entwicklung hin zu dominierenden Typen der Konsultation oder eine besondere Affinität einzelner sozialer Gruppen und Schichten zu den Laienheilern sind dabei in den für den hiesigen Untersuchungsraum vorliegenden Quellen nicht zu erkennen.12 Vielmehr scheint sich über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg in der Variabilität der Konsultation die Heterogenität der Laienheiler widerzuspiegeln.13 7.1.2. Ärzte Im Vergleich zur Situation bei den Laienheilkundigen war die Ausformung der ärztlichen Konsultationen um einiges einheitlicher. Der Hausbesuch des Arztes beim Kranken und die Sprechstunde in den ärztlichen Praxisräumen waren die beiden dominierenden Orte der Begegnung zwischen Arzt und Patient.14 Der Krankenbesuch Der Hausbesuch des Arztes bei seinen Patienten war bis in das 19. Jahrhundert hinein die im städtischen wie im ländlichen Raum übliche Form der Kon11 LHAK Best. 442 Nr. 3139, Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinal-Wesen des Regierungs-Bezirks Trier unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1883, 1884 und 1885, S. 97. Der Bericht zeigt zudem deutlich das große Einzugsgebiet von Patienten, über welches bekannte Laienheilkundige verfügen konnten. 12 Silvia Weber-Grupe konstatiert für die preußische Zeit in der Provinz Nassau zwar, dass die Laienheilkunde im Allgemeinen als „Arme-Leute-Medizin“ galt, begründet dies aber vor allem damit, die übrige Bevölkerung sei immer noch in dem Gefühl einer Zeit einer besseren ärztlichen Versorgung vor der Annexion verhaftet geblieben. Ein solcher Wahrnehmungsbruch ist für den hiesigen Raum nicht festzustellen, daher ist auch die Folgeannahme Weber-Grupes hier nicht unbedingt übertragbar. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 545. 13 Allerdings ist auch die Zahl aussagekräftiger Quellen beschränkt. 14 Dabei waren die Praxisräume wohl gerade auf dem Land in den meisten Fällen auch Teil der ärztlichen Wohnung. Allerdings waren sie im Unterschied zu den genannten temporären Praxen in Gasthäusern o.ä. dauerhaft für den spezifischen Gebrauch als Praxisräume vorgesehen und eingerichtet.

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sultation gewesen.15 Erst mit der Lösung vom Patronageprinzip, der Konzen­ tration auf die Krankheit als wesentlichen Gegenstand des Arzt-Patienten-Verhältnisses sowie der zunehmenden Spezialisierung der ärztlichen Tätigkeit ging die Bedeutung des Hausbesuchs zurück.16 Neuere Forschungen haben gezeigt, dass dieser Wandel auch in Städten allenfalls im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in größerem Maßstab begonnen hatte.17 Entsprechend erscheint in vielen Stellungnahmen der hier untersuchten Ärzte und kranken Armen aus dem hiesigen ländlichen Umfeld der Hausbesuch lange Zeit als Selbstverständlichkeit.18 Dass dieser Anspruch keineswegs nur von Selbstzahlern, sondern auch von auf Gemeindekosten versorgten Armen erhoben wurde, zeigt die Begründung einer Überlegung des Gemeinderates von Zeltingen aus dem Jahr 1867, die Bezahlung des Armenarztes von der Pauschalbesoldung auf Einzelabrechnung umzustellen: Das Motiv zu diesem Beschluß war die mannichfache Klage der armen Kranken, daß sie zu spärlich vom Arzte besucht würden, auch wenn sie nicht ausgehen könnten, wobei eine richtige aerztl. Behandlung kaum möglich sei.19

Auch in den Augen der lokalen Verwaltungen war der Hausbesuch die übliche Konsultationspraxis, wie etwa dessen Verankerung in den Verträgen der Distriktärzte und das Bestehen auf Vertragserfüllung in dieser Hinsicht anschaulich machen.20 Der Besuch des Arztes im Hause des Patienten wurde im 15 16 17 18

Vgl. auch Hoffmann, Bräker. Stolberg, Ländliche Patienten; Huerkamp, Ärzte; Vieler, Arztpraxis, S. 23–37. Stolberg, Patientenschaft. Exemplarisch für nüchterne Erwähnungen: LHAK Best. 442 Nr. 3894, Quartalsbericht des Distriktarztes Alsee zu Offenbach im Sanitätsbericht für den Kreis St. Wendel 1891: „Bereits am dritten Tag wurde der Patient ungeduldig und wendete sich an einen anderen Arzt, aber an Weihnachten ließ er mich wieder zu sich rufen.“; KAB-W 2.0.541, Schreiben der Frau Barnabas M. vom 25. Januar 1906: „Ich habe im Frühjahr wieder 7 Monate im Bette liegen müssen, der Arzt Herr Kochstift hat mich behandelt und hat sich sehr viel Mühe angethan“. 19 LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Beschluss des Gemeinderates vom 24. Januar 1867. Die Änderung wurde vom Landrat offenbar abgelehnt. 20 Siehe etwa den Vertrag des Zeltinger Distriktarztes Dr. Angen. Vgl. Kapitel 1.1. Ebenso LHAK Best 403 Nr. 11070, Bericht der Regierung zu Koblenz vom 01. August 1874: „Dem g. Herrmann war 1866 durch Bürgermeister Trarbach die Distriktarztstelle von Sohren übertragen worden. Derselbe gab aber schon 1868 uns Veranlassung, ihn wegen Vernachlässigung seiner Vertragspflichten durch Verfügung vom 10. Juni 1868 AII & IVb eine entsprechende Bemerkung zu machen, da er trotz mehrfacher Aufforderungen eine an Lungenentzündung erkrankte arme Frau nicht besucht hatte. Auch in der folgenden Zeit entstanden Klagen, weil er sowohl seine Pflichten nicht erfüllte“. Unabhängig von einer vertraglichen Verpflichtung wird entsprechende Kritik aber auch deutlich in LHAK Best. 403 Nr. 11064, Schreiben des Regierungspräsidenten zu Koblenz vom 16. März 1897: „Schon damals wurde von dem Bürgermeister zu Lutzerath unter Anderem hervorgehoben, wie Dr. Stern es in keiner Weise verstanden habe, die bei dem Weggange seines Vorgängers (Dr. med. König) sehr gute Praxis sich zu erhalten. Nicht nur die Patienten hätten sich häufig darüber beschwert, daß Dr. Stern sie so lange warten lasse“.

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ländlichen Raum um die Jahrhundertwende 1900 immer noch als ein von ihrer sozialen Stellung unabhängiges Recht der Patienten begriffen21 und blieb auch darüber hinaus bis mindestens in die 1920er Jahre üblich.22 Für den Arzt selbst musste dies nicht zwingend nur nachteilig sein, konnte er auf diese Weise – gerade kurz nach einer Niederlassung – durch Umherreisen auch seinen eigenen Bekanntheitsgrad steigern. Diese Möglichkeit wurde durch verkehrstechnische Verbesserungen noch ausgeweitet.23 Dass zumindest am Ende des 19. Jahrhunderts die Wahrnehmung des Hausbesuchs durch die Ärzte dennoch anders ausfallen konnte, zeigen zwei Fälle aus Kastellaun. Im Fall des bereits erwähnten Ludwig N. war der Armenarzt Dr. Koch nach Aussage des Kranken bei seinem zweiten Besuch „äußerst aufgebracht und schimpfte über die Sabershausener Bauern, er würde nichts dort verdienen, nannte dieselben Schweinereichs usw.“24 Bereist erwähnt worden ist die Klage Robert P.s über die Verweigerung eines Hausbesuchs im August 1898.25 Auch wenn beide Beschwerden den gleichen Arzt betreffen, zeigen dessen Äußerungen doch, dass die Entfernungen zwischen Arzt und Patient, und zumindest im Falle der kranken Armen auch die geringen Verdiensterwartungen, den Hausbesuch auf dem Land unattraktiv erscheinen lassen konnten. Aussagen darüber, inwiefern diese Ansicht verbreitet war, sind auf Grundlage der vorhandenen Quellen leider nicht möglich. Das Bild des Landarztes, der aufopferungsvoll bereit war, seine Patienten Tag und Nacht aufzusuchen, darf aber zumindest für die Zeiten schlechter Verkehrswege und fehlender schneller Transportmittel angezweifelt werden.26 Praxissprechstunden Für die Zeit nach 1900 sind sowohl von Seiten der Betroffenen wie von ärztlicher Seite keine Beschwerden über unzureichende oder allzu aufwendige Haus­besuche mehr zu entdecken. Dies legt nahe, dass der ärztliche Hausbesuch als Konsultationsform im ländlichen Raum um 1900 seine dominierende Rolle und die auf ihn bezogenen Ansprüche zumindest in der Armenkranken-

21 Dies im Gegensatz zu Vieler, Arztpraxis, S. 14–15. Für England führt Anne Digby den Fortbestand des Hausbesuchs für den ländlichen Raum bis in die 1940er Jahre an. Digby, Encounters, S. 96. 22 Der Zeltinger Bürgermeister verwies noch 1920 darauf, dass die „ärztliche Praxis in Umgegend vom örtlichen Arzt mit Bahn und Rad wahrgenommen“ wurde. LHAK Best. 655,123 Nr. 203, Schreiben des Bürgermeisters Zeltingen an Dr. Wilmershöfer Bonn vom 31.Juli 1920. Für England führt Anne Digby den Fortbestand des Hausbesuchs für den ländlichen Raum bis in die 1940er Jahre an. Digby, Encounters, S. 96. 23 Digby, Making, S. 111. 24 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Niederschrift der Beschwerde des Ludwig N. vom 10. März 1897. 25 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Niederschrift der Beschwerde des Robert P. vom 18. August 1898. Vgl. Kapitel 6.2., S. 282. 26 Idealisierend Kussmaul, Jugenderinnerungen, S. 295ff.

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pflege allmählich verlor.27 Ob dieser Wandel von Seiten der Ärzte durch Vergünstigungen, etwa niedrigere Gebühren für eine Sprechstundenkonsultation, be­günstigt wurde, ist nicht belegt.28 Dennoch blieb der Hausbesuch vor allem in Fällen schwerwiegender Erkrankungen lange notwendig und üblich, da verbesserte Transportmöglichkeiten, etwa durch die Sanitätskolonnen, erst seit An­fang des 20. Jahrhunderts allmählich eingerichtet wurden.29 Einem Attest des Wittlicher Arztes Dr. Burggraf zufolge, scheinen noch um 1911 Sprechstunde und Hausbesuch gleichermaßen als gewöhnliche Formen der Konsultation bestanden zu haben,30 in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts verweisen in zunehmendem Maße Quellen aus ärztlicher Herkunft, wie auch aus Sicht der Betroffenen, auf bestehende Sprechstunden.31 Über die einzelnen Ärzte hinaus richtete in Koblenz mit dem St. Martinsstift ein ganzes Krankenhaus eine sehr erfolgreiche unentgeltliche Sprechstunde für unbemittelte Kranke ein.32 Ab Mitte der 1920er Jahre lassen sich für die Sprechstunden der Ärzte konkrete Stundenangaben feststellen, was auf die grundsätzliche Akzeptanz dieses Praxis hindeutet.33 Die vergleichsweise gering erscheinende zeitliche 27 Vgl. auch Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 545. Im (groß-)städtischen Bereich war der Wandel bis dahin bereits weitgehend abgeschlossen. Vgl. Dinges, Arztpraxen, S. 40. 28 Entsprechende Vermutungen äußert Martin Dinges in Bezug auf Ergebnisse von Duffin, Langstaff. Siehe Dinges, Arztpraxen, S. 50. 29 Siehe dazu Kapitel 1. 30 KAB-W 2.0.343, Ärztliches Attest für die Ehefrau Batto N. vom 17. Oktober 1911: „Frau p. N., welche ich gelegentlich in der Sprechstunde untersuchte und zuletzt bei Gelegenheit eines Besuches bei ihrem Mann in Carl sah, ist an Gelbsucht (…) erkrankt“. Vgl. Vieler, Arztpraxis, S. 36–37. 31 LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben der Katja P. vom 27. Oktober 1899: „ich habe immer noch Herrn Docktor und Apotheke nötig ich war schon verschieden mal in Bückenbeuren bei dem Herrn Docktor“; KAB-W 2.0.343, Gutachten des Armenarztes zu Witwe Kasimir M. vom 28. Februar 1912: „Dieselbe wurde heute nachmittag in meiner Sprechstunde untersucht. (…)“; Ebd., Schreiben des Kreisarztes vom 05. September 1913: „Die Wwe. Stefan M. aus Carl erschien am 4.9.1913 mit ihrem Mündel Natascha A. in meiner Sprechstunde und wünschte, dass das Kind A. in ein Krüppelheim aufgenommen würde.“; LHAK Best. 459 Nr. 625, Schreiben des Dr. Hut vom 13. Januar 1924: „[Werner J. bat um Überweisung ins Krankenhaus] Überweisung „da sein Zustand sich nicht gebessert habe, er bei seiner Krankheit den weiten Weg von Trier nach Irrel zur Sprechstunde nicht machen könne (…)“; LHAK Best. 655, 191 Nr. 411, Unterstützungsgesuch der Ehefrau Simon M. vom 23. März 1932: „Ich war gestern mit dem Kinde bei Herrn Dr. Klug, der das Kind auch s. Zt. operiert hat, da das Kind wieder Beschwerden hat (…)“. 32 LHAK Best. 403 Nr. 15952, Schreiben des Pfarrers Seeger vom 28. April 1913. Seeger verweist darin insbesondere auf das 25jährige Bestehen der Sprechstunde, die Zahl von ca. 1800 ärztlichen Beratungen von Juli 1912 bis April 1913, sowie die zusätzliche Einrichtung einer Sprechstunde für „arme Augenleidende“ seit Juni 1912. 33 LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Attest des Dr. Torf vom 15. Juni 1926. Darauf sind die Sprechstundenzeiten mit „8–9 und 11–1 Uhr“ angegeben; LHAK Best. 491 Nr. 2582, Pressenotiz des Landrates zu Simmern an die Hunsrücker Zeitung mit der Bitte um Veröffentlichung der Sprechstundenzeiten des Dr. Fricke als Vertreter des Kreisarztes „samstags 9–12 h“; Ebd. Mitteilung des Kreisarztes Simmern vom 23. April 1920, darin Änderung der Sprechstunden auf werktags außer Di & Fr 8–11, Di & Fr 15–16 h mitgeteilt.

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Verfügbarkeit in der Sprechstunde lässt sich aber zugleich als Zeichen dafür deuten, dass Hausbesuche immer noch bedeutsam waren.34 1932 stellte Albert Weiland bei der Bürgermeisterei Zeltingen den Antrag, die Kosten für seine Fahrten „in kurzen Abständen“ zur ärztlichen Behandlung nach Trier zu übernehmen.35 Eine mehrfache Anreise zum Arzt innerhalb kurzer Zeit war in diesem Falle offenbar kein Grund mehr für Beschwerde über den Arzt wie noch 1867. Diese Veränderungen deuten darauf hin, dass sich, begünstigt durch verbesserte Verkehrswege und Transportmöglichkeiten, die Sprechstundenpraxis seit dem Beginn des Jahrhunderts bis zum Beginn der 1920er Jahre in den ländlichen Gebieten von Eifel und Hunsrück als dominierende Form der Konsultation etabliert und durchgesetzt hatte. Sprechstunden an fremdem Ort Im Bereich der ärztlichen Medizin lassen sich Sprechstunden, die der Arzt nicht in seiner Praxis sondern an anderem Ort abhielt, in den Quellen allein bei Zahnärzten entdecken.36 Für das Jahr 1892 berichtete der Bernkasteler Kreisarzt, dass alle vier Wochen eine zahnärztliche Sprechstunde von einem aus Trier kommenden Zahnarzt abgehalten wurde.37 Auch zwei Jahrzehnte später waren Zahnärzte im ländlichen Raum so selten, dass sich an diesem Verfahren im Grunde nichts geändert hatte.38 Allerdings hatte die Versorgungsfrequenz wohl deutlich zugenommen. So hielt 1912 in Adenau ein Zahnarzt aus Bonn immerhin wöchentlich eine Sprechstunde ab und im Kreis Simmern hielten Zahnärzte aus Boppard insgesamt drei Mal pro Woche eine Sprechstunde ab.39 Gegenüber den allgemeinen Ärzten verlief der Prozess der Verbreitung und Verdichtung zahnärztlicher Leistungen auf dem Land deutlich verzögert ab. Da der Bedarf an zahnheilkundlichen Leistungen vor allem von sogenannten Zahntechnikern oder Dentisten gedeckt wurde – die aber oft bei einem Zahnarzt eine Lehre absolviert hatten – entstand eine paradox anmutende Umkehrung der Situation im allgemeinärztlichen Bereich. Während die feste Praxis und Sprechstunde eine Domäne der Ärzte gegenüber den temporären und lokal wechselnden Sprechzeiten vieler Laienheiler war, waren es 34 Das Fehlen von Beschwerden über die Sprechstundenpraxis muss also nicht zwingend ein Beleg für die Steigerung der ärztlichen Autorität durch die Sprechstundenpraxis sein, sondern wäre – zugegebenermaßen nur ex negativo – ein Zeichen dafür, dass der Umfang der Hausbesuche den Patienten genügte. Vgl. dazu Huerkamp, Wandel, S. 65. 35 LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Antrag des Werner A. vom 04. Januar 1932. 36 In der Literatur verweist Ingrid Vieler immerhin auf einen Bad Kreuznacher Arzt, der „nach einem bestimmten Turnus auf die umliegenden Dörfer fuhr“ und dort „Klinik im Dorfwirtshaus“ abhielt. Vieler, Arztpraxis, S. 19. 37 LHAK Best. 442 Nr. 3895, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für das Jahr 1892. 38 In Thalfang etwa ist erst ab 1925 ein niedergelassener Zahnarzt nachweisbar. Freis, Gesundheitsdienste, S. 308. 39 LHAK Best. 441 Nr. 13681, Jahresgesundheitsbericht für den Kreis Adenau für 1912; Ebd., Jahresgesundheitsbericht für den Kreis Simmern für 1912. Allerdings sind Orte und Zeiten der Sprechstunden nicht im Detail angegeben.

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im Bereich der Zahnheilkunde die Ärzte, welche mit einem zeitlich (und vermutlich auch örtlich) wechselnden Angebot mit Laienheilern mit festen ‚Praxen’ und Sprechzeiten konkurrieren mussten.40 Anders als bei den Laienheilern ist in der Konsultationspraxis der Ärzte im Untersuchungszeitraum eine Entwicklung auszumachen. Der bevorzugte Ort der Konsultation verlagerte sich von der Wohnung des Patienten in das Sprechzimmer des Arztes. Zwar setzte diese Entwicklung auch im ländlichen Raum bereits im 19. Jahrhundert ein, Indizien wie die Klagen der betroffenen Kranken über einen empfundenen Mangel an Besuchen und knappe Sprechstundenzeiten legen aber den Schluss nahe, dass der Endpunkt dieser Entwicklung – die allgemeine Akzeptanz der Sprechstunde als „regulärer“ Konsultationsform – hier erst zu Anfang der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts erreicht wurde. Gegenüber Entwicklungen im städtischen Kontext, wo die Sprechstunde bereits seit den 1870er Jahren ihren bestimmenden Platz besaß, verlief dieselbe auf dem Land demgegenüber somit deutlich verzögert. Die zeitliche Verzögerung dieses Wandels dürfte eine Ursache auch im bestehenden System der Distriktärzte gehabt haben. Wie gezeigt, waren die im hiesigen ländlichen Raum ansässigen Ärzte fast durchgängig auch als Distriktärzte tätig und oft vertraglich zum Hausbesuch bei armen Kranken verpflichtet. Dies hatte zur Folge, dass der gewohnte Arzt sowieso immer wieder in die Orte seines Sprengels kam und dann vor Ort von armen wie nichtarmen Patienten konsultiert werden konnte.41 Ein Besuch in der Sprechstunde war daher vergleichsweise unnötig. 7.2. Behandlung 7.2.1. Laienheiler Im Februar 1898 richtete Bernd L. aus Kottenschmalbach ein Schreiben an den Regierungspräsidenten in Koblenz, in welchem er sich über die hohen Kosten für die Behandlung der „Lupus“-Erkrankung seiner Tochter bei dem bereits erwähnten Laienheiler Jürgensen beschwerte. Von Interesse ist für die hier angestellte Untersuchung zunächst ein kurzer Abschnitt, in dem sich L. zur Behandlungspraxis des Jürgensen äußerte: ist mir als tüchtiger Arzt in offenen Wunden Doktor Jürgensen empfohlen worden, und (…) [er] hat meiner Tochter Wunden, welche im Gesichte sind, besehen, und sagte er wollte sie heilen, sie müßte aber 4 bis 5 Wochen da bleiben, daß er sie jeden Tag behan-

40 LHAK Best. 442 Nr. 3901, Jahresbericht des Kreisarztes für den Kreis Bitburg für 1908, darin: Verzeichnis derjenigen Personen, die, ohne approbiert zu sein, gewerbsmässig die Heilkunde ausüben 41 Zu demselben Ergebnis kommt auch Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 545. Ingrid Vieler verweist auf eine regelrechte Voranmeldung vieler Patienten in solchen Fällen. Vieler, Arztpraxis, S. 28.

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung deln könnte, und sollte dann in 14 Tagen wiederkommen, und bekäme für diese Zeit Thee und Salbe für ihre Wunden.42

Die Therapie bestand demnach in der Hauptsache aus einer äußerlichen Anwendung von Heilsalben und dem Verabreichen heilungsfördernder Teegetränke. Die in Salbe und Tee verwendeten Wirkstoffe sind aus der ebenfalls bereits erwähnten Bekanntmachung des Trierer Regierungspräsidenten über das Wirken Jürgensens, die als „Warnung für das Publikum“ unter anderem in der „Saarbrücker Zeitung“ veröffentlicht wurde, zu erschließen: Den betreffenden Kranken läßt er bekannte und von Aerzten vielfach angewendete Salben, in der Regel eine Zinksalbe mit oder ohne Zusatz, von Blei, Quecksilber, Bor- oder Salicylsäure, außerdem einen aus abführenden und harntreibenden Stoffen zusammengesetzten, die Heilung von Geschwüren und dergleichen nicht fördernden Thee (…) aus einer Apotheke zugehen.43

Provenienz und Erscheinungsbild der beiden vorgestellten Quellen bilden dabei in charakteristischer Weise ein zentrales Problem der Untersuchung laienheilkundlicher Praktiken für den hier untersuchten Zeitraum ab. Beide Quellen stammen nicht aus Kontexten, die eine eigenständige Meinungsäußerung der erwähnten Laienheiler erkennbar werden lassen. Im hiesigen Fall stammt die erste Schilderung aus dem Kontext einer Beschwerde, die vor allem auf überhöhte Behandlungskosten abzielt; die zweite Darstellung ist an ihrem Titel bereits als ablehnend gegenüber dem laienheilkundlichen Wirken erkennbar und zielt ebenfalls in erster Linie auf ein – nach Auffassung der Artikelverfasser und der Aufsichtsbehörden – unangemessenes Verhältnis von Leistung und gefordertem Honorar.44 Eine Stellungnahme Jürgensens, die als Korrektiv oder zumindest Ergänzung zu den gegebenen parteilichen Schilderungen und erhobenen Vorwürfen dienen könnte, ist in den eingesehenen Quellenbeständen hingegen nicht überliefert. Diese Überlieferungslage ist in ihrer Charakteristik praktisch auf den gesamten hier untersuchten Zeitraum übertragbar. Bei aller gebotenen Vorsicht in der Interpretation erlauben die gegebenen Quellen dennoch zumindest einige Rückschlüsse auf Art und Qualität der laienheilkundlichen Behandlung. Bezeichnend ist hier die in besagtem Zeitungsartikel verwendete Formulierung „bekannte und von Aerzten vielfach angewendete Salben“, die darauf verweist, dass sich Jürgensen Therapeutika bediente, die auch in der ärztlichen Behandlungspraxis gang und gäbe waren. Die Kritik richtete sich in diesem Falle bei genauerer Betrachtung also nicht

42 LHAK Best. 403 Nr. 11070, Abschrift der Beschwerde des Bernd L. vom 06. Februar 1898. 43 Ebd., S. 119, Artikel entnommen der Saarbrücker Zeitung vom 24. März 1897. 44 Deutlich erkennbar am Ende der „Warnung für das Publikum“: „[ Jürgensen] benennt für gewöhnlich die zu zahlende Gebühr zunächst nicht, sondern fordert nachher in vielen Fällen für jede Ratserteilung die Summe von 12 Mk. Da die von dem sc. Jürgensen geforderten Geldbeträge, die von praktischen Ärzten in gleichen Fällen beanspruchten Gebühren um das 4–12fache überschreiten, halte ich es für geboten, die Bezirks-Eingesessenen auf das Treiben des Jürgensen hierdurch aufmerksam zu machen.“

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gegen die mangelnde Qualität der Behandlung sondern gegen deren angeblich übermäßige Honorierung. Die Anwendung äußerer Mittel, wie Salben, Umschläge oder Einreibungen fand in den Berichten der Aufsichtsbehörden häufige Erwähnung und war in der Laienheilkunde offenbar immer noch wichtiger Teil der Behandlung – auch wenn der Tenor der Berichte dabei nicht selten abschätzig war: Der sogenannte Kurpfuscher von Preist – Thom mit Namen, genießt viel Vertrauen, auch wenn er noch so oft krumm heilt; vermeintliche Knochenbrüche (d. h. Contusionen der Knochen) und Verstauchungen (Subliscationen), die er vielfach für Knochenbrüche ausgibt, sichern ihm den schönsten Erfolg und bringen ihn nach dem Einreiben mit seiner (…) Heilsalbe und nach Anlegung eines mehrwöchigen Verbandes die meisten Lorbeeren ein, weil sie schnell und schön heilen – ohne eine Dislocation zurückzulassen, welche ja überhaupt nicht vorhanden war.45

Ebenso wurde über die Gabe von „Medikamenten“ berichtet, wobei deren Zu­ sam­men­setzung fast immer im Dunkeln bleibt.46 Zumindest bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg war zudem auch das „Verbeten“ oder „Besprechen“ von Erkrankungen weit verbreitet.47 Nachzuweisen ist es für den Bereich der Eifel sogar bis in die 1930er Jahre hinein.48 Dabei kam diese Heilpraxis offenbar vor allem in Kombination mit anderen Verfahren gewissermaßen als Heilungsverstärker zur Anwendung.49 Insgesamt unterschied sich das Bild der Laien­heilkunde im ländlichen Raum demnach im hier untersuchten Zeitraum nur bedingt von dem früherer Zeiten.50 Der Gebrauch traditioneller Praktiken

45 LHAK Best. 442 Nr. 3897, Sanitätsbericht für den Kreis Bitburg für 1894, S. 81. Ähnlich auch GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 1328, Zusammenstellung der auf den Erlass vom 9. Oktober 1897 – M 3658 – eingegangenen Berichte der Regierungsund Oberpräsidenten, betreffend die infolge der Kurierfreiheit auf gesundheitlichem Gebiete gegenwärtig herrschenden Zustände, hier Bericht des Regierungspräsidenten zu Trier: „Die Zahl der Kurpfuscher im Bezirk [Trier] wird als bedeutend angenommen. Im Kreise Wittlich 14 Pfuscher und Pfuscherinnen, zu denen auch Pfarrer, Lehrer, Förster, Hebammen und dgl. gehören. Behandlung durch Wasserkuren, Elektrizität, Massiren, Salben u.s.w.“. Auch LHAK Best. 442 Nr. 3139, Sammlung gedruckter Berichte über die Gesundheitsverhältnisse im Regierungsbezirk Trier, passim. 46 Beispielsweise LHAK Best. 403 Nr. 11070, Schreiben des Distriktarztes Manderscheid vom 12. Juli 1861: „Hierdurch die Anzeige, daß Jakob Heik in Musweiler durch Verabreichung homöopathischer Mittel medicinische Pfuscherei treibt. Siegfried P. in Pantenburg erklärte mir am 8. Mai (…), daß sein einige Wochen vorher gestorbenes achtjähriges Kind, welches mir wenige Stunden vor seinem Tode als Patientin überwiesen wurde, von eben genanntem Herk längere Zeit behandelt worden d. h. Pülverchen von ihm eingenommen habe.“ 47 Siehe dazu Kapitel 3.4. Siehe auch AADV ADV-Fragekarten, Karte 149 8 3 bo und Karte 149 1 5ar (beide Rittersdorf). 48 Zender, Verbeten. 49 Ebd., S. 87. Er erwähnt hier Umschläge mit „Petroleum“, „Schweinegalle“, „Kalkbrüheumschläge“. 50 Vgl. für das 16.–18. Jhdt. Brockliss/Jones, Medical World, insbes. S. 320.

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be­weist deren anhaltende Wertschätzung und Anerkennung durch die lokale Be­völkerung. 7.2.2. Ärzte Im Rahmen einer Auseinandersetzung um die Höhe der Arzneimittelausgaben in der Gemeinde Gerolstein berichtete der dortige Armenarzt Dr. Waldbaum im Juli 1881 an die Königliche Regierung in Trier.51 Dieses Schreiben ist in zweifacher Hinsicht von besonderem Interesse für die hiesige Untersuchung. Zunächst berichtete Dr. Waldbaum in dem Schreiben über die Existenz – beziehungsweise das Fehlen – einer sogenannten Armen-Pharmacopöe. Hinter diesem Begriff verbarg sich eine Auflistung derjenigen Medikamente und Ingredienzien, die ein Arzt bei der Behandlung Armer auf Kosten der Gemeinde verwenden und verschreiben durfte.52 Wohl in Erwartung einer solchen Regelung hatte sich Waldbaum beim Abschluss seines Anstellungsvertrages als Distriktarzt im Jahre 1877 beim Bürgermeister danach erkundigt und hatte erfahren, dass er bei der Auswahl seiner Medikamente „in keiner Weise an eine Armen-Pharmacopöe gebunden“ sei.53 Auch wenn man Waldbaums Erkundigung dahingehend interpretiert, dass derartige Regelungen seinerzeit zumindest nicht außergewöhnlich waren54, deuten dennoch die Umstände, dass bereits sein Vorgänger keiner solchen Einschränkung unterworfen war und dass auch die erhaltenen Verträge der Distriktärzte von Zeltingen 1882 und Kastellaun 1895 keinerlei dahingehende Bestimmungen mehr aufwiesen, auf eine weitgehende Gleichbehandlung von kranken Armen und Nichtarmen hinsichtlich ihrer Medikation hin.55 Der zweite Umstand, der das genannte Schreiben für die hiesige Untersuchung wertvoll macht, ist die Tatsache, dass es sich dabei um eine der wenigen Quellen handelt, die genauere Angaben zu angewandten Medikamenten und Heilmitteln der ärztlichen Behandlung liefert. Waldbaum beschrieb die von ihm verwendeten Medikationen teilweise sehr detailliert. 56 Erwähnt werden etwa Syrupus Rhei (Rhabarbersaft), Syrupus Spinae cervinae ( Kreuzdornbeerensirup), Liquor ferri sesquichlorati (Eisenchlorid), Argentum nitricum (salpetersaures Silberoxyd), Acidum muriaticum (Salzsäure) oder Chloralhydrat, daneben „Medizinalweine (…) in kleinen Dosen“, worunter etwa Xeres, Tokayer 51 LHAK Best. 442 Nr. 3851, Schreiben des Dr. Waldbaum vom 07. Januar 1881. 52 Vgl. dazu Mattis, Armen-Pharmakopöen. In der modernen Diskussion um die steigenden Medikamentenausgaben im Gesundheitswesen ist dieses Prinzip der beschränkten Erstattungsfähigkeit unter dem Begriff der „Positivliste“ geläufig. 53 LHAK Best. 442 Nr. 3851, Schreiben des Dr. Waldbaum vom 07. Januar 1881. 54 Nach Mattis, Armen-Pharmakopöen, S. 119–120 wurden die eigentlichen Armenpharmakopöen seit 1830 von Arzneiindizes für die Armenbehandlung ohne den verpflichtenden Charakter der Pharmakopöen abgelöst. 55 Zudem sind keine weiteren Hinweise auf Armenpharmakopöen etc. erhalten. 56 Dem Gegenstand der Korrespondenz nach zu urteilen handelte es sich dabei vor allem um die teureren unter den verschriebenen Heilmitteln.

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oder Sherry fielen.57 Sabine Marx interpretiert diese Medikationspraxis als Beispiel für die Beharrungskraft traditioneller humoralpathologischer Krankheits- und Behand­lungskonzepte. 58 Die Angabe Waldbaums, er habe auch „St.-Germain-Thee“ verschrieben, lässt die geringen Unterschiede in der praktischen Durchführung einer Behandlung zwischen Ärzten und Laienheilern sichtbar werden. Wie sehr zudem die ärztliche Behandlungspraxis nach wie vor auf Experiment und Beobachtung angewiesen war, macht das Beispiel Dr. Alexanders aus Bernkastel deutlich: Eine Bemerkung die Prophylaxe angehend glaube ich hier machen zu sollen. Bis vor 9 Monaten etwa empfahl ich den gesunden Geschwistern von an Diphterie erkrankten Kindern prophylaktisch Gurgelungen mit chlorsaurem Kali, übermangansaurem Kali, Kalkwasser etc. habe aber gefunden, daß diese Präparate die gesunde Rachenschleimhaut reizen und einen hyperämischen Zustand erzeugen, der ganz gewiß zum Ausbruch der Krankheit beitragen kann. Ich lasse deshalb nur noch mit Eiswasser gurgeln.59

Die Schilderung der Behandlung ihres Mannes durch die Ehefrau von Willi P. aus dem Jahr 1909 zeigt, dass – wenn auch in Einzelfällen – auch sehr drastische überlieferte Behandlungsmethoden noch zur Anwendung kommen konnten: Mein Mann hat seit über 2 Jahren etwas am Daumen der linken Hand, seit ½ Jahr ist das schlimmer, so daß die Hand schon 4x ausgebrannt worden ist.60

Derartigen Quellenaussagen zufolge erreichten die diagnostischen und therapeutischen Fortschritte, die die ärztliche Medizin am Ende des 19. Jahrhunderts in breiter Form machte, die Alltagspraxis ländlicher Arztbehandlungen nur sehr verzögert. In der Praxis der Therapie waren für die Betroffenen daher wenig Unterschiede zwischen Laienheilern und Ärzten zu erkennen. Als Medikamente nannte Dr. Waldbaum schließlich auch „Stärkungsmittel“ und „Fleischextract“.61 Diese Verschreibungen lenken erneut den Blick auf die Folgen mangelnder Ernährung, ein Problem, das in besonderer Weise kranke Arme betraf.62 Als besonders nahrhaft erachtete Lebensmittel wie 57 LHAK Best. 442 Nr. 3851, Schreiben des Dr. Waldbaum vom 07. Januar 1881. Dazu auch KAB-W 2.0.541, Schreiben des Bürgermeisters von Oberkail vom 18. Oktober 1902: „Vor einigen Jahren wurde nun festgestellt, daß Klein ein dem Genusse von geistigen Getränken stark zugethaner Mensch ist und hat sich daraus erst erklären lassen, weshalb der Ortsarmenverband Eisenschmitt denselben im Laufe der Jahre so viele Flaschen Liquer als Medikament hat bezahlen müssen.“ Zu den Bezeichnungen der Arzneimittel Arends, Arzneimittel. 58 Marx, Scientific Medicine, S. 188: „Dr. Waldbaum was clearly an example – and hardly an isolated one – of the persistence of traditional and humoral medicine in district Trier.” 59 LHAK Best. 442 Nr. 3897, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für 1894. 60 LHAK Best. 491 Nr. 305, Aufgenommene Beschwerde der Ehefrau Willi P. vom 08. Februar 1909. 61 LHAK Best. 442 Nr. 3851, Schreiben des Dr. Wallbaum vom 07. Januar 1881. 62 Der Gedanke einer „rationellen“ Ernährung von Armen erscheint bereits im 19. Jahrhundert. Bekanntestes Beispiel hierfür ist die nach ihrem Entwickler benannten „Rumford’sche Suppe“, die sich durch eine besonders günstige Verbindung von Nährwert und Preis aus-

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Fleisch, Fleischbrühe, Eier oder Brot, wurden in mehreren Fällen auf ärztliche Anordnung hin verschrieben oder bewilligt.63 Im Rahmen der erwähnten Kinderspeisungen im Kreis Bernkastel erhielten die Kinder so über 48 Tage eine tägliche „Frühstücksspeisung, Kakao mit Milchbrot, Milch“.64 Die Solbadkuren, die im Moselkrankenhaus Bernkastel, im Kloster Lieser und im evangelischen Krankenhaus in Rhaunen eingerichtet wurden, sahen in sechs Kuren für je 16 Kinder über sechs Wochen „drei wöchentliche Bäder mit anschließender Mahlzeit (Mehlsuppe mit Milch, Milchgebäck; Reispudding, Milchgebäck; Kakao, Milchgebäck)“ vor.65 Obwohl die Mahlzeiten vergleichsweise schlicht und spärlich erscheinen mögen, verdeutlichten zahlreiche Dankschreiben den Erfolg dieser „Behandlungen“.66 Zugleich ließen sie damit aber auch die katastrophale Ernährungslage der betroffenen Kinder sichtbar werden, in der allein schon eine relativ regelmäßige Ernährung eine deutliche Verbesserung des Gesundheitszustandes bewirkte: Der allgemeine Erfolg der Speisung war gut. Alle Lehrpersonen konnten feststellen, dass in dem auf die Speisung folgenden Unterrichte die Lebhaftigkeit und Frische der Kinder gegenüber der letzten Unterrichtshälfte vor derselben um ein Wesentliches gestiegen war, ein Erfolg, der die Arbeit, die die Speisung mit sich brachte, genügend lohnte. Dazu konnten wir bei unter- und schlechternährten Kindern ein erheblich besseres Aussehen und auch Gewichtszunahmen feststellen.67

7.2.3. Das Krankenhaus als Behandlungsort Anders als Laienheilern stand Ärzten neben ihrer jeweiligen Praxis mit den Krankenhäusern ein weiterer Ort der Behandlung zur Verfügung, der sich durch seine spezifische Konzeption für medizinische Belange auszeichnete. Dabei wurde der Patient in das örtliche Krankenhaus aufgenommen und dort gepflegt, die eigentliche Behandlung aber oblag dem Arzt, der ihn eingewie-

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zeichnen sollte. Vgl. dazu Thoms, Anstaltskost, S. 305–308. Umfassende theoretische Überlegungen zur Rationalisierung von Ernährung im 19. und 20. Jahrhundert bei Tanner, Fabrikmahlzeit, Etwa KAB-W 2.0.343, Auszug aus dem Protokollbuch des Gemeinderates Kinderbeuren vom 16. März 1914: „Gemeinderat beschließt der erkrankten Frau Bartholomäus T. aus Kinderb. vorläufig als Kräftigungsmittel jeden Tag zwei Eier, und wöchentlich ein Brot zu bewilligen.“; VGV BKS, Beschlussbuch des Gemeinderates Maring-Noviand, Eintrag vom 11. März 1883: Antrag des F. Kommler, der an Lungenentzündung erkrankten Frau Heynes Wein und Fleischbrühe auf Rechnung der Gemeinde zu verabreichen.“ Siehe dazu auch Kapitel 5.1. ALVR APR Nr. 3578, Schreiben des Landrats vom 21. Dezember 1925. Siehe dazu auch Kapitel 5.1.2. ALVR APR Nr. 3578, Schreiben des Landrats vom 24. Juni 1925. ALVR APR Nr. 3579, Dankschreiben zur Kinderspeisung Bitburg, Sammlung vom 15. Mai 1930; ALVR APR Nr. 3578, Bericht zur Kinderspeisung vom 30. April 1926. ALVR APR Nr. 3579, Dankschreiben zur Kinderspeisung Bitburg, Schreiben der Volksschule Neuerburg vom 01. Mai 1930.

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sen hatte.68 Für die betroffenen Armen bedeutete die Aufnahme in ein Krankenhaus demzufolge in den meisten Fällen keine Veränderung der behandelnden Person.69 Theoretisch hatten Arme im ländlichen Raum in dieser Hinsicht gegenüber Armen im städtischen Kontext einen Vorteil, da die Stelle des Krankenhausarztes in den neueren Krankenhäusern eigenständig besetzt wurde.70 Erhaltene Aussagen in den Quellen zeigen, dass das Vertrauen in die Krankenhausbehandlung insbesondere unter der ärmeren Landbevölkerung am Ende des 19. Jahrhunderts allmählich zunahm. Zurückhaltend formulierte Regierungsmedizinalrat Dr. Schwartz 1882 noch: Im Uebrigen ist zu constatiren, daß die unter den ärmeren Klassen sonst vorherrschende Scheu vor den öffentlichen Krankenhäusern mehr gewichen ist, und daß auch die Armen jetzt vertrauensvoller in dieselben gehen. Dies hat nicht am wenigsten seinen Grund in der sorgsamen Pflege der dort waltenden Ordensschwestern.71

Im Jahr 1903 hingegen betrachtete der damalige Regierungsmedizinalrat eine Krankenhausüberführung beinahe schon als Normalfall. Der Regierungsmedizinalrat führt aus, daß das Vorurteil der Bevölkerung gegen die Krankenhäuser mehr und mehr im Schwinden sei, nach den Erfahrungen des Kreisarztes Schmidt bildet die Krankenhausbehandlung jetzt die Regel, ein Widerstand findet sich nur event. in besseren Familien, bezw. bei vorgeschrittener Krankheit auch bei dem Patienten, weil er nicht im Krankenhaus sterben will.72

Für Katja P. war das Krankenhaus 1899 zum Wunschort ihrer weiteren Behandlung geworden. wann ich Herrn Docktor und Apotheke frei habe will ich gerne mit den Renten zufrieden sein aber am allerliebsten wäre es mir wann ich immer Aufnahme im Krankenhaus hätte mein Leiden hat sich ja schon wieder verschlimmert seit ich von Bonn weg bin hier habe ich die gute Pflege und Behandlung nicht wie in Bonn ich habe jeden Tag Ärztliche behandlung nöthig.73

Barbara Elkeles hat in diesem Zusammenhang den Wahrnehmungswandel vor allem der Armenbevölkerung gegenüber den Krankenhäusern betont, denen diese mit eigenem Bett und regelmäßigem Essen Lebensumstände boten, 68 KAB-W 2.0.343, Schreiben der Frau Willibald J. vom 03. Januar 1912; LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Reisebericht über die Besichtigung der Krankenanstalt Zeltingen am 04. März 1914. 69 Dass dieser Umstand zu einer Steigerung der Akzeptanz des Krankenhauses führte, ist denkbar, aber nicht nachweisbar. 70 Dross, Krankenhaus, S. 211–222. In der Praxis spielte dieser Unterschied gerade bei den Armen aber wohl nur eine geringe Rolle, da – zumindest im Düsseldorfer Beispiel – die Armenarzt- und die Krankenhausarztstelle in Personalunion besetzt waren. 71 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 127f. 72 GStA PK I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 417, Bericht des Ministerialdirektors Wirklicher Geheimer Regierungsoberrat Dr. Förster über die am 14. bis 17. Dezember 1902 in Begleitung des Geheimen Obermedizinalrates Dr. Schmidtmann ausgeführte Dienstreise nach Trier. 73 LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben der Katja P. vom 27. Oktober 1899.

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die ihnen im Alltag oft nicht gegeben waren.74 Hinter dem Bedürfnis nach der „guten Pflege“ in Katja P.s Schreiben scheint eine ähnliche Wahrnehmung zu stehen. Offenbar hatten sich positive Erfahrungen mit der Behandlung im Krankenhaus unter der Bevölkerung verbreitet.75 Mit der geschilderten Entwicklung der Hospitäler zu ‚neuen’ Krankenhäusern verbesserten sich die Rahmenbedingungen einer solchen Krankenhausbehandlung für die Kranken erheblich.76 Exemplarisch sei dies an der Situation des Krankenhauses in Zeltingen verdeutlicht. In seinem Bericht über die Besichtigung der Krankenanstalten seines Bezirks fällte der Regierungsmedizinalrat Dr. Schlecht 1902 ein niederschmetterndes Urteil über die Qualität des Hospitals in Zeltingen: Die Lage der Krankenanstalt in Zeltingen ist eine sehr eingeengte. Die Krankenräume entsprechen nicht den an solche zu stellenden Anforderungen. Es waren nur 2 Krankenräume vorhanden. Ein 3. Raum wurde am Besichtigungstage als Bügelzimmer benutzt, für gewöhnlich scheint er nach der Ausstattung als sog. Fremdenzimmer der Schwestern benutzt zu werden. In einem der Krankenräume lag ein Typhuskranker. Die Isolierung war nicht hinreichend und konnte nicht hinreichend sein. Die Treppe, welche von dem Hausflur zu den Krankenräumen führt, ist eng und wenig belichtet. Wie eine Trennung der Infektionskranken so ist auch eine Trennung der Geschlechter nicht ausführbar. Die Schlafräume der Ordensschwestern auf dem Dachboden sind völlig ungeeignet und zu klein. (…) Die Anstalten in Lieser und Zeltingen entsprechen nicht den geringsten Anforderungen an Krankenanstalten. Sie stellen gleichfalls lediglich armselige Nothbehelfe dar.77

Doch bereits 1906 verwies der Zeltinger Bürgermeister in seiner Stellungnahme zu einem weiteren Bericht über das Krankenhaus, welcher nicht wesentlich besser ausgefallen war, auf „schwebende Verhandlungen“ über einen Erweiterungsbau.78 Dieser Erweiterungsbau wurde schließlich 1912 begonnen und sah unter anderem die Einrichtung eines „Isolierraumes“ für Kranke mit ansteckenden Krankheiten vor.79 Schon zwei Jahre zuvor war die Ausstattung des Hospitals verbessert worden, indem ein „Operationstisch“ und ein „Sterilisations-Apparat“ angeschafft worden waren.80 Die ärztlichen Behandlungsmöglichkeiten im Krankenhaus waren damit in Bezug auf Ausstattung und Hygiene erheblich besser geworden, als es etwa in angemieteten Zimmern in Gasthöfen wie zuvor geschildert der Fall sein konnte.

74 Elkeles, Patient. Ebenso Spree, Krankenhausentwicklung, S. 84. 75 Seit dem beginnenden 20. Jahrhundert waren tendenziell alle sozialen Schichten unter den Krankenhauspatienten vertreten. Vgl. Spree, Armenhaus, S. 11. 76 Vgl. dazu Kapitel 2.3.2. 77 LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Auszug aus dem Reisebericht über die Besichtigung der Krankenanstalten des Kreises Bernkastel vom 13. September 1902. 78 Ebd., Stellungnahme des Bürgermeisters zum Bericht über die Besichtigung des Krankenhauses in Zeltingen vom 14. Juli 1906. Ähnlich auch Ebd., Stellungnahme vom 20. Oktober 1906. 79 LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Schreiben des Pastors Reichel vom 22. Februar 1912. 80 LHAK Best. 655,123 Nr. 522, Beschluss des Gemeinderats vom 22. März 1910.

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In den erhaltenen Unterstützungsanträgen und Schreiben der betroffenen kranken Armen erscheinen Krankenhäuser in erster Linie im Zusammenhang mit Operationen.81 Dies dokumentiert den Rückgang der Versorgungsfunktion des Krankenhauses für Alte und Sieche auch für die Armenklientel. Ein weiteres Indiz für diesen Wandel bieten die Angaben zur Verweildauer in einzelnen Häusern. Im Bericht des Regierungsmedizinalrats Dr. Schwartz lagen die Kranken im Trierer Mutterhaus – einer vergleichsweise frühen Krankenhausgründung – 1880 im Durchschnitt nur 44 Tage, gegenüber 126 Tagen als Durchschnittsverweildauer im Hospital in Wittlich.82 Dabei machen die wenig detaillierten und ungenauen Angaben zu Art, Umfang und Methoden der Operation ein Urteil über ‚Modernität’ und Notwendigkeit des jeweiligen Eingriffs unmöglich.83 Deutlicher lässt sich nur eine weitere Kompetenzabstufung zwischen den verschiedenen Krankenhäusern insofern erkennen, als dass schwerwiegende Eingriffe wie Operationen von „Lebertumoren“, „Grauem Star“ oder schweren Blasenerkrankungen nicht in kleinen Häusern wie etwa dem Zeltinger Krankenhaus oder auch dem Kreiskrankenhaus in Wittlich vorgenommen wurden.84 Solche kompliziert anmutenden Eingriffe fanden, den erhaltenen Quellen nach zu urteilen, praktisch immer in den großen städtischen Krankenhäusern in Trier oder sogar Bonn statt. Für Arme aus städtischen Kontexten ist bereits früher gezeigt worden, dass an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Ablehnung der Krankenhäuser vor allem bei den jüngeren Betroffenen einer zunehmenden Akzeptanz derselben wich, die bis hin zur Einforderung hygienischer und pflegerischer Standards reichte.85 Die hier gewonnenen vergleichbaren Ergebnisse deuten – bei aller Vorsicht gegenüber der schmalen Quellengrundlage – an, dass die ländliche Bevölkerung gegenüber Stadtbewohnern in diesen Wahrnehmungsveränderungen keineswegs langsamer oder unwilliger blieb.

81 Etwa LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Schreiben der Witwe Lorenz B. vom 14. Juli 1919; Ebd. Nr. 971, Antrag des Hannes N. vom 31. Oktober 1928; KAB-W 2.0.343, Attest des Dr. Feinmut vom 28. April 1911. 82 Schwartz, Gesundheitsverhältnisse 1880, S. 122. Die Angaben für andere Anstalten u.a. Lieser 58 Tage, Prüm 92 Tage, Bernkastel 47 Tage. Nach Spree, Armenhaus, S. 4 betrug die Verweildauer im frühen 20. Jahrhundert im Hamburger St.-Georg-Krankenhaus 30 Tage, um 1910 nur noch 25 Tage. 83 Zudem bleibt dem Verfasser als Nichtmediziner eine angemessene Beurteilung verwehrt. 84 LHAK Best. 655,191 Nr. 405, Schreiben des Mutterhauses zu Trier in der Behandlungssache Michels vom 09. Dezember 1925; Ebd. Nr. 1040, Schreiben des Bürgermeisters in der Behandlung Witwe Hannes J. vom 03. Februar 1911; LHAK Best. 491 Nr. 319, Ärztliches Attest für Friedhelm J. vom 03. Juli 1912. 85 Nach Steiner, Grenzen, S. 86 sind Eindrücke der Krankenhausvermeidung vor allem auf Kostengründe zurückzuführen, nicht aber auf eine mangelnde Akzeptanz der Institution Krankenhaus; Ähnlich Elkeles, Krankenhaus, S. 101; Bleker, Benefit. Gunnar Stollberg weist dagegen auf andauernde Vorbehalte der (Arbeiter-)Bevölkerung auch am Ende des 19. Jahrhunderts hin. Stollberg, Health, S. 273–274.

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7.3. Der ‚medizinische Fortschritt’ und seine Wahrnehmung Der Vergleich der Behandlungspraktiken von Ärzten und Laienheilkundigen im ländlichen Raum von Eifel und Hunsrück zeigte, dass auch am Ende des 19. Jahrhunderts die Unterschiede in der konkreten Behandlungspraxis für den jeweiligen Kranken nicht zwingend deutlich werden mussten. Vor diesem Hintergrund waren die Krankenhäuser wichtige Orte der Begegnung von Medizin und Heilungssuchenden, an welchen der Erkenntnisfortschritt der akademisch-ärztlichen Medizin vergleichsweise direkt greifbar wurde – etwa in Form spezieller Operationstische oder Isolierräume.86 Die im Vergleich zu den Städten verzögerte Einführung brachte es dabei mit sich, dass bei der Einrichtung der Krankenhäuser im ländlichen Raum bereits auf Erfahrungen und technische Entwicklungen Rücksicht genommen werden konnte. Das Krankenhaus in Traben-Trabach, Kreis Zell, verfügte so bereits 1903 über einen Röntgenapparat, also nur wenige Jahre nachdem Wilhelm Conrad Röntgen die nach ihm benannten Strahlen überhaupt entdeckt hatte.87 Beispielsweise waren Asepsis und Antisepsis, die in besonderem Maße zu Fortschritten in der Chirurgie führten, schon an der Wende zum 20. Jahrhundert im Krankenhausbetrieb verbreitet, als die meisten der Krankenhäuser im hiesigen Raum geplant und errichtet wurden88, Ähnliches gilt für die Verbesserung der Anästhesierungsmethoden um 1900.89 Wurden entsprechende Verbesserungen bereits bei der Neuerrichtung der Krankenhäuser berücksichtigt, war dies tendenziell dazu geeignet, die Modernitätserfahrung für die Patienten sogar noch zu verstärken. Umso mehr galt dies, als auch die neuen Krankenkassen begannen, die Häuser in zunehmendem Maße für die Behandlung und Pflege ihrer Mitglieder in Anspruch zu nehmen und damit das wirtschaftliche Potential der Krankenhäuser vergrößerten.90 Dennoch waren die Krankenhäuser keineswegs die einzigen Orte der ‚Fortschrittserfahrung’. So waren etwa die Stellen der sogenannten Desinfektoren eine Einrichtung, welche der Landbevölkerung neue medizinische Erkenntnisse und daraus resultierende Verhaltensweisen konkret sichtbar und erfahrbar machte. Bei diesen handelte es sich um Personen, die zur Desinfektion von Gegenständen und Häusern – besonders im Rahmen der Seuchenbekämpfung – mittels neuartiger Desinfektionsapparate ausgebildet wurden. Anspruch und Aufwand zur entsprechenden Ausstattung der Gemeinden waren dabei hoch. So wurden bis 1903 alleine im Regierungsbezirk Trier über 1000 Desinfektoren 86 Den Röntgenapparat als sichtbares Zeichen des Fortschritts deutet etwa Doering-Manteuffel, Eifel, S. 219. In England entschied im Rahmen der Einführung des National Health Service das Vorhandensein eines Röntgenapparates sogar über die Einstufung eines Hospitals als NHS-Anstalt. Crowther, Provincial England, S. 216. 87 Weinmann, Krankenhaus, S. 60. 88 Vgl. Spree, Anspruch, S. 11. 89 Vgl. Stokes, Purchasing, S. 65. 90 Dross/Weyer-von Schoultz, Armenwesen; Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 194.

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im Umgang mit den entsprechenden Geräten geschult.91 Dem Anspruch, es „soll jede Gemeinde ebensogut einen Desinfektionsapparat haben, wie eine Feuerspritze“, versuchte man mit einer preislich wie funktional breiten Angebotspalette entsprechender Geräte gerecht zu werden.92 Der Einsatz der Desinfektoren und ihrer Gerätschaften, etwa zur Desinfektion betroffener Wohnungen im Falle ansteckender Krankheiten, geschah sicherlich nicht ohne örtliches Aufsehen. Materiell sichtbar wurde der medizinische Fortschritt sicherlich auch, wenn im Dorf ein „Margarethenschrank“ installiert wurde, oder eine „Sanitätskolonne“ mit Trage oder Tragenwagen aktiv wurde. Gerade die Materialität und Sichtbarkeit solcher Gegenstände des medizinischen Fortschritts ließ sie so zu „Knotenpunkten im Geflecht sozialer Normen und kultureller Handlungen“ werden, an denen die Annäherung von Stadt und Land im Hinblick auf die Verbreitung der neuen Medizin gegenständlich erfahrbar wurde.93 Zudem darf auch der Einfluss lokaler und überlokaler Berichterstattung nicht unterschätzt werden. Welche Folgen die Berichterstattung über medizinische Fortschritte nach sich ziehen konnte, zeigt ein Bericht des Bernkasteler Kreisarztes über die Folgen der Ankündigung des Tuberkulins durch Robert Koch auf dem Internationalen Medizinischen Kongress 1890.94 Die dort an prominenter Stelle verkündete Nachricht95, endlich ein – vermeintliches – Heilmittel gegen die Tuberkulose gefunden zu haben, löste in ganz Deutschland euphorische Reaktionen aus.96 Die hoffnungsfrohen Zeitungsberichte, in denen das neue Medikament „durch die überschwenglichsten Dithyramben verherrlicht wurde“ erreichten auch die Menschen an der Mosel, wodurch – so der Kreisarzt – „die Stellung der Ärzte im Bezirk eine recht unangenehme“ wurde. Ihre Hinweise, dass „Erfahrungen bis dahin noch nicht vorlägen und es nicht gut sei, in der Privatpraxis zu experimentieren“ blieben unbeachtet. Die Forderungen nach dem neuen Mittel wurden offenbar so beharrlich vorgetragen, dass einige Ärzte sich genötigt sahen, vor Ort in Berlin über die 91 GStA PK Best. I HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B Nr. 417 Bericht des Ministerialdirektors Wirklicher Geheimer Regierungsoberrat Dr. Förster über die am 14. bis 17. Dezember 1902 in Begleitung des Geheimen Obermedizinalrates Dr. Schmidtmann ausgeführte Dienstreise nach Trier: „Gemäß § 37 der Dienstanweisung sind durch die Kreisärzte in sämtlichen Kreisen bis auf Daun, woselbst die Ausbildung noch im Gange ist, insgesamt 1051 Desinfektoren ausgebildet, besonders bemerkenswert ist dabei die Beteiligung der Angehörigen der katholischen und evangelischen Ordensgenossenschaften (494 Personen).“ 92 Ebd., „Es wird ein Desinfektionswagen von Wittlich (Kosten 270 M), 1 Desinfektionstornister (14 Kilo Gewicht – Militärtornister 22,5 kg – komplett 40 M) und ein Desinfektionskasten für Desinfektionsmittel demonstriert. Die Auswahl der letzteren ist auf die ungiftigen beschränkt worden.“ 93 Hauser, Dinge des Alltags, S. 59. 94 LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für 1890, S. 189–193. Daraus auch die folgenden Zitate. 95 Vgl. Condrau, Patientenschicksal, S. 121. 96 Vgl. hierzu v.a. Hähner-Rombach, Tuberkulose, S. 146–159, insbes. für den Württemberger Raum.

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neuen Erkenntnisse zu informieren. Genauso rasch, wie diese Euphorie ausgebrochen war, fiel sie allerdings auch wieder in sich zusammen, als bekanntwurde, dass das neue Heilmittel in seiner Wirkung keinesfalls den gehegten Erwartungen entsprach: Mittlerweile brachte die Presse Urteile über das Mittel, in denen seine Heilkraft vollkommen abgesprochen wurde, infolgedessen war, als es bekannt wurde, daß im hiesigen Kloster Tuberkulöse nach dem neuen Verfahren behandelt würden, die Zahl der sich meldenden Kranken eine so winzige, daß sie ins Quadrat erhoben auch nicht annähernd den Erwartungen entsprach, welche nach den früheren Vorgängen gehegt werden durften.97

Auch wenn dem Tuberkulin kein Erfolg beschieden war, so machen doch sowohl die heftige Reaktion auf die Presseberichte mit seiner Ankündigung, als auch deren rasches Abklingen nach den ersten Nachrichten des Misserfolgs deutlich, dass auch im ländlichen Raum medizinische Neuerungen aufmerksam und mit prinzipieller Offenheit verfolgt wurden. In ähnlicher Weise spiegeln auch die spöttischen Bemerkungen des Altenkirchener Kreisarztes über die Verbreitung medizinischer Termini eine achtsame Wahrnehmung medizinisch geprägter Thematiken in der ländlichen Bevölkerung wider: Die vormaligen Erkältungs-Krankheiten Schnupfen, Husten, Muskelrheumatismus etc. haben ihren Namen gewechselt und werden seit der Einwanderung jenes unheimlichen Gastes „Influenza“ mit dem Collectivnamen „Grippe“ bezeichnet. Selbst der sonst so conservative Landmann nennt seinen Schnupfen nicht mehr Schnupfen, nein, er ist an der „Grippe“ erkrankt, die sich ihm auf die Nase geworfen.98

Dieser Fall passt zu Beobachtungen am Beispiel von Patienten der französischen Oberschicht des 18. Jahrhunderts, die sich neue medizinische Erklärungsmodelle für Anfallkrankheiten aneigneten.99 Sie zeigen in ähnlicher Weise, wie medizinischer Fortschritt Begrifflichkeiten und Wahrnehmungen der betroffenen Kranken allmählich veränderte. Dennoch dürfen diese Beobachtungen nicht zu der Annahme verleiten, signifikante medizinische Erkenntnisfortschritte hätten das gesundheitliche Verhalten stets unmittelbar und dauerhaft verändert. Die Beschreibung des Umgangs mit ansteckenden Seuchen in den ärztlichen Berichten zeigt, dass sich Verhaltensmuster zeitlich und regional sehr unterschiedlich veränderten. So verzeichnete der Bernkasteler Kreisarzt in Bezug auf die Diphtherie bereits 1894, dass „anerkennenswert ist, daß jetzt bei dieser Krankheit die Eltern gleich im Anfange einen Arzt consultieren“, während der Kreisarzt in Wittlich noch 1897 festhielt: 97 LHAK Best. 442 Nr. 3893, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für 1890, S. 192–193. Auch der Kreisarzt kam nach Anwendung des Tuberkulin zu dem Ergebnis „daß alle geimpften subjektiv Besserung verspürten, während objektiv weder durch Auscultation und Percussion, noch durch das Mikroskop, nicht bloß keine Besserung, sondern einige Male eine Verschlechterung zu constatiren war.“ 98 LHAK Best. 441 Nr. 13675, Jahresgesundheitsbericht des Kreisarztes für den Kreis Altenkirchen pro 1900, S. 83f. 99 Jung/Ulbricht, Krankheitserfahrung, S. 143.

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Bei ansteckenden Krankheiten gelangen die ersten Krankheitsfälle nicht zur Kenntnis des Arztes und tragen zur Weiterverbreitung bei. Vor zwei Jahren hat eine Diphteritisepidemie, welche zahlreiche Opfer unter den Kindern forderte dadurch ihre Verbreitung gefunden, dass die ersten Fälle von homöopathischen Kurpfuschern behandelt wurden.100

Ein wesentliches Einflussmoment auf die Bereitschaft der örtlichen Bevölkerung, sich den medizinischen Neuerungen zu öffnen, muss in deren Antizipation entstehender Kosten gesehen werden. So konstatierte Robert Koch im Rahmen seiner Feldstudie zur Typhusverbreitung im Regierungsbezirk Trier, dass das anfängliche Misstrauen und die Zurückhaltung der Bevölkerung gegenüber den Anordnungen der auswärtigen Mediziner schwand, als klarwurde, dass den Bewohnern der entsprechenden Orte hierdurch keine Kosten entstünden.101 Die Zurückhaltung der Bevölkerung erscheint hier nicht als Verhaftung in Tradition und grundsätzliche Innovationsfeindlichkeit, sondern als Ergebnis einer vorsichtigen Abwägung von – hier im Wortsinne – Kosten und Nutzen der neuartigen Behandlungsmethoden. Eberhard Wolff hat gezeigt, dass langsames Kennenlernen und Umsetzen von (medizinischen) Innovationen gerade für eine landwirtschaftliche Bevölkerung nicht als ablehnende Haltung gegenüber Neuerungen, sondern, angesichts des geringen ökonomischen Risikospielraums in der bäuerlichen Landwirtschaft, als rationale Bewertung von Kosten und Nutzen verstanden werden muss.102 Ohne Zweifel erleichterten die Fortschritte der ärztlichen Medizin in Diagnose und Therapie die zunehmende Akzeptanz derselben auch im ländlichen Raum. Dies darf allerdings nicht allein als asymmetrisches Verhältnis gelesen werden, in dem diese Akzeptanz auf die Überzeugungskraft der Ärzte zurückzuführen sei.103 Zur Steigerung trug auch die erkennbar vorhandene Bereitschaft der Landbevölkerung bei, Neuerungen kennenzulernen und anzunehmen.104 7.4. Von flockendem Eiter, unreinen Schalen und heilenden Salben: Der Fall Ludwig N. Im vorangegangenen Kapitel ist am Beispiel des an einer eitrigen Hodenentzündung erkrankten Ludwig N. aus Sabershausen die Suche eines Betroffenen 100 LHAK Best. 442 Nr. 3896, Sanitätsbericht für den Kreis Bernkastel für 1893, S. 17; LHAK Best. 442 Nr. 3851, Schreiben des Kreisarztes Wittlich vom 14. Dezember 1897. 101 „Im Anfang waren die Leute etwas misstrauisch und zurückhaltend, hauptsächlich wohl deswegen, weil sie immer fürchteten, dass ihnen Unkosten erwachsen würden. Sobald sie aber merkten, dass es ihnen gar nichts kostete, dass sie alles umsonst hatten, gingen sie auf alle unsere Wünsche ein.“ Koch, Typhus, S. 18. 102 Wolff, Pockenschutzimpfung, S. 422–425. 103 Vgl. Huerkamp, Wandel, S. 64. 104 Ähnlich Stolberg, Heilkundige, S. 80, der die Übernahme von Praktiken und Verfahren als Beleg der grundsätzlichen Offenheit liest, die aber noch nicht zwingend eine umfassende Übernahme des ganzen ärztlichen Medizinkonzepts bedeutete.

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nach Heilung für sein Leiden beschrieben worden. Besagter Fall soll an dieser Stelle wieder aufgegriffen werden, um mögliche Praktiken und Verlauf einer ärztlichen Behandlung im ländlichen Raum am Ende des 19. Jahrhunderts anschaulich werden zu lassen. Ludwig N. war bis zu seiner Erkrankung bereits „mehrfach vorübergehend“ in armenärztlicher Behandlung beim Armenarzt der Bürgermeisterei Kastellaun, Dr. Koch, gewesen und nach dessen Aussage „stellte er sich meist persönlich bei mir [Dr. Koch, d. Verf.] vor“.105 Der übliche Ort der Konsultation war also die ärztliche Praxis und Sprechstunde gewesen, obwohl der 1895 geschlossene Distriktarztvertrag des Dr. Koch diesen „falls erforderlich“ zum Hausbesuch verpflichtete.106 Am 5. Dezember 1896 wollte nun die Ehefrau des Ludwig N. diesen ob der Bettlägerigkeit ihres Mannes um einen Hausbesuch bitten. Bei seinem Besuch behandelte der Arzt den Kranken, indem er durch Punktion des geschwollenen Hodens den Ausfluss der darin befindlichen „strikt gelben flockigen Flüssigkeit“ ermöglichte.107 Ergänzend erteilte er „Verhaltensmaßnahmen“, ohne dass aus den Quellen genauer ersichtlich wird, worin diese bestanden. Die Behandlung führte jedoch nicht zum gewünschten Erfolg, so dass der Arzt nach einigen Auseinandersetzungen einen weiteren Hausbesuch absolvierte.108 Auch diesmal behandelte er den Kranken in erster Linie chirurgisch: Bei der Untersuchung fand ich den erkrankten Hoden verdickt, um denselben eine größere Eiteransammlung: ich entleerte durch mehrere Einschnitte den Eiter, gab Anweisung zur Behandlung der Wunde, die ein in Sabershausen ansässiger, früherer LazarettGehülfe übernehmen wollte, und versorgte den Kranken mit dem nötigen Verbandmaterial. Die Schmerzen in den Beinen hielten an, die Wunden eiterten weiter ohne zu schmerzen. Gegen ersteres habe ich dem L. am 15. und am 21. Februar Linderungsmittel verordnet, außerdem selber das Verbandzeug ergänzt. Meine Anwesenheit in S. war seit dem operativen Eingriff weder notwendig, noch wurde sie gewünscht.109

Die weitere praktische Versorgung des Patienten überließ Dr. Koch damit dem laienheilkundigen früheren Lazarettgehilfen und beschränkte sich selbst auf Verschreibungen von Medikamenten. Dieser ehemalige Lazarettgehilfe kritisierte die Qualität der ärztlichen Behandlung durch Dr. Koch: Der Lazarettgehülfe ist der Invalide Johan Reiz, Sohn von Jakob Reiz, ich hatte denselben längere Zeit täglich mehrmals im Hause zur Krankenpflege, da oferirte derselbe mir unter anderem Als man ihn ersuchte die Pflege bei Ludwig N. zu übernehmen sei ihm gleich aufgefallen, das das von Herrn Doktor Koch zum Verband zurückgelassenen Verbandwasser Sylinmatwasser hätte es ihm erscheind zu sein, in einer ganz unreinen Schale gewesen wäre, was ganz gegen ihre frühere Instruktion wäre, und ein Verband sei gar nicht angelegt gewesen und sei der krankhafte Fehler mit Watte unterlegt gewesen, was ihm schiene gewöhnliche Kleiderwatte zu sein den nach Aussage von Lauderbach hätte 105 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Bericht des Dr. Koch vom 02. März 1897, S. 8f. 106 Siehe dazu Kapitel 1.2. 107 Ebd. 108 Zu den Umständen siehe Kapitel 6.3. 109 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Bericht des Dr. Koch vom 02. März 1897.

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die Frau selbige sich im Ort bei Leuten geben lassen weil Doktor Koch selbige verlangt und keine bei sich gehabt hätte. Und so sei das Wasser das durch den Einschnitt auslaufende (…) größtentheils ins Bett gegangen.110

Seine Kritik richtete sich hier offenbar gegen die hygienischen Standards der Behandlung und den Gebrauch ungeeigneter Verbandmaterialien. Der Verweis auf die frühere Instruktion zeigt, dass die Kritik dabei nicht nur aus seiner eigenen Erfahrung resultierte, sondern auf eine ihm bekannte ärztliche Anweisung rekurrierte. Die ärztliche Leistung musste sich an ihrem eigenen Anspruch messen lassen und gegebenenfalls hätte eine Behandlung durch den Laienheiler in diesem Fall diesen Ansprüchen sogar eher als die ärztliche selbst genügt. Bemerkenswert ist diese selbständige Einschätzung umso mehr, als der zweite behandelnde Arzt die von Dr. Koch vorgenommene Behandlung als „fachgemäß und richtig zur Ausführung gebracht“ bezeichnete.111 Der zweite Arzt, Dr. Jakobs, ebenfalls aus Kastellaun, war von Ludwig N. konsultiert worden, nachdem er selbst offensichtlich ebenfalls zu dem Urteil gekommen war, inkompetent behandelt worden zu sein. Er versorgte die Wunde neu, verschrieb einige Medikamente zur Wundbehandlung und eine abschwellend wirkende Salbe. Erhaltenen Aussagen des Kranken selbst machen deutlich, dass dieser recht genaue Vorstellungen davon hatte, was seiner Ansicht nach der „haubtschaden“ seiner Erkrankung war und wie dieser angemessen zu behandeln wäre. Die Wahrnehmung des Betroffenen richtete sich vor allem auf die angewandten Medikamente, deren erwähnte Verschreibungen nach der Operation er als unzureichend empfand: Hiermit die Bescheinigung, das auf hiesige Veranlassung der Ärztliche Besuch des Doktor Jakobs bei Ludwig N. stattgefunden hat denn da gestern nicht der Doktor Koch angegangen war die Sache bei Lauderbach zu besorgen wurde einige Medizin gegeben aber der Hauptschaden nicht versorgt worden, im ganzen glagt Lauderbach über Vernachlässigung von Seiten des Arztes in betreff des vorhandenen haubtschaden.112

Die Besserung seines Zustandes in der Behandlung durch Dr. Jakobs schrieb er in erster Linie der von diesem später verabreichten Salbe zu: Ludwig N. gibt an, seid er in Behandlung von Dr. Jakobs sei bessere sich sein leiden heute war derselbe wieder auf kürzere Zeit auser dem Bette in dem Lehnstuhl das erste Mal seit langer zeit und die Wunde an dem Hoden sei jetzt voll heil und das Geschwollene daselbst wange auch an und verringere sich Schmerzen hätten sich seid der Salbe von Jakobs bedeutend verringert früher sei es ärscher damit gewesen.113

Der Arzt machte sich hier die Kompetenzen des ehemaligen Lazarettgehilfen zunutze, um auf diese Weise selbst aufwendige Kontroll- und Pflegeaufgaben 110 Ebd., Schreiben des Gemeindevorstehers zu Sabershausen vom 26. Mai 1897. Unterstreichungen des Verf.. 111 Ebd., Schreiben des Dr. Jakobs vom 08. April 1897. 112 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Schreiben des Ortsvorstehers zu Sabershausen vom 23. Februar 1897. 113 LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Schreiben des Ortsvorstehers zu Sabershausen vom 14. März 1897.

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zu vermeiden. Der Umstand, dass keiner der beiden beteiligten Ärzte Kritik an der Einbeziehung des Johan Reiz äußerte, deutet darauf hin, dass eine solches Verhalten als akzeptabel empfunden wurde.114 Zumindest solange die ärztliche Autorität und Weisungsbefugnis nicht in Frage gestellt wurde115, herrschte in diesem Fall also durchaus ein Klima heilkundlicher Toleranz, welches zeitgleich beispielsweise auch in Frankreich nachgewiesen wurde.116

114 Eine enge Zusammenarbeit zwischen Arzt und Laienheiler dokumentierte auch der Kreisarzt von Bitburg 1905 in LHAK Best. 442 Nr. 3909, Kreisarztbericht für den Kreis Bitburg für 1905, S. 137: „Wie ich in Erfahrung gebracht habe, soll der praktische Arzt Dr. Schreiber in Speicher sich dazu hergeben, für die Kurpfuscherin Blesius in Speicher die Gutachten für die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft zu schreiben.“ 115 Vgl. Freytag, Aberglauben, S. 218. 116 Ackerman, Countryside, S. 4, konstatiert ein solches Verhältnis zwischen Ärzten und Laienheilern, obwohl die stärkere Präsenz städtischer Einflüsse im Umfeld von Paris durchaus eine schärfere Haltung der Ärzte hätte erwarten lassen. Einschränkend ist aber zu bemerken, dass das Vertrauen des Arztes in diesem Falle auf der Tatsache basierte mochte, dass Johan Reiz als „Lazarettgehülfe“ sein Handwerk unter ärztlicher Aufsicht erlernt hatte.

Kapitel 8: Krankheit und die Kosten Eine eingehende Betrachtung des Komplexes von finanziellen Belastungen durch Erkrankungen und deren Finanzierung ist im Rahmen der hier angestellten Untersuchung gleichermaßen Erfordernis wie Möglichkeit. Angesichts der auch in Zeiten persönlicher Gesundheit bereits knappen finanziellen Ressourcen ländlicher Armer bargen Erkrankungen stets die Gefahr, Arbeitskraft, Verdienst und verfügbares Einkommen der Betroffenen und ihrer Familien existenzbedrohend zu verringern. Ein genauer Blick auf die finanziellen Folgen einer Erkrankung ist daher unumgänglich. Zugleich bieten die hier herangezogenen Quellen eine gute Ausgangsbasis für eine solche Untersuchung. Die zentrale Rolle, welche die Suche nach finanzieller Hilfe in der Antragskorrespon­denz zwischen Betroffenen und Einrichtungen der Armenfürsorge spielte, ermöglicht gewissermaßen unter dem Vergrößerungsglas eine Untersuchung der existentiellen finanziellen Bedeutung von Erkrankungen für alle Beteiligten. Der Blick richtet sich dabei in der Hauptsache auf die kranken Armen selbst und die von ihnen in Finanzierungsfragen angesprochene Armenverwaltung. Für beide Seiten sollen Art, Dimension und Veränderung der Herausforderung Krankheit im Untersuchungszeitraum betrachtet werden. Gerade für den letzten Aspekt ist die Etablierung der Sozialversicherungen als neuem Element der Finanzierung von Krankheitsbehandlung von besonderer Bedeutung. Ihr jeweiliger Einfluss auf die finanziellen Belastungen der Beteiligten wird daher besonders betrachtet werden. Zentraler Gegenstand ist hier natürlich die Krankenversicherung, gegebenenfalls ergänzt um den Blick auf krankheitsbezogene Leistungen der Unfall- und Invaliditätsversicherung. 8.1. Finanzielle Belastungen von Krankheit für Arme Betrachtet man das Spektrum möglicher finanzieller Folgen von Krankheit für die Betroffenen, erscheint eine grundlegende Differenzierung evident. Auf der einen Seite standen direkte Kosten durch die Behandlung der Erkrankung selbst, sei es in Form von Zahlungen für Arztbehandlungen, Krankenhausaufenthalte oder Medikamente. Auf der anderen Seite standen indirekte Belastungen, etwa durch krankheitsbedingte Einkommensverluste oder die Bezahlung von Helfern für Tätigkeiten, die in der Zeit der Krankheit von den Betroffenen nicht selbst ausgeübt werden konnten. Die grundlegende Bedeutung dieser verschiedenen finanziellen Krankheitsfolgen ist auch an der Tatsache   

Martin Rheinheimer sieht „in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Großteil der [ländlichen, d. Verf.] Bevölkerung ständig an den Grenzen der totalen Verarmung.“ Rheinheimer, Jakob Gülich, S. 228. Siehe dazu Kapitel 2.4. und Kapitel 2.5. Hoffmann, Bräker, S. 123–126; Lachmund/Stollberg, Patientenwelten, S. 42–46; Jütte, Ärzte, Heiler, S. 201–204.

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erkennbar, dass von Beginn an im Leistungsspektrum der Krankenkassen, neben der Übernahme der direkten Kosten, mit dem Krankengeld eine Ausgleichszahlung für die indirekten finanziellen Verluste enthalten war. Der weit überwiegende Teil der hier zugrundeliegenden Korrespondenz zwischen kranken Armen, Armenverwaltungen und anderen Fürsorgeeinrichtungen thematisierte die direkten Kosten von Erkrankungen. Eine genaue, eventuell sogar statistisch unterfütterte Bestimmung der Anteile von Anträgen und Korrespondenz zu direkten oder indirekten Krankheitskosten war jedoch bedingt durch die bereits mehrfach erwähnte Disparität der Quellenlage nicht möglich. Im Ganzen waren in den ausgewerteten Akten 75 Anträge zu entdecken, die sich hinsichtlich der finanziellen Belastungen Armer durch Erkrankungen auswerten ließen. 8.1.1. Direkte Belastungen Arztkosten Von diesen 75 Anträgen beinhalteten 28 in irgendeiner Form einen Bezug auf die Belastung durch Arztkosten. Bei der Suche nach konkreten Zahlenangaben zur finanziellen Belastung durch notwendige Behandlungen fiel zunächst ins Auge, dass ein Teil dieser Anträge überhaupt keine derartigen Angaben verzeichnete, obwohl die Übernahme derartiger Kosten das zentrale Anliegen des Antrags darstellte. Betrachtet man den Zeitpunkt der Antragstellung, so ist festzustellen, dass Anträge ohne konkrete Zahlennennung fast immer diejenigen waren, bei denen der Unterstützungsantrag vor der Behandlung der Krankheit gestellt wurde. Allerdings erbaten die Betroffenen in einigen Fällen anstelle der Kostenübernahme für einzelne Behandlungen die Gewähr unentgeltlicher Armenarztbehandlung – was zumindest ein Indiz für die Antizipation hoher Kosten im Krankheitsfalle auf Seiten der Betroffenen darstellt. Bis zum Ende der zwanziger Jahre erschienen Anträge nach erfolgter Behandlung nur in Einzelfällen. Hingegen sind für die Jahre ab 1928 nur noch Anträge überliefert, die im Anschluss an ärztliche Behandlungen eine Erstattung oder Übernahme der entstandenen Kosten erbaten. Konkrete Zahlenangaben sind vor allem aus denjenigen Anträgen zu entnehmen, die erst nachträglich ge  

 

Diese Anzahl verspricht zwar keine statistische Sicherheit, die daraus zu gewinnenden Erkenntnisse haben aber durchaus über den Einzelfall hinaus Geltungsanspruch. Von den insgesamt 28 Anträgen wurden 17 im Vorfeld einer Behandlung und 11 im Anschluss an eine solche gestellt. Etwa KAB-W 2.0.343, Schreiben der Ehefrau Conrad P. vom 03. Januar 1914; LHAK 491 Nr. 305, Schreiben des Antonius N. vom 29. Juli 1900; LHAK 655,123 Nr. 1040, Schreiben des Gerd S. vom 25. November 1911; Ebd. Schreiben des Klaus W. vom 06. Februar 1914. Etwa LHAK Best. 491 Nr. 305, Niederschrift der Beschwerde der Walburga A. vom 26.11.1901. LHAK 655,123 Nr. 1040, Beschluss des Gemeinderats von Zeltingen vom 07.10.1913 zur Übernahme der Behandlungskosten der Hilde C.. Zur möglichen Bedeutung dieser Beobachtung siehe das folgende Kapitel.

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stellt wurden. Dies bot den Vorteil, tatsächlich entstandene Kostenangaben anstelle von Kostenschätzungen oder –voranschlägen interpretieren zu können. Die Bandbreite der Zahlungen, die für eine ärztliche Behandlung zu leisten waren, war offenbar synchron wie diachron sehr groß. So bat der Hirt Heinrich J. aus der Bürgermeisterei Gemünden im Kreis Simmern 1902 um die Übernahme zweier Arztrechnungen für die Behandlung seines kranken Kindes in Höhe von zusammen 70,85 Mark auf die Gemeindekasse. Gerbald P. aus Dahlem, Kreis Bitburg hatte 1929 für die Behandlung einer „Gallenblasenentzdg. (Steinbildung), Unterernährung und Alterserscheinun­ gen“ seiner Frau insgesamt 58,50 Mark an Dr. Freu in Speicher gezahlt, um deren Erstattung er die Gemeinde nun bat.10 Ein weitaus größerer Betrag belastete dagegen die Haushaltskasse von Baldur H. aus Matzen 1932: Der Gemeindevertretung dürfte zur Genüge bekannt sein, dass ich in den letzten Jahren mit allen möglichen Krankheitsfällen in meiner Familie zu tun hatte. Allein an Arztkosten habe ich schon annähernd 200,– Rmark in den letzten beiden Jahren bezahlt, heute erhalte ich die in der Ablage beigefügte Rechnung über Arztkosten in Höhe von 351,– RM. Dadurch, dass ich auch enorme Summen an laufenden Zinsen aufzubringen habe und von einem nennenswerten Verdienst heute in meinem Betrieb absolut keine Rede mehr sein kann, ist es mir unmöglich, die beiliegende Rechnung zu begleichen (…). Durch die Erntevernichtung im vergangenen Herbst und durch die Arbeitslosigkeit, bin ich so schon bald nicht mehr in der Lage den nackten Lebensunterhalt für meine 12köpfige Familie zu bestreiten, vielweniger denn, die Abtragung von sonstigen Schulden, die mir eben durch die verschiedensten Krankheitsfällen in meiner Familie entstanden sind, abzutragen.11

Das Beispiel des Baldur H. macht deutlich, dass insbesondere mehrere Krankheitsfälle innerhalb einer Familie oder zeitlich knapp hintereinander folgende Erkrankungen rasch zu hohen Gesamtsummen an Krankheitskosten führen konnten. Angesichts der häufig beengten Wohnverhältnisse war dies vor allem im Falle ansteckender Krankheiten eine recht häufige Folge. Auch wenn eine Rechnung von 300–500 Mark von Seiten eines Arztes sicherlich eine Ausnahme darstellte, lassen die erhaltenen Angaben darauf schließen, dass ein Kranker im Falle einer ärztlichen Behandlung mit Rechnungen in Höhe von 40 Mark und mehr zu rechnen hatte.12 

LHAK Best. 491 Nr. 279, Niederschrift zur mündlichen Antragstellung des Heinrich J. vom 21. Januar 1902. 10 LHAK Best. 655,191 Nr. 405, Attest des Dr. Freu vom 12. Oktober 1929. 11 LHAK Best. 655,191 Nr. 411, Schreiben des Baldur H. vom 07. Juni 1932. 12 Weniger als 40,– RM betrug keine der angegebenen Summen. Weitere angegebene Beträge: KAB-W 2.0.541, Mitschrift des Antrags von Balduin J. vom 21. Juli 1904: 89,50 M; LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Schreiben der Witwe Mathias K. vom 24. April 1928: Rech­ nungen in Gesamthöhe von 102 RM; Ebd., Schreiben des Rudolf M. vom 30. Dezember 1929: Rechnungen in Höhe von 53,– und 56,– RM; LHAK Best. 655,191 Nr. 405, Schrei­ ben Bürgermeisters Bitburg-Land an Frau Gregor J. vom 04. September 1932: 46,50 RM; Ebd. Nr. 413, Unterstützungsgesuch des Tobias N. vom 02. September 1929: 40,50 RM.

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Operationen Diese Einführung dieser Kostenkategorie in der Untersuchung resultiert vornehmlich aus entsprechenden Benennungen in der Unterstützungskorrespondenz. Die Kosten für Operationen setzten sich zumeist aus den Pflegekosten für Aufenthalt und Versorgung im Krankenhaus und den Honoraren der behandelnden Ärzte zusammen. Da aber eine Zuordnung zu einer dieser beiden Kategorien nicht immer möglich war, wurden sie hier in einer eigenen Kategorie erfasst. Zudem erlaubt es diese Vorgehensweise, den Kostenrahmen zu ermitteln, mit dem die Betroffenen nach zeitgenössischem Verständnis im Falle einer „Operation“ zu rechnen hatten. Bei den insgesamt 15 Anträgen, welche die Kosten für Operationen zum Gegenstand hatten, handelte es sich wiederum bis zum Ende der 1920er Jahre durchgehend um solche, die bereits im Vorfeld der geplanten Operation gestellt wurden.13 Wie im Falle der Anträge auf Erstattung von Arztkosten erschienen auch hier um etwa 1928 Anträge, die erst nachträglich gestellt wurden, doch war der Wandel in diesem Falle offenbar bei weitem nicht so grundlegend, da auch in den Folgejahren noch ‚Vorfeldanträge’ gestellt wurden.14 Auch für Operationen sind detaillierte Zahlenangaben vor allem aus den nachträglich gestellten Anträgen und Abrechnungen zu entnehmen. In einigen Fällen machten die Antragsteller zwar auch im Vorhinein Angaben zur erwarteten Höhe der Kosten, diese fielen aber immer sehr vage aus.15 Die tatsächlichen entstandenen Operationskosten aus den nachträglich gestellten Anträgen lassen ebenfalls eine große Schwankungsbreite erkennen. Zahlte Gregor J. 1932 lediglich 13,25 M für eine Operation im Bitburger Krankenhaus, entstanden Wilhelm F. für die Operation eines „Geschwür der Gebärmutter“ seiner Frau im Trierer Elisabeth-Krankenhaus insgesamt Kosten von 500,– RM.16 Vor diesem Hintergrund ist ein für Kranke erwartbarer Betrag für eine Operation schwer zu beziffern, er dürfte jedoch um einiges höher gelegen haben, als der zuvor für Arztbehandlungen erwähnte Betrag von 40 M.17 13 Etwa LHAK Best. 655,123 Nr. 967, Schreiben der Tamara M. vom 07. Juli 1909; Ebd. Nr. 1040, Schreiben der Ehefrau Kuno P. vom 25. Februar 1919; Ebd. Nr. 966, Schreiben der Witwe Gerald M. vom 26. August 1927. Nur vier der 15 Anträge wurden nachträglich gestellt. 14 Nachträgliche Anträge etwa: LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Schreiben des Daniel N. vom 15. Mai 1928; Ebd., Schreiben des Dieter F. vom 10. Oktober 1928; Ebd. Nr. 413, Schreiben des Ulrich C. vom 29. Mai 1929. Anträge im Vorfeld: LHAK Best. 655,191 Nr. 413, Schreiben des Wolfgang M. vom 09. März 1930; Ebd. Nr. 822, Schreiben der Ehefrau Wilhelm F. vom 18. September 1930. 15 KAB-W 2.0.343, Erklärung der Witwe Nuhr vom 01. Juni 1911: „ca. 70–80 M“; LHAK Best. 655,191 Nr. 413, Schreiben des Bürgermeisters zu Bitburg an den Gemeindevorsteher zu Idesheim vom 15. Juli 1927: „etwa 200,– RM“. 16 LHAK Best. 655,191 Nr. 405, Schreiben des Gregor J. vom 04. September 1932; LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Schreiben des Dieter F. vom 10. Oktober 1928. 17 Weitere Angaben wie LHAK Best. 655,191 Nr. 413, Schreiben des Ulrich C. vom 29. Mai 1929: 204,80 RM und die im folgenden Beispiel genannte Summe von rund 310,– RM

Krankheit und die Kosten

323

Wie weit allerdings erwartete und tatsächliche Kosten auseinanderliegen konnten, musste Samson M. erfahren. Gegenüber den bei der Antragstellung genannten voraussichtlichen Kosten von 149,– RM beliefen sich die Abrechnungen für die Augenoperation seines Schwiegervaters tatsächlich auf 313,50 RM.18 Vergrößert wurde seine finanzielle Belastung zusätzlich dadurch, dass der Gemeinderat sich weigerte, den aufgrund der Antragstellung gewährten Zuschuss von rund 50,– zu erhöhen.19 Krankenhausbehandlung und Pflege Für die Kosten von Krankenhausbehandlung und Pflege gilt wie für die beiden vorangegangenen Kostenkategorien, dass sie sich bis auf wenige Ausnahmen nur aus nachträglich gestellten Anträgen erschließen lassen, da im Vorfeld gestellte Anträge meist auf eine generelle Kostenübernahme bezogen wurden. Von insgesamt 27 Fällen, in denen eine beantragte Kostenübernahme für die Behandlung im Krankenhaus quellenmäßig fassbar wurde, waren dies im Ganzen acht Fälle. Bis in die 1930er Jahre sind solche nachträglichen Anträge lediglich nach unvorhersehbaren Ereignissen wie Unfällen belegbar.20 Die Kosten einer Krankenhausbehandlung berechneten sich nach einem täglichen Pflegesatz, multipliziert mit der Zahl der Aufenthaltstage des Kranken im Krankenhaus. Für den hier untersuchten Zeitraum sind Pflegesätze von 1,50 M bis 4,– RM nachweisbar21; das Niveau scheint demnach ähnlich dem in städtischen Krankenhäusern gewesen zu sein.22 Die Pflegesätze in Hos-

18 19

20

21

22

lassen vermuten, dass Operationskosten wohl in zumindest dreistelliger Höhe erwartet wurden. LHAK Best. 655,191 Nr. 411: Niederschrift des Antrags der Ehefrau Samson M. vom 24. April 1929; Ebd., Schreiben des Bürgermeisters Bitburg-Land vom 03. Juli 1929. LHAK Best. 655,191 Nr. 411: Beschluss des Gemeinderates vom 12. Juli 1929. Der Gemeinderat gewährte einen Zuschuss von 30% der angegebenen 149,– M, die restlichen 70% der beantragten Summe übernahm nach den zu diesem Zeitpunkt gültigen Regelungen automatisch der Bezirksfürsorgeverband, so dass Samson M. insgesamt 149,– M erhielt. LHAK Best. 491 Nr. 279, Gesuch der Witwe Matthias J. vom 14. Januar 1904; LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Schreiben des Witwe Lorenz B. vom 14. Juli 1919; KAB-W 2.0.343, Schreiben des Kreisarztes an den Landrat des Kreises Wittlich vom 04. Dezember 1913; LHAK Best. 655,191 Nr. 409, Schreiben des Ulrich C. vom 29. August 1929. LHAK Best. 491 Nr. 320, Schreiben des Diakonissenanstalt Sobernheim vom 29. Dezember 1891: 1,50 M / Tag; LHAK Best. 655,123 Nr. 967, Gesuch des Christian A. vom 27. Januar 1899: Pflegesatz im Krankenhaus Zeltingen 1,50 M / Tag; Ebd. Nr. 822, Rechnung des Moselkrankenhauses Bernkastel vom 30. November 1930: 2,50 M / Tag; Ebd. Nr. 966: Schreiben des Bürgermeisters an das Moselkrankenhaus Bernkastel vom 13. Mai 1931: Pflegesatz 4,– M / Tag inklusive aller Nebenkosten. Ob die niedrigeren Beträge in den Hospitälern eine schlechtere Pflegeleistung bedeuteten, ließ sich hier nicht ermitteln. Bei Stollberg/Tamm, Binnendifferenzierung finden sich für die Zeit des späten 19. Jahrhunderts in städtischen Krankenhäusern Tagesätze für Arme von 1,20 M (Hamburg 1874, S. 440), 1–2 M (Leipzig 1876, S. 231), 1,50 M (Düsseldorf 1880, S. 554) und 2,20 M (Bamberg 1898, S. 177).

324

Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

pitälern lagen etwas niedriger, zugleich ist aber ein allgemeiner leichter Anstieg im Verlaufe der Zeit zu erkennen. Wie hoch die tatsächliche Belastung der Kranken war, hing somit stark von der notwendigen Liegezeit ab. Erwähnt werden in den Quellen Gesamtbeträge von 100–200 M, wobei auch höhere Rechnungen anfallen konnten.23 Die Liegezeiten der Kranken konnten demnach von einigen Tagen bis zu mehreren Wochen reichen.24 Letzteren Fall schilderte beispielsweise Frau Wambach aus Wittlich, deren Mann an Tuberkulose erkrankt war: 1909 war er 32 Wochen ohne Unterlaß krank. 4 Wochen war er bei mir Bettlägerich, 13 Wochen in Trier im Evangelischen Krankenhause, in Behandlung des Herrn Doktor Luckas; Im übrigen war er hier im Krankenhause und Hospital in Behandlung des Herrn Doktor Kochstift. 1910 wurde er wieder zur Beobachtung zur Heilstätte Grünwald bestellt wo er 10 Tage verweilte er die Entlassung von dem Herrn Artzt mit der Ansage erhielt er sei total Tuberkulös und Arbeitsunfähig.25

Insgesamt fielen somit auch die Kosten für Krankenhausbehandlungen und – pflege sehr unterschiedlich aus, waren aber wohl im Gegensatz zu Arztkosten im Vorfeld etwas besser berechenbar – was angesichts der endgültigen Summen die Situation der kranken Armen nicht unbedingt einfacher machte. Heilmittel Vergleichsweise wenig lässt sich über die Kosten von Heilmitteln wie Medikamenten, Gehhilfen etc. sagen, da hier mit insgesamt vier Fällen nur sehr wenig aussagekräftiges Quellenmaterial vorliegt. Dies dürfte in erster Linie daran liegen, dass die hier besonders betrachtete Gruppe kranker Armer Medikamente auch im Rahmen der armenärztlichen Behandlung unentgeltlich erhalten konnte, hierfür also keine gesonderten Anträge erforderlich waren. Spekulation muss insofern auch bleiben, ob die Tatsache eine besondere Bedeutung besitzt, dass in zwei vorab eingereichten Anträgen die Bezahlung eines Bruchbandes und einer „Leibbinde“ erbeten wurde, während die zwei erhaltenen nachträglich gestellten Anträge die Kostenerstattung von Medikamenten zum Gegenstand hatten. Ein möglicher Erklärungsansatz wäre, dass die kranken Armen gewohnheitsmäßig von einer Übernahme der Medikamentenkosten ausgingen und daher erst im Nachhinein Beschwerde gegen deren Verweige23 LHAK Best. 655,191 Nr. 407, Schreiben des Ehefrau Raimund N. vom 19. Januar 1933: „100–200 M“; Ebd. Nr. 411, Niederschrift des Antrags des Samson M. vom 02. Januar 1934: „etwa 120,– RM“. Sehr hohe Krankenhauskosten „ohne Arzt“ in LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Schreiben des Matthias K. vom 10. November 1931: 353,– RM. 24 Eine mit „8–10 Tagen“ relativ kurze Verweildauer im Krankenhaus etwa in: LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Antrag der Ehefrau Laban R. vom 03. März 1932. Vgl. auch Kapitel 7.2.3. und für den städtischen Kontext Stollberg/Tamm, Binnendifferenzierung, passim. 25 KAB-W 2.0.343, Schreiben der Frau Willibald J. vom 03. Januar 1912. Ähnlich LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben der Stefanie Johann vom 15. Juni 1903: „Der Herr Dr. Tag in Simmern hat mir geraten, ich solle auf einige Wochen nach dort ins Kloster kommen, mir fehlen aber die Mittel dazu.“

Krankheit und die Kosten

325

rung einlegten.26 In den anderen beiden Fällen waren die Hilfsmittel offenbar zuvor vom Arzt verschrieben worden, so dass die Betroffenen sich nun zur Finanzierung an die Armenverwaltung wandten.27 8.1.2. Indirekte Belastungen Indirekte finanzielle Lasten rief eine Erkrankung in erster Linie dadurch hervor, dass aufgrund von Arbeitsunfähigkeit das Erwerbseinkommen des oder der Kranken wegfiel.28 Wie hoch diese Einbußen waren, lässt sich nicht detailliert bestimmen, da die Anträge sich praktisch immer auf den reinen Verweis auf einen Einkommensverlust aufgrund einer Krankheit beschränkten.29 Sehr allgemein beschrieb so der Schieferdecker Antonius N. aus Dickenschied, Kreis Simmern im Juli 1900: Seit Ostern ist meine Tochter Maria krank, und kann und darf nicht; auf Anrathen des Artztes der Bescheinigung beiliegend mehr arbeiten. Ich bin auch nicht gesund und habe zwei Leibbrüche und muß öfters zu Bette liegen. Ich soll und muß doch meine Familie ernähren; betreffend auf 5 Personen; Ich und meine Frau, meine Tochter nebst zwei unehlichen Kindern. In dieser meiner Lage bin ich nicht im Stande, meine Familie, nebst den ärztlichen Behandlungen und Medicamenten zu bezahlen.30

Mit dem Verweis auf seine kranke Tochter Maria zeigt sich bei Antonius N. auch ein weiterer Fall der indirekten Einkommensverluste. Das Einkommen eines verdienenden Familienmitglieds fiel auch dann weg, wenn dieser oder diese kurz- oder längerfristig durch die notwendige Krankenpflege an einer Erwerbsarbeit gehindert wurde. Johannes L. aus Zeltingen begründete so sein Unterstützungsgesuch im Dezember 1906: Meine Frau liegt schon seid vier Wochen sehr gefährlich krank darnieder und war es mir während dieser ganzen Zeit nicht möglich auch nur einen Pfennig zu verdienen.31

26 KAB-W 2.0.541, Schreiben der Frau Barnabas M. vom 25. Januar 1906; KAB-W 2.0.343, Mitschrift des Antrags des Willibald J. vom 06. Mai 1912. 27 LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Antrag des Sebastian Erbes vom 01. Juni 1912; Ebd., Nr. 966, Antrag des Wilhelm Ehses vom 18. April 1932. 28 Vgl. Rheinheimer, Jakob Gülich, S. 232; Lachmund/Stollberg, Patientenwelten, S. 58– 60. 29 So etwa LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben des Martin F. vom Mai 1892: „Zu diesem hohen Alter kommt aber noch ein körperliches Leiden welches mich an der Arbeit sehr hindert und mir jeden Erwerb fast unmöglich macht.“ Ähnlich auch LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Schreiben des Adam B. vom 30. August 1910: „Ich bin schon längere Jahre wegen Krankheit und mehrfachen Unfällen fast ganz arbeitsunfähig.“ 30 LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben des Antonius N. vom 07. Juli 1900. 31 LHAK Best. 655,123 Nr. 967, Unterstützungsgesuch des Johannes L. vom 24. Dezember 1906. Ähnlich musste Johannes A. sein Tochter aus dem Gesindedienst nach Hause holen, um ihn und seine Frau zu pflegen. Den dadurch verursachten Verdienstausfall bezifferte er auf 50 M. LHAK Best. 491 Nr. 310, Protokoll des mündlichen Antrags des Johannes A. vom 29. August 1893. Ähnlich auch LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Gesuch des Martin W. vom 30. Januar 1914.

326

Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

Unter Umständen wurden die finanziellen Folgen durch eine Krankheit schließlich neben dem Verdienstausfall sogar noch durch zusätzliche Kosten verschärft, wenn beispielsweise Helfer für dringende Tätigkeiten in Haushalt oder Hof angeworben werden mussten. Klaus J. musste beispielsweise anstehende dringende Feldarbeiten durch Tagelöhner erledigen lassen, da er selbst ein Bein gebrochen hatte und seine Frau eine „kränkliche sehr schwache Person“ war.32 Rudolf M. aus Zeltingen führte in seinem Antrag Kosten für eine „Haushaltshilfe“ von 2,– RM pro Tag an.33 Insgesamt gesehen sind Ausmaße und Bedeutung der Verdienstausfälle jedoch nur schwer abzuschätzen; im Vergleich mit den direkten Krankheitskosten scheint auch die Gewährquote entsprechender Anträge geringer gewesen zu sein. 8.1.3. Wie macht Krankheit arm? Relative Belastungen von Armen Neben der absoluten Höhe der krankheitsbedingten Ausgaben bestimmte auch deren Verhältnis zum Gesamteinkommen der Betroffenen, wie sehr Erkrankungen und deren Behandlung die finanzielle Lage von kranken Armen beeinflusste. Eine Untersuchung dieser relativen Belastung ist allerdings durch verschiedene Faktoren bedingt nur eingeschränkt möglich. In den Berichten des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit wurde bereits in den 1880er Jahren darauf verwiesen, dass „die ärztliche Hilfe auf dem Lande (…) den mehrfachen Wochenlohn einer Arbeiterfamilie absorbiert“.34 Katrin Marx konnte in ihrer Untersuchung der Armenversorgung in den Bürgermeistereien Zeltingen und Lieser zeigen, dass sich das Einkommen Armer im ländlichen Raum aus einer Vielzahl oftmals wechselnder Quellen ergab und eine Bestimmung im Einzelnen fast unmöglich ist.35 Weiterhin ergeben sich zwar bis zur Mitte der 1920er Jahre eine Vielzahl von Hinweisen auf die Besitzverhältnisse von Antragstellern aus der Korrespondenz um die Gewähr von Armenfürsorge, doch wurden diese meist in Form von Angaben zu Grund- und Immobilienbesitz gemacht und lassen praktisch keinen Schluss auf das tatsächlich verfügbare Einkommen der Betroffenen zu. Erst ab Mitte der 1920er Jahre sind in den Armenakten zunehmend formularbasierte Anträge zu entdecken, in denen nicht nur nach dem Besitz, sondern auch nach dem Einkommen der Antragsteller gefragt wurde.36 Für die Bürgermeisterei Zeltingen liegen eine Anzahl dieser Formularanträge vor, welche sowohl Angaben zur Höhe des Einkommens als auch Angaben zur Höhe der krankheitsbedingten Ausgaben enthalten und somit Aussagen über die relative finanzielle Belastung der Betroffenen durch Behandlungsund Pflegeaufwendungen zulassen. Die insgesamt 23 Fälle datieren hauptsäch32 33 34 35 36

KAB-W 2.0.343, Schreiben des Klaus J. vom 12. Juli 1911. LHKA Best. 655,123 Nr. 971, Antrag des Rudolf M. vom 16. August 1929. Reitzenstein, Armenpflege, S. 33. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 242–287. Zur Einschätzung des Wahrheitsgehalts derartiger Angaben siehe die Einleitung zu Teil III.

327

Krankheit und die Kosten

lich aus den Jahren 1926 bis 1932.37 Die allgemeingültige Aussagekraft dieser Quellen ist allerdings einschränkt. Zum einen stammen sie alle aus einer Gemeinde und vergleichbare Angaben zu anderen Gemeinden liegen nicht vor, zudem ist der zeitliche Horizont mit im Wesentlichen fünf Jahren als eher gering zu bezeichnen. Tabelle 8: Einkommen, Antragsgenehmigung und Versicherung ausgewählter Antragsteller in der Bürgermeisterei Zeltingen JahreseinAntragsAntragskommen summe gesumme in M, KV UV in M, ab in % des Ein- nehmigt* ab 1924 RM 1924 RM kommens ja nein nein 130,00 106,00 81,54%

Name

Jahr

Werner H.

1912

Bert J.

1926

590,00

187,00

31,69%

ja

Karl O.

1928

750,00

100,00

13,33%

ja (60)

Erwin J.

1928

1200,00

120,00

10,00%

ja

ja

ja

Hannes N.

1928

1160,00

70,00

6,03%

ja

ja

ja

Franz P.

1928

4990,00

459,85

9,22%

ja (150)

Karl K.

1930

924,00

550,00

59,52%

ja (100)

ja

ja

Gunter S.

1930

1260,00

17,00

1,35%

ja

ja

ja

Marius P.

1931

360,00

236,75

65,76%

Ortwin J.

1927

1050,00

150,00

14,29%

nein

David M.

1928

1200,00

35,00

2,92%

nein

ja

ja

Eduard J

1929

1000,00

30,00

3,00%

nein

ja

ja

Richard K.

1929

1200,00

78,00

6,50%

nein

ja

ja

Otto S.

1929

865,00

481,00

55,61%

nein

nein nein nein nein

nein

ja

nein nein

nein nein

ja (116,75) nein nein nein nein

Ludwig W.

1930

180,00

88,00

48,89%

nein

Sebastian K.

1930

680,00

62,50

9,19%

nein

Jurek P.

1931

2019,96

800,00

39,60%

nein

nein nein

Melchior C.

1931

1036,80

200,00

19,29%

nein

nein nein

Philipp J.

1931

1000,00

70,00

7,00%

nein

ja

ja

Hermann B.

1931

270,00

167,00

61,85%

nein

nein

ja

Batto J.

1931

120,00

52,80

44,00%

nein

ja

ja

Kuno P.

1932

312,84

47,60

15,22%

nein

ja

ja

ja

ja

568,80 nein nein nein Gerald T. 1932 390,00 145,85% * bei eingeschränkter Genehmigung in Klammern die genehmigte Summe in M / RM Jahreseinkommen = Summe aller angegebenen Einkommensbestandteile, umgerechnet auf ein Jahr. Bei Bandbreitenangaben wurde ein mittlerer Wert zugrunde gelegt. Antragssumme = Summe aller angegebenen Erstattungsposten 37 Insgesamt 23 Fälle in LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Nr. 966, Nr. 971. Ein weiterer Fall aus LHAK Best. 655,123 Nr. 1040 datiert von 1912.

328

Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

Der Blick auf den prozentualen Anteil der krankheitsbedingten Ausgaben am Jahreseinkommen zeigt, dass die Schwankungsbreite dieses Anteils sehr groß war. Bei einem Jahreseinkommen von rund 1260,– M waren für Gunter S. dessen Antrag zufolge Krankheitskosten seines Kindes Elisabeth in Höhe von 15,– M – etwa 1,35 % des angegebenen Jahreseinkommens – nicht zu tragen.38 Auf der anderen Seite entstanden Gerald T. für die Behandlung seiner beiden Töchter Kosten von 568,80 M, was bei einem angegebenen Jahreseinkommen von 390,– M einer Quote von 145,85 % (!) entsprach.39 Hält man sich vor Augen, dass die Antragstellung immer auch Ausdruck der Wahrnehmung auf Seiten der Betroffenen war, ihre Lage alleine nicht mehr bewältigen zu können, zeigt die unterschiedliche Höhe der Beträge und Prozentanteile, wie individuell diese Einschätzung bestimmt war, aber auch wie früh sie in Extremfällen einsetzte. Im Ganzen gesehen waren Quoten der krankheitsbedingten Ausgaben am Jahreseinkommen von über 40 % offenbar keine Seltenheit. Verschärft wurden diese Umstände gegebenenfalls noch durch weitere finanzielle Belastungen der Betroffenen – etwa notwendige Schuldzahlungen – oder auch allein den Umstand, dass die Krankheitskosten als große Summe (siehe oben) auf einen Schlag anfielen. Es verwundert also kaum, dass auch zunächst gering erscheinende Anteile der Krankheitskosten am Jahreseinkommen die Betroffenen in so große Bedrängnis brachten, dass sie sich zur Inanspruchnahme der Fürsorge genötigt sahen.40 8.1.4. Neue Ansprüche. Die Bedeutung der Sozialversicherung Mit der Begründung der Sozialversicherungen trat ein neues Element auf dem Feld der Finanzierung von Krankheitsbehandlungen in Erscheinung. Wie im ersten Teil dieser Untersuchung gezeigt werden konnte, waren die Statuten der Krankenversicherungen im Untersuchungsgebiet strukturell darauf ausgerichtet, möglichst vielen Erwerbstätigen den Zugang zu den selbstverwalteten und kommunalhaftungsfreien Ortskrankenkassen zu ermöglichen.41 Vor einem Urteil über die Wirksamkeit der Krankenversicherung steht aber zunächst die Frage, ob diese strukturellen Erleichterungen tatsächlich zu einem nennenswerten Einbezug von potentiellen Armen in das Versicherungssystem führten. Auch in diesem Fall boten die erhaltenen Anträge der Bürgermeisterei Zeltingen Material für eine exemplarische Betrachtung. In den bereits erwähnten Formularanträgen wurden seit spätestens 1906 auch die Mitglied38 LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Antrag des Gunter S. vom 14. Mai 1930. 39 LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Antrag des Gerald T. vom 27. Januar 1932. 40 Zur vergleichsweisen Einschätzung der Belastung: In der Bundesrepublik Deutschland gelten für Familien mit mehr als zwei Kindern in der untersten Einkommenskategorie heute (2008) krankheitsbedingte Ausgaben, die in ihrer Höhe 1 % des Gesamtbetrages der Einkünfte überschreiten als steuermindernde „Außergewöhnliche Belastung“. 41 Siehe Kapitel 2.4.2.

Krankheit und die Kosten

329

schaft in einer Krankenkasse und der Status in der Unfallversicherung abgefragt. Dies deutet darauf hin, dass bereits zu diesem Zeitpunkt mit einer nennenswerten Anzahl krankenversicherter Antragsteller in der Armenfürsorge gerechnet werden konnte.42 Angesichts der erwähnten offenen Gestaltung der Ortskrankenkassen erscheint dies plausibel. Die Beantragung von Armenfürsorgeleistungen konnte angesichts der großen finanziellen Belastungen durch Erkrankungen auch für Personen notwendig werden, die nicht zur klassischen Klientel der Armenfürsorge gehörten. Um also Aussagen darüber treffen zu können, inwiefern die Krankenversicherung tatsächlich auch in dieser Bevölkerungsgruppe wirksam wurde, bleibt demnach zu prüfen, ob die anhand der Angaben in den Anträgen identifizierbaren Mitglieder der Krankenkassen tatsächlich auch zur potentiellen Klientel der Armenfürsorge gerechnet werden können. Anhaltspunkte hierzu bieten die ebenfalls vorhandenen Angaben zur Besitzgröße der Antragsteller. Die durchschnittliche Betriebsgröße der landwirtschaftlichen Betriebe in der Bürgermeisterei Zeltingen lag unter 2 ha (~20.000 m²) Anbaufläche.43 Den größten Landbesitz unter den erhaltenen Antragstellern verzeichnete Marius P. mit rund 3500 m² Weinbergen und 5000 m² Land und Wiesen.44 In den übrigen Fällen betrug der Besitz in der Regel zwischen 600 m² und 5000 m² Fläche. Die Besitzgröße der Antragsteller lag also durchgehend weit unter 1 ha, womit eine Zugehörigkeit zur potentiellen Klientel der Armenfürsorge sehr wahrscheinlich ist. Von den 23 Formularanträgen aus Zeltingen mit Angaben zu krankheitsbedingten Kosten weisen nun 11 den Antragsteller als krankenversichert und 13 denselben als unfallversichert aus.45 Bei aller Vorsicht aufgrund der beschränkten Datenbasis lassen diese Zahlen doch die Annahme zu, dass am Ende der 1920er Jahre auch potentielle und tatsächliche Arme im ländlichen Raum in größerer Zahl sozialversichert waren.46 Die im folgenden angestellten Überlegungen, inwiefern die gesetzliche Krankenversicherung die Lage kranker Armer veränderte, sind in ihren Aussagen in spezifischer Weise durch die Art der überlieferten Quellen beeinflusst. In der vorliegenden Korrespondenz um die Gewähr von Armenfürsorgeleistungen manifestierten sich in erster Linie diejenigen Fälle, in denen die ‚normale’ Finanzierung von Gesundheitsleistungen durch die Krankenkassen gerade nicht funktionierte.47 Gründe hierfür können fehlende Ansprüche, zu geringe Kassenleistungen, Missverständnisse und Ähnliches gewesen sein. 42 Die Abfragebögen fielen von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich aus, ihre konkrete Gestaltung hatte also vermutlich Bezug zur jeweiligen Situation in den einzelnen Gemeinden. 43 Vergleiche dazu Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 248. 44 LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Antrag des Marius P. vom 07. Dezember 1931. 45 Vgl. Tab. 8, S. 314. KV bezeichnet die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung, UV in der Unfallkasse. 46 Da seit 1914 auch landwirtschaftliche Arbeiter versicherungspflichtig waren, dürfte es sich bei den nichtversicherten Antragstellern in erster Linie um selbständige Kleinwinzer, Tagelöhner etc. gehandelt haben. 47 Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 110.

330

Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

Leider sind Versicherungsakten der Betroffenen, welche einen Einblick in die reibungslose Funktion des Kassenwesens ermöglichen würden, nicht erhalten geblieben. In Verbindung mit der nicht gesicherten Vollständigkeit der Armenfürsorgeakten führt dies dazu, dass die nachfolgenden Ausführungen nicht den Anspruch eines umfassenden Überblicks über Leistungen des ländlichen Kassenwesens erheben, sondern punktuell und exemplarisch vor allem Probleme kranker Armer in Bezug auf das Kassenwesen aufzeigen sollen. Bevor diese überhaupt in den Genuss von Kassenleistungen kommen konnten, war die Krankenversicherung für sie zunächst mit weiteren Belastungen in Form von Kassenbeiträgen verbunden. Gerade bei niedrigen Gesamteinkommen waren selbst geringe Beiträge nicht immer leicht aufzubringen.48 Zudem waren die genauen Bedingungen oder Verfahren einer Versicherung oder einer Erstattung unter der Bevölkerung offenbar nicht immer genau bekannt. Die Ehefrau Klemens P. stellte etwa 1932 einen Antrag auf Übernahme der Pflege- und Reisekosten ihrer Operation durch die Gemeinde, ohne zu wissen, dass auch derartige Kosten von ihrer örtlichen Krankenkasse getragen wurden.49 Vorteile brachten die Krankenversicherungen ohne Zweifel bezüglich der Behandlungskosten. Wie gezeigt, konnten diese sowohl absolut als auch relativ zum verfügbaren Einkommen sehr hoch ausfallen und eine Entlastung durch die Kostenübernahme auf die Krankenkassen war hier sicherlich ein rasch bemerkbarer Vorteil.50 Für die Gruppe der Armen galt diese Verbesserung dagegen nur eingeschränkt. Ihnen stand ja spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in den hiesigen Regierungsbezirken mit dem Distriktarztwesen eine Institution zur Verfügung, deren spezifischer Zweck die kostenlose Behandlung kranker Armer war. Für Arme war der diesbezügliche Mehrwert der Krankenversicherung also begrenzt. Abhängig von den lokalen Bedingungen erweiterte das in den Kassen vorherrschende Prinzip der Arztwahl aber gegebenenfalls zumindest die Wahlmöglichkeiten der Betroffenen.51 Das Krankengeld, gedacht als Ausgleich des krankheitsbedingten Verdienstausfalls, war diesem Zweck in seiner Höhe ebenfalls selten angemessen.52 Dies galt ebenso für Rentenzahlungen aus der Unfall- und Invalidenver48 Beispielsweise betrugen die wöchentlichen Kassenbeiträge der Töchter des Willibald J. aus Wittlich 0,32 M bzw. 0,15 M, was bei wöchentlichen Einkommen von rund 10 M bzw. 7 M etwa 2–3% des Einkommens ausmachte. KAB-W 2.0.343, Schreiben des Bürgermeisters vom 10. Mai 1912. Zur Höhe der Kassenbeiträge vgl. auch Kapitel 2.4. 49 LHAK Best. 655,191 Nr. 407, Schreiben der Ehefrau Klemens P. vom 03. Juli 1932; Ebd., Beschluss des Gemeinderats vom 17. Juli 1932. Unkenntnis zu Ungunsten des Antragstellers dagegen in LHAK Best. 459 Nr. 615, Schreiben des Simon T. vom 2. November 1924. 50 Vgl. Ritter, Soziale Frage, S. 39. Lachmund/Stollberg, Patientenwelten, S. 200 verweisen für Industriearbeiter auf eine zunehmende Selbstverständlichkeit in der Konsultation eines Arztes. 51 Vgl. Kapitel 2.5. 52 LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Schreiben des Wilhelm F. vom 31. Juli 1913. Vgl. auch Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 122–123.

Krankheit und die Kosten

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sicherung, wie etwa Eva M. aus Denzen 1902 in ihrem Unterstützungsgesuch anführte: Ich bekomme aus der Invaliden-Kasse pro Monat 10 M 90 Pfg. Mit diesen wenigen Marken kann ich nicht auskommen. Denn ich muß 24 Mark Hausmiete bezahlen und dann ist noch kein Holz und Brand da. (…) Meine Bitte wäre diese: daß die Gemeinde Dillendorf mir die Hausmiethe bezahlen werden nebst den Marken die sie mir für die Winterund Sommer-Monate bewilligt haben.53

Zudem traf die Empfänger derartiger Geldleistungen in den wirtschaftlichen Krisenjahren der Weimarer Republik das Inflationsproblem am stärksten.54 Ein der Zahl der Anträge nach offenbar häufig auftretendes Problem war die nur eingeschränkte oder gar nicht vorhandene Mitversicherung für Familienmitglieder. Allein in der Bürgermeisterei Zeltingen sind zwischen 1926 und 1932 mindestens elf Fälle nachweisbar, in denen Betroffene einen Antrag auf Armenunterstützung zur gesundheitlichen Versorgung von Familienmitgliedern stellten. Die AOK Bernkastel als die für Zeltingen zuständige Krankenkasse leistete nach ihrer Satzung kostenlose Familienhilfe nur für Kinder unter 15 Jahren.55 Die Untersuchung der Statuten regionaler Kassen hat gezeigt, dass die kostenlose Mitversicherung von Familienmitgliedern von vielen dieser Kassen nicht oder nur eingeschränkt angeboten wurde, häufiger war lediglich die Möglichkeit gegeben, Familienangehörige gegen Zahlung eigener Beiträge mitzuversichern.56 Hinzu kam, dass auch die Familienversicherung vielfach nur einen Zuschuss zu den krankheitsbedingten Kosten leistete, ein guter Teil der Belastung also nach wie vor direkt bei den Betroffenen verblieb.57 Die relativ große Zahl der Fälle, in denen diese Versicherung nicht abgeschlossen wurde, lässt sich einerseits dahingehend interpretieren, dass die Familien angesichts knapper Mittel lediglich eine Versicherung des Haupterwerbsträgers vornahmen.58 Andererseits könnte der Verzicht auf freiwillige Versicherungen auch ein Indiz für eine nach wie vor vorsichtige und zurückhaltende Einstellung der ländlichen Bevölkerung gegenüber dem modernen

53 LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben der Eva M. vom 03. März 1902. Ähnlich auch Ebd. Nr. 319, Schreiben des Anton Juber vom 19. November 1896; LHAK Best. 655,123 Nr. 967, Schreiben der Witwe Sebastian J. vom 27. März 1905; Ebd. Nr. 1040, Schreiben des Theobald Länger vom 04. Juli 1911. Ebenso Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 197f. Die Zahlungen aus der Invalidenversicherung waren aber auch nicht als unterhaltssichernd ausgelegt. Ritter, Sozialversicherung, S. 34–35. 54 Dies konnte auch durch Hilfskonstruktionen wie einen Teuerungsausgleich nicht wesentlich gemildert werden. Tennstedt, Ausbau, S. 234–235. 55 LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Schreiben der AOK Bernkastel vom 15. November 1930. Ähnlich auch zum Beispiel die Eisenbahnerbetriebskrankenkasse der Moselbahn AG, siehe Ebd. Nr. 966, Antrag des Dieter M. vom 03. Februar 1928. 56 Siehe Kapitel 2.4., S. 190. 57 LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Schreiben des Klaus P. vom 18. Januar 1932; Ebd., Schreiben des Werner A. vom 04. Januar 1932; LHAK Best. 655,191 Nr. 411, Niederschrift des mündlichen Gesuchs des Samson M. vom 02. Januar 1934. 58 Vgl. Redder, Armenhilfe, S. 116.

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

versicherungsgetragenen Sozialstaat sein.59 Da kaum festzustellen ist, ob die tatsächlich Versicherten pflichtversichert oder freiwillig versichert waren, was für eine endgültige Beurteilung notwendig wäre, muss diese Frage aber an dieser Stelle letztlich ungeklärt bleiben. Festzuhalten bleibt, dass abhängig von den jeweiligen Versicherungsbedingungen gerade für große Familien die entstehenden hohen Behandlungskosten im Krankheitsfall auch nach Einführung der Krankenversicherung nach wie vor bedrohlich waren und des öfteren eine Inanspruchnahme der Armenfürsorge nötig werden ließen. Alles in allem sind die finanziellen Entlastungen kranker Armer durch die Krankenversicherung daher eher gering zu veranschlagen, verfehlte die Krankenversicherung für diese ihr Ziel der sozialen Absicherung.60 Positive Folgen lassen sich hingegen im Hinblick auf die stigmatisierende Wirkung der Inanspruchnahme von Armenfürsorge konstatieren. So wurden in Zeltingen 1904 die Mitglieder der Gemeindekrankenversicherung verpflichtet, den Armenarzt aufzusuchen. § 5 der Statuten bestimmte, dass „die ärztliche Behandlung in der Regel durch den Armenarzt zu erfolgen [habe], soweit nicht in geeigneten Fällen die Behandlung durch andere Aerzte seitens des Vorsitzenden der Gemeindekrankenversicherung genehmigt wird.“61 Andernfalls konnte die Kostenübernahme ganz abgelehnt werden. Wenn nichtarme Versicherte ebenso wie die Armen im Wartezimmer desselben Arztes Platz nehmen mussten, wurde eine Abgrenzung weitgehend unmöglich.62 Auch waren die Kassenmitglieder durch die Kontrolleure der Krankenkassen ähnlichen Kontrollen unterworfen wie die Armen. Die ‚Kontrollbeamten’ waren bei der örtlichen Bevölkerung als „Schnüffler“ bekannt und erschienen in lokalen Erzählungen als strenge Antipoden einer gewitzten und sich gegenseitig warnenden und unterstützenden Schar krankgemeldeter Kassenmitglieder: Die Eishöllijen, die zwöschendurch alt moal bloa gemaach hän un krankgeschriewen guwen, weil se d’m Dokta äepes viagespielt haaden, hänn sich gijensejtig Beschäd gesoat, wenn’e [der Krankenkontrolleur der Kasse, Anm. d. Verf.] rom ob Tuar woar.63

Ähnlich den Armenverwaltungen wurden auch die Krankenkassen von einer „Sparsamkeitsideologie“ angehalten, in der Gewähr von Leistungen eher restriktiv zu verfahren.64 59 Vgl. auch Kapitel 2.4., S. 187. 60 Labisch, Homo, insbes. S. 41. Tennstedt, Ausbau, S. 228. 61 LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Bekanntmachungsplakat vom 21. November 1904. Vgl. dazu auch die zeitgenössische Aussage bei Stollberg/Tamm, Binnendifferenzierung, S. 75, wonach Versicherte im Allgemeinen Krankenhaus München links der Isar bereits Anfang des 19. Jahrhunderts „wie die Armen der Stadt gleich behandelt“ wurden. 62 Im evangelischen Krankenhaus Düsseldorf wurden Arme um 1880 nach derselben Versorgungsklasse wie Kassenpatienten behandelt. Ebd., S. 553. 63 Pawelke, Krankenkontrolleur, S. 371. In dieser mundartlich verfassten Erzählung wurde die Distanz zwischen Kontrolleur und Kontrollierten zusätzlich durch die hochdeutsche Wiedergabe der Äußerungen des Kontrolleurs deutlich gemacht. 64 Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 115.

Krankheit und die Kosten

333

Trotzdem finden sich Anzeichen, dass das Bewusstsein der eigenen Beitragsleistung in der Versicherung in Verbindung mit den daraus resultierenden Leistungsansprüchen allmählich und langfristig auch zu einem selbstbewussteren Auftreten der Betroffenen gegenüber der Versicherung und der Armenverwaltung führte.65 So beschwerte sich Simon T. aus Neuerburg 1924 über die Weigerung der Krankenkasse, ihm das angeblich zustehende Krankengeld auszuzahlen: Nun habe ich die Krankenkassenzettel vom Arzte, eine Bescheinigung vom Gemeindevorsteher und Bürgermeisteramt beglaubigt, und eine Bescheinigung von Peter Fischels, wo ich mit (?) Tagen im Taglohn gearbeitet habe eingeschickt für das Krankengeld zu bekommen. Jetzt schicken Sie mir die Bescheinigung vom P. Fischels zurück mit der Antwort, Sie könnten mir kein Tagegeld ausbezahlen, weil ich im väterlichen Betrieb tätig wäre. Ich kann aber nicht von der Luft leben, und wenn ich nicht arbeiten kann habe ich nichts, und das mein Alter kranker Vater mich erhalten soll, wird wohl keiner verlangen. (…) Wenn ich mich die 3 Wochen ja ins Krankenhaus gelegt hätte, hätte die Kasse ja auch dafür aufkommen müssen. Ich bitte sie also, meine Beschwerde zu berücksichtigen, da man als Kriegsbeschädigter schon genug unterdrückt ist.66

Caspar J. aus Zeltingen verwies 1928 ebenfalls auf die angeblichen Leistungsansprüche seiner Frau aus der Versicherungsmitgliedschaft: Aus Mitteilungen meiner Frau vernahm ich, daß ihr das ihr zustehende Hausgeld verweigert wird mit der Begründung. „der guten Verhältnisse wegen hätte ich keinen Anspruch auf Hausgeld.“ Demgegenüber teile ich Ihnen mit, daß das Landesversicherungs-Amt für jeden, ob gut oder weniger gut gestellt, 3 (drei Mk) für die Frau und 1 Mk für jedes Kind unter 18 Jahren auswirft. Ihre Begründung ist deshalb hinfällig und ersuche sie meiner Frau ihr Hausgeld rückwirkend vom 27.9. baldmöglichst zur Auszahlung zu bringen (bis jetzt 62 M) übrigens wird ihnen wohl schon Näheres vom L.V.Amt mitgeteilt worden sein.67

Zwar waren die Ansprüche beider Beschwerdeführer in diesem Falle unberechtigt – Simon T. hatte im elterlichen Betrieb lediglich Unterkunft und Verpflegung erhalten, woraus keinerlei Krankenversicherungsansprüche erwuchsen und die Ehefrau von Caspar J. hatte kein Handgeld aus der Versicherung, sondern eine Wohlfahrtsunterstützung beantragt – dennoch lassen der selbstbewusste, fordernde und im Falle des Caspar J. geradezu belehrende Tonfall der Beschwerden das gewachsene Anspruchsbewusstsein der Antragsteller deutlich erkennen.68 65 Vgl. Ebd., S. 125. Weber-Grupe spricht sogar von ‚staatlichem Schutz’ unter dem versicherte Fürsorgeempfänger nun standen. Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 183; anders etwa Rheinheimer, Armut, S. 102, der von einem Vergleich von Sozialversicherung und Armenfürsorge durch die Betroffenen ausgeht, der zu einer Gleichsetzung in der Wahrnehmung führte; vgl. auch Ritter, Soziale Frage, S. 49. 66 LHAK Best. 459 Nr. 615, Schreiben des Simon T. vom 02. November 1924. 67 LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Schreiben des Caspar J. vom 16. Oktober 1928. 68 Spree, Anspruch, S. 13 spricht analog davon, dass die Krankenversicherten „erhobenen Hauptes ins Krankenhaus“ gehen konnten. Die fehlende Berechtigung der Ansprüche macht aber zugleich die offenbar auch lückenhafte Kenntnis der die Ansprüche regelnden Bestimmungen deutlich. Vgl. Rheinheimer, Armut, S. 102.

334

Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

Die zeitgenössische Kritik formte hieraus den Vorwurf der ungerechtfertigten oder leichtfertigen Inanspruchnahme der Kassenleistungen.69 Erwin Liek, Vertreter einer radikalen Arbeitgeberposition, befürwortete zwar grundsätzlich die Krankenversicherung, welche „für jeden schaffenden Volksgenossen, auch für den ärmsten, einen wirksamen Schutz gegen die Schäden des Lebens“ bedeute, wandte sich aber scharf gegen die in seinen Augen unrechtmäßige „Ausbeutung“ derselben70: Die Zahl der Krankmeldungen schwankt nicht nur nach der Jahreszeit, dem Arbeitsmarkt usw., sondern passt sich auch den gesetzlichen Vorschriften der Arbeitslosenversicherung aufs feinste an. Mit anderen Worten, der Versicherte sucht sich das aus, was ihm schneller und mehr Geld bringt. Ist es heute die Krankenkasse, nun, dann lässt er sich von einem willfährigen Arzt krank schreiben. Ist das Stempeln lohnender, gut, dann geht er stempeln. Die Vorschriften über die Arbeitslosenunterstützung sind mehrfach geändert, automatisch erfolgte Belastung bezw. Entlastung der Krankenkassen. Kommt hinzu die heutige wirtschaftliche Notlage; der Versicherte muß rechnen, muß zusehen, was er aus der Versicherung irgend herausschlagen kann.71

Tatsächlich führte die Übernahme der finanziellen Lasten durch die Krankenkassen offenbar in Einzelfällen tatsächlich zu einer erweiterten Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen.72 So vermerkte der Zeltinger Bürgermeister anlässlich einer Überweisung an die Stadtkasse Trier: Elke P. war an dem betr. Tage nach Trier gereist, um sich ärztlich beraten zu lassen. Da die Ehlen früher in Trier in Stellung war, glaubte sie, daß sie noch in der Krankenversicherung sei und die Reisekosten daher von der Krankenkasse getragen würden. Da dieses nicht der Fall war und sie kein Geld zur Heimfahrt hatte, beantragte sie bei dem städtischen Wohlfahrtsamt die Gewährung des Reisegeldes.73

Offenbar hatte vor allem das Bewusstsein um die Finanzierung der Reisekosten durch die Krankenkasse Elke P. dazu gebracht, für die Konsultation eines Arztes nicht etwa einen der in Zeltingen ansässigen Ärzte aufzusuchen, sondern zu einem Arzt ihrer Wahl nach Trier zu fahren. In dem Maße wie die Inanspruchnahme des Arztes in Krankheitsfällen selbstverständlicher wurde, wurde auch dessen Position als Experte in Gesundheitsdingen gegenüber anderen Heilergruppen gestärkt. Die Existenz der Krankenkassen trug also zu diesem Prozess nicht unerheblich bei.74 Noch deutlicher wurde die bereitwilligere Inanspruchnahme medizinischer Leistungen bei der Finanzierung durch eine Krankenkasse im bereits erwähnten Fall der Ehefrau Klemens P.: Da schon länger ich meinen Halskropf organisiert bekommen sollte, ich auch von der Krankenkasse die Operation bezahlt erhalte, wollte ich es jetzt machen lassen. Ich kann 69 70 71 72 73

Seidel, Kassenarzt. Liek, Soziale Versicherungen, S. 9; siehe auch Tennstedt, Ausbau, S. 234. Liek, Soziale Versicherungen, S. 26–27. Vgl. dazu auch Reitzenstein, Armenpflege, S. 33. LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Notiz o.D., beiliegend einem Vermerk vom 20. Dezember 1930. 74 Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 192.

Krankheit und die Kosten

335

aber nicht die Pflegekosten bezahlen. Mein Mann verdient kaum für die Familie mit 3 Kindern zu ernähren. Auch Schuld haben wir. Als Eigentum besitzen wir nur ein Feld beim Haus da der Mann nur 45 M monatlich hat, bitte ich für mich die Pflegekosten und Reisekosten zu bezahlen.75

Die Tatsache, dass die Krankenkasse die Operationskosten übernahm, war offensichtlich für die Entscheidung, die schon länger angedachte Operation nun endlich durchführen zu lassen von hoher Bedeutung. Dennoch bleibt angesichts der nur wenigen Beispiele derartigen Verhaltens und eines nur beschränkt erkennbaren ‚Ausbeutungscharakters’ desselben festzuhalten, dass die am Beispiel Lieks vorgestellten Vorwürfe der übermäßigen Inanspruchnahme der Kassen im Wesentlichen als überzogen betrachtet werden können. Während die Krankenversicherung kranke Arme finanziell nur bedingt stärker als zuvor entlastete, bewirkte sie aber im Hinblick auf Anspruch, Auftreten und Verhalten langfristig eine tiefgreifende Veränderung in der Mentalität der Antragsteller. 8.2. Finanzielle Belastungen von Krankheit für die Armenverwaltung Auch für die Armenverwaltungen – und damit die Gemeindekassen – bedeuteten Erkrankungen von Armen finanzielle Belastungen.76 Im Folgenden soll gefragt werden, wie sich diese Kosten zusammensetzten, welchen Umfang sie erreichten und welche Bedeutung krankheitsbedingte Ausgaben für die Armenausgaben insgesamt besaßen. Dabei führt die Überlieferungslage zu methodischen Schwierigkeiten in der Untersuchung. Eine Betrachtung der anteilmäßigen Bedeutung krankenbezogener Ausgaben an der Gesamtheit der Armenausgaben und ihre innere Zusammensetzung erforderte auf Ebene der Gemeinde als der zuständigen Behörden Quellen, die entsprechende Differenzierungen zuließen. Um über einzelne Zeitpunkte hinaus Tendenzen, Verschiebungen und Entwicklungen dieser Zahlen und Verhältnisse erkennen zu können, mussten entsprechende Angaben zudem für längere Zeiträume zu erfassen sein. Für die Bürgermeistereien Zeltingen und Bitburg-Land lagen in Form tabellarischer Aufstellungen über Höhe und Art der Unterstützung in den einzelnen Fällen, in denen Armenunterstützung gewährt wurde, solche Quellen vor. Im Falle Zeltingens umfassen diese in jährlicher Form die Zeit von 1911 bis 1923; die Akten aus Bitburg-Land beinhalten sogar quartalsweise Aufstellungen für die Jahre 1926– 1931. Aufgrund der zeitlich verschobenen Überlieferungszeiträume ist ein direkter Vergleich der beiden Gemeinden sehr schwierig, dennoch erlaubt – bei entsprechend vorsichtiger Interpretation – der lange Zeitraum der überliefer-

75 LHAK Best. 655,191 Nr. 407, Schreiben der Ehefrau Klemens P. vom 03. Juli 1932. 76 Vgl. Zissel, Gemünden, S. 38–48, vor allem für den Zeitraum vor 1870.

336

Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

ten Daten Rückschlüsse auf die finanzielle Bedeutung der Krankenversorgung für die Armenverwaltung. 8.2.1. Bedeutung der Krankenkosten in der Armenfürsorge Zeltingen 1911–1923 Die Untersuchung der krankheitsbedingten Belastungen auf Seiten der Armen ergab, dass Behandlungs- und Pflegekosten in ihrer Höhe absolut und relativ zum Einkommen sehr hoch ausfielen. Die untenstehende Graphik verdeutlicht, dass auch für die Armenverwaltung ein Fall von Armenfürsorge im Krankheitsfall in der Tendenz höhere Kosten verursachte, als ein Fall ‚normaler’ Armenunterstützung.77 Einschränkend ist allerdings hinzuzufügen, dass die geringe Fallzahl eine Wiedergabe in prozentualen Anteilen aus statistischer Sicht problematisch erscheinen lässt. In den zugrundeliegenden Jahren waren jeweils zwischen 11 und 15 Fällen gewährter Armenfürsorge verzeichnet. Die prozentuale Umrechnung erleichterte hier in erster Linie eine leichter zu erfassende graphische Wiedergabe der Ergebnisse. Abbildung 1: Vergleich der Anteile von krankheitsbezogenen Fällen und Zahlungen an den Gesamtfallzahlen und Gesamtaufwendungen der Armenfürsorge (Zeltingen 1911–1923) 100,00% 90,00% 80,00% 70,00% 60,00% 50,00% 40,00% 30,00% 20,00% 10,00% 0,00% 1911

1912/13 1914/15 1915/16 1916/17 1917/18 1918/19 1919/20 1920/21 1921/22 1922/23

Anteile krankheitsbedingter Fälle an allen AF-Fällen Anteile krankheitsbedingter Ausgaben an allen AF-Ausgaben

77 Die den in diesem Abschnitt gezeigten Grafiken zugrundeliegenden Zahlen sind im Anhang in Tabelle 14: Ausgaben der Armenfürsorge der Bürgermeisterei Zeltingen (1911– 1923) beigefügt.

337

Krankheit und die Kosten

Der Anteil der krankheitsbedingten Ausgaben an allen armenfürsorgerischen Ausgaben war durchweg höher, als der Anteil der Krankheitsfälle an allen Fällen, in denen Armenfürsorge gewährt wurde, der einzelne Fall von krankheitsbezogener Unterstützung damit im Durchschnitt kostenintensiver als andere Unterstützungsformen. Im Zeitverlauf scheint das Maß, in dem eine Krankenbehandlung den Armenetat stärker belastete, als eine ‚normale’ Unterstützung sogar noch zugenommen zu haben, darauf deutet zumindest der wachsende Abstand zwischen den beiden Anteilsziffern im Laufe der Jahre hin.78 Die folgende Graphik greift den Anteil der krankheitsbezogenen Ausgaben an den Gesamtausgaben der Armenfürsorge noch einmal auf. Dabei ist das Wachstum dieses Anteils im Laufe der Jahre deutlich zu erkennen. Ausgehend von einem Anteil unter 30 % vor 1916/17 wuchs dieser innerhalb weniger Jahre rasant an und betrug seit Beginn der 1920er Jahre durchgehend über 80 %. Nicht nur im Einzelfall, auch in der Gesamtheit der Ausgaben stellten krankheitsbedingte Fürsorgefälle für den Armenetat einer Gemeinde die größte Belastung dar. Abbildung 2: Prozentuale Anteile ausgewählter Ausgabenkategorien an den Gesamtausgaben der Armenfürsorge (Zeltingen 1911–1923) 100% 90%

23,16%

80%

15,12%

11,22%

10,28%

84,88%

88,78%

89,72%

31,71%

41,39%

70% 60%

17,98%

69,51%

70,35%

71,83%

82,74%

50% 40%

76,84%

30%

68,29%

58,61%

20% 10%

82,02%

30,49%

29,65%

28,17%

17,26%

0% 1911

1912/13 1914/15 1915/16 1916/17 1917/18 1918/19 1919/20 1920/21 1921/22 1922/23

Ausgaben für Pflege / Krankenhaus

Übrige Ausgaben der Armenfürsorge

Für die Armen hat sich gezeigt, dass vor allem Ausgaben für Krankenhausaufenthalte und Pflegekosten sich zu großen Beträgen summieren konnten; ein Befund, der bereits zeitgenössisch bemerkt wurde.79 Auch für die Ausgaben 78 Betrug das Verhältnis der Anteile 1911 noch rund 1:1,3, wuchs dieses Verhältnis bis 1916/17 auf etwas über 1:1,6 und bis 1922/23 auf knapp 1:1,9 an. 79 Reitzenstein, Armenpflege, S. 32.

338

Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

der Armenfürsorge ist daher zum Vergleich der Belastungen die innere Differenzierung der Krankenausgaben von Interesse. In der Zusammensetzung der krankheitsbedingten Ausgaben in der Bürgermeisterei Zeltingen bietet eine Auswertung zunächst das Bild, dass sämtliche Ausgaben dem Bereich Pflegeund Krankenhauskosten zuzurechnen sind.80 Ausgaben für armenärztliche Behandlungen oder Medikamente aus Apotheken sind nicht verzeichnet. Zumindest soweit die Arztkosten betroffen sind, ist dieser zunächst überraschende Befund aber bei einem Blick auf die lokale Praxis der Armenkrankenfürsorge in Zeltingen zu erklären. Bis nachweislich 1931 wirkte in Zeltingen nach wie vor ein Armenarzt, der für seine Behandlung der örtlichen Armen quartaliter eine Pauschalzahlung erhielt, die in der hier zugrundeliegenden Aufstellung der Fälle gewährter Armenfürsorge nicht verzeichnet ist.81 Konsequenterweise erscheinen auch die Fälle, in denen Armen der kostenfreie Besuch des Armenarztes gestattet wurde, nicht in der Statistik, da diese Gewähr ja für die Bürgermeisterei nicht mehr mit weiteren Kosten verbunden war.82 Soweit bekannt, wurden in der Gemeinde Zeltingen in ähnlicher Weise auch die Apothekenrechnungen für Arme von der Gemeinde übernommen und erscheinen daher nicht in den hier ausgewerteten Verzeichnissen. An welcher Stelle die entsprechenden Ausgaben verzeichnet wurden, war allerdings nicht festzustellen.83 Bitburg-Land 1926–1932 Auch für die Bürgermeisterei Bitburg-Land liegen über einige Jahre Aufstellungen der Armenfürsorgeaufwendungen vor. Wie zuvor für die Bürgermeisterei Zeltingen ist auch in der graphischen Darstellung der Anteilsziffern von Fallzahlen und Aufwendungen in der Armenfürsorge der Bürgermeisterei Bitburg-Land am Abstand zwischen den Datenbalken zu erkennen, dass krankheitsbedingte Fürsorgefälle tendenziell im einzelnen Fall höhere Kosten verursachten als die Fälle ‚normaler’ Armenfürsorge.84 Die große Bedeutung derartiger Zahlungen lässt sich auch daran ablesen, dass bereits in das Unterstüt80 Eine eindeutige Trennung dieser Kategorien war aus den vorliegenden Aufzeichnungen heraus nicht möglich, vor allem die Kategorie der Pflegeaufwendungen mag auch Kostenfälle beinhalten, die nicht zwingend auf eine Erkrankung zurückzuführen sind. Die hohe Belastung der Gemeindeetats durch Krankenhauskosten wurde bereits zeitgenössisch bemerkt. 81 Siehe dazu im Detail Kapitel 1.2., S. 77 und Kapitel 2.1.1. im Abschnitt „Wahlfreiheiten: Das Verschwinden des Armenarztes.“ 82 Siehe hierzu auch Kapitel 9.1.1., insbesondere den Abschnitt „Kostenminimierung“. 83 Vgl LHAK 655,123 Nr. 1040, Schreiben Bürgermeisters von Zeltingen an Leonhard W. vom 30. Juni 1913: „Auf ihre mündliche Vorstellung von heute gereicht Ihnen (…) zum Bescheide, daß die armenärztliche Behandlung auch die Übernahme der Arzneikosten auf die Gde in sich schließt.“ Wie das folgende Beispiel der Bürgermeisterei BitburgLand indiziert, dürften diese Ausgaben aber nur sehr gering ausgefallen sein. 84 Die den in diesem Abschnitt gezeigten Grafiken zugrundeliegenden Zahlen sind im Anhang in Tabelle 15: Ausgaben der Armenfürsorge der Bürgermeisterei Bitburg-Land (1925/4–1931) beigefügt.

339

Krankheit und die Kosten

zungswohnsitzgesetz von 1871 eine Regelung der Höhe von Ausgleichszahlungen für Armenbehandlungen im Krankenhaus zwischen einzelnen Ortsarmenverbänden aufgenommen worden war.85 Abbildung 3: Vergleich der Anteile von krankheitsbezogenen Fällen und Zahlungen an den Gesamtfallzahlen und Gesamtaufwendungen der Armenfürsorge (Bitburg-Land 1926–1931) 100,00% 90,00% 80,00% 70,00%

76,54% 62,07%

65,51%

66,43%

61,95%

55,91%

60,00%

47,41%

50,00%

56,75%

54,09% 48,18% 42,77%

40,00%

37,88%

30,00% 20,00% 10,00% 0,00% 1926

1927

1928

1929

1930

1931

Anteil der krankheitsbezogenen Fälle an der Gesamtzahl aller AF-Fälle Anteil der krankheitsbezogenen Kosten an der Gesamtheit aller Kosten

Ähnlich wie im Falle Zeltingens ist auch für die Bürgermeister Bitburg-Land zu sehen, dass die krankheitsbezogenen Ausgaben einen Großteil der Armenfürsorgeaufwendungen ausmachten. Neu erkennbar und erklärungsbedürftig ist hingegen der Rückgang der krankheitsbedingten Anteile sowohl an den Fallzahlen wie auch an den Ausgaben in den späten 1920er Jahren. Da sich hier ein möglicher Zusammenhang mit einer zunehmenden Mitgliedschaft Armer in den Krankenkassen andeutet, sei diesbezüglich aber auf den nachfolgenden Abschnitt verwiesen. Die Bitburger Aufstellungen der Armenfürsorgeausgaben erlauben zudem weitergehende Beobachtungen im Hinblick auf die innere Differenzierung der Armenausgaben. Die folgende Graphik lässt deutlich erkennen, dass Ausgaben für ärztliche Behandlungen oder Medikamente und Heilmittel einen deutlich geringeren Anteil an den Armenausgaben ausmachten, als die Zahlungen für Krankenhausaufenthalte und Pflege.

85 Wagner, Finanzierung, S. 51. Die Zahlungen orientierten sich am Servis-Tarif für militärische Einquartierungen in Friedenszeiten. Die große Zahl der Konflikte um solche Zahlungen hatte eine Regelung unumgänglich gemacht.

340

Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

Abbildung 4: Prozentuale Anteile ausgewählter Ausgabenkategorien an den Gesamtausgaben der Armenfürsorge (Bitburg-Land 1926–1931) 100% 90%

23,46%

70%

33,57%

34,49%

80%

38,05%

43,25%

45,91%

1,05% 6,71% 0,93%

2,31% 60%

7,34%

11,16%

0,36% 7,25% 0,59%

50%

4,03%

0,36%

15,12% 40% 68,78% 30%

55,87%

54,34%

54,33%

20%

52,35% 38,38%

10% 0% 1926

1927

Pflege / Krankenhaus

1928

Arzt / Transport

1929

1930

1931

Apotheke

Übrige Armenfürsorge

Da Krankenhaus- und Pflegekosten von ihrem Charakter her meist längerfristig anfielen, wurde der verbleibende finanzielle Spielraum der Gemeinden im Falle besonders schwerwiegenden Einzelbedarfs – etwa bei größeren Operationen einzelner Armer – sehr eingeschränkt.86 So schrieb 1929 der Bürgermeister von Zeltingen an den Landrat in Bernkastel, es sei „unmöglich, mit dem zugewiesenen Kontingent von 2000 RM auszukommen.“87 1928 hatte er an krankheitsbezogenen Ausgaben 2126,– RM an „Anstaltspflegekosten“, 400,– RM für den Armenarzt, 127,– RM für „Arzneien und sonstiges“ und zudem noch 1150,– RM für einmalige Unterstützungen aufwenden müssen.88Angesichts der knappen Finanzlage legte der Landrat in seiner Antwort den Bürgermeistereien vor allem bei Letztgenannten Einschnitte nahe: Wie in der Bürgermeisterdienstversammlung zum Ausdruck gebracht worden ist, muss versucht werden, mit dem zugesprochenen Kontingent die Armenfürsorge im laufenden Rechnungsjahre durchzuführen. (…) Wenn auch an den laufenden Unterstützungen einschl. Anstaltspflegekosten kaum Einsparungen möglich sein dürften, so wird doch bei der Bewilligung einmaliger Unterstützungen eine Ersparnis möglich sein.89 86 Die konnte auch zum Rückgang der Unterstützung anderer Armer führen. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 120–121. 87 LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Schreiben des Bürgermeisters vom 08. August 1929. 88 Ebd. Hinter den einmaligen Unterstützungen konnten sich auch Operationskosten o.ä. verbergen. 89 LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Schreiben des Landrates vom 15. Mai 1929.

Krankheit und die Kosten

341

Anhand der erwähnten umfangreichen Kinderspeisungen Ende der 1920er Jahre lässt sich zeigen, welche Dimensionen die finanzielle Belastung der Gemeinden in Situationen erreichen konnte, in denen derartige kostenintensive Einzelereignisse auftraten. So kosteten die Kinderspeisungen im Kreis Bitburg im Fiskaljahr 1929/30 insgesamt 15.192,– RM, von denen 9654,– RM über staatliche Beihilfen gedeckt wurden.90 Den Restbetrag mussten Kreise und Gemeinden selbst tragen. Im Kreis Bernkastel verblieben bei Kreis und Gemeinden im Jahr 1925/26 von 9006,60 RM Gesamtkosten immer noch 4323,90 RM, die sie selbst aufzubringen hatten.91 Abbildung 5: Quartalsweise Zahl der Unterstützungszahlungen in der Armenfürsorge (Bitburg-Land 1922–1931) 80 70 60 50 40 30 20 10

10 -1 2 01 19 -0 25 3 04 19 -0 26 6 07 19 -0 26 9 10 19 -1 26 2 01 19 -0 26 3 04 19 -0 27 6 07 19 -0 27 9 10 19 -1 27 2 01 19 -0 27 3 04 19 -0 28 6 07 19 -0 28 9 10 19 -1 28 2 01 19 -0 28 3 04 19 -0 29 6 07 19 -0 29 9 10 19 -1 29 2 01 19 -0 29 3 04 19 -0 30 6 07 19 -0 30 9 10 19 -1 30 2 01 19 -0 30 3 04 19 -0 31 6 07 19 -0 31 9 10 19 -1 31 2 19 31

0

Zahl der sonstigen Unterstützungszahlungen Zahl der krankheitsbezogenen Unterstützungszahlungen

Den quartalsweisen Aufzeichnungen der Bitburger Armenfürsorgeaufstellungen nach zu urteilen, ist sowohl hinsichtlich der Anzahl der Zahlungsfälle im Allgemeinen wie der Anzahl der krankheitsbedingten Zahlungen nach eine signifikante Konjunktur im Jahresverlauf nicht auszumachen.92 Die Zahl der Antragstellungen stieg zum Herbst und Winter hin zwar meistens leicht an, die Schwankungen blieben insgesamt allerdings so gering, dass ein regelrechtes Muster in der Zahl der Armenfürsorgeunterstützungen im Jahreslauf nicht zu belegen ist. Insgesamt stieg die Zahl der Fälle, in denen Unterstützungen gezahlt wurden ab 1928 aber allmählich an.

90 ALVR APR Nr. 3579, Schreiben des Landrates zu Bitburg vom 20. Februar 1930. 91 ALVR APR Nr. 3578, Schreiben des Landrates zu Bitburg vom 30. April 1926. 92 Vgl. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 119–120.

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

8.2.2. Neue Entlastung. Die Bedeutung der Sozialversicherung Angesichts der hohen Belastungen der Armenetats durch Krankenausgaben musste den zuständigen Gemeindeverwaltungen die Möglichkeit verlockend erscheinen, zumindest Teile dieser Belastungen auf andere Träger zu verlagern. Auch wenn die Entlastung der Armenpflege als Motiv für die Einrichtung der Sozialversicherungen nicht im Vordergrund stand, war dies doch ein zentrales Argument in der Auseinandersetzung mit den Gegnern dieses neuen Systems.93 Für die Bürgermeisterei Zeltingen lassen sich die Bemühungen um die Verlagerung der Kosten anhand einiger Fälle stationärer Behandlungen verdeutlichen. Bei der Gallensteinoperation der Hilde C. zahlte die Ortskrankenkasse nach Aussage des Arztes die Operations- und Behandlungskosten und einen Zuschuss zu den Pflegekosten.94 Die finanziellen Bedingungen dieses Falles fasste der Bürgermeister in einer Notiz zusammen: Laut telef. Mitteilung des Geschäftsführers der Allg. Orts-Krankenkasse f. d. Moselbürgermeistereien zahlt die Krankenkasse, wenn die Operation im Moselkrankenhause erfolgt keinen Zuschuß zu den Pflegekosten. Hingegen zahlt sie einen solchen, wenn die Operation in Bonn erfolgt. In letzterem Falle übernehmen sie auch die Fahrtkosten. Ferner sollen die Pflegekosten in Bonn 120–150 M [sic, gemeint ist wohl 1,20–1,50 M] pro Tag billiger sein als in Bernkastel. Für die Kranke selbst sei es besser, wenn die Operation in Bonn ausgeführt würde, da dieses daselbst von Spezialärzten geschieht. Nach Mitteilung von Geheimem Sanitäts-Rat Dr. Angen ist die Hilde C. nicht transportfähig.95

Insbesondere der letzte Satz verrät, dass der Bürgermeister sich bei dem behandelnden Arzt bereits nach den Möglichkeiten erkundigt hatte, Hilde C. in das preiswertere Krankenhaus nach Bonn zu verlegen. Das Bemühen um eine für die Gemeinde möglichst preiswerte Gestaltung war also nicht nur theoretisch geblieben. Zwar wurde die bessere Versorgung in der Bonner Universitätsklinik erwähnt, verknüpft wurde dies aber mit einer ausführlichen Darstellung der finanziellen Gegebenheiten. Im Fall der Unterbringung der Anna Schwab in der Heilstätte Roderbirken profitierte die Zeltinger Armenverwaltung ebenfalls von den Leistungen der Krankenkasse, als die entstehenden Kosten „nach Zuschuß“ der Krankenkasse zwischen Bezirksfürsorgeverband und Gemeinde aufgeteilt werden sollten.96 Bei Kosten von 6,50 RM pro Tag machte der Anteil der Krankenkasse von 2,– M pro Tag fast ein Drittel der Kosten aus.97 Die Bemühungen der Armenverwaltung, andere Kostenträger einzubeziehen, wurden auch im Fall der Katja P. erkennbar. Auf eine offensichtlich ergangene Anfrage des Bürgermeisters zu Kirchberg um Aufnahme der Kranken in eine Heilanstalt auf Kosten der Landesversicherungsanstalt antwortete deren Vorstand: 93 94 95 96 97

Redder, Armenhilfe, S. 109. LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Schreiben des Dr. Angen vom 14.11.1922. Ebd., undatierte Notiz. LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Schreiben vom 20. September 1929. LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Notiz vom 04. Oktober 1929.

Krankheit und die Kosten

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Der Vorstand ist nicht in der Lage, die Katja P. aus L. nochmals auf diesseitige Kosten in einer Anstalt unterzubringen, da nach den hier vorliegenden ärztlichen Gutachten nicht anzunehmen ist, daß die Katja P. hierdurch wieder dauernd erwerbsfähig wird. Nur unter dieser Voraussetzung wäre der Vorstand zur Übernahme eines Heilverfahrens befugt. Aus denselben Gründen vermag der Vorstand neben der Rentenzahlung die Kosten der aerztlichen Behandlung und die Arzneikosten nicht zu übernehmen. Es muß anheimgestellt werden, die g. Katja P. von Armenwegen zu unterstützen.98

Auch wenn offenbar die Kostenträgerschaft der Krankenkassen im Einzelfall den Armenetat einer Gemeinde entlastete, bleibt doch zu prüfen, inwiefern dies so häufig der Fall war, dass den Armenetats diese Erleichterung auch in der Summe zugutekam. Diese Frage war bereits relativ rasch nach der Einführung der Sozialversicherungen auch Gegenstand zeitgenössischer Untersuchungen.99 1894 hatte die Reichsregierung in einem Rundschreiben an die Länderregierungen Fragebögen verschickt, die in Anlehnung an ähnliche Untersuchungen des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit die Folgen der Sozialversicherungen für die Armenpflege, insbesondere deren Ausgabenumfang, erfassen sollten.100 Die Auswahl der befragten Armenverbände und der Rücklauf der rund 1500 Befragungen wurden von den Verfassern des Berichts insgesamt so bewertet, dass sie trotz Mängeln im Einzelfall von einer grundsätzlichen Repräsentativität der Ergebnisse ausgingen.101 Diese deuteten aber zugleich daraufhin, dass eine Entlastung in sehr hohem Maße von den jeweiligen lokalen Bedingungen beeinflusst wurde.102 Leider bieten die Ergebnisse keinen konkreten Angaben für die in der vorliegenden Untersuchung betrachteten Regionen, da aus den Regierungsbezirken Trier und Koblenz keine, beziehungsweise nur Angaben zu Städten gemacht wurden.103 Als grundsätzliches Problem erwies sich zudem bereits damals, den Anteil der neuen Sozialversicherungen an statistisch erkennbaren Veränderungen im Umfang der Armenfürsorge eindeutig zu bestimmen: Wären daher auch alle Armenverbände des Reichs im Besitz einer geregelten Anschreibung, und wäre diese Buchführung allenthalben auf einheitliche Grundsätze basiert – was thatsächlich nicht der Fall ist –, so ließe sich aus dem beschafften Zahlenmaterial doch kein zweifelsfreier Schluß in Bezug auf die Hauptfrage ziehen weil man eben nicht im Stande ist, die einwirkenden Ursachen auseinander zu halten und insbesondere den Einfluß der einen Ursache, nämlich der Arbeiter-Versicherung, durch Eliminierung der anderen rein zu erfassen.104 98 LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben des Vorstands der LVA vom 11. Oktober 1899. 99 Vgl. Redder, Armenhilfe, S. 111. 100 Statistisches Reichsamt, Einwirkungen, S. 1. 101 Ebd., S. 5. Kritik an Vorgehensweise und Interpretation der Ergebnisse vor allem bei Reitzenstein, Arbeiterversicherung. 102 Reitzenstein, Arbeiterversicherung, S. 18. 103 Statistisches Reichsamt, Einwirkungen, S. 4. Für den Regierungsbezirk Trier lagen keinerlei Angaben vor, für den Regierungsbezirk Koblenz nur Angaben für die Städte Koblenz und Bad Kreuznach. 104 Ebd., S. 4. Ähnlich Reitzenstein, Arbeiterversicherung, S. 7–8, 10–11. Dazu auch Redder, Armenhilfe, S. 111. U. Redder hebt insbesondere die zeitgenössische „selbstkritische Beur-

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

Diese Schwierigkeit ist auch im hier untersuchten Fall gegeben. Ein Indiz für eine Entlastung der kommunalen Armenetats durch die Leistungen der Sozialversicherungen ist zunächst der sinkende Anteil der krankheitsbezogenen Ausgaben an den Armenfürsorgeausgaben insgesamt, wie er in Abb. 3 sichtbar wurde. Der Rückgang der krankheitsbedingten Armenfürsorgeaufwendungen könnte hier als Folge und Erfolg der neuen Krankenversicherungen angesehen werden.105 Einschränkend ist hierzu allerdings die in Abb. 5 erkennbar gewordene Zunahme der Zahl der genehmigten Armenfürsorgeanträge insgesamt anzuführen. Diese Zunahme könnte auf den zunehmenden Anteil Erwerbsloser an der Klientel der Armenfürsorge zurückgeführt werden. Deren Zahl wuchs im Untersuchungsgebiet schon ab 1925/26, ab 1930 wurden aus der Arbeitslosenversicherung ausgeschiedene „Wohlfahrtserwerbslose“ dann auch statistisch eigenständig erfasst.106 Da diese aber nach wie vor durch die kommunale Armenfürsorge unterstützt werden mussten, ist der sinkende Anteil der krankheitsbedingten Ausgaben zumindest teilweise auch auf die Zunahme der Armenausgaben im Ganzen zurückzuführen und damit als statistischer Effekt zu erklären.107 Eine Entlastung der Armenetats im Wortsinne einer Verminderung der Ausgaben durch die Etablierung und Ausbreitung der Krankenversicherung wurde auch in der Untersuchung von 1894 nur eingeschränkt gesehen, doch führten die Verfasser an, dass die Leistungen der Sozialversicherungen zumindest das Wachstum der entsprechenden Ausgaben in der Armenfürsorge gebremst haben dürfte.108 Diese Begründung darf auch im Fall der Gemeinde Bitburg-Land angenommen werden. In der Untersuchung von 1894 hielten die Verfasser noch explizit fest, dass für den ländlichen Raum Entlastungen durch die Sozialgesetzgebung nur in ganz vereinzelten Fällen festgestellt werden konnten.109 Der eben erwähnte Rückgang sowohl der krankheitsbedingten Anteile an den Fallzahlen wie auch an den Ausgaben der Armenfürsorge für die Bürgermeisterei Bitburg-Land in den späten 1920er Jahren passt aber mit einer Verbreitung der Krankenkassenmitgliedschaft auch in potentiell armen Bevölkerungsschichten zusammen, wie sie die Angaben zum Versicherungsschutz in den Armenfürsorgeanträgen der Bürgermeisterei Zeltingen ebenfalls ab 1927/28 erkennen lassen.110 Legt man eine ähnliche Entwicklung auch für die Bürgermeisterei Bitburg-Land zugrunde, fällt der Rückgang der krankheitsbedingten Fälle und Ausgaben der Armenfürsorge tatsächlich auch zusammen mit einer zunehmenden Mitglied-

teilung“ der methodischen Schwierigkeiten hervor. 105 Vgl. Eser, Verwaltet, S. 210; Rheinheimer, Armut, S. 101. 106 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 367; Ausführlich zum Trierer Raum dazu Stazic, Arbeitslosigkeit. 107 Ähnlich auch Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 123–125. 108 Statistisches Reichsamt, Einwirkungen, S. 5; Reitzenstein, Arbeiterversicherung, S. 16; Vgl. auch Förtsch, Gesundheit, Krankheit, S. 124–125; Redder, Armenhilfe, S. 136. 109 Statistisches Reichsamt, Einwirkungen, S. 5. 110 Siehe S. 325ff.

Krankheit und die Kosten

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schaft potentieller Armenfürsorgeempfänger in der Krankenversicherung im ländlichen Raum.111 Damit zeigen die Ergebnisse der zeitgenössischen und der hier angestellten Untersuchung in der Zusammenschau, dass die Einführung der Sozialversicherungen im ländlichen Raum zwar eine relative Entlastung der Armenetats mit sich brachte, diese in ihrer Höhe allerdings nicht exakt beziffern ist. Erst in den 1920er Jahren verbreitete sich die Krankenkassenmitgliedschaft bis in die ärmeren Bevölkerungsschichten hinein und führte auch hier zu Entlastungen der Armenkassen. Diese Erleichterungen wurden aber durch die parallele Zunahme der Unterstützungsbedürftigen insgesamt am Ende der Zwanziger Jahre wieder aufgehoben. Deutlicher entlastet wurden die Gemeinden hingegen auf einem anderen Feld, wie der Antrag Rudolf P.s aus Kastellaun auf laufende Unterstützung zeigt, der unter Verweis auf den Krankengeldbezug seiner beiden Söhne abgelehnt wurde: Einer von ihnen verdient pro Tag 3,20 M, zusammen 6,40 M womit eine Familie von 4 Personen, die ein eigenes Häuschen, d. h. keine Miete zu zahlen hat, auskommen kann. Im letzten Jahr haben beide Söhne in einem Bergwerk bei Braubach gearbeitet, erkrankten dort an Bleivergiftung, kehrten dann ins Elternhaus zurück; bis zur Aufnahme der Arbeit – sie arbeiten jetzt hier bei einem Verwandten, Herr Philipp P. – hat der 43 Jahre alte Ko. Rau pro Tag 2 M, der 32 Jahre alte R. P. pro Tag 2,10 M Krankengeld erhalten, zusammen also 4,10 M pro Tag, ein Betrag, mit dem 4 Personen ebenfalls auskommen können. Die Frage der Unterstützungsbedürftigkeit kann daher nicht bejaht werden.112

Auch wenn der zentrale Ablehnungsgrund in diesem Fall eher die Höhe des aktuellen Lohnes war, wird in der detaillierten Aufstellung der Krankengeldbezüge und dem Verweis auf deren zum „Auskommen“ hinreichende Höhe das argumentative Potential der Krankenversicherung für die Armenverwaltung erkennbar. Obwohl der Bezug von Krankengeld oder ähnlichen Leistungen an den Status des Krankseins gekoppelt war – die „Würdigkeit“ und Position des Antragstellers also potentiell unterstrich – bot er den Gemeindeverwaltungen einen Ansatzpunkt, um unter Verweis auf ausreichendes anderes Einkommen eine Armenunterstützung zu verweigern. So lehnte der Zeltinger Gemeinderat 1913 eine Armenunterstützung für Leonhard W. unter Bezug auf dessen Invalidenrente ab, und auch Wilhelm F. wurde seine Unterstützung mit Bezug auf seine Invalidenrente und das bezogene Arbeitslosengeld gestrichen.113 Ute Redder hat derartige über den rein finanziellen Aspekt hinausge111 Dass tatsächlich auch im Bereich Bitburg Armenfürsorgeempfänger krankenversichert waren, zeigt LHAK Best. 655,191 Nr. 411, Unterstützungsgesuch des Samson M. vom 02. Januar 1934. Die Quellenlage ist insgesamt allerdings wesentlich dürftiger als im Zeltinger Fall. 112 LHAK Best. 491 Nr. 319, Schreiben des Bürgermeisters vom 25. April 1912. 113 LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Beschluss des Gemeinderates zu Zeltingen vom 12. Juni 1913. Der Rentenbezug des Leonhard W. war der erste von fünf genannten Ablehnungsgründen. Zu Wilhelm F.: LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Schreiben des Bürgermeisters vom 11. März 1931.

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hende Beziehungen als „Rückkopplungseffekte“ beschrieben, diese allerdings vornehmlich unter der Perspektive ihrer „ausgabenerhöhenden Rückwirkung“ – und damit tendenziell zugunsten der armen Klientel wirksam – betrachtet.114 Der Blick in die konkrete Argumentation der Armenverwaltung zeigt jedoch, dass sich diese Effekte auch gegen die Betroffenen richten konnten. Insgesamt gesehen entlasteten die Kranken- und Unfallversicherungen die Gemeindeverwaltungen damit in zweierlei Hinsicht. In finanzieller Hinsicht ermöglichten sie es den Armenverwaltungen, zumindest einen Teil ihres größten Ausgabenpostens, der krankheitsbezogenen Armenausgaben, auf andere Träger zu verlagern. Argumentativ boten die Kranken- oder Invalidengeldbezüge für die Versicherten den Armenverwaltungen zudem einen Ansatzpunkt für ablehnende Entscheidungen über Unterstützungsanträge. Diese Praxis entsprach aber nun gar nicht dem „vertieften sozialen Geist“, den etwa Friedrich Zahn mit der Einführung der Krankenversicherungen in der Armenverwaltung einziehen sah.115 Indem diese sich argumentativ auf eine objektiv messbare Steigerung des Einkommens berief, führte sie insofern traditionelle Argumentationslinien fort, als sie die Sozialversicherungen in ähnlicher Weise wie etwa Armenspenden primär als Möglichkeit ansahen, die eigene Finanzbelastung zu minimieren. Eine veränderte Wahrnehmung der Antragsteller und ihres Unterstützungsbedarfs scheint damit nicht einhergegangen zu sein. Dass die Gemeindeverwaltungen dieses entlastende Potential der Krankenversicherung voll erkannt hatten, zeigt der Umstand, dass der Gemeinderat von Lieser 1921 beschloss, „die vollen Beiträge zur Krankenund Invalidenversicherung für alle Gemeindearbeiter auf die Gemeindekasse zu übernehmen“ obwohl er gesetzlich nur zu einer teilweisen Übernahme verpflichtet war.116 Die Gemeindevertreter nahmen also eine kurzfristig höhere Belastung in Kauf, um im Falle einer Krankheit die Betroffenen an die Krankenkasse verweisen zu können. Die freiwillige Übernahme des ganzen Beitrags auf die Gemeindekasse ließ die Versicherung für die Gemeindearbeiter attraktiver werden und passt dergestalt in das im ersten Teil deutlich gewordene Prinzip, die Ortskrankenkassen möglichst leicht zugänglich zu machen.

114 Redder, Armenhilfe, S. 111. 115 Zahn, Arbeiterversicherung, S. 476. 116 VGV BKS Beschlussbuch des Gemeinderates zu Lieser, Beschluss vom 07. September 1921. Unterstreichung des Verf..

Kapitel 9: Verhandlungen – Verfahrensweisen, Verhalten, Einflüsse Nachdem in den vorangegangenen Teilen dieser Untersuchung die Strukturen der gesundheitlichen Versorgung und verschiedene, für die Heilungssuche und –entscheidung des einzelnen Betroffenen bedeutsame Faktoren Gegenstand der Betrachtung gewesen waren, hatte das vorangegangene Kapitel die besondere Bedeutung der Finanzierung von Krankheits- und Heilungskosten im Falle der kranken Armen herausgestellt. Im nun folgenden Kapitel soll untersucht und dargestellt werden, inwiefern diese unterschiedlichen Einflüsse und Bedingungen die Bemühungen der armen Kranken um gesundheitliche und finanzielle Hilfe durch die Armenfürsorge prägten. Der Blick ist dabei im Wesentlichen auf die Armenverwaltung und die Betroffenen selbst gerichtet. Der erste Abschnitt behandelt die Zeit bis zum Beginn der 1920er Jahre, in der immer noch Armenarzt und Armenkasse die Hauptträger der armenärztlichen Behandlung und deren Finanzierung bildeten. Im zweiten Schritt wird die spätere Zeit bis zum Beginn der 1930er Jahre untersucht, wobei das Hauptaugenmerk hier auf den Veränderungen liegt, die sich durch die nun etablierten Krankenversicherungen ergaben. Im anschließenden dritten Abschnitt kommen einige Fälle in den Blick, in denen der Verweis auf die Krankheit gebraucht wurde, um andere Antragsziele als eine Behandlung zu erreichen. Im abschließenden vierten Abschnitt wird anhand von vier exemplarischen Fällen verdeutlicht werden, auf welche unterschiedlichen Weisen eine Leistung zwischen den Beteiligten in der praktischen Umsetzung ausgehandelt werden konnte. 9.1. Armenarzt und Armenkasse – Krankheitsbedingte Anträge bis zum Beginn der 1920er Jahre Das Verfahren von Antrag, Entscheidung und Gewähr gesundheitlicher Armenhilfe verlief grundsätzlich auf dieselbe Weise wie auch im Falle anderer Unterstützungsanträge. Für Preußen war dieses Verfahren im Ausführungsgesetz zum Gesetz über den Unterstützungswohnsitz einheitlich geregelt worden. Über den mündlich zur Niederschrift oder schriftlich eingereichten Antrag entschied in erster Instanz der jeweilige Gemeinderat als Träger des Ortsarmenverbandes. Dieser Entscheidung lag immer eine Prüfung der Bedürftigkeit zugrunde, in der vor allem Arbeitsfähigkeit, Vermögenslage und die Existenz unterhaltsverpflichteter Verwandter geprüft wurden. Erhielt ein Antrag  

Siehe dazu Sachsse u.a., Armengesetzgebung, S. XXIV–XXVIII sowie Nr. 86 der dortigen Quellensammlung. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 87–93. Zu den Strukturebenen der Armenhilfe Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 73–87. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 87–96.

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steller einen negativen Bewilligungsbescheid, konnte er dagegen Einspruch erheben, bzw. bei der nächsthöheren Instanz – in den meisten Fällen dem Landrat – Beschwerde einlegen. In den hier untersuchten Aktenbeständen waren nur wenige Fälle verzeichnet, in denen Antragsteller nach einer erneuten Ablehnung beim Landrat auch den Weg der Beschwerde bei der Bezirksregierung oder gar der Provinzialregierung beschritten. Angesichts der vergleichsweise übersichtlichen und kleinräumigen Gesellschaftsstruktur im hiesigen ländlichen Raum waren die Antragsteller und ihre Lebensverhältnisse dem Gemeinderat, als erste Anlauf- und Entscheidungsstelle in zentraler Stellung in diesem Verfahren, in vielen Fällen nicht nur aus den Akten, sondern unmittelbar bekannt. Entgegen dem ersten Eindruck, nach dem ein Zusammengehen von sozialer und amtlicher Kontrolle in Gestalt der Gemeinderatsmitglieder für die Armen mit deutlich erhöhtem Kontrolldruck in Verbindung stehen musste, war diese Konstellation für die Antragsteller keineswegs nur von Nachteil. Persönliche Kenntnis der Armenverwalter und Gemeinderatsmitglieder ermöglichte es ihnen, etwa in der Formulierung ihrer Anträge Reaktion der einzelnen Entscheidungsträger zu antizipieren und eröffnete ihnen damit einen begrenzten eigenen Handlungsspielraum. Im Falle krankheitsbedingter Unterstützungen – was zunächst die Krankheitsbedingtheit in den Augen des Antragstellers bedeutete – erfuhr dieses Ver­ fahren insofern eine Veränderung der Rahmenbedingungen, als dass in der Person des Armenarztes für den Bereich der Krankheit und des Krankseins eine besondere Expertise zur Verfügung stand. Zwar gehörte die gutachterliche Stellungnahme zu den grundlegenden Aufgaben des Armenarztes, es bestand allerdings keinerlei Verpflichtung des Gemeinderates, sich dieser Expertise zu bedienen. Ebenso wenig besaß ein eventuelles Urteil des Armenarztes Bindungskraft für die Entscheidung des Gemeinderates. Das Maß, in dem der Armenarzt tatsächlich in die Entscheidung über die Gewähr von Armenkrankenpflege und –fürsorge einbezogen wurde, fällt daher sicherlich in den Bereich der hier zu untersuchenden Praktiken gesundheitlicher Armenfürsorge. Im Rahmen der armenärztlichen Tätigkeit musste auch sichergestellt sein, dass niemand unberechtigterweise den Armenarzt in Anspruch nahm. Das entsprechende Verfahren entwickelte sich im hier untersuchten Raum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer Listenpraxis hin zu einer Scheinpraxis. Eine Verfügung der Königlichen Regierung hatte für den Regierungs  



Ebd., S. 157. Ebd., S. 380–381. Einige regionale Beispiele dazu in Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 391–100. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 381. Diese persönliche Bekanntheit von Antragsteller und Aufsehern nimmt auch Crowther, Provincial England, S. 209 an und folgert daraus, dass etwa die Entscheidungen über Armenkrankenbehandlungen ebenfalls sehr individualisiert ausfielen. Buchholz, Überlieferungsbildung, S. 240–241 verweist anhand von Beispielen aus dem Betrieb moderner Sozialämter darauf, dass dieses „sich Kennen“ natürlich auch andersherum galt und durchaus bedrohlich artikuliert wurde. Vgl. auch Williams, Income, S. 174.

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bezirk Koblenz noch 1848 vorgeschrieben, dass jeder Distriktarzt halbjährlich eine Liste der Berechtigten zum Empfang armenrechtlicher Medizinalhilfe in seinem Zuständigkeitsbereich erhalten sollte. Nach einer ersten Lockerung 1869 wurde diese Bestimmung 1873 aufgehoben und „an ihrer Stelle, der in ver­schiedenen Bürgermeistereien thathsächlich schon bestehenden Einrichtung entsprechend“ vorgeschrieben, dass zukünftig die infragekommenden Per­so­nen eine einfache Bescheinigung ihrer Berechtigung erhalten und im Bedarfsfalle dem Arzt vorlegen sollten. Offenbar hatte sich hier eine praktische Va­riante gegenüber der ursprünglichen vorschriftsmäßigen Weise durchgesetzt. 9.1.1. Verhaltensweisen der Armenverwaltung Für den behördlichen Umgang mit den Antragstellern im ländlichen Raum hat Katrin Marx festgestellt, dass „die Verwaltungspraktiken der kommunalen Behörden darauf ausgerichtet [waren], die Zahl der Unterstützungsempfänger und die Ausgaben für das Armenwesen möglichst gering zu halten.“10 Dieser Befund einer doppelten Strategie von genereller Zugangsbeschränkung zum System der Armenfürsorge und möglichst kostensparender Ausgestaltung gewährter Leistungen bestätigt sich auch beim Blick auf den spezifischen Umgang mit krankheitsbedingten Unterstützungsanträgen. Zugangskontrolle Über die gängigerweise geübten „Strategien der Zahlungsvermeidung“ wie zeitliche Verschleppung der Entscheidung über einen Antrag oder den Verweis auf nicht unterstützungsbedürftige Familien- und Einkommensverhältnisse hinaus, ist für den Bereich der krankheitsbedingten Unterstützungen gerade der Umgang und das Einbeziehen der spezifischen Expertise des (Armen-)Arztes auf Seiten der Armenverwaltung von Interesse.11 Im März 1905 erkundigte sich der Trierer Regierungspräsident bei den Landräten, Bürgermeistern und Kreisärzten seines Bezirkes nach dem Usus 

LHAK Best. 491 Nr. 279, Schreiben der Innenabteilung der Königlichen Regierung zu Koblenz vom 18. März 1869.  LHAK Best. 491 Nr. 279, Schreiben der Innenabteilung der Königlichen Regierung zu Koblenz vom 06. November 1873. Die kostenlose Medikamentenabgabe kennzeichneten die Armenärzte auf den ausgestellten Rezepten durch „PP“ (praxis pauperum), LHAK Best. 655,14 Nr. 329, Schreiben des Apothekers Windeck, Kastellaun vom 17. Januar 1896. 10 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 162; ähnlich auch Redder, Armenhilfe, S. 112. 11 Zu derartigen „Strategien“ vgl. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 166–168; Exemplarisch LHAK Best. 655,14 Nr. 928, Schreiben des Gemeindevorstandes Sevenich vom 27. April 1897: „Außerdem hat dieselbe [Antragstellerin Witwe T., d. Verf.] noch eine 22jährige kräftige Tochter welche Geld verdient und verdienen kann, wenn Sie nur will. Aber bei jeder Kleinigkeit zum Arzt laufen auf Gemeindekosten bringen dieselben besser fertig.“

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

bei der Einholung armenärztlicher Gutachten.12 Die Nachfrage ergab, dass – zumindest im vorliegenden Fall des Kreises Wittlich – in einem Großteil der Fälle der Armenarzt im Rahmen einer Unterstützungsgewähr überhaupt nicht zu Rate gezogen wurde.13 Nach Aussage des Landrates lag der Grund darin, dass die Bedürftigkeit der Antragsteller von den Armenverwaltungen ausreichend kompetent beurteilt werden konnte: In den ländlichen Gemeinden meines Kreises sind die Verhältnisse der Unterstützung suchenden Hülfsbedürftigen so bekannt, daß die Gemeindebehörden überhaupt ohne Zuziehung eines Arztes über die zu bewilligende Unterstützung sich schlüssig werden können. Ist dies nicht angängig, wie namentlich bei ortsfremden Hülfsbedürftigen, so wird eine schriftliche Äußerung des Armenarztes eingeholt.14

Die Vorgehensweise zeigt das Bestreben der Gemeindeverwaltungen, äußere Einflüsse auf ihre Entscheidung möglichst nicht wirksam werden zu lassen. Zudem erwies sich in ihr die offenbar zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch immer ambivalente Beurteilung der medizinischen Deutungskompetenz der Ärzte in ländlichen Regionen. Einerseits manifestierte sich in der Vermeidung armenärztlicher Gutachten das Bewusstsein, dass ein die Unterstützung befürwortendes Gutachten eine ablehnende Entscheidung erheblich erschwerte. Andererseits war das Wissen um Grenzen der eigenen Urteilskompetenz vorhanden, wie dies deutlich in der Antwort des Bürgermeisters von Kröv auf die genannte Anfrage zum Ausdruck kam: In den meist nicht so großen Landgemeinden sind die Verhältnisse der Einwohner den Ortsbehörden hinreichend bekannt, daß ein ärztliches Gutachten darüber, ob Unterstützungsanträge als begründet zu erachten sind oder nicht, nicht erst eingeholt zu werden braucht. Kommt ein Fall vor der zweifelhaft erscheint, so ist allerdings die Einholung eines ärztlichen Attestes notwendig und wird ein solches Verfahren auch überall durchführbar sein.15

Offenbar beanspruchten die nicht medizinisch ausgebildeten Entscheidungsträger trotz besagten Wissens um die eigenen Grenzen eine Deutungskompe12 KAB-W 2.0.541, Schreiben des Regierungspräsidenten zu Trier vom 22. März 1905. Gegenstand der Frage war eigentlich, ob das Untersuchungsergebnis schriftlich oder mündlich durch Polizeidiener der Armenverwaltung übermittelt werde. Anstoß zu der Umfrage waren offenbar aufgetretene „Unzuträglichkeiten“ letzterer Praxis im städtischen Kontext. 13 Lediglich in den Bürgermeistereien Hetzerath und Bausendorf war ein armenärztliches Gutachten vor dem Bewilligungsentscheid üblich, in der Bürgermeisterei Oberkail wurde ein solches bei nicht ortsansässigen Armen angefordert. Die Bürgermeistereien Bombogen-Salmrohr, Monzel, Kröv, Manderscheid und Binsfeld verzichteten praktisch auf die Einholung von entsprechenden Gutachten. Eine ähnliche Praxis in der Koblenzer Augenklinik für kranke Arme belegt LHAK Best. 403 Nr. 15952, Schreiben des Verwaltungsrates vom 08. September 1913. Diese marginale Rolle des Arztes war dabei durchaus keine neue Entwicklung, sondern eher eine Fortsetzung älterer Muster. In der Stadt Köln waren um 1800 nur 2% der Arbeitsunfähigkeitbescheinigungen von Ärzten ausgestellt. Dinges, Aushandeln, S. 13. 14 Ebd., Schreiben des Landrates zu Wittlich vom 03. Mai 1905. 15 KAB-W 2.0.541, Schreiben des Bürgermeisters zu Kröv vom 10. April 1905. Unterstreichung des Verf.

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tenz über den Gesundheitszustand von Antragstellern. Ob dies auf eine immer noch fehlende Anerkennung ärztlicher Deutungshoheit zurückzuführen ist, bleibt zunächst zu beobachten.16 Ein in seiner Drastik sehr eindrucksvolles Beispiel, wie weit diese Kompetenzaneignung reichte, bietet der erwähnte Fall des an einem extremen Hautausschlag leidenden Gerhard N.17 Obwohl der Kreisarzt in seiner Beurteilung deutlich die soziale und medizinische Notwendigkeit einer Unterstützung und die Arbeitsunfähigkeit des Petenten erklärt hatte18, ignorierte der Gemeinderat in einer erneuten Stellungnahme diese fachliche Einschätzung nicht nur – auch den Ansteckungscharakter der Erkrankung –, sondern begründete die erneute Ablehnung des Gesuchs sogar explizit mit einem eigenen Urteil über den Gesundheitszustand des Gerhard N.: Der Gemeinderat bleibt bei seiner Ansicht, daß Gerhard N. nicht arbeitsunfähig ist, da er, wie die Gemeinderatsmitglieder persönlich gesehen haben und täglich sehen können, regelmäßig wenigstens geringere Arbeiten verrichtet. Gerhard N. besitzt einen recht kräftigen Körper.19

Der Gemeinderat schätzte das eigene Urteil höher ein, als die medizinische Beurteilung durch den Kreisarzt und blieb – formalrechtlich durchaus korrekt – bei seiner früheren Entscheidung. Bemerkenswert bleibt in diesem Zusammenhang, dass in den eingesehenen Quellenbeständen keine Proteste von ärztlicher Seite gegen diese Praktiken zu finden sind. Möglicherweise zeigt sich hier, dass der von ärzteverbandlicher Seite geforderte alleinige Deutungsanspruch im Bezug auf Krankheit in der sozialen Realität lokaler Gesellschaften nur schwer durchzusetzen war, falls – wie hier – die ‚Deutungskonkurrenten’ in Gestalt der Gemeinderäte zugleich über die Anstellung des Armenarztes entscheiden konnten.20 Dass die Kontrolle über den Zugang zur Armenfürsorge gerade im Fall krankheitsbedingter Unterstützung sehr scharf ausfiel, verwundert aus Sicht der Armenverwaltung nicht, zieht man die im vorangegangenen Kapitel ersichtlich gewordenen hohen Kosten einer medizinischen Hilfe in Betracht. Kostenlose medizinische Hilfe auf Gemeindekosten wurde zudem als Einzelmaßnahme der Armenfürsorge ohne Anspruch auf Geldzahlungen etc. gewährt, wodurch war der Kreis möglicher Antragsteller für solche Unterstützungen größer war, als der kleine Kreis der dauerhaft unterstützen Ortsarmen.21 Der Kontrollwille der Armenverwaltung manifestierte sich in diesem Bereich 16 17 18 19

Vgl. dazu den folgenden Abschnitt 9.1.2. Vgl. S. 241. KAB-W 2.0.541, Schreiben des Jakob N. vom 07. November 1904. Ebd., Schreiben des Kreisarztes vom 25. November 1904. Ebd., Auszug aus dem Protokollbuch des Gemeinderates Lüxem vom 11. Dezember 1904. 20 Anders hingegen die Beobachtung von Inga Brandes anhand irischer Workhouses, dass ein Medical Officer sehr wohl protestierte, als der – ihm in der Rangordnung gleichgestellte – Master des Workhouses in seinen Zuständigkeitsbereich eingriff. Brandes, Odious, S. 212–213. 21 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 108.

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darin, dass etwa in der Bürgermeisterei Zeltingen eigene Verzeichnisse „derjenigen Personen, welchen auf Gemeindekosten in Krankheitsfällen armenärztliche Behandlung und Arzneien zu gewähren sind“ geführt wurden.22 Trotz der zahlreichen Ansätze, den Zugang zur Armenfürsorge auch in Krankheitsfällen restriktiv zu gestalten, blieb die Chance für Antragsteller mit einem Gesuch auf Unterstützung Gehör zu finden, bis in die 1920er Jahre hinein größer, wenn diese Hilfe krankheitsbedingt notwendig war.23 Die folgende Graphik zeigt die Gewährquoten unterschiedlicher Kategorien von Armenfürsorgeanträgen für die Bürgermeisterei Zeltingen und für die Bürgermeisterei Lieser, soweit die Daten für diese zur Verfügung standen.24 Abbildung 6: Gewährquoten von Armenfürsorgeanträgen in den Bürgermeistereien Zeltingen und Lieser (1898–1923) 100,00% 90,00% 80,00%

82,41%

81,08% 75,00%

80,36% 77,42% 76,92% 68,47%

70,00%

67,86%

70,34% 62,79%

60,00%

55,56%

60,00% 50,00% 40,00% 30,00% 20,00% 10,00% 0,00% Bgm. Zeltingen 18981913 Alle Anträge jeglicher Art

Bgm. Lieser 1905-1913

Anträge auf lfd. Unterstützung

Bgm. Zeltingen 19141923

Bgm. Lieser 1914-1923

Anträge auf krankheitsbezogene Unterstützung

Die Anerkennungsquote von krankheitsbedingten Unterstützungsanträgen war in beiden Gemeinden für beide Beobachtungszeiträume höher, als die für laufende Unterstützungen. Wenn die Armenverwaltungen kranken Armen vergleichsweise eher eine Unterstützung zukommen ließen, zeigt dies, dass auch bei intensiven Kontrollen Krankheit grundsätzlich immer noch als klassisches Merkmal unterstützungswürdiger Armer verstanden wurde. Die Graphik zeigt aber auch, dass die Gewähr von Unterstützungsleistungen zwischen 22 LHAK Best. 655,123 Nr. 967, passim. 23 Dies konstatiert auch Katrin Marx. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 132. 24 Von den vier Gemeinden der Bürgermeisterei Lieser waren für die angegebenen Zeiträume die Daten der Gemeinde Kesten nicht verfügbar. Die zugrundeliegenden Zahlen im Anhang Tabelle 16: Gewähr ausgewählter Leistungen der Armenfürsorge in der Bürgermeisterei Zeltingen und Teilen der Bürgermeisterei Lieser (1898–1923).

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einzelnen Bürgermeistereien und Gemeinden deutlich schwanken konnte, mithin stark von lokalen Bedingungen und Ausgestaltungen abhängig war. Kostenminimierung Auch wenn einem Antrag auf Armenunterstützung schließlich stattgegeben worden war, setzte sich das Bemühen der Armenverwaltung um eine Minimierung der entstehenden Kosten weiter fort. Zur Zeit ihres Bestehens war die Funktion des Armenarztes aufgrund ihrer Stellenkonstruktion hierfür ein geradezu prädestinierter Ansatzpunkt.25 Die meisten Armenärzte erhielten für ihre Tätigkeit eine pauschale Besoldung, ohne dass die Zahl der armenärztlichen Behandlungen berücksichtigt wurde.26 Die Gewähr armenärztlicher Behandlung war also zunächst nicht mit zusätzlichen Kosten für die Gemeinde verbunden.27 Vor diesem Hintergrund war eine bevorzugte Gewähr armenärztlicher Behandlung anstelle von Krankenhausbehandlungen etc. durchaus attraktiv. Tatsächlich lassen sich für eine solche Herangehensweise Belege anführen. So schrieb der Bürgermeister von Hetzerath 1912 an den Wittlicher Landrat, der kranke Klaus M. habe sich „bereits heute in das Krankenhaus nach Schweich begeben. Die Ueberweisung in dieses ist der Ersparung von Kosten wegen erfolgt, da der hiesige Armenarzt die Behandlung derselben übernimmt.“28 Der Landrat hatte zuvor empfohlen, Klaus M. in das Kreiskrankenhaus Wittlich einzuweisen29, dort wäre er aber nicht von dem Hetzerather Armenarzt, sondern von einem separat zu bezahlenden anderen Arzt behandelt worden, weshalb Klaus M. zur Behandlung durch den Armenarzt in das Schweicher Krankenhaus überwiesen wurde. In ähnlicher Absicht schrieb der Landrat von Simmern im Fall der kranken Katja P. an den Ortsvorsteher von Laufersweiler: Katja P. erklärt, von ihrer Rente Arzt und Apotheke, die sie viel gebrauchen muß, nicht bezahlen zu können. Kann dieselbe auf die Liste derjenigen Personen gesetzt werden, welche Arzt & Apotheke frei haben? Ersteren bezahlt die Landbürgermeisterei, letzeren die Gemeinde. Der Gemeinderath ist zu fragen.30

Die Armenverwaltungen scheuten sich nicht, ihre Absicht, die Kosten zu minimieren, auch gegenüber den Unterstützten deutlich zu machen, wie das Be25 Die kostendämpfende Wirkung von Armenarztverträgen beschreiben auch Williams, Income, S. 164 und Digby, Making, S. 225. 26 Vgl. Kapitel 1.2. 27 Hinzu kam, dass die Bezahlung von allen Gemeinden einer Bürgermeisterei gemeinsam getragen wurde, also aus Sicht der Gemeindeverwaltungen durchaus die Einstellung bestehen konnte, den eigenen Anteil auch entsprechend ‚refinanzieren’ zu wollen. Quellenmäßig zu belegen ist eine solche Denkweise jedoch nicht. 28 KAB-W 2.0.343, Schreiben des Bürgermeisters zu Hetzerath vom 14. März 1912. 29 KAB-W 2.0.343, Schreiben des Landrats an den Bürgermeister zu Hetzerath vom 14. März 1912. 30 LHAK Best. 491 Nr. 305, Notiz des Landrates vom 30. September 1899.

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

schlussschreiben des Zeltinger Gemeinderates an den antragstellenden Rudolf M. vom Januar 1930 zeigt: Falls Sie oder Ihre Familie wieder ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen müssen so ist zum Zwecke der Kostenersparnis der Armenarzt Dr. Angen aus Zeltingen hinzu zuziehen, andernfalls Sie auf eine Beihilfe nicht mehr rechnen können.31

In der Bürgermeisterei Zeltingen sind für die Bevorzugung der Armenarztbehandlung gegenüber anderen Leistungen im Krankheitsfall durch die Armenverwaltung auch statistische Indizien vorhanden.32 Abbildung 7: Gewährquoten krankheitsbezogener Unterstützungen in der Bürgermeisterei Zeltingen (1898–1923) 100,00%

90,32%

84,21%

90,00%

77,78%

80,00% 70,00%

68,00%

60,00% 50,00% 40,00% 30,00% 20,00% 10,00% 0,00% Gew ährquote 1898-1913

Armenarztbehandlung

Gew ährquote 1914-1923

sonstige krankheitsbezogene Unterstützung

Die Graphik zeigt für beide angegebenen Zeiträume deutlich, dass der Anteil der gewährten Anträge auf armenärztliche Behandlung an der Summe der entsprechenden Anträge jeweils deutlich höher lag, als der entsprechende Anteil für anderweitige krankheitsbezogene Unterstützungsleistungen, wie Krankenhausaufenthalte oder Heilmittel.33 Die Zeltinger Armenverwaltung scheint 31 LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Beschluss des Gemeinderates vom 13. Januar 1930. 32 Die folgenden Angaben beruhen auf einer Interpretation der von Katrin Marx in ihrer Dissertation vorgelegten statistischen Angaben zu den Armenfürsorgeanträgen in der Bürgermeisterei Zeltingen von 1889–1923. Für die intensive und umfassende Aufarbeitung der Anträge auf Armenfürsorge und ihrer weiteren Behandlung, die Katrin Marx für die Bürgermeisterei Zeltingen geleistet hat, bin ich ihr zutiefst dankbar, ermöglichte sie doch Untersuchungen im Rahmen dieser Arbeit, deren notwendige umfangreiche Erfassungsarbeiten andernfalls kaum zu leisten gewesen wären. Meiner Auffassung nach ist dies ein hervorragendes Beispiel für den zusätzlichen Gewinn wissenschaftlichen Mehrwerts im Rahmen einer gelungenen gemeinsamen Projektarbeit! 33 Zu den zugrundeliegenden Zahlen siehe im Anhang Tabelle 16: Gewähr ausgewählter Leistungen der Armenfürsorge in der Bürgermeisterei Zeltingen und Teilen der Bürgermeisterei Lieser (1898–1923). Die Zahlen der in der Gemeinde Zeltingen gestellten Anträge auf Armenunterstützung betrugen 124 für den Zeitraum 1898–1913 und 108 für 1913–1923.

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sich demnach leichter getan zu haben, armenärztliche Behandlungen zu gewähren, als andere gesundheitliche Hilfsleistungen. Aufgrund der angeführten Quellenaussagen und angestellten Überlegungen ist es plausibel, als wichtiges Motiv hierfür die kostenneutrale oder sogar kostenmindernde Gestaltung der Armenarztfunktion anzusehen. Dass eine solche Praxis nicht die Zustimmung der betroffenen Ärzte fand, ist leicht ersichtlich. Dr. Rosenberger aus Mülheim beschwerte sich dementsprechend 1912 beim Bürgermeister in Lieser darüber „daß mir von der Gemeinde Maring-Noviand tatsächlich nicht als Ortsarme anerkannte Personen zur armenärztlichen Behandlung überwiesen werden.“ „Im vorliegenden Falle“, so merkt er an, „wäre mir gar kein Verdacht gekommen; es kommen aber sehr häufig von Maring-Noviand Leute seit Jahren mit Armenschein zu mir, von denen ich ganz und gar nicht den Eindruck habe, dass sie als ortsarm anerkannt sein könnten.“34 Die Klage Dr. Rosenbergers war vermutlich auch von dem Interesse geprägt, durch die Gewährpraxis der Armenverwaltung keine potentiellen Privatpatienten zu verlieren. Während die Gewähr armenärztlicher Behandlung für die Gemeinde keine wesentliche Mehrbelastung bedeutete, war jeder Patient in Armenbehandlung ein Einkommensverlust für den Arzt. Dr. Koch, Armenarzt in Kastellaun, wies hingegen Ende des 19. Jahrhunderts in mindestens zwei Fällen kranke Arme darauf hin, dass sie sich von ihm als Armenarzt behandeln lassen könnten.35 Als Motiv hierfür dürfen in diesem Falle durchaus ärztliches Ethos und der Gedanke an das weitergehende Wohl seiner Patienten angenommen werden.36 Als pauschal besoldeter Armenarzt der Gemeinde Kastellaun bedeutete die freiwillige Annahme der beiden Patienten für ihn in erster Linie mehr Arbeit ohne zusätzliches Honorar. Als Privatpatienten konnte er die beiden Kranken nach eigenem Gutdünken kostenfrei behandeln, von einem Verweis auf die armenärztliche Behandlung hatte er also keinerlei weiteren Vorteil. Den Betroffenen aber eröffnete er durch seine Befürwortung der armenärztlichen Behandlung über die eigentliche Behandlung hinaus auch den unentgeltlichen Bezug von Heilmitteln. Zudem war eine Anerkennung als bedürftiger Kranker immer auch ein gutes Argument bei der Beantragung weiterer Armenunterstützung in der Zukunft. Das Bestreben der Armenverwaltung um möglichst niedrige Kosten zeigte sich aber nicht nur im Falle der armenärztlichen Behandlung, sondern auch bei der Gewähr von Heilmitteln und Krankenhausaufenthalten. Der Zeltinger Bürgermeister richtete 1932 an den „Fürsorgearzt“ Dr. Angen die Bitte, die 34 LHAK Best. 655,123 Nr. 57, Schreiben des Dr. Rosenberger vom 25. Januar 1912. Vgl. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 109–110. 35 Kurt J. in Buch in LHAK Best. 655,14 Nr. 329, Schreiben des Dr. Koch vom 21. Januar 1896; Witwe T. in Sevenich in Ebd., Nr. 928, Schreiben des Dr. Koch vom 22. Mai 1897. 36 Digby, Making, S. 249–250 bezeichnet für den englischen Fall den ärztlichen Altruismus angesichts schlechter Versorgungsbedingungen als zentralen Baustein für eine in der Praxis funktionierende Versorgung, zudem bot dieses Vorgehen gerade jungen Ärzten die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln.

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

Rechnung von 25,05 RM für Medikamente möglichst zu ermäßigen, da andernfalls von dem betroffenen Bernward J. eine Kostenbeteiligung von 50 % gefordert werden müsse.37 Insbesondere seien „die verordneten Schachteln ‚Mineralogen’ (…) sehr teuer und nach Möglichkeit nicht mehr zu verordnen.“ Mit der letzten Bemerkung näherte sich der Bürgermeister auch hier dem originären Kompetenzbereich des Arztes, wenn er versuchte, den Gebrauch bestimmter Medikamente in der Armenbehandlung zu verhindern. Ähnliches war offenbar auch 1881 in Gerolstein der Fall, so dass der dortige Kreisarzt sich genötigt sah, in einem bereits erwähnten Schreiben an die Regierung in Trier seine Medikationen kranker Armer zu erläutern.38 In beiden Fällen gingen die Bemühungen der Behörden um eine Ausgabenbegrenzung nicht soweit, dass sie die ärztliche Therapiefreiheit in der Armenbehandlung tatsächlich eingeschränkt hätten, der Gedanke stand aber zumindest als Möglichkeit im Raum. Im Falle einer notwendigen stationären Versorgung bemühten sich die Armenverwaltungen zumeist darum, für die betroffenen Armen eine Freistelle in der jeweiligen Anstalt zu bekommen.39 Mitunter dauerten diese Bemühungen sogar so lange, dass die Gesundheit der Betroffenen durch die Verzögerung weiter in Gefahr geriet.40 Die Minimierung der eigenen Kosten stand auch hier stärker im Fokus des Handelns der Armenverwaltung als das Wohlergehen der Antragsteller. Sparmöglichkeiten bot den Armenverwaltungen auch etwaiges ‚Fehlverhalten’ der Unterstützungsempfänger, welches einen Grund lieferte, die bisher gewährte Unterstützung zu entziehen. Im Fall des Nikolaus N. aus Eisenschmitt ist dabei im Verhalten der Armenverwaltung wenig Rücksichtnahme auf die konkrete Situation des Antragstellers zu spüren. Der Bürgermeister von Oberkail teilte Müller im Juni 1901 mit, dass er zukünftig nicht mehr als unterstützungsbedürftig gelte, da er die Krankenhausbehandlung seines Fußgeschwürs unterbrochen habe.41 Dass der Kranke aus Sorge um die Versorgung

37 LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Schreiben des Bürgermeisters vom 15. Januar 1932. 38 LHAK Best. 442 Nr. 3851, Schreiben des Dr. Waldbaum vom 07. Januar 1881. Vgl. Kapitel 7.2.2. 39 Zum Freistellenkonzept siehe Kapitel 2.3.3. und Kapitel 6.4. 40 KAB-W 2.0.541, Schreiben des Landrats vom 26. Februar 1906: „Es erschien der Bruder der Witwe P. und bat dahin zu wirken, daß seine Schwester recht bald eine Freistelle in einem Krankenhause bewilligt würde. Nach Auskunft des Arztes müsse seine Schwester einer Operation unterzogen werden und je eher dies geschehe, desto größer seien die Aussichten auf Erfolg.“ Weitere Bemühungen um Freistellen in LHAK Best. 655,14 Nr. 826, Schreiben des Bürgermeisters zu Kastellaun vom 09. Juni 1874; Ebd., Schreiben des Bürgermeisters zu Kastellaun vom 24. April 1900; KAB-W 2.0.541, Schreiben des Landrats vom 14. September 1903. 41 KAB-W 2.0.541, Schreiben des Bürgermeisters vom 20. Juni 1901: „Nach einer Mittheilung des Kreisarztes zu Wittlich haben Sie am 8. August d. Js. das Kreiskrankenhaus zu Wittlich ohne Zustimmung des Arztes heimlich verlassen und die Kur Ihres Fußgeschwürs unterbrochen. Nach Ansicht des Kreisarztes sind sie nicht mehr unterstützungsbedürftig, zumal Sie die Kur ohne Wissen des Arztes unterbrochen haben.“

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seiner Familie zur Unterbrechung seiner Behandlung genötigt wurde, spielte dabei für die Armenverwaltung offenbar keine Rolle.42 9.1.2. Verhaltensweisen der Antragsteller Angesichts ihrer Situation als Bittsteller und Bedürftige waren die Antragsteller der Armenverwaltung gegenüber zunächst in einer schwachen Position. Dennoch lassen sich bei genauerer Beobachtung argumentative Elemente und Praktiken in den Antragsschreiben entdecken, mit deren Hilfe die Antragsteller ihrem Anliegen zum Erfolg zu verhelfen suchten.43 Allerdings soll es an dieser Stelle nicht um Ausdrucksmuster im Allgemeinen, wie sprachlichen Duktus oder Tonfall gegenüber der Armenverwaltung, gehen44, im Zentrum des Interesses stehen hier besonders diejenigen Praktiken, die Bezug auf die Krankheit und ihre Darstellung hatten. Üblicherweise waren die ersten Antragsschreiben knapp gehalten, genannt wurden zuvorderst das eigene Anliegen und dessen Ursachen. Erst weitere Korrespondenz wie Einsprüche oder Beschwerden wurden umfangreicher und detaillierter in den Schilderungen.45 Die stetige Steigerung in der Intensität der Beschreibung mittels detailreicher(er) Schilderung der eigenen krankheitsbedingten Lage und Empfindungen war im Vergleich von Folgeschreiben zu Erstanträgen in krankheitsbedingten Fällen geradezu typisch. Die Ehefrau von Barnabas M. berichtete in ihrem Schreiben im Januar 1906 beispielsweise lediglich von einer „langjährigen Krankheit“ und davon, dass sie „im Frühjahr wieder 7 Monate im Bett [habe] liegen müssen“.46 Nachdem dieser erste Antrag abgelehnt worden war, schilderte sie ihren Zustand und dessen Ursache in einem zweiten Schreiben detaillierter und plastischer: denn ich bin jetzt 15 Jahre kränklich und 9 Jahre ganz Arbeitsunfähig wenn ich in den 9 Jahren 10–15 Schritte gegangen bin, bin ich unter den Krücken zusammen gefallen und mußte ins Bett getragen werden so schwach sind meine Glieder und jetzt liege ich schon beinahe wieder 7 Monate auf dem Bette ich habe die Krankheit durch Schrecken bekommen, als mein Vater selig vom Blitz erschlagen wurde (…).47 42 KAB-W 2.0.541, Schreiben des Nikolaus N. vom 29. August 1901: „Freilich geht aus dem Schreiben hervor, daß ich das Kreiskrankenhaus unterlassen oder vielmehr verlassen habe (…) Ohne Grund bin ich nicht von weg, daß klauben sie sicherlich. Grund war erstens folgender aus woher ich die Kur des Fußes unterbrochen. Nämlich das ich eine Familie habe und dieße dahin nichts zu beißen und nichts zu reißen hatte.“ 43 Zum Quellenwert der Unterstützungsanträge und Beschwerdeschreiben siehe das Einleitungskapitel zum Teil III dieser Arbeit. 44 Katrin Marx zeigt, dass etwa die Betonung des eigenen Arbeitswillens oder die Ver­ sicherung einer nur begrenzten Inanspruchnahme der Unterstützung generell gängige Elemente von Antragsschreiben waren. Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge S. 153–162. 45 Vgl. Ebd., S. 153–154, Gysin-Scholer, Krank, S. 17. 46 KAB-W 2.0.541, Schreiben des Nikolaus N. vom 29. August 1901. 47 KAB-W 2.0.541, Schreiben der Ehefrau Barnabas M. vom 25. Januar 1906. Vergleichbar auch LHAK Best. 491 Nr. 310, Schreiben der Nina M. vom 20. November 1895: „Meine Augen wurden schlechter, so daß ich kaum noch zum Nähen und Stricken das nötige Augenlicht besitze. Ferner habe ich ein geschwollenes Knie und habe viel mit Krämpfen

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

Etwas später schließlich intensivierte sie die Beschreibung ihrer Schmerzen sogar noch einmal: Ich habe jetzt schon 9 Jahre so furchtbare Weinkrämpfe bekommen, die mir alle meine Glieder und [1 Wort unleserlich] zusammen ziehen, das ich die Schmerzen kaum mehr aushalten kann.48

Erwähnt wurde bereits die Witwe von Herbert J., die im Mai 1905 einen Unterstützungsantrag stellte.49 Auch diese schrieb in ihrem ersten Bittschreiben an die Armenverwaltung im Wesentlichen nur davon, „Bettlägerisch krank“ und „jetzt wieder 3 Wochen stets im Bett“ zu sein.50 Auf den ablehnenden Bescheid des Gemeinderates aber reagierte sie mit einer Beschwerde an den Kreisausschuss, in welcher sie die Auswirkungen ihrer Krankheit – „ich verliere oft stundenlang das bewusstsein“ – spezifizierte und den Ernst der Lage durch die Betonung, „in der Zeit auch mit den Sterbesakramenten versehen worden“ zu sein, dramatisch darstellte.51 War diese intensivierende Darstellungsweise den Antragstellern und Beschwerdeführern auch in anderweitigen Unterstützungsanträgen möglich, eröffnete ihnen die Institution des Armenarztes in krankheitsbedingten Fällen darüber hinaus noch spezifische Möglichkeiten, ihren Interessen Nachdruck zu verleihen. Wie oben gezeigt, waren die Armenverwaltungen tendenziell eher bemüht, den Armenarzt aus den Entscheidungen über Unterstützungsanträge herauszuhalten. Verlangten sie dennoch von sich aus ein Attest, deuten die Umstände meist auf eine misstrauische Grundhaltung gegenüber den Antragstellern hin.52 Im Gegenzug liefert der Bezug einer ganzen Reihe von Antragstellern auf eine ärztliche Beurteilung ihrer Lage Hinweise darauf, dass die kranken Arme selbst versuchten, den Arzt auf verschiedene Weise in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen.53

48 49 50 51 52

53

zu thun, sodaß ich erwerbsunfähig bin, wozu noch der Umstand kommt, daß ich kein Vermögen besitze.“ Vgl. dazu auch Kapitel 9.4.1. KAB-W 2.0.541, Schreiben der Ehefrau Barnabas M. vom 16. Oktober 1905. Siehe Kapitel 5.1. KAB-W 2.0.541, Schreiben der Witwe Herbert J. vom 04. Mai 1905. Ebd., Schreiben der Witwe Herbert J. vom 09. Mai 1905. Vgl. auch das in Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 160–161 angeführte Beispiel der Witwe Friedrich G. Darauf deuten etwa die Formulierungen in LHAK Best. 655,191 Nr. 407, Beschluss des Gemeinderats zum Antrag der Ehefrau Klemens P. vom 17. Juli 1932 („Der Antrag wird abgelehnt, da die Krankenkasse die Pflegekosten und Reisekosten mit übernehmen kann. Fernerhin muß ein ärztliches Attest vorgebracht ob eine Oberration [sic] unumgänglich notwendig ist.“) oder LHAK Koblenz Best. 491 Nr. 305, Schreiben des Bürgermeisters in Kirchberg an den Landrat zum Antrag der Witwe Philipp Gerhard vom 03. Juni 1903 hin („Daß das Kind krank ist, war bei der Beschlußfassung nicht bekannt, die Großmutter hatte uns gesagt, daß es zu schwach für harte Arbeit sei, welchen Eindruck ich auch gewann, da es nicht so kräftig aussieht wie andere Kinder gleichen Alters. Es müßte dieses der Beschwerdeführerin erst anheimgegeben werden, durch ein ärztliches Attest nachzuweisen, daß ihre Enkelin thatsächlich krank ist.“) Unterstreichungen des Verf.. Vgl. dazu Sokoll, Negotiating, S. 28; Sokoll, Old Age, S. 42–46. Dieser führt an, dass die Armen Kenntnis von den Zwängen hatten, denen die Armenverwaltung unterlag, und dieses Wissen gezielt einsetzen konnten.

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Die Witwe von Kasimir M. verwies beispielsweise in ihrer Beschwerde über eine Kürzung ihrer Unterstützung durch die Armenverwaltung, welche mit der Arbeitsfähigkeit der Witwe begründet worden war, als Beleg für ihren Krankheitszustand auf den Armenarzt: und dass ich krank bin ist nach zu fragen bei Herrn Doktor Kochstift in Wittlich.54

In diesem Fall beschränkte sich die Witwe allein auf die Benennung eines Arztes als Zeugen für ihren Gesundheitszustand. Häufiger zu finden sind Fälle, in denen die Antragsteller das ärztliche Urteil in Form eines Attestes dem Antrag oder der Beschwerde beilegten.55 Auf diese Weise wurde die Armenverwaltung in gewisser Weise gezwungen, die Ansicht des Arztes wahrzunehmen. Wurde der behandelnde Arzt hingegen nur im Antrag benannt, lag es im Ermessen der Armenverwaltung, ob sie dessen Urteil überhaupt einholte. So berief sich die Witwe von Wilhelm A. zum Beleg ihrer Arbeitsunfähigkeit auf ein Gutachten des Armenarztes in Kastellaun: Ich bin aber nunmehr so krank, daß ich Arbeit nicht verrichten kann, worüber ich mich eventuell auf ein Gutachten des Herrn Dr. Sperling in Castellaun beziehe, und weiß also nicht meine Kinder und mich weiter zu ernähren.56

Kathrine M. übernahm, neben dem beiliegenden Attest, sogar die spezifische medizinische Bezeichnung ihrer Krankheit des „Dyswuchs“ aus der Konsultation des Arztes in den Text ihres Antrags – wenn auch in orthographisch falscher Form als „Düswuchs“.57 Auch wenn hier nicht zu klären ist, ob diese Belege tatsächlich aus eigenem Antrieb der Antragsteller heraus entstanden, oder auf eine faktische Erfolglosigkeit eines Antrags ohne beiliegendes Attest zurückzuführen waren, zeigt die Bezugnahme in den Anträgen doch, dass die jeweiligen Antragsteller sich die medizinische Kompetenz und Autorität des Arztes zunutze machten, um die Überzeugungskraft ihrer Beschwerde zu stärken. Damit erhalten die im vorangegangenen Abschnitt angestellten Überlegungen zur Akzeptanz der ärztlichen Deutungskompetenz in medizinischen Dingen im ländlichen Raum eine veränderte Akzentuierung. Die Instrumentalisierung der ärztlichen Kompetenz von Seiten der Armen ergab aus Sicht der Betroffenen nur dann einen Sinn, wenn diese sich von der quasi gelie54 KAB-W 2.0.343, Schreiben der Witwe Kasimir M. vom 11. Mai 1912. 55 LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben des Antonius N. vom 29. Juli 1900: „Seit Ostern ist meine Tochter Maria krank, und kann und darf nicht; auf Anrathen des Artztes der Bescheinigung beiliegend mehr arbeiten.“ Weitere etwa KAB-W 2.0.343, Schreiben des Niko­laus Biegelbach mit beiliegendem Attest vom 17. Oktober 1911; LHAK Best. 491 Nr. 279, Schrei­ben der Witwe Nikolaus Paul vom 28. Januar 1898 mit beiliegendem Attest vom 02. August 1897; LHAK Best. 491 Nr. 319, Schreiben der Witwe Wilhelm A. vom 28. Januar 1898 mit beiliegendem Attest vom 20. September; LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Antrag des Johann Otter vom 10. November 1930 mit beiliegendem Attest vom 07. November 1930. 56 LHAK Best. 491 Nr. 319, Schreiben der Witwe Wilhelm A. vom 17. August 1893. 57 LHAK Best. 491 Nr. 305, Schreiben der Kathrine M. vom 07. Oktober 1903. Vgl. dazu auch S. 242f.

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henen Autorität der Ärzte eine entscheidende Stärkung der eigenen Position versprechen konnten. Das Bemühen Kathrine M.s, die ärztliche Sprache zu übernehmen, ist Ausdruck dieser ‚Autoritätsleihe’. Diese Erwartungen waren allerdings nur in einem Umfeld zu erfüllen, in welchem die ärztliche Autorität grundsätzlich bereits anerkannt war. Vor diesem Hintergrund erscheinen Fälle, in denen sich Entscheidungsträger bewusst über ärztliche Urteile hinwegsetzten, weniger als Beleg für eine noch fehlende Akzeptanz ärztlicher Autorität im ländlichen Raum, sondern eher als Ausdruck der Fixierung auf die Folgen für den kommunalen Finanzhaushalt und eine fehlende Beachtung der „verantwortungsvollen und „humanitären“ Aufgabe“ der Kommunen, auch für das Wohlergehen ihrer armen Mitglieder Sorge zu tragen.58 Ein erneuter Blick auf die Verhältnisse in der Bürgermeisterei Zeltingen deutet zudem an, dass die Antragsteller auf die Gewährpraktiken der Armenverwaltungen reagierten, indem sie ihre Antragstellung auf vergleichsweise sicher zu erhaltende Unterstützungsformen hin ausrichteten. Wie zuvor gezeigt, tendierte die Armenverwaltung von Zeltingen dazu, Anträgen auf armenärztliche Unterstützung eher zu entsprechen als Bitten nach anderen Formen gesundheitlicher Hilfe.59 Aus der folgenden Tabelle ist herauszulesen, dass auf der anderen Seite die Antragsteller in der Bürgermeisterei vermehrt Anträge auf armenärztliche Behandlung stellten. Tabelle 9: Anteil der Anträge auf gesundheitliche Hilfe an der Gesamtzahl der Unterstützungsanträge in den Bürgermeistereien Zeltingen und Lieser (1898–1913)60 Anträge auf gesundheitliche Hilfe insgesamt Bgm. Lieser Bgm. Zeltingen (1905-1913) (1898-1913)

Anträge auf Anträge auf armenärztliche sonstige gesundBehandlung heitliche Hilfe Bgm. Zeltingen (1898-1913)

Bgm. Zeltingen (1898-1913)

Zahl der Anträge

56

56

31

25

Anteil an der Ge­samt­zahl (in Klam­mern) aller Armen­für­ sorge­an­trä­ge in %

(222) 25,35

(124) 45,16

(124) 25,00

(124) 20,16

In Zeltingen erbat ein Viertel aller Antragsteller armenärztliche Behandlung, in der Bürgermeisterei Lieser wurde dieser Anteil von allen Anträgen auf ge58 Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 168. 59 Vgl. S. 350ff. 60 Vgl. im Anhang Tabelle 16: Gewähr ausgewählter Leistungen der Armenfürsorge in der Bürger­meisterei Zeltingen und Teilen der Bürgermeisterei Lieser (1898–1923). Die Angaben für die Bürgermeisterei Lieser ohne die Zahlen der Gemeinde Kesten, da diese nicht vor­la­gen.

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sundheitliche Hilfe – also Arztbehandlungen, Apotheken-, Krankenhaus- und Pflegekosten betreffend – nur in der Summe erreicht. Auch wenn eine vergleichbare Differenzierung der Kosten für die Bürgermeisterei Lieser aufgrund der vorhandenen Daten nicht möglich ist, lassen die Zahlen doch den ungleich größeren Anteil von Anträgen auf armenärztliche Behandlung in der Bürgermeisterei Zeltingen erahnen. Die Verbindung von offener Gewährpraxis der Armenarztbehandlungen durch den Zeltinger Gemeinderat und dem hohem Anteil der Anträge auf Armenarztbehandlung legt den Schluss nahe, dass die Antragsteller die Formulierung ihrer Anliegen den Gewährpraktiken der Armenverwaltung möglichst erfolgversprechend anpassten. Da die Armenverwaltung ihrerseits finanzielles Interesse daran hatte, Antragsteller möglichst an den Armenarzt zu verweisen, ergab sich aus im speziellen Fall hieraus eine Situation, in der beide Seiten ihre hier identischen Interessen – eine möglichst kostensparende Behandlung – wahren konnten. Die Gleichheit von Interessen konnte das Einflussgefälle zwischen den Beteiligten also sichtbar verringern.61 9.2. Arztwahl und Versicherung – Krankheitsbedingte Anträge in den 1920er Jahren Leider sind Quellen zur weiteren Entwicklung des Armenarztwesens oder der Krankenversicherungen im ländlichen Raum von Eifel und Hunsrück relativ rar. Einige der bisher gewonnenen Erkenntnisse deuten aber darauf hin, dass der Beginn der 1920er Jahre als der Zeitpunkt gelten kann, zu dem wesentliche Veränderungen in Struktur und Praxis dieser Bereiche auch im ländlichen Raum etabliert waren. Die Institution des Distrikts- oder Armenarztes war um 1920 weitgehend verschwunden oder im Verschwinden begriffen.62 An seine Stelle trat ein zumindest beschränktes Recht der kranken Armen, einen Arzt zu wählen. Dieses war wiederum von den Krankenversicherungen übernommen worden, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls als etabliert gelten dürfen. Mit der Reichsversicherungsordnung von 1911 waren wichtige im ländlichen Raum auftretende Berufsgruppen versicherungspflichtig geworden.63 Das in der gesetzlichen Krankenversicherung seit 1892 allgemeingültige Sachleistungsprinzip hatte auch neue Modalitäten der Abrechnung zur Folge, indem die Ärzte das Honorar für die Behandlung von Kassenmitgliedern nach Einzelabrechnung von der Kasse erhielten.64 Es steht zu vermuten, dass mit der Übernahme der beschränkt freien Arztwahl in der Armenfür61 62 63 64

Sokoll, Old Age, S. 46. Siehe Kapitel 2.1.1. Siehe Kapitel 2.3. LHAK Best. 655,123 Nr. 403, Schreiben des Bürgermeisters zu Bernkastel vom 04. Oktober 1909: „Die Kosten werden, wie das auch bis jetzt geschehen ist, von den Aerzten bei den Ortskrankenkassen individuell angefordert werden.“ Zur Einführung des Sachleistungsprinzips vgl. Tennstedt, Ausbau, S. 226.

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sorge auch die Einzelabrechnung von Arzt und Armenkasse nach erfolgter Behandlung übernommen wurde.65 Greg Eghigian hat die Sozialversicherungen als „Arena für die Verhandlungen über die Bedingungen von Gesundheitsfürsorge“ bezeichnet.66 Zu fragen ist im Folgenden, welche Rückwirkungen die Krankenversicherung und die von ihr begünstigten Veränderungen auf Vorgehensweisen und Verhalten der Armenverwaltung und der Antragsteller in der Aushandlung von Leistung und Finanzierung gesundheitlicher Hilfe besaßen. Verhaltensweisen der Armenverwaltung Für die Armenverwaltung bedeutete insbesondere der Wegfall des Armenarztes als zentraler Behandlungsinstanz für kranke Arme zunächst einen gewissen Verlust an Kontrolle über die Kostenentwicklung der gesundheitlichen Armenhilfe. Die Möglichkeit der Arztwahl erschwerte den Überblick über die Zahl der Armenbehandlungen, und die Abrechnung der Einzelleistungen durch den Arzt anstelle eines Pauschalhonorars ließ die Kosten schwieriger kalkulierbar werden.67 Zudem ging auch die Möglichkeit verloren, kranke Arme kostensparend zum Armenarzt zu schicken, anstatt ihnen teure Krankenhausaufenthalte oder Kuren zu bewilligen. Die lange Beibehaltung einer Armenarztstelle in der Bürgermeisterei Zeltingen lag daher wohl nicht nur allein an einer Gewöhnung an den Inhaber Dr. Angen, sondern auch im finanziellen Interesse der Gemeindeverwaltung.68 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung blieb die Minimierung der Kosten das bestimmende Handlungsparadigma der Armenverwaltungen.69 Klassisch war die Absicherung der geleisteten Unterstützungszahlungen, etwa durch Nachlassverpflichtungserklärungen der unterstützungsbedürftigen Kranken.70 Üblich war weiterhin auch das Bemühen um Freistellen, falls Krankenhausbehandlungen notwendig geworden waren. Bereits erwähnt wurde der Fall des Samuel M. aus Matzem, der wegen einer Augenoperation in die Universitätsklinik Bonn gebracht werden sollte und dessen kostenlose Aufnahme die Armenverwaltung mit dem wissenschaftlichen Wert des Falles zu begründen versuchte.71 Ob ein wissenschaftlicher Nutzen für eine Freibettstellung in der Universitätsklinik zwingende Voraussetzung war, lässt sich nicht abschlie65 Zu Beobachtungen, die diese Annahme stützen siehe unten. 66 Eghigian, Bürokratie, S. 223. 67 Die Bürgermeisterei Kastellaun etwa führte in dem Bemühen besserer Übersicht „Aufstellungen von Ortsarmen, die behandelt werden“, die auch den „Arztwunsch“ des jeweiligen Armen verzeichneten. LHAK Best. 655,14 Nr. 928. 68 Siehe dazu Kapitel 1.2. 69 Ebenso Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 198. 70 LHAK Best. 655,191 Nr. 405, Nachlassverpflichtungserklärung des Gerbald P. zugunsten der Gemeinde vom 23. Oktober 1929. 71 LHAK Best. 655,191 Nr. 411, Schreiben des Kreisausschusses zu Bitburg vom 23. April 1929. Vgl. S. 287.

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ßend klären72, das Vorgehen des Kreisausschusses zeigt aber, dass auch die Armenverwaltung in der Wahl der Mittel zur Begrenzung der eigenen Kosten flexibel und anpassungsfähig war. Wie sehr sich die Armenverwaltung auf die Sparmöglichkeiten einer Operation in Bonn fokussierte, verdeutlicht die Tatsache, dass die Überweisung nach Bonn im Endeffekt daran scheiterte, dass „der alte Mann sich weigert, sich in die Klinik zu begeben“.73 Die Wahl des Behandlungsortes war offenbar in erster Linie durch die Sparbemühungen der Armenverwaltung bestimmt gewesen, die Interessenlage des Betroffenen dabei weitgehend unberücksichtigt geblieben. In der vorangegangenen Untersuchung der finanziellen Auswirkungen von Krankheit für die Betroffenen und Armenverwaltungen ergab sich bereits, dass die Krankenversicherung den Armenverwaltungen in zweierlei Hinsicht Entlastungspotential für den eigenen Etat bot.74 Finanziell konnten von den Antragstellern zunächst die Leistungen der Krankenkassen beansprucht werden, argumentativ erleichterte es der Bezug derartiger Leistungen, die Anerkennung der Bedürftigkeit auf Seiten der Antragsteller zu verweigern oder eigene Zahlungen zu verringern.75 Am Beispiel der Gemeinde Bitburg-Land ließ sich zudem zeigen, dass sich der sinkende Anteil krankheitsbedingter Ausgaben an der Gesamtheit der Armenfürsorgeaufwendungen mit Einschränkungen als Folge der finanziellen Entlastungswirkungen der Krankenversicherung interpretieren ließ.76 Diese Vermutung stützen diverse Fälle, die vom Einfallsreichtum der Armenverwaltungen zeugen, die Angebote und Leistungen der Sozialversicherungen zur eigenen Kostensenkung zu nutzen. Eine Möglichkeit bot beispielsweise die Adaption von kostensparenden Regelungen aus dem Bereich der Versicherungen. So war einem Rundschreiben des Reichsarbeitsministeriums vom September 1934 zufolge „eine Reihe von Fürsorgeverbänden dazu übergegangen, die Fürsorgeempfänger in ähnlicher Weise, wie es in der reichsgesetzlichen Krankenversicherung vorgesehen ist, an den Arzt und Arzneikosten zu beteiligen.“77 72 Die explizite Begründung mit derselben ist in den herangezogenen Quellen zumindest singulär. 73 LHAK Best. 655,191 Nr. 411, undatierter Aktenvermerk zum Fall Samuel M. Zur „Nutzung“ speziell armer Kranker in der medizinischen Forschung vgl. jüngst Hurren, Business und Scherder, Workhouses, S. 183–187. 74 Siehe Kapitel 8. 75 Beispielsweise reagierte der Bürgermeister in Zeltingen auf eine Anfrage des Bernkasteler Moselkrankenhauses im Oktober 1931, ob der Bezirksfürsorgeverband die Kosten der Unterbringung für Matthias Lehnen übernähme, mit dem Verweis auf dessen versicherungspflichtige Beschäftigung und die dementsprechende Zuständigkeit der Allgemeinen Ortskrankenkasse. LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Schreiben der Verwaltung des Moselkrankenhauses Bernkastel vom 28. Oktober 1931; Ebd., Schreiben des Bürgermeisters zu Zeltingen vom 07. November 1931. 76 Vgl. Kapitel 8.2.1., S. 338ff. 77 LHAK Best. 655,191 Nr. 403, Schreiben des Reichsarbeitsministeriums vom 07. September 1934. Die Gebühr betrug 25 Pfg pro Ausstellung eines Krankenscheins. Am

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

Im Fall der Behandlung des Ewald J. aus Erden bemühte sich der Bürgermeister von Zeltingen in einer insgesamt vierzehn (!) Monate währenden Korrespondenz schließlich erfolgreich darum, dass die Armenverwaltung mit dem Moselkrankenhaus nach denselben niedrigen Sätzen abrechnen konnte, welche zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern im Regierungsbezirk Trier vereinbart worden waren.78 Auf andere Weise nutzte die die Zeltinger Gemeindeverwaltung das entlastende Potential der Krankenkassen, indem – ähnlich wie sie für ihre eigenen Angestellten die Krankenkassenbeiträge übernahm79 – auch im Fall des Martin W. aus Wolf gewissermaßen präventiv handelte. Martin W. beantragte eine einmalige Unterstützung von 12,– M zur Beschaffung von Beitragsmarken für die Invalidenversicherung: Um die Anwartschaft auf meine Invalidenversicherung aufrecht zu erhalten, muß ich noch 20 Marken, II. Lohnklasse entrichten. Ich bin nicht in der Lage, den erforderlichen Geldbetrag von 12,– Rm aufzubringen.80

Das Geld wurde innerhalb von zwei (!) Tagen ausbezahlt und Martin W. erhielt ab September 1931 seine Invalidenrente. Ohne jedoch die Kostenersparnis für die Gemeinde auch nur zu erwähnen, beklagte sich der Bürgermeister im März des Folgejahres über die „trotz wiederholter Erinnerung“ ausstehende Rückzahlung der 12,– RM durch Martin W.: Daß Martin W. heute Invalidenrente erhält, kann er nur der hiesigen Stelle verdanken, denn wenn die fehlenden Beiträge nicht von hier aus entrichtet worden wäre [sic], hätte er niemals Anspruch auf Rente erheben können, weil die Anwartschaft erloschen war. Man hätte daher von Martin W. erwarten dürfen, dass er den Betrag von 12,– RM längst erstattet hätte.81

Bei aller möglichen Kritik an der Fokussierung der Armenverwaltung auf den eigenen Etat darf allerdings nicht übersehen werden, dass deren Handeln in

78

79 80 81

Ende kamen die Verfasser zu dem Schluss, diese Praxis könne „bei wirklich erkrankten Fürsorgeempfängern, die besonderer Hilfe bedürfen und namentlich auch bei kin­ derreichen Familien eine Härte bedeuten.“ Für den Kreis Bitburg berichtete der Landrat allerdings, dass „Misstände besprochener Art nicht festgestellt“ worden seien. Ebd., Schreiben des Landrats vom 24. November 1934. Vgl. auch R edder, Armenhilfe, S. 181. LHAK Best. 655,123 Nr. 966, mehrere Schreiben vom 11. Juli 1930 bis zum 28. September 1931. Besonders deutlich das Schreiben des Kreisausschusses vom 19. September 1930: „Wenn auch ein Abkommen zwischen dem Bezirksfürsorgeverband und Krankenanstalten noch nicht besteht, wie dies von den Krankenkassen mit den Krankenanstalten abgeschlossen ist, so muß doch darauf hingewirkt werden, daß in Einzelfällen dem Bezirksfürsorgeverband diesselben Vergünstigungen zuteil werden wie den Krankenkassen.“ Die auf Kreisebene eingerichteten Bezirksfürsorgeverbände trugen ab April 1925 70% der Armenfürsorgeunterstützungen. M arx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 207. Siehe Kapitel 8.2.2., S. 346. LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Antrag vom 06. August 1931. LHAK Best. 655,123 Nr. 966, Schreiben des Bürgermeisters vom 23. März 1932. Martin W. hatte allerdings bereits in seinem Antrag eine Rückzahlung zugesichert.

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vielen Fällen letztlich auch im Interesse der Antragsteller lag. In den beiden genannten Fällen profitierte so Ewald J. von der Reduktion auch seines Anteils an der Krankenhausrechnung; Martin W. erhielt auf diese Weise eine dauerhafte Invalidenrente, deren Anwartschaft er aus eigenen Mitteln offenbar nicht hatte sichern können. Fraglich ist, inwieweit die Armenverwaltungen auch die langfristigen Folgen ihrer Entscheidungen bedachten. Die Bürgermeisterei Lieser zeichnete sich offenbar durch eine langwierige Verschleppung der Entscheidungen über Anträge aus, insbesondere bei Anträgen auf Wochenfürsorge, die eigentlich eine rasche Bezahlung der Hebamme sicherstellen sollten.82 Gerade die Hebammen waren aber eine Gruppe, die sich in hohem Maße aus ohnehin armen Schichten rekrutierte, ein Befund, der auch noch für die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts gilt.83 Wenn die Armenverwaltung nun aus Sparmotiven heraus die Auszahlung der Wochenfürsorge kurzfristig verzögerte, hatte dies langfristig neue Anträge der örtlichen Hebammen auf Armenfürsorge und damit wiederum eine Belastung des Armenetats zur Folge. Angesichts der vielen Fälle, in denen die Armenverwaltung eine Minimierung der eigenen Belastungen höher stellte als die Bedürfnisse der Antragsteller, stellt sich die Frage, welche Bedingungen geeignet waren, die Armenverwaltungen einem Antrag zustimmen zu lassen. Die in Kapitel 8.1.3. unternommene Untersuchung der Belastung von Kranken durch die daraus resultierenden Kosten in der Bürgermeisterei Zeltingen hatte keinen signifikanten Zusammenhang zwischen relativer Höhe der Belastung und Genehmigung des Antrags erkennen lassen.84 Ein Blick auf die in den dort untersuchten Anträgen angegebene Zahl der Haushaltsangehörigen zeigt aber einen offenbaren Zusammenhang von Haushaltsgröße und Genehmigungsfähigkeit eines Antrags auf Armenkrankenunterstützung (siehe Tabelle 10). Von neun genehmigten Anträgen auf Unterstützung waren nur zwei Haushalte kleiner als sieben Personen. Von 14 nicht genehmigten Anträgen wiederum stammte nur einer aus einem Haushalt mit mehr als fünf Personen. Demnach scheinen die Entscheidungsträger sich in der Beurteilung der Bedürftigkeit in mehrfacher Hinsicht auf den bloßen Augenschein verlassen zu haben.85 Ein sichtbar gebrochenes Bein war offenbar eindrucksvoller als eine innere Krankheit; eine Vielzahl von Kindern rührte unabhängig vom Einkommen des Antragstellers stärker an als nur zwei oder drei Haushaltsangehörige. Dieser Befund passt wiederum seinerseits zusammen mit der zuvor getroffenen Feststellung, dass die Armenverwaltungen sich gegebenenfalls auch über die ärztliche Expertise hinwegzusetzen suchten.

82 83 84 85

Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 168, Anm. 182. Vgl. Kapitel 1.5. und Kapitel 3.2. Siehe Kapitel 8.1.3. Die Bedeutung des Augenscheins für das Urteil über die Arbeitsfähigkeit betont auch Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 384–387.

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

Tabelle 10: Haushaltsgröße und Antragsgenehmigung ausgewählter Antragsteller in der Bürgermeisterei Zeltingen Name

Jahr

Werner H. Bert J. Karl O. Erwin J. Hannes N. Franz P. Karl K. Gunter S. Marius P.

1912 1926 1928 1928 1928 1928 1930 1930 1931

Personen im genehmigt Name Haushalt lt. Antrag 10 ja Ortwin J. 1 ja David M. 4 ja Eduard J 9 ja Richard K. 9 ja Otto S. 10 ja Ludwig W. 7 ja Sebastian K. 7 ja Jurek P. 8 ja Melchior C. Philipp J. Hermann B. Batto J. Kuno P. Gerald T.

Personen im Jahr Haushalt lt. genehmigt Antrag 1927 1928 1929 1929 1929 1930 1930 1931 1931 1931 1931 1931 1932 1932

k. A. 4 4 2 4 4 4 6 4 5 3 5 4 5

nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein

Verhaltensweisen der Antragsteller Im Gegensatz zur Armenverwaltung bedeutete das Verschwinden der Institution des Armenarztes für die behandlungsbedürftigen Antragsteller eher eine Erleichterung ihrer Situation. Der Verlust an Kontrolle der Armenverwaltung war der Gewinn an Freiheit in der Arztwahl für die kranken Armen.86 Auch die stigmatisierende Wirkung eines Besuchs beim Armenarzt ist – wiederum begünstigt durch die Praktiken der Krankenkassen – für den ländlichen Raum praktisch nicht zu belegen.87 Durch die Umstellung der Bezahlung für armenärztliche Behandlungen von der Pauschal- zur Einzelabrechnung wurden arme Patienten für Ärzte bis zu einem gewissen Grad sogar attraktiv, mussten sie doch bei diesen aufgrund der kommunalen Leistung eine dauerhafte Zahlungsunfähigkeit nicht befürchten und konnten nun dennoch alle erbrachten Leistungen separat abrechnen.88 Insofern war es verständlich, dass der Bitburger Arzt Dr. Freu, dem Gregor J. die Bitte zukommen ließ, „sich auf dem Bür86 Allerdings bleibt dabei immer zu berücksichtigen, wie sehr die Konsultation eines anderen Arztes im Einzelfall durch andere Faktoren wie Entfernung, Transportfähigkeit oder Vertrauen in den Arzt begünstigt oder behindert wurde. 87 Zur Wirkung der Krankenkassen vgl. Kapitel 4.1.4; spezielle Armensprechstunden, wie sie Wilfried Rudloff in München nachweisen konnte, sind für den hiesigen Untersuchungsraum nicht belegt. Vgl. Rudloff, Wohlfahrtsstadt, S. 666. 88 Vgl. dazu Dinges, Arztpraxen, S. 50–51. Nach Weber-Grupe, Gesundheitspflege, S. 66 war den Nassauer Ärzten im 19. Jahrhundert in ärmeren Gegenden etwa ein Drittel aller Ge-

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germeistereiamt Bitburg-Land zwei Armen-Krankenscheine ausstellen zu lassen“ und ihm vorzulegen.89 Auch hier zeigt sich, dass die Interessen verschiedener beteiligter Seiten kongruent sein konnten. Bemerkenswert ist dabei, dass sowohl im Armenarztsystem als auch im System der freien Arztwahl die kranken Armen unter den Profiteuren der jeweiligen Praxis waren. Stets lag es in ihrem Interesse und dem einer anderen Partei, die Behandlung durch den Armenarzt vornehmen zu lassen. Hatte zuvor die Armenverwaltung durch die Einsparung von Kosten gewonnen, waren es nun die behandelnden Ärzte, denen durch die Armen eine vergleichsweise sichere Zahlungsstelle vermittelt wurde. Die Art und Weise der Antragsformulierung und des Verhaltens gegenüber der Armenverwaltung blieben hingegen auch nach 1920 im Wesentlichen unverändert. Intensive Beschreibungen des eigenen Zustandes, zunehmende rhetorische Dramatisierungen und Instrumentalisierung der ärztlichen Kompetenz blieben bei krankheitsbedingten Unterstützungsanträgen wichtige Gestaltungselemente von Korrespondenz mit den Armenverwaltern.90 Schwierig zu beurteilen bleibt, wie weit gerade in den ärmeren Bevölkerungsschichten die Mitgliedschaft in einer Krankenkasse tatsächlich verbreitet war. Indizien, wie der vergleichsweise hohe Anteil krankenversicherter Antragsteller am Ende der 1920er Jahre unter den Zeltinger Anträgen, sind nur von beschränkter allgemeiner Aussagekraft.91 Der Antragsteller Claus P. betonte 1906, dass er „keine einzige Hilfsquelle von einer Versicherung oder Krankenkasse“ habe. Die antizipierende Argumentation gegen einen möglichen Ablehnungsgrund lässt zwar erahnen, dass die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung auch für Arme in dieser Zeit schon über Einzelfälle hinausging, konkrete Belege bleiben aber – auch durch die unvollständigen Aktenüberlieferungen – selten.92 In einigen Fällen ergab sich die Mitgliedschaft der Antragsteller in Krankenkassen auch erst im Verlaufe weiterer Korrespondenz im Antragsverfahren.93 Derartige Fälle belegen aber immerhin, dass die Angebote der Krankenversicherungen von Armen wahrgenommen wurden. Besonders deutlich zu sehen ist dies am Fall des bereits erwähnten Martin W. aus Wolf. Einer Notiz des Zeltinger Bürgermeisters zufolge hatte Martin W., „[n]achdem im November v. J. die Verpflichtungen der Krankenkassen mit 26

89 90 91 92 93

bühreneinnahmen durch Zahlungsschwierigkeiten der behandelten Patienten verloren gegangen. LHAK Best. 655,191 Nr. 405, undatierte Notiz. Etwa LHAK Best. 655,191 Nr. 411, Niederschrift des Antrags der Ehefrau Samson M. vom 23 und 29. März 1932. Vgl. auch Ebd., Schreiben des Bürgermeisters Bitburg-Land vom 26. Februar 1937. Siehe Kapitel 8.1.3., Tab. 8. KAB-W 2.0.541, Schreiben des Claus P. vom 27. Oktober 1906. Etwa LHAK Best. 491 Nr. 319, Stellungnahme des Bürgermeisters von Kastellaun vom 25. April 1912 zum Antrag des Anton Juber, darin Verweis auf erhaltenes Krankengeld; LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Schreiben des Wilhelm F. vom 31.07.1913; LHAK Best. 655,191 Nr. 405, Schreiben des Caritasverbandes Trier an das Kreiswohlfahrtsamt in Bitburg vom 22.08.1925, darin Verweis auf Krankenkassenmitgliedschaft der Gerlinde K.

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Wochen abgelaufen war, (…) seine Mitgliedschaft durch Zahlung seiner Beiträge bis heute aufrechterhalten. Mit dem 15. vorigen Monats begann wieder die Verpflichtungen der Kasse.“94 Martin W. hatte offenbar den Nutzen der Krankenversicherung für sich erkannt und bemühte sich, durch freiwillige Zahlungen seine Ansprüche im Falle einer wohl absehbaren erneuten Erkrankung zu behalten. Für die Bürgermeisterei Zeltingen ergibt sich aus den vorhandenen Antragsaufstellungen ein zusätzliches Indiz für eine allmähliche Verbreitung der Krankenversicherung, insbesondere nach Inkrafttreten der RVO 1914. Tabelle 11: Anteil der Anträge auf gesundheitliche Hilfe an der Gesamtzahl der Unterstützungsanträge in den Bürgermeistereien Zeltingen und Lieser (1914–1923) 95 Anträge auf gesundheitliche Hilfe insgesamt Bgm Lieser Bgm. Zeltingen (1914-1923) (1914-1923)

Anträge auf Anträge auf sonstige armenärztliche gesundheitliche Behandlung Hilfe Bgm. Zeltingen (1914-1923)

Bgm. Zeltingen (1914-1923)

Zahl der Anträge

43

37

19

18

Anteil an der Gesamtzahl (in Klammern) aller Armenfürsorgeanträge in %

(118) 36,44

(108) 34,26

(108) 15,32

(108) 14,52

Gegenüber den Verhältnissen im Zeitraum 1898–1913 glich sich der Anteil der Anträge auf gesundheitliche Hilfe zwischen den beiden Bürgermeisterein deutlich an, was in erster Linie auf den Rückgang der Anträge auf armenärztliche Behandlung in Zeltingen zurückzuführen ist.96 Da hier bis 1932 ein pauschal besoldeter Armenarzt tätig war, sich also an den strukturellen Bedingungen nichts verändert hatte, könnte der Rückgang der Antragszahlen darauf zurückzuführen sein, dass nach dem Inkrafttreten der RVO 1914 mehr potentielle Antragsteller Mitglieder einer Krankenversicherung waren und dementsprechend ihre Arztbesuche von der Krankenkasse bezahlt bekamen. Die im ersten Teil der Arbeit sichtbar gewordenen strukturellen Verbesserung der Versorgungsbedingungen wurden von den lokalen Adressaten offenbar angenommen und die Konsultation eines Arztes entwickelte sich zunehmend zur im Krankheitsfall üblichen Praxis. Hierauf deutet zunächst der seit circa 1914 auch den Zeitgenossen auffallende Rückgang von Selbsthilfeprak94 LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Notiz vom 09. Juli 1926. 95 Vgl. im Anhang Tabelle 16: Gewähr ausgewählter Leistungen der Armenfürsorge in der Bürgermeisterei Zeltingen und Teilen der Bürgermeisterei Lieser (1898–1923). Die Angaben für die Bürgermeisterei Lieser ohne die Zahlen der Gemeinde Kesten, da diese nicht vorlagen. 96 Vgl. dazu Tab. 9.

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tiken wie Besprechungen hin.97 Ebenso dafür spricht der Umstand, dass für das Ende der 1920er Jahre Unterstützungsanträge zunahmen, die erst im Nachhinein einer Behandlung an die Armenverwaltung gestellt wurden.98 Die Arztkonsultation im Krankheitsfall scheint zu diesem Zeitpunkt so selbstverständlich gewesen zu sein, dass Arme von der Genehmigung eines entsprechenden Antrags ausgehen konnten, ohne zu riskieren, ihre Kosten schließlich doch selbst tragen zu müssen. Für die ärztliche Behandlung waren in den untersuchten Aktenbeständen nach 1928 keine Anträge mehr zu entdecken, die im Vorfeld einer Behandlung gestellt wurden. Im Falle operativer Behandlungen ist zu dieser Zeit eine deutliche Zunahme nachträglich gestellter Anträge zu bemerken. Lediglich Krankenhausaufenthalte wurden offenbar immer noch im Vorfeld beantragt, was aber vor allem daran liegen gelegen haben dürfte, dass meistens erst die behandelnden Ärzte eine Einweisung vorschlugen. Kaum erkennbar ist in den Anträgen, inwiefern die Rechtsansprüche aus den Krankenversicherungen, auf die Bereitschaft rückwirkte, auch in der Armenfürsorge eigene Ansprüche und Bedürfnisse selbstbewusst zu artikulieren. Zwar entsteht bei der Lektüre entsprechender Anträge aus den 1920er Jahren der Eindruck nüchterner Sachlichkeit ohne überzogenes Bittstellertum, und auch die äußere Form der zu dieser Zeit dominierenden Formularanträge vermittelte wachsende Rationalität. Allerdings gehörte die Beschränkung des eigentlichen Antrags auf das „Notwendige und Zweckmäßige“ zum allgemeinen Erscheinungsbild von Bittschriften und Unterstützungsanträgen, zumal bei Antragstellern, deren Verhältnisse den Entscheidungsträgern bekannt waren.99 Ein Beispiel, in dem die Antragstellerin sich offensichtlich auf ihren Rechtsanspruch und ihre Beitragsleistungen berief, bietet die Frau des Dietrich J., die auf ein Schreiben des Kreiswohlfahrtsamtes in Bernkastel antwortete: Auf Ihr Schreiben vom 18. ds. Mts. No. 1014 A betreff auf meine Eingabe vom 10.2.28 um Gewährung einer Unterstützung durch die Fuhrwerksberufsgenossenschaft; welche Sie, als erledigt betrachten durch das Angebot des Gemeinderates Zeltingen von Gewährung von 30 Mk monatlich. Dieses Angebot kann ich unter den gestellten Bedingungen nicht annehmen, denn wenn ich mich schadlos machen will an meinem Vermögen ist es keine Unterstützung. Ich frage Sie, hiermit an. Wofür ist die Zahlung an die Berufsgenossenschaft??? Ich bitte Sie dringend mir hierüber Antwort zu kommen zu lassen. Denn in dieser Angelegenheit ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Ich bitte Sie, nochmals dringend mir umgehend hierüber Mitteilung zu machen. Hochachtungsvoll100

Sicherlich hatte das Bewusstsein um die eigenen Zahlungen in die Unfallkasse der Berufsgenossenschaft hier das selbstbewusste Auftreten der Antragstellerin befördert. Da es sich in dieser Deutlichkeit aber um einen Einzelfall han-

97 Siehe Kapitel 3.4. 98 Zu den Angaben im folgenden Absatz siehe Kapitel 8.1.1. 99 Bräuer, Bittschriften, S. 301, Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 148–150. 100 LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Schreiben der Frau Dietrich J. vom 19. März 1928.

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delt, ist ein abschließendes Urteil über diesbezügliche Auswirkungen der Sozialversicherungen an dieser Stelle nicht zu treffen. 9.3. Krankheit und Würdigkeit Im weitaus überwiegenden Teil der Anträge, in denen die Urheber Erkrankungen anführten, war auch ihr daraus resultierendes Anliegen eine gesundheitliche Hilfeleistung. Erkrankungen erschienen aber auch in Anträgen, die in primär die Hilfe in einem anderen Anliegen zum Gegenstand hatten. Dies bedeutete nicht, dass die eigene Erkrankung von den Antragstellern nicht ernst genommen wurde, oder sie diese vielleicht sogar nur simulierten, zeigt aber, dass Krankheit selbst Bestandteil der Antragsstrategie gegenüber der Armenverwaltung sein konnte. Eine solche Instrumentalisierung von Krankheit allein durch die in der Tendenz höhere Chance auf Gewähr von krankheitsbezogenen Anträgen motiviert zu sehen101, wäre allerdings eine zu kurz gegriffene Interpretation. Krankheit und die damit verbundene Einschränkung der Arbeitsfähigkeit galt seit dem Mittelalter als zentrales Merkmal des würdigen Armen, dessen Betteln oder Antrag auf Hilfe aufgrund seiner Situation gerechtfertigt war.102 Zudem erfüllte Krankheit in den meisten Fällen das Kriterium der ‚unverschuldeten’ Armut, welches für die hiesigen Behörden eine große Bedeutung in der Entscheidung über eine Antragsgewähr besaß.103 Der Verweis eines Antragstellers auf sein Leiden entstammte also auch einer Betonung der eigenen Würdigkeit und nicht allein reinen Nützlichkeitserwägungen. Allerdings führte auch ein derartiger Einbezug von Krankheit in den eigenen Antrag nicht immer zum gewünschten Erfolg. Simon A. etwa verwies in seinem ganzen Antrag in verschiedener Weise auf Erkrankungen.104 Er sei „durch Krankheitsfälle“ in Mietrückstand geraten, Frau und Kind seien an Typhus erkrankt, das „Kind starb in Simmern im Krankenhause“, seine Frau sei weiterhin „schwächlich“, nach längeren Wegstrecken „sind ihr die Beine geschwollen“. Er selbst habe verschieden Arbeiten aufgeben müssen „weil ich lungenkrank bin“. Gegenstand seines Antrags war aber nicht, wie man hätte vermuten können, eine ärztliche Behandlung, sondern „Wohnungsgestellung“, also freies Wohnen in einer Wohnung aus dem Gemeindebesitz. Nach einer ärztlichen Untersuchung, bei welcher der Arzt Simon A. „für arbeitsfähig“ erklärt hatte, schloss der Bürgermeister seinen Bericht an den Landrat:

101 Siehe Kapitel 8.2.1. 102 Geremek, Armut, S. 64; Hunecke, Überlegungen, S. 497; Rheinheimer, Armut, S. 54. 103 Dazu Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge, S. 382–405. 104 LHAK Best. 491 Nr. 279, Antrag des Simon A. vom 1. November 1905.

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Was die Wohnung des Simon A. anbelangt, so sei bemerkt, daß er in seiner früheren Wohnung noch wohnt. Es ist diese Eingabe nichts als Schwindel und hat nur den Zweck, die Gemeindewohnung zu erhalten und dann der Faulheit sich hinzugeben.105

Erfolgreicher war dagegen Adam B. Auch er verwies zunächst darauf, dass er „wegen Krankheit und mehrfachen Unfällen fast ganz arbeitsunfähig (…) und durch Krankheiten und Todesfälle in meiner Familie schon schwer heimgesucht worden“ sei.106 Erst danach verwies er auf ein „neues, schweres Unglück“, einen beträchtlichen Sturmschaden an seinem Haus und bat um eine Unterstützung. Tatsächlich genehmigte der Gemeinderat einige Zeit später 30 M Unterstützung für die Instandsetzung des Hauses.107 Ähnlich gelagert war der Fall der Witwe von Sigmund J.108 Ihr Mann war laut Antrag 1912 an Lungenentzündung verstorben, „meine 7jährige Tochter Gitta ist schwer leident und erfordert besondere Pflege, was die Kreisfürsorgerin (Fräulein Schulte) bestätigen kann.“ Mit letzter Bemerkung griff die Witwe J. zudem auf den bereits bekannten Autoritätsverweis zurück. Der Gegenstand des Antrags war aber nicht etwa die Erkrankung der Tochter, sondern eine Beihilfe zum Erwerb einer neuen Kuh, da die einzige Kuh notgeschlachtet werden musste. Der Gemeinderat bewilligte, da die „Familien- und Vermögensverhältnisse noch viel schlimmer wie von der Antragstellerin angegeben“ seien, eine Beihilfe von 1500,– RM. Auch in diesem Fall ist aus der Formulierung nicht endgültig zu erkennen, ob die Krankheit der Tochter für die Entscheidung tatsächlich eine Rolle spielte. Auch wenn das Ziel der Anträge nicht die Heilbehandlung war, machten sie doch von den Darstellungsmitteln zu Erkrankungen in ähnlicher Weise Gebrauch, wie dies auch in Anträgen auf gesundheitliche Versorgung der Fall war.109 Abschließend bietet der Fall der Barbara M. aus Simmern ein Beispiel für die Kombination einer Vielzahl von Argumentationen in einem Antrag.110 Sie führte Arbeitslosigkeit an („Arbeit und Verdienst gibt es jetzt nicht“), Alter 105 Ebd., Bericht des Bürgermeisters zu Gemünden vom 13. Dezember 1905. 106 LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Antrag des Adam B. vom 30. August 1910. 107 Ebd., Beschluss des Gemeinderats vom 08. Oktober 1910. Leider sind erläuternde Bemerkungen, warum dem Antragt stattgegeben wurde wie in den meisten Fällen derartiger Beschlussverzeichnungen nicht aufgeführt. Diese hätten eventuell Auskunft darüber geben können, ob die angeführten Krankheitsfälle tatsächlich Einfluss auf die Entscheidung hatten. 108 LHAK Best. 655,191 Nr. 411, Antrag der Witwe Sigmund J. vom 22. Januar 1920. 109 Vgl. Kap. 5.1. 110 LHAK Best. 491 Nr. 310, Schreiben der Barbara M. vom 29. Dezember 1895: „Arbeit und Verdienst gibt es jetzt nicht meinen Lebensunterhalt habe ich aus der Hand wohltätiger Leute zu danken. Aber Hausmiethe die man nicht bezahlt häuft sich auf und auf der Straße kann man doch nicht liegen, namentlich im Winter das sechzigtse Jahr habe ich schon lange überschritten. Bin schon längere Jahre kränklich, was durch Ärztliches Attest kann bewiesen werden. Es sind in hiesiger Stadt so viele eingewanderte (?) die viel jünger sind und folgedessen kräftig und bekommen folle Miethe bezahlt fürs ganze Jahr was ich ja im Entfernsten nicht beanspruche trotzdem ich hier in Simmern geboren würde es mir im Entfernsten nicht den Sinn kommen Unterstützung zu verlangen, wenn mich nicht die zu große Noth zu diesem Schritt würde veranlassen.“

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(„das sechzigtse [sic] Jahr habe ich schon lange überschritten“), ihre Krankheit („Bin schon längere Jahre kränklich, was durch Ärztliches Attest kann bewiesen werden.“) sowie den Unterstützungsbezug jüngerer und zugezogener Leute („Es sind in hiesiger Stadt so viele eingewanderte die viel jünger sind und folgedessen kräftig und bekommen folle Miethe bezahlt fürs ganze Jahr was ich ja im Entfernsten nicht beanspruche trotzdem ich hier in Simmern geboren“). Obwohl der kranke Zustand hier viel eher Bestandteil, als Hauptstück der Argumentation war, verdeutlichen die Beispiele, dass auf Erkrankungen – eigene und die von Verwandten oder zu pflegenden Personen – sehr bewusst, wenn auch nicht immer erfolgreich, rekurriert wurde, um die eigene Würdigkeit zu betonen und dem gestellten Antrag damit Nachdruck zu verleihen. 9.4. Interaktion und Aushandlung – Streiflichter In den vorangegangenen Abschnitten dieses Kapitels stand bisher vor allem die ‚Systematik’ der Verhaltensweisen auf Seiten der Antragsteller wie der Armenverwaltung im Mittelpunkt, die grundlegenden Aktionsmuster, die sich aus den jeweiligen krankheitsbedingten Lasten ergaben. Eine solche statische Darstellung ist zwar in ihren Inhalten leichter zu erfassen, vermag aber die Interaktion der Beteiligten im alltäglichen Prozess des Aushandelns von Leistungsansprüchen und Leistungsgewähr nicht ausreichend abzubilden, um die gegenseitigen Einflüsse angemessen sichtbar zu machen. Vielmehr scheint eine solche Darstellung in allen ihren Wirrungen und Wendungen nur am individuellen Fall möglich. Im nachfolgenden Teil soll daher anhand vier ausgewählter Beispielfälle ein Eindruck davon gegeben werden, wie Antragsteller und Entscheidungsträger mittels der zuvor angesprochenen einzelnen argumentativen Elemente den Entscheidungsprozess in ihrem jeweiligen Sinne zu beeinflussen versuchten. Ausgewählt wurden die Beispiele dabei nicht nach dem Maß ihrer Repräsentativität, sondern nach der Prägnanz, in der Argumente, Verhaltensmuster, Absichten und gegenseitige Beeinflussung der aushandelnden Beteiligten in ihnen erkennbar wurden. Die zeitliche Verteilung greift zwar Entwicklungen der gesundheitlichen Armenfürsorge auf, die im Verlaufe dieser Arbeit beobachtet wurden, soll aber nicht den Versuch darstellen, einen jeweils zeitlich gültigen Typus von Antrag, Antragsteller oder Aushandlungspraxis zu bestimmen. In allen vier Fällen erscheinen die Antragsteller in hohem Maße als aktive Akteure, die mittels sehr bewusst gewählter Mittel ihrem Anliegen zur Durchsetzung verhelfen wollten. Sicherlich war nicht jeder Antragsteller gewillt, fähig oder unter den jeweiligen Umständen in der Lage, in solch aktiver Weise sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Aus der Perspektive der Quellen, der zeitgenössischen Wahrnehmung, wie auch der modernen historischen Forschung war und ist der abhängige, schwache und einflusslose Arme aber so bestimmend in der Darstellung, dass an dieser Stelle bewusst andersartige Bei-

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spiele in den Mittelpunkt gerückt werden sollen.111 Aus der Vielzahl der möglichen Beispiele herausgegriffen, sollen diese Fälle schlaglichtartig das breite Spektrum und die große Varianz der Handlungsmöglichkeiten von Antragstellern und Armenverwaltung im Prozess der Armenkrankenfürsorge beleuchten.112 9.4.1. Bewährter Brief – Der Fall Nina M. (1895) Nina M. aus Horn im Kreis Simmern wandte sich im November 1895 an den Landrat, um diesem „Nachstehendes ganz höflichst zu unterbreiten“: Wie aus den Beilagen ersichtlich ist, wurde der Gemeinde Horn aufgegeben, mir eine Monathliche Armen-Unterstützung von 6 Mark zu bewilligen. Seit dieser Bewilligung hat sich mein körperliches Befinden noch verschlechtert. Meine Augen wurden schlechter, so daß ich kaum noch zum Nähen und Stricken das nötige Augenlicht besitze. Ferner habe ich ein geschwollenes Knie und habe viel mit Krämpfen zu thun, sodaß ich erwerbsunfähig bin, wozu noch der Umstand kommt, daß ich kein Vermögen besitze. Ich bitte deshalb den Herrn Landrath höflichst veranlassen zu wollen, daß mir die 6 Mark auch weiter bewilligt werden. Ferner. Der Winter steht vor der Thür, Vorrat an Nahrungsmittel, Brennmaterial usw. habe ich nicht, ebenso habe ich kein Geld für Petroleum. Kann ich mich im Sommer in diesen Dingen behelfen, so ist mir dies im Winter nicht möglich. Die Kälte zwingt mich zur Heizung, die langen Abende und Morgen zum Petroleumverbrauch und ebenso bedarf ich wärmerer Kleidung. In der Hoffnung, daß Sie sich auch der Armen ihres Kreises annehmen, danke ich bestens für die bewiesene Güte, sehe geneigtem Bescheide entgegen und zeichne ehrerbietigst.113

Der Vergleich von Textschrift und Unterschrift bei diesem Antrag ergab, dass die Antragstellerin das Schreiben aller Wahrscheinlichkeit nach nicht selbst abgefasst hatte, sondern sich der Hilfe Dritter bedient hatte. Nina M. hatte bereits im Winter 1893/94 eine längere Korrespondenz – allem Anschein nach eigenhändig verfasst – um Gewähr einer Unterstützung mit der Gemeindeverwaltung geführt. Vom untersuchenden Arzt in Simmern waren ihr zwar in einem sehr ausführlichen Attest Arbeitsunfähigkeit und Unterstützungsbedarf bescheinigt worden, dennoch hatte der zuständige Gemeinderat eine derartige Zahlung abgelehnt.114 Erst im Mai 1895 wurde ihr aufgrund einer Beschwerde beim Landrat von April bis November 1895 die erwähnte monatliche Zahlung von 6 M zugesprochen.115 111 Bezeichnenderweise wird der tatsächliche Einfluss der einzelnen Person umso höher eingeschätzt, umso mehr sich die jeweilige Untersuchung dem Individuum zu nähern vermag. Vgl. etwa Rheinheimer, Jakob Gülich oder Ulbrich, Zeuginnen. 112 Vgl. Crew, Germans, S. 15. 113 LHAK Best. 491 Nr. 310, Schreiben der Nina M. vom 20. November 1895. Unterstreichung des Verf. 114 LHAK Best. 491 Nr. 310. Die Korrespondenz dauerte vom 09. November 1893 bis zum 02. Januar 1894. 115 LHAK Best. 491 Nr. 310, Anweisung des Kreisausschusses an die Gemeinde vom 16. Mai 1895. Die Beschwerde selbst ist nicht erhalten geblieben, so dass ein Vergleich der Schrift in diesem Falle nicht möglich war.

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

Angesichts des bevorstehenden Auslaufens ihrer Unterstützung suchte Nina M. offenbar Hilfe bei der Abfassung ihres erneuten Antrages.116 Mit diesem Schreiben, welches ‚klassische’ Bestandteile eines krankheitsbezogenen Antrags wie detaillierte Krankheitsbeschreibung und den Schlüsselbegriff der Erwerbsunfähigkeit aufweist, wandte sie sich nun direkt an den Landrat, der eigentlich erst Beschwerdeinstanz im Falle einer Antragsablehnung war. Ein erneuter Antrag von Nina M. an den Gemeinderat oder Hinweise auf einen solchen liegen zumindest nicht vor. Es hat den Anschein, als habe Nina M. aufgrund der Schwierigkeiten der ersten Antragstellung und der späteren Gewähr einer Unterstützung nach der Beschwerde beim Landrat alleine oder auf Anraten Dritter den Schluss gezogen, auch die ‚Verlängerung’ ihrer Unterstützung gleich dort zu beantragen, wo sie schon einmal Erfolg hatte. Tatsächlich verlängerte der Kreisausschuss die Zahlung der Unterstützung bis zum Mai 1896. Von Mai bis Dezember 1896 liegen keine Angaben zu weiteren Zahlungen vor, jedoch bat Nina M. im Januar 1897 erneut um eine Verlängerung ihrer Unterstützung und wiederum direkt beim Landrat. Offenbar erbat sie sich dabei auch von derselben Person wie zuvor Hilfe bei der Abfassung des Antrags. Im Folgenden zeigen sich nun die Erkenntnisgrenzen der hier benutzten Antragsquellen, da diese keinen Schluss darauf zulassen, ob das nachfolgend beschriebene Vorgehen auf Nina M. selbst oder aber ihre Helfer zurückgeht. Die Beteiligten führten die erfolgreiche Antragsstrategie in einer überaus bemerkenswerten Weise weiter: Bis auf einen einzigen Halbsatz übernahmen sie wortwörtlich den Text des erfolgreichen Antrags vom November 1895!117 Einzig die Passage „Der Winter steht vor der Thür“ (siehe die Unterstreichung im obigen Antragstext) hatten sie jahreszeitlich bedingt zu „Wir sind mitten im Winter“ abgewandelt. Im Landratsamt fiel dies offenbar nicht auf – oder zumindest nicht unangenehm –, und im Februar 1897 erhielt Nina M. vom Kreisausschuss einen erneuten Bewilligungsbescheid.118 Den Ansatz, vom Antragsteller als erfolgreich beurteilte Bestandteile eines früheren Antrags wiederzuverwenden, führte Nina M. mit der Übernahme von bewährtem Verfasser, Antragsweg und Antragswortlaut bis zur maximalen Perfektion fort.119 Ihr Fall bildet damit ein eindrucksvolles Beispiel für das immer wieder erkennbare Bemühen von Antragstellern, erfolgreiche Antragsformulierungen oder Verhaltensweisen in späteren Fällen erneut zu gebrau-

116 Dies lag allein schon wegen ihres Augenleidens nahe. 117 LHAK Best. 491 Nr. 310, Schreiben der Nina M. vom 07. Januar 1897. 118 Ebd., Schreiben des Kreisausschusses vom 10. Februar 1897. Entsprechend einer vom Landrat beim Bürgermeister erbetenen Stellungnahme wurde die Unterstützung diesmal sogar bis auf Widerruf laufend gewährt. 119 James Taylor konstatiert eine ähnliche Beibehaltungspraxis für die „voice“, den Tonfall oder Duktus eines Antrags. Taylor, Voices, S. 112. Die Funktion der „verwahrten Konzepte der von Bekannten verfassten Schreiben an die Obrigkeit als Muster“ benennt auch Karweick, Tiefgebeugt, S. 21.

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chen. Zudem deutet er an, auf welch professionelle und spezifisch erfahrene Helfer Antragsteller in der Abfassung von Anträgen zurückgreifen konnten. 9.4.2. Krankheit als Instrument – Der Fall Sebastian P. (1904) Im Januar 1904 wandte sich Sebastian P. aus Schwarzerden im Kreis Simmern an den Landesdirektor in Düsseldorf mit der Bitte um Hilfe.120 Der Ortsvorsteher und der Bürgermeister hätten seinen Sohn zum Wehrdienst einziehen lassen, er selbst und seine Frau seien arbeitsunfähig, „was wir beweisen können auch mit dem Herrn Doktor Kaisser aus Gemünden“.121 Das Schreiben war Auftakt zu einer Korrespondenz zwischen Antragsteller und diversen Behörden untereinander, die bis in den Februar 1905 andauerte.122 Das eigentliche Anliegen von Sebastian P. war dabei nicht eine Unterstützung für seine kranke Frau oder ihn selbst, sondern die Entlassung seines Sohnes aus dem Wehrdienst. Im Verlaufe dieser Korrespondenz verwies er mehrfach auf seine Krankheit und die seiner Frau, um seine Arbeitsunfähigkeit und ungenügenden Verdienst ohne die Hilfe des Sohnes deutlich zu machen. Im ersten, eben erwähnten Schreiben argumentierte er dabei zunächst mit dem Verweis auf den behandelnden Arzt, dessen besondere Autorität in medizinischen Fragen für ihn, seiner Formulierung zufolge, geradezu „Beweiskraft“ besaß. Die Gemeindeverwaltung in Person des Gemeindevorstehers verharrte in ihrer Reaktion im typischen Bemühen um Schonung des eigenen Etats. Ohne auf das eigentliche Anliegen von Schwarz einzugehen, argumentierte jener allein gegen die Unterstützungspflicht der Gemeinde gegenüber dem Antragsteller, indem er „keine rechtliche Verpflichtung“ erkennen wollte und angesichts einer bestehenden „Belastung“ der Gemeinde mit 700 M Armenunterstützung darauf verwies, „daß dies schon mehr wie zu viel ist für eine arme Gemeinde.“123 Schwarz richtete darauf hin ein zweites Schreiben an den Landeshauptmann der Rheinprovinz: Ich kann jetzt nicht mehr leben ich und meine Frau wir trinken schon seit die Feiertache Eichel Kaffe und trockenes Brod und meine Frau ist schon ein viertel Jahr krank und haben auch keines keine [?] Schuhe. Meine Frau hat Lungenentzündung und Rieben[interlinear eingefügt: Fell]enzüntung wo wir den Docktor Kaisser in Gemünden gebraucht haben, und bei einer solchen Kost kaum wann gesund werden, Sie haben mir damahls geschrieben daß Sie es dem Kreisausschuß übergeben haben aber wir haben bis jetzt noch keine antwort ob wir etwas bekommen oder nicht, ich habe mir schon schulden genuch gemacht daß ich sie nicht mehr bezahlen kann denn ich weis nicht von was ich sie bezahlen soll und erneren kann ich mich nicht weil ich keine Beine dazu habe, ich war wie ich ein Kind war da war ich 3 mal ½ Jahr krank da hab ich an den Kricken [folgen zwei Worte unleserlich, d. Verf.], da war ich schon so Gicht verzochen daß alle Leue geglaubt haben ich würde nicht lernen gehen, und jetzt sachen der Herr Vorsteher und etliche 120 Alle Schreiben scheinen eigenhändig verfasst worden zu sein. 121 LHAK Best. 491 Nr. 279, Schreiben des Sebastian P. vom 18. Januar 1904. 122 Von Interesse sind hier allerdings nur einige Schreiben aus der Anfangsphase. 123 Ebd., Bericht des Gemeindevorstehers vom 03. Februar 1904.

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung Leute ich könnte mich ernehren aber ich weiß nicht wie ich mich ernehren soll, wenn man solche Beine hat wie ich und soll mich ernehren mit Holzvellen [meint Holzfällen, d. Verf.] und mit Pflanzen setzen wie mich der Herr Landrad in der Aushebung erklärt hat, da weis ich nicht wo der Herr Landrad seine Auchen hate, aber der Herr Vorsteher haette dem Herrn Landrad nie genommen daß keiner nach mir gesehen hat. Wir waren mit zwei Sohn beschengt und da ist uns einer 1895 verunklükt bei Fremden Leuten wo wir nicht da von gewußt haben, bis die Leute in gebracht haben da war er halb Tod, sonst wollten wir garnicht nichts haben dann hätten wir keine Reklamation gemacht dann wäre der welcher jetzt im Herbst ein getreten ist der wäre da schon abgegangen und jetzt diesse Aushebung wäre der zweite erst dabei, dann hätte der auch zum Militähr eintreten können, da wäre ich stols darauf gewessen daß sie ihr kraten Klütter gehabt hätten, nicht wie ich, dann hätten wir immer einen zu Hause gehabt der hätte uns ernähren können.124

Dieses zweite Schreiben war, wie bei Beschwerden und Folgeschreiben häufig zu beobachten, wesentlich länger gehalten. Auch die krankheitsbezogenen Dar­ stellungen weitete Schwarz aus und nutzte dabei übliche Mittel, wie die spe­ zifische Benennung der Krankheit seiner Frau, wiederum den Verweis auf den Arzt und eine sehr detaillierte Schilderung seiner eigenen Behinderung. Die Anführung der Krankheit blieb aber im Wesentlichen instrumentell, was sich auch daran zeigt, dass den größten und letzten Teil des Schreibens die Schil­ derung dessen bildete, was ohne den Tod des ersten Sohnes geschehen wäre. Das Beispiel zeigt zum einen, wie Schwarz seine Krankheit und ‚klassische’ Darstellungsmittel krankheitsbezogener Unterstützungsanträge auch in einem Fall gebrauchte, in dem mit der Freistellung des Sohnes ein ganz anderes Ziel als ein Unterstützungserhalt im Zentrum stand. Für Schwarz hatte die Verwendung dieser Gestaltungsmittel vielmehr das Ziel, unter Bezug auf die traditionelle Verbindung von Krankheit und Würdigkeit, auf seine unverschuldete Notlage und damit die Berechtigung seines Anliegens zu verweisen. Zum anderen wird an dem Fall die beinahe automatisierte Reaktionsweise der Gemeindeverwaltung auf einen Armenfürsorgeantrag deutlich, die jeden Bezug auf die fallspezifische Situation fehlen ließ und allein die Kostendrohung einer Unterstützungszahlung im Auge hatte. 9.4.3. Ein vorteilhaftes Angebot – Der Fall Anna M. (1914) Die 42jährige Anna M. aus Zeltingen reichte im Januar 1914 folgenden Antrag beim Bürgermeister in Zeltingen ein: Ich unterschriebene Anna M., wohnhaft in Erden, bin schon seit Juli vorigen Jahres krank und habe nach ärztlichem Dafürhalten noch keine Aussicht auf Genesung. Da ich nun ganz alleine stehe, meine Mittel verbraucht sind, ist es mir unmöglich geworden, fernerhin ohne Unterstützung zu leben. Herr Dr. Angen in Zeltingen, der mich behandelt, riet mir, in ein Kloster oder Krankenhaus mich zu begeben. Da mir die Mittel hier für fehlen, bitte ich die wohllöbliche Gemeinde Erden, meine bedrängte Lage

124 LHAK Best. 491 Nr. 279, Schreiben des Sebastian P. vom 26. Februar 1904.

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zu berücksichtigen und mich auf Kosten der Gemeinde in ein Kloster oder Krankenhaus unterzubringen.125

Anna M. hatte sich, als sie krank geworden war, dafür entschieden, einen Arzt aufzusuchen und nahm dessen Urteil über ihren Gesundheitszustand offenbar so ernst, dass sie seinem Rat gefolgt war und unter Verweis auf den ärztlichen Hinweis eine Unterbringung in einer Pflegeanstalt beantragte. Zusätzlich zu ihrer Erkrankung war Anna M. anerkannte Invalide und profitierte von der Sozialversicherung in Form einer kleinen Rente aus der Kasse der Landesversicherungsanstalt.126 Die Gemeinde bemühte sich tatsächlich, ein Heim für Anna M. zu finden. Den Krankheitszustand der Anna M. hatte der behandelnde Arztes Dr. Angen in einem Gutachten, das dem Aufnahmeantrag an die LVA beigegeben wurde, detailliert erfasst: Die p. Anna M. leidet an einer chronischen Nierenentzündung und an hochgradiger Nervosität (Hysterie). Sie muß infolgedessen häufig das Bett hüten und ist zu jeder Arbeitsleistung unfähig. Eine ansehnliche Besserung ihrer Leiden und eine Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit ist kaum zu erwarten. Sie würde deshalb am besten in einem Krankenhause oder einer sonstigen Anstalt für hilfsbedürftige kranke Personen (Landarmenhaus, Anstalt klösterlicher Genossenschaften) untergebracht.127

Der Landesversicherungsanstalt erschien dieser Zustand aber offenbar derartig schlecht zu sein, dass sie die Unterbringung in einem Krankenhaus als die einzig mögliche Variante erachtete und eine Pflege in einem der von ihr betriebenen Heime unter Verweis auf das Gutachten ablehnte: Ausweislich der Akten ist der Zustand der Genannten derart, dass sie ständig ärztlicher Behandlung bezw., fremder Wartung und Pflege bedarf und man sie wohl in einem Krankenhause, nicht aber auf Dauer in einem Invalidenheim erhalten kann.128

Daraufhin erkundigte sich der Bürgermeister nach Aufnahmemöglichkeiten im Landarmenhaus in Trier.129 Das Landarmenhaus sandte mit der Antwort direkt die notwendigen Aufnahmeformulare zu.130 Im Rahmen der Aufnahme musste auch ein Gutachten des behandelnden Arztes beigefügt werden. Der Verlauf des Verfahrens erweckt den Eindruck, die Armenverwaltung habe eine erneute Ablehnung der Anfrage befürchtet, sollten die Verwalter des Landarmenhauses, ähnlich wie die Landesversicherungsanstalt, aus dem ersten Gutachten den Eindruck bekommen, Anna M. könne nur in einem Krankenhaus versorgt werden. Daher suchte sie dieser Gefahr mit einem kürzeren und etwas günstigeren Gutachten des Arztes zu entgehen. Anstelle des ursprünglichen Gutachtens formulierte Dr. Angen eine neue Variante, die wesentlich kürzer und allgemeiner gehalten war: 125 LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Antrag der Anna M. vom 13. Januar 1914. 126 LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Schreiben des Bürgermeisters zu Zeltingen an die LVA Rheinprovinz vom 05. Februar 1914. 127 Ebd., Gutachten des Dr. Angen vom 13. Januar 1914. 128 LHAK Best. 655,123 Nr. 1040, Schreiben der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz vom 21. Februar 1914. 129 Ebd., Schreiben des Bürgermeisters vom 26. Februar 1914. 130 Ebd., Schreiben der Verwaltung des Landarmenhauses vom 28. Februar 1914.

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung D. p. Anna M. ist eine mittelgroße, ziemlich korpulente Person. Sie leidet an einer chronischen Nierenentzündung und an Hysterie, geistig ist sie gesund.131

Kurz bevor die erforderlichen Unterlagen abgesandt wurden, bewilligte der Gemeinderat Anna M. jedoch „armenärztliche Behandlung und eine monatliche Unterstützung von 15 M“.132 Es stellt sich die Frage, warum der Gemeinderat aus eigenem Antrieb eine solche dauerhafte Verpflichtung einging, war doch eine derartige Unterstützung von Anna M. überhaupt nicht beantragt worden. Eine mögliche Antwort auf diese Frage ergibt sich aus dem Vergleich der Kosten einer Unterbringung im Landarmenhaus und der angebotenen Unterstützung. Der tägliche Pflegesatz für Personen mit Bedarf an Medikamenten oder ärztlicher Hilfe betrug im Landarmenhaus 110 Pfg pro Tag.133 Bei einer dauerhaften Unterbringung der Anna M. wären der Gemeinde hier monatliche Kosten von circa 30 M entstanden. Demgegenüber war die Anna M. nun angebotene armenärztliche Behandlung kaum mit weiteren Kosten für die Gemeinde verbunden, da der Armenarzt bereits pauschal besoldet wurde. Selbst bei der Gewähr der genannten 15 M, sparte die Gemeinde gegenüber der Unterbringung von Anna M. im Landarmenhaus monatlich rund 15 M ein. Für den Gemeinderat war die Verweigerung einer Unterstützung in diesem Fall offenbar keine Option, er versuchte aber, die tatsächlich entstehenden Kosten einer Unterstützung möglichst gering zu halten.134 Der Gemeinderat hatte mit seiner Vorgehensweise jedenfalls Erfolg. Anna M. nahm „Ihr Angebot von Monatlich 15 Mark nebst freier ärztlicher Behandlung dankend“ an.135 Das Beispiel zeigt, dass Entscheidungsprozesse über Gewähr und Nichtgewähr einer Unterstützung keineswegs stets konfliktiv zwischen zwei gegnerischen Parteien verlaufen mussten. Vielmehr legten beide Parteien im Bedarfsfalle eine überraschende Flexibilität in ihren Zielen und Handlungen an den Tag, was schließlich in einem Resultat mündete, das unter den obwaltenden Umständen für beide Seiten gleichermaßen günstig war. 9.4.4. Virtuose Bewegung im System – Der Fall Konrad A. (1930) Im März 1930 beantragte Konrad A. beim Bürgermeister der Bürgermeisterei Zeltingen die Übernahme der Krankheitskosten seines Kindes Sophie: Mein Kind mußte wegen einer Mandelentzündung nach Trier ins Mutterhaus gebracht werden. Zu dieser Erkrankung ist jetzt noch eine Mittelohrentzündung getreten. Ob operative Eingriffe notwendig werden, steht noch nicht fest. Ich habe kein Einkommen, au131 Ebd., Gutachten des Dr. Angen vom 07. März 1914. 132 Ebd., Beschluss des Gemeinderats vom 12. März 1914. 133 Ebd., Schreiben der Verwaltung des Landarmenhauses vom 28. Februar 1914. Der Satz betrug 90 Pfg/Tag für die allgemeine Aufnahme und 110 Pfg/Tag bei Krankenpflege. 134 Ähnlichen finanziellen Pragmatismus auf Seiten der Armenverwalter beobachtet auch Sokoll, Armut, S. 249. 135 Ebd., Schreiben der Anna M. vom 16. März 1914.

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ßer einer Wohlfahrtsunterstützung von 40,– RM monatlich. Ich bin daher nicht in der Lage, die entstehenden Kosten zu tragen. Ich habe 3800,– RM Schulden, die durch Hypotheken gesichert sind.136

Als seine Tochter erkrankte, hatte Konrad A. sie von Zeltingen aus nach Trier ins Krankenhaus gebracht. Zwar lässt die Antragformulierung „Mein Kind mußte wegen einer Mandelentzündung nach Trier ins Mutterhaus gebracht werden“ zunächst offen, ob dies aus eigenem Antrieb oder auf Anweisung eines Arztes geschah. Aus einem späteren Brief des behandelnden Arztes im Mutterhaus vom Dezember 1930 geht jedoch hervor, daß diese Verlegung keineswegs ärztlich angeordnet war. Dieser schreibt eingangs, Konrad A. habe sich auf Nachfrage als „Selbstzahler“ und „Privatpatient“ bezeichnet, auch Rechnungen bereits angezahlt, und fährt fort: Die vorgeschriebene schriftliche Überweisung ist mir niemals gegeben worden. 137

Diese Aussage belegt, dass Konrad A. zuvor keinen Arzt aufgesucht hatte, sondern tatsächlich aus eigener Entscheidung heraus das Krankenhaus aufgesucht hatte. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man sich vor Augen führt, welche Alternative er besessen hätte. In Zeltingen selbst war zu dieser Zeit ein Arzt ansässig, den Konrad A. wesentlich leichter hätte konsultieren können. Ebenso war der Weg ins Krankenhaus nach Trier mit Aufwand verbunden. In der Abwägung der Heilungschancen für seine Tochter besaß Konrad A. also offenbar ein Urteilsvermögen, welches ihn die akademische Medizin etwaigen Laienheilern und das Krankenhaus wiederum dem Arzt vorziehen ließ. Die entsprechenden Erfahrungen hatte er vermutlich aus eigener Anschauung gewinnen können. Ausweislich der Quellen war er seit 1921 wiederholt wegen „Lungenleidens“ in ärztlicher Behandlung und wurde wiederholt als arbeitsunfähig erklärt.138 Entsprechend gab er auf dem eben vorgestellten Antrag seinen Beruf mit „wg. Lungenleiden zeitweise arbeitsunfähig“ an, obwohl ihn ein früherer Antrag vom Januar 1929 als „Winzer und Händler“ auswies.139 Aus seinen früheren Kontakten mit dem Armenfürsorgesystem hatte Konrad A. vermutlich auch Erfahrungen im Umgang mit den entsprechenden Behörden, sowie Kenntnis finanzieller Entlastungsmöglichkeiten gewonnen. In jedem Fall erweckt er nach der Aktenlage den Eindruck, über Möglichkeiten und Funktionsweisen gesundheitlicher Hilfen gut Bescheid gewusst zu haben. So schätzte er offenbar die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, denn zumindest im Januar 1929 war er trotz der damit verbundenen höheren Eigenbeiträge freiwillig versichertes Mitglied in der Allgemeinen Ortskrankenkasse Bernkastel.140 Auch die drohende Belastung durch die hohen Behandlungskosten für seine Tochter vermochte er aufgrund seiner eigenen Krankheitserfahrungen vermutlich gut einzuschätzen. Darauf lässt zumindest 136 LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Antrag des Konrad A. vom 18. März 1930. 137 LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Schreiben des Dr. Bindseil vom 18. Dezember 1930. 138 LHAK Best. 655,123 Nr. 971, Schreiben der AOK Bernkastel vom 28. Juni 1928. 139 LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Schreiben des Konrad A. vom 15. Januar 1929. 140 Ebd.

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der Zeitpunkt der Antragstellung (18.03.1930) nach Einlieferung der Tochter ins Krankenhaus (vgl. die Angabe im Antrag), aber noch vor Abschluss der Behandlung und Erhalt einer Rechnung (15.06.1930), schließen. Durch einen früh gestellten Antrag beabsichtigte er offenbar, auch den Auszahlungszeitpunkt der Beihilfe nach vorne zu verlegen und so möglichst kurze Zeit gänzlich auf eigene Mittel angewiesen zu sein. Der Gemeinderat gewährte Konrad A. auf diesen Antrag hin eine einmalige Beihilfe von 40,– RM.141 Damit vermied er seinerseits unkalkulierbare Hilfszusagen, wie regelmäßige Zahlungen oder Beihilfen in nicht festgelegter Höhe. Gegen diesen Bescheid legte Konrad A. einige Zeit später Einspruch ein. Die Gesamtkosten der Behandlung betrugen 320,– RM und er sah sich außerstande, „die restlichen 280 RM ganz zu übernehmen(…).“142 Der Einspruch wurde vom Kreisausschuss jedoch abgelehnt.143 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Stellungnahme der Gesundheitskommission für den Landrat zu dem Fall: Konrad A., der längere Zeit erkrankt war, ist nach Ansicht der Kommission nunmehr wieder erwerbsfähig und in der Lage, einer gewinnbringenden Beschäftigung nachzugehen. Auch der Kreisarzt hat sich vor unlanger Zeit dahin ausgesprochen, daß Konrad A. arbeitsfähig ist.144

Der zweite Satz des Zitats zeigt, dass sich in diesem Fall auch die Armenverwaltung der ärztlichen Expertise bediente, um die eigene Position in der Sache argumentativ zu stärken. Wie wichtig dieser Punkt genommen wurde, erschließt sich vor allem daraus, dass dieser Satz der Stellungnahme erst nachträglich hinzugefügt wurde.145 Über die direkt gezahlte Beihilfe hinaus profitierte Konrad A. jedoch von den Bemühungen der Armenverwaltung, die eigenen Zahlungen zu minimieren. Dem Bürgermeister gelang es unter Verweis auf die für die Bezirksfürsorgeverbände gültige Abrechnung nach den Mindestsätzen der Preußischen Gebührenordnung, die Gesamtsumme der entstandenen Rechnungen von 320,– RM auf 252,80 RM zu senken.146 Konrad A. hatte damit im Ganzen nur noch rund 212,80 RM, anstelle von 320 RM, selbst zu zahlen. Dennoch legte Konrad A. gegen die Zurückweisung des Einspruchs Beschwerde beim Kreisausschuss ein: Gegen den gegen Beschluss vom 25.11.1930 lege ich Beschwerde ein. Auf den Antrag vom 18.3.1930 und 22.7.1930 zwecks Bewilligung eines Zuschusses zu den Krankheitskosten vom Kind Sophie A. in Höhe von 320 RM wurde mir eine Beihilfe von 40 RM bewilligt. Durch die schlechten wirtschaftliche Notlage in der ich mich befinde, bin ich nicht in der Lage, die restlichen 280 RM ganz zu übernehmen. Meinen ganzen Erlös vom Traubenverkauf mußte ich für Zinzen [sic] bezahlen, auf mein Wohn141 LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Schreiben des Bürgermeisters vom 22. Juli 1930. 142 Ebd., Schreiben des Konrad A. vom 10. August 1930. 143 Ebd., Beschluss des Kreisausschusses vom 25. November 1930. 144 Ebd., Stellungnahme der Gesundheitskommission vom 15. August 1930. 145 Der Satz ist in erkennbar anderer Handschrift als der restliche Text verfasst. 146 Ebd., Schreiben des Bürgermeisters vom 12. Dezember 1930; Ebd., Schreiben des Bürgermeisters vom 13. Dezember 1930. Vgl. auch Hardt, PreuGO.

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haus konnte ich noch keinen Pfg. abbezahlen, weil seid 1928 fast dauernd krank war. Durch mein Dienstbeschädigungsleiden Narben am linken Unterkiefer mit Behinderung der Kaufähigkeit und Narben am linken Oberarm als Folge der erlittenen Verwundung bin ich in der Ausübung meiner Tätigkeit als Winzer behindert, denn ich war jetzt bei der Zeltinger St. Stephans Bruderschaft beschäftigt, seid dem 6. ds. Mts. bin ich wieder krank, eine geeignete Beschäftigung nach meinem Gesundheitszustande konnte bis heute noch keine Berücksichtigung finden. Ich hatte ds. Js. schon zwei mal Hochwasser im Wohnhause durch den Hochwasserschaden habe ich noch keine Mittel dafür, um den Schaden auszubessern zu lassen. Ich bitte nach Möglichkeit die Gewährung eines Zuschusses zu bewilligen und zeichne hochachtend147

Neben dem verbreiteten Hinweis auf die Dauer der Erkrankung („seid 1928 fast dauernd krank“) und dem Hinweis auf eine akute Krankheit erschien in diesem Schreiben nun mit einem Mal eine Erkrankung des Konrad A., auf welche dieser zuvor noch keinen Bezug genommen hatte. Die aus anderen Beschwerden bekannte Vorgehensweise, das zuvor kurz skizzierte Leiden nun in aller Ausführlichkeit darzulegen, variierte Konrad A., indem er in seiner Beschwerde eine völlig ‚neue’ Erkrankung anführte. Die Schilderung des „Dienstbeschädigungsleidens“, eine Granatsplitterwunde, wirkt in ihrem Sprachduktus dabei wie ein Zitat aus einem entsprechenden Gutachten („Narben am linken Unterkiefer mit Behinderung der Kaufähigkeit und Narben am linken Oberarm als Folge der erlittenen Verwundung“). Die folgende Korrespondenz in dem Fall ergab, dass Konrad A. angab, bei den Holzhauarbeiten sei die Kriegsverletzung wieder aufgebrochen, dass er deshalb wegen „neuralgischer Schmerzen im Oberarm“ wieder arbeitsunfähig geschrieben war und als Kassenmitglied ein Krankengeld von 1,50 M pro Tag bezog.148 Zudem sprach sich der Bürgermeister „mit Rücksicht darauf, dass Konrad A. jetzt wieder arbeitsunfähig ist“ für eine Beihilfe von 130,– RM aus.149 Der Kreisausschuss stufte die erneute Erkrankung zwar als Simulantentum ein, reagierte aber zugleich überraschenderweise nicht mit einer rigorosen Verweigerung der Hilfe, sondern mit dem Versuch eines Handels: Es hat den Anschein, als ob es sich bei der Arbeitsunfähigkeit mehr oder weniger wieder um eine simulierte Arbeitsunfähigkeit handelt. Zieht Konrad A. seine Beschwerde zurück, falls die weitere Unterstützung von 130,– RM gewährt wird?150

Die folgende diesbezügliche Anfrage durch den Bürgermeister bejahte Konrad A. schließlich, womit er die von ihm zu zahlende Summe von 320 RM auf 122,80 RM gesenkt hatte. Das aus der Korrespondenz ersichtliche Handeln und Verhalten des Konrad A. wirkt im Ganzen sehr bewusst taktierend, so als habe er genau abschätzen können, wie und mit welchen Mitteln er seine Forderungen stärker machen könne. Zugleich wusste er aber auch, in welchem Moment dieser Ver147 LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Schreiben des Konrad A. vom 08. Dezember 1930. 148 Ebd., Schreiben des Bürgermeisters vom 23. Dezember 1930; Schreiben der AOK Bernkastel vom 30. Dezember 1930. 149 Ebd., Schreiben des Bürgermeisters vom 13. Dezember 1930. 150 Ebd., Schreiben des Kreisausschusses vom 09. Januar 1931.

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handlungen er einlenken musste. Eine solche Fähigkeit zur „langfristigen und gezielten Interessenwahrnehmung“ beruhte auf der Voraussetzung, Mechanismen und Personen des Entscheidungsprozesses sowie der Armenfürsorge insgesamt gut einschätzen zu können.151 Dennoch war der Fall noch nicht abgeschlossen. Nachdem die Gemeinde Konrad A. die gewünschte Summe bewilligt hatte, bemühte sie sich ihrerseits, zumindest einen Teil der Kosten auf andere Träger abzuwälzen. Zugleich mit der Gewähr der Beihilfe forderte der Landrat als Vorsitzender des Kreisausschusses entsprechende Veranlassungen des Bürgermeisters: Ich bin mit der Gewährung der Unterstützung von 130,– RM einverstanden. Ich ersuche jedoch sofort einen Antrag auf Gewährung einer Beihilfe aus Restmitteln der Winzerfürsorge, nach dem hierfür vorgeschriebenen Formular aufzunehmen und in Vorlage zu bringen. Zweckmäßigerweise wird von der Auszahlung des Betrages von 130,– M zunächst abgesehen, bis über den Antrag auf Gewährung einer Beihilfe aus der Winzerfürsorge entschieden ist.152

Wenige Tage später wurden die notwendige Vermögensaufstellung und der „Grund für die entstandene Notlage“ zusammengestellt: Er war in den letzten Jahren viel von Krankheiten in seiner Familie heimgesucht, wodurch ihm ganz erhebliche Kosten entstanden sind. Die Tochter Sophie war kürzlich an Mandelentzündung und Mittelohrentzündung erkrankt. Durch die Krankenbehandlung sind 252,– RM Kosten entstanden. Konrad A. selbst ist infolge seiner Kriegsverwundung erwerbsunfähig. Bis heute war es ihm noch nicht möglich, in den Genuß von Renten zu kommen. Um dem Konrad A. Arbeitsverdienst zu verschaffen, wurde er in dem diesjährigen Holzschlag der St.-Sebastianus-Bruderschaft beschäftigt. Nach einer Arbeitszeit von etwa 2 Wochen mußte er jedoch diese Arbeit infolge Erkrankung wieder aufgeben. Er ist ohne sein Verschulden in eine große Nothlage geraten. Ich befürworte eine einmalige Unterstützung von 130,– RM.153

Bemerkenswerterweise war in dieser Aufstellung, die an die zuständige Bewilligungsstelle für Winzerfürsorgen auf Reichsebene gehen sollte, jeglicher Hinweis auf die zuvor vermutete Krankheitssimulation durch Konrad A. verschwunden.154 Die Gemeinde bemühte sich offenbar nun ihrerseits darum, die Notlage des Antragstellers herauszustellen, um die Chancen auf Erhalt von Mitteln aus der Winzerfürsorge zu erhöhen. Tatsächlich hatte der Antrag Erfolg und die 75,– RM aus der Winzerfürsorge wurden Konrad A. auf die gewährten 130,– RM angerechnet.155 Der Fall des Konrad A. demonstriert eindrucksvoll, wie beide beteiligten Seiten sich bemühten, ihren krankheitsbedingten Kostenaufwand möglichst gering zu halten. In Konrad A. trat der Armenverwaltung dabei ein Antrag151 Ulbrich, Zeuginnen, S. 214. Sokoll, Armut, S. 240 unterstreicht, dass „Strategien“ der Armen, wie im Falle des Konrad A., auch auf einer guten Kenntnis der finanziellen Belastungen und Spielräume der Armenverwaltungen beruhten. 152 LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Schreiben des Kreisausschussvorsitzenden vom 29. Januar 1931. 153 Ebd., Verhältnisaufstellung für Konrad A. vom 03. Februar 1931. 154 Zum Charakter der Winzerfürsorge siehe Krieger, Weinbaupolitik, S. 20–22. 155 LHAK Best. 655,123 Nr. 822, Vorschrift zum Bewilligungsbescheid vom 11. März 1931.

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steller gegenüber, der aufgrund früherer Erfahrungen sowohl die strukturellen Bedingungen wie die Leistungen der Krankenkassen kannte, als auch seine eigene Handlungsspielräume klar einschätzen konnte. Durch geschickten Einsatz einer ganzen Reihe der bekannten Elemente in Antragskorrespondenzen gelang es ihm so, für seine Tochter eine sowohl medizinisch gute wie zu großen Teilen fremdfinanzierte Behandlung auszuhandeln. Die Armenverwaltung bewies ihrerseits durchaus taktisches Geschick und Fantasie darin, andere Kostenträger für die Finanzierung der beantragten Unterstützungsleistungen zu mobilisieren.

Kapitel 10: Handeln zwischen Zwang und Möglichkeit – Bewertungen In der individuellen Bewältigung von Krankheit war im Zusammenhang der Armenkrankenpflege und der Armenunterstützungsanträge zunächst die Beschreibung des zu heilenden Zustands sehr unterschiedlich. Häufig wurde allein der Begriff „krank“ ohne nähere Erläuterungen angeführt. Wenn er um andere Informationen erweitert wurde, handelte es sich dabei in vielen Fällen um Verweise auf die lange Dauer, die erforderliche Bettlägerigkeit oder unterschiedlich weitreichende Beschreibungen von Symptomen und Folgen der Erkrankung. Vor allem die Einschränkung der gewohnten Arbeits- und Lebensfähigkeit standen dabei im Mittelpunkt der Darstellungen. Die Armen griffen damit auf Beschreibungselemente von Kranksein und Krankheit zurück, die bereits in früheren Jahrhunderten als zentrale Signale für eine Erkrankung galten. Ab den 1920er Jahren wandelten sich die Angaben unter dem Einfluss medizinischen Sprachgebrauchs und administrativer Praktiken zu einem stärker benennenden als beschreibenden Begriffsspektrum. Fast völlig außen vor blieben in den Unterstützungsanträgen dabei Deutungsversuche der eigenen Krankheit, im Vordergrund stand das Interesse an einer raschen Wiederherstellung des als normal empfundenen Gesundheitszustandes. Auch beim Blick auf die Verbindung zwischen Armut und Krankheit sahen die Antragsteller zuvorderst die Folge von Armut aus der akuten Bedrohung einer Krankheit. Die weitgehend fehlende Wahrnehmung von Mangelernährung als Krankheit auf Seiten der Antragsteller bestätigt dabei zum einen das Verständnis von Krankheit als in der Regel plötzlich auftretender Einschränkung der gewohnten Lebensführung, deutet zum anderen aber auch auf eine relative Beurteilung des eigene Zustandes im Bezug auf das alltägliche Umfeld hin. Auch im beginnenden 20. Jahrhundert auf dem Land war demzufolge mangelhafte Ernährung immer noch verbreitet. Im deutlichen Gegensatz zu diesen Wahrnehmungen standen jene der medizinischen Experten. Bei diesen ist eine deutliche Orientierung an der zeitgenössischen Fachdebatte erkennbar, die eine Verbindung von Krankheit und Armut vor allem in der krankheitsfördernden Bedeutung von Armut und den damit verbundenen schlechten Lebens- und Wohnverhältnissen sah. Auf der Suche nach dem richtigen Heilungsangebot für die eigene Erkrankung spielten für die Entscheidung der Armen eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle. Vor allem bei Krankheiten, die zunächst mit einem Zustand des allgemeinen Unwohlseins begannen, wurde im ersten Anlauf meist zu Mitteln der Selbsthilfe gegriffen. Ansonsten sind klare Zuordnungen von Erkrankung und eingeschlagenem Heilweg kaum auszumachen. Auch weitere quantifizierbare Faktoren, wie die zu erwartenden Kosten der Behandlung, die räumliche Entfernung zum Arzt oder Heiler können im Entscheidungsprozess nicht als generell dominant angesehen werden. 

Kinzelbach, Gesundbleiben, S. 281–282.

Handeln zwischen Zwang und Möglichkeit – Bewertungen

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Vielmehr kam ihnen abhängig von der jeweiligen Einschätzung der Betroffenen und ihres Umfeldes von Fall zu Fall variable Bedeutung zu. Auch in diesem Fall erscheinen die Verhaltensweisen und Urteilsmaßstäbe nicht wesentlich von früheren Epochen verschieden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewann dann vor allem der Bereich der ärztlich-akademischen Medizin zunehmend an Vertrauen bei den armen Kranken, auch in Gestalt der im beginnenden 20. Jahrhundert auch im hiesigen ländlichen Raum neu aufkommenden Krankenhäuser. Die Spezialisierung dieser Institutionen und die Bereitschaft der Betroffenen, für eine erfolgreiche Behandlung an den Ort der größten angenommenen Kompetenz zu gehen förderte die Ausweitung der ‚Gesundheitsräume’, innerhalb derer Kranke zu Heilungszwecken sehr mobil waren. Die Wahl der richtigen Behandlung wurde von den Betroffenen alles in allem ohne strikte ‚ideologische’ Vorlieben für bestimmte Heilungswege in erster Linie durch das Interesse bestimmt, zu akzeptablen Bedingungen gesund zu werden. Der Blick auf die konkrete Begegnung von Heiler und Heilungssuchendem bietet ein ambivalentes Bild. In der Praxis der Konsultation ist im ländlichen Raum für den hier betrachteten Zeitraum eine deutliche Trennung zwischen Ärzten und Nichtärzten zu erkennen. Während die Entwicklung bei ersten auf eine ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmende Sprechstundenpraxis hinlief, blieb die innere Differenzierung des laienheilkundlichen Spektrums auch in Bezug auf Orte und Arten der Konsultation bestehen. Richtet man den Blick hingegen auf die erkennbaren therapeutischen Praktiken, erweisen sich die Unterschiede in der Behandlung zwischen Ärzten und Laienheilern bis in das 20. Jahrhundert hinein als eher gering. Der zunehmende „Vorsprung“ der ärztlichen Medizin in den Bereichen der Ausstattung, Hygiene (Asepsis und Antisepsis) und Diagnostik wurde für die betroffenen Kranken, den vorliegenden Quellen nach zu urteilen, am deutlichsten im Bereich der stationären Behandlung im Krankenhaus erfahrbar. In der Wahrnehmung des großen ärztlichen Erkenntnisfortschritts jener Zeit erwies sich das ländliche Publikum als aufmerksamer Beobachter, was jedoch nicht zwingend mit raschen und grundlegenden Änderungen des eigenen gesundheitlichen Verhaltens einherging. Die genauere Betrachtung der Behandlung des kranken Armen Ludwig N. zeigte, dass am Ende des 19. Jahrhunderts unter den Bedingungen des ländlichen Raumes auch verhältnismäßig einfache Behandlungen immer noch mit hohem Aufwand für alle Beteiligten verbunden waren. Die ärztliche Behandlung blieb kritischen Bewertungen von nichtärztlichen Beteiligten unterworfen, ebenso blieben vor allem die Angehörigen der Medizinalverwaltung gegenüber den Laienheilkundigen misstrauisch. Ob das Verhältnis von Ärzten und Laienheilern in der lokalen Praxis auch von Kooperation geprägt sein konnte, war hier nur in Ansätzen erfassbar. Die Bewältigung von Krankheit umfasste für Arme aber meist nicht nur die konkrete Erkrankung, sondern auch daraus resultierende, vor allem finan

Ebd., S. 397.

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zielle Neben- und Nachwirkungen. Erkrankungen, gleich ob eigene oder die von Familienmitgliedern, bedeuteten ohne Zweifel bis in die 1930er Jahre hinein für die Betroffenen immer auch eine enorme finanzielle Belastung. Auch wenn die vorliegenden Quellen nur exemplarisch deren Höhe im Einzelfall erkennen ließen, wurde doch deutlich, dass insbesondere große Operationen oder längere Krankenhausaufenthalte Kosten von bis zu mehreren hundert Mark verursachen konnten. Demgegenüber lagen Beträge, die für eine ‚normale’ Arztkonsultation zu zahlen waren zwar niedriger, aber immer noch auf einem Niveau, das es vielen ärmeren Kranken schwer machte, ihre Rechnungen zu bezahlen. Eine geringere Rolle spielten, den untersuchten Quellen nach zu urteilen, indirekte Belastungen durch Verdienstausfall und ähnliche Nebenkosten. Dieser Eindruck mag aber auch auf den Umstand zurückzuführen sein, dass die Armenverwaltungen hier offenbar nur restriktiv Unterstützung gewährten und einige Antragsteller so vielleicht schon im Vorfeld abgeschreckt wurden. Die Einrichtung und Ausbreitung der Sozialversicherungen als einem neuen Instrument, gerade diese Belastungen abzumildern, erreichte im ländlichen Raum vermutlich bereits in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts auch die potentiell ärmeren Bevölkerungsteile, verbreitet schließlich spätestens gegen Ende der 1920er Jahre. Für die normale Erwerbsbevölkerung blieb die entlastende Wirkung der Krankenversicherung vor allem durch die fehlende oder nur eingeschränkte Familienversicherung aber begrenzt. Für die als arm anerkannten Bevölkerungsteile fiel die Entlastung von den krankheitsbedingten Kosten in der Praxis sogar noch weniger ins Gewicht, da ihnen über die Distrikt- und Armenärzte bereits zuvor eine umfassende unentgeltliche Krankenbehandlung zur Verfügung stand. Faktisch blieben auch Krankenversicherte in vielen Fällen auf unterstützende Zahlungen der Armenfürsorge angewiesen. Inwiefern das Bewusstsein um Versorgungsansprüche gegenüber der Krankenversicherung zu einem selbstbestimmteren Verhalten der Betroffenen im Krankheitsfall beitrug, bleibt schwierig zu beurteilen. Zu sehr scheinen die Aussagen der Antragsteller von der Antragsform der Quellen geprägt, um hier eine deutliche Entwicklung ausmachen zu können. Ob die parallele Inanspruchnahme von Krankenversicherung und Armenfürsorge letztlich dazu beitrug, das Auftreten der Antragsteller gegenüber der Armenverwaltung zu verändern, lässt sich hier nicht beantworten. Eine hohe finanzielle Belastung bedeuteten Erkrankungen von Armen auch für die Armenverwaltungen. Die erwähnten hohen Kosten für Krankenhausbehandlungen und Pflege nahmen einen bedeutenden Teil des Armenbudgets in Anspruch und beschränkten auf diese Weise indirekt Zahl und Umfang vor allem einmaliger Unterstützungsleistungen. Die Kranken- und Unfallversicherungen bildeten vor diesem Hintergrund für die Gemeinden eine willkommene Entlastungsmöglichkeit. Zum einen erlaubten sie es ihnen, große finanzielle Lasten auf andere Träger – angesichts der Beitragsstruktur waren dies faktisch die Versicherten selbst – abzuwälzen. Zum anderen ge-

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wannen die Armenverwaltungen durch die neuartigen Zahlungen an die Versicherten, gleich ob Kostenübernahmen oder Krankengeldzahlungen, neue argumentative Hilfestellungen, um Anträge auf Armenunterstützung ablehnen zu können. Die im letzten Kapitel unternommenen Untersuchungen der Verfahren und Verfahrensweisen der an den Entscheidungsprozess über die Gewähr gesundheitlicher Armenhilfe Beteiligten konnten zeigen, dass auf Seiten der Armenverwaltung über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg die Kontrolle über den Zugang zu Armenfürsorgeleistungen und die weitgehende Minimierung der durch eine Gewähr entstehenden Kosten die zentralen Interessen waren. Dabei war es unerheblich, ob es sich im einen krankheitsbedingten oder einen anderen Antrag handelte. Allerdings war die Bereitschaft der Armenverwaltungen, eine beantragte Unterstützung zu gewähren, im Falle krankheitsbedingter Anträge tendenziell höher. Hier spielte vor allem die offensichtliche Würdigkeit des Kranken eine zentrale Rolle. Vor der weitgehenden Etablierung der Krankenversicherungen im ländlichen Raum am Beginn der 1920er Jahre war der Leidtragende dieser Politik in erster Linie der Armenarzt, der aus der Entscheidung über den Zugang zur Armenfürsorge zwar weitgehend ausgeschlossen blieb, als pauschal besoldeter Behandler aber sehr willkommen war. Den Antragstellern standen in erster Linie rhetorische Mittel zu Gebote, um ihrerseits den Druck auf die Entscheidungsträger zu erhöhen. Spezifisch für den Bereich der Krankenfürsorge trat der instrumentalisierte Verweis auf die ärztliche Expertise zur Betonung des eigenen rechtmäßigen Anspruchs hinzu. Nach 1920 ergaben sich in Anlehnung an die Veränderung der Strukturen gesundheitlicher Armenversorgung auch Veränderungen in den Aushandlungspraktiken der beteiligten Parteien. Freie Arztwahl für die meisten Armen und neue Abrechnungsverfahren verringerten die Kontrollmöglichkeiten der Armenverwaltung, prägend blieb aber weiterhin deren Bestreben, die eigenen Kosten gering zu halten. Die Etablierung neuer Fürsorgeeinrichtungen im Allgemeinen und der Krankenkassen im Besonderen eröffnete hier vor allem die Möglichkeit, entstehende Kosten auf andere Träger abzuwälzen. Den betroffenen kranken Armen brachte die Entwicklung tendenziell verbesserte Wahlmöglichkeiten in der gesundheitlichen Hilfe, vor allem aber trugen sie dazu bei, die Konsultation eines Arztes im Krankheitsfalle auch für Arme bis zum Ende der 1920er Jahre zunehmend selbstverständlich werden zu lassen. Zudem konnte Krankheit stärker als andere Armutsursachen auch zur Durchsetzung anderer Anliegen instrumentalisiert werden. In den meisten Stadien des Umgangs mit Krankheit bewegten sich Arme in ihrem Handeln dabei zwischen Zwängen und Notwendigkeiten auf der einen Seite und einer mehr oder weniger breiten Palette an Handlungsmöglichkeiten auf der anderen Seite. So war es für die Antragsteller zwar einerseits notwendig, in der Darstellung ihres Leidens im Unterstützungsantrag nicht allzu weit von der Wahrheit abzuweichen, andererseits standen eine ganze Reihe von Beschreibungsvarianten und Schlüsselbegriffen zur Verfügung, die

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Kranke Arme in der ländlichen Gesundheitsversorgung

es ihnen erlaubten, ihre Unterstützungsbedürftigkeit und –würdigkeit zu betonen. Im Gegenzug hatten kranke Arme zwar auf der einen Seite grundsätzlich auch die Möglichkeit zu einem Laienheiler ihres Vertrauens in Behandlung zu gehen, andererseits mussten sie dann gewähr sein, ihre Aufwendungen gegebenenfalls nicht aus der Gemeindekasse erstattet zu bekommen, falls die Gemeinde einen Vertrag mit einem Armenarzt geschlossen hatte. In der Praxis scheinen die betroffenen Armen derartige Entscheidungen fast durchgehend pragmatisch und zweckorientiert getroffen zu haben. In der Beschreibung ihrer Krankheit beschränkten sie sich in vielen Fällen und vor allem im ersten Antrag auf die reine Selbstbezeichnung „krank“. Wenn aber ein ablehnender Bescheid eine Beschwerde in der nächsten Verwaltungsinstanz notwendig machte oder frühere Erfahrungen gezeigt hatten, dass eine ausführliche Beschreibung die Chancen auf Anerkennung erhöhte, nutzten sie die Vielzahl der möglichen Darstellungsmittel. In der Wahrnehmung des Zusammenhangs von Armut und Krankheit richtete sich ihr Blick eher auf die akute Bedrohung, durch Krankheit in Armut zu geraten, als auf das durch die ärmlichen Lebensumstände gesteigerte Risiko, krank zu werden. Ob eine Behandlung vom Arzt oder Heiler durchgeführt werden sollte, wurde danach entschieden, wem im Einzelfall die Wiederherstellung der eigenen Gesundheit eher zugetraut wurde und im Umgang mit den finanziellen Folgen von Krankheiten wurden die Vorteile der Krankenversicherungen gerne in Anspruch genommen – vorausgesetzt die persönliche Risikokalkulation hatte ergeben, dass der dazugehörige finanzielle Aufwand sich rechnete. Insbesondere in den Aushandlungen mit der Armenverwaltung bedeutete dies auch die Fähigkeit zum Kompromiss. Die Betrachtung einiger exemplarischer Einzelfälle hat gezeigt, dass Antrag und Gewähr von Armenkrankenfürsorge dabei keineswegs eine einseitige und gnädige Almosenvergabe der Armenverwaltung an schwache Empfänger war. Vielmehr muss dies als Prozess der Aushandlung verstanden werden, in welchem die scheinbar abhängigen Antragsteller in teilweise geschickter Weise die jeweiligen Bedingungen und ihre Erfahrungen nutzten, um für sich selbst das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Kenntnis der innerbehördlichen Abläufe und Zwänge – wie etwa das Wissen um den Umstand, dass die Armenverwaltung einem Antrag auf armenärztliche Behandlung durch den pauschal besoldeten Armenarzt mit höherer Wahrscheinlichkeit stattgab, als einem Antrag auf einmalige Unterstützung – eröffnete den kranken Armen Spielräume im Aushandlungsprozess, die sie in vielen Fällen zu ihrem Vorteil zu nutzen wussten. Die gegebenen Möglichkeiten der Interaktion mit den Armenverwaltungen zeigen zugleich die Einbettung der Armen in die ländliche Gesellschaft. Ihre Einwände und Mittel, wie der Verweis auf das ärztliche Urteil, sicherten ihnen Gestaltungskraft in der konkreten Praxis der Armenkrankenversorgung. Gerade die Teilhabe der Armen an der Krankenversicherung zeigt jedoch, dass der normativ gegebenen Inklusion in der Praxis weiterhin Hürden entgegenstehen konnten. Zwar waren die Ortskrankenkassen strukturell auch für

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arme Bevölkerungsschichten leicht zugänglich und wurden auch als umfassende Sicherungseinrichtungen propagiert, die meist fehlende Familienmitversicherung führte aber dazu, dass weiten Teilen der armen Bevölkerung dieses Instrument in der Praxis aus Kostengründen doch nicht zugänglich war. Dennoch erreichten die Sozialversicherungen erkennbar zunehmende Teile der ländlichen Bevölkerung, vermutlich in den 1920er Jahren dann in größerer Zahl auch unter den ländlichen Armen. Über das Angebot einer Übernahme ärztlicher Behandlungskosten, vor allem in Kombination mit den verbesserten diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der ärztlichen Medizin im 20. Jahrhundert, trugen sie so wesentlich zu einer Verbreitung ärztlicher Medizin unter der ländlichen Bevölkerung bei. Ähnliches gilt für die Einrichtung des Armenarztwesens im Hinblick auf die ländlichen Unterschichten. Ein schichtenspezifischer Unterschied in der „Medikalisierung“ des ländlichen Raums scheint hier nicht bestanden zu haben. Auch wenn die Quellen sich hier nur als bedingt aussagefähig erwiesen haben, deuten die fortdauernde Tätigkeit von Laienheilern und die verbreitete Nutzung von Besprechungspraktiken bis in die 1930er Jahre doch an, dass dieser Prozess einer Übernahme ärztlich-naturwissenschaftlicher bestimmter Verhaltensweisen und Deutungsmuster im ländlichen Raum des frühen 20. Jahrhunderts generell langsamer als in städtischen Kontexten verlief.

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Schlussbetrachtung

Teil IV – Schlussbetrachtung Am Beginn der vorliegenden Untersuchung stand die Beobachtung, dass Krankheit innerhalb eines Zeitraums von rund einhundert Jahren ihre Stellung als wichtigste Ursache für Armut heute weitgehend verloren hat. Zudem zeigte sich eine auffällige Gegensätzlichkeit im Rückgang der Bedeutung des Armutsrisikos Krankheit zur zunehmenden Verbreitung von krankheitsbezogenen sozialen Sicherungssystemen wie den Krankenversicherungen. Im Rahmen der Projektforschungen zu Armut im ländlichen Raum wurde das weitgehende Fehlen von Forschungen zu Armenkrankenversorgung und Krankenversicherungen für ländlich geprägte Regionen festgestellt. Diesbezügliche Untersuchungen sind bis dato vornehmlich für den städtischen Kontext unternommen worden. Aus diesen Bedingungen ergab sich die Absicht der vorliegenden Studie, die Spezifik des Umgangs mit Krankheit im Rahmen der allgemeinen Armenfürsorge und die Auswirkungen der neu entstehenden Sozialversicherungen in diesem Bereich in einer ländlichen Region zu untersuchen. Zentraler Ausgangspunkt war dabei die Armenkrankenpflege als besonders für die gesundheitliche Versorgung kranker Armer vorgesehene Einrichtung. Diese wurde in einem ersten Untersuchungsteil in das Spektrum ländlicher Gesundheitsversorgung eingeordnet, um ihre tatsächliche Bedeutung für die gesundheitliche Versorgung armer Kranker besser beurteilen zu können. Im zweiten Untersuchungsteil standen dann die Bewältigung der Krankheit und ihrer mittelbaren finanziellen Folgen im Zentrum der Untersuchung. In beiden Teilen wurde besonderer Wert darauf gelegt, die Perspektive der betroffenen kranken Armen deutlich werden zu lassen, wozu sich Methoden der Mikrohistorie als hilfreich erwiesen. In beiden Teilen gleichermaßen wurde die Frage nach den (verändernden) Einflüssen und Auswirkungen der neu entstehenden Sozialversicherungen, hier vornehmlich der Krankenversicherung, gestellt. Räumlich konkretisierte sich die Untersuchung in den preußischen Regierungsbezirken Trier und Koblenz anhand der Kreise Bitburg, Wittlich, Bernkastel und Simmern; insbesondere im zweiten Teil wurde sie durch eine lokale Konzentration auf die Bürgermeistereien Bitburg-Land, Zeltingen und Kastellaun ergänzt. Zeitlich erstreckte sich die Studie in ihrem Kern über die Jahre 1880–1930, erweitert durch einige zeitliche Vor- und Nachgriffe vor allem in der Erörterung der Strukturen ländlicher Gesundheitsversorgung. Inwieweit dürfen die hier gewonnenen Ergebnisse nun eine generelle Aussagekraft beanspruchen? Punktuelle Vergleiche mit anderen Regionen haben gezeigt, dass gerade im Bereich der Armenkrankenversorgung regionale Differenzen auftraten. Die vorliegende Studie kann hier vor allem als Bezugspunkt für weitere regionale oder vergleichende Studien fungieren. Hinsichtlich des generellen Verhältnisses der unterschiedlichen Anbieter gesundheitlicher Hilfe im ländlichen Raum zueinander und dem allmählichen Wandel in der Struktur der ländlichen Gesundheitsversorgung erscheint das Untersu-

Schlussbetrachtung

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chungsgebiet ausreichend groß, um den Aussagen mehr als nur lokale Gültigkeit zu verleihen. Der methodische Ansatz, die Untersuchung größerer Strukturen mit mikrohistorisch orientierten Analysen von deren lokaler und individueller Konkretion zu verbinden, erwies sich zwar grundsätzlich als ergiebig, vor allem für die Frage nach der Bewältigung von Krankheit stieß die Untersuchung aber an quellenbedingte Erkenntnisgrenzen. Resultierend aus dem behördlichen Entstehungskontext der Armenunterstützungsanträge erscheinen zwar die Erkenntnisse im Hinblick auf die inneren Abläufe der ärztlichen Armenkrankenpflege gesichert, die Bedeutung anderer Einrichtungen konnte allerdings nur eingeschränkt untersucht werden. Zudem machten sich im zweiten Teil der Studie die lokalen Differenzen stark bemerkbar und schränkten die allgemeine Übertragbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse ein. Insgesamt gesehen beansprucht die vorliegende Arbeit daher keine Vollständigkeit für die Untersuchung der ländlichen Armenkrankenpflege in der untersuchten Region, vermochte es aber sicherlich, das Spektrum von deren Erscheinungsformen aufzuzeigen und exemplarisch zu beleuchten. Im ersten Teil standen die strukturelle Gestalt der ländlichen Gesundheitsversorgung und die Bedeutung der Armenkrankenpflege in derselben im Mittelpunkt. Hier sind folgende wesentlichen Ergebnisse festzuhalten: 1. Die ländliche Gesundheitsversorgung zeichnete sich im untersuchten Zeitraum durch das breite Spektrum des zur Verfügung stehenden Angebots von Hilfen im Krankheitsfall aus. Vergleichsweise gering war über lange Zeit in der Tat der Zugang zu ärztlich-akademischer Medizin. Die gesundheitliche Versorgung der ländlichen Bevölkerung wurde aber in gleichem Maße auch durch Laienheilkundige aller Art, wohltätige Pflegeeinrichtungen konfessioneller Träger oder einfach Nachbarschafts- und Selbsthilfe getragen. Mit den Bezirkshebammen stand zudem ein öffentlich getragenes dichtes Netz von Helferinnen zur Verfügung, die sicherlich von Fall zu Fall ihre Kenntnisse auch über ihre offizielle Erlaubnis hinaus zur Anwendung bringen konnten. 2. Die ländliche Gesundheitsversorgung durchlief in der betrachteten Zeitspanne eine grundlegende Veränderung ihrer Struktur. Diese Entwicklung lässt sich in drei Phasen unterteilen, deren Übergänge aber immer als fließend verstanden werden müssen. In der ersten Phase bis in die Zeit der Jahrhundertwende 1900 entsprach das Bild der Gesundheitsversorgung in weiten Teilen dem des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Die Gesundheitsversorgung beruhte wesentlich auf der Tätigkeit von Laienheilkundigen und konfessionell getragenen Hospitälern. Ärzte waren im ländlichen Raum zwar keine Seltenheit mehr, aber insgesamt nur wenig verbreitet anzutreffen. Versuche, ihre Verbreitung zu fördern, zeigten erst zum Ende des 19. Jahrhunderts hin Wirkung. Die zweite Phase bis zum Beginn der 1920er Jahre war eine Zeit des Übergangs. Neben den Arztniederlassungen – die in der Folge wohl weiter zunahmen – erreichte die ärztlich-akade-

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Schlussbetrachtung

mische Medizin auch in Form von Krankenhäusern endgültig den ländlichen Raum. Den Geltungsanspruch der ärztlich-akademischen Medizin unterstrichen Bemühungen, über Verbesserungen der Transportmöglichkeiten und Ausbildung von ärztlicherseits überwachtem Hilfspersonal wie den Krankenbesucherinnen der Caritas der Bevölkerung die ärztlichen Heilungskonzepte näher zu bringen. Selbsthilfe und die Konsultation von Laienheilern blieben aber nach wie vor verbreitete Möglichkeiten der gesundheitlichen Hilfe. In der dritten Phase ab den 1920er Jahren hatte sich die ärztlich-akademische Medizin im ländlichen Raum etabliert. Ihr Angebot war – auch bedingt durch verkehrstechnische Verbesserungen – praktisch überall zugänglich, in schwierigen Fällen waren auch größere Reisen zu Behandlungen in Universitätskliniken und Heilanstalten nicht mehr unüblich. Laienheilkunde und Selbsthilfepraktiken bestanden zwar noch, begannen jedoch allmählich an Bedeutung zu verlieren. 3. Die ländliche Bevölkerung profitierte von den neuen Erkenntnissen der ärztlichen Medizin vergleichsweise schnell. Sowohl in der Verbreitung der Ärzte als auch in der Errichtung von modernen Krankenhäusern ist eine Verzögerung der Entwicklung im ländlichen Raum gegenüber den städtischen Verhältnissen zu beobachten. Deren Effekt wurde aber dadurch abgemildert, dass gerade junge Ärzte den Weg aufs Land als Ausgangspunkt einer weiteren Karriere nutzten. Waren neue Erkenntnisse der medizinischen Forschung in der akademischen Lehre angekommen, erreichten sie so vergleichsweise rasch auch den ländlichen Raum. Ähnliches galt im Falle der Gründung von Krankenhäusern, bei denen im ländlichen Raum bereits in der Konzeption die fortschreitenden Erfahrungen aus städtischen Kontexten einfließen konnten. 4. Während sich die Bedeutung von laienheilkundlicher und ärztlicher Hilfen in der Behandlung von Krankheiten verschob, blieb die Pflege durchgehend in der Hand konfessioneller Träger. Ihre dominierende Rolle gründete auf einer vergleichsweise guten Ausbildung der Ordensschwestern, die den größten Teil der Pflegekräfte ausmachten, und den kostengünstigen Leistungen, die von den finanziell knapp kalkulierenden Gemeinden gerne in Anspruch genommen wurden. Durch ihr Engagement auch in der Ausbildung nichtkonfessioneller Pfleger und eine zunehmende Professionalisierung ihres eigenen Wirkens vermochten sie ihre führende Stellung in diesem Bereich auch in einer sich wandelnden Gesundheitsversorgung auf dem Land zu halten. Publizistische Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Konfessionen zeigen die Bedeutung der Krankenpflege als Profilierungsinstrument und lassen für die weitere Forschung eine gezielte Untersuchung gemischt-konfessioneller Räume sinnvoll erscheinen. 5. Die formelle Armenkrankenpflege in der Rheinprovinz gründete auf einem Distriktarztsystem in kommunaler Trägerschaft. Obwohl dieses System bereits unter französischer Herrschaft Anfang des 19. Jahrhunderts eingerichtet worden war, erreichte es erst Ende des 19. Jahrhunderts den

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vorgesehenen Ausbauzustand von einem Distriktarzt pro Bürgermeisterei. Das zugrundeliegende Prinzip der festen Besoldung eines Privatarztes für die Übernahme der armenärztlichen Behandlungen sollte eine Niederlassung im ländlichen Raum für Ärzte attraktiver machen, angesichts der vergleichsweise geringen Anteile dieser Zahlungen am ärztlichen Einkommen blieb dieser Effekt jedoch weitgehend aus. Da die Bürgermeistereien zur Anstellung eines Distriktarztes verpflichtet waren, hatte bis in das 20. Jahrhundert hinein praktisch jeder Arzt im ländlichen Raum eine solche Stelle inne, waren Landarzt und Armenarzt lange Zeit identisch. Im Vergleich zu ähnlichen Einrichtungen in Bayern und Nassau war das rheinische Distriktarztwesen im Zusammenspiel von Versorgungsdichte und Hauptaufgabe in der armenärztlichen Leistung das strukturell am deutlichsten auf die Armenklientel ausgerichtete System. 6. Die Kontextualisierung der armenärztlichen Armenkrankenversorgung in der ländlichen Gesundheitsversorgung zeigt, dass die in der Forschung angeführte Unterversorgung ländlicher Armer für die hier untersuchte Region deutlich zu relativieren ist. Neben der Armenkrankenpflege im engeren Sinne der Versorgung durch den Armenarzt galten bei praktisch allen Anbietern von gesundheitlicher Hilfe im ländlichen Raum besondere Regeln der Inanspruchnahme durch Arme. Vertragliche Bestimmungen bei den Bezirkshebammen, karitative Motive wie im Falle der Pflegeorden und Krankenbesucherinnen oder schlichte Hilfsbereitschaft eines dorfansässigen (nichtgewerblichen) Laienheilkundigen eröffneten kranken Armen in der Praxis nicht nur die offizielle Armenkrankenversorgung, sondern die ganze Bandbreite der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. 7. Arme Kranke waren in der gesundheitlichen Versorgung strukturell weder quantitativ noch qualitativ schlechter gestellt als andere Kranke im ländlichen Raum. Quantitativ besaßen sie, bedingt durch die zuvor erwähnten Sonderregelungen, praktisch ähnliche Zugangsmöglichkeiten zum Spektrum der Gesundheitsversorgung wie die übrige Bevölkerung. Qualitativ profitierten sie in besonderem Maße davon, dass die offizielle Armenkrankenversorgung auf den Angeboten der ärztlichen Medizin aufbaute. Auf diese Weise kamen arme Kranke nicht nur vergleichsweise rasch mit deren Fortschritten um die Jahrhundertwende in Berührung (vgl. 3.), die Versorgung war für sie zudem im Prinzip auch noch kostenfrei, wohingegen Privatpatienten den Arzt aus eigener Tasche bezahlen mussten. 8. Eine Diskriminierung der Betroffenen durch die Inanspruchnahme des Armenarztes ist nicht zu erkennen. Da durch die geringe Ärztezahl im ländlichen Raum bis ins 20. Jahrhundert hinein praktisch jeder Privatarzt auch als Armenarzt fungierte und zudem die räumliche Entfernung die Arztwahl auch der Privatpatienten beschränkte, war für eine Abgrenzung kaum Gelegenheit gegeben. Dies änderte sich auch nicht, falls diese weitgehende Identität mit einer Zunahme der Ärzte im ländlichen Raum (die hier nicht untersucht wurde) aufgehoben wurde, da den Armen seit Be-

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Schlussbetrachtung

ginn des Jahrhunderts aus pragmatischen Gründen in zunehmendem Maße das Recht eingeräumt wurde, ihren behandelnden Arzt selbst zu wählen. Der zweite Teil der Untersuchung behandelte vor allem die Frage nach der Bewältigung von Krankheit und Krankheitsfolgen durch die Betroffenen. Bedingt durch die Quellenlage bleiben die Aussagen zur individuellen Bewältigung hier letztlich stark auf das Feld der ärztlich-akademischen Medizin konzentriert. Ebenfalls durch den Entstehungskontext der Unterstützungsanträge bedingt, konnte im Hinblick auf die Bewältigung mittelbarer Folgen hier vornehmlich die finanzielle Dimension in den Blick genommen werden. Einblicke in die sozialen Folgen von Krankheit und deren Bewältigung – etwa im Falle ansteckender oder verunstaltender Erkrankungen – waren nur vereinzelt möglich. Damit musste ein wichtiges Forschungsfeld weiterhin offengelassen werden. Als zentrale Ergebnisse zur Bewältigung von Krankheit durch ländliche Arme im späten und frühen 19. Jahrhundert bleiben festzuhalten: 1. In der Bewältigung von Krankheit war das Handeln ländlicher Armer vor allem durch Pragmatismus geprägt. Ihr wichtigstes Ziel war die möglichst rasche Wiederherstellung des gesundheitlichen Zustandes, den sie selbst als normal empfanden. In den verschiedenen Stadien der Bewältigung der eigentlichen Krankheit – Wahrnehmung, Suche nach Heilwegen, Behandlung – wie auch der Bewältigung der mittelbaren Krankheitsfolgen wogen sie Faktoren wie Zugänglichkeit, Kosten, Erfolgsaussichten der verschiedenen Heilwege gegeneinander ab. Zwar spielte die kostenlose Behandlung durch den Armenarzt sicherlich eine wichtige Rolle in der Entscheidung der Betroffenen, doch zeigen die Quellen, dass dieser Faktor nicht der allein entscheidende war, ebenso erforderlich war ein Mindestmaß an individuellem Zutrauen in den Erfolg dieser Behandlung. Mit der Ausbreitung neuer diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten und den zunehmenden Verbesserungen im Zugang seit der Jahrhundertwende 1900 wuchs auch dieses Zutrauen verbreitet an. Zumindest einige der betroffenen armen Kranken scheinen so engen Kontakt mit dem ärztlich geprägten Heilwesen gehabt zu haben, dass sie in ihren Handlungen auch Abwägungen der Ärzte gegeneinander erkennen lassen. In ihrer pragmatischen Herangehensweise an die Bewältigung ihrer Krankheit zeigten sie ähnliche Handlungsmuster wie bereits in früheren Jahrhunderten. 2. Die zeitgenössisch vieldiskutierte Verbindung von Armut und Krankheit wurde von den Armen selbst fast immer dergestalt gesehen, dass eine Krankheit mittelbar Armut zur Folge hatte. Die Interpretation der Förderung und Entstehung von Krankheitsentstehung durch ärmliche Lebensverhältnisse wurde hingegen kaum formuliert. Auch in dieser Sichtweise lässt sich eine pragmatische, an den sichtbaren und beeinflussbaren Parametern orientierte Bewältigungsstrategie erkennen. Da die betroffenen Armen angesichts der Beurteilungskriterien der Armenverwaltungen

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kaum Aussicht darauf hatten, präventive Unterstützung zu bekommen, konzentrierten sie ihre Darstellung auf die kurzfristigen und deutlich sichtbar werdenden Folgewirkungen von Erkrankungen. 3. Mittelbar waren sowohl die individuelle Belastung der betroffenen Kranken wie auch die Belastung der Armenkassen durch Krankheiten sehr hoch. Die Betroffenen selbst hatten im Rahmen einer Krankheit Ausgaben in Höhe mehrerer Monatseinkünfte zu befürchten, aber auch die Armenverwaltungen mussten einen Großteil der kommunalen Armenausgaben für Krankheitskosten wie Arzthonorare, Krankenhauskosten oder Ausgaben für Arzneimittel aufbringen. Dieser Anteil sank zwar auch unter dem kostendämpfenden Einfluss der Krankenversicherungen zum Ende der 1920er Jahre hin ab, allerdings dürfte diese Verringerung statistisch zu wesentlichen Teilen auf den wachsenden Anteil von arbeitslosen Fürsorgeempfängern zurückzuführen sein. 4. Die kommunalen Armenverwaltungen betrachteten ihre Leistung für die kranken Armen primär unter dem Aspekt der daraus entstehenden finanziellen Belastungen. In der Gewähr von Anträgen vermieden sie langfristige oder unbestimmte Zusagen, im Gegenzug gewährten sie Antragstellern vergleichsweise einfachen Zugang zum örtlichen Armenarzt, war die­se Leistung doch angesichts einer meist pauschalen Besoldung desselben für die Gemeinde nicht mit wesentlichen Zusatzausgaben verbunden. Diese Praxis änderte sich auch kaum durch die Einführung der Sozialversicherungen (s.u.). Daraus resultierende Leistungen für die betroffenen Kranken konnten den Armenverwaltungen sogar als Argument dienen, eigene Zahlungen zu beschränken oder ganz zu verweigern. Einer angemessenen Sorge um das Wohl der eigenen Bürger kamen die Gemeindeverwaltungen im Falle kranker Armer nur unzureichend nach. 5. Der zentrale Gegenstand der Armenunterstützungsanträge war die Bewältigung der mittelbaren, insbesondere finanziellen, Folgen einer Erkrankung. Die Entscheidung über Art und Höhe der finanziellen oder nichtfinanziellen Unterstützungen war dabei Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen den Beteiligten, in dem die betroffenen Armen keineswegs immer die schwächere Position innehatten. Kenntnis der behördlichen Abläufe oder eigene und dritte Erfahrungen aus früheren Antragsverfahren verschafften ihnen Spielräume zur Durchsetzung ihrer Anliegen. Dabei waren eine Identifikation und Nutzung gemeinsamer Interessen mit der Armenverwaltung für eine erfolgreiche Aushandlung von entscheidender Bedeutung. 6. Für eine Untersuchung von Krankheit und Krankheitsbewältigung von Armen erweisen sich die Anträge auf Armenunterstützung als wertvolle, aber schwierig zu nutzende Quelle. Bedingt durch die Fokussierung auf die finanziellen Folgen von Erkrankungen nehmen konkrete Hinweise zur Empfindung und Beschreibung der jeweiligen Krankheit durch die Betroffenen oft nur geringen Raum ein. Die individuelle Wahrnehmung von Krankheit und Kranksein ist daher in dieser Art von Quellenmaterial

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kaum zu erfassen. Hingegen bieten die Äußerungen, gerade in Fällen ausführlicherer Beschreibungen, genügend Material, um Praktiken der Bewältigung des Problems Krankheit zu untersuchen. Im Umgang mit den Schwierigkeiten des Quellenmaterials scheint eine Verbindung von breit angelegter Untersuchung der knappen Hinweise zur Identifikation von Beschreibungs- und Handlungsmustern mit exemplarischen – oder, falls aufgrund der Quellenlage möglich – repräsentativen Einzelfallanalysen umfangreicher überlieferter Fälle die größten Erkenntnismöglichkeiten zu bieten. Generell bieten Armenanträge oder Bittbriefe in ihrem Überlieferungsumfang und ihrer vergleichsweise hohen Authentizität aber einen der wohl unmittelbarsten und vielversprechendsten Zugänge zur Perspektive Armer auf Krankheit und Gesundheit. Als dritte zentrale Fragestellung wurde im Rahmen dieser Untersuchung schließlich auch die Frage nach dem Einfluss der neu entstehenden Sozialversicherungen im ländlichen Raum gestellt. Deren Beantwortung geschah nicht im Rahmen eines spezifischen Untersuchungsteils, sondern wurde innerhalb der beiden erwähnten Teile – gewissermaßen quer zu den anderen Fragestellungen – bearbeitet. Als zentrale Ergebnisse sind hier festzuhalten: 1. Strukturell waren die Krankenversicherungen auch im ländlichen Raum schon deutlich vor der gesetzlichen Regelung in der Reichsversicherungsordnung für die im ländlichen Raum vorherrschenden Berufsgruppen zugänglich. Wesentlich hierfür war die lokale Ausgestaltung der Zugangsbedingungen in den Kassenstatuten. Erkennbar ist in diesen der Trend, die selbstverwalteten Ortskrankenkassen gegenüber den fremdverwalteten Gemeindekrankenkassen attraktiver und offener zu gestalten. Motiv der für die Ausgestaltung verantwortlichen Gemeindeverwaltungen war dabei, gemeindliche Haftungsverpflichtungen für etwaige Kassendefizite in der Gemeindekrankenversicherung mittels einer Risikoverlagerung in die allein beitragsfinanzierten Ortskrankenkassen zu vermeiden. Der von offizieller Seite propagierte, auch gesellschaftlich inkludierende Einbezug gerade armutsbedrohter Schichten spielte in der praktischen Umsetzung keine erkennbare Rolle. 2. Für ländliche Arme des hier untersuchten Raums waren die Krankenversicherungen zwar grundsätzlich zugänglich, brachten aber gegenüber den bestehenden Regelungen nur wenig faktische Verbesserungen. Die armenärztliche Behandlung war bereits zuvor kostenlos gewesen, so dass die Versicherung hier vor allem eine zusätzliche finanzielle Belastung in Form der Beitragszahlungen bedeutete. Zudem sahen die meisten Kassenstatuten über lange Zeit keine Familienversicherungskomponente vor, so dass selbst versicherte Arme die Kosten für die Behandlung ihrer Angehörigen weiterhin selbst tragen mussten. Inwiefern sich in diesen praktischen Zugangsbeschränkungen eine zeitgenössische Debatte um den qualitativen Erhalt der Bevölkerung widerspiegelte, war im Kontext dieser Untersu-

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chung nicht zu erörtern. Ein eventueller Rekurs der Ausgestaltung des Zugangs zu den Sozialversicherungen auf die qualitative Wertschätzung einer Bevölkerungsgruppe wäre aber eine eingehendere Untersuchung wert. Als Folge der erwähnten Beschränkung erreichte die Krankenversicherung in der Breite faktisch wohl erst in den 1920er Jahren auch die untersten Bevölkerungsschichten. 3. Die Armenverwaltungen wurden durch die Krankenversicherungen eher argumentativ als finanziell entlastet. Angesichts der geringen faktischen Verbesserungen für ländliche Arme durch die Krankenversicherungen fiel auch die unmittelbare finanzielle Entlastung der Armenverwaltungen durch die Krankenkassen im ländlichen Raum vergleichsweise gering aus. Allerdings nutzten die Armenverwaltungen eventuelle Kassenleistungen argumentativ, um eigene Zahlungen zu beschränken. Obwohl die Zahlung von Kassenleistungen voraussetzte, dass Betroffene als „krank“ anerkannt war, erklärten die Armenverwaltungen diese in vielen Fällen aufgrund der von Kassenseite geleisteten (Tagegeld-)Zahlungen für nicht bedürftig. 4. Langfristig trug die Sozialversicherung nur verhalten dazu bei, die restriktive Gewährpraxis der kommunalen Armenverwaltungen zu lockern. Die erwähnte ambivalente Ausgestaltung der Kassenstatuten und die argumentative Nutzung der Kassenleistungen zur Verweigerung eigener Leistungen durch die Gemeindeverwaltungen zeigt deutlich, dass der inkludierende Anspruch der Sozialversicherungen von den lokalen Entscheidungsträgern im ländlichen Raum weitestgehend nicht (an-)erkannt oder umgesetzt wurde. In Kontinuität bestehender Genehmigungspraktiken sahen die Gemeindeverwaltungen in den Sozialversicherungen, ähnlich wie in lokalen Armenspenden, einen weiteren Finanztopf, der angezapft werden konnte, um Belastungen des eigenen Etats durch Ausgaben für die armen Bevölkerungsteile der Gemeinde zu umgehen. Kurz- und mittelfristiger Einfluss auf die Armenkrankenpflege ging von der Krankenversicherung allerdings in technischer Hinsicht insofern aus, als dort praktizierte Verfahren der Einzelabrechnung und der freien Arztwahl angesichts ihrer größeren Alltagspraktikabilität vermehrt auch in die Armenkrankenversorgung übernommen wurden. Abschließend möchte ich noch einmal den bereits einleitend erwähnten Aktualitätsbezug der vorliegenden Arbeit aufgreifen. Als eine wesentliche Erkenntnis darf meines Erachtens gelten, dass im Bereich des Gesundheitswesens gesellschaftliche Solidarität immer in besonderem Maße notwendig war. Die restriktiven Gewährpraktiken kommunaler Armenverwaltungen zeigen, dass das Ausmaß dieser Solidarität auch in früheren Zeiten nicht unumstritten war. Einrichtungen wie die kommunal finanzierte Armenkrankenpflege belegen aber zugleich, dass dennoch stets ein Mindestmaß an Solidarität geübt wurde. Aus historischer Perspektive scheinen mir aktuell diskutierte Überlegungen zu einer weitgehenden Privatisierung von Krankheitsrisiken angesichts der trotz

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Schlussbetrachtung

allen medizinischen Erkenntnisfortschritts bestehenden Unberechenbarkeit und relativen Unvorhersehbarkeit von Krankheit dieses Mindestmaß an Solidarität oftmals zu vernachlässigen.

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Verzeichnis

Bestand 441: Regierungsbezirk Koblenz – Nr. 13597: Berichte der Kreisbehörden über Ausbildung und Niederlassung freiwilliger Krankenbesucherinnen, 1900 – Nr. 13675: Jahresgesundheitsberichte der Kreisärzte, 1900 – Nr. 13681: Jahresgesundheitsberichte der Kreisärzte, 1912 – Nr. 13682: Jahresgesundheitsberichte der Kreisärzte, 1913 – Nr. 13750: Berichte der Kreisbehörden über die Verbreitung der Margaretenspende, 1902 – Nr. 28654: Jährliche Gesundheitsberichte, 1920–1932 – Nr. 28659: Jährliche Gesundheitsberichte, 1884–1932 – Nr. 28666: Jährliche Gesundheitsberichte, 1902–1903 – Nr. 29286: Jährliche Gesundheitsberichte, 1930–1936 Bestand 442: Regierungsbezirk Trier – Nr. 3139: Die Gesundheitsverhältnisse und das Medizinalwesen des Regierungsbezirks Trier. Gedruckte Berichte, 1882–1894 – Nr. 3851: Beschwerden gegen praktische Ärzte und Kurpfuscher, 1862–1898 – Nr. 3893: Sanitätsberichte des Regierungsbezirks Trier für 1890, 1890–1891 – Nr. 3894: Sanitätsberichte des Regierungsbezirks Trier für 1891, 1891–1892 – Nr. 3895: Sanitätsberichte des Regierungsbezirks Trier für 1892, 1892–1893 – Nr. 3896: Sanitätsberichte des Regierungsbezirks Trier für 1893, 1893–1894 – Nr. 3897: Sanitätsberichte des Regierungsbezirks Trier für 1894, 1894–1895 – Nr. 3898: Sanitätsberichte des Regierungsbezirks Trier für 1895, 1895–1896 – Nr. 3899: Sanitätsberichte des Regierungsbezirks Trier für 1896, 1896–1897 – Nr. 3901: Sanitätsberichte der Kreise Bernkastel, Bitburg, Daun und Merzig, 1908 – Nr. 3909: Sanitätsberichte des Kreises Bitburg, 1905–1906 – Nr. 3914: Sanitätsberichte des Kreises Wittlich, 1905–1906 Bestand 459: Landratsamt Bitburg – Nr. 615: Zahlung von Versorgungskrankengeld und Übernahme der Kosten für Versorgungsheilbehandlungen, 1924–1937 – Nr. 619: Geschäfts- und Rechnungswesen der Allgemeinen Ortskrankenkasse und der Betriebskrankenkasse Schulte, 1924–1937 – Nr. 620: Bildung eines Vertragsausschusses im Bezirk des Versicherungsamtes Bitburg, 1924–1926 – Nr. 625: Krankenversicherungen, 1924–1937 Bestand 491: Landratsamt Simmern – Nr. 279: Ärztliche Behandlung erkrankter Armer, Generalia, 1824–1914 – Nr. 305: Verhandlungen und Beschlüsse in Armensachen (Einzelfälle), 1888–1912 – Nr. 310: Verhandlungen und Beschlüsse in Armensachen (Einzelfälle), 1889–1913 – Nr. 318: Verhandlungen und Beschlüsse in Armensachen (Einzelfälle), 1890–1913 – Nr. 319: Verhandlungen und Beschlüsse in Armensachen (Einzelfälle), 1890–1913 – Nr. 320: Verhandlungen und Beschlüsse in Armensachen (Einzelfälle), 1889–1914 – Nr. 33: Bildung der Hebammen-Bezirke (, Generalia), 1818–1873 – Nr. 389: Der Unterricht für die Hebammen-Zöglinge und Anstellung der Hebammen, 1814–1914 – Nr. 2313: Anstellung, Besoldung und Dienst der Bezirks-Hebammen, 1914–1918 – Nr. 2582: Kreisärzte Spez, 1914–1937 – Nr. 2583: Kreisärzte, Generalia / Spezialia, 1914–1937 Bestand 655, 14: Bürgermeisterei Kastellaun – Nr. 311: Hilfskassen (verschiedene), 1924–1938

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– Nr. 329: Armenrechtsgesuche, 1830–1925 – Nr. 826: Gewährung von Hilfen für mittellose Kranke, 1844–1925 – Nr. 893: Schwesternniederlassung der Kongregation der armen Dienstmägde Jesu Christi aus dem Mutterhause Dernbach, 1910–1924 – Nr. 898: Niederlassung praktischer Ärzte in der Bürgermeisterei Kastellaun, 1802–1920 – Nr. 926: Ernennung, Besoldung und Dienstführung der Hebamme zu Kastellaun, 1812– 1924 – Nr. 928: Anstellung, Besoldung und Dienstführung des Armen- und Distriktarztes, 1894– 1921 – Nr. 946: Anstellung, Besoldung und Dienstführung des Armen- und Distriktarztes, 1816– 1889 Bestand 655, 123: Bürgermeisterei Zeltingen-Rachtig – Nr. 57: Armenärzte, 1907–1924 – Nr. 202: Nachweisung und Unterstützung der Hebammen, Medizinalpersonen und Sanitätsanstalten, 1839–1896 – Nr. 203: Medizinalpersonen und Medizinalangelegenheiten, 1841–1930 – Nr. 204: Gesundheitswesen, Generalia / Spezialia, 1814–1895 – Nr. 403: Krankenversicherung der Bürgermeisterei Zeltingen, Gemeindekrankenkasse Zeltingen, 1884–1913 – Nr. 404: Ortskrankenkasse Zeltingen, 1906–1912 – Nr. 522: Krankenanstalt Zeltingen, 1886–1933 – Nr. 822: Gewährung von Armenunterstützungen, 1929–1931 – Nr. 889: Hebammen, 1872–1912 – Nr. 903: Hebammen, 1912–1933 – Nr. 965: Gewährung von Armenunterstützungen, 1924–1928 – Nr. 966: Gewährung von Armenunterstützungen, 1931–1932 – Nr. 967: Gewährung von Armenunterstützungen, 1898–1909 – Nr. 971: Gewährung von Armenunterstützungen, 1927–1928 – Nr. 1040: Gewährung von Armenunterstützungen, 1909–1924 Bestand 655, 191: Bürgermeisterei Bitburg-Land – Nr. 171 Gesundheitswesen, 1914–1938 – Nr. 173 Hebammenwesen, 1908–1939 – Nr. 174 Angelegenheiten der Hebammen, 1919–1938 – Nr. 175 Durchführung von Heilverfahren, 1918–1938 – Nr. 402 Arzneiabgaben und Armenärzte, 1922–1930 – Nr. 403 Armenwesen (Spezialia), 1922–1936 – Nr. 405 Ortsarmenverband Dahlem, 1921–1939 – Nr. 407 Ortsarmenverband Fliessem, 1921–1940 – Nr. 409 Ortsarmenverband Idesheim, 1920–1940 – Nr. 411 Ortsarmenverband Matzen, 1921–1937 – Nr. 413 Ortsarmenverband Mötsch, 1921–1938 Kreisarchiv Bernkastel-Wittlich, Wittlich (KAB-W) Altkreis Bernkastel: – Nr. 1.0.29: Landwirtschaftliche Unfallversicherung, 1928 – Nr. 1.0.204: Medizinalpersonen, Krankenanstalten, Krankenbarracken, 1844–1939 Altkreis Wittlich: – Nr. 2.0.147: Verwaltungsberichte Kreis Wittlich, 1924–1953

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– Nr. 2.0.236: Bau des Kreiskrankenhauses, 1899–1925 – Nr. 2.0.343: Beschwerden von Hilfsbedürftigen wegen Gewährung von Armenunterstützung und sonstige Armenangelegenheiten, 1900–1914 – Nr. 2.0.541: Beschwerden von Hilfsbedürftigen wegen Gewährung von Armenunterstützung und sonstige Armenangelegenheiten, 1901–1907 Archiv der Verbandsgemeindeverwaltung Bernkastel-Kues (VGV-BKS) die Beschlussbücher sind nicht mit Signaturen versehen – Beschlussbuch des Gemeinderates Lieser, 1913–1923 – Beschlussbuch des Gemeinderates Lieser, 1930–1949 – Beschlussbuch des Gemeinderates Maring-Noviand, 1885–1905 Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland, Pulheim (ALVR) Bestand APR: Archiv der Provinzialverwaltung der Rheinprovinz – Nr. 3443 Krankenkassenstatute und Ähnliches Bd. 1, 1891–1907 – Nr. 3444 Krankenkassenstatute und Ähnliches Bd. 2, 1891–1907 – Nr. 3578 Kinderspeisung Bernkastel, 1925–1937 – Nr. 3579 Kinderspeisung Bitburg, 1925–1936 – Nr. 4072 Sitzungsprotokolle der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz, 1908–1921 – Nr. 8101 Ärztliches und wundärztliches Personal, Krankenpflege im Landarmenhaus sowie Sanitätsberichte, 1876–1919 Archiv des Atlas für Deutsche Volkskunde, Bonn (AADV) Befragungskarten – Frage Nr. 185 [Besprechungspraktiken] – Frage Nr. 192 [Nachbarschaftshilfe]

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(Hg.): Ritual und Heilung. Eine Einführung in die Ethnomedizin, Berlin, 2., vollst. überarb. und erw. Neuaufl. 1995, S. 163–198. (Blick) Piachaud, David: Wie misst man Armut?, In: Leibfried, Stephan/Voges, Wolfgang (Hg.): Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, Opladen 1992, S. 63–87. (=Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie ; Sonderhefte 32) (Wie misst man Armut?) Pies, Eike: Geschichte der Hunsrücker Knochenflickerfamilie Pies. Feldscherer und Chirurgen, Salbenkocher, Heilpraktiker und Ärzte, Sprockhövel, 3. Aufl. 2001. (Knochenflicker) Porter, Dorothy/Porter, Roy: Patient‘s Progress. Doctors and Doctoring in EigthteenthCentury England, Cambridge 1989. (Progress) Porter, Roy: The Patient‘s View. Doing Medical History From Below, in: Theory and Society 14, 2 (1985), S. 175–198. (Patient‘s View) Porter, Roy (Hg.): Patients and Practitioners: Lay Perceptions of Medicine in Pre-Industrial Society, Cambridge 1985. (Perceptions) Potschka, Georg: Die Kölnische Zeitung, In: Fischer, Hans-Dieter (Hg.): Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts, Pullach 1972, S. 145–158. (Kölnische Zeitung) Probst, Christian: Fahrende Heiler und Heilmittelhändler. Medizin von Marktplatz und Landstrasse, Rosenheim 1992. (=Rosenheimer Raritäten) (Heiler) Prüll, Cay-Rüdiger: No law, no rights? Autopsy in Germany since 1800, In: Woodward, John/Jütte, Robert (Hg.): Coping with sickness. Medicine, law and human rights, Sheffield 2002, S. 29–53. (Autopsy) Ramsey, Matthew: Professional and Popular Medicine in France, 1770–1830, Cambridge 1988. (France) Raphael, Lutz: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193. (Verwissenschaftlichung) Raphael, Lutz: Königsschutz, Armenordnung und Ausweisung – Typen der Herrschaft und Modi der Inklusion und Exklusion von Armen und Fremden im mediterran-europäischen Raum seit der Antike, In: Raphael, Lutz/Gestrich, Andreas (Hg.): Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004, S. 15–34. (Königsschutz) Raphael, Lutz: Ländliche Gesellschaften zwischen lokaler Autonomie und nationalstaatlichem Zugriff – eine Einleitung, In: Dörner, Ruth/Franz, Norbert/Mayr, Christine (Hg.): Lokale Gesellschaften im historischen Vergleich. Europäische Erfahrungen im 19. Jahrhundert, Trier 2001, S. 430. (Gesellschaften) Redder, Ute: Die Entwicklung von der Armenhilfe zur Fürsorge in dem Zeitraum von 1871 bis 1933. Eine Analyse unter Aufgaben-, Ausgaben- und Finanzierungsaspekten am Beispiel der Länder Preußen und Bayern, Bochum 1993. (=Bochumer wirtschaftswissenschaftliche Studien ; 133) (Armenhilfe) Regin, Cornelia: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich 1889 bis 1914, Stuttgart 1995. (=Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beihefte ; 4) (Naturheilbewegung) Reininger, Mathias: Die Anfänge der Landkrankenpflege im Deutschen Caritasverband, In: Manderscheid, Michael/Wollasch, Hans-Josef (Hg.): Die ersten hundert Jahre. Forschungsstand zur Caritas-Geschichte. Dokumentation eines Symposions der Fortbildungs-Akademie des Deutschen Caritasverbandes. Hrsg. im Auftrag des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg i. B. 1998, S. 24–34. (Landkrankenpflege) Reulecke, Jügen: Einleitung. Von der „Hygienisierung“ der Unterschichten zur kommunalen Gesundheitspolitik, In: Reulecke, Jügen (Hg.): Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von „Volksgesundheit“ und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 11–19. (Einleitung) Reulecke, Jügen: Vorgeschichte und Entstehung des Sozialstaats in Deutschland bis ca. 1930. Ein Überblick, In: Kaiser, Jochen-Christoph (Hrsg.)/Benad, Matthias (Hg.): Sozialer gang

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Protestantismus und Sozialstaat. Diakonie und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1890 bis 1938, Stuttgart u.a. 1996, S. 57–71. (Sozialstaat) Reulecke, Jügen/Castell Rüdenhausen, Adelheid Gräfin zu (Hg.): Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von „Volksgesundheit“ und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991. (=Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-SteinGesellschaft, Bd. 3) (Stadt und Gesundheit) Reulecke, Jürgen: Die Stadt als Dienstleistungszentrum. Beiträge zur Geschichte der „Sozialstadt“ in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1995. (Dienstleistungszentrum) Reulecke, Jürgen: Regionalgeschichte heute. Chancen und Grenze regionalgeschichtlicher Betrachtungsweise in der heutigen Geschichtswissenschaft. Bestandsaufnahme und Perspektiven, in: Interregiones H. 7 (1998), S.??? (Regionalgeschichte) Reulecke, Jürgen: Von der Fürsorge über die Vorsorge zur totalen Erfassung. Etappen städtischer Gesundheitspolitik zwischen 1850 und 1939, In: Reulecke, Jürgen (Hg.): Die Stadt als Dienstleistungszentrum. Beiträge zur Geschichte der „Sozialstadt“ in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1995, S. 395–416. (Etappen) Reupke, Hansjörg: Zur Geschichte der Ausübung der Heilkunde durch nichtapprobierte Personen in Hamburg von den Anfängen bis zum Erlass des „Heilpraktikergesetzes“ im Jahre 1939, 16, Herzogenrath 1987. (=Studien zur Medizin-, Kunst- und Literaturgeschichte) (Nichtapprobierte) Rheinheimer, Martin: Armut in Großsolt (Angeln), in: Zeitschrift der Gesellschaft für schleswigholsteinische Geschichte 118 (1992), S. 21–133. (Armut) Rheinheimer, Martin: Jakob Gülich. „Trotzigkeit“ und „ungebührliches Betragen“ eines ländlichen Armen um 1850, In: Rheinheimer, Martin (Hg.): Subjektive Welten. Wahrnehmung und Identität in der Neuzeit, Neumünster 1998, S. 223–252. (=Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins ; 30) ( Jakob Gülich) Riha, Ortrun: „krank und siech“. Zur Geschichte des Krankheitsbegriffs, In: Friedrich, Arnd/Heinrich, Fritz/Vanja, Christina (Hg.): Das Hospital am Beginn der Neuzeit. Soziale Reform in Hessen im Spiegel europäischer Kulturgeschichte, Petersberg 2004, S. 191–201. (Krankheitsbegriff) Risse, Guenter B.: Reflected Experience in Medicine, Science and Technology. The Example of Hospital History, In: Labisch, Alfons (Hg.): Historizität. Erfahrung und Handeln – Geschichte und Medizin; für Werner Friedrich Kümmel, Stuttgart 2004, S. 253–263. (Experience) Ritter, Gerhard A.: Die Entstehung der Sozialversicherung besonders in Deutschland und Großbritannien, In: Köhler, Peter A./Zacher, Hans Friedrich (Hg.): Beiträge zur Geschichte und aktuellen Situation der Sozialversicherung. Colloquium des Max-Planck-Instituts für Ausländisches und Internationales Sozialrecht, Berlin 1983, S. 79–109. (=Schriftenreihe für internationales und vergleichendes Sozialrecht ; 8) (Entstehung) Ritter, Gerhard A.: Die Sozialversicherung in Deutschland 1881–1914. Entstehung, Charakter, Wirkungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 34 (1983), S. 30–38. (Sozialversicherung) Ritter, Gerhard Albert: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München, 2., überarbeitete und erheblich erw. Aufl. 1991. (Sozialstaat) Ritter, Gerhard Albert: Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998. (=Otto von Freising-Vorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt ; 16) (Soziale Frage) Roilo, Christine: „Historiae Morborum“ des Franz von Ottenthal – Ein Zwischenbericht, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 18 (1999), S. 57–80. (Historiae) Romeyk, Horst/Bär, Max: Verwaltungs- und Behördengeschichte der Rheinprovinz 1914– 1945, Düsseldorf 1985. (=Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde ; 63) (Verwaltungsgeschichte)

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Sauerteig, Lutz: Krankheit, Sexualität, Gesellschaft. Geschlechtskrankheiten und Gesundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999. (=Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beihefte ; 12) (Geschlechtskrankheiten) Schaaf, Erwin: Die Epochen des 20. Jahrhunderts, In: Bernkastel-Wittlich, Kreisverwaltung (Hg.): Zeitenwende. Das 20. Jahrhundert im Landkreis Bernkastel-Wittlich, Wittlich 2000, S. 15–256. (Epochen) Schaefer, Leni: Der Caritasverband Wittlich im Wandel von 50 Jahren 1931–1981, In: Bernkastel-Wittlich, Kreis (Hg.): Jahrbuch Bernkastel-Wittlich, Wittlich 1981, S. 28–33. (Caritasverband) Schagen, Udo: Vielfalt gegen Einheit. Der interessierte Blick auf die Sozialversicherung vom Kaiserreich zum Alliierten Kontrollrat, In: Labisch, Alfons (Hg.): Historizität. Erfahrung und Handeln – Geschichte und Medizin; für Werner Friedrich Kümmel, Stuttgart 2004, S. 179– 187. (Vielfalt) Schander, Josef: Entwicklung des Weinbaus im 20. Jahrhundert, In: Bernkastel-Wittlich, Kreisverwaltung (Hg.): Zeitenwende. Das 20. Jahrhundert im Landkreis Bernkastel-Wittlich, Wittlich 2000, S. 266–278. (Weinbau) Schartz, Günter/Schmelzer, Diana: Die Landwirtschaft im Wandel des Jahrhunderts, In: Bernkastel-Wittlich, Kreisverwaltung (Hg.): Zeitenwende. Das 20. Jahrhundert im Landkreis Bernkastel-Wittlich, Wittlich 2000, S. 257–265. (Landwirtschaft) Schäuble, Gerhard: Theorien, Definitionen und Beurteilung der Armut, Berlin 1984. (Theorien) Scherder, Ina: Galway Workhouses in the Nineteenth and Twentieth Centuries. Function and Strategy, In: Gestrich, Andreas/King, Steven/Raphael, Lutz (Hg.): Being Poor in Modern Europe. Historical Perspectives 1800–1940, Bern 2006, S. 181–197. (Workhouses) Scheutz, Martin: Ausgesperrt und gejagt, geduldet und versteckt. Bettlervisitationen im Niederösterreich des 18. Jahrhunderts., 34, St. Pölten 2003. (=Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde) (Ausgesperrt) Schipperges, Heinrich: Motivation und Legitimation ärztlichen Handelns, In: Schipperges, Heinrich/Seidler, Eduard/Unschuld, Paul U. (Hg.): Krankheit, Heilkunst, Heilung, Freiburg/München 1978, S. 447–489. (=Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie) (Motivation) Schleiermacher, Sabine: Umfassende Krankenversicherung für alle? Verfassungsanspruch und Wirklichkeit im Kaiserreich und der Weimarer Republik, In: Stöckel, Sigrid (Hg.): Prävention im 20. Jahrhundert. Historische Grundlagen und aktuelle Entwicklungen in Deutschland, Weinheim u.a. 2002. (Krankenversicherung) Schlich, Thomas: Changing Disease Identities: Cretinism, Politics and Surgery (1844–1892), in: Medical History 38 (1994), S. 421–443. (Changing) Schlumbohm, Jürgen: „Die Schwangeren sind der Lehranstalt halber da“. Das Endbindungshospital der Universität Göttingen, 1751 bis ca. 1830, In: Schlumbohm, Jürgen/Wiesemann, Claudia (Hg.): Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751–1850. Göttingen, Kassel, Braunschweig, Göttingen 2004, S. 31–62. (Lehranstalt) Schlumbohm, Jürgen: Einleitung, In: Duden, Barbara/Schlumbohm, Jürgen/Gélis, Jacques/Veit, Patrick (Hg.): Rituale der Geburt: Eine Kulturgeschichte, München 1998, S. 1–?? (Einleitung) Schlumbohm, Jürgen: Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860, Göttingen 1994. (=Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte ; 110) (Lebensläufe) Schlumbohm, Jürgen: Mikrogeschichte – Makrogeschichte: Zur Eröffnung einer Debatte, In: Schlumbohm, Jürgen (Hg.): Mikrogeschichte – Makrogeschichte: komplementär oder inkommensurabel?, Göttingen 1998, S. 7–32. (=Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft ; 7) (Mikro – Makro) Schlumbohm, Jürgen/Wiesemann, Claudia (Hg.): Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751–1850. Göttingen, Kassel, Braunschweig, Göttingen 2004. (Entstehung)

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Sievers, Kai Detlev: Almosen, Stiftung, Arbeitshaus. Armenfürsorge vom Mittelalter bis zur Moderne., Neumünster 1997. (Almosen) Sievers, Kai Detlev/Zimmermann, Harm-Peer: Das disziplinierte Elend. Zur Geschichte der sozialen Fürsorge in schleswig-holsteinischen Städten 1542–1914, Neumünster 1994. (=Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins ; 30) (Elend) Simon, Michael: Über räumliche Aspekte des Medikalisierungsprozesses in Deutschland, In: Simon, Michael (Hg.): Auf der Suche nach Heil und Heilung. Religiöse Aspekte der medikalen Alltagskultur, Dresden 2001, S. 175–186. (Medikalisierungsprozess) Simon, Michael: „Volksmedizin“ im frühen 20. Jahrhundert. Zum Quellenwert des Atlas der deutschen Volkskunde, Mainz 2003. (Volksmedizin) Sokoll, Thomas: Negotiating a Living. Essex Pauper Letters from London, 1800–1834, In: Sokoll, Thomas/Fontaine, Laurence / Schlumbohm, Jürgen (Hg.): Household Strategies for Survival 1600–2000. Fission, Faction and Cooperation, Cambridge u.a. 2000. (Negotiating) Sokoll, Thomas: Old Age in Poverty. The Record of Essex Pauper Letters, 1780–1834, In: Hitchcock, Timothy/King, Peter/Sharpe, Pamela (Hg.): Chronicling Poverty. The Voices and Strategies of the English Poor, 1640–1840, Basingstoke u.a. 1997, S. 127–154. (Old Age) Sokoll, Thomas: Selbstverständliche Armut. Armenbriefe in England 1750–1834, In: Schulze, Winfried (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Beiträge einer Konferenz über die „Ego-Dokumente“ vom 4.–6. Juni 1992 in der Werner-ReimersStiftung in Bad Homburg, Berlin 1996, S. 227–271. (=Selbstzeugnisse der Neuzeit ; 2) (Armut) Sokoll, Thomas: Writing for relief. Rhetoric in English pauper letters, 1800–1834, In: Gestrich, Andreas/King, Steven/Raphael, Lutz (Hg.): Being Poor in Modern Europe. Historical Perspectives 1800–1940, Bern 2006, S. 91–111. (Writing) Sokoll, Thomas (Hg.): Essex Pauper Letters 1731–1837, Oxford 2001. (=Records of Social and Economic History, New Series ; 30) (Pauper Letters) Souvignier, Britta: Die Würde des Leibes. Heil und Heilung bei Teresa von Avila, Köln u.a. 2001. (=Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte) (Würde) Spree, Reinhard: Anspruch und Wirklichkeit der Krankenhausbehandlung im 19. Jahrhundert, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 19 (2000), S. 143–151. (Anspruch) Spree, Reinhard: Krankenhausentwicklung und Sozialpolitik in Deutschland während des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 260 (1995), S. 75–105. (Krankenhausentwicklung) Spree, Reinhard: Kurpfuscherei-Bekämpfung und ihre sozialen Funktionen während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, In: Labisch, Alfons/Spree, Reinhard (Hg.): Medizinische Deutungsmacht im sozialen Wandel des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Bonn 1989, S. 103–121. (Kurpfuscherei) Spree, Reinhard: Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Zur Sozialgeschichte des Gesundheitsbereichs im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1981. (Ungleichheit) Spree, Reinhard: Vom Armenhaus zur Gesundheitsfabrik. Der Krankenhauspatient in Vergangenheit und Gegenwart, Beitrag zur Tagung Vortrag im Rahmen der medizinhistorischen Reihe des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Studiosaal des Südwestfunks 2001 (12.7.2001). (Armenhaus) Statistisches Bundesamt (Hg.): Statistisches Jahrbuch, Wiesbaden 2004. (Statistisches Jahrbuch 2004) Stazic, Tamara: Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenunterstützung im Raum Trier 1919–1930, Magisterarbeit Universität Trier 2003. (Arbeitslosigkeit) Steger, Florian/Jankrift, Kay Peter (Hg.): Gesundheit – Krankheit. Kulturtransfer medizinischen Wissens von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit, Köln 2004. (=Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte ; 55) (Arbeitslosigkeit) Steinbeck, Norbert: Die landwirtschaftlichen Berufskorporationen und die Entwicklung des ländlichen Versicherungswesens im spätwilhelminischen Preußen, in: Archiv für Sozialgeschichte 36 (1996), S. 111–126. (Berufskorporationen)

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Steiner, Kilian: Grenzen und Potentiale einer frühen Krankenversicherung am Beispiel der Ersten Münchner Krankenhausversicherung 1813–1832, In: Labisch, Alfons/Spree, Reinhard (Hg.): Krankenhaus-Report 19. Jahrhundert. Krankenhausträger, Krankenhausfinanzierung, Krankenhauspatienten, Frankfurt a.M. 2001, S. 69–94. (Grenzen) Stenzel, Oliver: Medikale Differenzierung. Der Konflikt zwischen akademischer Medizin und Laienheilkunde im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2005. (Differenzierung) Stöckel, Sigrid: Gesundheitsfürsorge. Von der Armenpflege zur Profession, In: Stöckel, Sigrid/Walter, Ulla (Hg.): Prävention im 20. Jahrhundert. Historische Grundlagen und aktuelle Entwicklungen in Deutschland, Weinheim u.a. 2002, S. 65–77. (Gesundheitsfürsorge) Stöckel, Sigrid: Säuglingsfürsorge zwischen sozialer Hygiene und Eugenik. Das Beispiel Berlins im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Berlin/New York 1996. (Säuglingsfürsorge) Stokes, Patricia R.: Purchasing Comfort. Patent Remedies and the Alleviation of Labor Pain in Germany between 1914 and 1933, In: Betts, Paul/Eghigian, Greg (Hg.): Pain and Prosperity. Reconsidering Twentieth-Century German History, Stanford 2003, S. 61–87. (Purchasing) Stolberg, Michael: Ärzte und ländliche Patienten – soziologisch-historische Aspekte einer schwierigen Beziehung, in: Die Medizinische Welt 43 (1992), S. 529–533. (Ländliche Patienten) Stolberg, Michael: Die wunderbare Heilkraft von Abführmitteln. Erfolg und Scheitern vormoderner Krankheitsbehandlung aus der Patientensicht, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 22 (2003), S. 167–177. (Abführmittel) Stolberg, Michael: Health Care Provision and Poor Relief in the Electorate and Kingdom of Bavaria, In: Grell, Ole Peter/Cunningham, Andrew/Jütte, Robert (Hg.): Health Care and Poor Relief in 18th and 19th Century Northern Europe, Aldershot u.a. 2002, S. 112–135. (Health Care) Stolberg, Michael: Heilkundige. Professionalisierung und Medikalisierung, In: Paul, Norbert/Schlich, Thomas (Hg.): Medizingeschichte. Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt/ New York 1998, S. 69–86. (Heilkundige) Stolberg, Michael: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2003. (Homo patiens) Stolberg, Michael: Homöopathie und Klerus. Zur Geschichte einer besonderen Beziehung, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 17 (1998), S. 131–148. (Homöopathie) Stolberg, Michael: Körpergeschichte und Medizinhistoriographie, In: Bröer, Ralf (Hg.): Eine Wissenschaft emanzipiert sich. Die Medizinhistoriographie von der Aufklärung bis zur Postmoderne, Pfaffenweiler 1999, S. 85–96. (=Neue Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 9) (Körpergeschichte) Stolberg, Michael: Patientenschaft und Krankheitsspektrum in ländlichen Arztpraxen des 19. Jahrhunderts, in: Medizinhistorisches Journal 28 (1993), S. 33–53. (Patientenschaft) Stolberg, Michael: Probleme und Perspektiven einer Geschichte der „Volksmedizin“, In: Schnalke, Thomas/Wiesemann, Claudia (Hg.): Die Grenzen des Anderen. Medizingeschichte aus postmoderner Perspektive, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 49–73. (Probleme) Stolberg, Michael: „Volksfromme“ Heilpraktiken und medikale Alltagskultur im Bayern des 19. Jahrhunderts, In: Simon, Michael (Hg.): Auf der Suche nach Heil und Heilung. Religiöse Aspekte der medikalen Alltagskultur, Dresden 2001, S. 155–173. (Heilpraktiken) Stollberg, Gunnar: Aspekte einer Geschichte von Public-Health-Konzeptionen in Deutschland, In: Schaeffer, Doris/Moers/Rosenbrock, Rolf (Hg.): Public Health und Pflege, Berlin 1994, S. 29–42. (Aspekte) Stollberg, Gunnar: Health and Illness in German Worker‘s Autobiographies from the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Social History of Medicine 6, 2 (1993), S. 261–276. (Health)

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Stollberg, Gunnar/Tamm, Ingo: Die Binnendifferenzierung in deutschen Krankenhäusern bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 2001. (=Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beihefte ; 17) (Binnendifferenzierung) Stollenwerk, Alexander: Von Ärzten und Krankheiten im alten Boppard, Boppard am Rhein 1967. (=Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Landesgeschichte und Volkskunde im Regierungsbezirk Koblenz 7) (Boppard) Stolt, Erich/Vesper, Ernst Albert: Die Ersatzkassen der Krankenversicherung. Geschichte, Gestalt, Recht, Bonn 1973. (Ersatzkassen) Strauss, Anselm L.: Grundlagen qualitativer Sozialforschung: Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen und soziologischen Forschung, München 1994. (Grundlagen) Strübing, Jörg: Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung, Wiesbaden 2004. (=Qualitative Sozialforschung) (Grounded Theory) Studener, Hans: Der Königlich Preußische Distriktsarzt Jakob Pies (1813–1890) Wundarzt I. Klasse und Geburtshelfer aus Oberwesel in Langenlonsheim. Zur Ausbildung und Tätigkeit der letzten Wundärzte in Preußen, Mainz 2000. (Distriktarzt) Taddei, Elena: Franz von Ottenthal – Landarzt, Gerichtsarzt, Landtagsabgeordneter, In: Alsheimer, Rainer/Weibezahn, Roland (Hg.): Körperlichkeit und Kultur 2004. Interdisziplinäre Medikalkulturforschung. Dokumentation des 7. Arbeitstreffens des „Netzwerk Gesundheit und Kultur in der volkskundlichen Forschung“, Würzburg 31. März–2. April 2004, Bremen 2005, S. 191–201. (=Volkskunde und Historische Anthropologie, Bd. 10) (Ottenthal) Tamm, Ingo: Ärzte und gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland und England 1880– 1914, Berlin 1998. (Krankenversicherung) Tamm, Ingo: Ärzte und gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland und England vor dem Ersten Weltkrieg, In: Woelk, Wolfgang/Vögele, Jörg (Hg.): Stadt, Krankheit und Tod. Geschichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der epidemiologischen Transition (vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert). Berlin 2000, S. 457–474. (Ärzte) Tanner, Jakob: Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890–1950, Zürich 1999. (Fabrikmahlzeit) Tauchnitz, Thomas: Krankenkassen – Zwang oder Segen? Organisationsgeschichte des deutschen Krankenkassenwesens im „langen“ 19. Jahrhundert, Opladen 1999. (Zwang) Taylor, James Stephen: Voices in the Crowd: The Kirkby Lonsdale Township Letters, 1809– 36, In: Hitchcock, Timothy/King, Peter/Sharpe, Pamela (Hg.): Chronicling Poverty. The Voices and Strategies of the English Poor, 1640–1840, Basingstoke u.a. 1997, S. 109–126. (Voices) Teichler, Jens-Uwe: „Der Charlatan strebt nicht nach Wahrheit, er verlangt nur nach Geld“. Zur Auseinandersetzung zwischen naturwissenschaftlicher Medizin und Laienmedizin im deutschen Kaiserreich am Beispiel von Hypnotismus und Heilmagnetismus, Stuttgart 2002. (Charlatan) Tennstedt, Florian: Der Ausbau der Sozialversicherung in Deutschland 1890 bis 1945, In: Pohl, Hans (Hg.): Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1991, S. 225–244. (=Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte ; 95) (Ausbau) Tennstedt, Florian: Die Selbstverwaltung der Krankenkassen im deutschen Kaiserreich, in: Bürokratisierung und Professionalisierung der Sozialpolitik in Europa (1870–1918) (1993), S. 83–100. (Selbstverwaltung) Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte der Sozialversicherung, In: Blohmke, Maria (Hg.): Handbuch der Sozialmedizin, 3, Stuttgart 1976, S. 385–492. (Sozialgeschichte) Thomann, Klaus-Dieter: Das behinderte Kind. „Krüppelfürsorge“ und Orthopädie in Deutschland 1186–1920, Stuttgart u.a. 1995. (Krüppelfürsorge) Thomann, Klaus-Dieter/Rauschmann, Michael: Von der railway spine zum Schleudertrauma: Zur Historizität psychoreaktiver Störungen nach traumatischen Ereignissen, In:

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Labisch, Alfons (Hg.): Historizität. Erfahrung und Handeln – Geschichte und Medizin; für Werner Friedrich Kümmel, Stuttgart 2004, S. 153–169. (Railway) Thoms, Ulrike: Anstaltskost im Rationalisierungsprozeß: die Ernährung in Krankenhäusern und Gefängnissen im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2005. (=Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beihefte ; 23) (Anstaltskost) Thümmler, Andrea: Rekonstruktion des Alltags eines thüringischen Arztes im 18. Jahrhundert anhand seines Praxistagebuhs 1750–1763, Berlin 2004. (Alltag) Többen, Klaus: Die Gesundheitsverhältnisse der Bevölkerung auf dem Hunsrück vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Stadt Kastellaun 1568–1798, Dommershausen 1995. (=Schriftenreihe der Familienstiftung Pies-Archiv, Forschungszentrum Vorderhunsrück e.V. ; 17) (Gesundheitsverhältnisse) Trossbach, Werner: Von der Dorfgeschichte zur Mikrohistorie: Transformationen in der Historik „kleinster Teilchen“, In: Brakensiek, Stefan/Flügel, Axel (Hg.): Regionalgeschichte in Europa. Methoden und Erträge der Forschung zum 16. bis 19. Jahrhundert, Paderborn 2000, S. 171–195. (=Forschungen zur Regionalgeschichte ; 34) (Dorfgeschichte) Ulbrich, Claudia: Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von EgoDokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, In: Schulze, Winfried (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Beiträge einer Konferenz über die „Ego-Dokumente“ vom 4.–6. Juni 1992 in der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg, Berlin 1996, S. 207–226. (=Selbstzeugnisse der Neuzeit ; 2) (Zeuginnen) Ulbricht, Otto: Die Welt eines Bettlers um 1775. Johann Gottfried Kästner, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 371–398. (Welt) Ulbricht, Otto: Mikrogeschichte – Versuch einer Darstellung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994), S. 347–367. (Mikrogeschichte) Ullmann, Hans Peter: Industrielle Interessen und die Entstehung der deutschen Sozialversicherung 1880–1889, in: HZ 229, 2 (1979), S. 575–610. (Interessen) Unschuld, Paul U.: Professionalisierung und ihre Folgen, In: Schipperges, Heinrich/Seidler, Eduard/Unschuld, Paul U. (Hg.): Krankheit, Heilkunst, Heilung, Freiburg/München 1978, S. 517–555. (=Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie) (Professionalisierung) Unterkircher, Alois: Die Praxis des Südtiroler Landarztes Franz von Ottenthal. Krankheitsspektrum und Gesundheitsverhalten seiner Patientenschaft um 1860, In: Alsheimer, Rainer/Weibezahn, Roland (Hg.): Körperlichkeit und Kultur 2004. Interdisziplinäre Medikalkulturforschung. Dokumentation des 7. Arbeitstreffens des „Netzwerk Gesundheit und Kultur in der volkskundlichen Forschung“, Würzburg 31. März–2. April 2004, Bremen 2005, S. 215–237. (=Volkskunde und Historische Anthropologie, Bd. 10) (Praxis) Unterkircher, Alois: „Tyroler! lasset eure Kinder impfen“. Sterblichkeitsverhältnisse und frühe Seuchenprophylaxe in Tirol am Beispiel der Pocken im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Region / Storia e Regione 14, 1 (2005), S. 42–69. (Pocken) Vanja, Christina: Arm und krank. Patientenbiographien im Spiegel frühneuzeitlicher Bittschriften, in: BIOS 19, 1 (2006), S. 26–35. (Bittschriften) Vanja, Christina: Homo miserabilis. Das Problem des Arbeitskraftverlustes in der armen Bevölkerung der Frühen Neuzeit, In: Münch, Paul (Hg.): „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, München 2001, S. 193–207. (=Historische Zeitschrift. Beihefte (Neue Folge) ; 31) (Homo) Vieler, Ingrid: Die deutsche Arztpraxis im 19. Jahrhundert, Mainz 1958. (Arztpraxis) Vögele, Jörg: Gesundheitspolitik in Stadt und Region. Zu einigen neueren Darstellungen, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 32, 3 (1996), S. 394–398. (Gesundheitspolitik) Vögele, Jörg: Sanitäre Reformen und der Sterblichkeitsrückgang in deutschen Städten, 1877–1913, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 80, 3 (1993), S. 345–365. (Reformen)

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Vögele, Jörg: Urban Mortality Change in England and Germany 1870–1913, Liverpool 1998. (=Liverpool studies in European population ; 5) (Mortality) Vögele, Jörg/Woelk, Wolfgang/Schürmann, Bärbel: Städtisches Armenwesen, Krankenkassen und Krankenhauspatienten während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Düsseldorf, In: Labisch, Alfons/Spree, Reinhard (Hg.): Krankenhaus-Report 19. Jahrhundert. Krankenhausträger, Krankenhausfinanzierung, Krankenhauspatienten, Frankfurt a.M. 2001, S. 405–426. (Armenwesen) Vogl-Bienek, Ludwig Maria: ‚From life‘. The use of the magic lantern in nineteenth-century social work, In: Gestrich, Andreas/King, Steven/Raphael, Lutz (Hg.): Being Poor in Modern Europe. Historical Perspectives 1800–1940, Bern 2006, S. 467–484. (Lantern) Voigt, Jürgen: Tuberkulose. Geschichte einer Krankheit, Köln 1994. (Tuberkulose) Völker, Michael: Alltag und Lebenszyklus in Bayrisch-Schwaben. Rekonstruktion ländlichen Lebens nach Physikatsberichten der Landgerichtsärzte aus den Jahren 1858–1861, München 1991. (Lebenszyklus) Wacker, Reinhold: Das Land an Mosel und Saar mit Eifel und Hunsrück. Strukturen und Entwicklungen, 1815–1990, Trier 1991. (Land) Wagner, Bernd: Armut, Krankheit und das Gesundheitswesen im vorindustriellen Bielefeld, in: Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 77 (1989), S. 71. (Armut) Wagner, Bernd: „Um die Leiden der Menschen zu lindern, bedarf es nicht eitler Pracht“. Zur Finanzierung der Krankenhauspflege in Preußen, In: Labisch, Alfons/Spree, Reinhard (Hg.): Krankenhaus-Report 19. Jahrhundert. Krankenhausträger, Krankenhausfinanzierung, Krankenhauspatienten, Frankfurt a.M. 2001, S. 41–68. (Finanzierung) Wagner, Reinhold: Der „Schinkenflicker“ von Neuerburg, in: Jahrbuch für den Kreis Bernkastel-Wittlich 20 (1996), S. 101–102. (Schinkenflicker) Wagner, Willi/Schellack, Gustav: 650 Jahre Stadt Simmern im Hunsrück, 1980. (Simmern) Weber-Grupe, Silvia: Krankheit, Heilung und öffentliche Gesundheitspflege im ehemaligen Herzogtum Nassau nach der Annexion durch Preußen (1866–1885), Berlin 2005. (Gesundheitspflege) Weindling, Paul: Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism 1870–1945, Cambridge u.a. 1989. (Health) Weindling, Paul: Hygienepolitik als sozialintegrative Strategie im späten Deutschen Kaiserreich, In: Labisch, Alfons/Spree, Reinhard (Hg.): Medizinische Deutungsmacht im sozialen Wandel des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Bonn 1989, S. 37–55. (Hygienepolitik) Weinmann, Klaus: Über 90 Jahre Krankenhaus in Traben-Trarbach, in: Jahrbuch für den Kreis Bernkastel-Wittlich (1994), S. 56–62. (Krankenhaus) Wiesemann, Claudia: Vorbemerkungen zu einer Medizingeschichte aus postmoderner Perspektive, In: Schnalke, Thomas/Wiesemann, Claudia (Hg.): Die Grenzen des Anderen. Medizingeschichte aus postmoderner Perspektive, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 9–24. (Vorbemerkungen) Wilke, Gerhard: Die Sünden der Väter. Bedeutung und Wandel von Gesundheit und Krankheit im Dorfalltag, In: Labisch, Alfons/Spree, Reinhard (Hg.): Medizinische Deutungsmacht im Wandel, Bonn 1989, S. 123–140. (Sünden) Williams, Samantha: Practitioners‘ Income and Provision for the Poor. Parish Doctors in the Late Eignteenth and Early Nineteenth Century, in: Social History of Medicine 18, 2 (2005), S. 159–186. (Income) Witzler, Beate: Großstadt und Hygiene. Kommunale Gesundheitspolitik in der Epoche der Urbanisierung, Stuttgart 1995. (=Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beihefte ; 5) (Großstadt) Woelk, Wolfgang (Hg.): Von der Säuglingsfürsorge zur Wohlfahrtspflege. Gesundheitsfürsorge im rheinisch-westfälischen Industriegebiet am Beispiel des Vereins für Säuglingsfürsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf, Berlin 2000. (=Stadt, Krankheit und Tod. Ge-

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schichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der epidemiologischen Transition (vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert)) (Gesundheitsfürsorge) Woelk, Wolfgang/Vögele, Jörg (Hg.): Stadt, Krankheit und Tod. Geschichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der epidemiologischen Transition (vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert). Berlin 2000. (=Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 62) (Stadt) Wolff, Eberhard: Einschneidende Maßnahmen. Pockenschutzimpfung und traditionale Gesellschaft im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1998. (=Medizin, Gesellschaft und Geschichte) (Pockenschutzimpfung) Wolff, Eberhard: Gesundheitsverein und Medikalisierungsprozeß. Der homöopathische Verein Heidenheim/Brenz zwischen 1886 und 1945, Tübingen 1989. (Gesundheitsverein) Wolff, Eberhard: Mehr als nur materielle Interessen: Die organisierte Ärzteschaft im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik 1914–1933, In: Jütte, Robert (Hg.): Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1997, S. 97–142. (Ärzteschaft) Wolff, Eberhard: Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung, In: Paul, Norbert/ Schlich, Thomas (Hg.): Medizingeschichte. Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt/New York 1998, S. 311–334. (Perspektiven) Wollasch, Andreas: Tendenzen und Probleme gegenwärtiger historischer Wohlfahrtsforschung in Deutschland, in: Westfälische Forschungen 43 (1993), S. 1–25. (Tendenzen) Wollasch, Andreas: Wohlfahrt und Region. Beiträge zur historischen Rekonstruktion des Wohlfahrtsstaates in westfälischer und vergleichender Perspektive, Münster, 1. Aufl. 1995. (=Forum Regionalgeschichte ; 5) (Wohlfahrt und Region) Wollasch, Andreas: Wohlfahrtsgeschichte in regionaler und interreginal vergleichender Sicht – eine Einführung, In: Wollasch, Andreas/Westfälisches Institut für Regionalgeschichte (Hg.): Wohlfahrtspflege in der Region. Westfalen-Lippe während des 19. und 20. Jahrhunderts im historischen Vergleich, Paderborn 1997, S. 322. (Wohlfahrtspflege) Wollasch, Andreas/Regionalgeschichte, Westfälisches Institut für (Hg.): Wohlfahrtspflege in der Region. Westfalen-Lippe während des 19. und 20. Jahrhunderts im historischen Vergleich, Paderborn 1997. (=Forschungen zur Regionalgeschichte ; 22) (Region) Woodward, John/Jütte, Robert (Hg.): Coping with sickness. Historical aspects of health care in a European perspective, Sheffield 1995. (=History of medicine, health and disease series, Bd. 1) (Coping 1) Woodward, John/Jütte, Robert (Hg.): Coping with sickness. Medicine, law and human rights, Sheffield 2002. (=History of medicine, health and disease series, Bd. 3) (Coping 3) Woodward, John/Jütte, Robert (Hg.): Coping with sickness. Perspectives on health care, past and present, Sheffield 1996. (=History of medicine, health and disease series, Bd. 2) (Coping 2) Zemon-Davis, Natalie: The Shapes of Social History, in: Storia della Storiografia 17 (1990), S. 28–34. (Social-History) Zender, Matthias: Das Dorf im Umbruch der Zeit. Bemerkungen zu einer repräsentativen Dorfuntersuchung, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 21, 1,4 (1956), S. 160–181. (Dorf) Zender, Matthias: „Verbeten“ in unserer Zeit, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 18 (1953), S. 83–87. (Verbeten) Zender, Matthias: Wandlungen im Bauerntum der Westeifel, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 4, 1,2 (1934), S. 48–72. (Wandlungen) Zissel, Ines: „…daß der Begriff der Armuth in jeder Gemeinde ein anderer ist“. Dörfliche Armenversorgung im 19. Jahrhundert, In: Franz, Norbert/Grewe, Bernd-Stefan/ Knauff, Michael (Hg.): Landgemeinden im Übergang zum modernen Staat. Vergleichende Mikrostudien im linksrheinischen Raum, Mainz 1999, S. 217–247. (=Trierer Historische Forschungen ; 36) (Armenversorgung)

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Zissel, Ines: Öffentliche Armenversorgung in den Landgemeinden des Hunsrücks 1814–1870 am Beispiel der Gemeinde Gemünden, Staatsexamensarbeit Universität Trier 1997. (Gemünden) Zorn, Wolfgang: Medizinische Volkskunde als sozialgeschichtliche Quelle. Die bayerische Bezirksärzte-Landesbeschreibung von 1860/62, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 69, 2 (1982), S. 219–231. (Volkskunde)

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Anhang

Register Alkoholkonsum 192, 252, 278, 306 Alltagsgeschichte 31 Alphabetisierung 241, 245–246 Alter 250–252, 265–266, 270, 290, 321, 325, 371 Altenheim 183–184 Apotheke 116, 119, 131, 246, 280, 338, 340, 361 Arbeitsfähigkeit 21, 24, 252–253, 257, 270, 347, 359, 365, 370, 377, 380 Arbeitslosenversicherung 49, 334, 337 Arbeitslosigkeit 24, 40, 49, 321, 345, 371 Arme Dienstmägde Jesu Christi, Dernbach 157, 159, 173–174 Armenarzt 42, 45, 64, 77–78, 72–88, 136– 140, 199, 215, 234, 245, 266, 274, 281– 286, 299–300, 306, 332, 338, 340, 347–361, 366, 368, 378, 387–388, 393– 395 Armenarztvertrag 37, 67–86, 88, 135–136, 234, 299 Armenarztwesen –> Distriktarztsystem Armenspeisung 269 Armutsdefinitionen 18–21 Armutsursachen 15, 16, 21–23, 252, 387, 390 Arztwahl 135, 140, 68, 184, 194, 198–201, 203, 210, 215, 230, 234, 330, 361–362, 366–367, 387, 393, 397 Bedürftigkeit 20–21, 101, 134, 217–218, 269, 345, 347–348, 355–357, 362–365, 388, 397 Bedürftigkeitsprüfung 231, 339 Besitzstruktur 53–59, 329 Besprechung, religiös-magische 221–238, 369, 389 Betteln 370, 264 Bezirksfürsorgeverband 214, 217, 323, 342, 364 Bezirkshebamme 62, 99–115, 140–143, 215–218, 230, 391 Bezirkshebammenwesen 38, 99–115, 127, 134–144, 215–218, 233, 391, 393 Bezirksfürsorgeverband 214, 217, 323, 342, 363–364 Caritas-Besucherin –> Krankenbesucherin Caritasverband 161, 167, 182, 209 Dentisten –> Zahntechniker Distriktarzt –> Armenarzt

Distriktarztsystem 39, 62, 64, 72, 76–80, 85, 98, 110–111, 114, 135, 140, 230, 233–235, 286, 330, 361–362, 367, 389, 392–393 Economy of welfare/makeshifts 60, 108, 197, 218, 233 Eifelfonds 54 Einkommen Ärzte 72, 75, 79–86, 97–98, 135–140, 235 Hebammen 100, 103–106, 114–115, 141–142 Laienheilkundige 132–133 Arme 108, 197, 319, 325–330, 345–349, 365, 378 Ernährung 265–272, 307–310, 321, 384 Erster Weltkrieg 29, 54, 76, 137, 156, 212– 214, 227–228, 230, 267, 305 Funktionsstellen 72, 80–86, 88, 96–98, 135 Franziskanerinnen, Waldbreitbach 157, 172–174 Frauenarbeit 108 Gemeindekrankenversicherung 188–197, 200, 203–207, 210, 231, 332, 396 Gemeinderat 214, 253, 299, 323, 331, 345– 348, 351–354, 358, 371, 373–380 Gesetz über den Unterstützungswohnsitz 347 Gesinde 239, 325 Gesundheitsfürsorge 50, 71, 213, 269, 362 Grounded Theory 36 Hausbesuch 68, 98, 286, 298–303, 316 Hebamme –> Bezirkshebamme Hebammenlehranstalt 101–102 Heilmittel 24, 127–128, 278, 306, 313–314, 324, 339, 354 Hospital 47, 172–185, 230, 310–313 Hunger 265–269 Hygiene 175, 179, 310, 385 Inklusion 24–25, 231, 388 Invalidenversicherung 25, 207–208, 330– 331, 346, 364 Jugend 214, 224 Kinder 172, 174, 177, 259–260, 264, 308, 331, 365 Kinderspeisungen 267–269, 308, 341 „Knochenflicker“ 115–134, 144, 219–220, 228, 276, 278, 283 Kongregation 156–158

Register Konsultation 68, 76, 82, 88, 91, 98, 123, 192, 222–223, 234, 244–245, 249, 255– 256, 277–282, 284, 286–287, 295–303, 316, 330, 334, 359, 368–369, 385–387, 392 Krankenbesucherin 38, 146–156, 161–162, 167, 231–232, 391–393 Krankenhaus 32, 43, 47–48, 70, 78, 149, 151, 158, 161–162, 166, 168, 170–186, 198, 208–211, 230–232, 268, 274, 280, 282, 288–292, 308–312, 319, 321–342, 353–357, 361–365, 369–370, 376–380, 385–386, 391, 395 Krankenkosten 279–281, 319–346, 353– 356, 372–383 Krankenpflege 146–167, 172–179, 183–185, 208–209, 230–232, 253, 263, 277, 282, 310–312, 317, 322–325, 330, 336–342, 371–372, 377–378, 386, 390–393 Krankentransport 23, 165–170, 178, 226, 286, 291, 300–302, 340, 392, 436– 443 Krankenversicherung 5, 15–17, 25, 29, 39– 40, 49, 62–63, 133, 143, 175, 187–213, 229–234, 319, 328–335, 344–347, 361– 363, 367–369, 379, 386–390, 395–397 –> Ortkrankenkasse, Gemeindekrankenver­ sicherung, Landkrankenkasse, Unfallversicherung Krankheitsbeschreibungen 247–261, 315– 319, 372–383 Krankheitsdefinitionen 21–23 Krankheitsursache 258–273 Kreisarzt 65–99, 118, 120, 122, 131, 144, 152, 166, 285, 351 Kriegsbeschädigte 381 Kur 288–291, 308, 362 „Kurpfuscher“ 115–133, 144–145, 149, 152– 153, 218–222, 276, 296–297, 305, 315 Laienheilkunde –> Heilmittel –> Konsultation Laienheilkundige 115–134, 144–145, 218– 228 Landarmenhaus 185,377–378 Landarmenverband 29 Landesversicherungsanstalt für die Rheinprovinz 178, 188, 207–210, 215, 291, 342, 377 Landkrankenkasse 202–207 „Margarethenspende“ 165–168, 230

435

Medikalisierung 30, 43–44, 211, 231, 389 Medikamente 71, 116, 127–132, 191, 259, 286–287, 303–307, 317, 324–325, 338– 339, 349, 356, 378 –> Heilmittel Mikrogeschichte 31–35, 390–391 Nachbarschaftshilfe 209, 221–230, 277, 284–286, 391 Operation 127, 159, 178, 256, 264, 273, 275, 278, 285, 289, 310–312, 317, 322– 323, 330, 334–335, 340–342, 362–363, 386 Ortskrankenkasse 188, 191, 193–207, 210, 231, 328–329, 342, 346, 361, 363, 379, 388, 396 Ortsarmenverband 29, 233, 307, 339, 347 Pauper Letters 37, 50–51, 238–246, 254 Psychische Krankheiten 29, 254 Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht 214 Reichsversicherungsordnung 197, 200, 202–207, 219, 231, 361, 396 Rente 208, 330, 345–346, 364, 365, 377 Rückzahlungen 108, 364 Sanitätskolonnen 168–170, 301, 313 Sozialstaat 15, 17, 27–28, 201, 232, 332 Sozialversicherung 18, 25, 27–30, 40, 49, 62, 143, 175, 180, 187–188, 202, 211, 213, 217, 231–232, 237–238, 319, 328– 335, 342–347, 362–363, 370, 377, 386, 389–390, 395–397 Sprechstunde 186, 276, 282, 297–303, 316, 385 Statistik über die öffentliche Armenpflege (1885) 15, 21, 252 Stiftungen 173, 189, 186 Tagelohn 58, 189–190, 197, 231, 265, 275, 326 Tuberkulose 43, 69, 164, 181, 209, 214, 262, 294, 313, 324 Unfallversicherung 175, 187, 207–210, 329, 346, 386 Unterstützungsbedürftigkeit –> Bedürftigkeit Unterstützungswohnsitz 29, 347 Unterstützungswürdigkeit –> Würdigkeit Vereine 146, 168–169, 221, 326, 343 Versicherungsbeitrag 143, 187–212, 333, 346, 364, 369, 386, 396 Wallfahrt 292–294 Winzerfürsorge 382

436

Anhang

Wohnverhältnisse 260, 262–263, 381, 385 Würdigkeit 20–21, 108, 192, 214, 345, 370– 372, 376, 387–388

Zahnärzte 145, 302 Zahntechniker 145, 219, 221, 302

Kreis Bernkastel 1880 1893 1908

Kreis Wittlich 1880 1893 1905

780,63

2,57

1,35

0,77

3

3

Kreisfläche in qkm

Ärzte auf 10.000 Einwohner

Ärzte auf 100 qkm Kreisfläche

Belegte Ärzte in Stadtgemeinden

Belegte Ärzte in Landgemeinden 5

6

1,41

2,47

6

3

1,35

2,01

8

4

1,79

2,75

641,88

10

9

6

2,24

3,1

1

3

0,62

1,02

2

3

0,78

1,33

667,71

17

3

3

0,94

1,42

3

2

-

-

-

5

5

1,75

2,84

570,81

8

35198

-

-

-

3,2

-

-

-

-

-

-

3,6

-

-

-

-

-

-

3,9

-

-

-

-

-

-

5,1

-

-

-

Deutsches Reich 1876 1891 1905

Zusammengestellt nach Angaben in LHAK Best. 441 Nr. 13675, Nr. 13681; LHAK Best. 442 Nr. 3139, Nr. 3897 Nr. 3901, Nr. 3909, Nr. 3914; LHAK Best. 655,14 Nr. 946 sowie Bär, Max: Die Behördenverfassung der Rheinprovinz seit 1815. Nachdr. d. 2. Aufl. 1919, Bonn 1998; Scho-Backes, Maria: Preußische Apothekenverwaltung. Die Entwicklung des Apothekenwesens im Regierungsbezirk Koblenz. Stuttgart 1992; Fischer, Wolfram: Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870-1914. München 1978.

-

-

4,6

-

-

-

Kreis Simmern Rheinprovinz 1880 1900 1879 1899

*getrennte Zählung von Stadt- und Landgemeinden mit gemeinsamem Verwaltungssitz

5

6

1,41

21

44557 42754 44605 44722 43615 48309 39041 37509 42117

Zahl der Bürgermeistereien*

Einwohnerzahl

Kreis Bitburg 1880 1893 1905

Tabelle 12: Daten zur Verbreitung von Ärzten in den Kreisen Bitburg, Bernkastel, Wittlich und Simmern, 18801905/08

Anhang

437

7,41

4,23

4

29

28

-

-

Hebammen auf 10.000 Einwohner

Hebammen auf 100 qkm Kreisfläche

Hebammen in Stadtgemeinden

Hebammen in Landgemeinden

Zahl d. Orte mit niedergelass. Heb.

Geburten pro Hebamme

% der Geburten mit Hebammenhilfe -

~51

33 (1908)

25

3

3,59

-

-

36

42

3

6,73

10,05

45

-

-

-

-

-

6,13

9,40

96,51

~36

36

38

3

6,13

8,19

41(38) 41(39)

641,88

-

-

29

35

3

5,93

9,73

38

-

-

-

-

-

5,46

9,33

93,94

~43

29

28

3

4,84

7,36

-

-

27 (1912)

28

5 (1912)

5,77

9,38

35(29) 31(30) 33(32)

667,71

570,81

-

-

-

-

-

-

5,6

-

-

-

52

345

419

69

-

7,49

488

-

Kreis RegRheinSimBez. prov. mern Trier 1905 1900 1876 1880 42117 35198 651288

Kreis Wittlich

-

1887 -

-

1909 -

-

-

-

-

-

-

7,7

-

-

-

-

-

-

7,6

-

-

-

-

-

-

6,9

33134 36046 37736

-

1876 -

Deutsches Reich

Zusammengestellt nach Angaben in LHAK Best. 441 Nr. 13675, Nr. 13681; LHAK Best. 442 Nr. 3139, Nr. 3897 Nr. 3901, Nr. 3909, Nr. 3914; LHAK Best. 655,14 Nr. 946 sowie Bär, Max: Die Behördenverfassung der Rheinprovinz seit 1815. Nachdr. d. 2. Aufl. 1919, Bonn 1998; Scho-Backes, Maria: Preußische Apothekenverwaltung. Die Entwicklung des Apothekenwesens im Regierungsbezirk Koblenz. Stuttgart 1992; Fischer, Wolfram: Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870-1914. München 1978.

95,52

~42

-

-

-

3,85

6,28

30(25) 28(23)

33

Gesamtzahl der Hebammen*

7,02

Kreis Bernkastel

1905 1880 1893 1908 1880 1893 44605 44722 43615 48309 39041 37509

780,63

1880 1893 44557 42754

Kreisfläche in qkm

Einwohnerzahl

Kreis Bitburg

Tabelle 13: Daten zur Verbreitung von Hebammen in den Kreisen Bitburg, Bernkastel, Wittlich und Simmern, 1880-1905/08

438 Anhang

2 340 17,26% 3 540 30,49% 2 360 29,65% 2 360 28,17% 4 1116 58,61% 7 2588

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M

Pflege / Krankenhaus

0,00%

0,00%

0,00%

0,00%

0,00%

Arzt / Transport

0,00% 1917/18

0,00% 1916/17

0,00% 1915/16

0,00% 1914/15

0,00% 1912/13

1911

7 2588

4 1116 58,61%

2 360 28,17%

2 360 29,65%

3 540 30,49%

2 340 17,26%

Apotheke insgesamt

Ausgaben für Armenkrankenpflege

Zusammengestellt nach LHAK Best. 655,123 Nr. 1040.

7 780

7 788 41,39%

9 918 71,83%

9 854 70,35%

10 1231 69,51%

11 1630 82,74%

14 3368

11 1904 100,00%

11 1278 100,00%

11 1214 100,00%

13 1771 100,00%

15 1970 100,00%

Übrige Armenfür- Gesamtausgaben der sorge-ausgaben Armen-fürsorge

Tabelle 14: Ausgaben der Armenfürsorge der Bürgermeisterei Zeltingen (1911-1923)

Anhang

439

76,84% 8 3148 82,02% 4 1852,5 68,29% 6 5475 84,88% 5 9571 88,78% 5 24080 89,72%

Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

0,00% 1922/23 0,00%

0,00%

0,00% 1921/22

0,00% 1920/21

0,00% 1919/20

0,00% 1918/19

0,00%

0,00%

0,00%

0,00%

0,00%

5 24080 89,72%

5 9571 88,78%

6 5475 84,88%

4 1852,5 68,29%

8 3148 82,02%

76,84%

6 2760 10,28%

6 1210 11,22%

7 975 15,12%

7 860 31,71%

6 690 17,98%

23,16%

11 26840 100,00%

11 10781 100,00%

13 6450 100,00%

11 2712,5 100,00%

14 3838 100,00%

100,00%

440 Anhang

8 826,00 60,51% 7 642,00 60,17% 9 901,30 54,58% 9 1433,10 89,47% 8 666,80 68,28%

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

2 38,00 3,89%

6 98,60 6,16%

3 53,64 3,25%

3 165,00 15,46%

6 189,00 13,85%

Apotheke

1925 / 4. Quartal 2 26,00 1,90% 1926 / 1. Quartal 3 46,00 4,31% 1926 / 2. Quartal 2 4,75 0,29% 1926 / 3. Quartal 1 2,05 0,13% 1926 / 4. Quartal 1 2,90 0,30%

Pflege / KranArzt / Transport kenhaus

Ausgaben für Armenkrankenpflege

11 707,70 72,47%

16 1533,75 95,75%

14 959,69 58,12%

13 853,00 79,94%

16 1041,00 76,26%

insgesamt

8 268,90 27,53%

6 68,00 4,25%

12 691,60 41,88%

7 214,00 20,06%

13 324,00 23,74%

19 976,60 100,00%

22 1601,75 100,00%

26 1651,29 100,00%

20 1067,00 100,00%

29 1365,00 100,00%

Übrige Armen- Gesamtausgafürsorgeben der ausgaben Armenfürsorge

Tabelle 15: Ausgaben der Armenfürsorge der Bürgermeisterei Bitburg-Land (1925/4-1931) Zusammengestellt nach LHAK Best. 655,191 Nr. 403.

Anhang

441

33 3643,20 68,78%

7 692,50 61,50% 6 1000,30 53,34% 9 1053,90 69,90% 5 275,02 30,57% 27 3021,72 55,87%

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

16 396,90 7,34%

3 30,90 3,43%

5 162,50 10,78%

4 45,50 2,43%

4 158,00 14,03%

1927 / 1. Quartal     0,00% 1927 / 2. Quartal 1 95,00 5,07% 1927 / 3. Quartal 2 17,05 1,13% 1927 / 4. Quartal 6 12,65 1,41% 1927 / Gesamtjahr 9 124,70 2,31%

1926 / Gesamtjahr 14 7 355,24 55,70 6,71% 1,05%

52 3543,32 65,51%

14 318,57 35,41%

16 1233,45 81,81%

11 1140,80 60,83%

11 850,50 75,53%

54 4054,14 76,54%

41 1865,35 34,49%

13 581,00 64,59%

5 274,25 18,19%

16 734,60 39,17%

7 275,50 24,47%

33 1242,50 23,46%

93 5408,67 100,00%

27 899,57 100,00%

21 1507,70 100,00%

27 1875,40 100,00%

18 1126,00 100,00%

87 5296,64 100,00%

442 Anhang

6 960,03 53,52% 8 1116,84 55,67% 7 723,69 53,85% 9 852,50 54,02% 30 3653,06 54,34%

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

16 749,90 11,16%

4 154,00 9,76%

2 48,00 3,57%

5 325,00 16,20%

5 222,90 12,43%

Apotheke

1928 / 1. Quartal     0,00% 1928 / 2. Quartal 2 9,35 0,47% 1928 / 3. Quartal 1 4,20 0,31% 1928 / 4. Quartal 6 49,30 3,12% 1928 / Gesamtjahr 9 62,85 0,93%

Pflege / Arzt / Transport Krankenhaus

Ausgaben für Armenkrankenpflege

55 4465,81 66,43%

19 1055,80 66,90%

10 775,89 57,73%

15 1451,19 72,34%

11 1182,93 65,94%

insgesamt

61 2256,40 33,57%

21 522,40 33,10%

14 568,00 42,27%

11 555,00 27,66%

15 611,00 34,06%

116 6722,21 100,00%

40 1578,20 100,00%

24 1343,89 100,00%

26 2006,19 100,00%

26 1793,93 100,00%

Übrige Gesamtausgaben Armenfürder Armensorge-ausgaben fürsorge

Fortsetzung der Tab. 15: Ausgaben der Armenfürsorge der Bürgermeisterei Bitburg-Land (1925/4-1931)

Anhang

443

8 867,62 54,31% 17 1419,80 68,35% 12 966,30 41,76% 37 3253,72 54,33%

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

10 434,40 7,25%

2 109,10 4,72%

6 188,30 9,06%

2 137,00 8,58%

1929 / 1. Quartal k. A. k. A. k. A. 1929 / 2. Quartal 3 8,85 0,55% 1929 / 3. Quartal     0,00% 1929 / 4. Quartal 3 12,85 0,56% 1929 / Gesamtjahr 6 21,70 0,36% 53 3709,82 61,95%

17 1088,25 47,03%

23 1608,10 77,41%

13 1013,47 63,44%

57 2278,86 38,05%

21 1225,55 52,97%

13 469,26 22,59%

23 584,05 36,56%

k. A. k. A. k. A.

110 5988,68 100,00%

38 2313,80 100,00%

36 2077,36 100,00%

36 1597,52 100,00%

k. A. k. A. k. A.

444 Anhang

15 1192,20 40,39% 17 1180,60 52,53% 9 351,00 16,60% 7 522,40 47,32% 48 3294,20 38,38%

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

16 1297,65 15,12%

    0,00%

5 621,15 29,38%

1 60,00 2,67%

10 600,50 20,34%

Apotheke

1930 / 1. Quartal 6 41,75 1,41% 1930 / 2. Quartal     0,00% 1930 / 3. Quartal 1 2,10 0,10% 1930 / 4. Quartal     0,00% 1930 / Gesamtjahr 7 50,85 0,59%

Pflege / Kran- Arzt / Transport kenhaus

Ausgaben für Armenkrankenpflege

71 4642,70 54,09%

7 522,40 47,32%

15 974,25 46,09%

18 1240,60 55,20%

31 1834,45 62,15%

insgesamt

Fortsetzung der Tab. 15: Ausgaben der Armenfürsorge der Bürgermeisterei Bitburg-Land (1925/4-1931)

95 3940,02 45,91%

18 581,50 52,68%

21 1139,65 53,91%

18 1006,70 44,80%

38 1117,17 37,85%

166 8582,72 100,00%

25 1103,90 100,00%

36 2113,90 100,00%

36 2247,30 100,00%

69 2951,62 100,00%

Übrige Armen- Gesamtausgafürsorgeausga- ben der Armenben fürsorge

Anhang

445

10 909,40 51,94% 19 1452,74 59,68% 13 911,88 51,18% 17 1153,20 46,32% 59 4427,22 52,35%

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

Fallzahl Summe in M Ausgabenanteil in %

11 341,15 4,03%

2 51,40 2,06%

5 148,20 8,32%

3 127,15 5,22%

1 14,40 0,82%

1931 / 1. Quartal     0,00% 1931 / 2. Quartal 1 3,40 0,14% 1931 / 3. Quartal     0,00% 1931 / 4. Quartal 4 27,40 1,10% 1931 / Gesamtjahr 5 30,80 0,36% 75 4799,17 56,75%

23 1232,00 49,49%

18 1060,08 59,50%

23 1583,29 65,04%

11 923,80 52,76%

123 3657,05 43,25%

46 1257,50 50,51%

24 721,55 40,50%

27 851,00 34,96%

26 827,00 47,24%

198 8456,22 100,00%

69 2489,50 100,00%

42 1781,63 100,00%

50 2434,29 100,00%

37 1750,80 100,00%

446 Anhang

28 21 75,00% 70 42 60,00% 27 15 55,56%

Bürgermeisterei Zeltingen (1914-1923) 19 18 16 14 84,21% 77,78% Bürgermeisterei Lieser (1905-1913)* 56 38 67,86% Bürgermeisterei Lieser (1914-1923)* 43 27 62,79%

Zahl der gestellten Anträge Zahl der genehmigten Anträge Anteil der bewilligten Anträge in %

Zahl der gestellten Anträge Zahl der genehmigten Anträge Anteil der bewilligten Anträge in %

Zahl der gestellten Anträge Zahl der genehmigten Anträge Anteil der bewilligten Anträge in %

118 83 70,34%

222 152 68,47%

108 89 82,41%

124 96 77,42%

Unterstützung insgesamt

*Die Angaben zur Bürgermeisterei Lieser beruhen auf den Daten von Katrin Marx erhobenen Daten der Gemeinden Lieser, Maring-Noviand und Wehlen. Die Daten der Gemeinde Kesten lagen in den fraglichen Zeiträumen nicht vor. Die Zahlungen der Armenspende in Maring-Noviand wurden herausgerechnet.

26 20 76,92%

Laufende Unterstützung

Bürgermeisterei Zeltingen (1898-1913) 31 25 28 17 90,32% 68,00%

Andere krankheitsbezogene Leistung

Zahl der gestellten Anträge Zahl der genehmigten Anträge Anteil der bewilligten Anträge in %

Armenarztbehandlung

Anträge auf

Zusammengestellt nach: MARX, KATRIN: Armut und Armenfürsorge auf dem Land. Die Kreise Bernkastel und Wittlich von den 1880er Jahren bis 1933. Trier 2005 (Dissertation Universität Trier), S. 368, 376, 383, 397-398.

Tabelle 16: Gewähr ausgewählter Leistungen der Armenfürsorge in der Bürgermeisterei Zeltingen und Teilen der Bürgermeisterei Lieser (1898-1923)

Anhang

447

448

Anhang

Karte 1: Gesundheitseinrichtungen im Kreis Wittlich um 1905/06 Lkr.

L kr. P r ü m

D a u n

Gillenfeld ! X

Deudesfeld ! X

L kr. !

Bettenfeld ! ¹ X

C o c h e m

Manderscheid

G ¢ X

mb S al

Hontheim X !

h ac

Niederöfflingen X !

Ue ß bach

L kr. Z e l l Alf

Oberkail X ! Großlittgen ! X X Hupperath ! X ! Landscheid Wittlich ! ! . X

Spang X X

!

G G ²

¢¢¢¢ X X X

Bengel X X !

!

Reil ! X X

Bombogen ¹ X Erden Cröv Ürzig ! ! X Kinheim ! X X L ! ! X ¢ X X Altrich r Lösnich X! Platten X ! !

ie s e

Binsfeld ! X G

Bausendorf X

Gladbach ! X

!

Kyll

Hetzerath

!

L kr.

Tr i e r

L a n d

¢ X X

X

Esch

Bernkastel-Kues

el Mos

h ac

!

¹ X G

b en

Osann

X

Ka u t

! Salmrohr

! .

Kesten ! X

L kr.

Niederemmel ! X

B e r n k as t e l

! Minheim

X

!

G ²

Orte mit Gesundheitseinrichtungen Krankenhaus

G

Hospital

¢

Arzt

¹

gewerblicher Laienheiler

X

Hebamme

G

Caritas-Besucherinnen

Wittlich Landkreis-Hauptort Landkreis Wittlich 1906 - 1933 Landstraßen 0

5

10 km

Bearbeitung: Martin Krieger, SFB 600 - B5 Kartographie: Michael Grün

449

Anhang

Karte 2: Gesundheitseinrichtungen im Kreis Bernkastel um 1908 Alf

. Wittlich !

!

!

Lösnich X

!

Lkr. Zell

Wolf ! X

Lkr. Simme rn

G ¢ X Zeltingen

Salmbach

Lieser

! . Trarbach Maring Wehlen ! X X Graach ! X X G X X ! X G Bernkastel Mülheim ! Lieser ! ! ! . Filzen ! G G ¢ ¢ ¢ Fraunhofen Kesten ! ! ¢ X X Kues X ¹ ¹ X X ! X G X Veldenz ! X X! ! Longkamp Niederemmel ! Wintrich ! Burgen Monzelfeld X! X X X Neumagen !Dhron ! G Conzerath ¢ G G ! X

²

Heinzerath ! G Dhron

bach !

!

Berglicht X

Thalfang ¢ X

Neunkirchen ! G

Morbach

G ¢ ¢ ¢ ²

Hottenbach X!

Rhaunen

G ¢ ²

Baudenbach ! X

X

Kempfeld ! ¢ X

Wirschweiler !

¹ X

X

Lkr. Birkenfeld ch rba Ida

Lkr. Trier Land

!

Hundheim X

!

!

e

l Mose

Horath ! X

Merscheid X !

Lindenscheid ! X

Na h

Lkr. Wittlich

Erden X Rachtig G !

Malborn X

!

rill ald W !

G ²

Orte mit Gesundheitseinrichtungen Krankenhaus

G

Hospital

¢

Arzt

¹

gewerblicher Laienheiler

X

Hebamme

G

Caritas-Besucherinnen

Bernkastel Landkreis-Hauptort Landkreis Bernkastel 1906 - 1933 Landstraßen 0

5

10 km

Bearbeitung: Martin Krieger, SFB 600 - B5 Kartographie: Michael Grün

450

Anhang

Karte 3: Gesundheitseinrichtungen im Kreis Bitburg um 1905/06 Mürlenbach !

X

L kr. D a u n

X ! Densborn

L kr.

P r ü m !

ms Ni

Seffern Sefferweich X ! ! X !

Kyllburg

G ¢¢ X

X !

Weidingen ! X

Neuerburg

Rodeshausen ! X

G ¢ ¢ ¹ X

Niedergeckler G !

Wiersdorf ! G Rittersdorf !

Fliessem ! X G ! Badem

X

X Bitburg

!

ch

!

ba

Carlshausen

lm Sa

Malberg ! X

Ou r

L kr. Wi t t l i c h

Kyll

Ernz

Ringhuscheid ! X

Neidenbach X G

! ! .

Oberweis X ! Mettendorf

Dudeldorf ! X

²

G ¢ ¢ ¢ ¢

! Spang

X

¹ X X

X X X! Bettingen

Messerich X

!

!

Herforst

Röhl X

!

X

! Speicher

¢¢ ¹ X

Niedersgegen X

Wolfsfeld

m Prü

!

Preist

!X

¹

ch yba Ga

Alsdorf G

!

Grenhofen X

!

!

Ferschweiler ! X

L U X E M B U R G

Bollendorf !

G ¹ ²

X X

Ernzen ! X

! ! Irrel

Sa ue

X X G

r

L kr.

Welschbillig X

Tr ie r

L a n d

Echternach ¢ ¹ !

!

G ²

Orte mit Gesundheitseinrichtungen Krankenhaus

G

Hospital

¢

Arzt

¹

gewerblicher Laienheiler

X

Hebamme

G

Caritas-Besucherinnen

Mo se

l

Bitburg Landkreis-Hauptort Landkreis Bitburg 1906 - 1933 Landstraßen 0

5

10 km

Bearbeitung: Martin Krieger, SFB 600 - B5 Kartographie: Michael Grün

451

Anhang

Karte 4: Gesundheitseinrichtungen im Kreis Simmern um 1905 Mosel

L kr.

C o c h e m

e in Rh

Dorweiler ! X Sevenich X ! Frankweiler !G Beltheim ! X Gödenroth Uhler ! ! X X Buch ! Kastellaun X G !

¢ ¢ ¢

Bell ! X

X X !

Völkenroth X

Alterkülz ! X X

!

!

Rheinböllen

Kappel X

Biebern X

!

! ! .

Obercostenz X!

!

Laufersweiler X

Liebshausen ! G

G ¢X X

ch

Z e l l

Si mm er ba

L kr.

Horn X

Riegenroth ! X

!

Simmern

G ² G G ²

¢ ¢ ¢ OppertsX X X hausen ! Kirchberg ! X ¢ ¢ X X Sargenroth X! Mengerschied ! X Dickenschied ! X Gemünden

!

Argenthal X X

Gu ld

en

ba ch

¹ ¹ ¹ 5 Laienheiler erwähnt, aber nicht lokalisierbar ¹ ¹

nb hne Ha

!

¢ X X

ac h

L kr. B e r n k a s t e l

Lkr. Bi r k en f e l d ! Bruckscheid

!

Kellenbach X

X

!

²

Orte mit Gesundheitseinrichtungen

G

Krankenhaus

G

Hospital

¢

Arzt

¹

gewerblicher Laienheiler

X G

Hebamme Caritas-Besucherinnen

Simmern Landkreis-Hauptort Landkreis Simmern 1906 - 1933 Landstraßen 0

5

10 km

Bearbeitung: Martin Krieger, SFB 600 - B5 Kartographie: Michael Grün

Neuerburg !

0

1

2

3

4

. Bitburg !

!

Speicher

0

1

2

Kyllburg

0

1

Ärzte vermutet 1905

Ärzte 1905

Ärzte vermutet 1893

Ärzte 1893

Ärzte vermutet 1880

Ärzte 1880

0

1

Anzahl Ärzte ! Echternacherbrück

r ue Sa

3 2 1 0

r Ou

0

1

2

2

!

0

1

Hetzerath

0

1

2

3

4

0

1

!

0

1

2

0

1

0

1

!

!

Neumagen

0

1

2

3

Morbach !

0

1

!

10

! 1

! .

0

20

Na

he

Gemünden

Simmern

Bearbeitung: Martin Krieger, SFB 600 - B5 Kartographie: Michael Grün

0

0

1

Rhaunen !

0

!

30 km

Rheinböllen

0 2 1

1

3

Kastellaun !

0

1

2

Kirchberg !

Kempfeld

0

1

2

1

2 0

2

l

3

4

Mo se

! . Bernkastel

Zeltingen

!

Mülheim

Thalfang

! 2

0

1

Ürzig !

0

1

Manderscheid

. Wittlich !

!

3

Rh e in

Karte 5: Anzahl und regionale Verteilung von Ärzten in den Kreisen Bitburg, Bernkastel, Simmern und Wittlich (1880-1905)

452 Anhang