Alkohol- und Drogenabhängigkeit: Konzepte und Therapie [1 ed.] 9783896448040, 9783896730343

Die Zahl der Heroin-, Kokain- und Ecstasy-Abhängigen wird immer größer und die der Alkoholiker übersteigt diese um ein V

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Alkohol- und Drogenabhängigkeit: Konzepte und Therapie [1 ed.]
 9783896448040, 9783896730343

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H

Peter Hartwich ♦ Steffen Haas Konrad Maurer ♦ Burkhard Pflug (Hrsg.)

Alkohol- und Drogenabhängigkeit

Konzepte und Therapie

Mit Beiträgen von: A. Batra, E. Biniek, B. Croissant, R. Demmel, G. Deutschle, M. Grube, S. Haas, P. Hartwich, M. Hautzinger, W. Köhler, B. Lörch, K. Mann, J. Messer, R. Olbrich, B. Pflug, F. Rist, S. Schlegel, K. Schott, H. Wetzel

Verlag Wissenschaft & Praxis

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Alkohol- und Drogenabhängigkeit: Konzepte und Therapie : hrsg. von P. Hartwich ... Mit Beiträgen von: A. Batra ... - Sternenfels ; Berlin : Verl. Wiss, und Praxis, 1998 ISBN 3-89673-034-7 NE: Hartwich, Peter [Hrsg.]; Batra, Anil [Mitverfasser];

ISBN 3-89673-034-7

© Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 1998 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

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Printed in Germany

Inhalt Autoren.................................................................................................................... 8 Einführung...............................................................................................................10

Peter Hartwich Suchtkrankheiten: Probleme und Konzepte........................................................11

1. Psychodynamik.............................................................................................. 13 2. Lerntheoretischer Aspekt............................................................................... 15 3. Biologische Grundlagen................................................................................ 15 Noch ein Wort zur Behandlung......................................................................... 16 Literatur................................................................................................................1 7 Anil Batra ♦ Klaus Schott ♦ Karl Mann Biologische Aspekte abhängigen Verhaltens........................................................19

Welche Ursachen liegen einer Substanzabhängigkeit zugrunde?...............19 Epidemiologische Hinweise auf biologische Faktoren................................ 20 Comorbidität mit psychiatrischen Erkrankungen..........................................21 Die Sucht im Tiermodell................................................................................ 21 Befunde auf Transmitterebene.......................................................................22 Biochemische Störungen............................................................................... 23 Das HLA-System............................................................................................. 23 Psychoimmunologische Befunde bei Alkoholabhängigen.......................... 24 Diskussion............................................................................................................25 Tabellen...............................................................................................................26 Literatur................................................................................................................28

1. 2. 3. 4. 5.

Robert Olbrich ♦ Bernhard Croissant ♦ Ralf Demmel ♦ Fred Rist Alkoholsucht und Disposition: Psychisch unauffällige Risikopersonen aus suchtkranken Familien in Alkoholexpositionsstudien................................... 31

Einleitung............................................................................................................. 31 Literaturberichte...................................................................................................31 Die eigene Untersuchung................................................................................... 33 Methoden......................................................................................................... 33 Probanden.....................................................................................................33 Experimentalanordnung.............................................................................. 33 Ergebnisse......................................................................................................... 34 5

Herzraten......................................................................................................34 Elektrodermale Aktivität.............................................................................. 35 Cortisol......................................................................................................... 35 Diskussion............................................................................................................ 36 Zusammenfassung............................................................................................... 37 Literatur.................................................................................................................38 Bernd Lörch ♦ Sabine Schlegel ♦ Martin Hautzinger ♦ Hermann Wetzel

Neuere verhaltenstherapeutische Behandlungsansätze bei Alkoholabhängigen...........................................................................................43 Einführung............................................................................................................ 43 Wirksamkeit der Therapie von Alkoholabhängigkeit: Aktueller Forschungsstand.................................................................................. 44 Verhaltenstherapeutische Methoden der Behandlung von Alkoholabhängigkeit.................................................................................... 46 Craving und Cue-Exposure................................................................................. 48 Empirischer Hintergrund.................................................................................... 49 Durchführung von Cue-Exposure........................................................................50 Perspektiven......................................................................................................... 52 Literatur.................................................................................................................53

Michael Grube Motivationsprogramme bei Alkohol- und Drogenabhängigkeit......................... 55

1. Psychodynamische Grundlagen..................................................................... 55 2. Zur Frage der Entgiftungs- bzw. Therapiemotivation.................................... 60 3. Übersicht über die Behandlungsfälle und denBehandlungserfolg............. 63 Welche Patienten waren nicht zur Teilnahme am Motivationsprogramm zu motivieren?............................................................64 1. Kurzaufnahmen........................................................................................64 2. Substituierte............................................................................................. 65 Welche Patienten aus dem Motivationsprogramm traten keine suchtspezifische Folgetherapie an?...................................................... 65 1. Depressive............................................................................................... 65 2. Verhalten im Sinne sozialer Erwünschtheit........................................... 65 3. Sich selbst Überschätzende.................................................................... 65 Literatur.................................................................................................................67

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Wilfried K. Köhler ♦ Burkhard Pflug Erfahrungen in der stationären Behandlung von Opiatabhängigen...................71

Stationskonzept....................................................................................................73 Patientenstruktur von Juni 1995 bis Oktober 1996...................................... 75 Soziographische Daten................................................................................... 78 Gebrauchsmuster hinsichtlich Suchtstoffklassen.......................................... 79 Schlußbetrachtung............................................................................................... 81

Joachim Messer Erfahrungen in der ambulanten Betreuung von Drogenabhängigen................. 83 Bereich Rehabilitation.........................................................................................83 Modellprojekt „Therapie auf dem Bauernhof"...............................................83 Schuldnerberatung...........................................................................................84 Ambulante Rehabilitation............................................................................... 84 Drogennotfallprojekt........................................................................................84 Arbeitsprojekte................................................................................................. 85 Überlebenshilfe................................................................................................... 85 Methadongestützte Behandlung..................................................................... 85 Spritzentausch................................................................................................. 88 Notschlafbetten................................................................................................ 88 Fazit...................................................................................................................88 Gabriela Deutschle ♦ Steffen Haas

Die Behandlung alkoholtoxischer Folgezustände................................................89

Korsakow-Syndrom.............................................................................................. 91 Was können wir tun?...........................................................................................94 1. Spontane Erholung der Gedächtnisdefizite...............................................95 2. Therapeutische Wiederherstellung.............................................................95 3. Kompensation defizitärer Funktionen....................................................... 96 Fallbeispiel....................................................................................................99 Literatur...............................................................................................................100 Eberhard Biniek Gottfried Benns „Statuen" - Ein Bollwerk gegen die „Sucht" ?....................... 101

Was wissen wir über die Beziehungen Gottfried Benns zu Drogen ?........... 101 Was bedeutet dies?...........................................................................................113 Literatur...............................................................................................................117

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Autoren Batra, Anil, Dr. med., Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Osianderstraße 24, 72076 Tübingen

Biniek, Eberhard, Prof. Dr. med., Ärztlicher Direktor des Waldkrankenhauses Köppern, Emil-Sioli-Weg 1 -3, 61381 Friedrichsdorf-Köppern Croissant, Bernhard, Dr. med., Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Post­ fach 122120, 68072 Mannheim

Demmel, Ralf, Dipl.-Psych., Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Postfach 122120, 68072 Mannheim Deutschle, Gabriela, Dipl.-Psych., Psychiatrisches Krankenhaus Eichberg, Klo­ sterstraße 4, 65346 Eltville a. Rh.

Grube, Michael, Dr. med., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychothera­ pie, Städt. Kliniken, Gotenstraße 6-8, 65907 Frankfurt a. M.-Höchst Haas, Steffen, Dr. med., Ärztlicher Direktor des Psychiatrischen Krankenhauses Eichberg, Klosterstraße 4, 65346 Eltville a. Rh. Hartwich, Peter, Prof. Dr. med., Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psycho­ therapie, Städt. Kliniken, Gotenstraße 6 - 8, 65907 Frankfurt a. M.-Höchst Hautzinger, Martin, Prof. Dr. phiI., Psychologisches Institut, Universität Tübin­ gen, Reutlinger Straße 12, 72072 Tübingen Köhler, Wilfried, Dr. phil. nat., Chefarzt der Abteilung für Abhängigkeitser­ krankungen und Konsiliarpsychiatrie, Bürgerhospital Frankfurt a. M., Nibelun­ genallee 38-41, 60318 Frankfurt a. M.

Lörch, Bernd, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychiatrische Klinik und Poliklinik der Universität Mainz, Untere Zahlbachstraße 8, 55131 Mainz

Mann, Karl, Prof. Dr. med., Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychothera­ pie, Osianderstraße 24, 72076 Tübingen Messer, Joachim, Dipl.-Psych., Leiter der Jugend- und Drogenberatungsstelle am Merianplatz, Drogenhilfeverbund, Musikantenweg 39, 60316 Frankfurt a. M. Olbrich, Robert, Prof. Dr. med., Dr. phil., Zentralinstitut für Seelische Gesund­ heit, Postfach 122120, 68072 Mannheim

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Pflug, Burkhard, Prof. Dr. med., Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psycho­ therapie II des Zentrums der Psychiatrie, Klinikum der Universität Frankfurt a. M., Heinrich-Hoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt a. M. Rist, Fred, Prof. Dr. rer. soc., Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Postfach 122120, 68072 Mannheim Schlegel, Sabine, Priv.-Doz. Dr. med., Chefärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, St. Markus Krankenhaus, Wilhelm-Epstein-Straße 2, 60431 Frankfurt a. M. Schott, Klaus, Dr. med., Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Osianderstraße 24, 72076 Tübingen

Wetzel, Hermann, Dr. med., Psychiatrische Klinik und Poliklinik der Universität Mainz, Untere Zahlbachstraße 8, 55131 Mainz

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Einführung Das Problem der Sucht und Abhängigkeit hat sich stark ausgebreitet und stellt uns insbesondere in unseren Großstädten vor neue Aufgaben. Diesen müssen wir uns stellen und unsere Konzepte des Verständnisses sowie der Behandlung der Alkohol- und Drogenabhängigkeit neu formulieren.

Den Veranstaltern der jährlichen Frankfurter Psychiatrie-Symposien (S. Haas, P. Hartwich, K. Maurer und B. Pflug) war es eine Herausforderung, namhafte Fach­ leute aus Wissenschaft und Praxis zusammenzubringen, um wesentliche Aspek­ te des heutigen modernen Standes auf diesem Gebiet zusammenzutragen und zu diskutieren. Biologische und genetische Grundlagen sowie Motivationspro­ gramme, neue verhaltenstherapeutische Strategien und Erfahrungen mit stationä­ ren und ambulanten Drogenabhängigen werden dabei berücksichtigt.

Peter Hartwich

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Peter Hartwich

Suchtkrankheiten: Probleme und Konzepte Wir beschränken uns auf Sucht und Abhängigkeit der Betroffenen von Substan­ zen, insbesondere Drogen und Alkohol. Die sprachliche Wurzel des Begriffes „Sucht" hängt mit „siech" zusammen und bedeutet krank. In den letzten Jahren steht in der Öffentlichkeit überwiegend die Sorge um die Drogensucht im Vordergrund mit den damit verbundenen gesellschaftlichen, kriminellen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Aspekten.

Die harten Drogen haben uns dabei die meisten Probleme bereitet. Allerdings sollte dabei nicht vergessen werden, daß es laut Schätzung der Einrichtungen zur Bekämpfung von Suchtgefahren in Deutschland ca. 2,5 Millionen Alkohol­ abhängige gibt (siehe Sass). Das ist eine hohe Zahl von Betroffenen gegenüber der Schätzung von ca. 1 Million Medikamenten- und Drogensüchtigen. Von diesen werden offiziell etwa 800.000 als Medikamentensüchtige und 100.000 als Drogensüchtige eingestuft; hier besteht jedoch eine große Überlappung von Beigebrauch diverser Substanzen. Ferner ist zusätzlich von einer hohen Dunkel­ ziffer auszugehen. Bei der Betrachtung von Alkohol, Medikamenten und harten Drogen wie Hero­ in, Kokain und Ecstasy haben wir heute eine Verschiebung im Gebrauch der Suchtmittel zu verzeichnen. Die Heroinwelle scheint etwas abzuebben, dafür wird mehr Ecstasy konsumiert, welches häufig mit Cannabis und Kokain sowie Speed kombiniert wird.

Die Wandlung des Drogenmarktes bringt es mit sich, daß wir uns immer wieder neu einstellen und umstellen müssen: Haben wir nämlich gerade Modelle in der Behandlung und Versorgung von Heroinabhängigen entwickelt und in die Pra­ xis umgesetzt, kommen schon wieder neue Suchtmittel auf den Markt, die uns herausfordern, gemeinsam neue Versorgungs- und Behandlungsstrategien zu entwickeln. Aus der Erfahrung des Klinikers - wir sehen ca. 400 stationäre Süchtige pro Jahr in unserer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Frankfurt, sei aus all den vielen Komponenten, die das Süchtigsein ausmachen, eine besonders herausge­ stellt, und zwar diejenige des übermächtigen Verlangens.

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Hartwich

Einer unserer Patienten hat versucht, den Suchtdruck, das gierige Verlangen, den Zwang, das Nichtanderskönnen, bildnerisch darzustellen, als sein achter statio­ närer Entzug gerade wieder durchgeführt werden mußte. Es ist ein psychophysi­ scher Drang- und Zwangszustand, in den sich ein Nicht-Suchtkranker letztlich nicht einfühlen kann.

• gieriges Verlangen •

Nichtanderskönnen

• Suchtdruck • hemmungsloser unbezwingbarer Drang, ohne Rücksicht auf Folgen

• Craving

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Suchtkrankheiten: Probleme

und

Konzepte

Die hemmungslose unbezwingbare Gier ohne Rücksicht auf Folgen, die heute in der Literatur mit dem Begriff „Craving" belegt wird, ist die Grundvorausset­ zung für die vielen Rückfälle, die Probleme der Beschaffung und deren Folgen sowie für die Persönlichkeitsveränderungen. Die Süchtigen entwickeln geschickt spezielle Kommunikationsstile: Die Helfer laufen Gefahr, immer wieder instru­ mentalisiert und in ihrer gutgemeinten und unbewußten Gegenübertragung in den Dienst des süchtigen Verhaltens manipuliert zu werden. Jeder Rückfall ent­ wertet nicht nur das Selbstgefühl der Süchtigen, sondern auch den Helfer und auch dieser muß immer wieder damit fertig werden.

Spezieller Kommunikationsstil



Instrumentalisierung des Helfers

• Idealisierung und Entwertung

Das eben angesprochene komplexe Phänomen oder, konkreter formuliert, Kern­ erleben eines suchtkranken Menschen soll in drei Hauptbereichen näher be­ schrieben werden, wobei die entsprechenden Konzepte der jeweiligen Thera­ pieansätze zur Diskussion kommen.

1. Psychodynamik Aus dem Blickwinkel der inneren Psychodynamik bedient sich der Süchtige nach Feuerlein sowie Rado (letzterer zitiert bei Lürssen) eines „pharmako­ toxischen Orgasmus" aus der Dose, zumindest anfangs. Er verbleibt dabei re­ gressiv in frühkindlicher Oralität, er meidet die Realität und geht in eine Welt magischer Wunscherfüllung mit Größe und Unverletzbarkeit.

Psychodynamik

• Regression, frühkindliche Oralität • Welt magischer Wunscherfüllung

• Größe und Allmacht

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Hartwich

Beim Nachlassen der Wirkung treten Schuldgefühle und Gewissensbisse auf. Aufgrund der geringen Frustrationstoleranz werden diese Erlebnisse so unerträg­ lich, daß der Betroffene wiederum zum Suchtmittel greift; dieses wirkt auf alle drei psychischen Instanzen.

Instanzen

ES:

Triebdurchbrüche

ICH:

Aufblähung

ÜBER-ICH:

Auflösung

1. Im ES werden dieTriebimpulse mobilisiert, es kommt zu Triebdurchbrüchen.

2. Das ICH wird aufgebläht und 3. Das ÜBER-ICH wird außer Kraft gesetzt, Fenichel drückte es so aus: „Das Über-Ich ist der im Alkohol lösliche Teil unserer Seele". Kohut geht auf ursächliche Aspekte ein und sieht bei dem Süchtigen eine frühkindlich angelegte Schwäche im Kern seiner Persön­ lichkeit als Folge eines Defektes im Selbst. Danach nehme der Süchtige die Droge, um diesen zentralen Defekt auszugleichen (Selbstdefekt-Füller). Die psychodynamische Betrachtung hilft uns, süchtiges Verhalten und Erleben besser zu verstehen und unsere therapeutische Haltung und Gegenübertragung danach einzurichten. Sie läßt jedoch die differenzierte Betrachtung der Sub­ stanzkomponente vermissen. Hierbei ist hervorzuheben, daß das Mißbrauchs­ potential bei den einzelnen Stoffgruppen recht unterschiedlich sein kann.

Mißbrauchspotential

Die Stärke einer chemischen Substanz, eine Sucht herbeizuführen.

Damit ist gemeint, daß beispielsweise Heroin ein sehr viel höheres Miß­ brauchspotential hat als z. B. Alkohol. In der Substanz, die als Droge verwendet wird, liegt selbst eine zusätzliche Komponente, die das Süchtigwerden und die Stärke einer Sucht bestimmt.

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Suchtkrankheiten: Probleme und Konzepte

2. Lerntheoretischer Aspekt Hinsichtlich des gierigen und nicht oder kaum beherrschbaren Verlangens exi­ stieren eine ganze Reihe von Modellen mit lerntheoretischem Hintergrund. So betont z. B. Wikler, daß beim Rückfall ein kognitives Korrelat zwischen klas­ sisch konditionierten Entzugssymptomen und operant konditioniertem Verhal­ tensmuster der Drogenbeschaffung und Selbstverabreichung besteht. Die hierbei wesentlichen kognitiven Bedingungen werden derzeit z. B. von Kampe und Mitarbeitern stärker herausgearbeitet.

Die aus lerntheoretischen Modellen abgeleiteten verhaltenstherapeutischen Be­ handlungsverfahren sind vielfältig: Eines der ältesten ist die Aversionstherapie, diese erfolgte beispielsweise mit Brechmitteln oder elektrischen Schlägen in zeitlich optimaler Beziehung zwi­ schen konditionierten und unkonditionierten Reizen. Später sind aversive Vor­ stellungen mit verbaler Konditionierung verbunden worden. Sie lassen sich in­ tensivieren, indem beispielsweise audiovisuelle Konfrontation von selbst durch­ gemachten Delirien oder Entzügen angeboten wurde. Bei dem Verfahren der Desensibilisierung werden die dem Trinkverhalten zugrunde liegenden Angstund Streßstimuli mittels Entspannungsverfahren desensibilisiert. In den kogniti­ ven Therapien geht es um die Entwicklung neuer Bewertungsmuster, die modi­ fiziert und eingeübt werden.

3. Biologische Grundlagen Bei der Erforschung biologischer Grundlagen geht es um die Fragen, was sich auf molekularer, zellulärer und systemischer Ebene der ZNS-Strukturen abspielt. In einer vermuteten multifaktoriellen Genese werden psychosoziale und geneti­ sche Aspekte zusammengesetzt. Auf biochemischer Ebene spricht man von Sensitisierung. Damit ist die gestei­ gerte Ansprechbarkeit des dopaminergen mesolimbischen Belohnungssystems auf die Wirkung von Suchtmitteln gemeint (Schmidt). Im Gefolge steht die Bah­ nung der „Antizipations- und Bewertungsvorgänge alkohol- und drogenbezoge­ ner Schlüsselreize" (Schmidt), die das nach sich ziehen, was heute unter den Begriff des Craving fällt. Eine weitere biologische Komponente ist die vermutete Veränderung genomischer Programme. Schmidt vermutet, daß sie zum moleku­ laren Korrelat dessen beitragen könnten, was heute als „Suchtgedächtnis" formu­ liert wird. Diesem Suchtgedächtnis wird eine hohe Stabilität nachgesagt. Es wird sogar angenommen, daß es kaum oder keinen Löschungsvorgängen unterworfen sei. Weiterhin sind die hirnorganischen Folgeerscheinungen Suchtkranker zu

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Hartwich

berücksichtigen, seien es Korsakow-Syndrome, alkoholbedingte Demenzen oder bei i. v.-Drogensüchtigen zerebrale Manifestationen der HIV-lnfektionen. Die Ebenen: psychodynamisch, sozial, lerntheoretisch und biologisch sind unter­ schiedliche Facetten eines Ganzen. Hinzu kommt die Chemie des Suchtmittels mit der innewohnenden, jeweils unterschiedlichen Kraft des Mißbrauchpotenti­ als. Die genannten Aspekte sind Hauptkomponenten eines Ursachengefüges, in welchem sie in Wechselwirkung miteinander stehen.

Noch ein Wort zur Behandlung In der Behandlung spielen die psychodynamischen Aspekte incl. der sozialen Faktoren, die hirnorganischen Anteile sowie die verhaltenstherapeutischen und biologischen Komponenten, zu denen die sogenannten Anticraving-Substanzen und die Methadon-Programme gehören, eine wichtige Rolle. Gemäß unseren Betrachtungen der komplexen Verursachung spricht vieles dafür, daß auch die Behandlung immer aus mehreren Komponenten zusammengesetzt sein sollte. Psychodynamische, soziale und verhaltenstherapeutische Vorgehensweisen müssen wesentlich weiterentwickelt werden. Die biologische Forschung ist hier erst am Anfang und in Aufbruchstimmung. Ein weiterer Forschungszweig könnte sich zudem der Frage widmen, welche protektiven Faktoren auf den genannten Ebenen vor einer Suchtentwicklung schützen.

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Suchtkrankheiten: Probleme

und

Konzepte

Literatur Fenichel, O. (1975): Psychoanalytische Neurosenlehre. Walter, Olten-Freiburg

Feuerlein, W. (1980): Psychologische Theorien von Sucht und Abhängigkeit. In: Peters, U.-H. (Hrsg.) Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Bd. 10. Kindler, Zürich Feuerlein, W. (1987): Definition und Diagnose der Suchtkrankheiten. In: Psychiatrie der Ge­ genwart (Kisker, K. P. et al. Hrsg.). Springer, Berlin - Heidelberg - New York Kampe, H., Kunz, D., Overbeck-Larisch, M., Steier, M., Schuchmann, M. (1996): Über das Drogenverlangen bei Drogenabhängigen. Z. Sucht 42, 5, 331 - 350

Kohut, H. (1973): Narzißmus. Frankfurt/M., Suhrkamp Lürssen, E. (1976): Das Suchtproblem in neuerer psychoanalytischer Sicht. In: Eicke, D. (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Bd. 2. Kindler, Zürich Sass, H. (1996): Sucht, Alkoholismus: Moderne Konzepte. Z. Psycho 22, 6, 395 Sass, H., Mann, K., Soyka, M. (1996): Medikamentöse Unterstützung der Rückfallprophylaxe bei alkoholkranken Patienten mit Acamprosat - Ergebnisse einer doppelblinden, randomisierten, placebokontrollierten Studie. Z. Sucht 42, 5, 316 - 322 Schmidt, L. G. (1996): Neurobiologische Mechanismen bei Suchterkrankungen. Z. Psycho 22, 6, 402 - 407

Wikler, A. (1983): Theorie der klassischen und operanten Konditionierung der Opiatabhän­ gigkeit. In: Lettieri, D. J., Welz, R. (Hrsg.) Drogenabhängigkeit - Ursachen und Ver­ laufsformen. Beltz, Weinheim - Basel Wurmser, L. (1972): Drug abuse: Nemesis of Psychiatry. Int. J. Psychiat. 10, 94 - 107

Wurmser, L. (1983): Drogengebrauch als Abwehrmechanismus. In: Lettieri, D. J., Welz, R. (Hrsg.) Drogenabhängigkeit - Ursachen und Verlaufsformen. Beltz, Weinheim - Basel

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Anil Batra ♦ Klaus Schott ♦ Karl Mann

Biologische Aspekte abhängigen Verhaltens 1. Welche Ursachen liegen einer Substanzabhängigkeit zugrunde? Abhängiges Verhalten bezeichnet ein begierdemäßiges, zwanghaftes Verhalten, dem das Merkmal der freien Entscheidungsmöglichkeit weitgehend fehlt. Ab­ hängiges Verhalten ist auch ohne einen Konsum chemischer Substanzen mög­ lich, das „Abhängigkeitssyndrom" hingegen bezeichnet nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10, Kapitel V (Fix.2) die körperliche und/oder psychische Abhängigkeit von psychotrop wirksamen Substanzen. Not­ wendiges Kriterium für die Diagnose einer Abhängigkeit ist der Reversibilitäts­ verlust der Vorliebe für eine psychotrope Substanz sowie die Minderung der Kontrolle über den Substanzkonsum.

Die Ursachen abhängigen Verhaltens sind noch lange nicht geklärt - bei der Be­ trachtung biologischer Faktoren, die eine Abhängigkeitsentwicklung fördern können, verstellen körperliche oder psychische Epiphänomene oder Folgeschä­ den, die im Verlauf einer Suchterkrankung auftreten können, oftmals den Blick auf ursächliche, suchtauslösende und suchtfördernde Determinanten. Vorausgeschickt werden soll, daß jeder der Begriffe der „sozialen", „psychi­ schen" und „physischen Prädisposition" stellvertretend für zahlreiche Faktoren stehen, die interindividuell eine ganz unterschiedliche Bedeutung und Gewich­ tung für die Entwicklung einer Sucht haben können. So wenig von einer „Sucht­ persönlichkeit" oder der biologischen Ursache oder dem auslösenden Ereignis gesprochen werden kann, so sehr ist deutlich, daß oft nur das Zusammentreffen mehrerer Faktoren die Entwicklung einer Sucht begünstigen.

Nicht erst in den letzten Jahren wurden vor allem für die Entwicklung stoffge­ bundener Suchterkrankungen wie dem Alkoholismus, der Nikotinabhängigkeit oder der Abhängigkeit von Opiaten, Amphetaminen, Kokain oder Benzodiaze­ pinen Theorien zur Bedeutung der biologischen Determinanten formuliert. Die­ se Übersichtsarbeit konzentriert sich auf die Darstellung biologischer Aspekte bei der Entwicklung abhängigen Verhaltens. Im folgenden sollen als Illustration für die Vielfalt der Forschung auf diesem Gebiet Beispiele sowohl aus der Epi­ demiologie und der genetischen Forschung, als auch aus der Grundlagenfor­ schung am Tiermodell und der Psychoimmunologie gegeben werden. 19

Batra ♦ Schott ♦ Mann

2. Epidemiologische Hinweise auf biologische Faktoren In unserem klinischen Alltag erleben wir, daß Abhängigkeitserkrankungen in den Familien unserer Patienten gehäuft auftreten. Die erhöhte Wahrscheinlich­ keit für das Auftreten einer Sucht unter den nächsten Familienangehörigen ist gut untersucht und in der Literatur vielfach beschrieben (Schuckit 1994a). Auch bei einer klinikinternen Erhebung hatten 45 % von 369 unserer alkoholabhängi­ gen Patienten Eltern, Kinder oder Geschwister, die ebenfalls alkoholkrank wa­ ren. Unter Einbeziehung von Großeltern oder Tanten/Onkeln erhöhte sich der Anteil der familiär vorbelasteten Patienten auf über 54 %, statistisch signifikante Unterschiede zwischen Männern oder Frauen zeigten sich nicht (s. Tabelle 1). Neben diesem eindeutigen Hinweis auf eine familiäre Häufung zeigen Studien, daß das Erkrankungsrisiko vor allem bei einer Alkoholabhängigkeit des Vaters besonders erhöht ist. Cotton (1979) konnte in einer Erhebung zeigen, daß 27 % der Väter, jedoch lediglich 4,9 % der Mütter von Alkoholikern ebenfalls alko­ holkrank waren. Rückschlüsse auf mögliche psychische, soziale oder biologische Determinanten der Sucht gestatten diese Zahlen allerdings noch nicht. Erst umfangreiche epi­ demiologische Untersuchungen unter Zwillingspaaren oder adoptierten Kindern erhärten die Hypothese, dem Alkoholismus liege eine biologische, möglicher­ weise genetische Ursache zugrunde (Maier 1996). Adoptionsstudien untersu­ chen das Erkrankungsrisiko von Kindern alkoholkranker Eltern, die nicht bei ih­ ren biologischen Eltern, sondern bei Zieheltern ohne eine Suchterkrankung aufwuchsen. In einer Studie von Goodwin (1973) zeigten adoptierte Söhne al­ koholkranker Eltern weitaus häufiger Alkoholprobleme als Adoptivsöhne nicht alkoholkranker Eltern. Allerdings erkrankten die adoptierten Söhne alkoholkran­ ker Eltern auch häufiger als eine Vergleichspopulation von Männern, die bei den biologischen alkoholkranken Eltern aufgewachsen waren (25 vs. 10 %), so daß ein zusätzlicher, nicht biologischer Einfluß durch die Adoption angenommen werden muß. Das durch biologische Faktoren bedingte Erkrankungsrisiko scheint allerdings bedeutend höher zu sein als ein möglicher sozialer Stressor der Adoption. Eine Studie von Schuckit et al. (1972) konnte zeigen, daß in Familien mit einem Stiefelternteil die Prävalenz des Alkoholismus unter den Halbgeschwistern von Alkoholkranken die Alkoholismusbelastung durch die biologischen Eltern weit mehr Gewicht hat, als das der Zieheltern. Die Halbgeschwister von Alko­ holkranken entwickelten unabhängig von einer Erkrankung der nicht biologi­ schen Eltern bevorzugt dann einen Alkoholismus, wenn der eigene biologische

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Biologische Aspekte abhängigen Verhaltens

Elternteil erkrankt war, während sich umgekehrt bei einer Alkoholkrankheit der Zieheltern das Risiko nur gering erhöhte (Tabelle 2). Auf der Suche nach weiteren prädiktiven Faktoren für den Ausbruch einer Alko­ holkrankheit wies Schuckit (1994b) in einer umfangreichen prospektiven Studie nach, daß bei einer Alkoholkrankheit des Vaters das Erkrankungsrisiko der Nachkommen zusätzlich erhöht ist, wenn ein starker Alkoholkonsum in der Ju­ gend zu einer nur geringen - möglicherweise aversiv wirksamen - körperlichen Reaktion geführt hatte.

3. Comorbidität mit psychiatrischen Erkrankungen Epidemiologische Studien berichten über eine erhöhte Comorbidität von Alkoholismus und anderen psychischen Störungen. Bei der Untersuchung Alkohol­ kranker an unserer eigenen Klinik fanden wir unter unseren Patienten eine er­ höhte Lebenszeit-Prävalenz für Angststörungen und depressive Erkrankungen Oung et al. 1995). Panikstörungen in der Familienanamnese sind mit einem er­ höhten Lebenszeitrisiko für einen Alkoholismus verbunden (Maier et al. 1993), weniger deutlich sind die Ergebnisse im Bereich der affektiven oder schizophre­ nen Psychosen - hier existieren zur Koinzidenz der Erkrankungen uneinheitli­ che Ergebnisse.

Die erhöhte Koinzidenz mit anderen psychiatrischen Leiden weist auf gemein­ same krankheitsauslösende Prozesse bei psychischen Leiden hin - diese können sowohl als unspezifisch erhöhte psychische Vulnerabilität durch soziale Bela­ stungen als auch als Ausdruck zugrundeliegender biologischer Vulnerabilitäts­ faktoren gedeutet werden.

4. Die Sucht im Tiermodell Untersuchungen zur Genese oder zu therapeutischen Möglichkeiten bei psych­ iatrischen Erkrankungen im Tiermodell führen die Schwierigkeit mit sich, menschliches Verhalten auf das Tier übertragen zu müssen. Da im Bereich der Suchtforschung mit der Menge des konsumierten Suchtstoffes ein objektives Kri­ terium erfaßt werden kann, sind Tiermodelle zwar durchaus auf der physiologi­ schen Ebene auf den Menschen übertragbar, lassen aber interferierende psycho­ logische Aspekte weitgehend außer Acht. Trotzdem hat man versucht, auch Streßfaktoren und soziale Hierarchie in das Modell aufzunehmen. Wenn auch in erster Linie die Menge des konsumierten Stoffes als Beobachtungsgröße dient, so sind doch wesentliche Zielvariablen wie der sogenannte „point of no return"

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Batra ♦ Schott ♦ Mann

(der Reversibilitätsverlust, die „Unfähigkeit zur Abstinenz") sowie der Kontroll­ verlust, der in der Literatur sowohl als psychologische wie auch als physiologi­ sche Variable diskutiert wird, zu beachten. Wolffgramm (1996) konnte im Tiermodell bei Ratten ein Suchtverhalten, ähn­ lich dem des Menschen, erzeugen. Dabei konnten sie Entwicklungsstufen der Sucht analog denen in der Alkoholismusforschung benannten Stadien beobach­ ten: Beim ersten Drogenkontakt wird der Umgang mit der Droge gelernt, dabei findet in dieser Phase der Akquisition eine Konditionierung auf Schlüsselreize statt. Das nachfolgende stabile Einnahmeverhalten zeigt wohl interindividuelle Unterschiede, jedoch intraindividuell verläßliche Muster und geht mit einer An­ passung an situative Faktoren in den kontrollierten Konsum über. Im Anschluß daran findet in einer Übergangsphase mit zunehmendem Anstieg der konsu­ mierten Mengen der Übergang zur Sucht statt. Hier wird ein Überschreiten des point of no return (Coper et al. 1990) vermutet - nach einer mehrmonatigen Ab­ stinenz zeigen Tiere, die die Übergangsphase durchlaufen haben, eine erhöhte und irreversible Alkohol- oder Drogenpräferenz. Allerdings unterliegt das Kon­ sumverhalten bei Ratten auch sozialen Bedingungen: isolierte oder untergeord­ nete Tiere konsumieren mehr Ethanol als Tiere in Gruppenhaltung. Allerdings ist der durch veränderte Umgebungsvariablen beeinflußte Drogen- oder Alkohol­ konsum reversibel. Interessanterweise führt eine Opiatabhängigkeit auch zur bevorzugten Alkoholaufnahme (Heyne 1996).

Ergebnis dieser Forschungsarbeit ist zum einen die Erkenntnis, daß süchtiges Verhalten im Tiermodell bei weitgehendem Fehlen von psychischen Stressoren erzeugt werden kann, daß eine Irreversibilität im Sinne eines überschrittenen point of no return besteht und schließlich auch im Tierversuch soziale Bedin­ gungen die Ausprägung des süchtigen Verhaltens beeinflussen können.

5. Befunde auf Transmitterebene Die Annahme eines Belohnungszentrums im Gehirn ist nicht neu: bereits 1956 erschien im Scientific American eine Arbeit von J. Olds über „Pleasure centers in the brain". Neuere neurobiologische Untersuchungen bestätigen die Existenz des Belohnungssystems (Rewardsystem) im mesolimbisch-mesocorticalen Ge­ biet. Durch eine Stimulation der dopaminergen Neurone im Ncl. accumbens, die vermehrt mit Endorphinrezeptoren besetzt sind, sei es unmittelbar oder auch mittelbar über cholinerge oder GABAerge Neurone, entsteht eine angenehme Empfindung, die aus lernpsychologischer Sicht verstärkend und auf diese Weise suchtbegünstigend wirkt. Dies gilt in unterschiedlichem Ausmaß für Alkohol, für Rauschdrogen und Nikotin. Auch die Wirkmechanismen sind unterschiedlich:

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Biologische Aspekte abhängigen Verhaltens

Während Nikotin an den nikotinergen Azetylcholinrezeptoren der dopaminergen Neurone angreift, wird angenommen, Amphetamin wirke unmittelbar über die Dopaminfreisetzung, beeinflusse zudem aber auch die Wiederaufnahme und den Abbau. Die Wirkung des Kokains indes wird über die Wiederaufnahme­ hemmung von Dopamin erklärt. Opiate wirken mittelbar über die Inhibition der inhibierenden GABAergen Neurone (Joseph et al. 1996). Die zu beobachtenden Dosissteigerungen werden auf Adaptationsmechanismen des Körpers auf Rezep­ torebene zurückgeführt. Weitere suchterzeugende Wirkungen von Alkohol, Drogen und Nikotin sind durchaus als Beeinflussung weiterer, z. B. inhibitorisch auf das Rewardsystem wirkender Neuronensysteme vorstellbar (Rommeispacher 1996). Die Komplexität dieser Vorgänge ist in weiten Teilen noch unerforscht offen bleibt auch, ob die Stimulation der Dopaminfreisetzung selbst oder bei­ spielsweise eine mit der Wirkung von Nikotin oder Amphetamin verbundene Minderung der „latent inhibition" auf das Lernen als belohnend oder abhängig­ keitsfördernd angesehen werden muß (Joseph et al. 1996).

Wichtige Befunde weisen auf eine genetisch verankerte erhöhte Vulnerabilität durch Anomalien auf Rezeptorebene hin: In Tierversuchen konnte bei Inzucht­ stämmen von Ratten, die über Generationen hinweg eine erhöhte Alkoholpräfe­ renz zeigten, ein Dopamindefizit im Ncl. accumbens nachgewiesen werden (Gatto et al. 1994).

Biochemische Störungen Eine direkte Auswirkung genetischer Faktoren stellt sich auf biochemischer Ebe­ ne dar: der Genotyp exprimiert unterschiedlich leistungsfähige Varianten (Isoen­ zyme) der alkoholabbauenden Alkoholdehydrogenase (ADH) und Aldehydde­ hydrogenase (ALDH). Die daraus resultierenden differenten Abbauraten von Al­ kohol könnten eine unterschiedliche Empfindlichkeit und Risiko erklären. Ein vielzitiertes Beispiel ist eine atypische Variante der ADH und der ALDH bei der mongolischen Rasse, die über die erhöhten Acetaldehydspiegel schneller unan­ genehme Nebenwirkungen nach Alkoholgenuß verspüren. Möglicherweise hat dies - über die aversive Komponente, die mit dem Alkoholgenuß verbunden ist - einen protektiven Einfluß auf die Betroffenen (Agarwal und Goedde 1984).

Das HLA-System Das HLA-System determiniert sowohl die zelluläre als auch humorale Im­ munabwehr. Bei einigen angeborenen Erkrankungen, beispielsweise dem M. Bechterew (HLA-B27) oder der Narkolepsie (HLA-DR2) wurden hohe Assozia­ tionen mit einzelnen HL-Antigenen nachgewiesen. 23

Batra ♦ Schott ♦ Mann

Die Untersuchung zur Prävalenz von HL-Antigenen bei Alkoholikern und bei alkoholbedingter Leberzirrhose erbrachte bislang in einer Vielzahl von Studien (Übersicht bei List und Gluud 1994) trotz der Assoziation dieser Erkrankungen zu verschiedenen HLA-Phänotypen keine eindeutigen Ergebnisse. Einzelne Au­ toren (Corsico et al. 1988) fanden bei Alkoholkranken erhöhte Häufigkeiten von HLA-B40, HLA-DR4 und eine erniedrigte Frequenz von HLA-DR3. Tatsächlich erschweren eine Reihe von methodischen Besonderheiten die Interpretation der Ergebnisse: die Zahl der zu untersuchenden Allele übersteigt nicht selten die Zahl der in die Untersuchung einbezogenen Patienten, was eine statistische Auswertung und Interpretation erschwert. Außerdem stieg die Zahl der bekann­ ten Allele in den letzten Jahren so rasch, daß eine Vergleichbarkeit der Ergebnis­ se nicht immer gewährleistet ist. Unterschiedliche genetische Pools ermöglichen Aussagen nur für die untersuchte Population.

Auch in einer eigenen Untersuchung an 50 männlichen Alkoholikern ohne zirrhotischen Leberumbau fanden wir in einem Screening von HLA-A, -B, -C, -DQ und DR-Antigenen erhöhte Häufigkeiten von HLA-B13, wie schon Melen­ dez et al. (1979) sie bei Patienten mit einer alkoholischen Leberzirrhose gefun­ den hatten. Dies deutet auf einen Zusammenhang der Alkoholkrankheit mit ei­ ner erhöhten Vulnerabilität der Leber hin. In Anbetracht der Komplexität des HLA-Systems und der ständig wachsenden Zahl der bekannten Allele sollten diese Ergebnisse jedoch vorsichtig betrachtet werden (Dengler et al. 1992).

Psychoimmunologische Befunde bei Alkoholabhängigen Das Immunsystem ist bei Alkoholkranken vielfach gestört. Meist handelt es sich dabei um eine unspezifische Stimulation natürlich auftretender Autoantikörper. Beschrieben wurden allerdings auch Antikörper gegen nukleäre und perinukleä­ re Strukturen (Henneberg et al. 1993). So ist z. B. eine erhöhte Antikörperreakti­ vität vom IgA-Typ gegen die basischen Kernproteine (Histone) ein stabiler Be­ fund bei Alkoholkranken. Eigene Untersuchungen zum Auftreten von Autoanti­ körpern gegen Hirneiweiße in verschiedenen psychiatrischen Gruppen zeigten ein unspezifisch erhöhtes Auftreten von IgM-Antikörpern gegen H3-Histone auch bei den Alkoholkranken (Tabelle 3) (Keller et al. 1996). Darüber hinaus fanden wir statistisch signifikante Antikörperreaktivitäten vom IgM-Typ gegen den Neurotransmitter Serotonin (Tabelle 4) sowie gegen Serotonin-Rezeptoren vom Typ 1A und 2A (Tabelle 5). Letztere Befunde könnten für eine alkoholbe­ dingte Störung des serotonergen Transmittersystems sprechen. Interessanterwei­ se zeigen Alkoholkranke auch ausgeprägte Antikörperreaktivitäten gegen Thrombozyten, die ein Serotonin-Rezeptor-Modell darstellen, wobei die Anti­

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Biologische Aspekte abhängigen Verhaltens

körper nicht gegen die bekannten Transplantationsgene gerichtet waren (Tabelle 6). Offen ist allerdings, ob diese Befunde auf einen pathogenetischen Faktor hinweisen, oder ob die Befunde als Epiphänomene zu verstehen sind: Henne­ berg et al. (1993) nehmen an, daß infolge der chronischen Alkoholexposition eine Funktionsstörung der Blut-Hirn-Schranke die Ausbildung neuer cerebraler Antigene begünstige.

Diskussion Bis zum heutigen Tage haben die Untersuchungen biologischer Ursachen süch­ tigen Verhaltens zwar kein umfassendes Erklärungsmodell, aber eine Reihe in­ teressanter und bemerkenswerter Theorien zur Entstehung abhängigen Verhal­ tens erbringen können. Forschungen zum Verständnis von Suchtentstehung und -aufrechterhaltung konzentrieren sich in den letzten Jahren vorwiegend auf Re­ zeptormodelle der Sucht. Aber auch immunologische Befunde unterstützen die Annahme, biologische Faktoren begünstigten die Entwicklung einer Abhängig­ keit. Ungeachtet dessen spricht viel dafür, zumindest bei einer Subpopulation der Al­ koholkranken, Drogen-, Medikamenten- und Tabakabhängigen eine hereditäre Genese anzunehmen. So wenig davon auszugehen ist, daß eine monokausale Erklärung für den Ausbruch einer Abhängigkeitserkrankung existiert, so sehr muß man in Anbetracht der überzeugenden Zahlen aus den Zwillings- und Ad­ optionsstudien davon ausgehen, daß eine genetische Ursache wahrscheinlich ist. Das Genom hat nicht unmittelbar, aber doch mittelbar als prädisponierender Faktor Einfluß auf das Risiko, alkohol- (und möglicherweise auch drogen- oder medikamentenabhängig) zu werden. Dies wird über die unterschiedlichsten Fak­ toren moduliert. Die beschriebenen Phänomene sind, solange sie nicht als se­ kundäre Erscheinungen oder Epiphänomene zu verstehen sind, zumindest als prädisponierende Faktoren anzusehen, die neben psychischen und sozialen Fak­ toren das Ausmaß einer individuellen Vulnerabilität für den Ausbruch einer Suchterkrankung bestimmen.

Die vielfältigen Untersuchungen bezüglich biologischer Determinanten für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung ergeben damit ungeachtet ihrer noch ungesicherten Relevanz wertvolle Modelle hinsichtlich der multifaktoriel­ len Genese psychischer Störungen, die möglicherweise auch auf die anderen stoffgebundenen Abhängigkeiten übertragbar sein könnten.

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Batra ♦ Schott ♦ Mann

Tabellen Tabelle 1: Familiäre Belastung bei 369 Alkoholkranken, die zwischen 2/1992 und 7/1995 zur stationären Entwöhnungsbehandlung aufgenommen wurden. Männer keine familiäre Belastung

fam. Belastung 1. Grades

fam. Belastung 2. Grades

Frauen

Total

128

41

169

47,1 %

42,3 %

45,8 %

122

44

166

44,8 %

45,4 %

45,0 %

22

12

34

8,1 %

12,4 %

9,2 %

272

97

369

Tabelle 2: Prävalenz von Alkoholismus unter den Halbgeschwistern von Alkoholikern, nach Trinkgewohnheiten der Eltern und Zieheltern, modifiziert nach Zerbin-Rüdin, 1985 Biologische Eltern Zieheltern

Alkoholiker

Nichtalkoholiker

Alkoholiker

46 %

14 %

Nichtalkoholiker

50 %

8 %

Tabelle 3: Histon (H3)-Antikörper, * p 3 sd

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IgM pos. (%)

Biologische Aspekte abhängigen Verhaltens

Tabelle 4: Serotonin-Antikörper, * p