Architektur wahrnehmen 9783839436547

Our lives take place inside architecture. It shapes the reality of our existence and influences us more than any other e

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Architektur wahrnehmen
 9783839436547

Table of contents :
Inhalt
Offene Augen und weiter Blick
Zur Einführung
Grundlagen der Architekturwahrnehmung
Architektur und Aufmerksamkeit
Die Sprache des Raums
Von Ästen zu Stöcken
Förderer der Schönheit
Wahrnehmungsunterschiede und -besonderheiten
Warum hat es moderne Architektur so schwer?
Raumwahrnehmung aus interkultureller Perspektive
Architekturwahrnehmung und Stresserleben schwerst- und chronisch Kranker
Unorte als Spiegel – Vom Zeigen und Sehen eines ehemaligen Konzentrationslagers
Architektur, die singt
Architekturvermittlung
Architektur vermitteln – Ein Plädoyer
Unsere Orte müssen wieder wachgeküsst werden!
Verbindlich und aneignungsfähig
Stadtansichten auf Augenhöhe
Vernetzungen in der Architekturwahrnehmung – Forschung zur Architekturvermittlung an der Bauhaus-Universität Weimar
Biographische Angaben der Autorinnen und Autoren
Bildnachweis

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Alexandra Abel, Bernd Rudolf (Hg.) Architektur wahrnehmen

Architekturen | Band 38

Alexandra Abel, Bernd Rudolf (Hg.)

Architektur wahrnehmen

Gedruckt mit Unterstützung durch die Fakultät Architektur und Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Bernd Rudolf Gestaltung, Satz & Layout: Luise Nerlich Produktion: Die Produktion – Agentur für Druckrealisation GmbH, Köln Print-ISBN 978-3-8376-3654-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3654-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Ulf Jonak Offene Augen und weiter Blick Bernd Rudolf und Alexandra Abel Zur Einführung Grundlagen der Architekturwahrnehmung Alexandra Abel Architektur und Aufmerksamkeit Axel Buether Die Sprache des Raums Bernd Rudolf Von Ästen zu Stöcken Axel Seyler Förderer der Schönheit

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Wahrnehmungsunterschiede und -besonderheiten Peter G. Richter Warum hat es moderne Architektur so schwer? 153 Jörg Kurt Grütter Raumwahrnehmung aus interkultureller Perspektive 179 Tanja C. Vollmer und Gemma Koppen Architekturwahrnehmung und Stresserleben schwerst- und chronisch Kranker 207 Rikola-Gunnar Lüttgenau Unorte als Spiegel – Vom Zeigen und Sehen eines ehemaligen Konzentrationslagers 231 Yvonne Graefe Architektur, die singt 269 Architekturvermittlung Andrea Dreyer Architektur vermitteln – Ein Plädoyer Roland Gruber Unsere Orte müssen wieder wachgeküsst werden! Caspar Schärer Verbindlich und aneignungsfähig Jessica Waldera Stadtansichten auf Augenhöhe Luise Nerlich Vernetzungen in der Architekturwahrnehmung – Forschung zur Architekturvermittlung an der Bauhaus-Universität Weimar

295 309 337 351

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Biographische Angaben der Autorinnen und Autoren 387 Bildnachweis 393 5

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Offene Augen und weiter Blick

Ulf Jonak

Ich nehme wahr. Aber was? Alles wirkt verzerrt. In kritischen Momenten erscheint die gewohnte Welt schief und blass. Was alles entgeht mir? Wie oft täusche ich mich? Lebe ich zwischen Barrieren, welche den Zugang ins Freie sperren? Das wären trostlose Zustände, wenn es nicht die Flut der Erinnerungen gäbe. Jeder Denkvorgang aktiviert vormals Gedachtes. Alles Geschaute erinnert mich an vorher Geschautes, welches aber von bereits zuvor Wahrgenommenem verfärbt ist, das wiederum von noch früher Gewahrtem beeinflusst war. So verändert sich die Sicht auf die Dinge von Mal zu Mal, so dass Gegenwärtiges eine Schleppe von vergangenen Interpretationen mit sich zieht und zu unserem Erstaunen zu einer jeweils neuen Sicht von Altbekanntem führt, es aber erschwert, unvoreingenommen Neuartiges zu bemerken. Aber kommt auch derart nicht Tiefe oder Komplexität zustande? Wahrnehmen heißt auch, verzerrte Sichtweisen zu dulden.

Wir schauen fern, wir schauen nah. Fatalerweise nie gleichzeitig, bestenfalls nacheinander. Unsere Augen, beziehungsweise die Adaption der Augenlinsen, die ihre Zeit brauchen sich anzupassen, wollen da nicht mitspielen. Da wir uns drehen und wenden, mal in die Landschaft spähen, mal in die Zeitung blicken, da wir seitwärts oder vorwärts schreiten, entgeht uns manches. Die Nahsicht schließt den Fernblick aus, der Fernblick die Nahsicht. Ein literarisches Beispiel für den zweifelhaften Versuch, nah und fern wenigstens zusammenzudenken, veranschaulicht jener träumerische Einfall Hans Henny Jahnns: Auf der Oberfläche eines geteerten Holzpfostens erkennt jemand „die Rinnen und Kugeln des abgetropften Teers als handele es sich um ein Weltensystem“1. 1_ Jahnn, Hans Henny: Fluss ohne Ufer – Die Niederschrift des Gustav Anias Horn; Band 2; Frankfurt am Main, 1959; S. 233.

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Das Gedankenspiel knüpft wider besseren Wissens extreme Nähe und kosmische Ferne, Fassbares und Unfassliches zusammen, doch die Adaptionsreaktion der Augen oder der kritische Verstand sind zu langsam und so verschwimmen abwechselnd Vordergrund oder Hintergrund. Ein kindhaft Sensibler staunt über Winzigkeiten. Klein wird groß, kaum Sichtbares wird riesig. Unerwartet verwandelt sich vor Peter Handkes Augen bislang nicht Bemerktes: „Der helle Sand in den Ritzen des Kopfsteinpflasters hier [wird zum – A.d.V.] Ausläufer einer Düne; der einzelne fahle Grashalm dort Teil einer Savanne.“2 Trauen wir nicht den Anblicken! Eine Fata Morgana führt uns ins Verderben. Ein gedankenschweres Hirn lässt uns die warnende Ampel übersehen. Ein im Wind flirrendes Gebüsch verwirrt unser Aufmerken, denn unsere Scharfsichtigkeit wird offensichtlich vom Wind getrübt. Die Unruhe der Blätter überträgt sich auf uns. Wir sind abgelenkt, von keiner ‚Einsicht‘ betroffen. In Michelangelo Antonionis Film ‚Blow up‘ wird der im Gesträuch liegende Tote erst im Atelier des Fotografen sichtbar, im totenstarren Foto. Erst der Stillstand, erst die Leblosigkeit des Fotos reizt zur beharrlichen Betrachtung und deckt das versteckte Geheimnis auf. Niemals sollten wir uns sicher sein, ob es sich bei dem, das wir erblicken, um Realitäten oder Hirngespinste handelt. Unsere Träume reichen bis in den lichten Tag. In der fernen Menschenmenge vor uns taucht am hellen Tag plötzlich derjenige Unbekannte auf, der uns nachts im Traum begegnete. Was uns momentan beschäftigt, auch unbewusst, überlagert die Realität. Erst der zweite Blick entlarvt die Täuschung. Das verträumte Blicken auf schadhafte Wände lässt dort statt Flecken unvermittelt Gestalten oder Landschaften hervortreten. Leonardo da Vinci empfahl deshalb seinen Malgehilfen, sich ruinierte Gemäuer und bröckelnde Wände anzusehen. „Du kannst dort verschiedene Schlachten und Gestalten mit lebhaften Gebärden, seltsame Gesichter und Gewänder und unendlich viele Dinge sehen, die du dann in vollendeter Form und guter Gestalt wiedergeben kannst.“3 Wahrnehmung ist eine anscheinend mannigfaltige, ist eine das Dunkel des Bewusstseins prägende Lebensnotwendigkeit. Zu oft Gesehenes, zu oft Gehörtes, oft Gefühltes wird kaum noch wahrgenommen. Einzelheiten, die man gerade wegen ihrer Bedeutungslosigkeit nie beachtet hat: der Fenstergriff, der Fußbodenbelag, die Leselampe, Haaroder Augenfarbe der Mitbewohner. Ein Hintergrundrauschen, das aus Unachtsamkeit oder Trägheit entsteht; ein Rauschen, das Wachsamkeit und Hellhörigkeit dämpft. 2_ Handke, Peter: Nachmittag eines Schriftstellers; Frankfurt am Main, 1989; S. 26. 3_ Zöllner, Frank: Leonardo da Vinci: Sämtliche Gemälde und Schriften zur Malerei; München, 1990; S. 385.

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Erst die Störung im Gleichmaß, auch der fremde oder eigene Appell zur Aufmerksamkeit, feuert empfindsames Aufmerken an. „Braucht Auffälliges um aufzufallen, nicht den Kontrast eines Unauffälligen, das unbemerkt bleibt? Liegt im Unauffälligen und Unscheinbaren nicht eine Form der Zurückhaltung, die auf ihre lautlose und heimliche Weise aufmerken lässt?“, schreibt der Philosoph Bernhard Waldenfels.4 Unbekanntes stimuliert die Aufmerksamkeit. Das wusste schon Johann Wolfgang von Goethe. Er schreibt in einem Brief an seinen Freund Karl Friedrich von Reinhard: „[…] ein scharfsichtiger Fremder, der in ein Haus tritt, bemerkt oft gleich, was der Hausherr aus Nachsicht, Gewohnheit oder Gutmütigkeit übersieht oder ignoriert.“5 Auffälliges muss als Unerwartetes erscheinen, um es wahrzunehmen und interpretieren oder kommunizieren zu können. Wir reisen mit dem Auto von A nach B und wundern uns, in B angekommen, über von uns nicht wahrgenommene Räume und Objekte beiderseits der Autobahn. Das verstimmt uns nicht allzu sehr, denn die Fahrt ist problemlos verlaufen und blinde Flecken im Gedächtnis sind wir gewohnt. Während der Fahrt folgt ein beiläufiges Bemerken der nächsten Beiläufigkeit und der Fahrer starrt weiter auf den Asphalt. Dies Buch versammelt Texte zum Thema Architekturwahrnehmung, die als Vorträge während einer Ringvorlesung an der Bauhaus-Universität Weimar gehalten wurden. Experten aus unterschiedlichsten Fachdisziplinen wie Architektur, Psychologie oder (Kunst)Geschichts- und Medienwissenschaften waren eingeladen. Ein erstaunliches Nebeneinander unterschiedlichster Sichtweisen tat sich auf: im Ganzen ein Komplex erhellender Beobachtungen, Theorien und Forschungen.

4_ Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit; Frankfurt am Main, 2004; S. 283. 5_ Zit. nach Unseld, Siegfried (Hrsg.): Goethe, unser Zeitgenosse – Über Fremdes und Eigenes; Frankfurt am Main, 1998; S. 15.

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Die Zuhörerschaft konnte sich unterrichten, ob Architektur nur dann wahrgenommen wird, wenn wir im Bewusstsein unseres Ichs den Genius Loci der Bauwerke gewahr werden. Der Hinweis, dass der räumliche und zeitliche Kontext von Architektur ebenso wichtig zu sein scheint wie das sie umgebende Fluidum, die so genannte ‚Atmosphäre‘, öffnete manchen die Augen. Dieses Flair kann auch Musik sein, kann auch Theater oder Performance sein. Diffizil setzten sich mehrere der Vortragenden mit der begrifflichen Erweiterung der technischkonstruktiven Bauweisen auseinander: Architektur als Raumgebilde, vor allem als Körper oder als Hohlraum. Aber auch Architektur als Aneignung eines Zwischenraums, wie es teilweise das Schlagwort ‚Bauen im Bestand‘ ausdrückt, prägt immer mehr die Erscheinung unserer zugebauten Städte. So kann jeder Ort sein Aufmerksamkeitspotential entfalten. Wie Zauberei erscheint dem Laien die Fertigstellung eines Bauwerks – unglaublich, dass am Ende alle Einzelheiten zusammen passen. Studierende, die in ihrem ersten Semester noch ungeübt im Formulieren ihrer Architekturwahrnehmung sind, die ihr Elternhaus und ihre regionale Verbundenheit noch unreflektiert verteidigen, vernehmen ungläubig die Prognosen ihrer Entwurfslehrer, dass sich voraussichtlich binnen eines Jahres ihr ästhetisches Urteil grundlegend verändern wird. Erst auf Zusammenhänge und Details hingewiesen, vertiefen sie ihr Wissen und damit ihre Wahrnehmung und lernen, die von Freunden oder Eltern übernommene pauschale Einschätzung als unüberlegtes Urteil einzuschätzen. Sie müssen jedoch die Spötteleien der Älteren aushalten, wenn sie ‚als Nichtschwimmer ins Becken geworfen‘ anfangs fast trotzigen Widerstand oder Misstrauen gegenüber dem scheinbar ‚bodenlosen Element‘, das heißt, dem ihnen unbekannten Gestaltungskanon, offenbaren. Dass zeitgenössische Architektur der Anleitung bedarf, dass sie ein geschultes Auge erfordert, dass sie im Archiv des Gehirns ein ausreichendes Repertoire an konstruktiven und gestalterischen Möglichkeiten verlangt, diese Erkenntnis wächst nach und nach während des Lernprozesses. Das geschulte Auge allerdings mag mitunter auch zum Unverständnis gegenüber gestalterischen Experimenten führen, zum elitären Besserwissen. Es gilt daher, den eingeengten Blick zu weiten und die Augen offen zu halten.

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Zur Einführung

Bernd Rudolf und Alexandra Abel

Im Begriff der Wahrnehmung steckt ein latenter Imperativ, der zur bewussten Eigenbeobachtung eher beiläufiger Prozesse der Rezeption auffordert. Damit wird ein scheinbarer Automatismus unterbrochen und die Aufmerksamkeit vom Gegenstand auf die Situation der Beobachtung gelenkt. Architekturwahrnehmung fokussiert sowohl in umfassender als auch in spezifischer Art und Weise auf diese Relationalität zwischen den Wahrnehmenden und den Kontexten ihrer Wahrnehmung. Architektur im Verständnis gebauter räumlicher Umwelt liefert den Gegenstand und die Rahmenbedingungen gleichermaßen. Diese mehrfache Verschachtelung durch geeignete Perspektivwechsel zu reflektieren war die erklärte Absicht einer Ringvorlesung mit dem Titel Architektur WAHRnehmen, zu der die Professur Bauformenlehre an der Bauhaus-Universität Weimar im Wintersemester 2015/2016 einlud. Diskutiert wurden unterschiedliche Sichtweisen auf Wahrnehmungsprozesse. Aus den Vorträgen sind die Kapitel dieses Buches entstanden: 15 Experten nähern sich dem gemeinsamen Thema von einem jeweils unterschiedlichen Ausgangspunkt aus: Unter ihnen sind Psychologen, Bildhauer, Journalisten, Kunstgeschichts- und Erziehungswissenschaftler, Geschichts- und Medienwissenschaftler, Kunstdidaktiker und natürlich Architekten, deren Argumentationen Studierende der Architektur, Architekten und interessierte Laien gleichermaßen zur Anregung dienen und schlussendlich auch das gegenseitige Verständnis für unterschiedliche Erfahrungsmuster anregen sollen. Der Leser wird dazu ermuntert, die persönliche Wahrnehmungsbiographie mit den wissenschaftlichen Beiträgen der Experten auszubalancieren. Die Kapitel sind in drei große Bereiche eingeteilt: Architekturwahrnehmung allgemein, der differenzierte Blick auf Wahrnehmungsunterschiede und -besonderheiten und die Bedeutung der Architekturwahrnehmung für die Architekturvermittlung. Dialogbilder von Bernd Rudolf schlagen den inhaltlichen Bogen zwischen den einzelnen Kapiteln. 13

Grundlagen der Architekturwahrnehmung Wir Menschen existieren in Raum und Zeit. Nur den Raum aber können wir wirklich begreifen. In ihm können wir uns einrichten, ihn können wir gestalten und weiterreichen, Raum durch Zeit. In der Auseinandersetzung mit dem Raum kommen wir an in unserer menschlichen Existenz. Die wechselseitige Bedingtheit von Architektur (als heute dominanter Raumgestaltung) und Mensch wird nachvollziehbar, belegbar und begründbar, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Wahrnehmung richten. Dann wird verständlich, was für Menschen geeignete Architektur ausmacht, über alle individuellen Präferenzen hinweg. In diesem Sinne fordert das Kapitel Architektur und Aufmerksamkeit von Alexandra Abel als Einleitung in die nachfolgenden Inhalte auf: Werden Sie Wahrnehmer! In seinem Kapitel Die Sprache des Raums beschreibt Axel Buether den Raum als System unserer Welterkenntnis, unserer Weltbeschreibung, unserer Weltvermittlung und unserer Weltgestaltung. Durch die aufgezeigte Parallele zwischen Raumwahrnehmung und Spracherwerb wird die Bedeutung der Raumwahrnehmung für unsere gesamten nie abgeschlossenen und stets generationsübergreifenden Lern- und Denkprozesses nachvollziehbar. Die Bedeutung der Raumgestaltung folgt daraus von selbst. Das Kapitel Von Ästen zu Stöcken von Bernd Rudolf beschreibt den Weg zur Ausbildung einer grundlegenden Wahrnehmungskompetenz, die zu Beginn des Architekturstudiums vermittelt wird. Dieser Weg führt, inspiriert durch den Medienphilosophen Vilém Flusser, zunächst durch den Wald, dann aus ihm hinaus zu einer Reihe phänomenologischer Archetypen und Urbilder. Die Unterscheidung zwischen Gegebenem und zu Machendem, Natur und Kultur, zwischen Ast und Stock, wird zur Basis einer Wahrnehmung, die auf das Entwerfen zielt. So bietet dieses Kapitel nicht nur einen Einblick in die universitäre Lehrmethodik, sondern auch eine Chance für NichtArchitekten, der Wahrnehmung der Architekten zu folgen. Im Sinne einer ebenso vorsichtigen wie respektvollen Annäherung fragt Axel Seyler vor dem Hintergrund der Gestaltpsychologie: Was ist Schönheit? Gibt es gewisse Beschaffenheiten unserer visuellen Umwelt, die eine bejahende, positiv gestimmte Wahrnehmung bei fast allen Menschen unterstützen? Förderer der Schönheit ist der Titel seines Kapitels. Zu eben jener Förderung anregen, wollen die ganz grundlegenden Erkenntnisse, die der Autor jenseits von jeder stilistischen Dogmatik aufzeigt.

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Wahrnehmungsunterschiede und -besonderheiten Peter G. Richter beginnt diesen Zyklus mit einem psychologischen Blick auf die Rezeption der modernen Architektur: Warum hat es moderne Architektur so schwer? Sein Kapitel stellt die Wahrnehmungs- und Wertungsunterschiede der Architekten und Nicht-Architekten dar und hinterfragt: Wie entstehen so unterschiedliche Wertungen? Verändern sie sich im Laufe unseres Lebens? Welche Zusammenhänge haben Wahrnehmung und Wertung? Und welchen Einfluss haben das Prinzip der optimalen Neuerung, Konzepte der Informationsvermittlung oder die Integration natürlicher Elemente in die Umwelten auf die Wertungsprozesse moderner Architektur. Jörg Kurt Grütter stellt prinzipielle Fragen zum Raum: Gestalteter Raum beeinflusst unser Erleben und Verhalten. Welche interkulturellen Unterschiede gibt es hier von der Geschichte des Raums im Abendland ausgehend, über die traditionelle japanische Architektur, den islamischen Kulturbereich bis hin zur chinesischen Architektur? Welche Wechselwirkungen sind festzustellen zwischen der Gestaltung des Raums, der jeweiligen Kultur und den traditionellen Lebensformen? Das Kapitel Raumwahrnehmung aus interkultureller Perspektive zeigt gerade durch die referierten Unterschiede mit ihren Ursachen und Folgen die immense Bedeutung des Raums für unsere reale Existenz auf. Tanja C. Vollmer und Gemma Koppen, Gründerinnen des niederländisch-deutschen Architekturbüros kopvol architecture & psychology, beschäftigen sich in ihrem Kapitel Architekturwahrnehmung und Stresserleben schwerst- und chronisch Kranker vor allem mit den Wahrnehmungsbesonderheiten, die entstehen, wenn wir erkranken. Krankheit verändert unseren Körper, die Wahrnehmung unseres Körpers, die mit dieser eng verbundenen Wahrnehmung des uns umgebenden Raums und unsere Raumbedürfnisse. Diese Kaskade von Abhängigkeiten betrachten die Autorinnen naturwissenschaftlich präzise und gleichermaßen persönlich. Aus dem von ihnen eingeführten Modell der Raumanthropodysmorphie leiten die beiden ebenso konkrete wie bedeutsame Folgerungen für eine neuartige Architektur im Gesundheitswesen ab. Räume des Schmerzes und der Verletzungen stehen auch im Fokus des nächsten Kapitels: Die Nationalsozialisten schufen mit den Konzentrationslagern eigene, so nie zuvor dagewesene Städte des Grauens, die jede Vorstellung von Architektur und Raum sprengen. Wie gehen wir mit diesen Orten um? Welche Funktion haben diese Orte heute? Und wie kann Architektur – in der Gestaltung von Landschaft und von Ausstellungen – angemessen auf diese Vergangenheit verweisen? Diese Fragen verfolgt Rikola-Gunnar Lüttgenau in seinem Kapitel Unorte als Spiegel – Vom Zeigen und Sehen eines ehemaligen Konzentrationslagers. 15

Yvonne Graefe beschließt diesen Schwerpunkt mit einer poetischen Suche, die sich selbst zum Inhalt wird. Architektur, die singt: Was sind das für Architekturen, die singen? Auf verschlungenen Pfaden folgt sie Paul Valérys Essay Eupalinos, dem auch der Titel entlehnt ist, untersucht die Akustik von Gebäuden und schließlich den Raum als Emotionsraum, der uns (ein)stimmt – im akustischen und übertragenen Sinn. Fragen bleiben Fragen, Antworten nur Angebote. Der Pfad taucht auf aus der Tiefe und führt zurück zum Ausgangspunkt.

Architekturvermittlung Andrea Dreyers Kapitel Architektur vermitteln – Ein Plädoyer hinterfragt, wann man von guter Architekturvermittlung sprechen kann und stellt dazu drei Thesen auf: Gute Architekturvermittlung orientiert sich nicht am Subjekt, sondern zielt auf den Prozess. Gute Architekturvermittlung zielt auf die Entwicklung kultureller Kompetenzen und gute Architekturvermittlung ist interaktiv, eventuell partizipativ. Mit diesen Thesen öffnet sie den Blick auf den Rahmen, in dem Architekturvermittlung stattfindet, insbesondere in Verbindung mit der menschlichen Wahrnehmung, und stellt Kriterien auf, die man auf die nachfolgenden praktischen Beispiele der Architekturvermittlung anwenden und anhand dieser Beispiele diskutieren kann. Für Roland Gruber, Mitinhaber und Mitbegründer des österreichischen Architekturbüros nonconform, beginnt Architekturvermittlung in der Planungsphase. Unter dem Motto ‚Innovative Bürgerbeteiligung als Schlüssel für Baukultur‘ schildert der Autor das eigene Konzept und Erfahrungen aus der Praxis. In einem partizipativen Prozess mit den künftigen Nutzern sollen nach einer Phase des ‚gemeinsam weiter Denkens‘, neue architektonische Wege, beispielsweise im Kontext aussterbender Ortsteile, gefunden werden. Ideenwerkstätten vor Ort führen Nutzer, Planer und Behörden zusammen. So lautet der hoffnungsvoll optimistische Titel dieses Kapitels Unsere Orte müssen wieder wachgeküsst werden! Caspar Schärer zeigt in seinem Kapitel Verbindlich und aneignungsfähig aus journalistischer Sicht Bewertungskriterien der Architekturproduktion auf. Er wählt hierzu die auch aus den Kunstdisziplinen bekannten Kritikmuster Kategorie E (für ernsthaft) und U (für Unterhaltung), die Grenzbereiche zwischen high and low architecture, und zeigt, wie gerade der Versuch des Kategorisierens, dem Aufsetzen einer Brille vergleichbar, den Blick für eine jede Kategorie sprengende Differenziertheit schärft.

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Jessica Waldera, Gründerin der kleinen baumeister, stellt in ihrem Kapitel Stadtansichten auf Augenhöhe eigene Modellprojekte vor, die Kinder und Erwachsene für die eigene und die jeweils andere Wahrnehmungsperspektive sensibilisieren. Dazu werden Gruppenräume in KITAS ausgeräumt, Lieblings- und Unorte im Stadtraum fotografiert und mit echten Modellbaumaterialien Stadtvisionen entwickelt. So entdecken Kinder und Erwachsene neue Welten. Und die Kinder erleben die gegebene Umwelt als Ort, der sie zur Teilhabe einlädt und potentiell veränderbar ist. Mit Vernetzungen in der Architekturwahrnehmung – Forschung zur Architekturvermittlung an der Bauhaus-Universität Weimar endet das Buch. Als Gegenpart zu den philosophisch-phänomenologischen Impulsen von Bernd Rudolf beschreibt Luise Nerlich hier eine konkret erlebbare Architekturwahrnehmung an einem realen Ort als Teil des Architekturstudiums. Der persönliche Weg der Wahrnehmung führt die Studierenden durch ein Cluster im Netz von Knoten und Bahnen. Dieses Cluster besteht aus Farbe, Form, Grenzen, Oberflächen, Natur usw. Das Erleben und die Reflexion der eigenen Ortswahrnehmung werden zur Voraussetzung für neue persönliche Entwurfskonzepte. Weiter beschreibt die Autorin die Konzepte der Architekturvermittlung an der Bauhaus-Universität Weimar im Kontext von Symposien und konkreten Studierenden-Projekten.

Während der Ringvorlesung waren den einzelnen Vorträgen Kurzfilme vorangestellt. Diese sollten kontrapunktisch und auf ganz individuellem künstlerischen Weg die Thematik ergänzen. Auf der Homepage der Professur Bauformenlehre, Prof. Bernd Rudolf, unter: https://www.uni-weimar.de/de/architektur-und-urbanistik/professuren/bauformenlehre/ ist ein Eindruck dieses von Studierenden und Lehrenden des Studiengangs MediaArchitecture und des Bauhaus Film-Institutes organisierten Projektes zu sehen. Wir bitten um Verständnis, dass wir nicht garantieren können, in welchem Umfang und wie lange die Kurzfilme dort zu sehen sein werden. Wir danken allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Expertisen zum Gelingen des Buches beigetragen haben. Besonderer Dank gilt Frau Dr. Luise Nerlich, die dem Band mittels ausgewogenem Grafikdesign im Layout zu einer großen Konsistenz der heterogenen Einzelbeiträge verholfen hat. 17

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Architektur und Aufmerksamkeit

Alexandra Abel Die Bedeutung der Architekturwahrnehmung „Die Überraschung ist das Erwachen im Wachen. Man wird mitten im Wachen geweckt.“ Paul Valéry1 90 Prozent unserer Zeit verbringen wir in Architektur2 und die restlichen 10 Prozent fast ausschließlich in ihrer unmittelbaren (Sicht)-Nähe. Alles, was unser Leben ausmacht, – essen, trinken, lieben, schlafen, geboren werden, sterben, krank sein, gesund, glücklich, unglücklich, arbeiten, feiern, alleine sein, zu zweit, groß werden, klein sein – all dies geschieht unter den Vorgaben von Architektur. Architektur gestaltet die Realität unserer Existenz. Sie ist der Raum, in dem sich unser Leben vollzieht. Ihre und unsere eigene Identität sind miteinander verwoben, hängen voneinander ab. Dadurch macht sie unsere Freiheit aus und das ist zugleich ihre Verantwortung. Das berühmteste Zitat zu dieser gegenseitigen Abhängigkeit stammt von Churchill: „We shape our buildings, and afterwards our buildings shape us.“3 Wir formen unsere Gebäude und danach formen sie uns.

1_ Aus: Valéry, Paul: Ich grase meine Gehirnwiese ab; Cahiers, Auswahl; Frankfurt am Main, 2011; S. 262. Der Franzose Paul Valéry (1871–1945) war zugleich Essayist, Poet und Philosoph. Die Schönheit seiner lyrischen Ausdrucksweise ist daher auch seinen philosophischen Ausführungen anzumerken. 2_Diese Angabe entspricht unserer eigenen Einschätzung, allerdings bezogen auf unseren kulturellen Kontext. Sie stammt aus der berühmten Studie von Evans, G. W. und McCoy, J. M. mit dem Titel When buildings don´t

work: The role of architecture in human health; Journal of Environmental Psychology, 1998, vol. 18, pp. 85–94.; p. 85. Auch wenn die Zahl unserer eigenen Einschätzung entspricht, muss angemerkt werden, dass die Autoren selbst keine Angabe dazu machen, wie sie auf diese Zahl gekommen sind. 3_ Das Zitat ist aus einer Rede, die Winston Churchill (1874–1965), britischer Staatsmann und Premierminister, anlässlich der Zerstörung und des Wiederaufbaus des House of Commons am 28. Oktober 1943 im House of

Commons gehalten hat. Das Zitat selbst, sowie „in its old form, convenience and dignity“ und alle inhaltlichen Zusammenfassungen aus der Rede sind zitiert nach: hansard.millbanksystems.com/commons/1943/oct/28/ house-of-commons-rebuilding. Abgerufen am 14.02.2017. (im Folgenden zit. als: Churchill: Commons; 1943).

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Abb. 1:

House of Commons

Während des Zweiten Weltkrieges traf eine deutsche Brandbombe den Sitzungssaal des britischen Unterhauses, House of Commons genannt, und zerstörte ihn. Als man über den Wiederaufbau diskutierte, gab es viele, die den Saal in einer neuen Form aufbauen, die Sitze etwa in einem Halbrund oder in einem Hufeisen anordnen wollten, die argumentierten, jetzt, wo der alte Saal zerstört sei, könne man doch einen neuen größeren bauen, der endlich Platz für alle Parlamentsmitglieder hätte. Churchill aber wollte, dass der Saal „in its old form, convenience and dignity“4 wieder aufgebaut würde. Er sollte weiter zu klein sein, nur 427 Sitzplätze haben für 646 Parlamentsmitglieder. Dadurch würde, wer zu spät kam, am Eingang stehen müssen. Und wenn es wichtiges zu besprechen gab, würde es eben eng werden. Das betone die Bedeutung des Moments. Und die Abgeordneten sollten nicht in Hufeisenform sitzen, sondern einander gegenüber. Genau diese räumliche Anordnung sei für die Entstehung des Zweiparteiensystems verantwortlich, für das Kernstück der britischen Demokratie. Und diese Anordnung, Regierungspartei und Opposition einander gegenüber, als zwei Fronten, jeweils dem politischen Gegner ins Gesicht schauend, dicht gedrängt, erlaube heftige lebendige Debatten. Würde man diesen Raum verändern, so würde man an den Grundfesten des Britischen Empire rütteln. Also wurde der Saal genau so wieder aufgebaut, wie er zuvor gewesen war. Churchill war ein guter Wahrnehmer. Er erkannte das Erleben und Verhalten in diesem Sitzungssaal als Resonanz auf die räumlichen Vorgaben. Wenn wir Architektur in ihrer Bedeutung für uns verstehen wollen, müssen wir aufmerksam werden: nicht auf Architektur, sondern auf unsere Interaktion mit Architektur. Dann können wir Ansprüche an sie entwickeln und selbstsicher werden in unserer Wertung. 4_ Churchill: Commons; 1943.

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Architektur in den klassischen Nachschlagewerken ist definiert als kunstvoll Gebautes, zumeist bezeichnet als Baukunst.5 Das ist eine Definition, die ein Urteil, eine Wertung in sich trägt. Wer aber fällt dieses Urteil? Jeder für sich? Oder nur Experten? Architekturkritiker? Wie lange gilt ein solches Urteil? Muss für jedes Gebäude neu entschieden werden, ob es sich um Architektur handelt? Architektur soll hier zunächst ganz allgemein als gebaute Umwelt verstanden werden. Jede Wertung basiert auf Wahrnehmung. Über die Beschäftigung mit der Wahrnehmung wird Wertung nachvollziehbar und damit das sonst kaum zu fassende ‚Mehr‘, das Gebautes zu kunstvoll Gebautem werden lässt. Architektur entsteht für uns Menschen. Deshalb kann sie nicht gelingen fernab von uns. Wenn sie Kunst ist, ist sie es in Bezug auf uns. Und die Resonanz, die sie in uns auslöst, erklärt ihre Wertung. Diese Resonanz wiederum kann man wahrnehmen. Architekturwahrnehmung in diesem Sinn meint also nicht die Fähigkeit, Architektur wahrzunehmen. Architekturwahrnehmung meint die Fähigkeit, uns selbst und unser Gegenüber (er)lebend in und mit ihr wahrzunehmen.

5_ Die Brockhaus-Enzyklopädie definiert Architektur als Baukunst und diese wiederum als „älteste und am meisten zweckgebundene der bildenden Künste“. vergl.: Brockhaus: Brockhaus-Enzyklopädie; in 24 Bd. – 19., völlig neubearbeitete Auflage. B.2; Mannheim, 1987; S. 82. Dieser Aspekt der Kunst, zumeist als Begriff verbunden zu Baukunst, auf jeden Fall aber mit dem Zusatz der künstlerischen Gestaltung versehen, verbindet die Definitionen der klassischen Nachschlagewerke.

Prestel Taschenlexikon Architektur des 20. Jahrhunderts von Klaus Richter definiert Architektur als „Bezeichnung für die Kunst des Baumeisters, Ingenieurs und Stadtplaners“. vergl.: Richter, Klaus: Prestel Taschenlexikon – Ar-

chitektur des 20. Jahrhunderts; München, 2000; S. 5. Das Wörterbuch Synonyme, herausgegeben von Herbert Görner und Günter Kempcke, übersetzt Architektur mit Baukunst und Baukunst mit Architektur. vergl.: Görner, Herbert / Kempcke, Günter: dtv Wörterbuch Synonyme; München, 1999; S. 80., S. 125.

Die Zeit – Das Lexikon in 20 Bänden schreibt: „Unter A. versteht man i. Allg. den Hochbau, in dem sich, im Unterschied zum Tiefbau, Zweckerfüllung mit künstler. Gestaltung verbindet“. vergl.: Die Zeit: Die Zeit – Das Lexikon

in 20 Bänden; Band 1; Mannheim, 2005; S. 343. Im Bertelsmann Lexikon, Band 1, heißt es denn auch entsprechend, Architektur sei „Baukunst, die profanen wie sakralen Zwecken dienende älteste aller bildenden Künste; deren Ergebnis die Behausung im weitesten Sinn ist“. vergl.: Lexikon-Institut Bertelsmann: Bertelsmann Lexikon; Band 1; Gütersloh, 1992; S. 288. Im Duden, dem Deutschen Universalwörterbuch, ist von drei Bedeutungsinhalten von Architektur die Rede: Architektur ist die „Baukunst (als wissenschaftliche Disziplin)“, ferner ein „(mehr od. weniger) kunstgerechter

Aufbau u. künstlerische Gestaltung von Bauwerken“ und drittens die „Gesamtheit von Erzeugnissen der Baukunst“. vergl.: Dudenredaktion: Duden – Deutsches Universalwörterbuch; 5. überarbeitete Auflage; Mannheim, 2003; S. 163.

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Die Dimensionen unserer Existenz Mensch sein heißt, im Raum sein und in der Zeit.6 Diese Dimensionen definieren die Bedingung unserer Existenz. In der Zeit sind wir nicht frei. Wir können uns in ihr nicht vor und zurück bewegen, sie nicht anhalten. Können wir die Dimension der Zeit in irgendeiner Weise beeinflussen? Etwa durch unsere eigene Geschwindigkeit, im Sinne einer Entschleunigung oder durch Einsteins Zeitdilatation? Unsere Sehnsucht nach dem Augenblick, zu dem wir sagen: „Verweile doch! Du bist so schön!“7, ist immer auch der Versuch, unserer menschlichen Beschränktheit in der Dimension der Zeit etwas entgegenzusetzen. Uns inmitten von so viel Unendlichkeit mit unserer eigenen Endlichkeit am Augenblick festzuhalten. Fortgespült werden wir dennoch, denn wir können in der Zeit nicht ankommen. Die Zeit nimmt alles mit: perfekte Momente, unperfekte, Glück, Leid, unsere Erinnerung, uns selbst. Es ist die Zeit, die uns in die Knie zwingt, textet Eric Clapton.8 Geborgenheit gibt es für uns nur im Raum. Nicht im grenzenlosen Weltall, das wir im nächtlichen Sternenhimmel erahnen. „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern“, schreibt der französische Mathematiker, Physiker und Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) in seinen Pensées.9 Aber innerhalb dieser grenzenlosen unfassbaren Dimension können wir uns Behausungen schaffen, uns abgrenzen, einrichten, ankommen, – für eine Zeit. Wir können dem unendlichen Raum eigenen Raum abtrotzen und diesem eine Identität geben, unsere Identität, können diese Identität weiterreichen, Raum durch Zeit. Alles Elend des Menschen rührt nach Blaise Pascal daher, dass er ein Mittelding ist zwischen Nichts und Allem: „Denn, was ist zum Schluß der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All.“10 In dieser schmerzhaften Zwischenposition, die Bestimmung unseres Daseins ist, brauchen wir die schützende Behausung, aus der heraus wir auf das unendliche Sternenmeer schauen können.

6_ Siehe auch: Abel, Alexandra: Klassisch Modern – Lebensstile in Weimar; Weimar, 2015; S. 7. 7_Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie Erster Teil; Stuttgart, 2016 (1808); S. 48. „Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehen!“. 8_ „Time can bring you down / Time can bend your knees / Time can break your heart / Have you begging please“ / Tears in Heaven von Eric Clapton. siehe: http://www.songtexte.com/songtext/eric-clapton/tears-inheaven-33d58829.html. Abgerufen am 22.11.16. 9_ Pascal, Blaise: Über die Religion und über einige andere Gegenstände; Übertragen und herausgegeben von Ewald Wasmuth, 9. Auflage; Gerlingen, 1994 (Pensées: 1669 posthum); S. 106. 10_ Ebenda; S. 43.

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Architektur schafft Räume und verändert den Raum, der uns als Außenraum umgibt. Die abstrakte Dimension Raum umgibt uns in Form eines realen Raumes, der ganz wesentlich von Architektur geprägt ist. Ihn können wir begreifen, ergreifen, berühren und für wahr nehmen, mit all unseren Sinnen. In der Auseinandersetzung mit diesem Raum können wir ankommen in der Realität unserer menschlichen Existenz. Wann immer wir begreifen: „Das bin ich, jetzt und hier!“ werden wir uns unseres Selbst bewusst. Dieses Selbstbewusstsein ist die höchste Stufe des Bewusstseins, die wir erreichen können, „[das – A.d.V.] Erkennen des autobiographischen Charakters der persönlich erlebten Ereignisse.“11 Desto intensiver die drei Teile: Ich – Hier und Jetzt, desto spürbarer sind wir uns selbst. Gefühle wie Trauer oder Glück intensivieren unsere Wahrnehmung. Oder auch Momente, in denen das Jetzt besonders betont wird, Momente des Abschieds, des Wiedersehens, Momente, in denen Zeit besonders kostbar ist. Immer mit dem Zusatz, dass sich das Jetzt letztlich unserer Wahrnehmung entzieht. Oder Hiers: Wenn sie uns wachrütteln, überraschen, irritieren, beeindrucken, uns zur Wahrnehmung oder Berührung einladen. Architektur kann uns in diesem Sinne selbstbewusst machen. Dann ist die Realität der Wände, die uns umgibt, der Beweis unserer eigenen Existenz. Und indem wir die Wand berühren, können wir unser eigenes Da-Sein begreifen. Wir Hier Jetzt. Deshalb fahren wir zur Akropolis und strecken dort die Hand aus nach den Säulen. Deshalb spüren wir selbst uns im Urlaub viel stärker als sonst. Deshalb brauchen wir die Kunst, die unsere Aufmerksamkeit erregt und diese letztlich immer auf uns selbst lenkt. In Jean-Paul Sartres Theaterstück Geschlossene Gesellschaft sitzen drei Menschen in einem Hotelzimmer. Irgendwann wird ihnen und den Zuschauern klar: Sie sind in der Hölle. Nicht, weil es dort raucht und knallt und extrem heiß ist, sondern weil sie einander Hölle sind. Die Hölle, das sind Menschen und Räume, die uns nur negatives spiegeln.12 Unsere Identität entsteht durch Begegnungen: mit uns selbst, den anderen (Menschen, Tieren...), dem anderen (Umwelt). Im Spiegel dieser Begegnungen entwickeln und bewahren wir unser eigenes Selbst. Wenn ein Baby geboren wird, streichelt seine Mutter es. 11_ So definiert im Standardwerk Psychologie von Zimbardo und Gerrig. Zimbardo, Philip G. / Gerrig, Richard J.:

Psychologie; Bearbeitet und herausgegeben von Siegfried Hoppe-Graff und Irma Engel; 7. Neu übersetzte und bearbeitete Auflage; Berlin, Heidelberg, 2004 (Psychology and Life: 1996); S. 205. 12_ Der französische Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre (1905–1980) selbst schreibt über Geschlossene

Gesellschaft: „Die Hölle, das sind die andern. [...] Man glaubte, ich wolle damit sagen, daß unsere Beziehungen zu andren immer vergiftet sind, daß es immer teuflische Beziehungen sind. Es ist aber etwas ganz andres, was ich sagen will. Ich will sagen, wenn die Beziehungen zu andern verquer, vertrackt sind, dann kann der andre nur die Hölle sein. Warum? Weil die andren im Grunde das Wichtigste in uns selbst sind für unsere eigene Kenntnis von uns selbst.“ Sartre, Jean-Paul: Geschlossene Gesellschaft. Stück in einem Akt in neuer Übersetzung; Neuübersetzung von Traugott König; Reinbek bei Hamburg, 2016 (Huis clos: 1947); S. 61.

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Und ihre Hände zeigen dem Baby die Grenzen seines Körpers. Wenn das Baby den Mund spitzt, lächelt, weint, ahmt die Mutter instinktiv seinen Gesichtsausdruck nach, selbst Geräusche, die es macht. Wie in einen Spiegel schaut das Baby, wenn es in das Gesicht seiner Mutter schaut. Und begreift so seine eigenen Gefühle. Sie ist seine Resonanz. Wenn die Verbindung zwischen den beiden erst hergestellt ist, funktioniert der Spiegel auch in der anderen Richtung. Die Mutter lächelt das Baby an. Das Baby imitiert ihr Lächeln. Und fühlt sich dadurch glücklich. Auf die gleiche Weise kann man seine eigene Stimmung aufhellen, wenn man sich im Spiegel anlächelt oder zehn wildfremde Menschen erfreuen, die man in der Fußgängerzone zum Lächeln bringt, indem man sie anlächelt. Und auf ähnliche Weise interagieren wir mit Architektur. Wir beziehen sie immer auf uns selbst. Wir fühlen uns erhaben im Straßburger Münster oder verschüchtert und klein. Das Haus birgt und behütet uns, beschützt uns. Oder es bedrückt und verängstigt uns. Diese Resonanz bestimmt unsere Gefühle. Unser Verhalten. Deshalb spüren wir in Architektur immer nur uns selbst. Ihre Wirkung ist auf uns selbst bezogen. Wenn Architektur uns diese Resonanz verwehrt oder uns dauerhaft negative Gefühle eingibt, wird sie uns zur Hölle. Identität entsteht aus Begegnungen: Begegnungen mit uns selbst. Dem anderen. Der Umwelt. Architektur prägt unsere Identität dabei zweifach: in der direkten Begegnung zwischen dem eigenen Selbst und der Umwelt und indirekt, weil Architektur auch soziale Interaktionen beeinflusst. Was wir sind, was wir sein könnten, was wir sein werden, hängt deshalb zu einem Großteil ab von dem gestalteten Raum, der uns umgibt.

Wahrnehmung und Wirklichkeit Dieses Buch fordert auf: Achten Sie auf Ihre Wahrnehmung. Bedienen Sie sich Ihrer Wahrnehmung! Reflektieren Sie Ihre Wahrnehmung. Trainieren und schulen Sie Ihre Wahrnehmung. Und versuchen Sie vor allem, sie zu verstehen. Im Kontext von Architektur, darüber hinaus aber selbstverständlich prinzipiell. Denn sie liegt als Basis jeder Begegnung zugrunde: zwischen uns und unserem eigenen Selbst, dem anderen und der Umwelt. Die Funktionsweise und die Auswirkungen all dieser Begegnungen, sprich Interaktionen, erschließt sich uns nur über das Verständnis unserer Wahrnehmung. Denn die Wahrnehmung ist unser Bezug zur Wirklichkeit. Sie ist realer für uns als die Wirklichkeit selbst. Jeden Morgen geht für uns die Sonne auf. Wir sehen sie hochsteigen, ein glühender Feuerball, der sich aus dem Meer erhebt. Oder ein helles Leuchten, das über das Dach des Nachbarhauses klettert. Fernab von jeder theoretischen Erkenntnis glauben wir jeden Morgen erneut unserer Wahr26

nehmung.13 Dass sich die Erde dreht, die Sonne durch diese Drehung aus unserem Blick verschwindet oder durch sie in unserem Blick erscheint, ist völlig unwichtig und irreal für uns. Unsere Wahrnehmung ist kein trivialer Akt und keine 1:1 Abbildung der Wirklichkeit. Sie ist beschränkt, selektiv, individuell, komplex, konstruktiv und kreativ. Sie ist kein Schatten an der Höhlenwand, sondern unsere ganz eigene Vision der Welt. Sie ist unsere geheime Freiheit. Der Begriff Wahrnehmung suggeriert: Hier ist eine Wahrheit und Du kannst sie Dir nehmen. Tatsächlich versuchen wir die Wirklichkeit durch unsere Wahrnehmung zu ergreifen und zu begreifen, aber das, was wir uns damit nehmen, hat nichts mit WAHR im Sinne von Richtig oder Falsch zu tun. Es ist jenseits einer solchen Wertung.

a. Unsere Wahrnehmung ist beschränkt. Eines der grundlegendsten und berühmtesten Bilder zur Wahrnehmung ist das Höhlengleichnis von Platon (ca. 428/427 v. Chr.–348/347 v. Chr).14 Hier allerdings ist von Gefangenschaft die Rede, nicht von Freiheit. Menschen sitzen in einer Höhle, an Hals und Schenkeln gefesselt an eine Wand aus Ziegelsteinen. Sie können sich nicht bewegen, nur geradeaus schauen auf die gegenüberliegende Höhlenwand. Dort sehen sie Schatten vorübergleiten, eine Amphore vielleicht, ein Pferd. Diese Schatten halten sie für die Dinge selbst, denn sie kennen nichts anderes. Dabei sind es nur die Schatten der wirklichen Gegenstände, die hinter ihrem Rücken an ihnen vorbeigetragen werden. Da sie sich nicht umdrehen und nicht über die Ziegelsteinmauer hinweg schauen können, sind sie außerstande, die Wirklichkeit wahrzunehmen. Und selbst wenn sie sich umdrehen könnten, wären sie immer noch in einer Höhle gefangen, die nur von einem Lagerfeuer beleuchtet wird. Um die Wirklichkeit im Licht der Sonne zu sehen, müsste es ihnen gelingen, die Höhle zu verlassen. Ja, die menschliche Wahrnehmung ist beschränkt. Wir können nur wahrnehmen, wofür wir Sinnesorgane haben. So haben wir beispielsweise kein Sinnesorgan, um Radioaktivität zu bemerken, leiden aber dennoch unter den Folgen. Die Rettungsarbeiter nach den Reak13_ „Trotz all unserer kritischen Erziehung ist und bleibt das Wahrgenommene diesseits jeden Zweifels wie auch jeden Beweises. Die Sonne ‚geht auf‘ für den Wissenschaftler wie für den Unwissenden, und all unsere wissenschaftlichen Vorstellungen vom Sonnensystem bleiben ein ‚On dit‘, [...]“. Merleau-Ponty, Maurice: Phänome-

nologie der Wahrnehmung; Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm; Berlin, 1966 (Phénoménologie de la perception: 1945); S. 395. (im Folgenden zit. als Merleau-Ponty:

Phänomenologie; 1966). 14_ Platon: Das Höhlengleichnis. Sämtliche Mythen und Gleichnisse; Ausgewählt und eingeleitet von Bernhard Kytzler; Frankfurt am Main, Leipzig, 2012; S. 183ff. Angemerkt werden muss, dass der griechische Philosoph gerade versucht, die Gebundenheit der Sinne zu überwinden und durch die philosophische Erkenntnis das wahre Wesen der Dinge zu ergründen.

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torunglücken in Tschernobyl und Fukushima waren ihr ausgesetzt, ohne zu ihrer eigenen Warnung auch nur das geringste davon zu bemerken. Außerdem können wir nur wahrnehmen, was im Bereich unserer Wahrnehmungsgrenzen liegt. Wir sehen Licht nur zwischen etwa 400 und 700 Nanometern. Ultraviolettes Licht und Infrarot sind für uns ohne Hilfsmittel nicht visuell wahrnehmbar. Für Platon aber sind unsere wirklichen Fesseln die Grenzen unserer Vorstellungskraft. Denn wir können, so seine Botschaft als Philosoph, nur wahrnehmen, was wir uns vorstellen, was wir begreifen können. Das heißt, um etwas wahrzunehmen, so dass es tatsächlich dem Begreifen in irgendeiner Form zugänglich ist, ob als Wort, als Ahnung, als Eindruck, muss man eine Vorstellung davon besitzen. Diese Beschränktheit beinhaltet aber auch ein Potential. Und auf dieses zielt Platon eigentlich ab. Indem man Vorstellungen erwirbt, erwirbt man auch neue Wahrnehmungsmöglichkeiten. Vorstellungen im Sinne solcher Wahrnehmungserweiterungen unterscheiden beispielsweise Architekten und Nicht-Architekten. Kann ein Nicht-Architekt die Konstruktion eines Hauses wahrnehmen, wenn er keine Vorstellung davon besitzt? Sieht er eine Dachtraufe? Ein Gesims? Eine Gebäudefunktion hinter der Fassade? Um Dinge wahrnehmbar zu machen, muss man sie vorstellbar machen.15

b. Unsere Wahrnehmung ist selektiv. In einer seiner Krimikurzgeschichten schildert Chesterton einen Fall des charmanten Ermittlers Pater Brown. Ein Mord wird angekündigt. Um den Mann in Sicherheit zu bringen, begleitet man ihn in seine Wohnung. Dort wird er allein gelassen. Vor dem Eingang des Hauses postiert man einen Kastanienverkäufer, einen Polizisten, einen Hausmeister und einen Türsteher. Sie alle sollen Acht geben, dass niemand das Haus betritt. Als Pater Brown und der ermittelnde Privatdetektiv wenig später eintreffen, ist der Mann in seiner Wohnung bereits ermordet worden. Doch alle vier Wächter schwören: Niemand hat das Haus betreten. Wer hat den Mann dann umgebracht? Gespenster? Nein, es war der Postbote. Die vier Wächter haben sehr aufmerksam nach einem Mörder Ausschau gehalten. Der Postbote ist ihrer Aufmerksamkeit entgangen, obwohl er vor ihren Augen ins Haus marschiert ist. Er war für sie unsichtbar.16 Wir Menschen sind nicht imstande, alles, was uns umgibt, wahrzunehmen. Wir müssen immer auswählen, in jeder einzelnen Sekunde unseres Lebens. Und nur ein Bruchteil von all der Information 15_ Worte erleichtern Vorstellungen und helfen so beim Wahrnehmen. Rabin (1988) hat beispielsweise bei einem Experiment mit Gerüchen nachgewiesen, dass das Erlernen von Begriffen für Gerüche die Unterscheidung zwischen einzelnen Gerüchen und deren Wiedererkennen erleichtert. vergl.: Rabin, M.D. (1988): Experience

facilitates olfactory quality discrimination, Perception and Psychophysics, vol. 44, pp. 532–540. 16_ Chesterton, Gilbert Keith: Father Browns Einfalt. Zwölf Geschichten; Deutsch von Hanswilhelm Haefs; Zürich; 1991 (The innocence of Father Brown; 1911). Daraus: Der unsichtbare Mann; S. 99ff.

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kann von uns bewusst wahrgenommen werden. Dieser Bruchteil aber ist für uns auf eine andere Art existent als der Rest: So formuliert Georg Franck in seiner Ökonomie der Aufmerksamkeit: „Es gibt nichts Wirklicheres als Bilder, die nicht mehr aus dem Sinn gehen. Nichts hat größere Macht über uns als das, was aufmerksame Zuwendung erzwingt. Alles, worauf wir unwillkürlich achten, hat unwillkürlich Wirkung auf uns. Und alles, was unsere Aufmerksamkeit reizt, ist in einem höheren Grade wirklich als der Hintergrund.“17 Aber entscheiden wir selbst, wem wir so viel Macht über uns zugestehen? Ja und nein. Zum Teil werden wir auf Faktoren aufmerksam, automatisch und ohne unsere Zustimmung. Aber wir können auch selbst entscheiden, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Beides sind unterschiedliche Prozesse, die aber parallel und komplementär in unserem Alltag stattfinden. Man bezeichnet sie als external erzeugte und internal oder auch endogen erzeugte Aufmerksamkeit. Erstere wird durch Impulse aus der Umwelt gesteuert, zweitere basiert auf Entscheidungen von uns selbst.18 Forschungsergebnisse zeigen, dass, sollten beide konkurrieren, sich die reizinduzierte Aufmerksamkeit durchsetzt. Wir werden in diesem Fall vereinnahmt durch das, was die Aufmerksamkeit auf sich zieht.19 Der Wolkenkratzer, der die Skyline einer Stadt schon aus der Ferne dominiert, das rote Werbeschild einer Supermarktkette, der futuristische Baukörper zwischen seinen zurückhaltenden Nachbarn – all dies erregt unsere Aufmerksamkeit extern, ohne unser Zutun, genauso wie es die Sirene eines Krankenwagens tun würde. Auf diese reizinduzierte Aufmerksamkeitsvereinnahmung haben wir zunächst einmal keinen Einfluss. Wir sind diesen Eye-Catchern ausgeliefert. Grundvoraussetzung für diese reizinduzierte Aufmerksamkeit ist Sichtbarkeit.20 Nur das, was wir sehen, kann unsere Aufmerksamkeit erregen. Also sind große, hohe Gebäude, umgeben von Plätzen oder Wasser im Vorteil. Ebenso wie extreme Reizkonstellationen, rote Flächen, Glanz etwa in Form von Lichtreflexionen. Sichtbarkeit 17_ Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf; München, 1998; S. 172. 18_ Yantis, Steven: Stimulus-driven attentional capture; in: Current Directions in Psychological Science; vol. 2, pp. 156–161; 1993. und: Yantis, S. / Jonides, J.: Abrupt visual onsets and selective attention: Voluntary ver-

sus automatic allocation; in: Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance; vol. 16, pp. 121–134; 1990. 19_ Theeuwes, J., / Kramer, A.F., / Hahn, S., / Irwin, D.E.: Our eyes do not always go where we want them to

go: Capture of the eyes by new objects; in: Psychological Science; vol. 9, pp. 379–385; 1998. (im Folgenden zit. als Theeuwes: Capture of the eyes; 1998). Neuere Forschung stellt hier allerdings zur Diskussion, ob sich diese Vorrangigkeit, die vor allem bei einzelnen artizifiellen Reizvorgaben beobachtet wurde, auch auf komplexe naturalistische Stimulusexpositionen übertragen lässt. Siehe zu dieser Diskussion beispielsweise: Flechsenhar, Aleya / Rubo, Marius / Gamer, Matthias: Soziale Aufmerksameit; in Müller, Jörn / Nießeler, Andreas / Rauh, Andreas (Hrsg.): Aufmerksamkeit. Neue humanwissenschaftliche Perspektiven; Bielefeld, 2016; S. 171. 20_ Stellvertretend natürlich auch für alle anderen Wahrnehmungsmodalitäten als Zugänglichkeit der Stimuli zu unseren Wahrnehmungsorganen, also auch Hörbarkeit usw.

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im weiteren Sinne betrifft die Fotogenität von Architektur. Was sich gut abbilden lässt, wird uns eher durch ein Medium vermittelt erreichen. Sichtbarkeit meint natürlich auch die prinzipielle Präsenz in den Medien, ist also nicht nur vorhanden oder nichtvorhanden, sondern auch eine graduelle Eigenschaft. Um Aufmerksamkeit nicht nur zu erregen, sondern auch zu halten, bedarf es weiterer Faktoren. Rekorde beispielsweise faszinieren, denn sie stehen stellvertretend für die Leistung, einer Nation, eines Herrschers, einer Stadt, für menschliche Leistung an sich. So haben sie für uns Bedeutung, weil sie unsere eigene menschliche Bedeutung erhöhen. Und wir alle wünschen uns, dass uns Orte mit Bedeutung umgeben, weil wir alle eine Bedeutung haben wollen, immer, krank und gesund, jeder von uns. Wir wollen nicht die Straßen eines Viertels entlang laufen und die eigene Austauschbarkeit in Architektur vor Augen gehalten bekommen. Eng verbunden mit Rekorden und Bedeutung ist der Aspekt der Neuheit oder der Einzigartigkeit. Gemäß den Gesetzen der externalen Aufmerksamkeit fokussieren wir bevorzugt das, das vorher nicht da war, also die neu hinzukommenden Informationen.21 Darum sind wir in der Gewohnheit des Alltags keine guten Wahrnehmer, sehr intensive Wahrnehmer dagegen auf Reisen, wenn uns nur Neues umgibt. Und deshalb ist es die Architektur der Superlative, des Ungewöhnlichen, des immer neu Infragestellens, die auf sich aufmerksam macht. Aber kann man Architektur immer neu erfinden? Und wie wirkt sich dieser Zwang nach immer Neuem auf die Qualität der Architektur aus? Auffallen basiert auf dem Kontrast zum Nichtauffallenden. Ein Gebäude kann nur groß neben kleinem sein, schwarz nur neben weißem. Auffälligkeit ist also auf einen Kontext angewiesen, in dem nicht alles um Aufmerksamkeit ringt. So stehen die Münster und Kathedralen als Monolithe häufig neben Kleinmaßstäblicherem. Architektur-Skulpturen von Hadid, Gehry oder Utzon sind umgeben von leeren Flächen oder Wasser. Zweideutigkeit, Konfusion, alles, was uns irritiert und überrascht, bringt das automatische Funktionieren unserer unbewussten Wahrnehmung ins Stolpern und führt so zu bewusster Wahrnehmung. Architektur kann uns in diesem Sinn durch Orientierungslosigkeit, das Gefühl des Verirrens zu Bewusstheit und damit letztlich zu Selbstbewusstheit verhelfen wie beispielsweise das Jüdische Museum in Berlin von Daniel Libeskind. Nur wer sich verirrt, kann etwas finden, auch eine eigene Position, eine eigene Haltung. Wobei nicht jede Irritation, jede zweideutige Wahrnehmung in unserem Umfeld

21_ Theeuwes: Capture of the eyes; 1998.

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Abb. 2:

Jüdisches Museum Berlin, Daniel Libeskind, 2001

in dieses Finden aufgelöst werden kann. Manche bleibt als Irritation ohne katharsischen Aha-Effekt bestehen und erzeugt dann kognitive Erschöpfung und Rückzug.22 Und Qualität an sich? Vertreter der Gestalttheorie wie von Ehrenfels vermuten, dass die ‚gute‘ Form sich selbst ihre Aufmerksamkeit in uns erschafft, indem sie durch Qualität auf uns zu tritt.23 Oder wie Gadamer es allgemeiner für die Kunst formuliert: „Es bleibt doch wahr: Während das Werkstück handwerklicher oder industrieller Fertigung sich im Gebrauch erfüllt und verzehrt, mag das Kunstwerk noch so sehr in Lebenszwänge und Lebenszwecke eingefügt werden – es hebt sich heraus.“24 Aufmerksamkeit und Präferenz sind nicht identisch. Architektur, die auf sich aufmerksam macht, gefällt uns nicht automatisch. Doch andersherum müsste danach Architektur, die uns sehr gut gefällt, unsere Aufmerksamkeit automatisch erregen. Aber auch das, was uns nicht gefällt und dennoch unsere Aufmerksamkeit erregt, prägt unser Erleben und Verhalten, unsere Wahrnehmung, füllt unsere Wahrnehmungsdepots, bahnt Wege für kommende Wahrnehmungen, beeinflusst unsere Erinnerung, wird so zu unserer Persönlichkeit. 22_ Kahneman, Daniel: Attention and effort; Englewood Cliffs, NJ, 1973. 23_ Ehrenfels, Christian von: Über Gestaltqualitäten; in: Vierteljahresschrift wissenschaftlicher Philosophie, Nr. 14, 1890; S. 249–292. Der österreichische Philosoph Christian von Ehrenfels (1859–1932) ist einer der wichtigsten Vordenker der Gestaltpsychologie. 24_ Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke 8, Ästhetik und Poetik I; daraus: Vom Schönen zur Kunst – von

Kant zu Hegel, Band 18: Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst bis zur Anti-Kunst von heute 1985; Tübingen, (1993) 1999; S. 215. Der deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer (1900– 2002), u.a. Schüler Heideggers, wird als Begründer einer universalen Hermeneutik bezeichnet.

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Ohne unsere Zustimmung beeinflussen uns täglich Werbesprüche, Logos, Plakate, Menschen, Bilder, Gebäude, prägen sich uns ein und damit uns, auch wenn wir das nicht im Mindesten wollen. Was darf uns beeindrucken, prägen, Spuren auf uns hinterlassen? Das, was für uns Bedeutung hat. Umgekehrt gilt aber auch: Es hat das für uns Bedeutung, das unsere Aufmerksamkeit erregt. Dinge erlangen Bedeutung, weil sie unsere Aufmerksamkeit einfordern und wir dies nicht verhindern können. Das ist identisch mit dem, was Nietzsche als modernen Nihilismus beschreibt, ein Verfall von Zeichen und von Bedeutungen.25 Wenn alles austauschbar ist, wir ungeschützt einem nicht mehr überschaubaren Informationsangebot ausgesetzt sind, den Zufluss an Information nicht mehr selbst steuern oder dosieren können, wird Aufmerksamkeit zum Anzeichen für Bedeutung. Dann hat das für uns Bedeutung, das unsere Aufmerksamkeit erregt, wodurch auch immer. Je verwirrender unsere Umwelt, virtuell oder real, desto massiver der Kampf um unsere Aufmerksamkeit und desto dringender unser Bedürfnis nach Orientierung.26 Wer die Aufmerksamkeit hat, ist bedeutend. Wer die Aufmerksamkeit hat, hat die Macht. Was können wir dem entgegensetzen? Wir müssen die bewusste Wahrnehmung zur selbstbewussten Wahrnehmung erhöhen, im oben beschriebenen Sinn. Denn durch sie kann der Mensch reflektieren und kommunizieren, was ihn beeinflusst, warum, ob ihm dieser Einfluss gefällt, gut tut, oder nicht. Nur dann kann er Ansprüche entwickeln, Wirkungen hinterfragen, verstehen, sich ihnen auch (bedingt) entziehen. Und wir müssen einen bewussten Umgang mit unseren internalen Aufmerksamkeitsentscheidungen erlernen, unsere Wahrnehmung trainieren, unsere Aufmerksamkeit, wo immer möglich, selbst steuern. Sie bedingt zu einem Großteil die Individualität unserer Wahrnehmung und unsere Freiheit. Über diese Aufmerksamkeitsentscheidungen wählen wir aus, in welcher Umwelt wir leben wollen. Tatsächlich ist es die selbstwirksame Flexibilität dieser Aufmerksamkeit, die unsere psychische Gesundheit garantiert.27 25_ Siehe zu Friedrich Nietzsche (1844–1900) und dem Nihilismus beispielsweise: Nietzsche, Friedrich: Werke,

Achte Abteilung, Zweiter Band, Nachgelassene Fragmente Herbst 1887 bis März 1888; Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino (Hrsg.); Berlin, 1970; S. 14. „Nihilism: es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das Warum? was bedeutet Nihilsm? – daß die obersten Werthe sich entwerthen.“ 26_ „As the city has become more complex, obscure, and faceless, people depend more and more on explicit information, on guidebooks, signs, and exhibits to explain what is where, and when things are happening. The signs grow larger as speeds increase and the mix of strangers grows.“; in: Appleyard, Donald: The conversation

of European Cities; Cambridge, 1979; p. 147. 27_ Die Variabilität und die Beeinflussbarkeit unserer Wahrnehmungsmuster zeigt sich besonders bei psychischen Störungen wie der Depression, die unter anderem therapiert werden, indem man den Betroffenen hilft, ihre auf negative Aspekte der Welt ausgerichteten Wahrnehmungsmuster zu verändern (siehe beispielsweise Beck, Aaron T. / Rush, John A. / Shaw, Brian F.  / Emery, Gary: Kognitive Therapie der Depression; Hrsg. von Hautzinger, Martin; Weinheim und Basel, 2010 (1979).

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c. Unsere Wahrnehmung ist subjektiv. Fünf Menschen sind in einer Kirche, gleichzeitig, für eine Stunde. Der erste Mensch ist müde und alt. Er sitzt mit geschlossenen Augen auf einer Kirchenbank, lauscht den Schritten der anderen. Nickt ein. Die Kirche erinnert ihn an viele Momente, die er hier erlebt hat. In seiner Vorstellung ist die Galerie immer noch in Weiß und Gold gestrichen. Die neue Farbgebung seit der Renovierung mag er nicht und erkennt sie kaum, weil er sehr schlecht sieht. Der zweite Mensch interessiert sich für alte Grabmäler. Er läuft mit gesenktem Kopf durch die Kirche, ein Papier und einen Bleistift in der Hand, um die Inschriften zu kopieren. Der zweite Mensch nimmt den Boden wahr, die Fliesen und die Aufseher, weil er ständig damit rechnet, kritisiert zu werden. Er fühlt den Stein, mit seinen Händen und Knien, den Kopf hebt er nur selten. Der dritte Mensch ist Architekt. Er analysiert den Baustil, freut sich über Anzeichen, die seine Einschätzung bestätigen. Er geht rasch, seine Augen wandern, er fühlt nicht, dass es kalt ist. Er sieht viel. Er hört und riecht wenig. Er vergleicht. Die Kirche wird eingereiht in eine Folge aus vielen Kirchen, die er bereits gesehen hat. Der vierte Mensch ist ein Tourist. Er hat bereits einiges über die Kirche gelesen. Er betritt einen Raum, den er schon zu kennen glaubt. Jetzt sucht er nach bestimmten Motiven, die er fotografieren möchte. Er nimmt die Kirche vor allem durch die Kameralinse wahr. Sieht sie in Ausschnitten. Seine Wahrnehmung wird nicht zu einer Gesamtheit. Der fünfte Mensch ist ein kleines Kind. Es kommt in die Kirche gehüpft. Der Raum um das Kind schwingt auf und ab. Es entdeckt die Akustik und stößt Geräusche aus, stampft auf, um sie auszuprobieren. Zwischen den Steinplatten sind Fugen, auf die man nicht treten darf. Hüpfend folgt es der Hand, die es führt. So wird es den Grundriss nicht verstehen. Die Kirche erscheint wie ein riesiges Labyrinth. Außerdem ist die Kirche, in der das Kind steht, natürlich auch viel größer – relativ zu seiner eigenen Größe gesehen…Kirchenbänke laden nicht zum Ausruhen, sondern zum Darunter-Klettern ein. Da locken geheimnisvolle Höhlen… Sind diese fünf Menschen am gleichen Ort? Unsere Wahrnehmung ist individuell und subjektiv, geprägt durch unsere Vorerfahrung, unser Wissen, unsere Erinnerungen, unsere Biographie, unsere Kultur, unsere Evolutionsgeschichte, unsere Bedürfnisse, Wünsche, Interessen und Handlungen im jeweiligen Moment, durch unseren Körper mit seinem Maßstab und seinen Möglichkeiten, durch unsere Emotionen und Stimmungen, durch unsere Vorstellungen, durch unseren Beruf. Wir können nicht neutral und objektiv wahrnehmen. Objektive Wahrnehmung gibt es nicht. Es gibt die Kirche als Ort. Für jeden der fünf Menschen.

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Abb. 3: René Magritte, 1898–1967,

Le faux Miroir – Der falsche Spiegel, 1929, Öl auf Leinwand, Museum of Modern Art, New York

Der theoretische Biologe und Philosoph Jakob von Uexküll (1864– 1944) beschreibt in seinem Buch Nie geschaute Welten. Die Lebenserinnerungen des berühmten Biologen auf wunderbar anschauliche Weise genau dieses Phänomen.28 Der Landadlige, der über seine Felder reitet, die Bauern bei der Ernte beobachtet, der Bauer, der auf dem Feld schuftet, nur einen Meter von ihm entfernt, die Fliege, die um den Bauern kreist. Sie alle sind doch nur scheinbar in der gleichen Realität. Von Uexküll findet dafür das Bild der Welt, die „nicht aus einer einzigen Seifenblase bestehend [gedacht werden sollte – A.d.V.], die wir über unseren Horizont hinaus bis ins Unendliche aufgeblasen haben, sondern aus Abermillionen engumgrenzter Seifenblasen, die sich überall überschneiden und kreuzen“.29 Um uns miteinander verständigen zu können, gehen wir davon aus, dass wir alle die gleiche Umwelt wahrnehmen. Wir verwenden Konventionen: Wörter, Gesten, Zeichen. Ohne solche Konventionen können wir nicht kommunizieren. Und doch reichen sie nicht aus für eine gelungene Kommunikation. Missverständnisse in unserer Kommunikation entstehen, wenn wir die Subjektivität hinter diesen Verständigungskonventionen ignorieren. Oder um es mit einem Bild René Magrittes (1889–1967) zu sagen: Wir müssen nicht nur selbst den Himmel wahrnehmen, wir müssen den Himmel in den Augen unseres Gegenübers sehen.30

28_ Uexküll, Jakob von: Nie geschaute Welten. Die Lebenserinnerungen des berühmten Biologen; München, 1957. 29_ Uexküll, Jakob von: Die Rolle des Subjekts in der Biologie (1931); in: Uexküll, Thure von (Hrsg.): Jakob von

Uexküll. Kompositionslehre der Natur; Frankfurt am Main, Berlin, Wien, 1980; S. 355. 30_ Die Faszination dieses und anderer Bilder des belgische Surrealisten Magritte geht zurück auf die reflektierte argumentative Analyse unseres menschlichen Denkens und Wahrnehmens. Magritte zeigt, dass jede Interaktion zwischen Mensch und Wirklichkeit einen konstruktiven und damit immer individuellen Akt voraussetzt.

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Erst eine solche um gegenseitiges Verständnis bemühte gewissermaßen transsubjektive Wahrnehmung kann Grundlage unseres Wir-Seins sein, wird zu gemeinsamer Teilnahme und Teilhabe an der Realität. Wir müssen also die jeweiligen Seifenblasen verstehen. Und das ist nicht unmöglich. Innerhalb dieser Vielfalt gibt es Gesetzmäßigkeiten: Wir alle sind umgebungssensitiver, wenn wir krank sind, empfinden Räume dann eventuell kälter.31 Wir alle sind fokussiert auf das, womit wir uns beruflich beschäftigen. Für uns alle werden die Treppenstufen höher, wenn wir alt sind und Arthritis uns plagt. Und uns alle locken die Höhlen unter dem Tisch oder den Kirchenbänken, solange wir jung sind.

d. Unsere Wahrnehmung ist komplex. „Ich kann nur leben, wenn ich sehen darf“32, schreibt Le Corbusier und an anderer Stelle: „Architektur ist das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper.“33 Das Sehen ist unser dominantester Sinn – besonders in der Architektur. Architekturwahrnehmung wird häufig begrenzt auf die Auseinandersetzung mit unserem visuellen Empfinden: die Faszination von Licht und Schatten, Farben, Perspektiven, Formen, Symmetrien. Die meisten Gestaltungselemente erschließen sich nur oder aber vorrangig unserem Blick. Tatsächlich entsteht Architektur vor allem für unsere Augen. Man kann das leicht nachvollziehen, wenn man sich auf ein kurzes Gedankenexperiment einlässt. Wie wäre ein Einkaufszentrum gestaltet, wenn es für Nicht-Sehende entstünde? Wie eine Fassade? Wie eine Kirche? Wie ein Flur? Da unsere Aufmerksamkeit begrenzt ist und wir uns als Augenmenschen vor allem durch unser Sehen orientieren, bleibt normalerweise für unsere restlichen Sinne nicht viel von unserer Aufmerksamkeit übrig. Alle anderen Informationen aus unserer Umwelt erreichen uns zumeist unbewusst. Das heißt aber nicht, dass sie uns nicht beeinflussen. Wir können ihren Einfluss nur nicht bewusst nachvollziehen.

31_ So fanden Vollmer und Koppen heraus, dass Krebsbetroffene die Raumtemperatur in den Eingangshallen von fünf getesteten Kliniken im Durchschnitt vier Grad kälter einschätzten als ihre gesunden Partner, die sie begleiteten. siehe hierzu: Vollmer, T.C./Koppen, G.: Architectuur als 2e lichaam. Ontwerpend onderzoek over

zorgarchitectuur en ruimtebeleving bij kanker; Report. Dutch Ministry of Building, Education and Science; 2010. 32_ Le Corbusier: Feststellungen; Braunschweig, 1987 (Précisions: 1929); S. 21. 33_ „Architektur ist das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper. Unsere Augen sind geschaffen, die Formen unter dem Licht zu sehen: Lichter und Schatten enthüllen die Formen“ (DREI MAHNUNGEN AN DIE HERREN ARCHITEKTEN I DER BAUKÖRPER, ERSTE MAHNUNG: DER

BAUKÖRPER). in: Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur; Berlin, Frankfurt am Main, Wien, 1963 (Vers une architecture: 1922); S. 38. Der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier (1887–1965) gilt als einer der bedeutendsten Architekten und Architekturtheoretiker des vergangenen Jahrhunderts. (im Folgenden zit. als Le Corbusier: Architektur; 1963).

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Erst, wenn wir unseren Sehsinn zurückdrängen und einen anderen Sinn in den Vordergrund stellen, können wir die akustische, haptische, olfaktorische Dimension von Architektur bewusst erfahren. Und müssen dann versuchen, in einer visuell dominierten Sprache Ausdrucksformen für diese Erfahrungen zu finden. Wenn uns das gelingt, wird reflektierbar und kommunizierbar, welchen Einfluss diese Sinne auf unsere Wertung von Architektur haben. Indem wir unsere Architekturwahrnehmung auf all unsere Sinne ausweiten, rückt Architektur näher an uns heran. Das Sehen ist ein Fernsinn, intellektuell, dem Denken näher als dem Fühlen. Wirklich dicht in Kontakt treten mit ihr, können wir nur, wenn wir beginnen, sie auch zu hören, zu fühlen, zu riechen. Wenn wir unsere Hand nach ihr ausstrecken und anfangen, sie zu berühren. Wenn wir beginnen, mit ihr zu kommunizieren, mit unseren Schritten und dem Widerhall unserer Schritte von der Wand. Das Fühlen im Sinne von haptischer und taktiler Wahrnehmung ist einer der ersten Sinne, der sich bei uns im embryonalen Stadium entwickelt. Wir fühlen mit der gesamten Oberfläche unserer Haut, die zugleich die Grenze zwischen unserem Körper und der Außenwelt ist. Alle anderen Sinne sind gewissermaßen Spezialisierungen dieses grundsätzlichen Innen-Außen-Kontaktes. Der doppelte Gebrauch des Wortes Fühlen weist auf die besondere Bedeutung dieser Wahrnehmung hin. Der Begriff des Fühlens wird parallel zur Beschreibung der Sinneswahrnehmung und zur Beschreibung unserer emotionalen Gestimmtheiten verwendet. Wir fühlen die Feder auf der Haut. Und wir fühlen uns glücklich. Dieser Zusammenhang lässt erahnen, warum wir Materialien über ihre haptischen Eigenschaften und dabei immer sehr emotional beurteilen. Weich, glatt, hart, rissig, rau sind Kategorien, die in uns unweigerlich emotionale Assoziationen hervorrufen. Tatsächlich beurteilen wir Oberflächen auch dann nach ihren haptischen Eigenschaften, wenn sie außerhalb unserer Reichweite liegen, beispielsweise im Bereich der Decke, oder wenn wir sie überhaupt nicht berühren wollen und werden. Man kann dieses Wahrnehmungsmuster auch als stellvertretendes Fühlen durch die Augen bezeichnen.34 Da wir wissen, wie sich Materialien anfühlen, können unsere Augen, wenn sie Materialien sehen, ihre Haptik nachempfinden. Schließlich hinterlassen unsere Körper selbst durch unser Handeln Nutzungsspuren auf der Oberfläche der Architektur, die sich wie Botschaften über die Zeit hinweg lesen lassen: Pfade unserer Schritte auf den Böden, Mulden in den Stufen, gerundete Griffe, handpolierte Türklinken.

34_ Siehe hierzu auch: Schönhammer, Rainer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie, Sinne, Körper,

Bewegung; Wien, 2013 (2009); S. 52. Hier als stellvertretende oder vorweggenommene Empfindung bezeichnet.

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Abb. 4: Über 200 Jahre alte ausgetretene Treppenstufen, Weimar

Wie sehr wir Architektur auch auditiv wahrnehmen, erkennen wir erst, wenn wir bewusst, etwa in Form einer Übung, auf diese Sinnesorgane verzichten. Wir sind dann in unserer gesamten Wahrnehmung so eingeschränkt, dass wir Begleitung und Hilfe brauchen. Der Raum wird fern ohne die Akustik, die uns mit ihm verbindet. Unsere Füße scheinen den Boden nicht mehr zu berühren, keinen sicheren Halt mehr zu finden. Obwohl wir alles sehen können, scheint uns die Realität, die uns umgibt, seltsam irreal. Baumaterialien, Raumdimensionen, Wände, Öffnungen, Fenster, Türen, all das erschließt sich uns auch über die Akustik. Der Eindruck des Irrealen, den wir empfinden, wenn wir nichts hören, ist bedingt durch eine spezifische Qualität, die die auditive Wahrnehmung prägt. Das Hören benötigt eine Interaktion. Wir können nur hören, wenn etwas geschieht, das Schallwellen zwischen 16 Hertz und 20 Kilohertz erzeugt. Und das Geräusch, das wir hören, ist flüchtig. Es verklingt noch während unserer Wahrnehmung. Diese Kombination gleicht einer Kommunikation, die uns mit der Umwelt und über unsere Aufmerksamkeit mit dem Moment der Gegenwart verbindet. So wird die auditive Wahrnehmung in der Architektur zu einer Kommunikation mit dem Raum, der uns umgibt.

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Abb. 5: Carlo Scarpa, Palazzo

Querini Stampalia, Venedig

Riechen und Schmecken sind Sinne, die entwicklungsbedingt dafür bestimmt waren, uns vor Gefahren zu warnen. Goldstein (2002) bezeichnet dies als „Torwächterfunktion“.35 Bekommen wir genug Sauerstoff? Können wir frei atmen? Wie bewegt sich die Luft? Warnt uns der Geruch eines Gebäudes vor Schadstoffen? Welche Oberflächen dünsten aus? Holz? PVC? Lehm? Welche nicht? Im Positiven wie im Negativen bestimmen Gerüche innerhalb der Architektur spontan über unsere Grundsympathie. So wie wir Menschen danach beurteilen, ob wir sie riechen können, beurteilen wir Architektur, – in der Regel ohne uns dessen bewusst zu sein und mit den ersten Atemzügen. Und so wie das Riechen gewissermaßen eine intuitive Abkürzung zu komplexen Wertungen darstellt, führt es uns über olfaktorische Assoziationen in die Vergangenheit und zu tief in unserem Gedächtnis gespeicherten Raumerfahrungen, die dann wiederum auch visuell reproduzierbar sein können und selbstverständlich unsere aktuelle Raumwahrnehmung beeinflussen. Können wir Architektur schmecken? ‚Ver-rückte‘ Perspektiven bieten neue Zugänge. Also ja: Carlo Scarpas Innenraum im Palazzo Querini Stampalia (Venedig) beispielsweise könnte Geschmacksassoziationen von Latte Macchiato und Tiramisu hervorrufen, süß, anregend und kalorienreich, wenn man die Farben und Materialien mit entsprechenden gustatorischen Erlebnissen verbindet. 35_ Goldstein, E. Bruce: Wahrnehmungspsychologie; Heidelberg, 2002 (Original: Sensation and perception: 1996); S. 570.

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Bleibt als Fazit: Architekturwahrnehmung darf sich nicht auf unser Sehen beschränken, wie es aber beispielsweise bei allen Reproduktionen von Architektur allein möglich ist. Die berühmtesten Gebäude, die unsere Beziehung zur Architektur prägen: Fallingwater, Farnsworth House, Ronchamp, wer kennt sie wirklich? War dort? Nichts kann den direkten Kontakt mit der Architektur ersetzen, der nur in der Gesamtheit der multisensuellen Wahrnehmung erfahrbar ist. e. Unsere Wahrnehmung ist konstruktiv. Unsere Wahrnehmung ist zielgerichtet und konstruktiv. Sie soll prinzipiell unserem Überleben dienen. So ist unser Kopf in natürlicher Haltung gegenüber der Waagerechten 10 Grad gen Boden geneigt, damit wir den Boden in 3 bis 4 Meter Entfernung vor uns scharf sehen, also dort, wo unsere Schritte uns in etwa einer Sekunde hingeführt haben werden.36 Das macht von unserer Evolutionsgeschichte her Sinn, denn so sind wir rechtzeitig vor für uns relevanten Gefahren gewarnt. Es heißt aber auch, dass der Mensch in einer Großstadt, je nachdem, wie nah er sich an den Fassaden befindet, nur Ausschnitte der Architektur wahrnehmen wird. Mit einer einfachen Formel kann man errechnen, welche Fassadenteile man mit dieser entspannten Kopfhaltung in welcher Entfernung potentiell erfassen kann und welche nicht. Über das horizontale Niveau unserer Augen hinaus erreicht unser Blickwinkel eine Höhe, die dem 1,4 fachen der Entfernung zum Objekt entspricht.37 Auch unsere Präferenz für Bewegung ist ein entwicklungsgeschichtlicher Überlebensvorteil. In den Anfängen der Menschheit war es besonders wichtig, gut wahrzunehmen, während wir selbst außerhalb unserer Schutzräume auf der Jagd oder beim Sammeln waren und natürlich wahrzunehmen, was sich uns näherte. Bis heute sind wir in unserer Wahrnehmung auf Bewegung fixiert. Wir nehmen optimal wahr, während wir selbst uns bewegen. Und wir nehmen bevorzugt wahr, was sich bewegt. Deshalb hat es Architektur mitunter schwer, Aufmerksamkeit zu erregen. Denn sie bewegt sich nicht im Raum und nicht für uns wahrnehmbar in der Zeit. Und fasziniert überall dort, wo sie dem zu widersprechen scheint. Etwa, wenn ihre Formen die Assoziation von Bewegung in uns auslösen, wenn Lichtreflexe über sie wandern oder wenn sie sich eben doch in Form von temporärer Architektur bescheiden in die Zeit stellt.

36_ Gehl, Jan: Cities for people; Washington u.a., 2010; S. 39 / 40. Jan Gehl bezieht sich in einem Schaubild zu diesen Maßen auf Tilley, A.R. / Dreyfuss, Henry Associates: The measure of man and woman. Human factors in

design, revised edition; New York, 2002. (im Folgenden zit. als Tilley: measure; 2002). 37_ Der Sichtwinkel nach oben (über die Horizontale) beträgt ca. 50–55°, unter die Horizontale ca. 70–80°. Daher gilt für die erfassbare Höhe über der horizontalen Sichtlinie h = Entfernung mal [tan(55°)] ≈ 1,4 mal Entfernung. Bei einer Entfernung von 2 m sind damit ca. 2,8 m oberhalb der horizontalen Sichtlinie eines Betrachters potentiell erfassbar. Vergl. hierzu Tilley: measure; 2002.

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Abb. 6: Oscar Niemeyer: 2005, Auditorium, Ibirapuera Park, Sao Paulo, Brasilien

Trotz und wegen ihrer eigenen Bewegungslosigkeit ist Architektur besonders auf unsere Bewegung angewiesen. Raum lässt sich vor allem in der Bewegung begreifen. Nahes und Fernes gleitet dann in unterschiedlicher Geschwindigkeit an uns vorbei (Bewegungsparallaxe). Flächen decken einander zu oder auf (Interposition). Auch aufgrund seiner Größe und seiner Kombination aus Innen und Außen, lässt sich ein Gebäude nie von einem einzigen Standpunkt aus erfassen. Schon um einen Eindruck von seiner äußeren Gestalt zu erhalten, muss man es umrunden, ihm nah und fern sein. So ist Architekturwahrnehmung immer eine Folge aus einzelnen Wahrnehmungen und diese Gesamtheit an Eindrücken in ihrer Abfolge im besten Fall Teil der Architekturkomposition (z. B. La Promenade Architecturale von Le Corbusier).38 Spätestens sobald wir die Tür öffnen und das Gebäude betreten, geht die bewegte Wahrnehmung in Nutzung über. Und diese Nutzung findet ihren Zielpunkt im Wohnen: „Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen“, so Heidegger (1951).39 Wohnen in diesem Heideggerschen Sinn geht über das private 38_ Le Corbusier: Architektur; 1963. 39_ Heidegger, Martin: BAUEN WOHNEN DENKEN; 1951; unter: http://www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/Lehrstuhl/deu/heidegger.pdf. Abgerufen am 08.03.2016. Wohnen bei Heidegger meint in einem weiten Sinn jede Form des Ankommens im Raum und reicht über die Nutzung im privaten Kontext, die wir mit Wohnen verbinden, hinaus. So heißt es an oben genannter Stelle auch: „Jene Bauten jedoch, die keine Wohnungen sind, bleiben ihrerseits vom Wohnen her bestimmt, insofern sie dem Wohnen der Menschen dienen. So wäre denn das Wohnen in jedem Falle der Zweck, der allem Bauen vorsteht.“ Wohnen ist bei dem Philosophen Heidegger (1889–1976) die eigentliche Form unseres Menschseins. Heidegger weiter: „Das alte Wort bauen, zu dem das ‚bin‘ gehört, antwortet: ‚ich bin‘, ‚du bist‘ besagt: ich wohne, du wohnst. Die Art, wie du bist und wie ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Buan, das Wohnen.“ Wohnen wird gedacht „im Sinne des Aufenthalts der Sterblichen auf der Erde.“

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Wohnen in den eigenen Räumen hinaus. Es steht für das tatsächliche Ankommen im Raum und ist als solches Zweck und Bestimmung aller Bauten. Deshalb kann man Architektur letztlich nur wahrnehmen, während man in ihr wohnt und danach werten, wie es sich in ihr wohnt. Eines der berühmtesten Architekturbeispiele ist das Farnsworth House von Ludwig Mies van der Rohe.40 Es ist sehr ästhetisch. Die Fotos kursieren im Internet, in Büchern. Bis heute gilt es als Symbol der Moderne. Bestimmt die Architekturwahrnehmung. Die Bauherrin Edith Farnsworth, eine wohlhabende alleinstehende Ärztin, wollte ein Wochenendhaus zum Entspannen, einen Rückzugsort. Sie bekam ein Glashaus, absolut einsam gelegen, in dem nur das Bad völligen Sichtschutz bot. Beim Schlafen, Kochen, Lesen war man mindestens von drei Seiten einsehbar. Bauherrin und Architekt gingen vor Gericht. Er wollte sein Resthonorar. Sie beschwerte sich über die Kosten, Baumängel und beschrieb das Haus als unbewohnbar.41 Es heißt, Mies van der Rohe verlor danach den Spaß am privaten Wohnungsbau. Sie allerdings auch am Haus. Wobei ihr Verhalten durchaus widersprüchlich ist. In der Öffentlichkeit äußert sie sich in den folgenden Jahren wiederholt sehr kritisch über ihr Haus, verbringt dort aber dennoch etwa zwanzig Jahre lang, obgleich nicht regelmäßig, ihre Wochenenden. Tom Kinsella von der Chicago Architecture Foundation äußerte vor kurzem über eines der schönsten Häuser der Welt: „Das Haus ist atemberaubend. Es hat Generationen von Architekten inspiriert. Klar, ich weiß auch nicht, ob ich in den Glaswänden leben möchte. Aber aus künstlerischer Sicht ist es perfekt. Einfach perfekt.“42 Das Meisterwerk der Moderne – ein Missverständnis? Unbewohnbar? Architektur ist nicht l’art pour l’art. Sie entsteht, um bewohnt zu werden, um uns wohnend ankommen zu lassen im Raum. Wie kann etwas ein Meisterwerk der Architektur und zugleich unbewohnbar sein? Legt man Architekten und Nicht-Architekten Fotografien von Häusern vor, so fallen ihre Wertungen, wie in vielen Studien belegt, sehr unterschiedlich aus.43 Neben unterschiedlichen Stilpräferenzen, dem erweiterten Wahrnehmungsdepot der Architekten, den viel 40_ Ludwig Mies van der Rohe (1886–1969) ist einer der bedeutendsten Architekten der Moderne. Seine Architektur steht für Funktionalismus, fließende Räume, Minimalismus (less is more). Das Farnsworth-House ist einer der Prototypen eines Glashauses. 41_ Siehe hierzu: Nehls, Werner: Farnsworth House – Rückblick auf eine Ikone; Wissenschaftlicher Aufsatz. Grin, ebook 2015. 42_ Melzer, Chris: Im Glashaus von Mies van der Rohe; Artikel aus dem Manager magazin, 01.12.2014. http:// www.manager-magazin.de/lifestyle/reise/farnsworth-house-glanzstueck-von-mies-van-der-rohe-a-1005531.html Abgerufen am 21.03.2016. 43_ Siehe hierzu auch: Rambow, Riklef: Experten-Laien-Kommunikation in der Architektur; Münster, 2000.

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Abb. 7:

Farnsworth House, Mies van der Rohe, 1950/1951

detaillierteren Vorstellungen, die Architekten besitzen, könnte es auch sein, dass Nicht-Architekten die Häuser immer nach der Frage beurteilten: „Würde ich hier wohnen wollen?“ Während Architektur für Architekten von diesem Hauptkriterium mitunter seltsam losgelöst erscheint. Architektur muss aber wohnend wahrgenommen werden. So, wie man einen Stuhl wahrnimmt. Wer würde einen Stuhl nur betrachten? Man muss sich auf ihn setzen, sich zurücklehnen, aufstehen, ihn als Versteck gebrauchen und unter ihn kriechen. Dann hat man ihn erfahren. Wir müssen das Farnsworth House bewohnen, um es wahrzunehmen. f. Unsere Wahrnehmung ist kreativ. Gebaute Umwelt kann Kunst sein – Wahrnehmung auch. „Alles Wahrnehmen ist auch Denken, alles Denken ist auch Intuition, alles Beobachten ist auch Erfinden“ so der Kunstpsychologe Rudolf Arnheim (1904–2007).44 Unser Wunsch nach Kreativität bei der Wahrnehmung entspringt unserem Wunsch nach Teilhabe. Nur wenn wir selbst in dem Prozess der Wahrnehmung etwas hinzufügen können, haben wir wirklich Anteil an unserer Umwelt, an der Welt, die uns umgibt. Schönheit und Perfektion sind uns zu wenig. Sie lassen unserer Wahrnehmung keinen Raum. Wir wollen in unserer Wahrnehmung den letzten Schritt zur Vollkommenheit selbst tun, wollen die Gesamtkomposition selbst entdecken. Wir wollen kein Kunstwerk vorgesetzt bekommen, das wir nur bewundern können. Wir wollen

44_ Arnheim, Rudolf: Kunst und Sehen: eine Psychologie des schöpferischen Auges; 3. unveränderte Auflage; Berlin [u.a.], 2000 (Art and Visual Perception. A Psychology of the Creative Eye; 1974); S. 6.

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Abb. 8: Venedig, Graffiti

durch unsere Wahrnehmung Mitschöpfer sein, durch sie die Trennung zwischen unserem eigenen Ich und der Umwelt überwinden. Deshalb lieben wir es, Details zu entdecken, versteckte Gesamtkompositionen und Gestaltungsabsichten zu enträtseln. Ob im Blick auf die Wolken, auf Felsformationen oder in den Gassen Venedigs. Auch mehrdeutige Wahrnehmungsangebote erlauben diese kreative Wahrnehmung, so sie sich durch unsere eigenen Wahrnehmungsentscheidungen in etwas Sinnhaftes auflösen lassen. Wahrnehmungshindernisse fordern und fördern uns, weil wir aktiv werden müssen und dadurch bewusst erleben, was wir sowieso immer sind: Erschaffer unserer eigenen Wirklichkeit. Denn Platon hatte nur teilweise Recht: Wenn man uns fesselt, an Händen und Füßen und am Hals und uns an die gegenüberliegende 43

Höhlenwand starren lässt, uns Schatten zeigt von etwas, vielleicht von einer Amphore und einem Pferd, so werden wir ein Theaterstück daraus machen, Formen, Bedeutung, Handlung hineinsehen, ergänzen, erfinden und erraten. Wir sehen nicht Schatten, sondern unsere eigene Vision der Wirklichkeit an der Höhlenwand.

Die Macht der Aufmerksamkeit Werden Sie Wahrnehmer, heißt die Botschaft dieses Buches. Schenken Sie der Architektur Ihre Aufmerksamkeit und Ihrer eigenen Architekturwahrnehmung. Achten Sie auf Ihr Erleben, auf Ihr Verhalten und auf das Ihres Gegenübers in Architektur und mit Architektur. „Erwachen im Wachen“45 nennt Paul Valéry den Übergang von dem automatischen Funktionieren unseres Unbewussten zu den viel selteneren intensiven Momenten bewusster Wahrnehmung. Ein Mensch durchquert ein Gebäude, auf dem Weg zu einem Termin. Er kennt sich hier aus, ist in Gedanken bei dem vor ihm liegenden Gespräch. Die Treppe führt ihn, seine Füße fallen in einen Rhythmus, den die Stufen vorgeben. Die Eingangshalle fordert dazu auf, sie auf eine bestimmte Art zu durchschreiten; der Raum löst Gefühle aus, Stimmungen, Haltungen, Handlungen. All dies braucht kein Bewusstsein. Architektur muss nicht bewusst wahrgenommen werden, um das menschliche Erleben und Verhalten zu beeinflussen. Zeitlich gesehen dominieren die Phasen, in denen ihr Einfluss unbewusst erfolgt. Was also ändert sich durch die bewusste Wahrnehmung? Lassen wir den Menschen, der gerade die Treppe hinauf eilt, stolpern, über seine Schnürsenkel oder eine studentische Rauminstallation, die alle Stufen mit Kunstrasen bedeckt. Plötzlich wird er aufmerksam auf seine Umgebung und muss sich nun, als wäre er gerade erst angekommen, neu orientieren. Vertrautes wird fremd. So wie sich der Mensch bei einer Bedrohung automatisch auf Flucht oder Angriff vorbereitet, wird er auf diese Orientierungslosigkeit reagieren: Er ist erregt, wach; alle Sinne werden geschärft sein, in Alarmbereitschaft. Gedanken an den Termin, der bevor steht, werden vorübergehend ausgeblendet. Seine Sinne sind aktiviert, das Gehirn ist bereit, jede Information zur Umgebung bewusst zu empfangen. 45_ Siehe zur Metapher des Schlafs außer Paul Valéry beispielsweise auch folgende Stelle von Merleau-Ponty: „Das Bewußtsein braucht nur zu sich zu kommen – so wie man von einem Ohnmächtigen sagt, er komme zu sich –, um von seinem Wissen aufmerkend Besitz zu ergreifen. Umgekehrt ist die unaufmerksam umherschweifende Wahrnehmung gleichsam ein Halbschlaf.“ Merleau-Ponty: Phänomenologie; 1966; S. 48. 46_ So konnte Carrasco zeigen, dass Versuchspersonen bei der Vorlage von zwei Reizen mit gleichem Kontrast den Reiz als kontrastreicher wahrnahmen, auf den sie ihre Aufmerksamkeit richteten. vergl.: Carrasco, M.: Covert

attention increases contrast sensitivity: Psychophysical, neurophysical and neuroimaging studies; in: Progress in Brain Research; vol. 154, 2006; pp. 33–70.

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Dadurch wird die räumliche Situation intensiver wahrgenommen. Das Sonnenlicht erscheint heller, Gerüche konzentrierter, Geräusche lauter, das Muster auf dem Boden deutlicher. So erhöht Aufmerksamkeit nachgewiesenermaßen unsere Kontrastsensitivität.46 Unsere Wahrnehmung reagiert auf unsere Aufmerksamkeit, indem sie gewissermaßen übertreibt. Mit der kognitiven Weiterverarbeitung der Umweltinformationen beginnt das Selbstbewusstsein als höchste aller Bewusstseinsstufen. Der Mensch, der auf der Treppe gestolpert ist, wird sich seiner selbst bewusst, seiner selbst an diesem Ort, in diesem Moment, mit allen Verflechtungen zwischen seinem Selbst, dem Ort und dem Moment. Dank dieses Selbstbewusstseins kann der Mensch reflektieren und kommunizieren, wie die gestaltete Umwelt ihn beeinflusst, wodurch und warum sie dies tut, ob ihm die gestaltete Umwelt gefällt oder nicht. Er kann Ansprüche entwickeln, Wirkungen hinterfragen, sich ihnen auch (bedingt) entziehen – mit allen Konsequenzen, die sich daraus für die zeitlich viel dominantere unbewusste Wahrnehmung ergeben. Durch dieses Selbstbewusstsein tritt der Mensch auch mit sich selbst als Individuum in Kontakt. Je dichter, intensiver und direkter der Mensch mit seinem Umfeld interagiert, desto spürbarer ist er sich selbst im Hier und Jetzt. Die Realität der Wände, die uns umgibt, wird zum Beweis unserer eigenen Existenz. Aufmerksamkeit ändert, weil sie unsere Reaktion auf unsere Umgebung individualisiert. Reaktion meint unser Erleben dieser Umwelt und unser Verhalten in dieser Umwelt. In diesem Sinne schreibt William James (1842–1910), Psychologe und Philosoph, in seinem Werk Principles of Psychology: „Durch die Art, wie er [gemeint ist der Mensch – A.d.V.] den Dingen Aufmerksamkeit schenkt, trifft jeder von uns im wörtlichen Sinn eine Wahl, welche Art Welt es sein soll, in der er leben will.“47 Wir treffen eine Wahl, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten und worauf nicht, wie stark und ob wir uns beeinflussen lassen, wie wir unsere Möglichkeiten, Grenzen und unsere Ansprüche bewerten und welche Handlungen wir aus unseren Bewertungen ableiten. Wir begegnen uns selbst.48 Wahrnehmung erfordert Mut, den Mut, sich den Bedingungen der eigenen Existenz zu stellen. 47_ Zitiert nach Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur; Frankfurt am Main, 2002; (Suspensions of Perception. Attention, Spectacle and Modern Culture; 1999); S. 57. 48_ „Das Ästhetische begleitet und interferiert daher stets die latente oder die gezielte Suche nach der eigenen Persönlichkeit, dem eigenen Charakter, oder die eigene Identität, […]. So trägt die ästhetische Komponente an den psychischen Erfahrungen mit den Räumlichkeiten ebenfalls dazu bei, inmitten der überall anzutreffenden kognitiven Entscheidungen, umgeben von den unabweisbaren Sachzwängen sowie der vorherrschenden ökonomischen und sozialen Beschränkungen, über diesen inhärenten Antrieb zu einem Selbstbezug ein wenig mehr zu sich selber zu finden, sich ein bißchen besser zu verstehen, sich trotz allem einfach nur selber erträglich zu finden.“ Schurian, Walter: Die Dritte Haut – Psychologie der Erfahrungen im Raum; Frankfurt am Main, 2006; S. 150.

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Bleibt als letzte Frage: Was geschieht, wenn die Wände, die uns umgeben, nicht mehr unsere Aufmerksamkeit erregen? Wenn wir nicht mehr über das Fenster und seine Gestaltung nachdenken, weil das im Bildschirm reflektierte Licht von draußen uns doch nur blendet? Wenn unser virtueller Körper dominanter wird als unser realer? Dann sind wir angekommen in Aldous Huxleys Schöne[r] neuer Welt.49 Dann leben und sterben wir fernab von der Realität unserer Körper. Um dies zu verhindern brauchen wir heute mehr denn je zusätzlich zu den virtuellen Räumen reale Räume, die so sehr Wahrnehmungsund Aufmerksamkeitseinladung sind, dass sie uns weiterhin stark und sicher mit dem realen Raum und dadurch mit uns selbst verbinden. Ästhetik ist dem Wortsinn nach Wahrnehmung.50 Sie zu verstehen ist kein Vorrecht eines Berufsstandes. Dieser Berufsstand aber kann Orte schaffen, die uns zu eben jener sinnlichen Wahrnehmung einladen und uns dadurch ästhetisch machen. Wer seiner eigenen Wahrnehmung vertraut und sie schult, auf die Wahrnehmung der anderen achtet, für denjenigen wird erkennbar, was gute, für Menschen geeignete Architektur ausmacht, was überhaupt Architektur ausmacht, in Abgrenzung zur Gesamtheit der gebauten Umwelt, und das über alle Geschmacksunterschiede hinweg. Der Kontakt zwischen Mensch und Architektur ist kein theoretischer. Praktisch gelebt aber beginnt jede Interaktion zwischen Mensch und Architektur mit Sinneserfahrungen. Lädt ein Gebäude zum Heideggerschen Wohnen ein? Wie antwortet der Raum auf unsere Schritte? Wollen wir einen Fenstergriff berühren? Hat die Wahrnehmung einer Fassadengestaltung Platz für unsere eigene kreative Teilhabe? Ist ein Krankenhaus vorbereitet auf unseren Schmerz, unsere besondere Empfindlichkeit? Der Sinn von Architektur muss für unsere Sinne verständlich sein. Theoretische Lösungen, die unsere Wahrnehmung nicht nachvollziehen kann, sollten Theorie bleiben. Sie entstehen nicht für uns.

49_ Huxley, Aldous: Schöne Neue Welt; Frankfurt am Main, 2014 (Brave New World: 1932). 50_ So wird das griechische aisthánesthai beispielsweise im Brockhaus mit „(durch die Sinne) wahrnehmen“ übersetzt. vergl.: Brockhaus: Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden; 21. völlig neu bearbeitete Auflage, Band 2; Leipzig, Mannheim, 2006; S. 558. 51_ Das Zitat stammt aus dem Buch Souvenirs sur Paul Cézanne et lettres von Emile Bernard; Troisième édition; Paris, 1921. Der französische Maler Cézanne (1839–1906) äußert diesen Satz auf einem Spaziergang der beiden in folgendem Zusammenhang: „A dix heures sonnantes je reconduisais mon vieux maître rue Boulegon. Nous nous arrêtions encore à parler dans les rues silencieuses visitées par la lune: ‚La ville d´Aix est gâtée par l´agent-voyer, il faut se presser de voir, tout s´en va. Avec les trottoirs on a ruiné la beauté des vieilles villes; la plupart des rues anciennes ne peuvent s´en accommoder; [...]‘; S. 45. gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6572642c. Abgerufen am 16.03.2017.

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Architektur gestaltet die Realität, in der sich unser Leben vollzieht. Sie umgibt uns wie kein anderer Umweltfaktor. Sie beeinflusst unser Erleben und Verhalten. Sie wird zu unserer Erinnerung, prägt über unsere Wahrnehmungsdepots und -bahnungen unsere Persönlichkeit. Sie prägt unsere Identität und durch sie manifestiert sich unsere Identität, Identität, die man kommunizieren und weiterreichen kann, Raum durch Zeit. So vieles in unserem Leben müssen wir hinnehmen, weil uns keine andere Wahl bleibt, weil wir keinen Einfluss haben. Hier aber, an dieser Stelle ist das anders: Wir können Einfluss nehmen auf die gestaltete Umwelt, als Architektur Schaffende und als von Architektur Betroffene. Wir können Ansprüche entwickeln und einfordern. Und das sollten wir auch tun.

„[...], man muss sich beeilen, wenn man etwas sehen will, alles verschwindet.“ (Paul Cézanne)51 Seien Sie schneller. Werden Sie Wahrnehmer!

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Die Sprache des Raums

Axel Buether Raum als Welterkenntnismodell Raum ist ein Welterkenntnis- und Weltbeschreibungssystem sowie Weltvermittlungs- und Weltgestaltungssystem.1 Die Arbeit des Architekten ist politischer Natur, da er mit der Gestaltung des menschlichen Lebensraums zugleich auch die Wahrnehmung von Gesellschaft formt, die wiederum seinen Handlungsspielraum vorgibt. Wir nehmen Raum mit allen Sinnen, unserem Gefühl und Verstand wahr. Daher ist es nicht nur von Bedeutung, wie ein Raum aussieht, sondern ebenso, wie er sich anfühlt, wie er riecht, klingt, sich verändert oder sich verhält, wenn wir mit ihm interagieren.2 In Bezug auf unsere Wahrnehmung funktioniert Raum wie eine Sprache, da die Wechselwirkungen zwischen Körper und Umwelt nicht nur unser Überleben gewährleisten, sondern auch zum Gegenstand von Wissen und Erkenntnis werden können. Der Mensch ist in der Lage, die Bedingungen seiner Existenz in der Umwelt wahrzunehmen, zu kommunizieren und willentlich zu gestalten. Jeder Eingriff in die Umwelt verändert die Form unseres Lebensraums und hat damit zugleich Konsequenzen auf die Form unseres Zusammenlebens, die Entwicklungsdynamik von Individuen und Gesellschaften.3 Durch das Erleben und den Gebrauch des Kulturraums erschließen wir uns die überlebenswichtigen Praktiken und Funktionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Raumwahrnehmung initiiert und fördert einen generationsübergreifenden Lernprozess, der stetiger Erneuerung bedarf und daher niemals abgeschlossen sein kann. Junge Menschen nehmen wahr, wie Gesellschaft funktioniert und wo sie versagt. Am Gebrauch des Raums zeigt sich, was uns wichtig und nützlich ist oder seinen Zweck verloren hat, was es zu bewahren oder zu erneuern gilt. Die psychologisch-ästhetische Erforschung der Raumwahrnehmung ist daher die Leitwissenschaft der Umweltgestaltung, von der Stadtplanung über die Architektur bis zur Innenarchitektur und Szenografie. 1_ Gosztonyi, Alexander: Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften; Freiburg und München, 1976. 2_ Siehe hierzu auch: Baier, Franz Xaver: Der Raum; Köln, 2000. 3_ Buether, Axel: Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz: Neurobiologische Grundlagen für die methodische

Förderung der anschaulichen Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung im Gestaltungs- und Kommunikationsprozess; Burg Giebichenstein, 2010. (im Folgenden zit. als: Buether: Bildung; 2010).

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Psychologische Ästhetik des Raums als Leitwissenschaft der Raumgestaltung Am Ende seines 104-jährigen schaffensreichen Lebens bringt Oscar Niemeyer, der neben Le Corbusier wohl wichtigste Architekt der Moderne, seine Entwurfshaltung auf den Punkt: „Ich glaube, dass sich die Frage nach der politischen Funktion in jedem Beruf stellt, besonders aber in der Architektur, weil sie in einen der wichtigsten Bereiche des menschlichen Lebens eingreift, in die gesellschaftlichen Beziehungen. Sie setzt sich mit der Stadt, dem Zusammenleben, dem Alltag und unser aller Raum auseinander. Der Architekt übt seine Funktion nämlich nur dann wirklich positiv aus, wenn er seinen Beruf als bewusste politische Tat begreift.“4 Der Politiker Winston Churchill brachte diese Erkenntnis 1943 anlässlich der Diskussionen um den Wiederaufbau der Old Chamber des britischen Parlaments aus seiner Perspektive zum Ausdruck: „We shape our buildings and afterwards our buildings shape us.“5 Räume werden von Menschen geformt und formen den Menschen. Die Kausalität der Wechselwirkungen zwischen Mensch und Raum, Gesellschaft und Kulturraum, Architekt und Nutzer, ermöglicht die wissenschaftliche Erforschung der Raumwahrnehmung und Raumgestaltung. Durch die Analyse der Ursachen und Wirkungen von Räumen auf das Erleben und Verhalten des Menschen erhalten wir eine empirische Grundlage für die methodische Gestaltung der Formen unseres Zusammenlebens. Wenn wir Räume für Menschen gestalten, übernehmen wir damit eine politische Verantwortung für die Formung des Kulturraums und die Wahrnehmung der Inhalte und Funktionen von Gesellschaft. Die Wahrnehmung des Kulturraums legt entscheidende politische Erfolgsfaktoren moderner Gesellschaften offen wie Bildung, Kultur, Sozialisierung, Verantwortung, Zeit, Arbeit, Familie, Freunde, Nachbarschaften, Mobilität, Sicherheit, Angst, Chancen, Risiken und Motivation. Raumgestalter müssen lernen, sich methodisch mit der Raumwahrnehmung von Menschen in konkreten Lebenssituationen auseinanderzusetzen und hieraus Strategien für die erfolgreiche und nachhaltige Gestaltung guter Lebensbedingungen zu entwickeln. Wir müssen in jeder Raumsituation neu bestimmen und aushandeln, was gut für den Menschen und die Gesellschaft ist. Entwurfshandeln ist ethisches Handeln und gründet auf Verantwortung. Die Wirkungen von Räumen auf Menschen werden durch die empirische Erforschung der Raumwahrnehmung erkennbar. Die Raumwahrnehmung jedes Menschen ist entwicklungspsychologisch geprägt und damit abhängig von körperlichen und geistigen Faktoren des Individuums wie kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen, klimatischen und 4_ Niemeyer, Oscar: Wir müssen die Welt verändern; München, 2013; S. 15. (im Folgenden zit. als Niemeyer:

Welt verändern; 2013). 5_ http://www.parliament.uk/about/living-heritage/building/palace/architecture/palacestructure/churchill/. Abgerufen am 15.03.2017.

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topografischen Umweltfaktoren. Die Wirkungen von Räumen auf das Erleben und Verhalten von Menschen sind daher nicht verallgemeinerbar, sondern müssen für jede Aufgabe neu bestimmt werden, was zum integrativen Bestandteil von Entwurf und Planungsleistungen werden muss. Für den nachhaltigen Erfolg gebauter Räume reicht es nicht aus, wenn wir alle Normen, Verordnungen, Gesetze und den Stand der Technik beachten. Die kontextbezogene Untersuchung und verantwortungsgeleitete Bestimmung der Bedingungen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens bildet die Kernaufgabe der Raumgestaltung. Die Wirkungen gebauter Räume müssen sich heute in einem komplexen Feld technischer Rahmenbedingungen entfalten, die in Regelwerken, Gesetzestexten und Verordnungen erfasst sind und auf konkrete Anwendungssituationen übertragen bzw. angepasst werden müssen. Die meisten technischen Parameter werden vor Beginn der Planung definiert wie Raumprogramm, Raumgrößen, Funktionszuordnungen, Nutzungsanforderungen, Baukosten, Bauelemente, Baukonstruktionen, Ausnutzung, Baugrenzen, Abstandsflächen und Sicherheitsbestimmungen. Eine große Anzahl räumlicher Standards sind in nützlichen Regelwerken wie dem Neufert6 zusammengefasst, der jedoch leichtfertig oder grob fahrlässig als Bauentwurfslehre bezeichnet wird. Raumprogramme werden nicht entworfen, sondern ermittelt. Sie sind eine Vorleistung für den Planungsprozess wie die Lastenermittlung der Tragwerksplanung. Entwerfen sollten wir vor allem die Beziehungen zwischen Menschen und ihrem Lebensraum, die sozialer, kultureller, wirtschaftlicher oder anderer Art sein können. Dieser Verantwortung müssen sich Entwerfer stellen. An der erreichten Qualität dieser Beziehungen misst sich der Erfolg von Entwurfsleistungen für Nutzer, Investoren und Gesellschaft. Wichtig sind Meinungsbildungsprozesse aller Beteiligten, die vor Planungsbeginn auf Grundlage einer zielgruppen- und situationsbezogenen Analyse aller sinnvollen Handlungsmöglichkeiten erfolgen sollten. Wer diesen Schritt auslässt und sich stattdessen auf Standards verlässt, gefährdet den nachhaltigen Erfolg der Investition und nimmt absehbare Risiken für Individuen und Gesellschaft in Kauf. Es dauert lange, bis Gesellschaften aus Fehlern lernen und Konsequenzen aus gescheiterten Planungsstrategien ziehen, weshalb sich diese trotz vieler kritischer Stimmen zu prekären Stadtquartieren und Bauprojekten der Nachkriegsmoderne stetig wiederholen. Problematisch sind zudem Fehleranalysen, die sich auf formale Aspekte konzentrieren. Nicht das Ornament war 1908 ein „Verbrechen“7, wie es Loos provokant formulierte, sondern die Verweigerung der Eliten, die Modernisierung der Wirtschaft auf die Formen des gesellschaftlichen

6_ Neufert, Ernst: Bauentwurfslehre: Grundlagen, Normen, Vorschriften; Erste Auflage, 1936; Heidelberg, 2015. 7_ Siehe hierzu auch: Loos, Adolf: Ornament und Verbrechen (1908); unter: https://de.wikisource.org/wiki/ Ornament_und_Verbrechen; Abgerufen am 15.03.2017.

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Zusammenlebens auszudehnen. Die schmucklosen Kuben moderner Architektur sind heute auch nicht das Problem, sondern das viel zu selten eingelöste Versprechen einer freiheitlicheren, sozialeren, gesünderen und kostengünstigeren Lebensform, wie es von der Avantgarde verkündet wurde.8 Um Oscar Niemeyer zur Ehrenrettung der Moderne noch einmal zu zitieren: „Vor vielen Jahren zeigte ich einmal dem deutschen Architekten Walter Gropius meine Casa das Canoas, die ich für ein Waldgebiet oberhalb von Rio de Janeiro entworfen hatte. Nach der Besichtigung sagte Gropius zu mir: Ihr Haus ist sehr schön, aber man kann es nicht vervielfältigen. Diese Worte erschienen mir unglaublicher Blödsinn.“9 Hier prallen zwei geistige Strömungen der Moderne aufeinander, das funktionale und das ästhetische Raumdenken. Im Funktionalismus tritt der Verwendungszweck eines Produkts in den Fokus der Problemlösung. Global gedachte Produkte werden in Bezug auf Nutzerstudien, Wirtschaftlichkeitsanalysen und technische Neuerungen standardisiert, um Gebrauch und Vermarktung unabhängig vom Kontext spezifischer Anwendungssituationen und Nutzerbedürfnisse zu gewährleisten. Der Entwurfsprozess funktionalistisch gedachter Architektur unterscheidet sich nicht mehr grundlegend vom Designprozess eines Automobils oder Rasierapparates. Für die andere Strömung ist Architektur Baukunst, die in Bezug auf individuelle, gesellschaftliche und situative Kontexte nach ästhetischer Qualität strebt. Ästhetik stammt vom altgriechischen Begriff aísthesis, der sich mit ‚Wahrnehmung‘ oder ‚Empfindung‘ übersetzen lässt. Im Mittelpunkt der ‚Ästhetik des Raums‘ steht die Auseinandersetzung mit den Formen unserer Raumwahrnehmung und den daraus ableitbaren Raumstrategien. Die Inhalte und Methoden der Raumwahrnehmung müssen wir nicht neu erfinden, sondern für spezifische Anforderungen der Raumgestaltung adaptieren, da sie bereits in der Psychologie erforscht und angewendet werden. Eine ergiebige doch noch immer weitgehend unerschlossene Quelle für das Raumdenken und die Raumgestaltung ist der Stand der Forschung in der Hermeneutik10, der Psychologischen Ästhetik11 und der Neuropsychologie12. Die Auseinandersetzung mit den Formen menschlicher Raumwahrnehmung kann zudem von vielen weiteren sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen wie der

8_ Le Corbusier: Städtebau; Original: Urbanisme; 1925; München, 2015. und Le Corbusier: Ausblick auf eine

Architektur; Original: Vers une architecture; 1923; Basel, 1981. sowie Behne, Adolf: Der moderne Zweckbau; Original 1929; Basel, 1964. und Giedion, Sigfried: Befreites Wohnen; Original 1929; Zürich und Leipzig, 1992. 9_ Niemeyer, Oscar: Wir müssen die Welt verändern; München, 2013; S. 25. 10_ Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns; Berlin, 2011. 11_ Die Psychologische Ästhetik ist eine Unterdisziplin der Psychologie. Ästhetik wird hier als ‚Wissenschaft von der sinnlichen Erfahrung–‘ betrachtet. Vergl. Allesch, Christian G.: Einführung in die psychologische Ästhetik; Stuttgart, 2006. 12_ Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln: Wie das Gehirn unser Verhalten steuert; Berlin, 2003.

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Anthropologie, Soziologie, Ethnologie, Pädagogik oder den Kommunikations- und Medienwissenschaften profitieren. Hierdurch eröffnen sich im Vorfeld oder als Begleitung zum Entwurfs- und Planungsprozess viele produktive Felder transdisziplinärer Zusammenarbeit, die je nach Aufgabe und Möglichkeit variiert werden können. Da jeder Mensch einzigartig ist und jede Raumsituation individuell betrachtet werden muss, brauchen wir wahrnehmungspsychologisch fundierte Raumstrategien für die verständnisbildende Analyse und ästhetische Gestaltung von Baukunst. Die Raumwahrnehmung jedes Menschen ist subjektiv, folgt jedoch erklärbaren Bedürfnissen sowie verstehbaren Erlebens- und Verhaltenspräferenzen, die sich auf allgemeine Anforderungen, individuelle Neigungen und Stärken sowie soziokulturelle Prägungen zurückführen lassen. Evolutionär gebildete Bedürfnisse wie Orientierung, Sicherheit und Gemeinschaft sind bei allen Menschen vorhanden, jedoch nicht in gleicher Weise ausgeprägt oder situativ gefordert. Die Raumwahrnehmung eines Menschen verändert sich mit der körperlichen und geistigen Entwicklung im Verlauf des Lebens und wird von persönlichen Indikatoren wie Erfahrung und Wissen, Gesundheit und Krankheit, von Erfolgen, Misserfolgen, Neigungen, Abneigungen und Interessen beeinflusst. Menschen sind nicht nur verschieden, sie verändern sich zudem im lebenslangen Prozess der Individualentwicklung. Was dem einen zu groß, offen, bunt, laut und geschäftig ist, kann den Bedürfnissen eines anderen exakt entsprechen. Was heute zu unserer Lebensweise passt, kann morgen schon damit in Widerspruch stehen. Ebenso verhält es sich mit unseren Bedürfnissen nach Öffentlichkeit und Privatheit, Technik und Sinnlichkeit, Gemütlichkeit und Askese, Ruhe und Aktivität, Zeitgeist und Nachhaltigkeit, Spiritualität und Materialität, um nur einige Wirkungsgrößen unserer Raumwahrnehmung zu nennen.

Fazit 1 Die ‚Psychologische Ästhetik des Raums‘ ist die Leitwissenschaft der Raumgestaltung. 2 Räume werden von Menschen geformt und formen den Menschen. 3 Wenn wir Räume für Menschen gestalten, übernehmen wir damit eine politische Verantwortung für die Formung des Kulturraums und die Wahrnehmung der Inhalte und Funktionen von Gesellschaft. 55

Raumqualität durch Personalisierung und Kontextualisierung der Wahrnehmung Die ästhetische Gestaltung unseres Lebensraums fordert eine humanistische Haltung von allen Beteiligten, von Architekten wie Investoren, Politikern, Fachplanern und Produzenten. Verantwortungsträger dürfen ihr Verhalten nicht an formalen Größen oder abstrakten Zielen ausrichten, sondern an konkreten lebensweltlichen Bedürfnissen von Individuen und Gemeinschaften im Kontext von Umwelt und Gesellschaft. Erfolgreiche Raumstrategien gründen sich auf exakte empirische Beobachtungen der Wirkungen von Räumen auf das Erleben und Verhalten aller von der Baumaßnahme betroffenen Menschen in allen relevanten Handlungssituationen. Das sind in der Regel die bereits feststehenden oder angestrebten Nutzer und Nutzergruppen, aber auch Anwohner, Besucher, Bauherren, Investoren und andere gesellschaftliche Interessengruppen. Wer die legitimen Interessen anderer Beteiligter in den Blick nimmt und objektiv analysiert, kann einen verständnisfördernden Dialog führen, den Ausgleich unterschiedlicher Interessen bewirken und in seinen Entscheidungen der gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Die aus der Analyse resultierenden Anforderungen an die Qualität der Raumwahrnehmung bilden die Planungs- und Diskussionsgrundlage im gemeinsamen diskursiven Ringen um die beste Lösung eines Raumproblems. Die funktionalen Anforderungen eines Raumproblems müssen zuerst situativ, problemorientiert und kontextbezogen wahrgenommen und analysiert werden, bevor sie im Entwurfsprozess gelöst werden können. Jede Raumform muss ihrer psychologischen Funktion folgen, das heißt entwicklungs- und verhaltenspsychologische, bildungs- und sozialpädagogische Ziele bei allen davon mittelbar und unmittelbar betroffenen Menschen erreichen. Die Ermittlung formaler Rahmenbedingungen wie Nutzfläche und Baukosten ist Teil der Analyse, doch niemals das Ziel und schafft daher auch keine Legitimation für gescheiterte Bauprojekte. Denn wem nutzen Räume und vor allem was für Schäden richten Lebensumwelten an, die zwar exakt nach formalen Vorgaben geplant wurden, jedoch dauerhaft negative Wirkungen auf das Lebensgefühl und die Handlungsmotivation ihrer Nutzer haben? Doch wie bekommen wir belastbare Fakten zur Wahrnehmungsqualität von Räumen? Die ästhetische Qualität von Räumen lässt sich mit qualitativen und quantitativen Methoden evaluieren. Durch eigene empirische Beobachtungen sowie wissenschaftlich korrekte Umfragen können differenzierte qualitative Aussagen über die Wahrnehmungsqualität von Räumen ermittelt werden. Umso konkreter, verständlicher und persönlicher die Fragestellung erarbeitet und die Umfrage durchgeführt wird, je höher ist der Aussagewert der Antworten. Darüber hinaus besitzen gezielte Exkursionen und Raumbesichtigungen einen hohen Aussagewert für die Analyse der Qualität von Räumen, wenn: 56

a Die Wirkungen konkreter Raumsituationen auf das Nutzerverhalten beobachtet, dokumentiert und analysiert werden, was unvoreingenommen und wertneutral erfolgen muss. b Die Nutzererfahrungen und Werturteile in Gesprächen erforscht, dokumentiert und analysiert werden, was unvoreingenommen und wertneutral erfolgen muss. c Die Wirkungen konkreter Raumsituationen durch Selbstbeobachtung (Introspektion) erforscht, dokumentiert und analysiert werden, was subjektiv und durch eigene Werturteile erfolgen muss. Menschen nehmen ihren Lebensraum immer personalisiert und situativ wahr, da sie sich stets eigenleiblich zur Umgebungssituation verhalten und die mit allen Sinnen erlebten Wahrnehmungsqualitäten unwillkürlich bewerten. Die emotionale Bewertung der Wirkungen von Räumen auf unseren Körperzustand erfolgt durch die Aktivierung von Neurotransmittern im Gehirn. Die Ausschüttung von Hormonen wie Dopamin, Adrenalin oder Noradrenalin löst Belohnungsgefühle, Stress oder Angst aus. Melatonin hingegen sorgt dafür, dass wir zur Ruhe kommen und gesund schlafen. Das Hormon Oxytocin fördert Vertrauen, soziale Bindungen und soziales Verhalten. Wir können uns dieser unbewussten Bewertung der Erlebnisqualität von Räumen nicht entziehen, da sie in Bruchteilen einer Sekunde erfolgt, also lange bevor wir die Ursache für die Veränderung unseres Körperzustandes bewusst wahrgenommen haben. Es ist daher nicht einfach, den ersten emotional geprägten Eindruck einer Raumsituation zu überwinden und mittels rationaler Kriterien zu einer anderen Bewertung zu gelangen. Aus diesem Grund sind Details von entscheidender Bedeutung für die Raumwahrnehmung, da ein freudiger Moment, wie ein schöner Ausblick, eine angenehme Oberflächentextur oder eine anregende Farbe bereits ein positives Werturteil bewirken können. Aus diesem Grund müssen wir spontane Gefühlsreaktionen aller Menschen ernst nehmen wie Äußerungen: ‚das finde ich schön bzw. hässlich, das gefällt mir bzw. gefällt mir nicht‘ oder Verhaltensreaktionen wie: ‚Interesse bzw. Interesselosigkeit, Freude bzw. Unmut, Enthusiasmus bzw. Aggression‘. Die methodische Auseinandersetzung mit den Ursachen spontaner Gefühls- und Verhaltensreaktionen ermöglicht uns die Bildung rationaler Kriterien für die Analyse und Bewertung der Qualität konkreter Raumsituationen. Gefühle sind immer wahrhaftig. Es ist zwecklos, mit rationalen Argumenten dagegen anzureden. Wenn wir negative Gefühlsreaktionen ändern wollen, müssen wir die Ursachen erkennen, beseitigen und mit geeigneten Maßnahmen für Vertrauen sorgen. 57

Moderne Gesellschaften brauchen hochdifferenzierte Räume für individuelle, gemeinschaftliche und gesellschaftliche Praktiken des Zusammenlebens von Menschen. Wer die Formen unseres Zusammenlebens an idealtypischen Vorstellungen ausrichtet, die unserer Natur zuwiderlaufen, wird damit scheitern. Der Raum formt den Menschen nur insoweit, wie es in seiner Natur liegt. Die Natur des Menschen ändert sich in evolutionären Dimensionen und folgt entwicklungsbiologischen Prinzipien. Der Zeitraum, in dem Umweltfaktoren genetische Anpassungen auslösen, ist weitaus länger als die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit. Das menschliche Genom hat sich nach dem Stand der Forschung in den letzten hunderttausend Jahren nicht mehr nachweisbar verändert. Die Formen unseres Zusammenlebens hingegen umso mehr. Jeder Mensch spürt instinktiv, welche Raumsituationen gut oder schlecht für ihn sind und meidet daher negative Raumerlebnisse, soweit es möglich ist. Prekäre, gefährliche oder triste Raumsituationen, denen Menschen dauerhaft ausgeliefert sind, verursachen psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen wie Depressionen, Bewusstseinsstörungen, Antriebslosigkeit, Aggressionen, Gewalt oder Drogenkonsum. In den Städten und Landschaften von Entwicklungsländern wie Industriestaaten lassen sich zahlreiche Räume finden, die dauerhaft negative Wirkungen auf das Erleben und Verhalten von Menschen haben. Soziale Probleme der Vormoderne wurden nicht nachhaltig gelöst, sondern haben durch den Städtebau und die Architektur der Moderne eine neue Dimension erhalten. Die Transformation weiter Teile des öffentlichen Raums in gesundheitsgefährdende Verkehrsflächen, wachsende Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsstätten, der Mangel an Versorgungseinrichtungen oder die fehlende Urbanität ganzer Stadtquartiere haben Auswirkungen auf die Lebensqualität und den Handlungsspielraum aller Bürger. Ausdehnung und Verteilung von Problemlagen und begehrten Lagen lassen sich an Statistiken von Wohn- und Gewerbemieten ablesen, während die Qualität einzelner Objekte am Mietpreis oder Verkaufswert erkennbar wird. Wie alle mobilen Lebewesen suchen Menschen nach dem Lebensraum, der ihnen die besten Lebensbedingungen bietet. Sie ziehen weiter, wenn sie die Bedingungen darin nicht optimal finden, wodurch sich negative Effekte prekärer Raumsituationen immer weiter verstärken und auf die Umgebung ausdehnen. Andersherum steigen auch die Attraktivität, der Wert und die Nachfrage positiv wahrgenommener Lebens- und Arbeitsräume, weil Menschen ständig nach optimalen Lebensbedingungen suchen und einen hohen Aufwand dafür betreiben. Überlassen wir den Kulturraum allein dem ökonomischen Prinzip von Angebot und Nachfrage, fördert das Spannungen, Neid, Gewalt, Verteilungskämpfe, Verdrängungen und soziokulturelle Segregation.

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Fazit 1 Die Natur des Menschen ändert sich in evolutionären Dimensionen, weshalb erfolgreiche Raumgestaltung nicht an abstrakt gefassten Funktionen, sondern an den Wirkungen von Räumen auf das Erleben und Verhalten der Nutzer im Kontext konkreter Umweltsituationen ausgerichtet sein muss. 2 Erfolgreiche Raumgestaltung muss nach wahrnehmungspsychologischen Prinzipien erfolgen. Zielvorgaben sollten nicht an formalen, sondern psychischen Faktoren ausgerichtet werden, wie die Schaffung von Sicherheit, Vertrauen und Orientierung, die Bildung von Identität, Gemeinschaft und Gesellschaft, den nachhaltigen Erhalt der Spezies und die Förderung des Nachwuchses, die Bewahrung und Pflege des eigenen Lebensraums, die Sicherung von Nahrung und Gesundheit, die Ermöglichung von Kommunikation und Wissenserwerb. 3 Positive und negative Wirkungen von Räumen verstärken sich durch evolutionär determiniertes Nutzerverhalten, da Menschen beständig auf der Suche nach dem optimalen Lebensraum für sich und ihre Bezugspersonen sind.

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Der Kulturraum als primäre Wissensform des Menschen Die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Phänomen des Raums folgt der Frage nach der Natur unseres Seins in der Umwelt.13 Räumlich und zeitlich wirksame Veränderungen im Verhältnis von Körper und Umwelt bestimmen die Wahrnehmung unserer Lebenswirklichkeit. Durch jede Interaktion mit der Umwelt erfahren wir etwas mehr über die Art und Weise unserer lebensweltlichen Existenz. Die körperhaften Formen unserer haptischen Wahrnehmung sind Material und Oberfläche. Die bildhaften Formen unserer visuellen Wahrnehmung sind Licht und Farbe. Die musischen und sprachlichen Formen unserer auditiven Wahrnehmung sind Töne und Klänge. Die Formen unserer Wahrnehmung werden zu Sinnesmedien, wenn wir uns mit ihren kommunikativen Funktionen auseinandersetzen. Die Synthese unserer sinnlich erworbenen und gedanklich reflektierten Erfahrungen erfolgt im Gehirn, in dem sich ein räumlich und zeitlich strukturiertes Wissensmodell unserer Lebenswelt bildet, das wir durch Lernprozesse lebenslang erweitern und aktualisieren. Unser Erfahrungswissen können wir über gedankliche Reflexion in unserem Vorstellungsraum aktivieren und durch die Herstellung neuer komplexerer Sinnzusammenhänge permanent restrukturieren. Dennoch bleibt das Vorstellungsvermögen und Wissen jedes Menschen auf das Leistungsvermögen seines Gehirns begrenzt, weshalb Gesellschaften andere Formen der Speicherung, Vermittlung und Bildung von Wissen benötigen, die sich mit den baulichen, inhaltlichen und funktionalen Strukturen ihres Kulturraums selbst geschaffen haben. Raum und Zeit bestimmen die Formen unserer Wahrnehmung und determinieren hierüber auch all unsere Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Alle Wissenschaften entwickeln und nutzen daher spezifische Raummodelle, in deren Grenzen sich die Beziehungen abstrakt definierter Entitäten wie Punkte, Linien und Zahlen oder qualitativ definierter Größen wie Kräfte, Elemente, Masseteilchen oder Energiequanten verorten, beschreiben und erklären lassen. Formal-, Natur-, Geistes- und Ingenieurwissenschaften nutzen unterschiedliche Raummodelle, die jedoch eines gemeinsam haben. Sie orientieren sich an der räumlichen Form unseres Erlebens, Handelns, Denkens und Wissens. Unser Wissen ist a priori räumlich strukturiert, da es sich auf eigenleibliche Erfahrungen gründet und nur durch lebensweltliche Bezüge erklärt und verstanden werden kann! Der Begriff Wissen geht zurück auf das althochdeutsche Wort wizzan, dessen indogermanische Wurzel auf die Tätigkeit des ‚Erblickens‘ und ‚Erkennens‘ verweist.

13_ Zur Phänomenologie des Raums siehe auch: Husserl, Edmund: Ding und Raum; Vorlesungen, 1907; Hamburg, 1991. und Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Original: Phénoménologie de la

perception; Paris, 1945; Berlin, 1966.

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Mit der Wahrnehmung einer Sache bildet sich Wissen um den Sachverhalt, die Art und Weise, wie wir den Gegenstand im Kontext der Erlebnissituation erfahren haben. Unser Erfahrungswissen (griech. empeiría) ist Grundlage der empirischen Wissenschaften, in denen Theorien durch empirische Methoden wie Experimente, Beobachtungen oder Befragungen bestätigt oder falsifiziert werden. Unser subjektiv gewonnenes Erfahrungswissen wird durch Beweise bzw. die Möglichkeit der Reproduzierbarkeit von Erkenntnis objektiviert. Das Verhältnis zwischen dem Subjekt und Objekt der Wahrnehmung ist immer zeitlich und räumlich bestimmt, da es nicht nur die Dauer und Art unseres Erlebens, sondern ebenso auch die von uns erfahrenen Eigenschaften und Verhaltensweisen beinhaltet. Jedes Objekt unserer Wahrnehmung erlangt hierdurch seine zeitliche, räumliche, quantitative und qualitative Bestimmtheit, seine Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, sein hier oder dort, davor oder dahinter, darüber oder darunter, darauf oder daneben, um nur einige unserer Bezugsgrößen zu nennen. Wahrnehmung ist daher niemals absolut, sondern immer relational. Das trifft in gleicher Weise auf die Natur unseres Wissens zu. Spätestens seit dem Erfolg der von Albert Einstein entwickelten Relativitätstheorie14 gilt es auch in den Naturwissenschaften als akzeptiert, dass sich die Struktur von Zeit und Raum mit der Beobachterperspektive verändert. Empirisch gewonnenes Wissen ist ein Produkt unserer Raumwahrnehmung. Wissen ist relational, weil es von unserer Erkenntnisfähigkeit begrenzt, über unsere Erinnerungstätigkeit reproduziert und durch unseren Meinungsbildungsprozess emotional bewertet wird. Ohne die Erinnerung an unsere Vorerlebnisse, die andere Orte, Zeiten und Ereignisse beinhaltet, lässt sich die Gegenwart unseres Erlebens nicht verstehen und erklären. Im Wahrnehmungsprozess bilden und aktualisieren wir unser Wissen, da von Außen kommende Informationen vorhandene Inhalte im Gedächtnis aktivieren, die nach den Prinzipien höchstmöglicher Wahrscheinlichkeit, Verständlichkeit und Widerspruchsfreiheit erweitert und aktualisiert werden. Weit über 90 Prozent unseres Wissens bleibt uns zeitlebens unbewusst. Wir nutzen es, ohne es zu bemerken, zum Beispiel bei der Orientierung im Natur- und Kulturraum. Auch ohne das Erscheinungsbild unserer Städte vor Augen zu haben, können wir viele Wege finden. Sollen wir einen Weg beschreiben, können wir uns meist nur an besonders markante Wegmarken erinnern. Wir stutzen jedoch sofort, wenn wir etwas Außergewöhnliches bemerken oder sich etwas verändert hat wie ein Baugerüst oder eine auffällige Farbgestaltung, die am Vortag noch nicht da war. Handlungsroutinen zeichnen sich dadurch aus, dass wir sie sehr schnell und intuitiv ausführen können, ohne ein Bewusstsein

14_ Einstein, Albert: Über die Spezielle und die Allgemeine Relativitätstheorie; Berlin, (Originial: 1920) 2012.

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davon zu entwickeln. Der größte Teil unserer Wahrnehmungen bleibt als implizites Wissen im gleichnamigen Gedächtnis und sichert unser Überleben in komplexen Umweltsituationen. Wir haben keinen direkten Zugang zu diesem Wissensarchiv, können es jedoch durch Vergegenwärtigung und Reflexion vergangener Ereignisse in explizites Wissen transformieren. Nur das explizite Wissen steht uns unmittelbar für das Denken, Planen und bewusste Handeln zur Verfügung. Diese Wissenstransformation erfolgt in unserem Arbeitsgedächtnis, einem bewusstseinsfähigen Gedächtnisareal, dessen Speicherkapazität jedoch auf wenige Sekunden und sehr geringe Datenmengen beschränkt ist. Aus diesem Grund wird es auch als Kurzzeitgedächtnis bezeichnet. Die Verweildauer von Informationen im Arbeitsgedächtnis lässt sich gezielt verlängern, wenn wir diese wie beim Skizzieren, Zeichnen oder Malen von Umweltsituationen oder beim Memorieren von Text in kurzen Intervallen erneut aufrufen. Versuche haben gezeigt, dass wir etwa sieben verschiedene Informationseinheiten (Chunks)15 im Arbeitsgedächtnis behalten können. Diese Beschränkung unserer bewussten Wahrnehmungskapazität kann für die Raumgestaltung von erheblicher Bedeutung sein, wenn Orientierung hergestellt und erhalten werden soll oder Botschaften in kurzer Zeit vermittelt werden müssen. Die Aktivierung von Wissen im Arbeitsgedächtnis können wir durch die Richtung unserer Aufmerksamkeit gezielt steuern. Im Denkprozess bleibt unsere Aufmerksamkeit auf den inneren Vorstellungsraum fokussiert. Ereignisse, die von außen kommen und für uns nichts mit dem Sachverhalt zu tun haben, werden daher als Ablenkungen oder Störungen wahrgenommen. Im Wahrnehmungsprozess hingegen oszilliert unsere Aufmerksamkeit zwischen äußerer Realität und innerer Vorstellung. Durch die Geschwindigkeit dieser Wechsel verschmelzen gegenwärtige mit vergangenen Ereignissen. Wir sehen, hören, tasten, spüren, riechen, schmecken daher immer auch das, was wir bereits vom Objekt oder Sachverhalt wissen. Die räumliche und zeitliche Wahrnehmung unserer Lebenswirklichkeit beinhaltet in jedem Moment die komplette Ereigniskette unserer Existenz in der Umwelt.

15_ Miller, Georg A: The Magical Number Seven, Plus or Minus Two: Some Limits on Our Capacity for Processing

Informationby; in: Miller, Georg A: The Psychological Review; 1956, vol. 63, pp. 81–97. http://www.musanim. com/miller1956/; Abgerufen am 15.03.2017.

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Fazit 1 Wir erwerben Wissen durch die unbewusste und bewusste Wahrnehmung der Wirkungen von Umweltsituationen auf unser Erleben und Verhalten. 2 Wir können unser Wissen gezielt und methodisch durch Denken und bewusstes Handeln erweitern. 3 Wissen ist durch die leibliche Natur unseres Seins in der Umwelt zeitlich, räumlich, quantitativ und qualitativ strukturiert und in Bezug darauf beschreibbar.

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Die Bedeutung der Raumwahrnehmung für die Bildung Aus neurowissenschaftlicher Perspektive hat unser Kulturraum die Funktion eines ausgelagerten Gedächtnisses und Wissensarchivs, da wir ihn nicht nur als Lernort, sondern auch als Form unserer kollektiven Erinnerungen, gelebten Gegenwart und erhofften Zukunft verstehen, gebrauchen und gestalten. Der Kulturraum erzählt uns nicht seine, sondern unsere Geschichte, die wir aus der aktuellen Perspektive unserer Wahrnehmungssituation interpretieren und zugleich aktualisieren. Wenn wir wissen wollen, wie moderne Gesellschaften funktionieren, woraus sie bestehen, was sie voranbringt, behindert oder zerstört, müssen wir uns daher aktiv mit den Inhalten, Funktionen und der Formung unseres Kulturraums auseinandersetzen. Die Wissensarchivierung in Form von Büchern, Filmen, Bildern und Artefakten bildet einen festen Bestandteil in der großen Geschichte des gebauten Raums, in dem jedes Ding seinen Ort, seine Funktion und seinen Sinnzusammenhang erhält. Jeder Wahrnehmungsakt beinhaltet einen Lernvorgang, der uns jedoch nur dann bewusst wird, wenn wir uns den Wissenstransfer vergegenwärtigen. Wir bilden uns nicht nur in ausgewiesenen Lernräumen wie Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen, sondern weit mehr noch über informelle Lernprozesse an den unzähligen Lernorten des Natur- und Kulturraums. Jeder Weg, jeder Aufenthaltsort schafft Raum für mannigfaltige Begegnungen, Entdeckungen und Interaktionen. Es gibt keinen Wahrnehmungsakt, durch den wir nicht etwas lernen, denn Wahrnehmung bewirkt neuronale Veränderungen im Gehirn wie die Bahnung neuer, die Verfestigung vorhandener oder den Abbau überflüssiger Verbindungsnetze. Die Qualität und Quantität des erworbenen Wissens steigt und fällt mit dem Lernpotenzial der Umweltsituationen und unserem Verhalten. Umso offener, neugieriger und aktiver wir uns verhalten, je mehr können wir von der Umweltsituation lernen. Entscheidend für unseren Lernerfolg sind der Fokus der Aufmerksamkeit und der Neuheitswert der Information. Wiederholungen hingegen sind wichtig, wo vorhandenes Wissen verfestigt und in Form von Denk- und Handlungsroutinen reproduziert werden soll. Setzen wir uns längere Zeit nicht mit einem Sachverhalt auseinander, weil er uns nicht mehr interessiert oder keine Anknüpfungsmöglichkeiten zu aktuellen Ereignissen bestehen, werden unsere Erinnerungen schwächer oder verschwinden ganz. Unsere Neugier ist ein angeborener Lerntrieb, den wir durch unsere Spielfähigkeit realisieren. Unsere Interessen hingegen werden von kognitiv erworbenen Denk- und Handlungsfähigkeiten bestimmt. Alle Menschen wollen etwas lernen und ahnen intuitiv oder nehmen bewusst wahr, wo sie spannende Spielmöglichkeiten oder interessante Herausforderungen für ihre Denk- und Handlungsfähigkeiten finden. Lernorte für spielerische Lernformen finden wir von selbst, wohingegen Lernorte für interessengeleitete Lernformen nur dann wahrgenommen werden, wenn die Interessen durch den Erwerb von 64

Denk- und Handlungsfähigkeiten geweckt wurden. Ausstellungen oder Museen werden daher nur dann zu Lernorten, wenn wir bereits ein Interesse an den präsentierten Objekten, Praktiken oder Sachverhalten entwickelt haben oder dieses durch die Art ihrer Präsentation entwickeln können. Im Naturraum funktioniert das evolutionäre Lernprinzip perfekt, da höher entwickelte Lebewesen ihre Lebensumwelt aktiv erkunden und über verschiedene Formen von Selbst- und Umweltwahrnehmung nützliches Wissen sowie alle überlebensnotwendigen Verhaltenstechniken erwerben. Für das Überleben im Kulturraum können wir nicht allein auf intuitive Lerntechniken vertrauen, wollen wir ein freies, selbstbestimmtes und sinnerfülltes Leben führen. Für den Erwerb komplexerer Lerntechniken, Wissensbereiche und Handlungskompetenzen, die den Erfolg von Individuen in modernen Gesellschaften ermöglichen, haben wir institutionalisierte Lernorte geschaffen. Durch Interaktionen mit ihrem Lebensraum erwerben Kinder nicht nur alle überlebenswichtigen Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern auch die Voraussetzungen für den Beginn ihrer schulischen Bildung. In den gebauten Strukturen des Kulturraums leben sie mit Menschen, die ihnen etwas vorleben, zeigen und erklären. Jeder Ort schafft eine potenzielle Lernsituation, jeder Gegenstand kann zum Lernobjekt werden. Das informelle Lernen durch die Auseinandersetzung mit dem Kulturraum kann sich lebenslang fortsetzen, da Individuen in modernen Gesellschaften eine nahezu unerschöpfliche Vielfalt außerschulischer Lernorte zur Verfügung stehen. Informelles Lernen findet in privaten Räumen statt, bei Spiel und Austausch mit Familie und Freunden wie im öffentlichen Raum. Plätze, Straßen und Höfe, Museen, Theater, Konzerthallen, Galerien und Kinos oder Messen, Läden, Fabriken und andere Arbeitsstätten sind Orte der Begegnung und des Lernens. Unser Kulturraum ist der wichtigste Bildungsfaktor moderner Gesellschaften! Der Naturraum hingegen verliert zunehmend an evolutionärer Bedeutung für das Überleben unserer Spezies. Der evolutionäre Erfolg unserer Spezies zeigt sich nicht nur in der Zunahme der Weltbevölkerung, sondern mehr noch in der Besiedlung und Überformung des in gleichem Maße schrumpfenden Naturraums. In der entwicklungsbiologisch kurzen Zeitspanne unserer ‚kulturellen Evolution‘ hat sich der Lebensraum Erde sehr stark zu unseren Gunsten verändert. Millionen von Arten müssen sich dem kulturellen Transformationsprozess unseres Lebensraums anpassen, sich eine Nische suchen oder sie sterben aus.16 Wir passen den Naturraum unseren gesellschaftlichen Bedürfnissen an, in dem wir ihn mit einem dichten Infrastrukturnetz topografisch gliedern und bautypologisch überformen. Die hierdurch erschlossenen Ressourcen ermöglichen das Wachstum und 16_ Jedes Jahr verschwinden etwa 10.000 – 50.000 Arten für immer von der Erde. Siehe hierzu auch: Joshua J. Tewksbury / Haldre S. Rogers: An animal-rich future; Science, 25.07.2014, vol. 345, Issue 6195, pp. 400; DOI: 10.1126/science.1258601.

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die Verdichtung von Siedlungsräumen, die wieder neue Infrastrukturen nach sich ziehen. Der Kulturraum wächst in Form eines nichtlinearen dynamischen Systems, dessen Entwicklung trotz städtebaulicher Planungsanstrengungen unvorhersehbar erscheint. Der Kulturraum ist der Lebensraum des Menschen, ein Ökosystem, das sich selbst reguliert. Erfolg hat, was einen gesellschaftlichen Nutzen bringt und einen kulturellen Wert für Individuen, Gruppen oder die Gesellschaft hat. Kulturelle Bildung erfolgt nach dem kulturrevolutionären Prinzip der Nützlichkeit von Individuen für das Fortbestehen und die Weiterentwicklung der Gesellschaft. Wir sind daher gar nicht so frei in der Gestaltung des Kulturraums, sondern folgen den Prinzipien der kulturellen Evolution. Die kulturelle Überformung der Natur spiegelt die Entwicklungsdynamik menschlicher Gesellschaften und schafft die Formen unseres Zusammenlebens. Die Gestaltung des Kulturraums muss grundlegende Forderungen von Gesellschaften wie Sicherheit, Orientierung, Ernährung, Gemeinschaft, Partnerschaft, Austausch, Fortbewegung oder Arbeit erfüllen. Der Kulturraum ist unser wichtigster Lernraum, der das Erleben und Verhalten von Individuen prägt und steuert. Die unzähligen informellen Lernprozesse finden unwillkürlich und weitgehend unbewusst statt, wenn immer wir Menschen, Dingen und Orten begegnen, um zu kommunizieren oder auf andere Weise zu interagieren. Der Kulturraum formt unser Bewusstsein, unsere Art zu denken und zu handeln und wird hierdurch zu unserer kulturellen Heimat. Wir spüren die Wirkungsmacht unseres Kulturraums am stärksten, wenn wir ihn zeitweise oder ganz verlassen. Ungewohnte Kulturräume wirken fremd und können je nach Lebenssituation instinktive emotionale Reaktionen wie Neugier oder Angst auslösen. Was wir wissen und was wir lernen können, gründet sich auf unsere Raumwahrnehmung. Der gesamte Wahrnehmungsraum ist ein Lernraum, da wir durch die Konsequenzen unserer Handlungen Erfahrungen bilden. Unser Gehirn stellt dabei beständig neue assoziative Verknüpfungen zwischen Ursache und Wirkung von Ereignissen her oder stärkt und schwächt die vorhandenen. Unser Gedächtnis enthält dennoch keine Ansammlung von Fakten oder Gestaltparametern, kein Formenarchiv und keine Vokabelsammlung. Durch die Wahrnehmung der Umwelt bildet sich im Gedächtnis unser Vorstellungsraum, das Modell der von uns erfahrenen Lebenswirklichkeit, in dem sich unser Wissen in anschaulicher wie sprachlicher Form repräsentiert. Wir können dieses Wissen auch in der Vorstellung aktivieren und neue Sinnzusammenhänge entdecken, indem wir nachdenken oder frei fantasieren. Durch die hierdurch erzielte höhere und effizientere Vernetzung des vorhandenen Wissens erhöhen wir die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns. Wissen wird verständlicher, ist schneller verfügbar, kann effizienter für Problemlösungen eingesetzt und auf andere Handlungsfelder übertragen werden.

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Fazit 1 Wir speichern Wissen nicht nur im Gedächtnis, sondern vielmehr noch im Wissensarchiv unseres Kulturraums in Form von Praktiken, Sprache, Texten, Büchern, Bildern, Filmen, Artefakten, Bauten und Infrastrukturen. 2 Raumwahrnehmung impliziert Lernen, in positiver wie in negativer Hinsicht. Das Lernpotenzial des Kulturraums ist daher ein wichtiger Faktor für die Raumgestaltung. Jeder Ort ist eine potenzielle Lernsituation. 3 Die Lernmotivation des Menschen ist abhängig vom Erlebniswert und Handlungsangeboten des Kulturraums. Entscheidend für den Lernerfolg sind die Interessen des Menschen sowie der subjektiv empfundene Neuheitswert der Information. 4 Die Qualität und Quantität des informell durch Wahrnehmung erworbenen Wissens ist abhängig von der Dauer und Intensität der inhaltlichen Auseinandersetzung. Die Erregung und Steuerung von Aufmerksamkeit ist daher von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung von Lernsituationen. 5 Umso offener, neugieriger und explorativer sich Menschen im Raum verhalten, desto mehr können sie von der Umweltsituation lernen.

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Der Raum als Sprachsystem Der Kulturraum ist nicht nur unser Lebensraum, sondern hat darüber hinaus die Funktion eines Sprachsystems. Wir nehmen die in ihm versammelten Menschen, Objekte und Sachverhalte anhand ihrer Zeichenbedeutung wahr, wofür wir meist nur wenige konkrete Anhaltspunkte wie eine prägnante Form, Farbe, Geste, einen Laut, Geruch oder Geschmack benötigen. Das Zeichenprinzip der Lautsprache bildet einen festen Bestandteil im Sprachsystem unseres Kulturraums, da Worte und Bildelemente gleichermaßen auf konkrete Bedeutungen und Handlungszusammenhänge verweisen. Sobald wir mechanisch oder energetisch auf Umweltsituationen einwirken, können wir die Konsequenzen unserer Handlungen am eigenen Leibe spüren. Als Ursache unserer Sinnesempfindungen nehmen wir ein Objekt oder einen Sachverhalt wahr, der hierdurch zum Repräsentanten aller erfahrenen Erlebnis- und Verhaltenszustände wird. Objekt und Sachverhalt verlieren hierdurch die Einzigartigkeit ihrer Erscheinung in Zeit und Raum und werden zum Vertreter einer Kategorie, die im semantischen Gedächtnis angelegt und beständig erweitert wird. Das mit dem Objekt oder Sachverhalt verbundene Handlungspotenzial hingegen erzeugt eine andere Kategorie, die im prozeduralen Gedächtnis gespeichert wird, damit wir es erkennen und gebrauchen können. Damit wir von einem Sprachsystem sprechen können, müssen vier Korrelate im Raum identifizierbar sein. Vier Korrelate einer Semiotik des Raums: a Medium der Wahrnehmung b Objekt der Wahrnehmung c Subjekt der Wahrnehmung d Kontext der Wahrnehmungssituation Dieser Zeichenprozess lässt sich als Semiose bezeichnen, wobei ich mich nicht auf die Theorien von Charles Sanders Pierce oder Charles Morris, sondern auf Umberto Eco17 beziehe, dessen Betrachtungen der ‚Architektur als Massenkommunikation‘ viele Gedanken einer ‚Zeichentheorie des Raums‘ beinhalten. Ebenso grundlegend sind die Gedanken von Ernst Cassirer, der in seiner Philosophie der symbolischen Formen bereits eine ‚Semiotik des Kulturraums‘ entwirft.18 Cassirer verwendet den Symbolbegriff in einer umfassenden Form, die ich in ihrer Anwendung auf den gebauten Raum jedoch für problematisch halte. Die Formgebung nach Kriterien der Symbolwirkung 17_ Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik; Paderborn, 2002. 18_ Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen; Original: Band 1-3; 1923-1929; Hamburg, 2010.

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ist eine Fehlinterpretation dieser Theorie mit häufig fatalen Folgen für Individuen und Gesellschaft. Sprache hat eine andere Aufgabe als die Formung von Sinnbildern oder Symbolen. Sie dient der Verständigung des Menschen und der Ermöglichung von Verstehensprozessen. Symbolische Formen können in Städtebau, Architektur und Innenraumgestaltung berechtigt sein, wo sie eine lebensweltliche Bedeutung und einen konkreten Nutzen für den Menschen haben, der keine unverhältnismäßigen Nachteile, Zwänge und Probleme verursacht. Ein runder Tisch ist nicht nur ein Symbol für die allseitige Bereitschaft zur Konfliktlösung, sondern er fördert auf Grund fehlender hierarchischer Merkmale und der Möglichkeit gegenseitiger Wahrnehmung tatsächlich Vertrauen, Respekt und Dialog. Die Zeichentheorie des Raums ist als Mittel zur Analyse und Gestaltung von Räumen geeignet, wenn wir hierdurch zu einem tieferen Verständnis von Raumproblemen und zur Entwicklung von Raumstrategien gelangen, die sich in der Praxis bewähren. Unser Lebensraum ist ein Sprachsystem, dessen Zeichen zugleich die Objekte unserer leiblich-sinnlichen Wahrnehmung sind. Im lateinischen Ursprung des Wahrnehmungsbegriffes percipere steckt die Handlung des Nehmens und Empfangens. Bevor wir etwas ‚für-wahrnehmen‘, müssen wir es zuerst aktiv mit Hilfe unserer Sinne erforschen, müssen es ansehen, nehmen, fassen, greifen, tasten, legen, stellen, transformieren, bewegen, fühlen, riechen oder schmecken. Die Qualität dieser Erfahrungen bestimmt, was wir verstehen, begreifen und wie wir das Erlebnis bewerten. Jede Sprache folgt den Formen unserer Wahrnehmung. Wir nehmen wahr, wohin wir uns orientieren müssen, wie wir Dinge benutzen oder mit was wir interagieren können. Alle bewussten Wahrnehmungen und Vorstellungen unserer Existenz in der Umwelt sind nicht nur räumlich und zeitlich, sondern auch sprachlich strukturiert. Über die sprachliche Strukturierung eignen wir uns die Umwelt an. Wir transformieren Umwelt in einen personalisierten Lebensraum, in dem uns alle Dinge Sinn und Bedeutung vermitteln, in dem sie ihren Platz haben und unseren Aufenthaltsort bezeichnen, in dem sie Verhaltenseigenschaften besitzen und Handlungsangebote signalisieren. Durch die sprachliche Strukturierung unserer Wahrnehmungs- und Vorstellungstätigkeit gelangen wir zu Erkenntnissen und Ausdrucksmitteln, über die wir mit anderen Menschen in Kommunikation treten können. Wir sind in der Lage, Umwelt so zu gestalten, dass sie von anderen Menschen verstanden und genutzt werden kann. Die sprachliche Strukturierung unseres Wahrnehmungsraums folgt dem Prinzip größtmöglichen Handlungserfolgs. Es sind die erkannten Irrtümer, Fehler und Misserfolge, durch die wir lernen, da unser Gehirn widersprüchliche Raumvorstellungen unwillkürlich korrigiert. Wird die sprachliche Struktur unseres Wahrnehmungsraums durch Alter, Krankheiten oder Unfälle beeinträchtigt, hat das Konsequenzen für unsere Erlebnis-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Wir können Menschen, Dingen und Orten plötzlich nicht mehr ansehen, warum sie da sind, wie sie sich verhalten oder 69

wozu wir sie gebrauchen können. Andersherum vergrößern sich die anschaulichen oder verbalen Formen unseres Sprachvermögens, wenn wir uns gezielt mit dem Wahrnehmungsraum auseinandersetzen und lernen, Bedeutungen zu erkennen und Handlungsangebote zu nutzen. Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften weisen darauf hin, dass sich Fortschritte in der Raumwahrnehmung und Raumvorstellung in den Leistungsmerkmalen der neuronalen Strukturen unseres Gehirns repräsentieren. So lässt sich bei Taxifahrern eine messbare Vergrößerung des Gedächtnisareals feststellen, in dem wir innere Landkarten speichern.19 Jede Form der Umweltgestaltung hat Konsequenzen für ein grundlegendes Leistungspotenzial des Gehirns, unsere ‚räumliche Intelligenz‘, die sich durch Interaktionen mit der Umwelt bildet und durch bildliche wie sprachliche Reflexion methodisch weiterentwickeln lässt. Unsere Fähigkeit zum ‚Raumdenken‘ gründet sich auf die Reflexion der Raumwahrnehmung. Durch die bewusste Auseinandersetzung mit der Raumwahrnehmung und die kritische Hinterfragung der Wirkungen von Raum auf unser Erleben und Verhalten können wir die sprachliche Struktur von Räumen sichtbar machen: 1 Im ersten Schritt müssen wir bewusst wahrnehmen, welche Raumelemente eine Zeichenbedeutung entfalten und uns hierdurch über den situativen Kontext des Ortes, das Erleben und Verhalten der hier versammelten Menschen und die Gebrauchsmöglichkeiten der verfügbaren Objekte informieren. 2 Im zweiten Schritt können wir wahrnehmen, worauf die Raumelemente inhaltlich referieren und welchen Gebrauchszweck oder welche Nutzungsmöglichkeiten sie uns hierdurch eröffnen. 3 Im dritten Schritt können wir wahrnehmen, wie der Raum auf Rezipienten bzw. Besucher oder Nutzer wirkt, deren emotionale und kognitive Reaktionen beobachten, erfragen und verstehen. 4 Im vierten Schritt können wir wahrnehmen, welche Interpretationsmöglichkeiten sich aus der Auseinandersetzung mit dem Raum eröffnen, welche Strategien zur Verräumlichung von Wissen existieren oder angewendet wurden.

19_ Maguire, E.A., Woollett, K. / Spiers H.J.: London taxi drivers and bus drivers: a structural MRI and neuropsy-

chological analysis; PMID: 17024677, DOI: 10.1002/hipo.20233; Department of Imaging Neuroscience, Institute of Neurology, University College London.

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Raumstrategien – Atmosphärenforschung und Sprachforschung Für die Erforschung und Analyse unserer Raumwahrnehmung sowie der hieraus folgenden Raumstrategien zur Gestaltung des Kulturraums möchte ich zwei Wege skizzieren: 1 Mit der ‚intuitiven Analyse der phänomenologischen Struktur des Raums‘ lassen sich die sinnlich spürbaren Wirkungen von ‚Atmosphären‘ auf unser Erleben und Verhalten untersuchen. Die hieraus folgende Raumstrategie ‚Szenografie und Atmosphärenforschung‘ eignet sich für die Inszenierung atmosphärischer Räume, die Erzeugung emotionaler Stimmungen und spontaner Gefühlsreaktionen, die Erzählung fantasievoller Geschichten oder die Entwicklung künstlerischer Interventionen. 2 Mit der ‚diskursiven Analyse der sprachlichen Struktur des Raums‘ lassen sich die kognitiv erklärbaren Wirkungen von Zeichen auf unser Erleben und Verhalten untersuchen. Die hieraus folgende Raumstrategie ‚Raumsemiotik und Sprachforschung‘ eignet sich für diskursive Planungsverfahren, bei denen klar definierbare Zielvorgaben im Kontext konkreter Raumsituationen entwickelt, abgestimmt, definiert, erreicht und evaluiert werden müssen wie die Wahrnehmung von Botschaften, die Herstellung von Orientierung, die Schaffung von Gebrauchswerten, Handlungsoptionen und Erlebnisqualität oder die Steuerung von Nutzerverhalten.

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Raumstrategie Szenografie und Atmosphärenforschung

Atmosphären sind der Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Raumwahrnehmung, da sie unsere emotionale Stimmung im Erlebnis konkreter Raumereignisse widerspiegeln. Jede Veränderung unseres Körperzustandes wird von den emotionalen Zentren unseres Gehirns in Bruchteilen einer Sekunde unwillkürlich bewertet. Bis wir sehen, hören, tasten, schmecken oder riechen, worum es sich handelt, vergeht hingegen mehr als eine Sekunde, weshalb wir Räume immer in einer inneren Gestimmtheit wahrnehmen. Unsere emotionale Stimmung im Wahrnehmungsprozess spiegelt sich in der Atmosphäre der Raumsituation. Auf Grund unseres Einfühlungsvermögens wirken Räume auch dann noch auf den Menschen, wenn wir sie in Form von Bildern oder Filmen betrachten. Die Empathie nimmt mit der Immersion zu, weshalb uns Gemälde, Fotografien, Filme oder Rauminszenierungen oftmals mehr bewegen als unsere Lebenswirklichkeit. Ein Gradmesser für die ästhetische Wirkung der Immersion (Eintauchen) ist die Faszination, die wir im Wahrnehmungsprozess einer Raumsituation erleben. Stimmungen haben eine überlebenswichtige Funktion für den Menschen, da sie Reflexe, Triebe und Instinkte aktivieren und spontane Gefühlsreaktionen fördern: a durch Angstgefühle vor Gefahren warnen und Fluchtreflexe aktivieren b durch Appetit auf Nahrungsangebote hinweisen und Nahrungsaufnahme aktivieren c durch Lust auf Arterhaltungsangebote aufmerksam machen und Verführungsstrategien aktivieren d durch Aggressionen die Kampfbereitschaft stärken und Angriffsstrategien aktivieren e durch Motivation Handlungsmotivation steigern und Aktivitäten aktivieren f durch Müdigkeit Entspannung hervorrufen und Schlafbereitschaft aktivieren g durch Vertrauen Freundlichkeit hervorrufen und Partnersuche aktivieren h durch Schmerz Mitleid hervorrufen und Hilfeleistungen aktivieren

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In der Regel haben Menschen ihre emotionalen Reaktionen soweit unter Kontrolle, dass sie spontane Handlungsreflexe unterdrücken können, was bei unwillkürlichen Gefühlsreaktionen jedoch weit weniger gelingt. Die emotionalen Wirkungen einer Raumsituation lassen sich daher recht gut an der Gestik und Mimik von Menschen ablesen. Fragt man nach, können Menschen ihre Stimmung zudem oft recht präzise zum Ausdruck bringen. Durch die atmosphärischen Wirkungen von Raumsituationen auf unsere emotionale Stimmung ist es unmöglich, eine Raumsituation unvoreingenommen und wertneutral wahrzunehmen. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir uns in einem realen oder imaginierten Raum aufhalten. Worauf es ankommt, ist die suggestive Kraft der Bildwelten, Klangwelten, Geschichten oder Musik. Diese Erkenntnis nützt Architekten, Planern, Bauherrn, Investoren und anderen Planungsbeteiligten ganz konkret, wenn sie Wettbewerbsergebnisse verstehen und bewerten, Meinungsbildungsprozesse initiieren und moderieren oder Entscheidungen im Entwurfs- und Planungsprozess treffen und verantworten müssen. Die Atmosphäre eines Raumes prägt den ersten Eindruck, löst spontane Gefühlsreaktionen aus und beeinflusst das Werturteil, welches, von rationalen Argumenten gestärkt, nur schwerlich revidiert werden kann. Wir nehmen Raum mit allen Sinnen wahr, weshalb es für die Analyse der ästhetischen Wirkungen von Bedeutung ist, wie ein Raum aussieht, wie Farben und Licht erscheinen, wie er sich anfühlt, wie er klingt, riecht, schmeckt, sich verhält oder unsere Handlungen beeinflusst. Die Atmosphäre einer Raumsituation setzt sich aus allen sinnlich wahrnehmbaren Ereignissen zusammen. Unverständliche Geräusche, Töne, Klänge, Sprachfetzen, Musikfragmente, Gerüche, Farben, Licht, Reflexionen, Spiegelungen, Transparenzen, Bewegungen oder Berührungen werden in der Regel unbewusst verarbeitet. Wir nehmen sie nur dann wahr, wenn sie unsere Aufmerksamkeit erregen oder wir darauf achten. Auch wenn atmosphärische Merkmale fehlen, spüren wir die ungewohnte Leere sofort, da Räume plötzlich künstlich und befremdlich wirken. In der Filmproduktion werden Atmosphären daher mit großem Aufwand für jede einzelne Szene entworfen und produziert. Hierbei werden alle filmisch darstellbaren Ebenen der Raumwahrnehmung sorgfältig in Szene gesetzt bzw. inszeniert. In der Szenografie wird die Raumstrategie der atmosphärischen Inszenierung für die Gestaltung von Theateraufführungen, Ausstellungen, Messen oder Events eingesetzt. In der Szenografie werden Menschen, Objekte, Handlungen, Lichtstimmungen, Farbthemen, Sprache und Sound professionell entworfen und in Bezug auf die ästhetische Wirkung und inhaltliche Funktion des Ganzen in Szene gesetzt.

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Im Städtebau und in der Architektur der Gegenwart werden die atmosphärischen Wirkungen häufig vernachlässigt. Das ist problematisch, da jeder Gang, jede Fahrt oder jeder Flug über Landschaften und Siedlungsräume starke atmosphärische Wirkungen auf den Menschen ausübt, die seine emotionale Stimmung prägen und sein Verhalten beeinflussen. Die atmosphärische Qualität von Plätzen, Straßen und Gebäuden steigt, wenn sie für die Handlungen von Menschen perspektivisch, dynamisch, haptisch, klanglich in Szene gesetzt wird, was bei der Stadtgestaltung und Architektur der Vormoderne sehr häufig beobachtet werden kann. Zum Klangbild historischer Stadträume gehören Menschen, die sich dort aufhalten, sich begegnen, arbeiten, streiten, vergnügen und austauschen. In den Sichtachsen und an den Eckpunkten wurden häufig besonders wichtige Gebäude angeordnet und durch Formung, Materialität und Oberflächengestaltung herausgehoben. Das ermöglicht einfache Orientierung und bildet Identität. Besonders wichtige Plätze wurden häufig durch Wasserspiele und Brunnen aufgewertet, die zentrale Elemente für die Menschen sind, ganz gleich, ob sie sich dort aufhalten oder die dort versammelten Menschen in den Blick nehmen. Wir nehmen fließendes Wasser als Teil der Geräuschkulisse und haptisch spürbare Erfrischung wahr, auch wenn wir das kühle Nass nicht direkt am Körper spüren. Die Materialien historischer Plätze, Straßen und Wege wurden häufig aus dem Naturstein der Umgebung gefertigt, was regionale Identität vermittelt und zudem nachhaltig ist, da Naturmaterialien sehr langsam und in ‚Würde‘ altern. Dem gegenüber stehen heute häufig Infrastrukturen für den motorisierten Verkehr, dessen schmutzig graue übelriechende, vielfach geflickte Asphaltflächen weder Aufenthaltsqualität noch Identität erzeugen. Noch problematischer ist die Formung der Gebäude, die sich häufig vom lauten schmutzigen öffentlichen Verkehrsraum abwendet. Die im Raster angelegten schmucklosen ungegliederten Fassaden, die versteckten anonymen Eingangssituationen oder die von dicken Kunststoffrahmen gefassten kleinen Fensteröffnungen, die oft nur wenig Licht in winzige Innenräume lassen. Die visuelle Haptik historischer Fassaden wird oftmals von Putzflächen geprägt, die durch Texturen, mineralische Farbanstriche oder Ornamente und Wandmalereien gegliedert und personalisiert werden. Häuser, Quartiere, Städte erhalten hierdurch ihren Charakter und ihre Aufenthaltsqualität für den Menschen, ganz gleich, ob es sich um Bewohner oder Besucher handelt. Beim Spaziergang durch historische und moderne Quartiere lassen sich die unterschiedlichen Raumstrategien und ihre Konsequenzen für den Menschen empirisch beobachten und systematisch auswerten. Die ästhetische Attraktivität von Städten, Quartieren und einzelnen Immobilien ist heute ein wichtiger Standortfaktor für Unternehmen und Arbeitnehmer, der soziale, kulturelle und wirtschaftliche Konsequenzen für jedes Gemeinwesen hat. Wir sollten daher beginnen, die Raumstrategie der Szenografie auf den Städtebau und die Architektur unserer Zeit anzuwenden, zumal es einzelne gelun74

gene Beispiele bereits gibt. Eine Rückkehr zu tradierten Formensprachen wäre lediglich Zeichen mangelnden Willens, sich mit der Qualität menschlicher Raumwahrnehmung auseinanderzusetzen und die hieraus folgenden Raumstrategien anzuwenden. Bei der Raumstrategie Szenografie stehen die atmosphärischen Wirkungen aller wahrnehmbaren Raumsituationen auf die emotionale Stimmung und das Verhalten von Menschen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Menschen sollen in Situationen eintauchen und die präsentierten Inhalte sinnlich erleben. Durch die Kraft der Erlebnisse sollen sie motiviert und bewegt werden, etwas Bestimmtes zu tun und zu lernen. Die ästhetische Wirkung von Atmosphären kann den Wert von Ereignissen in Szene setzen wie Auftaktfeiern großer Sportveranstaltungen oder das Auftreten wichtiger Machtinhaber in weltlichem oder geistlichem Kontext wie die Papstpredigt zu Ostern, die Haddsch in Mekka, Militärparaden oder Gipfeltreffen. Die Inszenierung von Ausstellungen und Museen dient primär Bildungszwecken, während Messeauftritte von Unternehmen einen wirtschaftlichen Nutzen verfolgen. Alle Wahrnehmungen sind assoziativ miteinander vernetzt und werden im Augenblick des Erlebens aktiviert.20 Aus diesem Grund können Farben frisch wirken, Appetit anregen oder Übelkeit verursachen. Atmosphären wirken emotional, da sie unseren gesamten Körper auf das Raumerlebnis einstimmen, was sich auf Veränderungen des Hormonspiegels und Stoffwechselfunktionen wie Herzschlag, Atmung, Appetit und Motivation auswirkt. Die Atmosphäre eines Raums bestimmt die Intensität und Qualität unseres Erlebens.21 Licht, das durch ein Fenster auf einen gut ausgewählten Leseplatz fällt, kann von größerer Bedeutung für die Raumwahrnehmung sein, als die Größe des Zimmers oder die Höhe der Decke. In der Raumwahrnehmung verschmilzt, was außerhalb von uns existiert, mit dem, was wir in unserer Vorstellung oder durch unsere Handlungen daraus machen. Für den Menschen ist nichts einfach da, denn um etwas wahrnehmen zu können, es zu verstehen und zu begreifen, müssen wir uns die Bedeutungen und das Handlungspotenzial des Objekts oder Sachverhalts in zumeist aufwendigen wiederholten Explorationsvorgängen aneignen. Das führt uns zur diskursiven Analyse der sprachlichen Struktur des Raums.

20_ Buether: Bildung; 2010. 21_ Böhme, Gernot: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik; Berlin, 2013.

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Raumstrategie Raumsemiotik und Sprachforschung Die erfahrenen Wirkungen unserer Interaktionen mit der Umwelt spiegeln sich in der Bedeutungs- und Handlungsstruktur unserer Raumwahrnehmung. Wahrnehmungen werden von unserem Gehirn nicht einfach gespeichert, sondern in Bezug auf ihre Bedeutung und ihren Sinnzusammenhang mit unseren Vorerlebnissen archiviert. Vereinfacht lässt sich der Speicherungs- und Memorierungsprozess erklären, wenn wir uns eine Verschlagwortung der wahrgenommenen Objekte und Sachverhalte in Bezug auf ihre Eigenschaften denken, die wiederum assoziativ mit allen erfahrenen Verhaltenszuständen und Handlungsangeboten verknüpft sind. Wenn Licht mit der Wellenlängen von etwa 570 nm auf unsere Netzhaut fällt, werden durch das Ereignis spezifische Assoziationen im Gedächtnis aktiviert, die aussagen, dass es sich um ein reines leuchtendes Gelb handelt, das auf Grund seiner Helligkeit, Brillanz und Intensität und den Bezug zur Wahrnehmungssituation sofort als Sonne interpretiert wird. Dieser Anblick hebt unsere Stimmung, steigert unsere Motivation und regt uns zu körperlichen Aktivitäten im Außenraum an. Diese Effekte sind selbst dann noch spürbar, wenn es sich um eine gelbe Wandoder Objektfarbe handelt, die entsprechend hell ausgeleuchtet ist. Sie sind wahrnehmbar, wenn sonnig gelbes Scheinwerferlicht auf eine Bühne, ein Objekt oder ein Gesicht fällt. Über die Raumstrategie Sprachforschung werden diese Effekte erkennbar, wenn wir wie bei der Sprachanalyse vorgehen. Im ersten Schritt erfolgt die Semantische Analyse, dann die Syntaktische Analyse und zuletzt die Stilanalyse. Diese Analysemethode lässt sich gleichermaßen auf die Wortsprache wie auf Städtebau, Architektur und Innenarchitektur anwenden. Die Semantik und Syntax des Wahrnehmungsraums zeigt sich zudem an Bildung und Verlauf der wichtigsten Gehirnströme im visuellen Wahrnehmungsprozess.22

Was-Strom => Raumsemantik => Analyse Eigenschaften, Stimmung und Werturteil Der in den Neurowissenschaften als ‚Was-Strom‘ bezeichnete Informationsfluss vom visuellen Kortex zum ‚semantischen Gedächtnis‘ aktiviert die mit dem Ereignis assoziativ verknüpften Bedeutungen. Sobald ein Zeichen die gespeicherten Eigenschaften eines Objekts oder Sachverhalts wie Formen, Farben oder Geruchsmerkmale aktiviert, nehmen wir wahr, um was für ein Ereignis es sich handelt. Wir können daher eine Orange oder eine orangefarbene Wand nicht ansehen, ohne den süßsauren Geschmack und ätherischen Geruch der Frucht wahrzunehmen. Im semantischen Gedächtnis definieren wir 22_ Goldstein, E.Bruce (Hrsg. von Gegenfurtner, Karl R.): Wahrnehmungspsychologie: Der Grundkurs; Berlin, 2014. sowie Gegenfurtner, Karl R.: Gehirn und Wahrnehmung: Eine Einführung; Berlin, 2011.

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die Kategorie ‚Orange‘ durch die Beschreibung aller erfahrenen Eigenschaften, weshalb diese sofort präsent sind, wenn wir den Namen hören oder lesen, die Gestalt oder Farbe sehen, einen zitrusartigen Geruch oder süßsäuerlichen Geschmack spüren. Die Gestaltwahrnehmung hat eine wichtige Funktion bei Objekten, die wir ganz in den Blick nehmen können, während ihre Bedeutung für die Raumgestaltung überschätzt wird. Entwurfsskizzen, Planzeichnungen, Modelle, Fotografien und Visualisierungen vermitteln uns eine Ästhetik, die unter realen Umweltbedingungen nicht wahrnehmbar ist. Lassen wir uns hiervon täuschen, kann das fatale Konsequenzen für die ästhetische Qualität von Stadträumen, Gebäuden und Innenräumen haben. Die Formen von Gebäuden spielen nur dann die entscheidende Rolle für die Raumwahrnehmung, wenn wir sie als Ganzes in unser Blickfeld bekommen, was bei Solitärbauten wahrscheinlich, bei Wohn- und Geschäftsbauten in der Regel unmöglich ist. Unser Gesichtsfeld beträgt ca. 180° in der Horizontalen und 130° in der Vertikalen. Auf Grund der ungleichmäßigen Verteilung der Sehzellen in der Netzhaut, die sich im winzigen Areal der Fovea konzentrieren, können wir lediglich 2° davon bewusst, scharf konturiert und farbig wahrnehmen. Die Peripherie des Gesichtsfeldes ist auf Grund der geringen Dichte von Sehzellen nicht mehr bewusst wahrnehmbar. Durch permanente Augenbewegungen erreichen wir ein Blickfeld mit dem Radius von 45-60°. Wenn der Abstand zwischen Augpunkt und Blickpunkt nicht ausreicht, um die Raumform in den Blick zu nehmen, dann gewinnen andere Wahrnehmungsqualitäten an Bedeutung. Bei einem Stadtspaziergang in dicht bebauten Innenstadtquartieren können wir uns empirisch davon überzeugen, dass der Fokus unserer Wahrnehmung auf Raumsituationen wie Läden, Eingänge, Balkone oder Fenster begrenzt bleibt, während Gebäudeformen nur selten erfasst werden. Das gilt in der Regel auch für Innenraumsituationen, da wir selten weite Perspektiven erhalten. Durch die größere Nähe gewinnen andere Sinnesqualitäten wie Oberflächen-, Material-, Farb-, Lichtwirkungen oder Geräusche, Akustik und Gerüche an Bedeutung. Bei der Analyse der semantischen Elemente einer Raumsituation müssen wir nicht nur die Raumform oder die Objektformen der darin versammelten Objekte, sondern vielmehr noch alle wahrnehmbaren Eigenschaften beschreiben. Es reicht nicht aus, wenn wir die Position eines Fensters oder einer Leuchte angeben, sondern wir müssen uns mit den Eigenschaften des Lichts und dessen Wirkungen auf den Menschen in der konkreten Raumsituation auseinandersetzen. Diese Sorgfaltspflicht gilt für alle Raumelemente, weshalb die semantische Analyse einer Raumsituation umfangreich und zeitintensiv ist. Doch nur so lässt sich die Komplexität der sprachlichen Struktur eines Raums verstehen. In Projektseminaren wird dieser Grad der Objektbestimmung allenfalls exemplarisch eingefordert und ist in der Regel mit der Auswahl einiger Muster erledigt. In der architektonischen Praxis erfolgt die nähere Bestimmung der 77

Eigenschaften von Räumen und Objekten oft erst bei der Erstellung von Leistungsverzeichnissen. Das ist viel zu spät, da die meinungsbildende Entwurfsphase abgeschlossen, die Ausführungsplanung fertig, die Genehmigungen erteilt und die Kosten geschätzt sind. Ist die Bauphase zeitlich eng geplant, besteht in dieser Planungsphase kaum noch Handlungsspielraum. Problematisch kann es werden, wenn Leistungsverzeichnisse nicht vom oder mit den Entwurfsarchitekten, sondern von Spezialisten erstellt werden, die auf Bürostandards zurückgreifen oder Vorgaben von Investoren umsetzen. Die atmosphärische Qualität von Räumen zeigt sich besonders an den Eigenschaften der Details, die jedoch nicht für sich beurteilt werden dürfen, sondern auf die Wirkung der gesamten Wahrnehmungssituation bezogen werden müssen. In der Sprachanalyse werden Eigenschaftswörter als Adjektive bezeichnet. Adjektive entfalten eine herausragende Wirkung in der Sprachgestaltung, wenn sie gezielt und effektiv eingesetzt werden. Das trifft gleichermaßen auf die Raumgestaltung zu. Die systematische Untersuchung der semantischen Struktur von Raumsituationen sollte in Bezug auf unsere Sinneswahrnehmungen erfolgen, damit alle wesentlichen Effekte erfasst werden: Kriterien für die semantische Analyse von Raumsituationen: a Beschreibung der wesentlichen Farb- und Lichtwirkungen aller Details und des Gesamtraums b Beschreibung der wesentlichen Form-, Material- und Oberflächenwirkungen aller Details und des Gesamtraums c Beschreibung der wesentlichen Proportions- und Gleichgewichtswirkungen aller Details und des Gesamtraums d Beschreibung der wesentlichen dynamischen Wirkungen aller Details und des Gesamtraums e Beschreibung der wesentlichen Geruchs- und Geschmackswirkungen aller Details und des Gesamtraums f Beschreibung der wesentlichen akustische Wirkungen aller Details und des Gesamtraums

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Wie/Wo => Strom Raumsyntax => Analyse Sinn, Zweck und Nutzen Der in den Neurowissenschaften als ‚Wie/Wo-Strom‘ bezeichnete Informationsfluss vom visuellen Kortex zum prozeduralen Gedächtnis aktiviert die mit dem Ereignis assoziativ verknüpften Handlungszusammenhänge und Verhaltenszustände. Die Wirkungen von Räumen auf unser Erleben und Verhalten lassen sich nicht nur auf die Bestimmung der qualitativen Eigenschaften von Objekten und Sachverhalten zurückführen, sondern auch auf die Möglichkeiten und Konsequenzen ihres Gebrauchs. Wenn wir etwas über Sinn, Zweck, Funktion und Nutzen von Räumen aussagen wollen, müssen wir uns fragen, was wir darin tun, erfahren und lernen können. Dieser Analyseschritt folgt der Bestimmung des Verbs oder Prädikats im Satzbau und wird in der Sprachanalyse daher auch als Syntaktische Analyse bezeichnet. In der syntaktischen Analyse der Raumwirkungen wird die Satzaussage jedoch nicht durch logisches Denken, sondern durch Wahrnehmung ermittelt. Während die intuitive Analyse der phänomenologischen Struktur des Raums nach den Ursachen für emotionale Stimmungen und gefühlsbezogene Werturteile fragt, richtet sich die diskursive Analyse der sprachlichen Struktur des Raums auf den Sinn, Zweck und Nutzen.

Kriterien für die syntaktische Analyse von Raumsituationen: a Beschreibung der wesentlichen gestischen Wirkungen aller Details und des Gesamtraums – Zu welchem Zweck zeigt sich etwas? b Beschreibung der wesentlichen typologischen Wirkungen aller Details und des Gesamtraums – Wie zeigt sich etwas? c Beschreibung der wesentlichen topologischen Wirkungen aller Details und des Gesamtraums – Wo und wann zeigt sich etwas? d Beschreibung der wesentlichen perspektivischen Wirkungen aller Details und des Gesamtraums – Zu wem und zu was zeigt sich etwas?

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Die Entwicklung unserer Raumwahrnehmung folgt den evolutionären Prinzipien von Neugier, Spieltrieb und Handlungserfolg. Jede Handlungssituation lässt uns mehrere Möglichkeiten zur Interpretation und Problemlösung, weshalb wir uns bei vernunftgeleiteten Wahrnehmungsprozessen von der wahrscheinlichsten Aussicht auf Erfolg leiten lassen. Bei instinktgeleiteten Wahrnehmungsprozessen folgen wir hingegen angeborenen Trieben, was bei der Analyse und Gestaltung von Räumen, aber auch bei der Bewertung von Raumkonzepten zu beachten ist. Die attraktive Frau, der erfolgreiche Geschäftsmann oder vergnügt spielende Kinder im Rendering eines Wettbewerbsbeitrages oder auf dem Titel eines Hausprospekts erzielen häufig positive Wirkungen, da sie symbolisch auf beabsichtigte Verhaltenszustände hinweisen. Faktisch lenken sie uns vom tatsächlichen Sinn, Zweck und Nutzen dargestellter Raumsituationen ab, wenn wir uns mit dem ersten Eindruck zufrieden geben. Den Gebrauchswert und Nutzen von Räumen können wir nur dann präzise analysieren und nachhaltig gestalten, wenn wir die Gebrauchseigenschaften und Handlungspotenziale in den Blick nehmen.

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Von Ästen zu Stöcken

Bernd Rudolf Architekturwahrnehmung entwerfen Architektur in Gegebenes oder Gemachtes zu unterscheiden – oder in Gegebenes und Zumachendes – repräsentiert gegenläufige Wahrnehmungen ein und desselben Gegenstandes. Für Architekturstudierende ist dieser Perspektivwechsel auf ihrem Weg zum Beruf besonders relevant. Im Rahmen der Ringvorlesung Architektur WAHRnehmen an der Fakultät Architektur und Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar kam dem vorliegenden Beitrag die Rolle zu, das Phänomen der Wahrnehmung an Hand der ersten Schritte des Entwerfens im Architekturstudium zu thematisieren. Er bezieht sich auf das didaktische Programm der Architekturwahrnehmung, der Architekturaneignung und des Architekturentwurfes entlang einer Folge von archetypischen Mustern, die einen Weg zur Architektur für die Erstsemester des Architekturstudiums an der Bauhaus-Universität Weimar skizzieren.

Das Kernmodul des ersten Semesters im Architekturstudiengang an der Bauhaus-Universität ist durch eine Folge aufeinander aufbauender Gestaltungsübungen geprägt, die komplexe Phänomene jeweils schrittweise auf elementare Sachverhalte reduzieren, um schließlich darin abstrahierte Muster wieder in einem analogen Bildraum anzureichern und zu kontextualisieren. In umgekehrter Richtung zu vergleichbaren Programmen einer systematischen Gestaltungslehre (beispielweise Wassily Kandinskys: Punkt-Linie-Fläche) führt der Weg von der Fläche über die Linie zum Punkt: von der Landschaft über den Weg zum Raum, um den Raum schließlich wieder als Ort im Kontext der Landschaft zu adressieren. Die Landschaft und ihre Grenzen, der Weg und seine Rhythmen, das Tor und die in ihm eingeschriebenen Proportionen, der Raum und die ihn konstituierenden Medien und schließlich der Ort in seiner Korrelation mit der Landschaft dienen als Analyse- und Entwurfsgegenstände. Phänomenologisches Denken, die Fähigkeit zur Abstraktion und Analogiebildung, zwei- und dreidimensionale Techniken der Präsentation dienen der Anreicherung eines architekturrelevanten Bild- und Begriffsraumes.

Abb. 1/2 – Dialogbilder: Unser Blick verwandelt den gegebenen in einen gemachten Wald, von einem zu beobachtenden Naturphänomen in eine kulturelle Ressource.

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Die Korrelation von Bild und Begriff stellt den Spracherwerb architektonischer Vokabeln und einer Syntax ihres Gebrauches im Kontext der übrigen Wahrnehmungsformate von Architektur in den Fokus der Betrachtung. Neben seiner pädagogischen Ausrichtung auf die Anreicherung eines Bildgedächtnisses für das Entwerfen enthält das Programm vielfältige Querbezüge zu allgemeinen Aspekten unserer Wahrnehmung von Architekturen. Die einführende Vorlesung Von Ästen zu Stöcken spürt unter Zuhilfenahme des phänomenologischen Denkens des Medienphilosophen Vilém Flusser der Frage nach, welche Wahrnehmungsmuster dem Entwurfsprozess von Architektur zu Grunde liegen, diesem innewohnen oder auf diesen projiiziert werden. Flussers essayistische Skizze von der latenten Idee des Stockes im Ast1 soll beispielhaft in die Kette von weiteren phänomenologischen Archetypen, Ideen, Ur- oder Leitbildern einführen, die durch unseren Gebrauch von Architekturen generiert werden und unbewusst die nachfolgenden Wahrnehmungen steuern. Entwerfende Architekten suchen nach einer Systematisierbarkeit dieser Erfahrungen, um sich im Kontext von unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven vom Landschaftsraum bis zum Detail im Innenraum zu orientieren. Phänomenologische Akttypen2 und Archetypen3 sollen hier auszugsweise diskutiert werden.

Wahrnehmung wahrnehmen In seinem Essay Stöcke schildert Vilém Flusser einen Waldspaziergang in vier möglichen menschlichen Arten: „in Gedanken versunken, [...] den Wald betrachtend, [...] den Wald genießend und schließlich [deutlich utilitärer – A.d.V.] [...] den Heimweg suchend.“4 Das menschliche Gehen ist dabei vor allem dadurch charakterisiert, dass es als Automatismus nicht unsere permanente Aufmerksamkeit benötigt und uns erlaubt, einen Gedankenraum mit anderem zu füllen. Im Folgenden beschreibt Flusser das Umschlagen dieser vier möglichen Arten im Wald zu spazieren in die Suche nach einem Ast, der als Stock für den Heimweg dienen könnte. Daraufhin ändert sich der 1_ Flusser, Vilém: Stöcke. in: Flusser, Vilém: Dinge und Undinge, Phänomenologische Skizzen; München und Wien, 1993; S. 63–79. (im Folgenden zit. als Flusser: Stöcke; 1993). 2_ Vergl. Zahavi, Dan: Husserl und Die Transzendentale Intersubjektivität: Eine Antwort auf die sprachpragmati-

sche Kritik; Boston und London, 1996; S. 24. 3_ Vergl. Jung, Carl Gustav: Studien über den Archetypus; in: Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke; Band 9/1; Zürich, 1954; S. 1–86. (im Folgenden zit. als Jung: Archetypus; 1954). Jung bezeichnet mit Archetypen in der Tiefenpsychologie psychische Strukturdominanten im kollektiven Unbewussten, unanschaulich, unbewusst, aber in symbolischen Bildern erfahrbar. Entsprechend seiner Definition universeller Urbilder, unabhängig von ihrer jeweiligen Kulturgeschichte, soll hier für das Programm einer basalen Architekturlehre eine erweiterbare Folge von typologischen und Wahrnehmungs- und Gebrauchsmustern eingeführt werden, die Vorstellungen, Motive und Nutzungserfahrungen auf prägnante Artefakte in Relation zur menschlichen Gestalt zurückführen. 4_ Flusser: Stöcke; 1993; S. 63.

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Waldspaziergang radikal, weil sich unsere Wahrnehmung des Waldes radikal ändert. Unabhängig davon, dass das Umschlagen von einem in Gedanken versunkenen Gehen am deutlichsten wahrgenommen wird, wandelt sich in allen Fällen der Wald für uns augenblicklich: von der romantischen, inspirierenden, erhabenen Situation, in eine Ressource von Objekten, von einem natürlichen, in einen Kulturraum.

Entwerfen wahrnehmen Unter der Voraussetzung menschlichen Gehens, in Abweichung vom tierischen Gehen, überhaupt gedankenversunken gehen zu können, findet die Suche nach Objekten statt, deren latente Gestalt ich zuvor für mein weiteres Fortschreiten als hilfreich erkannt habe und deren kulturellen Wert ich auf den natürlichen Gegenstand projiziere. Das Entdecken (Wiederentdecken) einer latent ruhenden oder voraus nur vage bestimmten Gestalt innerhalb eines komplexen Kontextes wird zu einem ersten definierten gestalterischer Akt: die Idee vom Stock im Ast. Ich projiziere Gestalten auf die Welt, ich entwerfe Gestalten, ich gestalte Gegenstände zum Beispiel Stöcke im Kontext des Spazierens im Wald, Wege und Tore im Kontext der Landschaft, architektonische Räume im Gebäude, Gebäude im urbanen Raum, Fahrzeuge im Rahmen der Mobilität usw.

Wahrnehmen entwerfen Das Ent-decken, Ent-wenden, Ent-werfen des Stockes verändert ein Stück des Waldes in ein Wald-Gegen-Stück. Der Stock kann verwendet werden, um weitere Äste abzuschlagen. Oder er unterstützt und verbildlicht das Voranschreiten (als Artefakt des Fortschrittes), „ohne Gelenke, ohne Blut ist er allerdings ein idiotisches Bein, stockblöd“5, aber bestens in der Lage zu schreiten. Am Stock lerne ich wie man geht – ich lerne zu schreiten. Plötzlich bewege ich meine Beine, als seien es Stöcke. „Ich habe mein Bein im Stock simuliert, jetzt simuliere ich den Stock als Modell meines Beines. Das ist die Sprungfeder der menschlichen Geschichte.“6 Häufig bleiben die Stöcke dann am Waldrand zurück, säumen den Weg oder stehen im Weg, werden zum Hindernis für Nachfolgende. „Gegenstand ist was im Weg steht, lat.: objectum, griech.: problema.“7

5_ Flusser, Vilém: Kommunikologie weiter denken. Die Bochumer Vorlesungen; Fischer e-books, 2010; S. 83. (im Folgenden zit. als Flusser: Kommunikologie; 2010). 6_ Flusser: Kommunikologie; 2010; S. 83–86. 7_ Flusser, Vilém: Design: Hindernis zum Abräumen von Hindernissen; in: Vom Stand der Dinge, eine kleine

Philosophie des Designs; Göttingen, 1993; S. 40.

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Wenn ich den Stock durch Auto, Computer oder Haus ersetze, ist der Prozess des Entdeckens, Entwendens und Entwerfens vielleicht etwas langwieriger, das Zurückschlagen meiner Entwürfe auf mich ist gleichermaßen intensiv. „Objekte und Apparate schlagen auf uns zurück (Feedback) und machen uns zu Bedienern oder Funktionären.“8 Am drastischsten an unserer quasinatürlichen Bedingtheit vom elektrischen Strom oder vom Smart-Phon nachvollziehbar. Stock und Smart-Phon sind ursprünglich Prothesen, durch ihr Feedback auf uns werden sie zu Epithesen. Je weiter wir fortschreiten, desto gegenständlicher und problematischer wird der Weg für uns und nachfolgende Generationen. Sie sind nicht mehr nur von Natur bedingt, sondern zunehmend von Kultur 8_ Flusser: Kommunikologie; 2010; S. 83–86.

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und menschlichen Zeugnissen. Einige davon sind notwendig, viele hinderlich, wieder andere werden umgewidmet und weiter genutzt, recycelt, wenige werden zu Denkmalen erklärt und erklären uns fortan die Geschichte, zum Beispiel die des Stockes oder komplexerer Artefakte wie die der Architektur. Wenn wir also die kleine Geschichte des Stockes zu Ende deklinieren, müssen wir uns eingestehen, dass wir in ihm nicht nur metaphorisch Architektur wahrnehmen, sondern durch ihn, respektive durch Architektur wahrnehmen, d. h. unsere Wahrnehmung wird wesentlich durch die (Epithese) Architektur selbst bedingt. Die Architektur definiert so zugleich unsere Wahrnehmung von ihr über ihren Gebrauch und die Wahrnehmung dieses Gebrauches. Im Entwerfen einer gebrauchsmotivierten Wahrnehmung von Architekturen wird die Kette der Subjekt-Objekt-Beziehung um eine weitere Ebene angereichert – die der Ansprache durch

Abb. 3/4: Menschgemachte Kulturlandschaft der Toskana, nahe Volterra

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Architektur oder deren Angebotscharakter, der Affordanz9 von Architektur. Die Welt ist, was der Fall ist, sagt der Architekt/Philosoph Ludwig Wittgenstein lakonisch in seinem Tractatus – die Welt besteht nicht aus Sachen (von Subjekten erzeugten Objekten), sondern aus Sachverhalten (Subjekt-Objekt-Beziehungen), objektiven Feedbacks auf die Subjekte.10

Bilder und Begriffe wahrnehmen „Schläft ein Lied in allen Dingen Die da träumen fort und fort Und die Welt hebt an zu singen Triffst du nur das Zauberwort.“11 Zugegeben, eine eher romantische, romantisierenden Sicht auf die Welt, die sich in dem Vierzeiler Wünschelrute des Romantikers Joseph von Eichendorf vermittelt. Die Zeilen könnten aber über ihre philosophische Tiefe und zeitgeschichtlichen literarischen Wert hinaus auch als Metapher für das Verhältnis zwischen Tun und Reflexion, zwischen Abstraktion und Assoziation, zwischen Erkennen und Benennen dienen. Bild und Wort als Korrelate, das Bild durch das Wort anschaulich beschrieben und verfügbar gemacht, das treffende Wort ruft im Idealfall ein adäquates Bild in uns wach. Anspruch der sprachlichen Abstraktion zur Beschreibung von Bildern, Ideen, Gedanken oder Dingen. Was beschreibbar ist, ist vorstellbar, was vorstellbar ist, ist realisierbar – es entstehen zwei alternative Wirklichkeiten oder zwei parallele Welten der Wirklichkeit. Die analoge, magische Welt der Bilder wird von der abstrakten Welt der Sprache entzaubert, entmystifiziert, ein wesentlicher Schritt auf dem Weg des Gestaltenlernens. Mythos und Logos, die Magie der Bilder und die Ordnung der Theorie bedingen einander, um aus der uns umgebenden Bilderflut einen strukturierten Bildraum zu erzeugen und ein handhabbares Bildgedächtnis zu generieren.12

9_ Vergl. Jenkins, H. S.: Gibson’s ‚Affordances‘: Evolution of a Pivotal Concept; Journal of Scientific Psychology, 12/2008; S. 34–45. 10_ Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung; Frankfurt am Main, 2003. 11_ von Eichendorf, Joseph: Wünschelrute; in: Eichendorfs Werke in einem Band; Berlin und Weimar, 1980; S. 120. 12_ Aby Warburg (1866–1929) hat als einer der Protagonisten der Ikonologie mit seiner ikonologischen Analyse entscheidend zur Einführung der heute gebräuchlichen Terminologie des Denkraumes und des Bildgedächtnisses beigetragen. Sein thematisch gegliederter Bildatlas Mnemosyne blieb unvollendet, inspiriert aber bis heute mit seiner assoziativen Kraft die Kunstwissenschaft und zunehmend auch andere bildprägenden Fächerkulturen. Erwin Panowsky (1892–1968) entwickelte im Folgenden ein Dreistufenschema, das Semantik, Syntax und Pragmatik (präikonografische Analyse, ikonografische Analyse und ikonografische Interpretation) umfasst.

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Historisches und magisches Bewusstsein13 streiten miteinander um Wahrnehmungs- und Deutungshoheit oder aber sie ergänzen sich vorteilhaft in einem Denk-Raum, in dem Rezeption, Antizipation und Reflexion ausbalanciert sind. Für den ‚Bildner‘ ist heute die Welt eine Serie von Szenen, für den ‚Texter‘ eine Serie von Prozessen. Für das von Bildern strukturierte Bewusstsein ist die Wirklichkeit ein Sachverhalt: Die Frage ist, wie sich Dinge zueinander verhalten und das ist magisches Bewusstsein. Für das von Texten strukturierte Bewusstsein ist Wirklichkeit ein Werden: Die Frage ist, wie die Dinge sich ereignen und das ist historisches Bewusstsein. Mit der Notation durch Text, mit der Erfindung der Schrift entsteht Geschichte.14 Flusser bemüht für die Herleitung dieses Gedankens die Erfindung der Schrift als die alles beherrschende menschliche Geste – das Fädeln: „die ersten Zahlenreihen entstanden aus direkter Linie eingeritzter Dinge bedeutender Symbole, wie die ersten Texte aus direkter Linie der das Wort einer Sache bedeutenden Symbole entstanden sind [...].“15

Architektur wahrnehmen Geschichte ist laut dieser These die Selbstwahrnehmung dank historischen Bewusstseins, entstanden erst durch die Geste des Schreibens mittels Alphabet; Geschichte schließt nachfolgende Generationen an ihre kulturellen Wurzeln an. Architekturgeschichte ist ein Feld der Wahrnehmung überkommener Muster, verdichteter Typologien und identitätsgeladener Orte. Historiologische Architekturwahrnehmung muss im Zuge eines anzulegenden Entwurfs relevanten Bildrepertoires durch eine phänomenologische Wahrnehmung von unmittelbaren Erfahrungen ergänzt und mit dieser in Einklang gebracht werden: zum Beispiel mit einer Erfahrung von Weite und Grenzen in der Landschaft, der Synchronisation von inneren und äußeren Taktgebern im Rhythmus eines Weges, der Selbstähnlichkeit des Adressaten in der Symmetrie eines Tores, der Proportion des Weg-Raumes oder des Ort-Raumes in der Architektur, den Atmosphären architektonischer Räume, der Orte als Identitätsträger, usw. – immer in Relation zu den darin eingeschriebenen Mustern und Typologien.

13_ Flusser, Vilém: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien; Bensheim und Düsseldorf, 1993; S. 66 ff. (im Folgenden zit. als Flusser: Lob; 1993). 14_ Ebenda; S. 66. 15_ Ebenda; S. 63.

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Abb. 5/6: Natürliche Erosion und menschliches Handwerk verschmelzen im Kanon der Selbstähnlichkeit: Göreme, Kappadokien

Die Geschichte der Zivilisation ist (laut Flusser) von der Dialektik BildWort gekennzeichnet. Die Imagination als die Fähigkeit, Bilder zu entziffern/zu entwerfen und die Konzeption als die Fähigkeit, Texte zu entziffern/zu schreiben durchdringen sich zunehmend. Die Konzeption wird immer imaginativer und die Imagination immer konzeptueller. Imagination und Konzeption brauchen einander als Korrektive. Welche Probleme diese Dialektik u.a. bereithält, wird deutlich, wenn man Bilder oder Begriffe auf ihre Bedeutungswandlung befragt. Der Begriff der Idee als Schlüsselbegriff des Entwerfens von Gestalten und ewiges Grundmuster der dinglichen Welt bei den alten Griechen konvertiert zusehens zum Muster der Überwindung und zur experimentellen (dialogischen) Infragestellung von Grundmustern und ewigen Motiven. Das fortschreitende, fortschrittliche Experimentieren (in Frage stellen) von Bestehendem ist heutigen Generationen von Studierenden einigermaßen vertraut, sie sind damit aufgewachsen, es ist das universelle Handlungsschema der alle Lebensbereiche prägenden Moderne. Architekturwahrnehmung setzt wörtlich genommen in dieser linearen Kausalität zunächst das Vorhandensein von Architektur voraus – und unterstellt, die Architektur sei schon immer anwesend und nicht das Resultat unserer experimentellen Auseinandersetzung mit der Umwelt, in der wir uns temporär einrichten und die dann wiederum unsere Wahrnehmung wesentlich prägt. Die Geschichte der Architektur (und ihrer Wahrnehmung) kann gelesen werden als die ununterbrochene Fortschreibung eines Transformationsprozesses raumbildender Interventionen. Die auf diesem Weg erzeugten typologischen Muster und Gestalten konservieren wesentliche Erfahrungen und stiften dabei anschlussfähige kulturelle Identitäten. Das gegenläufige Muster der Verweigerung von Erbfolgen in der Epoche der Moderne offenbart darin auch einen latenten Natur-Kultur-Konflikt. 92

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Abb. 7/8: Ein durch Erosion erzeugter natürlicher Wegraum der Siq: Weg zur Hauptstadt der Nabatäer, Petra, 4. Jh v. Chr., zum sogenannten Schatzhaus, Jordanien

Flusser setzt sich mit Heideggers ontologischer Analyse auseinander und kann zunächst mit dieser konstatieren: „Zeug ist etwas, was den Menschen bezeuge, statt ihn zu bedingen“ – Zeug (Kultur) dient zur Überwindung der Bedingungen (Natur).16 Definiert man Natur als denjenigen Teil der Umwelt, die den Menschen bedingt im Unterschied zur Kultur, die der Mensch selbst determiniert, dann steht man vor der Tatsache, dass die Natur mittlerweile aus Dingen besteht, die eigentlich Kultur genannt werden müssten. Definiert man Natur als das Gegebene im Unterschied zur Kultur, die das Gemachte repräsentiert, wird man Geschichte als den Prozess verstehen müssen, der Gegebenes in Gemachtes verwandelt („Dinge in Zeug“) und feststellen, dass das, was der einen Generation Kultur, der nächsten bereits wieder Natur bedeutet. Zeug (Fahrzeug) legt nicht mehr nur Zeugnis ab, sondern bedingt die Nachfolgenden mit quasinatürlichen Gesetzen (z. B. die Fahrprüfung). Wir sind heute mehr von Kultur als durch Natur behindert.17

16_ Flusser, Vilém: Nachgeschichten. Essays, Vorträge, Glossen; Düsseldorf, 1990; S. 140. (im Folgenden zit. als Flusser: Nachgeschichten; 1990). 17_ Ebenda; S. 140.

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Abb. 9/10: Der Siq: Vorbild für den UAE-Pavillon auf der EXPO in Mailand 2015 von Forster und Partner

Zudem können wir heute Gegebenes von Gemachtem, Natur von Kultur immer seltener unterscheiden. Aufgrund des Fortschreitens dieses Prozesses hat eine Umkehrung im kausalen Sinn stattgefunden. War früher die Kultur der Gegenentwurf zur Natur und eine Befreiung des Menschen vom Zufallsspiel der Natur, so ist heute die Idee der Natur der Gegenentwurf zur Kultur, eine Befreiung des Menschen von den selbst geschaffenen Zwängen. Neben künstlich erzeugten Naturen gewinnt die Technik beispielsweise mehr und mehr biologische Züge. Doch da Natur nicht mehr etwas Gegebenes ist, sondern etwas Gemachtes, wird die Natur zur Utopie: in aktuellen Beispielen urbanen Gärtnerns, in resilienten Strukturen informeller Siedlungen sowie paradoxer Weise auch in den phantastischen Bildwelten dystopischer Science-Fiction-Filme.

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Abb. 11/12: Kreuzfahrtschiffe in der Lagune von Venedig 2010, Beispiel für Heterotopie und Dystopie menschlicher Zeugnisse der Moderne gleichzeitig

Einen Weg zur Architektur wahrnehmen/entwerfen Das Konzept des Studienprogramms Weg zur Architektur hinterfragt den Wahrnehmungs- und Entwurfsprozess in einer Folge von archetypischen Phänomenen und setzt dabei im Zeitalter einer durch digitale Omnipräsenz dominierten Bilderflut bewußt auf das nahezu vergessene und kaum noch vertraute Handlungsschema beschaulichen Schauens oder besonnenen, vergleichenden Betrachtens, vom Handlungsmuster (Akttypen) über verschiedene Abstraktionstufen zum Archetypus und dem darin aufgehobenen verallgemeinerbaren Modell. Modell in diesem Selbstverständnis ist an die Balance von Abstraktion und Analogie zu knüpfen. Modelle entstehen als prägnanter Ausdruck eines analogen (referenziellen) Sachverhaltes unter schrittweiser Abstraktion von den unter diesem Fokus irrelevanten Parametern. Gestalten meint abstrahierendes, ordnendes Formieren. Vielleicht genauso unterbewusst wie bei der Auswahl eines Astes als Stock bedient es sich dabei elementarer Gestaltgesetze, die im Bereich der Wahrnehmung die Bedingungen benennen, unter denen Objekte oder Ereignisräume von Menschen als einprägsame Gestalt als Ganzheit erlebt und benannt werden können: dem Gesetz der Nähe, der Ähnlichkeit, der guten Fortsetzung, der Geschlossenheit, des gemeinsamen Schicksals, der Immersion, der Emergenz, der 96

Abb. 13/14: Elbphilharmonie Hamburg, Herzog & de Meuron 2007-2016. 100 Jahre nach dem Untergang der Titanic nach der Kollision mit einem Eisberg siegt dessen Gestalt im Hamburger Hafen über die lange gültige Schiffsmetapher der Moderne.

Konvergenz, usw. Das Entdecken und Erkennen, das Entwerfen und Darstellen von Gestalten tritt in einen gegenseitigen Bedingungsraum. In Analogie zu Carl Gustav Jung, der Archetypen in der Tiefenpsychologie als psychische Strukturdominanten im kollektiven Unbewussten bezeichnet18 – unanschaulich, unbewusst, aber in symbolischen Bildern erfahrbar, skizziert der Weg zur Architektur eine aufeinander bezogene Schrittfolge identifizierbarer Wahrnehmungsmuster und archetypischer Gestalten. Konsequenterweise führt der erste Schritt dieser phänomenologischen Folge in die Landschaft.

18_ Jung: Archetypus; 1954. Band 9/2, § 13.

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Landschaften wahrnehmen/entwerfen Als Begriff und Metapher, als universelle Projektionsfolie menschlicher Handlungsmuster, als sedimentierte Folge von Interventionen und Störungen, als Abbild selbstähnlicher Strukturen wird die Landschaft zum Synonym für einen latenten Kultur-Natur-Gegensatz im heute erkennbaren, durch menschliche Eingriffe dominierten Erdzeitalter, dem Anthropozän. Der Kulturhistoriker Max Julius Friedländer äußert sich zum Landschaftsbegriff in der knappen Formel : „Land sei das Ding – Landschaft seine Erscheinung.“19 Der Landschaftsbegriff ist bereits selbst ein 19_ Friedländer, Max Julius: Die Landschaft. in: Essays über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen; Den Haag, 1947; S. 9–188.

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kulturell geformtes Konstrukt, in das die Auffassungen und Werte eines Betrachters einfließen, eingeleitet durch die schrittweise Entfremdung des Menschen von der Natur. Diese Entfremdung wird nun u.a. ästhetisch aufgehoben in der Zuwendung zur Natur als Landschaft im Landschaftsbild. Das Genre Landschaft wendet sich bewusst gegen andere akademische Formate und sucht das Glück in der Freiluftmalerei, wie beispielsweise auch durch Protagonisten der Weimarer Malerschule bereits vor 150 Jahren prominent vertreten. Unser zeitbezogenes Landschaftsbild wird künstlerisch empfindbar aufbereitet in der Landschaftsmalerei, kategorisiert in sinnbildhafte, phantastische, ideale, heroische, romantische Landschaften, bis zur erhabenen Landschaft, die das Erlebnis einer den Menschen überwältigenden Naturerfahrung thematisiert und das Sublime, das Unsichtbare, das Diaphane bildhaft beschreibt. Welches Landschaftsbild und welcher

Abb. 15/16: Stadtlandschaft als fraktales Gefüge: Jodpur, Die blaue Stadt, Rajasthan, Nord-Indien

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Landschaftsbegriff existiert abseits der beschwörenden Erhabenheit malerischen Idylls, zum Beispiel im Kontext der Architektur? Gernot Böhme führt zur Beschreibung der Subjekt-Objekt-Beziehungen in dieser Wahrnehmungsfrage den Atmosphärenbegriff ein. Sein phänomenologisch-aisthetisches Verständnis von Atmosphären als leibliches Spüren von synchronen Handlungsmustern in Bewegungsräumen erweitert unsere gefühlmäßige Reflexion von Naturverhältnissen in einer gemeinsamen Wirklichkeit von Wahrnehmenden und Wahrgenommenen. Die Imagination und Konzeption von Landschaft findet in ihrer Wechselwirkung eine Schnittmenge in der Atmosphäre. Eine Verortung zwischen Subjekt und Objekt lässt die Frage nach einer eindeutigen Zuordnung zu den Dingen oder den Subjekten offen. Gesellschaftlich determinierte Naturverhältnisse wie die in Kultur- oder Industrielandschaften machen das Dilemma deutlich, dem man sich wie Böhme mit dem Argument eines Zwischenphänomens entziehen kann. So sei die Atmosphäre eine selbstständige Seinsweise sowie gemeinsame Wirklichkeit, die Subjekt und Objekt verbindet.20

Abb. 17/18: Die Natur als Utopie: UK-Pavillon, EXPO Shanghai von Heatherwick Studio 2010 Abb. 19/20: UK-Pavillon, EXPO Mailand von Wolfgang Buttress und Tristan

Ray und Charles Eames entwickeln in ihrem Film The Powers Of Ten21 ein quasi-wissenschaftliches Landschaftsbild in einer Folge maßstabsübergreifender Selbstähnlichkeit. Unabhängig vom leichten Pathos seiner Kommentare einer Reise durch sechsundzwanzig 10er-Potenzen erfasst er Landschaft in ihrer Doppelnatur, als Gesetzmäßigkeit und Erscheinung gleichermaßen, abseits einer beschwörenden Erhabenheit malerischen Idylls. Im Sinne fraktaler Selbstähnlichkeit der Natur als Grundprinzip und zugleich Wesenszug strukturaler Kopplungen über alle Potenzen und Maßstäbe hinweg beobachten wir konsistente Gestalten mit definierten Codes. Das rasante ‚Zooming‘ führt, ausgehend von einer Picknickszene, bis an die Grenze des heute bekannten Universum und zurück in den Kern eines Kohlenstoffatoms in der menschlichen Epidermiszelle. Die Bilder offenbaren uns das Wesen des Strukturalen: Oberfläche und innerer Aufbau sind konform; der Endlosigkeit in der Erscheinung entspricht die Selbstähnlichkeit einer inneren Gefügestruktur.

Simmonds 2015 Abb. 21/22: Quasinatürlicher Raum im Kanadischen Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig: Hylozoic von Philip Beesly 2010

Die Grenzen innerhalb einer vermeintlich grenzenlosen Landschaft sind dabei immer interpretiert – menschgemacht, definiert durch die Projektion menschlicher Bezugssysteme. Landschaft als Archetyp des Strukturalen, des unendlich Fortsetzbaren wirft zugleich die Frage nach der Störung im System auf, nach der Grenze, über die hinweg oder an der entlang das System der Landschaft erst beobachtbar wird, die Frage nach dem vermeintlichen Ende von Landschaft.

20_ Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik; Frankfurt am Main, 1995; S. 21–48. 21_ Eames, Ray und Charles: zehn hoch – Dimensionen zwischen Quarks und Galaxien; Original: The Powers of

Ten; Heidelberg, 1977, 1992; Videokassette.

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Abb. 23: Landschaft als Phänomen selbstähnlicher generischer Codes mit Horizont: Lagune von Venedig, Blick von Guidecca Abb. 24/25: Reflexionen in der Lagune von Venedig

Das natürliche Ende einer visuell wahrnehmbaren Landschaft in einer menschlichen Perspektive ist der Horizont. Die eigentlichen Grenzen sind zudem immer verknüpft mit einem Wandel der Gestalttypologie. Auch darin sind Natur- und Kulturlandschaften kaum noch voneinander zu unterscheiden, zum einen, weil Natur immer häufiger etwas Gemachtes ist und zum anderen, weil beide offenbar eine Verwandtschaft in ihren generischen Codes zu erkennen geben, wenn man sie unter dem Landschaftsbegriff beobachtet. Die natürliche Landschaft wandelt sich schrittweise zur Kulturlandschaft, in der dann wiederum auch Naturutopien, zum Beispiel in Form botanischer Gärten oder im urban gardening, repräsentativ aufgehoben sind. Für das Bildgedächtnis des entwerfenden Architekten stellt sich die Frage nach der Relevanz landschaftlicher Phänomene im Unterschied zu deren rein künstlerischer Inspirationsquelle oder als Gegenstand für wissenschaftliche Forschungen, um darin ähnliche und über-

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greifende Wahrnehmungsmuster differenzierter Maßstabsebenen zu erkennen und zu benennen. Hier ist zunächst wieder die Magie der Bilder gefragt, deren Anreicherung ähnlicher Motive die begriffliche Systematik mit einer zugegebenermaßen relativen Unschärfe eines analogen Bildvorrates ergänzen soll. Landschaft ist ein für den Wahrnehmungs- und Entwurfsprozess als Bild und Begriff entwurfsrelevanter Archetypus – Projektionsfolie und Inspirationsquelle zugleich. Landschaft ist sowohl Natur als auch Kultur. Landschaft ist sowohl Kontext als auch Gestaltbild für Architekturen. Landschaft wird durch die Koordinaten menschlicher Wahrnehmung definiert und wirkt auf diese zurück. Landschaft ist einer der größten denkbaren Flusserschen Stöcke und in diesem Sinne Gegenstand des Entdeckens und Entwerfens.

Am Beispiel von Grenzen, Wegen, Steigungen, Brücken und Toren: Zeit wahrnehmen und entwerfen

Die weiteren Entwurfsschritte des Programms führen in der Folge metaphorisch und typologisch auf dem Weg zur Architektur durch die Landschaft der Wahrnehmung über ausgewählte Situationen und Artefakte – entlang einer Grenze zum Tor, das als Schwelle den Raum erschließt. Schrittmaß und Takt stehen synonym für vielschichtige Zeitaspekte in der Architektur, werden in Notationen und Kompositionen aufgehoben. An den Archetypen Weg und Tor sind neben den zentralen Kategorien Rhythmus und Symmetrie weitere Gestaltmuster wie Steigung, Häufung, Dynamisierung, Überleitung, Harmonisierung in einer logischen Folge zu diskutieren. Exkurse zur Harmonik, zu Proportionen, zur Symmetrie und zum Phänomen der Zeit ergänzen das notwendige Hintergrundwissen zu theoretischen Reflexionen des intuitiven Entwerfens. Während die Landschaft noch weitestgehend maßstabsübergreifend und zeitenthoben definiert werden konnte, kommt mit dem Rhythmus des Weges die Zeit ins Spiel. Eine inspirierende Schlüsselrolle kann den gestaltprägenden Zeitmodellen (nach Schmitz und Flusser)22 unterstellt werden. Der Ursprung menschlicher Zeiterfahrung liegt primär in der Erfahrung von Wandlungen und Brüchen, die aus einer Kontinuität heraus reißen und das Verlorene gleichsam als unwiederbringlich ins Vergangene stellen.

22_ Schmitz, Herrmann: Leib und Zeit; in: Schmitz, Herrmann: Leib; in: Grundthemen Philosophie, Hrsg. von Birnbacher, Dieter / Stekeler-Weithofer, Pirmin / Tetens, Holm; Berlin und Boston, 2011; S. 132. (im Folgenden zit. als Schmitz: Leib; 2011). und Flusser, Vilém: Drei Zeiten; in: Für eine Nachgeschichte, eine korrigierte Geschichts-

schreibung; Bensheim und Düsseldorf, 1993; S. 291–295. (im Folgenden zit. als: Flusser: Zeiten; 1993).

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Abbildungen vorherige Seiten: Abb. 26/27: Landschaft und ihre Grenze entlang von Wandlungen und Brüchen: Copacabana, Rio de Janeiro Abb. 28/29: Urbane Landschaft und ihre Brüche: Stadtorganismus von Paris mit anthropomorphen Attributen Abb. 30/31: Landschaft als Utopie: Hormonium im Schweizer-Pavillon auf der Architekturbiennale Venedig: Physiologische Architektur von Decosterd und Rahm, 2002, zitiert die Bedingungen der Alpenlandschaft in 5.000 Höhenmetern.

Hermann Schmitz formuliert noch drastischer: Zeiterfahrung sei im Ursprung eine leibliche Erfahrung des „Schreckens, ein deutlicher Riss im Kontinuum“ des Lebens.23 Flusser konstatiert drei konkurrierende, sich zunehmend überlagernde Zeitmodelle: Rad / Fluss / Sandhaufen. Im Gegensatz zur allgemeinen Aussage, die Zeit nur mit Abfolge, Dauer oder Geschwindigkeit gleichsetzt, stellt er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen unmittelbaren Zusammenhang über seine Interpretation von Zeiterfahrung: „Einst war die Zeit ein Rad: Tag folgte auf Nacht und Nacht auf Tag, Winter auf Sommer und Sommer auf Winter, Tod auf Geburt und Wiedergeburt dem Tode. Vor etwa 3.000 Jahren begann sich die Zeit in einen Strom zu verwandeln: Alles floß, nichts wiederholte sich, und jede verpaßte Gelegenheit war definitiv verloren. Gegenwärtig beginnt der Strom zu Sandhaufen zu werden: Die meisten Sandkörner zerrinnen immer gleichförmiger, aber zufällig bilden sich im Haufen unwahrscheinliche Klumpen. Das Rad haben wir im Bauch und ersehen es aus Uhren. Vom Strom haben wir im Geschichtsunterricht gelernt. Vom Sandhaufen erzählen uns die Wissenschaftler, wir wissen aber nichts damit anzufangen, schade denn er ist der Spielplatz der Künste. Kunst ist das absichtliche Herstellen unwahrscheinlicher Klumpen im zerrinnenden Haufen. Die Zeit ist nicht mehr läufig, sie ist alt geworden und tritt in den Ruhestand – als Gleichzeitigkeit, als Sandhaufen [...]“.24 In der Geologie, Biologie und Meteorologie werden rhythmische und zyklische Prozesse der Zeit signifikant. Die Historiker denken vorwiegend in Kategorien linear gerichteter Zeit, während die Kommunikationswissenschaft die Zeit als stehend ansieht. Der Komplexitätsgrad von Architektur gebietet alle Zeitmodelle gleichberechtigt zu denken.

Abb. 32/33: Landschaft als Metapher für architektonische Strukturen in unterschiedlichen Fakturen und Texturen: Fassade aus recycelten Baumaterialien auf der EXPO-Shanghai,

Die Übungsfolge zu Weg und Rhythmus sucht innerhalb der bereits generierten Landschaftsmodelle nach der Synchronisation von Schrittmaß und Richtung, der Balance zwischen inneren und äußeren Taktgebern und hält diese zunächst in grafischen Notationen fest. Eine dreidimensionale Interpretation fasst die Untersuchungen zusammen und bietet ihrerseits einen weiteren Gegenstand zur Ausdeutung der zeitlich ausdifferenzierten Zwischenräume.

Best Praxis Area 2010

Ein Stegreifentwurf zum Archetypus Tor schließt unmittelbar an die in den Modellen der Landschaft und des Weges vergegenständlichten Zeiterfahrungen an und entwickelt daraus eine Torgestalt innerhalb eines definierten Grenzraumes.

23_ Schmitz: Leib; 2011; S. 132. 24_ Flusser: Zeiten; 1993; S. 291–295.

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Aus der Torgestalt werden die in ihr aufgehobenen Maßbeziehungen in Relation zu menschlichen Parametern der Wahrnehmung und des Gebrauchs explizit. Das Tor als Interface, als Schlüssel oder Werkzeug zum Gebrauch des Nachfolgenden ist nicht nur irgendwie anthropomorph, sondern wirklich menschgemacht, schließt funktionale, ergonomische, physiologische und psychologische Determinationen der menschlichen Gestalt ein, ist Projektion menschlicher Erfahrungen und menschlicher Proportionen, folglich auch mit menschlichen Gestaltmerkmalen ausgestattet. Die Suche nach dem Ebenmaß menschlicher Proportionen wird zunehmend überlagert von unterschiedlichen Maßbeziehungen in Erwartung und Gebrauch.

Abb. 34/35: Plakatwand und ikonographische Putzfaktur durch einen Autisten im ehemaligen psychiatrischen Krankenhaus von Volterra Abb. 36/37: Abriss- und Plakatwand in Lille, Frankreich

Abbildungen diese Seite: Abb. 38/39: Siedlungsstruktur als Anhäufung privater Räume: Göreme, Kappadokien, ca. 4. Jh., selbstähnliches Gestaltbild bei gegensätzlichem Inhalt: räumliches Diagramm der Tagespendler einer Großstadt, Beispiel Berlin, Ausstellung Architekturbiennale Venedig 2006

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Ortraum mit konzentrischer Konstruktion und ornamentaler Wirkung: Abb. 40/41: Kleiner Sportpalast für die Olympischen Spiele 1960 in Rom, Architekt: Pier Luigi Nervi; Regenschirm, Thailand Abb. 42/43:

Pantheon, Rom, 128 n. Chr.; Palast der Alhambra in Granada, Stalaktitengewölbe in der Sala de los

Der Mensch der Renaissance als postuliertes Maß aller Dinge hatte es noch vermeintlich einfach: „[...] was maßlos groß war mußte angebetet oder vergöttert werden, was maßlos klein war, konnte vernachlässigt werden. Was heute in Megatonnen und Millisekunden explodiert, kann weder vernachlässigt noch angebetet werden“ – wir müssen uns um neue menschbezogene Maßstäbe bemühen.25 „Das 18.Jht sah im menschlichen Körper eine Maschine, das 19. sah in ihm ein vitales Gefüge von Organen, wir neigen dazu, ihn als aus spezifischen Spielregeln entstandenes und sich nach ihnen richtendes System anzusehen. Er ist aus Regeln wie denen der Genetik entstanden und richtet sich nach Regeln wie denen der Permutation komplexer Polymere, oder dem Stoffwechsel mit seiner Umwelt.“26 Metaphorisch und phänomenologisch ist das Tor auch in medialen Kontexten verankert, dennoch und gerade deshalb ist es per se ein beispielhafter architektonischer Resonanzraum. In ihm überlagern sich unterschiedliche Szenarien und Einschreibungen. Und der Komplexitätsgrad einer Torsituation steigt mit der Anzahl implementierter, funktional ausdifferenzierter und adressierbarer Zwischen- und Schwellenräume.

Abencerrajes, 14. Jh. Abb. 44/45: Ortraum mit vorgetäuschter Kuppel:

Sant’Ignazio di Loyola in Campo Marzio, Ausmah-

Der dritte Schritt der aktuellen Folge von Stegreifen im Semesterprogramm widmet sich der Folge von Räumen eines Dazwischen mit differenzierter Funktionalität. Die Vorlesung zum Raum hinterfragt die Raumkonzepte der klassischen Moderne auf ihre historischen Referenzmuster und mögliche Extrapolationen in unsere multimediale Welt.

lung von Andrea Pozzo, bis 1685

Räume wahrnehmen/entwerfen Im Raumbegriff und -bild als zentraler Kategorie in einer komplexen Umwelt sind alle Muster der menschlichen Orientierung und Wahrnehmung angelegt. Der Maßstab und die Proportion werden zu Schlüsselfragen funktionaler, sozialer, ökologischer, ökonomischer und konstruktiver Parameter in ihrer gegenseitigen Einflussnahme.

Die Übungen ermitteln Raumparameter aus der Konstellation von begrenzenden Flächen ohne vordergründige Verwendung konventioneller bautechnischer Standardelemente. Wand und Öffnung definieren die lesbaren funktionalen Qualitäten.

25_ Flusser: Nachgeschichten; 1990; S. 40. 26_ Ebenda; S. 120.

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Abbildungen

Orte wahrnehmen/entwerfen

vorherige Seiten: Abb. 46/47: Ortraum Atrium mit Glaskuppel der

Galeries Lafayette, Paris

Der Ortsbegriff in der Architektur gehört zu den am umfassendsten diskutierten und für Identität und Kontextualisierung am häufigsten bemühten Leitbildern. Im Rahmen des Programmes soll der Ort den bisher angereicherten Archetypen eine gemeinsame Adresse geben und diese im Rahmen eines Gartens verorten.

Wegraum Passage, Brüssel Abb. 48: Wegräume schneiden sich in einem achteckigen

Ein komplexer Entwurf zum Garten bringt den Ortsbegriff der Architektur in den Fokus unserer Betrachtung und widmet sich nach Landschaft und Grenze, Weg und Rhythmus, Tor und Übergang, Fläche und Raum einem weiteren Archetypus, dem Topos, dem Ort und der Utopie, dem Noch-Nicht-Ort.

Ortraum: Galleria Vittorio Emanuele II, Mailand Abb. 49/50: Wegräume

Er fasst die bisherigen Übungsschritte des Weges zur Architektur in einer übergreifenden thematischen Gestaltung zusammen: dem Garten als Ort in der Landschaft und als Gegenentwurf zum jeweils Angetroffenen. Die Aufgabe besteht in einer thematischen Anwendung und Ausdeutung der Archetypen, in der Idee vom Garten.

Schlachthof, heute Kulturzentrum Shanghai 1933/2009 und

MAXXI Museum Rom, Architektin: Zaha Hadid, 2009 Abb. 51/52:

„[...] von einer Wüstenkultur aus gesehen ist der Garten Oase, von einer Waldkultur aus ist er Lichtung, von einer Steppenkultur aus ist er Hain, von einer Fluß- und Sumpfkultur aus ist er Entwässerung, von einer Gebirgskultur aus ist er saftig. Der Garten ist überall Resultat des Versuchs, die Natur zu einer idealen Umwelt für den Menschen umzugestalten und widerspricht überall der gegebenen Umwelt auf spezifische Weise [...] ein Paradies auf Erden“.27

Diaphaner Raum, Auflösung der Raumgrenzen durch Ornamente: Fassadenfragmente in Jaisalmer, Rajasthan, Nordindien

Abb. 53/54: Ephemerer Raum: Nebellampe Arsenale, Biennale Venedig 2010, Transsolar und Tetsuro Kondo Abb. 55/56: Fassettierter Raum, Auflösung der Raumgrenzen durch grafische Geometrien: Cafe Biennale Venedig, Architekt: Tobias Rehberger, 2009

27_ Flusser, Vilém: Gärten in: Dinge und Undinge, Phänomenologische Skizzen; München und Wien, 1993.

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Abb. 57–60: Garten als Gegenentwurf zum Angetroffenen: Gärten der Alhambra, seit dem 14. Jahrhundert und aktuelle Stadtgärten in Granada

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Das Phänomen des Ortes soll dabei in zwei Stufen oder ineinander geschachtelten hierarchischen Strukturebenen ergründet werden: dem Garten als umgewidmetem Stück Landschaft und dem darin eingeschriebenen Pavillon des Gärtners. Dem Gärtner kommt die Rolle des Protagonisten zu, seine Intentionen, seine Leidenschaft soll in den Interventionen zum angetroffenen Ort signifikant werden. Orte aufspüren, erkennen, benennen, beschreiben, wachrufen, d. h. sich ihnen in verschiedenen Ebenen nähern, charakteristische Parameter aufnehmen, spüren, ggf. aufmessen oder mit repräsentativen Elementen oder durch Ereignisse (Erlebnisse) beschreiben, Fundstücke entnehmen, Referenzen definieren.

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Später folgt das Erinnern und Abstrahieren wichtiger Parameter in einem Arbeitsmodell und schließlich die Rückkopplung mit dem Ursprung in geeigneter graphischer (fotographischer) Form. Die gestalterischen Kategorien Landschaft, Weg, Tor und Raum werden unter dem Begriff des Ortes subsummiert. Der Ort wird zur zentralen Metapher für die bewusste Suche nach benennbaren Qualitäten, sowohl in der Annäherung an den Garten, als auch für den Aufenthalt dort. Das in elementaren Experimenten trainierte Instrumentarium kompositorischer und darstellerischer Fähigkeiten fügt sich zu einem geschlossenen Entwurf mit artikulierter Handschrift. Abb. 61/62: Reflexion der Wahrnehmung von Selbstähnlichkeiten am Canale

Grande, Venedig.

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Selbstwahrnehmung Nach der metaphorisch geprägten Flusserschen Begriffskultur nehme ich zum Abschluss Anleihe bei einer von Sloterdijk geborgten Analogie, der Metapher des Spracherwerbs (mit welcher dieser übrigens die Annäherung an das komplexe Design der Luhmannschen Systemtheorie zu beschreiben suchte): „Es sei eine Trivialität, dass nicht zwei Kinder in einer gegebenen Population beim Spracherwerb mit genau denselben Satzvorkommnissen konfrontiert sind, weil jede natürliche Sprache von ihren Benutzern unvorhersehbar variantenreich und ideolektalisch gefärbt gesprochen wird, zudem nicht selten auch fehlerhaft. Und doch abstrahieren fast alle Kinder aus den verschiedensten Kollektionen von Mustersätzen mehr oder weniger präzise die Grammatik ihrer Muttersprache – so dass sie zumindest in ihrer Schicht oder in ihrem sozialen Milieu eines Tages als linguistisch Erwachsene aufeinander zugehen können.“28 Weiter im Duktus Sloterdijks: Ganz ähnlich steht es um die Dinge im Architekturstudium, wo man auf Grundlage nicht identischer Rezeptions- und Entwurfsmengen irgendwann (im Idealfall vor dem Abschluss) zu einer Architekturgrammatik findet, auf deren Basis man sich mit anderen Touristen im Land der Architektur (Studierende) und den vermeintlich Eingeborenen (Professoren) doch halbwegs konsonant verständigen kann und schließlich zum Kollegen wird. Übrigens ein rasanter Wandel in wenigen Jahren, der bei jedem Abschlussjahrgang aufs Neue verblüfft. Architektonisches Sprechen zu erlernen (d. h. Architektursprache aus den angebotenen Bildern und Begriffen zu rekonstruieren) ist die eine Sache, Architektur als Kommunikationsform, als visuelle Sprache zu gebrauchen, als Sprache des Raumes zu konzipieren, eine andere. Ich möchte nur vorsichtig hinweisen auf mögliche Differenzen einer Kommunikation zwischen Gleichgesinnten und Partnern – wie im Schutzraum der Universität – und derjenigen gegenüber Dritten (Bürgern, Bauherrn und Behörden) im öffentlichen Raum realer Architekturen und der darin geltenden quasinatürlichen Gesetze der jeweils anderen Seite. Den Inhalt einer Botschaft bestimmt immer noch der Adressat. Kostbare rhetorische Redefiguren treffen zuweilen auf die Gebrauchsprosa pragmatischer Entscheider. Doppelte Kontingenz liegt jeder menschlichen Kommunikation zu Grunde. Wir erlauben uns dennoch, unsere Studierenden auf dem Weg des architektonischen Spracherwerbs zu begleiten, um Begriffsund Bildräume zu synchronisieren und ein belastbares gestalterisches Rückgrat für den Architekturentwurf anzulegen. 28_ Sloterdijk, Peter: Von der Erbsünde, dem Egoismus der Systeme und den neuen Ironien; in: Sloterdijk, Peter:

Nicht gerettet: Versuche über Heidegger; Berlin, 2001; S. 84.

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Unser mit Flusser im Wald begonnener Spaziergang durch die Ideengeschichte ausgewählter Artefakte und Stationen auf dem Weg zur Architektur findet seine Fortsetzung für die Studierenden auf unterschiedlichen Pfaden und mündet in ausdifferenzierten Bildungsbiographien. Das angelegte Repertoire von Archetypen dient dabei als Keimzelle für das Andocken weiterer Phänomene und unterstützt eine systematische Anreicherung des Bild- und Begriffsapparates. Der Erfahrungsraum erweitert sich idealerweise dank einer reflektierten Selbstwahrnehmung in diesem Prozess und generiert so ein stabiles Immunsystem gegenüber der immer lauernden Gefahr gedankenloser Nachahmungen oder beziehungsloser Eitelkeit. Auf dieser Basis sind auch die aktuellen Tendenzen einer immer medialer geprägten Umwelt Gegenstand der kritischen Reflexion, um der Diskreditierung der analogen Bilder durch eine massenhafte Flut technischer Bilder und deren Allgegenwart Paroli zu bieten. Die alle Lebenswelten durchdringende Medialisierung setzt das Experiment der Moderne mit einem hohen Beschleunigungsfaktor fort und verweigert sich zunächst der anschlussfähigen Erbfolge von Erfahrungen, ganz in der Tradition der historischen Avantgarde. Die numerische Kodifizierung erzeugt neue, technische Bilder wie die randlosen Landschaften, die nicht kausalen und nicht linearen Wege, die fließenden architektonischen Räume, die mediale Tiefe der Oberflächen, die ephemeren Orte usw., die in Relation zu einem analog konfigurierten Bildgedächtnis wahrgenommen und hinterfragt werden müssen.

Abb. 63: Auflösung des visuellen Raumes durch Videomapping:

Genius-Loci-Festival, Deutsches Nationaltheater, Weimar 2014

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Die Selbstwahrnehmung in diesem Prozess führt zur Ausgangsthese zurück und fragt zum wiederholten Male nach der Unterscheidbarkeit von Gegebenem und Zumachendem. Die Wahrnehmung von Architekturen, welche sich in ihrer Prozesshaftigkeit zunehmend einer Dingwelt entziehen, wird weitestgehend durch eine zwischen Objekt und Subjekt immer wieder auszuhandelnde Resonanz in einer Atmosphäre gegenläufiger Abhängigkeiten bestimmt. In der unmittelbaren Wahrnehmung werden diese häufig gegenläufigen Argumente intuitiv synchronisiert und harmonisiert. Phänomenologisches Denken weitet den physiologischen Wahrnehmungsraum systematisch und schließt so auch mediale Rezeptionen architektonischer Räume ein. Dass unsere Wahrnehmung zunehmend vom Gebrauch medialer Werkzeuge dominiert wird, bringt den Flusserschen Stock zurück in die Geschichte. Die Medien unserer Wahrnehmung definieren schließlich auch die zu qualifizierenden Werkzeuge des Entwerfens – nicht selten zu Gunsten einer erweiterten Realität: Wir entdecken Wälder und (ent)werfen Stöcke einer nächsten Generation.

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Förderer der Schönheit

Axel Seyler Erster Teil: Einführung in die Gestaltpsychologie Zuerst müssen meine Erklärungen ein bisschen trocken und abstraktwissenschaftlich ausfallen, aber ich verspreche, dass dies nur kurz bei den Erläuterungen des Grundprinzips der Gestaltpsychologie so sein wird. Da steht am Beginn ein wissenschaftlicher Begriffs-Schock: Was ist die so genannte ‚Übersummativität‘? Als die drei bedeutendsten wissenschaftlichen Wegbereiter der Gestaltpsychologie, Wertheimer, Koffka und Köhler, allgemein als ‚Triumvirat der Gestaltpsychologie‘ bezeichnet, vor den Nazis aus Berlin geflohen waren und in den USA die Grundlagen dieser neuen Art der Psychologie verbreiten wollten, kam ihnen von Seiten der amerikanischen Psychologie-Professoren nur vehemente Ablehnung entgegen. Besonders die ‚Übersummativität‘ sei eine ‚deutsche Verrücktheit‘. Oder wie Carrol C. Pratt es formuliert: „Die amerikanischen Psychologen [...] hörten nicht auf sie als den Inbegriff der Absurdität anzugreifen.“1 Mittlerweile hat sich diese Grundauffassung aber seit etwa 90 Jahren vollends durchgesetzt: in der Biologie, in der Philosophie, in deren neuem Zweig mit den morphologischen Feldern, ja sogar in der Physik, hier sogar sehr frühzeitig seit etwa 100 Jahren, und auch in der Kunst- und Musikwissenschaft. Tatsächlich hatte in diesem zuletzt genannten Bereich das Ganze angefangen, nicht im Visuellen. Dem Philosophen Christian von Ehrenfels stieß 1890 folgendes Phänomen auf: Man kann eine Melodie transponieren, sie der Höhe nach verschieben. Dabei kann es eventuell so sein, dass kein einziger der Melodie-Töne erhalten geblieben ist – und dennoch ist die Melodie erhalten geblieben!

1_ Pratt,Carrol C. (1894–1979) zitiert nach Köhler, Wolfgang: Die Aufgabe der Gestaltpsychologie; Berlin, New York, 1971; S. 7. (im Folgenden zit. als Köhler: Gestaltpsychologie; 1971).

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Dabei meinen wir doch sicher, die Melodie bestünde aus den Tönen! Aber diese haben nach der Transponierung eine andere Schwingungszahl, die Melodie jedoch wird mit ihren völlig anderen, eben nicht aus ihren Bestandteilen abzuleitenden Qualitäten, wie gewohnt wahrgenommen. Nach von Ehrenfels wird nun die Melodie unseres Beispiels als ‚Gestalt‘ bezeichnet, ein Ausdruck, der sich eingebürgert hat, obwohl er eigentlich wegen dauernder Missverständnisse etwas unglücklich ist. Die ‚Extra‘- Qualitäten dieser ‚Gestalt‘ nennt man ‚Ehrenfelsqualitäten‘. Mittlerweile hört man es überall: Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile! Man sieht eben einen Baum zunächst als ‚Baum‘ und nicht als eine Anhäufung von Ästen und Blättern. Die Gestaltpsychologie mit dieser ‚Übersummativität‘ löste die bisherige Elementenpsychologie oder Assoziationspsychologie völlig ab. Nicht einmal 20 Jahre später schrieb unabhängig von von Ehrenfels der Physiker Max Planck, dem wir unser heute noch gültiges Weltbild der Quantentheorie verdanken, als er den Begriff eines irreversiblen Prozesses im 2. Hauptsatz der Thermodynamik behandelte: „Wir betrachten jeden verwickelten Prozess als zusammengesetzt aus einfachen Elementarprozessen [...], indem wir uns das Ganze als Summe der Teile denken. Diese Methode hat aber zur Voraussetzung, daß durch diese Teilung der Charakter des Ganzen nicht verändert wird. Zerlegen wir nämlich einen irreversiblen Prozess in seine Elementarbestandteile, so schwindet die Unordnung und mit ihr die Irreversibilität uns sozusagen unter den Händen fort; ein irreversibler Prozess muss also jedem unverständlich bleiben, der von dem Grundsatz ausgeht, daß alle Eigenschaften des Ganzen auch in den Teilen nachweisbar sein müssen.“ Und Planck fügt folgenden außerordentlichen Satz hinzu: „Mir scheint, als ob eine ähnliche Schwierigkeit bei den meisten Problemen des geistigen Lebens vorliegt.“2 – Planck will also sagen, dass ein Prozess irreversibel ist, weil ja auch die von den Teilen gesondert existierende ‚Gestalt‘ durch den Prozess verändert wurde. Der große Biologe und Verhaltensforscher Konrad Lorenz schreibt sogar: „Die Gestaltwahrnehmung steht also an der vordersten Front der menschlichen Erkenntnis. Sie ist die Speerspitze, die der menschliche Geist ins Unbekannte vorstößt.“3 Mit diesem Aspekt aus der Philosophie will ich diese Disziplin nun verlassen und lieber ‚handgreiflich‘ werden. Die Wahrnehmungspsychologie hat nun, stets mit diesem ‚Gestalt‘-Prinzip im Hinterkopf, in Jahrzehnte langer Arbeit etliche visuelle Phänomene entdeckt, analysiert, zusammengefasst und viele Gesetze des Sehens herausgebracht – für alle kreativen Menschen, vor allem in angewandten

2_ Max Planck (1858–1947) zitiert nach Köhler: Gestaltpsychologie; 1971; S. 46. 3_ Lorenz, Konrad: Der Abbau des Menschlichen; München und Zürich, 1983.

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Künsten. Dabei ist es für einen kritischen Geist folgerichtig, dass sich der offizielle Kunstmarkt konträr, ja, manchmal sogar richtig feindselig zur Gestaltpsychologie verhält, besonders in den 70er bis 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Der Hauptgrund liegt darin, dass der staatlich geförderte offizielle Kunstmarkt, wie wir ihn von den Medien und den Museen her kennen, behauptet und von dieser Behauptung überhaupt lebt, es gebe keinerlei Kriterien für die bildenden Künste – dass aber die Gestaltpsychologie etliche feste Kriterien bereit hält. Und deswegen kann man diese Publikation Architektur wahrnehmen gar nicht genug als mutig herausstellen! So kann man drei Grundmerkmale der visuellen Wahrnehmung zusammenfassen: 1 dass sie ganzheitlich abläuft, d. h. also in ‚Gestalten‘, 2 dass sie selektiv abläuft, also immer wertend, 3 dass sie semantisch abläuft. Das dritte Merkmal meint, dass für den Wahrnehmenden eine gewisse Bedeutungsentzifferung gleich zur Wahrnehmung gehört. Es ist ein Extrakapitel und soll hier ausgeklammert werden. Das erste Merkmal ist schon besprochen worden. Aber das zweite Wahrnehmungsmerkmal, das der selektiven Aufmerksamkeit, birgt für uns die große Möglichkeit, sehr viele Seh-Gesetze zu entwickeln und daraus Übungen abzuleiten. Das wichtigste – und schon recht bekannte – Gesetz ist das heute so genannte ‚Gesetz von der einfachsten Gestalt‘. Es hieß bis in die 1960er Jahre hinein ‚Gesetz von der guten Gestalt‘, wurde dann aber von Jürgen Weber und mir umgetauft, als wir die gewiss unabsichtliche Wertung in dem Namen entdeckten. Leider zeigt sich heute noch ein Großteil der Fachliteratur sowie das als schnell gerühmte Internet hier als sehr rückständig. Dort ist immer noch von einer ‚guten‘ Gestalt die Rede.



Sieht dieser Fußbodenentwurf (Abbildung 1) – übrigens: von Michelangelo! – nicht gewölbt aus? Warum?

Abb. 1: Fußboden (Michelangelo)

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Abb. 2a: Sechseckmuster Abb. 2b: dasselbe, mit Trapezen und Dreiecken Abb. 2c: dasselbe, mit Trapezen, Dreiecken und einem Parallelogramm

Oder, um dieses Seh-Gesetz an folgendem abgegriffenen Beispiel besonders klar zu verdeutlichen: Dieses Gebilde sehen die meisten uneingeweihten Menschen als flächiges Sechseckmuster an (Abbildung 2a). Etwas anders wird es und führt zu einem Seh-Springen, wenn man die Zeichnung zusammensetzt aus vier Dreiecken und zwei Trapezen (Abbildung 2b). Dabei könnte man schon die erste Zeichnung als Würfel ansehen. Wenn man sie schließlich zusammen baut aus vier Trapezen, zwei Dreiecken und einem Parallelogramm, wird das Ganze so kompliziert und unklar, dass der Betrachter gezwungen wird, einen Würfel wahrzunehmen (Abbildung 2c). So etwas wird zur Erbauung seit vielen Jahrzehnten als so genannte ‚Optische Täuschung‘ verbreitet. Sehr oft aber wird dabei der Fehler gemacht, den Griff des menschlichen Auges zum Körper als wesentlich hinzustellen. Es geht aber nicht um die Dimensionen, sondern um die Einfachheit! Denn nur, wenn eine wirkliche Einfachheit damit gewonnen wird, greift die Wahrnehmung in eine andere Dimension. Als Gegenbeispiel mögen die beiden eingewölbten Rechtecke oder Rollen dienen (= eventuell sogar dreidimensional!), die aber aneinander gereiht ein einfaches Flächenmuster aus Kreisen und Quadraten ergeben, so dass man beim Betrachten die ‚Rollen‘ glatt vergisst (Abbildung 3). Nicht wahr? Wir sollten also dieses zweite Grund-Gesetz der Gestaltpsychologie so formulieren: Das Sehen ist bestrebt, sich selbst die notwendige Klarheit zu schaffen. Es tendiert bei einer Unklarheit zum ‚aktiven‘ Bilden von ‚einfachen Gestalten‘, wenn nötig in einer anderen Dimension. Das Wort ‚aktiv‘ sei hierbei hervor gehoben; es soll gleich noch behandelt werden. Ich habe in meinem Buch Wahrnehmen und Falschnehmen4 versucht, fast alle Phänomene des Sehens auf ihren biogenetischen Urgrund zurückzuführen. So will ich es auch bei diesem Gesetz von der einfachsten Gestalt tun: Die Natur hat diese Wahrnehmungstendenz im Menschen wohl deshalb so angelegt, weil er sonst geradezu umkommen würde in der unendlichen, verwirrenden Fülle des Sichtbaren.

4_ Seyler, Axel: Wahrnehmen und Falschnehmen. Praxis der Gestaltpsychologie; Frankfurt am Main, 2003.

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Abb. 3a: zwei Rollen (oder eingewölbte Rechtecke) Abb. 3b: flächiges Muster aus Quadraten und Kreisen

Insofern bildet sie eine Ergänzung zu dem genannten ersten Grundsatz der Gestalt-Wahrnehmung mit ihrer ‚Übersummativität‘ und ist sogar unserer gesamten Sinneswahrnehmung unterlegt! Sie tritt hier nur besonders deutlich an das wahrnehmungspsychologische Tageslicht. Der Biologe Adolf Portmann schreibt zu dem Gesetz von der einfachsten Gestalt: „Unser Auge sucht Gestalt. Das Organ des Sehens will das Chaos überwinden und Formen erzeugen.“5 Ja, sogar in der Welt der unbelebten Natur scheint dieses oder ein ganz ähnliches Prinzip zu herrschen. So schreibt Köhler, einer aus dem genannten ‚Triumvirat der Gestaltpsychologie‘: „Wenn bei physikalischen Systemen oder der menschlichen Wahrnehmung die geeigneten Bedingungen gegeben sind und genügend Zeit gelassen wird, so verändern sie sich in Richtung auf größere Einfachheit oder Regelmäßigkeit hin.“6 Für mich rätselhaft und sehr nachdenklich stimmend! Und warum ist der Begriff der Aktivität so wichtig? Nicht nur ‚wichtig‘ – sie ist geradezu ein Zauberwort und steht leider in unseren Jahren dem Drang zum Bequemen entgegen. In seinen tiefsten Tiefen steckt die Aktivität in jedem Lebewesen. Die Aktivität ist ein Grundzug jeder Wahrnehmung als einem Teil des Lebendigen und gehört fest zu jeder anderen Intelligenzbetätigung. Und so begleitet sie jede Wahrnehmung mit einem oft kaum spürbaren, nachhaltigen Wohlbefinden dabei. Das Lesen zum Beispiel erfordert vom Gehirn eine sehr große Aktivität. Man bedenke: aus den geringsten Informationen für das Sehen, nämlich nur 44 Buchstaben und 2 Farben, die noch dazu unbunt sind, die zum Lesen notwendigen Bilder selbst herzustellen – bis auf die seltenen Bereiche völliger Abstraktion wie Philosophie oder Mathematik! Welch eine aktive Leistung! Und welch ein Training für das eigene ‚Wohlbefinden‘!

5_ Portmann, Adolf: An den Grenzen des Wissens, Frankfurt am Main, 1976; S. 92. 6_ Köhler: Gestaltpsychologie; 1971; S. 72.

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Die Überfülle an Bildern heute macht dieses Training leider überflüssig und den hoch komplizierten ‚Aktivitätsapparat‘ im Menschen zum großen Teil arbeitslos. Aber Vorsicht! Diese Gehirn-Aktivität ist tatsächlich gefährlich! Gefährlich für die eigene Dummheit... Die vielen bewegten Bilder sind für unser Konzentrationsvermögen besonders schlimm. Denn das Sehen geschieht von Natur her aus Sicherheitsgründen bei bewegten Objekten wesentlich leichter und mit geringerer Aktivität als bei stehenden. Man probiere einmal selbst: Eine unbewegte Fliege an der Wand nimmt man erst wahr, wenn sie weiter läuft, weil nun einmal der ‚Bewegungs-Reiz‘ der stärkste auf unserer Netzhaut ist. Genauso kann man lässig und mit wenig Anstrengung irgendwelche Fernseh-Filme betrachten – im Gegensatz zu stehenden Bildern, was größere Aktivität erfordert. – Aber zurück zu unserem Gesetz von der einfachsten Gestalt: Im Städtebau begegnet einem hier ein häufiges, meist absichtsvolles Fehlverständnis dieses Gesetzes. Die zeitgenössischen Städtebauer und die (meist künstlerisch für die Baukunst weniger begabten) Architekten sagen sich: Wenn das menschliche Sehen derartig disponiert ist, dann wird man es unterstützen und damit das ästhetische Wohlbefinden der Menschen fördern, indem wir von vornherein nur mit den einfachsten geometrischen Figuren, d. h. also mit ‚Grundgestalten‘ unsere Umwelt bebauen. Wir ersparen den heute ohnehin überstrapazierten Augen die zusätzliche, ständige Mühe, sich ‚Extrakte‘ zu machen. Die sind ja schon da. Man kann die Umgebung, sagen sie sich, auf diese Weise als ästhetisch besonders leicht verdaulich oder optisch ‚bequem‘ und angenehm formen. Indem wir also diese anreichern mit Waagerechten, Senkrechten, genau parallelen Linien, mit rechten Winkeln, Kugeln, reinen Quadern oder Würfeln, Kreisen usw. Dies wird nun schon seit über einem halben Jahrhundert durchgeführt – aber leider mit genau gegenteiligem Erfolg. Die Einwohner fliehen nämlich zu Hunderttausenden an jedem Wochenende aus gerade diesen, angeblich für sie gestalteten Betonstädten. Warum? Weil unser hochkomplizierter ‚Wahrnehmungsapparat‘ seit Menschengedenken so gebaut und darauf angelegt ist, sich beim Sehen aus der Wirrnis unserer Welt Klarheiten und Ordnungen selbst zu erarbeiten. Das menschliche Gehirn ist nun einmal so gebaut, aus den vorhandenen Vielheiten sich die notwendigen Einheiten herauszuschälen (z. B. die der Geometrie). Natürlich klappt das nur, wenn in diese Vielheiten – wenigstens ansatzweise! – jene Ordnungsmaße sichtbar eingebaut sind. Das ist ganz wichtig! Jedoch wird ein Gestalten um uns herum ausschließlich in diesen Ordnungsformen bzw. den einfachsten ‚Grundgestalten‘ jenen ganzen ‚Apparat‘ (und dazu gehört unser Gesetz von der einfachsten Gestalt), lahm legen und auf diese Weise bei den Bewohnern ein 128

Unwohlsein erzeugen. Ähnlich, wie eine körperliche Ernährung des menschlichen Organismus nur gesundheitlich gut funktioniert, wenn gewissermaßen etwas ‚Chaos‘, Wirrnis, d. h. Ballaststoffe so genügend darin vorhanden sind, dass sich der Organismus das ‚Beste‘ herausfiltern kann und muss. Leider fühlen sich die von Natur aus anpassungsfähigen Menschen immer wohler in den großen Städten; doch mit riesigen Verlusten! Allgemeingültig gesagt: Der Mensch braucht also zu seiner visuellen Ausgeglichenheit sowohl Vielheiten, als auch Einheiten. Vielheiten ohne die erwähnten Ansätze zu Einheiten führen zum Chaos – Einheiten ohne Vielheiten zur M o n ot o n i e . Und gegen ein weiteres Auseinander-Driften und Vergrößern dieser beiden Pole in unserer künstlichen Umwelt müssen wir uns wehren – tatsächlich aus Gesundheitsgründen! Vor unserem eigentlichen Hauptteil will ich noch ein schlimmes Missverständnis aus dem Weg räumen, das mir oft bei unseren Wahrnehmungs-Diskussionen aufgestoßen ist: Und zwar erregen die umstrittenen Worte ‚subjektiv‘ oder ‚objektiv‘ die Gemüter. Wahrnehmen stellt eine Verbindung zwischen einem ‚Subjekt‘ und einem ‚Objekt‘ her. Diese Verbindung kann beeinflusst oder verändert werden, entweder durch die Beschaffenheit des Subjektes oder die Beschaffenheit des Objektes oder von beidem. Und auf diese Weise teilt man ein in eine objektive und eine subjektive Wahrnehmung. Dass es eine rein objektive Wahrnehmung nicht geben kann, dürfte angesichts eines von Subjekt zu Subjekt differenzierten Wahrnehmungs-‚Apparates‘ ganz klar sein. Ebenso klar aber ist, dass es eine rein subjektive Wahrnehmung erst recht nicht geben kann. Denn diese würde man dann auch ganz anders bezeichnen; man könnte sich überhaupt nicht über sichtbare Formen in unserer Umwelt unterhalten. Es gäbe überhaupt keine Schilderungen mehr usw.! Bei ‚objektiver‘ oder ‚subjektiver‘ Wahrnehmung ist also gemeint, von welcher Seite jene Verbindung gerade am stärksten beeinflusst wird. Diese Bezeichnung hat somit nichts mit einem naturwissenschaftlich ‚objektiven‘, d. h. exakt vermessenen Faktum oder Ähnlichem zu tun. Die erwähnten Phänomene nach den Gesetzen des Sehens sind als Beeinflussungen des sinnenhaften Aufnehmens aufzufassen und rühren also her von der stärkeren Beeinflussung: der Beschaffenheit des Objektes. Für das ‚Ausdruckssehen‘, das gleich erklärt werden soll, ist nun wichtig, dass viele dieser Phänomene und besonders die so genannten ‚Figurbildungsgesetze‘ den Wahrnehmungsprozess fördern. Und dann gibt es noch einige ganz wenige Phänomene, die auffallend oft ein bejahendes, positives Empfinden bei der Wahrnehmung erzeugen! Dadurch entsteht eine gewisse Lust, sie zu wiederholen. So, dass man immer wieder hinschauen möchte! 129

Es wird auf diese Weise also letztlich das gefördert, was man gemeinhin mit ‚Schönheit‘ bezeichnet. Zwar ist diese damit noch lange nicht definiert, was wahrscheinlich überhaupt nicht möglich ist. Aber ich möchte diese wenigen, also im Wahrnehmungs-Objekt liegenden Gegebenheiten, doch als ‚Förderer der Schönheit‘ bezeichnen. Darum soll es im zweiten Teil meines Kapitels gehen. Am besten, so meine ich, kann man diesen ganzen Bereich der Wahrnehmung (also subjektive oder objektive Ästhetik) durchschauen, indem man ihn zusammen betrachtet mit dem ‚Ausdruckssehen‘. Wie aber entsteht nun das, was wir mit ‚Ausdruck‘ bezeichnen? Diese Frage beschäftigt mich schon, solange ich Wahrnehmungsforscher bin. Der große Kunstwissenschaftler Heinrich Wölfflin (1864–1945) hat einmal gesagt, ein Ausdruck durch eine Form käme dadurch zustande, dass man sich mit dieser Form identifizieren könne: die so genannte Einfühlungstheorie.7 Daran anschließend fragen wir heutige Gestaltpsychologen, warum sich die meisten Menschen mit dem einen Gebilde stark identifizieren, mit einem anderen aber weniger? Es gibt wohl für das Entstehen eines formalen Ausdruckes eine viel tiefere und vor allem in der Beschaffenheit des Objektes liegende ‚primäre Anschauungsdynamik‘8. Mit ‚primär‘ will Arnheim sagen: im Seh-Objekt liegend. Und um das Wort ‚Dynamik‘ richtig zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass es für unsere Betrachtungen drei Arten von Bewegung gibt: 1 Bewegung mit Ortsveränderung (also wie im Leben und auch in der Physik) 2 Bewegungsvorstellung oder Anschauungsdynamik und 3 Phasenbewegung. Der Ausdruck wird nun gesteuert von der zweiten Art, d. h. von der ‚Bewegungsvorstellung‘ nach Jürgen Weber oder der ‚Anschauungsdynamik‘ nach Rudolf Arnheim im Objekt, wobei beide Worte dasselbe bezeichnen, nämlich eine nur vorgestellte Bewegung des Objektes. An anderer Stelle prägt Arnheim nun den erklärenden Satz: „Als ausdrucksvoll sieht man die Form eines Objektes nur, wenn man sie dynamisch sieht.“9 Und diese ‚Anschauungsdynamik‘ löst eine – oft nur scheinbare – ‚Bedeutung’, man müsste sagen, eine ‚AnschauungsBedeutung‘ in dem Wahrnehmenden aus. Mitunter bewirkt sie sogar, dass das Gesehene besonders tief in den Betrachter eindringt – die Form wirkt dann ‚eindringlich‘! 7_ Wölfflin, Heinrich: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst; München, 1915. 8_ Vergl. hierzu: Arnheim, Rudolf: Die Dynamik der architektonischen Form; Köln, 1980. (im Folgenden zit. als Arnheim: Dynamik; 1980). 9_ Arnheim: Dynamik; 1980; S. 217.

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Um nachfolgend ein sehr überzeugendes Beispiel vorzustellen, muss ich kurz zwei dieser Gesetze anführen, allerdings ohne sie näher erklären zu können: 1 das Gesetz der Nähe: Bei gleichartigen, aber ungleichmäßig verteilten Objekten im Sehfeld werden die näher zusammenliegenden leichter zu Figuren zusammengefasst, als die weiter auseinander liegenden und 2 das Gesetz der Geschlossenheit: Eine abgeschlossene Form hilft der Wahrnehmung. Man sieht sie als Figur leichter als eine offene, fortsetzbare Form. Hauptsächlich diese beiden Phänomene führen beim Anblick des gestirnten Himmels zur Bildung von Einheiten – und diese sind wiederum nach meinen Untersuchungen besonders kräftige ‚Förderer der Schönheit‘. Alle Menschen, man kann für unsere Betrachtung auch sagen: Alle noch so unterschiedlich geprägten ‚Subjekte‘ sehen ihn an als schön und erhaben. Alle Völker fassen die näher liegenden Sterne zu Sternbildern zusammen, wenn auch in etwas unterschiedlicher Auswahl und Bedeutung. Ich glaube, wir würden den Himmel mit seinen Sternen gar nicht weiter beachten, wenn sie gleichmäßig verteilt wären und damit nur einen beliebig fortsetzbaren Anblick hergäben! Abschließend dazu noch ein Wort von dem derzeitigen Ahnherrn der Gestaltpsychologie, Rudolf Arnheim: „Diese genannten Wahrnehmungsgesetze enthüllen die allgemeingültige Grundlage der menschlichen Wahrnehmung, das Erdgeschoss des geistig-seelischen Gebäudes [...] Diese Grundelemente der Wahrnehmung sind so stark, dass sie nur selten von spezifischen Bedingungen völlig zugedeckt werden.“10 Dieser letzte Satz regt uns ganz gewiss zur Diskussion an!

10_ Arnheim: Dynamik; 1980; S. 12.

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Zweiter Teil: Gibt es Beschaffenheiten des Seh-Objektes, die eine bejahende, vielleicht sogar positiv stimmende Wahrnehmung bei den meisten Menschen fördern? „Die Schönheit, was das ist, das weiß ich nicht, wiewol sie viel Dingen anhangt.“11 Diesen Satz notierte Albrecht Dürer schon 1512. Natürlich weiß ich es noch viel weniger und um einem Missverständnis gleich vorzubeugen, sei betont, dass hier keinerlei normative ‚Schönheitsregeln‘ aufgestellt werden sollen. Das, was die Menschen als schön oder hässlich empfinden, hängt tatsächlich an so ‚viel Dingen‘, dass es Selbstvermessenheit bedeuten würde, zu verkünden, man habe jetzt endlich nach Jahrtausenden des Suchens den Stein der Weisen und die klare Definition der Schönheit gefunden! In dem Prozess der Wahrnehmung, um den es hier ausschließlich gehen soll, spielen so viele von Subjekt zu Subjekt unterschiedliche Faktoren mit – wie Kognitives, Soziales, Wirtschaftliches, Geschichtliches und vieles, das abhängig ist von Alter und Kulturkreis, dass eine einheitliche, normative Bestimmung nie gegeben werden kann. Das ist eigentlich selbstverständlich. Außerhalb dieser Tatsache haben sich jedoch, unterstützt von der Wahrnehmungs – bzw. Gestaltpsychologie, etliche psychologisch begleitende Qualitäten bei der Wahrnehmung gezeigt, die den ‚Geschmack‘ der meisten Menschen ins Positive drängen. Diese möchte ich vorsichtig ‚Förderer der Schönheit‘ nennen. Vier besonders wirksame davon habe ich ausgewählt. Hier sollen keine ‚Schönheitsregeln‘ aufgestellt, sondern nur einige wahrnehmungspsychologische Beobachtungen in Richtung auf ein allgemein meistens als angenehm empfundenes Aufnehmen behandelt werden.

I Palintropos Harmonia oder die Entdeckung Heraklits Unsere visuelle Wahrnehmung wird mitunter von der Aufnahme eines bestimmten Faktums begleitet, das ich als ersten ‚Förderer der Schönheit‘ erklären will. Heraklit (550 bis 480 v. Chr.) hat es wohl zuerst erkannt: Wenn zwei an sich gegeneinander strebende Dinge zusammen, ja als zusammengehörig wahrgenommen werden, dann erscheint ‚die schönste Harmonie‘ (‚καλλιστη αρμονια‘): etwas, das uns vom Sinnenhaften her beim Anblick Freude bereitet, etwas, das wir immer wieder ansehen möchten. Ich nenne dieses von Heraklit entdeckte Phänomen Palintropos Harmonia. Heraklits Ausdruck ist von mir einfach eingedeutscht worden.12 Dieses Phänomen lässt sich als Wahrnehmungs-Effekt an vielen Beispielen deutlich machen. Hier nun eines aus der Architektur: 11_ Dürer, Albrecht: Schriften und Tagebücher; Stuttgart, 1961; S. 202. 12_ Snell, Bruno (Hrsg.): Die Fragmente des Heraklit; (griechisch und deutsch); München, 1935. (im Folgenden zit. als: Snell: Heraklit; 1935).

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Besonders die 60er und 70er Jahre des 20.Jahrhunderts waren reich an Architekturbeispielen mit reinen Quadern und natürlich fehlte es nicht an werbenden Verweisen auf historische Vorbilder, vor allem auf Bauten der alten Ägypter. Und so möchte ich einmal an einem bekannten ägyptischen Tempel stellvertretend diese vermeintlichen Parallelen in der Geschichte wahrnehmungspsychologisch betrachten. Immer wurde und wird der gewiss wirkungsvolle Kontrast solcher geometrischen ‚Einheiten‘ zu einer natürlichen ‚Vielheit‘ herausgestrichen, – von F.L. Wright über Mies van der Rohe, bis hin zu Philipp Johnson. So auch durch einen bekannten, zeitgenössischen Architekten, der oft reine stereometrische Formen angewandt hat und der 1962 schrieb: „Was steht uns gegenüber und was wird in uns dadurch ausgelöst? Zunächst Gegend und Umwelt: Ägypten, unerschlossene Wüste, dahinter unzugänglicher Felsenkarst, chaotische, vom Menschen nicht zu bewältigende Natur.“13 Er verweist dabei auf den Tempel der Königin Hatschepsut (ca. 1460 v. Chr.) (Abbildung 4). Er sieht also durchaus richtig, dass die wilde Naturvielfalt rings umher notwendig ist, meint aber, die positive Wirkung der Architektur käme durch solchen Kontrast automatisch: „Denn mit der beharrlichen Anwendung dieses Grundkanons aller Erscheinung [hier ist die Geometrie gemeint, A.d.V.] wächst – [Oh Wunder! A.d.V.] – in so geformter Materie der Ausdruck des Klaren, des Wirksamen, des Besonderen, des Nichtalltäglichen und des Erhabenen.“14 Übrigens: mit der wirklich ‚beharrlichen Anwendung‘ dieser Grundgestalten, d. h. wenn die ganze Landschaft mit Hochhäusern wie z. B. in Frankfurt-Westend zugedeckt ist, wächst – Oh, gar kein Wunder! – im Gegenteil der Ausdruck des Alltäglichen und Vulgären! Weiter: „Gegen das umliegende Chaos eines ungewissen Urbrodelns ertönt hier der gewaltige Klang der abstrakten Ordnung, die strahlend majestätische Sinfonie bewusster Gestaltung.“15 Die Klötzle-Bauer waren mit ihrer ‚Kuben-Automatik‘ tatsächlich sehr romantisch! Auch mich sprach dieses Bauwerk, als ich es erstmals erlebte, in seiner strahlenden Herausgehobenheit mit eigenartiger, überraschender Stärke an. Aber konnte das automatisch erreicht werden? Durch einfaches Hinstellen kaum verarbeiteter geometrischer Körper, welche ja genauso wie ihr ‚Kontrastmittel‘ keine menschliche Leistung sind? Also ohne ein auf die Formen gerichtetes Denken oder Fühlen? Ausschließlich durch Platzieren und Konstruieren? Ein dermaßen simpler ‚Trick‘ wäre doch allzu unwahrscheinlich. 13_ Kraemer, Friedrich Wilhelm: Uns alle trägt die gleiche Schöpfung; Sonderheft der Nordmark GmbH; Hamburg, 1963; S. 13. (im Folgenden zit. als Kraemer: Schöpfung; 1963). 14_ Kraemer: Schöpfung; 1963; S. 13. 15_ Ebenda.

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Abb. 4: Hatschepsut-Tempel in seinem Umland

Unser Architekt gibt uns, sicher ungewollt, einen Hinweis, wenn er meint, dass in der Architektur eine erhabene Wirkung durch ihre ‚abstrakte Ordnung‘ entstehe. Die wörtliche Übersetzung von ‚abstrakt‘ heißt: von der Natur abgezogen. Das entspräche genau der Sentenz Bernd Guggenbergers aus einer ‚Gegenwarts-Diagnostik‘: „Flucht aus der Natur“.16 Die Worte des Architekten waren also durchaus zeitgemäß, indem sie eine ‚Ab-ziehung‘ von der Natur herausstellten – nicht eine ‚Be-ziehung‘. Gerade diese aber wurde an den vermeintlichen Vorbildern übersehen: 1 Schon 1975 hat der Kunstwissenschaftler und Künstler Hermann Leber in genauen Untersuchungen gezeigt, dass sich diese Tempelanlage hinsichtlich ihrer Größe und Lage in ganz präziser Beziehung zur umgebenden Natur befindet. Leber kam zu dem Ergebnis, dass nur an dieser einen „Gelenkstelle der Landschaft“ die Gebäudegruppe ästhetisch wirksam eingegliedert ist.17 2 Desgleichen hat der Architekt des Tempels, Senenmut, die auffälligen Rampen aus etlichen flachen Schuttkegeln der Natur entlehnt. Der Architekt baute diese Schrägen teilweise sogar in genau demselben Winkel, wie sie auch die Landschaft zeigt (Abbildung 9)!

16_ Guggenberg, Bernd: Das digitale Nirwana; Hamburg, 1999. (im Folgenden zit. als Guggenberg: Nirwana; 1999). 17_ Herrmann Leber: Kunst und Kunsterziehung; Göttingen, 1975; S. 38.

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3 Als ich dem Rätsel der ‚Erhabenen Wirkung‘ weiter nachging, entdeckte ich, dass die ganze Tempelanlage vor einer Felsenkulisse steht, welche ein großes, liegendes Rechteck bildet, dessen lange Seiten erstaunlich gerade und vor allem parallel sind und deren Proportionen etwa im Verhältnis 1:4 liegen. Die Tempelblöcke rechts und links aber stehen ebenso im Verhältnis 1:4 (Abbildung 5)! 4 Weiterhin erblickt man eine Gliederung dieses Felsenrechteckes in mehrere waagerechte Terrassen. Genau diese nimmt Senenmut in seinen Bauwerken auf (Abbildung 6)!

Abb. 5: Ausdehnung der Felswand

Abb. 6: Hatschepsut-Tempel von vorn

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Abb. 7: Turm-Formen des Hatschepsut -Tempels Abb. 8: konische Säulen des Hatschepsut -Tempels

5 Natürlich fallen in dieser Hintergrundswand die vielen vertikalen Felsensäulen auf. Auch sie kehren in der Gliederung der Tempel-Quader wieder. Auf der rechten, auffälligen Seite der Felsen stehen diese nämlich in einer ähnlichen Proportion wie die gebauten Säulen, ungefähr 1:5 (Abbildung 7). 6 Diese Teile des Naturgesteins offenbaren uns noch eine weitere große Sensibilität dieses Architekten: Wenn wir genau hinsehen, entdecken wir, dass die meisten dieser Felsensäulen nach oben hin schmaler werden, wie es ungefähr die eingezeichneten Linien auf Abbildung 7 verdeutlichen, wohl aus Gründen der natürlichen Verwitterung. Und genau diese Verjüngungen nach oben weisen auch die Tempelsäulen auf, in ganz zarter Weise zwar, aber doch sichtbar, was sich auch durch meine Messungen vor Ort bestätigt hat (Abbildung 8). Diese sechs feinen Analogien zwischen Architektur und Landschaft dürften in ausreichender Weise überzeugen, obwohl noch weitere genannt werden könnten. Sie belegen, dass die außergewöhnlich einnehmende Wirkung nur zur einen Hälfte auf dem Kontrast zwischen Geometrie und Naturvielfalt beruht, zur anderen Hälfte aber aus dem fast immer verdrängten Gegenteil davon, d. h. einer Naturverbindung. Wenn wir für die Kontrast-Seite das Wort ‚palintropos‘ setzen und 136

Abb. 9: Die Rampen des Tempels der Hatschepsut

für den sanfteren verbindenden Teil (der dem 20. Jahrhundert anscheinend weniger liegt) das Wort ‚harmonia‘, dann bekommen wir eine ungefähre Vorstellung davon, was Heraklit für das Entstehen von ‚Schönheit‘ (‚καλλιστη‘!) aufzeigt: als von etwas Einem, das eigentlich aus Gegeneinanderstehendem besteht. Wenn solche Pole etwas Grundsätzliches, Elementares und vor allem etwas Lebensmäßiges haben, hat die erblickte und unbewusst zusammen gesehene Palintropos Harmonia Gestaltqualität, Ehrenfelsqualität, wie es die Gestaltpsychologen nennen würden. In solch einem Moment erleichtert sie jede Wahrnehmung, ja sie fesselt geradezu den menschlichen Blick. Wir erhalten, so Heraklit: „Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie.“18 Die Schönheit ist damit noch nicht definiert, wohl aber einer ihrer mächtigen Förderer. So stößt man, Heraklit interpretierend, zu dem Wahrnehmungsphänomen der Palintropos Harmonia, wie es ähnlich in viel umfassenderen Bereichen andere schon taten, z. B. der Philosoph Nicolaus von Cues (1401–1465).

18_ Snell: Heraklit; 1935; S. 8.

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Abb. 10: Dorf, Sommeraufnahme

Als Fazit vieler Gedanken ist er, wahrscheinlich ohne Heraklit, auf Analoges gekommen und nennt es Coincidentia Oppositorum. Später findet sich auch in Dürers kunsttheoretischen Schriften der Satz, der wohl genau diesen Punkt betrifft: „Es ist eine große ‚Vergleichung‘ zu finden in ungleichen Dingen.“19 Auch in der chinesischen Philosophie taucht dieser Kerngedanke auf, aber meines Wissens nach später als bei Heraklit, weshalb ich ihn als Wahrnehmungs-Phänomen nach diesem benenne. Für unsere Zeit möchte ich vor allem Hugo Kükelhaus (1900–1984) erwähnen. Ihn erweiternd meine ich herausgefunden zu haben, dass man dieses Prinzip für die Wahrnehmung ganz allgemein als Kriterium einsetzen kann.

19_ Dürer, Albrecht: Schriften und Tagebücher; Stuttgart, 1961; S. 202.

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Abb. 11: dasselbe Dorf, Frühlingsaufnahme

II Die Wahrnehmungspsychologischen ‚Einheiten‘ Nun gibt es noch eine weitere Unterstützung der ‚Schönheit‘, die nicht ich, sondern der Kunstwissenschaftler Joachim Winckelmann vor etwa 200 Jahren entdeckt hat. Weil sie schon so abgegriffen ist, wird sie z.B von einem heutigen Gestaltpsychologen ‚die alte Kunstformel‘ genannt (Rudolf Arnheim). Doch sie ist noch kein Deut überholt und gilt wie eh und je. Winckelmann behauptete sogar, sie würde jedes gute Kunstwerk in irgendeiner Weise durchziehen: es müsse in ihm eine ‚Mannigfaltigkeit in der Einheit‘ herrschen. Nun passt nach meinen Beobachtungen diese ‚alte Kunstformel‘ auch unter jenes Wahrnehmungsmerkmal, das besagt, dass unsere Wahrnehmung wertend geschieht. Wohl bemerkt: Hier soll nach wie vor jene Wertung angesprochen werden, die durch die Beschaffenheit des betreffenden Wahrnehmungsobjektes hervorgerufen wird, nicht des so oder so gearteten oder vorbereiteten Menschen! Wir wollen es einmal genauer untersuchen bei unserem Erleben der Natur: Wenn wir im Vergleich die beiden Fotos von ein und derselben Landschaft betrachten, die einmal im Sommer (Abbildung 10) und das zweite Mal im Frühling aufgenommen wurde (Abbildung 11), dann müssen wir doch konstatieren, dass wohl die meisten Menschen das Frühlingsfoto mit größerem Wohlgefühl ansehen. Abgesehen natürlich von den subjektiven Gründen dafür, warum uns der Anblick des Frühlings so beschwingt, zeigen uns die Objekte schon rein zahlenmäßig einen deutlichen Unterschied: 139

Beim Anwenden der Formel ‚Mannigfaltigkeit in der Einheit‘ ist die sichtbare Mannigfaltigkeit im Frühlingsbild sehr viel größer als im Sommerbild, die Differenz zum Sommerbild ist nur schwer abzuzählen, da auf dem Sommerbild ein undeutlich-schummriges Gewoge vorherrscht. So haben wir im Endeffekt bei der Frühlingsaufnahme beide Faktoren verstärkt vor Augen: die sichtbare ‚Mannigfaltigkeit‘ ist größer und die ‚Einheiten‘ sind klarer. Und die Folge für die Wahrnehmung ist, dass in unserem Beispiel die meisten Menschen solche Landschaften im Frühling als ‚schöner‘ empfinden! Natürlich kann oder wird auch zusätzlich Subjektives die Frühlingslandschaft schöner wirken lassen (z. B. weil in dieser Jahreszeit leicht ein Liebes-Nebel alles rosa sehen lässt ...). Wenn die ‚alte Kunstformel‘ herrscht, wird diese Verbindung zwischen den vielfältigen Einzeleindrücken hergestellt: entweder durch Klärung der Einheiten, oder dadurch, dass die Einheit als verbindende, d. h. etwas Gemeinsames schaffende Klammer über die Einzeldinge ‚gestülpt‘ wird. Diese zweite Möglichkeit der Einheits-Verstärkung und die weiteren drei Beispiele sollen Sie sich bewusst einmal vorstellen, vor Ihrem inneren Auge! Nun denken Sie sich ein Industriegebiet, wie wir es oft sehen und meistens wohl ‚über‘sehen, eben deswegen, weil wir sie nicht als besonders schön empfinden. Mit Gleisen, Stangen, Schuppen und kleinen nichtigen Gebäuden, Müllbergen etc., also richtig hässlich ... ein Gebiet, in dem Sie auf keinen Fall wohnen möchten! Derselbe Blickwinkel bekommt nun eine ‚Klammer verpasst‘: eine dünne Schneeschicht! Jetzt ist die Mannigfaltigkeit der Formen zwar im großen und ganzen geblieben, die der Farben aber ist durch den Neuschnee so reduziert worden, dass insgesamt die Über-Vielheit zurückgegangen ist. Und die Einheit? Die Farbe Weiß verbindet alles und schafft, im Gegensatz zur schneelosen Ansicht etwas Gemeinsames, d. h. eine große Einheit. Und genau wie man es nach der ‚alten Kunstformel‘ hätte voraussagen können, finden die meisten Menschen solche Schneeansichten schöner! Auch dann, wenn das farbliche Vielerlei nicht nivelliert wird, wie durch das Weiß in der Schnee-Situation, sondern nur ähnlich oder verwandt erscheint, empfinden die meisten Menschen einen Schönheitsgewinn: So z. B., wenn bei klarem Himmel die Dinge in der Landschaft einen goldenen Schimmer bekommen durch die untergehende Sonne. Auch die immer währende Faszination von Zeichnungen rührt sicherlich hierher. Denn bei ihnen wird ja das ganze Bild deutlich sichtbar ‚geeinigt‘ durch nur ganz wenige, alles verbindende Gestaltungsmittel: nur durch Linien und Helligkeitswerte.

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Ähnlich sind die ästhetischen Vorschusslorbeeren auf diese ‚automatische‘ Einheit zu erklären, die ein Schwarzweiß-Foto von vornherein gegenüber einer Farbaufnahme hat. Bei ihm besteht das einigende Mittel zwischen allen Formen ausschließlich in den Helligkeitsstufen. Dass Einheiten, wenn sie mit den Sinnen wahrgenommen werden, dabei die angenehmen Empfindungen verstärken, zeigt nach dem Augen- und dem Hörsinn sogar ein kleines Beispiel aus dem Geschmacksinn. Vom Differenziertesten zum Simpelsten: Ein Eintopf-Gericht, das sich ja besonders aus vielen Zutaten zusammensetzt, schmeckt nach weit verbreiteter Ansicht besser, wenn es wieder aufgewärmt wurde. Das heißt genauer: wenn sich die wahrnehmbare Einheit erhöht hat dadurch, dass durch Diffusionen die vielen ‚Einzelgeschmäcker‘ der Zutaten einander angenähert wurden. Aber diese müssen eben noch vorhanden sein, wenigstens noch so eben schmeckbar und es darf der Linseneintopf nicht zu einem ‚Einheitsbrei‘ verkocht sein! Diese Einheiten fehlen oder kränkeln in der zeitgenössischen Gestaltung immer häufiger, auch nach eigenen Beobachtungen und gerade bei Anfängern. Schon 1977 schrieb Carl Friedrich von Weizsäcker: „Aber dieser Fortschritt ist ambivalent. Er hat eine Abnahme des Wahrnehmungsvermögens für Einheit zur Folge und daher selbst im Bereich der Vielfalt eine Abnahme der Harmonie und der Weisheit. Er hat Gefahr zu Folge.“20 Gefahr deswegen, weil die Menschen ohne Einheiten weniger ‚Schönes‘ machen und weniger ‚Schönes‘ wahrnehmen, was gerade heute dringend nötig wäre! Auf die Frage, wieso bei der Wahrnehmung diese angeborene Liebe des Menschen zu Einheiten existiert, soll hier nicht näher eingegangen werden. Hier soll es nur um die Tatsache gehen, dass sie die Wahrnehmung und somit das Schönheitsempfinden letztlich fördern kann. Wohl einer der ersten, der für den Erhalt eines gewissen Maßes an Einheit in der baulichen Umgebung öffentlich eintrat, war der Dichter Emile Zola (1840–1902). Er hatte seinen hochsensiblen ästhetischen Sinn schon öfter in seinen Romanen unter Beweis gestellt und seinerzeit eine ‚Bürgerinitiative‘ zusammengerufen – etwas völlig Neues in damaliger Zeit! –, um den Bau des Eiffelturmes in Paris zu verhindern. Für uns heute ist das zunächst kaum nachvollziehbar, weil der Eiffelturm für sich allein genommen so ein großartiges Bauwerk geworden ist. Übrigens wird erzählt, dass Zola, als er schließlich verloren hatte, der Turm gebaut worden war und er gefragt wurde, wo denn jetzt Paris am schönsten sei, geantwortet hat: ‚Auf dem Eiffelturm!‘ – weil man ihn dort nicht sähe.

20_ von Weizsäcker, Carl Friedrich: Der Garten des Menschlichen; München, Wien, 1982; S. 169.

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So wird auch als Erklärung gesagt, Zola habe eben noch kein ästhetisches Verständnis für die damals neuzeitlichen Tragwerksbauten gehabt. Dass diese entschuldigende Deutung aber nicht zutrifft, zeigt er in seinem frühen Roman Der Bauch von Paris21, in dem er begeistert und lange die neuen Eisenrohr-Tragwerke der ‚Hallen‘ beschreibt. Wenn wir uns aber einmal ganz intensiv den Anblick des ‚Vor-Eiffelturm-Paris‘ vor Augen halten, jenes meereshafte Gewoge aus ähnlich großen Häusern, das als ständiges Thema mit Variationen eine große ‚Einheit‘ darbietet, dann ahnen wir etwas von jenem Formenfluss, den viele Menschen damals verständlicher Weise erhalten wollten. Hier blicken wir auf etwas Benachbartes: Das bewusste oder unbewusste Wahrnehmen von Variationen eines Themas erzeugt bei sehr vielen Menschen ein angenehmes Gefühl. Hängt ein solcher Anblick doch zusammen mit jenem stets positiv aufgenommenen Seh-Gegenstand, in welchem sich ‚Uniformität und Individualität‘ zugleich darbieten. Deswegen gehört er eigentlich unter die Palintropos Harmonia. Nehmen wir als Beispiele dafür nur einmal bewegte Meeresflächen, belaubte Baumgruppen, Ziegelwände (besonders alte!), gestapeltes Brennholz (das deswegen auffällig oft fotografiert wird) oder als besonders überzeugendes Beispiel: die auflaufenden Wellen am Strand. Genau nach der oben genannten ‚Heraklitschen Regel‘ steht hier zusammen, was elementar das Gegenteil voneinander ist. Die Einheiten werden in unserem Falle gebildet durch die ‚Uniformitäten‘, also durch die verwandten Farben und Formen von Wellen, Blättern oder den Rechtecken der Ziegel. Unter den genannten Beispielen fesselt das letzte, die aufschlagenden Wellen am Strand, wohl die meisten Menschen und zwar deswegen, weil hier der wahrgenommene Kontrast zwischen Individualität und Uniformität besonders groß ist: die ‚individuellen‘ Formen zeigen ein ausgeprägtes, oft geradezu barockes Linienspiel, während das ‚gleichförmige‘ Rauschen die rhythmisch-gleichen Anbrandungen noch unterstützt. Auch die Jahrtausende alte Orientierung der Menschen an eine jeweilige Mode hat ihre stärkste wahrnehmungspsychologische Ursache wohl in jenem genannten Gegensatzpaar. Dass die Kleidungsmode für Beschleunigungsgesellschaften wie die unsrige zu einer Entschleunigung gehört, mag zunächst den meisten befremdlich erscheinen. Doch hat schon der Soziologe Bernd Guggenberger überzeugend dargelegt, dass in Wahrheit gerade die Mode eine ausgleichende ‚Entschleunigung‘ darstellt, eine dringend notwendige ‚Bremse’. Sie „führt einen Krieg gegen die Beliebigkeit. Ihre größte Leistung ist die Selektivität. [...] Es gilt ihr nicht einfach alles Mögliche als möglich, sondern einiges, aber vieles andere nicht.“22 21_ Zola, Emile: Der Bauch von Paris; Paris, 1927; Originalausgabe 1873. 22_ Guggenberg: Nirwana; 1999; S. 69.

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Aber warum ‚selektieren‘ die Menschen hier immer wieder? Trotz der Gegenwirkung durch den Zeitgeist der Beliebigkeit? Hierzu braucht die Mode einen psychologischen ‚Magneten‘, eine Triebfeder zu der betreffenden Mode hin; man kann auch sagen, einen möglichst wirkungssicheren Beweggrund dafür, warum plötzlich Tausende von Menschen ein betreffendes Modeteil, das gerade ‚in‘ ist, als ‚schön‘ empfinden: Es ist das Erleben von Individualität unter einer Uniformität!

III Der Widerstand in der Wahrnehmung „Stellen wir uns vor, wir müssten einige Kilometer über eine schnurgerade, ebene, hindernisfreie Betonbahn gehen. Am Ende der Strecke werden wir ermattet sein. Wie anders wird es uns bei einer Wanderung durch einen Wald ergehen! Da sind verschlungene Pfade. Es geht über Stock und Stein. Wurzeln, Moos, dichtes Gebüsch, Rinnsale. Das Licht ist dämm’rig. Du musst ganz Auge, ganz Ohr sein. Ganz Nase. Es duftet nach Waldkräutern und Waldboden. Seltsame Geräusche von überall her. Vogelstimmen. Am Ende des Weges sind wir erfrischt, fast wie neugeboren“23. Dieses treffende Beispiel dafür, dass alle Prozesse des Lebendigen durch einen Widerstand gesteigert werden, schrieb Hugo Kükelhaus vor etwa 30 Jahren. Er betonte stets diese grundsätzliche, überall im Leben auftretende Wirkung von Hürden – die natürlich nur in dieser positiven Weise fungieren, solange sie nicht allzu hoch sind. Er schreibt weiter: „Leben bedarf der Hindernisse.“24 Und an anderer Stelle: „Lebendiges benötigt zu seiner Entfaltung der Herausforderung und Störung.“25 Wenn Widerstände, günstig dosiert, eine solche Förderung der Lebensprozesse hervorbringen, dann liegt es nahe, dass sie auch die menschliche visuelle Wahrnehmung intensivieren können, die ja ein Teil dieser Lebensentfaltung ist. Für eine oberflächliche Betrachtung wäre ein solcher Sachverhalt zunächst das Gegenteil von der oben postulierten ‚Einheit‘. Aber ein vor unseren Augen ausgebreitetes Chaos ist eben nicht mit dem gemeinten Widerstand zu verwechseln. Was er wirklich besagt, mögen folgende kleine Erlebnisse deutlich machen: Anfang der 1980er Jahre hatte ich zwei Wochen lang prachtvoll blühende, hoch gelegene Almwiesen in Südtirol ganz beglückt in mich aufgenommen, mit Künstleraugen und Gemüt. Verständlich, dass ich solche oder wenigstens ähnliche Blumenwiesen auch auf eigenem 23_ Kükelhaus, Hugo: Mit den Sinnen leben; Aarau, 1993; S. 12. 24_ Kükelhaus, Hugo: Mit den Sinnen leben; Aarau, 1980; S. 8. 25_ Kükelhaus, Hugo: Organismus und Technik. Gegen die Zerstörung der menschlichen Wahrnehmung; Soest, 2006; S. 46–47.

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Abb. 12:

Frazersche Spirale

Gelände heranziehen wollte, als ich einige Jahre später dazu Gelegenheit erhielt. Von einem Biologen und Landschaftsarchitekten bekam ich Samen und den Ratschlag, erst einmal in den Boden Sand einzubringen. Ich verteilte also drei PKW-Anhänger voll Sand auf meiner Wiese (natürlich sorgsam und unbeobachtet, um nicht im Dorf für vollends verrückt erklärt zu werden) und säte – aber die Schönheit blieb aus. Mein Biologe sagte daraufhin: „Ja – nicht drei Anhänger, sondern drei Lastwagen voll! Die Blumen sollen tüchtig kämpfen müssen und auf ganz magerem Boden stehen!“ Damals erfuhr ich etwas ähnliches über das Wachstum von Bäumen und Holzqualität. Diese steigt, je mehr z. B. Fichten oder Tannen beim Wachstum Widerstände in Gestalt eines mageren, steinigen Bodens oder eines lichtlosen Standortes haben. Ein recht überzeugendes Beispiel: Nie ist die Liebe so innig und intensiv, wie gegen einen Widerstand! Wenn sie z. B. heimlich geschehen muss. „Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, wie heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß“26, singt ein altes Volkslied.

26_ Anonym: Kein Feuer, keine Kohle; in: Sammlung Deutscher Volkslieder, Hrsg. von Büsching, Johann Gustav Gottlieb und von der Hagen, Friedrich Heinrich; 1807.

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Abb. 13a: sogenannte

Schwellform Abb. 13b: dieselbe

Schwellform mit Einschnürungen

Abb. 14: Kuppel, Gur-Emir-Mausoleum in Samarqand

Hermann Hesse schreibt zum Abschluss seines Romans Narziss und Goldmund: „Was wäre Liebe ohne Heimlichkeit! Was wäre Liebe ohne Gefahr!“27 Auch die bekannte ‚optische Täuschung‘ der Frazerschen Spirale (Abbildung 12), die den Betrachter zwingt, eine Spirale zu sehen, obwohl gar keine da ist, hat neben vielen anderen Faktoren für ihre Täuschung vor allem die vielen kleinen Widerstände. Diese drängen das Auge zur größeren Vitalität und Dynamik, eben zur Spirale. Bei zwei weiteren Figuren aus der Gestaltpsychologie kann der Leser sich selbst ein Bild machen: Der verformter Kreis auf der linken Abbildung 13a zeigt auf Grund der Art seiner Verformung für die weitaus meisten Menschen eine Expansionswirkung, weswegen diese Figur (vor allem im Dreidimensionalen) durch Jürgen Weber auch den Namen Schwellform bekommen hat.28 Sie gibt in ihrer symmetrischen Variante die Grundfigur für die meisten gebauten großen Kuppeln ab, z. B. im Barock oder im Islam.

27_ Hesse, Herrmann: Narziss und Goldmund; Berlin, 1975; S. 243. 28_ Weber, Jürgen: Gestalt, Bewegung, Farbe. Kritik der reinen Anschauung; Berlin, 1976.

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Bei der rechten Figur (Abbildung 13b) ist diese Bewegungsvorstellung des Sich-Ausdehnens noch größer, weil sie trotz der Einschnürungen, d. h. trotz der Widerstände, zu geschehen scheint. Und auch dieser gestaltpsychologische ‚Kniff‘ wird im alten und modernen Kuppelbau angewendet (Abbildung 14), hauptsächlich für sie, der wir auf der Spur sind: für die ‚Schönheit‘! Die Überbetonung der Vertikalrichtung gegenüber der Horizontalen ist in der Wahrnehmung das stärkste Auseinanderfallen von Wirklichkeit und Wirkung, das uns Menschen ständig widerfährt. Wolfgang Metzger schreibt, dass es um wenigstens 25 Prozent seien! Deswegen hat sie auch extra einen Namen bekommen: Anisotropie.29 Diese auffällige Seh-Tendenz ist ohne die Schwerkraft nicht zu erklären, wie es auch schon Rudolf Arnheim getan hat. Denn die Anstrengung gegen die Schwerkraft, also gegen einen Widerstand, ist auch schon beim Sehen, nicht erst beim Heben, größer als in der Waagerechten und diese stärkere Aktivität führt in der Vertikalen zu dem Empfinden einer größeren Abmessung. Auch meine eigenen Erfahrungen aus den Hochschul-Übungssälen unterstreichen die Bedeutung dieser Wahrnehmungs-Barrieren: Dort konnte ich oft feststellen, dass die Studierenden der Innenarchitektur und des Design beim Entwickeln ihrer Entwürfe weiter kamen, wenn in ihren Skizzen-Gebilden, die sie nun ständig anzuschauen hatten, irgendwelche Ungenauigkeiten oder Rauheiten ‚eingebaut‘ waren – notfalls sogar absichtlich! Denn diese Widerstände stärkten dann ihr Vorstellungsvermögen – sie mussten sich ja ständig den glatten Endzustand vorstellen! – und diese Gehirnaktivität förderte bald ihre Anschauungskraft und damit ihre Schöpferkraft. Das ist einer der Gründe dafür, dass Ideenentwicklungen, die ausschließlich am Computer geschehen, fast immer künstlerisch schwächere Ergebnisse zeigen, wie von vielen Kollegen zu hören ist. Diese Beispiele für eine Steigerung des sichtbaren Ausdrucks durch Aktivität schaffende Widerstände könnten noch fortgesetzt werden, aber ich hoffe, sie hiermit als ‚Förderer des Schönheitsempfindens‘ hinreichend belegt zu haben.

29_ Metzger, Wolfgang: Gesetze des Sehens; Frankfurt am Main, 1975; S. 171.

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IV Systole – Diastole Ähnlich fundamental für die Unterstützung einer bejahenden Wahrnehmung und wohl noch bedeutender, da es überall vorkommt und keine Ausnahmen kennt, ist das Kontrastpaar ‚Kontraktion und Expansion‘. Ich nenne es in meinem Unterricht einfach Systole – Diastole, weil Goethe es in seinem Gedicht: „Im Atemholen sind zweierlei Gnaden [...]“ aus dem West-Östlichen Divan30 so treffend am Beispiel des Atmens verdeutlicht. Und tatsächlich ist dieses Zusammenziehen und Erweitern nicht nur bei uns Menschen der allererste Anfang unseres Daseins, sondern überhaupt im irdischen Leben. Man denke an die Bewegung der Einzeller. Es ist die wichtigste der vier Urbewegungen, alles beherrschend und an Bedeutung für unsere Betrachtung noch vor der Auf- und Ab- Bewegung, der Horizontalbewegung und der Kreisbewegung stehend. Dieses Kontrastpaar steckt in jedem auch nur einigermaßen fesselnden Kunstwerk, ob es sich nun um ein Werk der Malerei, der Baukunst, der Skulptur, der Installation, des Theaters, der Musik oder der Dichtung handelt. Es ist oft nur etwas schwierig, es gleich zu erkennen, besonders in der Musik und Dichtung. Überall gibt es sowohl verdichtete, als auch locker angeordnete Partien. Die ‚dichten‘ liegen bei den Arbeiten der bildenden Kunst oft in stark zusammenhängenden, sehr häufig kleineren, kontrastreichen und auch vielfach inhaltlich besonders wesentlichen Formteilen, salopp könnte man sagen: dort, wo ‚mehr los‘ ist; bei der Dichtung hauptsächlich im Inhaltlichen, bei der Musik an den Stellen, die vom Hörer mehr oder weniger mit besonderer Erregtheit oder Aufmerksamkeit aufzunehmen sind. Nach meinen gestaltpsychologischen Erhebungen, die ich 1998 in verschiedenen Städten und Universitäten durchführte, hatten beim Anblick eines Test-Blattes, auf dem Punkte zu sehen waren, die in allmählichem Übergang dicht und locker verteilt waren, etwa 95 Prozent der Versuchspersonen eine Bewegungsvorstellung (nach den Erhebungen von Jürgen Weber waren es etwa 97 Prozent), mal von den dichten zu den lockeren Partien und – etwas seltener – umgekehrt. Bewegung und Leben sind unlösbar verknüpft miteinander und hier wird der Lebens-Prozess des Sehens angesprochen! In jedem Kulturkreis empfinden die Menschen den Sternenhimmel als schön, nicht wahr? Und dieser Nachthimmel ist ‚vom Objekt her‘ ganz auf Systole – Diastole angelegt.

30_ Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke; Zürich und München, 1977; Band 3; S. 290.

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Abb. 15: Wildbach

Oder die Überschneidungen, welche stets die uns umgebende dritte Dimension steigern, tun dies auch für die Augen z. B. der Chinesen (was deren großartige Landschaftsbilder beweisen), und sie tun das sowohl für ganz arme, wie auch für ganz reiche, für verliebte und auch ganz nüchterne Menschen. Oder bei der untergehenden Sonne berührt die goldene Einheit durch die Strahlen so gut wie alle Erdenbürger. Und auch eine Mode wird es immer und überall geben. So kann sich eine ganzheitliche Ästhetik nur mit etlichen festen Kriterien und aus einer subjektiven und objektiven Seite zusammensetzen. Zum Abschluss unserer zentralen Frage möchte ich kurz von einem Erlebnis als Wahrnehmungsforscher auf einer Hochgebirgs-Wanderung berichten. Der Frage nämlich, ob – und wenn ja welche – Beschaffenheit eines Seh-Objektes zu einer mindestens bejahenden Wahrnehmung drängt. Ich fand gleich mehrere ‚Gesichts-Punkte‘, von denen ich hier drei ausgewählt habe. Als ich mich vor etwa zwei Jahren an einem schäumenden, steil herab stürzenden Wildbach (Abbildung 15) neben einem schmalen Holzsteg betrachtend niederließ, also dort, wo man solchem Wasser besonders nahe ist, kam eine Bergsteiger-Gruppe, blieb stehen und sah lange dahinein. Bald kamen weitere Bergwanderer und blieben ebenso fasziniert stehen. Nach einiger Zeit wieder ein Wanderer-Paar, das sich nicht losreißen konnte. So ging das weiter. Und das, obwohl man sonst an Wegen einen Ausruhenden wie mich gern in Ruhe lässt und weitergeht. Dieses herabstürzende, dynamische Wasser war also ein Augenmagnet – anscheinend für alle. Ich glaube mittlerweile, dass fast jeder Mensch von solch einem Naturschauspiel angezogen wird, natürlich mal mehr, mal weniger. Warum also bei diesem Anblick solche positive Wahrnehmung?

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Erstens: Wir erleben den Widerstand, den überall durch Steine und Baumstämme deutlichen Widerstand gegen eine Bewegung. Denken wir uns das Ganze einmal ohne Widerstände, d. h. einen ruhig dahin strömenden Fluss: Da könnten wir ohne weiteres einzelne Blasen oder Wasserteilchen mit den Augen verfolgen, aber hier am Wildbach erfordert das eine gewisse Anstrengung. Und wie wir schon sahen, schafft diese größere Aktivität beim Wahrnehmen auch ein größeres ‚Lustgefühl‘! Zweitens: Wir können dieses Schauspiel wahrnehmungspsychologisch hinsichtlich unseres Palintropos Harmonia-Effektes untersuchen: Noch wesentlich kräftiger als bei den erwähnten alten Ziegelwänden stehen hier im Wildbach gegenüber: a die Uniformität der kontinuierlich rauschenden Wasserbewegung, und b die Individualität der meist recht barocken Einzelformen, also Bündel des Spritzens, Fächer des Stürzens, schäumende Buckel usw. Und hier erscheint uns dieses a) und b) nicht statisch getrennt nebeneinander wie bei der Ziegelwand, sondern ständig fließend und doch stets diesem Gegensatzpaar treu bleibend. Drittens: Blicken wir nun einmal auf die Bewegung des gesamten Wassers: Wenn sich nun direkt nach diesem Spritzen und Schäumen ein kleiner, glatter Teich ergibt oder eine Stelle, wo das Wasser verbleibt, ruht oder sich höchstens leicht blubbernd im Kreise dreht, dann nehmen wir unbewusst Systole – Diastole wahr, ein Kontrast-Paar, das, wie wir schon sahen, so unendlich wichtig für jegliche Gestaltung ist – und für jegliche Schönheit: im vehementen Spritzen ein pustendes Ausatmen, eine Erweiterung – und im anschließenden konzentrierenden ‚Gurgeln‘ und Bewahren eine Verdichtung. Bei den Stichworten ‚Konzentrieren‘ und ‚Bewahren‘ möchte ich zum Ende kommen und Ihnen im besprochenen Sinne wünschen, dass Ihre persönliche Konzentrationsfähigkeit wächst und dass Sie das soeben Gelesene bewahren, indem Sie es kritisch weiter verarbeiten.

Anmerkung: Kleinere Textabschnitte und einige Abbildungsvorlagen stammen aus Axel Seylers Buch Wahrnehmen und Falschnehmen. Praxis der Gestaltpsychologie. Formkriterien für Architekten, Designer und Kunstpädagogen. Hilfen für den Umgang mit Kunst. Anabas Verlag; Frankfurt am Main, 2003. ISBN: 978–3–87038–354–1. 149

150

151

152

Warum hat es moderne Architektur so schwer?

Peter G. Richter

Diese Frage war vor mehreren Jahren die Überschrift eines Zeitungsartikels. In einem kurzen Text versuchte ein Dresdner Architekt, die oben gestellte Frage zu beantworten. Allerdings mit wenig Erfolg. Das lag unter anderem daran, dass er nicht genau definierte, was mit ‚moderner Architektur‘ gemeint war. Beim Lesen des Artikels wurde rasch klar, ihm ging es um eine bestimmte zeitgenössische Architektur, nämlich neue, ungewöhnliche und spektakuläre.1 Das Folgende fokussiert ebenfalls auf Architektur mit diesen Eigenschaften. Ziel ist es, exemplarisch zu erklären, dass es besonders Bauten mit diesen Eigenschaften schwer haben, akzeptiert zu werden. Wenn man beim Bauen jedoch psychologische Erkenntnisse beachtet, kann man derartige Schwierigkeiten vermeiden. Allgemein geht es darum, aus Perspektive der Architekturpsychologie aufzuzeigen, wie Erfahrungen und Wissen die Wahrnehmung von Baumaterialien und Gebäuden beeinflussen.

Einführung Architekturpsychologie kann – ähnlich wie andere Teildisziplinen der Psychologie – als Lehre vom Erleben und Verhalten des Menschen in gebauten Umwelten definiert werden. Ziel ist es, menschliches Erleben und Verhalten in diesem Kontext zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen und zu verändern.2

1_ Um die Anonymität des Dresdner Architekten zu wahren, wird hier weder der konkrete Artikel noch der Name genannt. Dem Autoren geht es vor allem darum herauszustellen, dass der Titel seines Kapitels Warum hat

es moderne Architektur so schwer? in dieser Formulierung nicht von ihm selbst stammt. 2_ Siehe hierzu auch: Flade, Antje: Architektur psychologisch betrachtet; Bern, 2008. (im Folgenden zit. als Flade: Architektur; 2008) und Richter, Peter G.: Architekturpsychologie – Eine Einführung; Berlin, 2013. (im Folgenden zit. als Richter: Architekturpsychologie; 2013).

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Für das hier behandelte Themenfeld sind Einstellungen und Urteile von besonderer Bedeutung. Sie können das Erleben und Verhalten des Menschen nachhaltig beeinflussen. Der Mensch nimmt in der Regel ganzheitlich Stellung zu Personen und Objekten, das heißt sowohl affektiv/emotional als auch kognitiv/rational sowie behavioral/verhaltensseitig. Mit anderen Worten, Menschen fühlen sich in Gebäuden und auf Plätzen wohl oder unwohl, sie schätzen diese positiv oder negativ ein, suchen Bauten auf oder meiden sie. Viele Einstellungen sind teilbewusst oder unbewusst und dabei sehr stabil. Das ist besonders bei den frühzeitig und/oder durch implizite Lernprozesse erworbenen Stereotypen der Fall. Unterschiedliche Einstellungen und (Vor-)Urteile sind häufig für Konflikte zwischen Architekten und Laien verantwortlich. Zwei Beispiele zeitgenössischer Architektur sollen das illustrieren: Gegen das Einfamilienhaus in Abbildung 1 liefen die Nachbarn laut einem Bericht des Wirtschaftsmagazins brand eins im Jahr 2004 Sturm.3 Es wurde ein vorübergehender Baustopp ausgesprochen. Der Architekt wurde während der Phase des Rohbaus von Passanten unter anderem als „Betonsau“ tituliert. Unter der Überschrift Wie hässlich darf eine Wand sein? wurde 2013 in der Sächsischen Zeitung berichtet, dass Anwohner um eine ästhetisch anspruchsvolle Umgestaltung der Teilfassade eines neu errichteten Konzertsaales bitten (Abbildung 2).4

Im Folgenden soll auf wissenschaftlicher Basis drei Fragestellungen nachgegangen werden: 1 Sind diese Differenzen auch in systematischen Untersuchungen nachzuweisen, die den üblichen methodischen Standards entsprechen? 2 Wo liegen die Quellen von derartigen Einstellungsunterschieden? 3 Welche Ansätze zur Verringerung solcher Diskrepanzen existieren? Die Architekturpsychologie verfügt über zahlreiche methodische Ansätze und Verfahren zur Messung von Einstellungen und deren Konsequenzen (Tabelle 1). Diese können sowohl bei der Planung als auch bei der Bewertung von Architektur eingesetzt werden.

3_ Ramge, Th.: Wider das Jodel-Haus; in: brand eins, Nr. 07/2004; S. 111–115. 4_ In: Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden vom 05.02.2013.

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Abb. 1: Einfamilienhaus 9x9, Augsburg, Architekt: Titus Bernhard Abb. 2: Teilfassade Musikhochschule Dresden, Achitekten: Markus Hammes und Nils Krause

Erleben von Umwelten Fragebögen Checklisten Semantisches Differential … Verhaltenskartographie behavioral mapping Mobilitätsmatritzen Analyse Nutzungsspuren … Einrichtungs- und Ausstattungsanalysen Möblierungsstudien Modellbau/Simulation …

Tab. 1 Übersicht über Methoden der Architekturpsychologie5

Abb. 3: ARD-Zentrale Berlin, Architekten: Ortner & Ortner

5_ Siehe hierzu auch: Flade: Architektur; 2008. und Walden, Rotraud: Architekturpsychologie: Schule, Hoch-

schule und Bürogebäude der Zukunft; Lengerich, 2008. (im Folgenden zit. als Walden: Schule; 2008). Diese Tabelle ist ein Auszug aus Richter: Architekturpsychologie; 2013; S. 391.

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Experte

4 3 2 1

Abb. 4: Beurteilung von Sichtbeton

Mittelwert

5

Laie

schön befreiend angenehm edel vielfältig einladend anregend interessant heiter natürlich fein gemütlich individuell warm komplex nüchtern kreativ organisch unverfälscht gepflegt neuartig leicht ungewöhnlich

auf einer fünfstufigen Skala, höhere Werte = positiveres Urteil, die markierten Differenzen sind statistisch

Variablen (positiver Pol)

hoch signifikant, p in 5 Lebensphasen > Überwiegende Lebensumwelten Wohnwelt (W) Ausbildungs-/Arbeitswelt (A) > subjektiv erlebte Künstlichkeit Persönlichkeitsmerkmale (Big Five): MRS 2016 Extraversion Verträglichkeit Gewissenhaftigkeit Emotionale Stabilität Kultur/Offenheit für Erfahrungen Deutsche Version Aktuelle Stimmung: PANAS17 „positive Affektivität (PA)“, „negative Affektivität (NA)“ Demographische Variablen: Geschlecht, Alter, Herkunftsland, Berufsausbildung, Studiengang und Semester, Hobbys

Tab. 2: Erhebungsinstrumente der Untersuchung nach Nüchterlein, 2005

15_ Flury: Lerneinflüsse; 1992. 16_ Schallberger, U. / Venetz, M.: Kurzversion des MRS-Inventars von Ostendorf (1990) zur Erfassung der fünf

„großen“ Persönlichkeitsfaktoren; in: Berichte aus der Abteilung Angewandte Psychologie, Nr. 30, 1999; Psychologisches Institut der Universität Zürich. 17_ Krohne, H. W. / Egloff, B. / Kohlmann, C. / Tausch, A.: Untersuchungen mit einer deutschen Version der Posi-

tive and Negative Affect Schedule (PANAS); in: Diagnostica, Nr. 42(2), 1996; S. 139–156.

159

2,2

3,8

2,1

3,4

0

Vertrautheitsurteile in

p